Herbert Willems (Hrsg.) Theatralisierung der Gesellschaft
Herbert Willems (Hrsg.)
Theatralisierung der Gesellschaft ...
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Herbert Willems (Hrsg.) Theatralisierung der Gesellschaft
Herbert Willems (Hrsg.)
Theatralisierung der Gesellschaft Band 1: Soziologische Theorie und Zeitdiagnose Mit Beiträgen u. a. von Günter Burkart, Erika Fischer-Lichte, Bernhard Giesen, Hans-Ulrich Gumbrecht, Ronald Hitzler, Rüdiger Lautmann, Richard Münch, Klaus Neumann-Braun
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-14922-6
Danksagung und Widmung Ich danke allen, die mich bei der Herstellung dieses Werks unterstützt, angeregt und freundlich bis freundschaftlich begleitet haben – in erster Linie natürlich den Autorinnen und Autoren. Mein besonderer Dank gilt Dr. Sebastian Pranz, der mir von Anfang an stets zuverlässig, tatkräftig, ermutigend und mit vielen hilfreichen Hinweisen und Ideen zur Seite stand. Dank für vielerlei praktische Hilfe schulde ich auch meinen anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, insbesondere Julia Böcher, Pascal Dahlmanns und Dr. York Kautt. Herrn Paul Greim (Kassel) danke ich für die kompetente und prompte Erledigung der wichtigsten technischen Arbeiten. Herrn Frank Engelhardt vom VS-Verlag bin ich für Interesse, Geduld und wertvolle Ratschläge dankbar. Inhaltlich stand mein Lehrer Alois Hahn am Anfang dessen, was hier zu einem Ende gebracht wurde. Für viele Jahre der Förderung, Unterstützung und Beheimatung danke ich ihm und Erika Hahn herzlich. Dankbarkeit dieser Art empfinde ich auch gegenüber Johannes Weiß. An meine Zeit mit ihm, seiner Familie und seinen wie meinen Freunden, insbesondere Alfons Holtgreve, in Kassel und Warburg denke ich gerne zurück. Für mancherlei Anregung danke ich schließlich auch meiner Frau Marianne sowie meiner Tochter Nikola, mit der ich noch öfter im Münchner ‚Theater für Kinder’ gewesen wäre, wenn die hier dokumentierte Arbeit nicht gewesen wäre. Der Herausgeber dieses Werks und dessen Beiträger widmen es Alois Hahn und Johannes Weiß.
Herbert Willems
Inhalt
1.
Einleitung
1.1 Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These Herbert Willems
13
1.2 Überblick über das Werk und Zusammenfassungen Herbert Willems
57
1.3 Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept: Von Fischer-Lichte über Goffman zu Elias und Bourdieu Herbert Willems
2.
75
Alltägliche und außeralltägliche Lebenswelten
2.1 Stile und (Selbst-)Stilisierungen zwischen Habitualität und Medialität Herbert Willems
113
2.2 Goffmans Stigma-Identitätskonzept – neu gelesen Ernst von Kardorff
137
2.3 Korporales Kapital und korporale Performanzen in der Lebensphase Alter Klaus R. Schroeter
163
2.4 „Nur der zuletzt empfundene Eindruck ist wichtig“ Mode als paradoxes Reflexionsmedium Udo Thiedeke
183
2.5 Die Inszenierung des mobilen Selbst Günter Burkart
203
2.6 Wissen Live: Sitzordnung, Performanz und Powerpoint Hubert Knoblauch
221
2.7 Keine Beziehung ohne großes Theater. Zur Theatralität im Beziehungsaufbau Karl Lenz
239
8
Inhalt
2.8 Zeigen und Verbergen Intimität zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung Thomas Schwietring
259
2.9 Tod, Opferritual, Theatralisierung. Spaltungen am Ursprung der Gesellschaft Gallina Tasheva
279
3.
Spezielle (Gruppen-)Kulturen
3.1 Das Turmspringen der Sa in Vanuatu: Ritual, Spiel oder Spektakel? Eine dramatologische Perspektive Thorolf Lipp
305
3.2 Rituelle und symbolische Inszenierung von Zugehörigkeit. Das sorbische Osterreiten in der Oberlausitz Marén Schorch
331
3.3 „Tangowelt Berlin“ – Strukturierung, Performanz und Reflexivität eines kulturellen Feldes Rainer Diaz-Bone
355
3.4 „Vergesst die Party nicht!“ Das Techno-Publikum aus der Sicht der Szene-Macher Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer
377
3.5 Karaoke, eine Tautologie des Populären. Befragungen zu Motivation und Fremdwahrnehmung von Karaokesängern 395 Claudia Bullerjahn und Stefanie Heipcke
4.
Soziale Felder
4.1 Die Theatralisierung des Sports Jürgen Schwier und Thorsten Schauerte
419
4.2 „Lost in Focused Intensity“. Spectator Sports and Strategies of Re-Enchantment Hans Ulrich Gumbrecht
439
4.3 Alazon und Eiron Formen der Selbstdarstellung in der Wissenschaft Dietrich Schwanitz
447
Inhalt
4.4 Die Selbstbeschreibung von Hochschulen. Strategien für den Wettbewerbsvorsprung, die gesellschaftliche Legitimation und Beschäftigungsfähigkeit im Kontext globaler Herausforderungen Justine Suchanek 4.5 Die Inszenierung wissenschaftlicher Exzellenz. Wie der politisch gesteuerte Wettbewerb um Forschungsressourcen die Wissenschaft den Darstellungszwängen der öffentlichen Kommunikation unterwirft Richard Münch 4.6 Theatralisierung des Theaters Rüdiger Lautmann 4.7 Enttheatralisierung des Theaters als Theatralisierung des öffentlichen Lebens Erika Fischer-Lichte
9
463
485
499
519
4.8 Spielen und Heilen – Zur Theatralisierung des Therapeutischen Matthias Warstat
533
4.9 Artifizielle Natürlichkeit Matthias Hoffmann
549
4.10 Zur Inszenierung spektakulärer Ungleichheiten. Vom bürgerlichen Beruf zur Ökonomie der Talente Cornelia Koppetsch
573
4.11 „Retail Theater“ Zur Inszenierung des Shoppings Kai-Uwe Hellmann
583
4.12 Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept? Anforderungsprofile von Arbeitgebern im Rekrutierungsprozess Justine Suchanek und Barbara Hölscher
595
4.13 Terrorismus als Performanz Bernhard Giesen
615
Über die Autorinnen und Autoren
623
1. Einleitung
Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These Herbert Willems
Die in den beiden Bänden des vorliegenden Sammelwerks repräsentierten Beiträge zielen – überwiegend mit empirisch-analytischer Schwerpunktsetzung – auf bestimmte soziokulturelle Kontexte und Prozesse, insbesondere auf Entwicklungstendenzen, Wandlungen und Trends der Gegenwartsgesellschaft. Die hier gemeinten Phänomene, Sinnphänomene, Zeichenphänomene, Praxisphänomene, werden in den neueren sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskursen zunehmend mit Begriffen wie Inszenierung, Performanz/Performance/Performativität, Image, Event oder visual culture belegt. Der seit einer Reihe von Jahren geradezu inflatorischen Verwendung derart ‚theatraler‘ Begriffe entsprechen mehr oder weniger weitreichende empirisch-analytische Untersuchungen bzw. ‚Diagnosen‘, deren Bandbreite von der Feststellung einer „Erlebnis- und Spektakelkultur“1 bis zur Deutung von Politik als „Theatrokratie“ (Tänzler 2005) oder von „Terrorismus als Performanz“2 reicht. Auch der Herausgeber dieses Sammelwerks hat Arbeiten geliefert, die mit Begriffen wie Korporalisierung, Reklamisierung, Eventisierung, Entritualisierung/Reritualisierung oder Inszenierungsgesellschaft in diesen Zusammenhang zu stellen sind.3 Woran es diesbezüglich auf der theoretischen wie auf der empirisch-analytischen Ebene mangelt, sind Untersuchungen, die unter einem integrativen Blickwinkel über einzelne Phänomene und Bereiche hinausgehen und verschiedene soziale Ordnungsebenen und Sphären der Gesellschaft ins Auge fassen. Eine solche Betrachtungsweise wird im Folgenden mit der 1 Fischer-Lichte z.B. spricht davon und meint damit Folgendes: In allen gesellschaftlichen Bereichen „wetteifern einzelne und gesellschaftliche Gruppen in der ‚Kunst‘, sich selbst und ihre Lebenswelt wirkungsvoll in Szene zu setzen. Stadtplanung, Architektur und Design inszenieren unsere Umwelt als kulissenartige ‚Environments‘, in denen mit wechselnden ‚Outfits‘ kostümierte Individuen und Gruppen sich selbst und ihren eigenen ‚Lifestyle‘ mit Effekt zur Schau stellen. (…). Eine schier endlose Abfolge von inszenierten Ereignissen weist darauf hin, daß sich eine ‚Erlebnis- und Spektakelkultur‘ gebildet hat, die sich mit der Inszenierung von Ereignissen selbst hervorbringt und reproduziert. In ihr wird Wirklichkeit mehr und mehr als Darstellung und Inszenierung erlebt“ (Fischer-Lichte 1998: 88f.). 2 Vgl. den Beitrag von Giesen (Band 1). 3 Vgl. Willems/Jurga (1998); Willems/Kautt (1999); Willems (1999); Willems/Kautt (2002); Willems (2002); Willems (2003); Willems/Kautt (2003); Pranz (2006).
14
Herbert Willems
Implikation und vor dem Hintergrund einer These bezweckt, die mit dem mittlerweile in zahlreichen Disziplinen Verwendung findenden sozial- und kulturwissenschaftlichen Begriff der Theatralität4 arbeitet. Unter dem Titel Theatralisierung (s.u.), dem allerdings der Begriff der Enttheatralisierung an die Seite zu stellen ist, geht es hier um nicht weniger als um die Behauptung eines charakteristischen Bündels von sozio-kulturellen Formationen und Transformationen, die alle gesellschaftlichen Ordnungsebenen, Bereiche und Daseinsaspekte5 umfassen.6 Ich verstehe den Theatralitätsbegriff in diesem Zusammenhang als einen analytisch spezifisch leistungsfähigen, aber auch konzeptuell-theoretisch integrativen und anschlussfähigen Schlüssel- und Leitbegriff, der einschlägig relevante Begriffe ‚niederer Ordnung‘ wie Inszenierung, Skript oder Performanz in sich aufzunehmen und zu verknüpfen vermag.7 Der Theatralitätsbegriff ist also in dem hier zugrunde gelegten Verständnis ein durchaus komplexer und offener Begriff, und er ist ein universell anwendbarer Begriff, der diverse soziokulturelle Phänomene oder Realitätsaspekte sowie eine historisch an Tragweite gewinnende sozio-kulturelle Grundkonfiguration trifft: die Relation von auf Bühnen oder in bühnenanalogen Kontexten befindlichen Akteuren, (Schau-)Spielern, Darstellern einerseits und Rezipienten, Beobachtern, Zuschauern, Publika andererseits. In den Untersuchungen der folgenden Beiträge ist davon ausführlich die Rede. Der Theatralitätsbegriff bildet hier mithin so etwas wie einen grundbegrifflichen und perspektivischen Rahmen. Die sachlichen ‚Eckpunkte‘ dieses Rahmens, z.B. die ‚Aspekte‘ Körper/Korporalität und Wahrnehmung, stehen auch für Schwerpunkte und Verschiebungen in der neueren Sozial- und Kulturforschung – nicht nur der Soziologie – und sind insofern auch von besonderer Bedeutung für disziplinäre und interdisziplinäre Diskurse. In diesem Rahmen spiegelt sich darüber hinaus insbesondere die zunehmende Bedeutung, die den Themen Interaktion, symbolische Ordnung (Rituale), strategisches Handeln (‚Rational Choice‘), Materialität, Visualität und Raum und Zeit beigemessen wird, sowie die Fokussierung von (Massen-)Medien und die Verlagerung der Perspektive der (Medien-)Kulturforschung auf den Rezipienten (Zuschauer, Nutzer) von Kultur(-erzeugnissen). Das Theatralitätskonzept führt diese auf empirische Tatsachen bzw. Entwicklungen ver-
4 Der Theatralitätsbegriff ist nicht nur empirisch und ‚diagnostisch‘ besonders vielversprechend, sondern bildet auch eine Brücke zwischen den verschiedenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen und disziplinären Ansätzen (vgl. Fischer-Lichte/Horn/Warstat 2004). 5 Mit ‚Daseinsaspekten‘ sind hier jene grundlegenden Tatsachen gemeint, die wie Sexualität, Geburt, Krankheit, Tod, Geschlecht oder Alter(n) konstitutiv zur menschlichen Existenz gehören, aber kulturell und historisch auf verschiedenen Feldern je spezifisch ‚verwirklicht‘ und behandelt werden. 6 Einen ersten Indikator für die Plausibilität dieser Begrifflichkeit und der mit ihr verbundenen These (‚diagnostischen‘ Grundidee) mag man in der bis heute andauernden und immer noch zunehmenden Verbreitung der Theatermetaphorik in den verschiedensten Praxisbereichen und Disziplinen sehen. Insbesondere der Inszenierungsbegriff, aber auch ähnliche und komplementäre Begriffe wie Performance, Bühne oder Image kumulieren schon seit längerer Zeit in zahllosen Studien wie auch in alltäglichen Diskursen. Der Inszenierungsbegriff besitzt eine geradezu dramatische Diskurspräsenz. Ontrup und Schicha sprechen zu Recht von einem „Festival des Inszenierungsbegriffs“ (1999: 7), und Fischer-Lichte stellt bereits 1998 fest: „Der Begriff der Inszenierung scheint gegenwärtig Hochkonjunktur zu haben. Seit den letzten fünf bis zehn Jahren überflutet eine Fülle von Publikationen den deutschen Buchmarkt, die den Terminus ‚Inszenierung‘ bzw. ‚Inszenieren‘ im Titel führen“ (Fischer-Lichte 1998: 81). 7 Vgl. dazu meinen soziologischen Klärungsversuch in dem folgenden Beitrag.
Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These
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weisenden Relevanz- und Ansatzverschiebungen im Rahmen einer Perspektive zusammen, die damit auch den hier thematisierten sozio-kulturellen Transformationen besonders gerecht zu werden verspricht. Jenseits seiner spezifisch ‚diagnostischen‘ Adäquanz ist dieses Konzept allgemein-theoretisch vielversprechend, weil es eine Perspektive bietet, die die verschiedenen, oft einseitig entworfenen Seiten von Praxis (Kontext, Strategie, symbolische Ordnung, Text/Textualität‚ Akteur, Rezeption, Nutzung u.s.w.) gleichermaßen akzentuiert und als einen Zusammenhang entwirft. Bevor der zunächst plakative Leitbegriff der Theatralisierung8 im Folgenden zu konkretisieren und zu spezifizieren ist, bedarf es einer ersten Bestimmung des ihm vorausgehenden und in ihm implizierten Theatralitätsbegriffs. Ich gehe hierzu von der sehr einflussreich gewesenen und aktuell immer noch sehr einflussreichen Begriffsfassung aus, die die Theaterund Kulturwissenschaftlerin Erika Fischer–Lichte geliefert hat.9 Sie definiert Theatralität, indem sie vier „Aspekte“ zu einem Komplex zusammenführt, nämlich 1. den Aspekt der Performance, die als „Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern gefaßt wird und das ambivalente Zusammenspiel aller beteiligten Faktoren beinhaltet;“ 2. den Aspekt der Inszenierung, die als Produktionsprozess mit dem Endergebnis einer Performance verstanden wird; 3. den Aspekt der Korporalität, der sich aus dem Faktor der körperlichen „Darstellung bzw. des Materials ergibt, und 4. den Aspekt der Wahrnehmung, der sich auf den Zuschauer, seine Beobachterfunktion und -perspektive bezieht“ (Fischer-Lichte 1998: 86). Mit dieser Definition konstruiert Fischer-Lichte die weit über das Theater hinausreichende, nämlich gesellschaftliche, Realität der Theatralität ganz analog zur Theatralität des Theaters, genauer: des Bühnen- bzw. Aufführungsgeschehens; ihr Theatralitätskonzept ist ein auf theaterähnliche Gebilde zielender Ansatz. Dementsprechend passt dieser Begriff am besten auf soziale Situationen, die dem sozialen ‚Ordnungsformat‘ des Bühnengeschehens entsprechen. Diese Passung macht den Fischer-Lichteschen Theatralitätsbegriff einerseits durchaus auch soziologisch, insbesondere mikrosoziologisch, brauchbar. Andererseits greift dieser Theatralitätsbegriff soziologisch gleichzeitig zu weit und zu kurz, wenn es darum geht, die diversen sozio-kulturellen Realitäten, auf die er sich bezieht, in ihrer historischen Komplexi-
8 Wer diesen Begriff zuerst eingeführt hat, ist schwer zu sagen. Eine frühe und zentrale Rolle hat hier FischerLichte gespielt, z.B. durch ihre Rede von der „Theatralisierung der Lebenswelt“. Fischer-Lichte ist in diesem Zusammenhang seither und bis heute eine der wichtigsten ‚Adressen‘ (vgl. Fischer-Lichte 1995a, 1995b, 1997, 1998, 2001, 2002a, 2002b, 2002c, 2004, 2005a, 2005b, 2005c, 2007). In der Soziologie waren Hans-Georg Soeffner, Ronald Hitzler und Alois Hahn mit zahlreichen Arbeiten wichtige Vorreiter in diesem Forschungskontext. Von Theatralisierung, kaum jedoch von Enttheatralisierung, ist heute in den verschiedensten Disziplinen im Bezug auf die verschiedensten Bereiche bzw. Felder die Rede. Festgestellt wird eine Theatralisierung der Politik, der Musik, der Therapie u.s.w., ja sogar des Theaters. Vgl. neben den Beiträgen dieses Sammelwerks FischerLichte/Horn/Umathum/Warstat 2004. 9 In den deutschsprachigen Sozial- und Kulturwissenschaften hat das Theatralitätskonzept durch das von Fischer– Lichte geleitete DFG-Schwerpunktprogramm „Theatralität“ (1997-2003) einen starken Auftrieb erhalten. Im Rahmen dieses Programms bildeten so unterschiedliche Disziplinen wie Geschichtswissenschaft, Ägyptologie, Theologie, Musikwissenschaft, Ethnologie, Philosophie, Psychologie, Politikwissenschaft, Medienwissenschaft und Soziologie einen gemeinsamen Forschungskontext. Die entsprechenden Forschungsaktivitäten waren an dem Fischer–Lichteschen Theatralitätsbegriff orientiert (s.o.), der auch in der einschlägigen kulturwissenschaftlichen Debatte eine zentrale Rolle spielte und weiterhin spielt. Vgl. auch den folgenden Beitrag von Willems.
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Herbert Willems
tät angemessen zu erfassen. Zu weit greift der Theatralitätsbegriff Fischer-Lichtes insofern, als er die Theatralität ‚unterhalb‘ von eigentlichen – theatralen – Inszenierungen und Performances verfehlt. Jedermanns alltägliches Verhalten, das, wie gerade Erving Goffmans Arbeiten zeigen10, durchaus – und durchaus in einem universellen Sinne – der Theatermetaphorik zugänglich ist, folgt einer anderen Logik und bedarf einer anderen Begrifflichkeit als die theatralen Phänomene, die Fischer-Lichte unterstellt und anzielt. Zu kurz greift deren Theatralitätsbegriff, insofern er sich im Grunde auf die unmittelbare Interaktionsebene bezieht und beschränkt und damit weder die sozio-kulturellen Hintergründe und Voraussetzungen dieser Ebene von Theatralität noch Formen und Bedingungen von Theatralität jenseits dieser Ebene – etwa im Kontext von Massenmedien, von Subkulturen oder von formalen (Groß-)Organisationen – erfasst. Die im Folgenden vorgelegten Untersuchungen zeugen von dieser Ambivalenz und doppelten Limitiertheit des Fischer-Lichteschen Theatralitätsbegriffs. Sie liegen empirisch-analytisch schwerpunktmäßig genau auf den Ebenen, die dieser Begriff gerade nicht erfasst, weshalb sie zwar häufig auf Fischer-Lichte rekurrieren, aber auch eine Reihe zusätzlicher Deutungsmittel einführen, um der Realität der Theatralität gerecht zu werden. Dazu gehören die (überwiegend soziologischen) Konzepte/Theorien: Figuration, Feld, Rolle, Spiel, Spektakel, Event, Ritual, Kapital, Netzwerk, Strategie, Image (Marke, Star), Rahmen, parasoziale Interaktion, Identität, Selbstthematisierung, Diskurs, Habitus, Stil/Stilisierung/Lebensstil, Alltagstheorie/Deutungsmuster/Mythos, Stigma, Normalität/Normalismus u.a.m. Die Anwendung dieser Konzepte und die mit ihnen gefassten empirischen Phänomene zeigen, dass Theatralität ebenso universell und auf allen sozio-kulturellen Ordnungsebenen vielfältig ist, wie sie von – immer historischen – sozio-kulturellen Kontextbedingungen abhängt. Dementsprechend komplex muss die theoretische Konstruktion und die Analyse von Theatralität angelegt sein. Sie darf sich gerade nicht auf das Theatrale an der Theatralität beschränken und versuchen, dieses Theatrale von seiner historischen Kontextualität abzulösen. Vielmehr muss genau diese Kontextualität das Hauptziel zumindest jeder soziologischen Konzeptualisierung und Analyse von Theatralität sein. In dem folgenden Beitrag von mir wird diese Auffassung im Bezug auf ein soziologisch zu fassendes Theatralitätskonzept präzisiert. In diesem Rahmen sind mit Begriffen wie Inszenierung, Korporalität oder Performanz/Performance auch Realitäten unterhalb und jenseits von (unmittelbarer) ‚Interaktionstheatralität‘ gemeint. So kann dann auch z.B. von Medientheatralität und in diesem Kontext von Performance oder Korporalität die Rede sein.
10 Ich meine hier vor allem die frühen Arbeiten Goffmans, durchaus aber auch die späteren und späten, die das Theatermodell allerdings eher implizit kontinuieren und zudem in verschiedene Richtungen erweitern und differenzieren. Mehr als 25 Jahre nach Goffmans Tod zeugt das vorliegende Sammelwerk auch davon, dass seine Unterscheidungen und Konzepte immer noch als grundlegend, wegweisend und durchaus systematisch anzusehen sind. Dass dies in besonderer Weise für das Verständnis und die Begrifflichkeit der Theatralität gilt, sollte deutlich werden. Goffman ist damit nicht nur theoretisch aktueller denn je, sondern auch eine erste Adresse, wenn es darum geht, Begriffsmittel zu finden, die der Gegenwartskultur und ihren Entwicklungstendenzen angemessen sind. Die Untersuchung dieser Tendenzen macht aber auch Grenzen jeder Mikrosoziologie (und ‚Dramatologie‘) der Gegenwartskultur sichtbar. Goffman hat solche Grenzen – und die im Zuge der medialen Kulturrevolution zunehmende Begrenztheit – der Mikrosoziologie weder verkannt noch geleugnet und doch an seinem entschieden mikrosoziologischen Forschungsprogramm (der ‚Interaktionsordnung‘) bis zum Schluss konsequent festgehalten. Es erwies und erweist sich als anspruchsvoll genug. Goffman hat aber auch Fundamente einer umfassenderen Kulturanalyse bzw. Medienkulturanalyse gelegt.
Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These
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Im Mittelpunkt dieses Sammelwerks stehen jedoch nicht konzeptuelle oder theoretische sondern empirisch-analytische Arbeiten. Deren Hauptzweck und Hauptergebnis liegt im Rahmen der zugrunde gelegten (Theatralisierungs-/Enttheatralisierungs-)Thesen in einem relativ umfassenden und zugleich differenzierten Bild von empirischen Verhältnissen. Natürlich kann und konnte dabei nicht von auch nur annähernder Vollständigkeit ausgegangen werden. Es geht lediglich, aber auch immerhin, darum, die besagten Thesen auf einer relativ breiten und systematischen empirischen Grundlage zu formulieren, im Hinblick auf Phänomene, Bedingungen und Faktoren zu differenzieren und zu prüfen. Dies geschieht im Sinne eines Ansatzes, der sowohl auf Lebenswelten jedermanns als auch auf mehr oder weniger ausdifferenzierte sozio-kulturelle Sonderbereiche zielt (siehe 1.2). Diese Anlage der Untersuchung rechtfertigt auch erst die Rede von der (Ent-)Theatralisierung der Gesellschaft.
1. Theatralisierung Mit dem im Folgenden im Vordergrund stehenden ‚Oberbegriff‘ der Theatralisierung möchte ich so etwas wie eine sozio-kulturelle Entwicklungslogik und Entwicklungstendenz der Gegenwartsgesellschaft behaupten, d.h. einen zwar komplexen und heterogenen, aber spezifisch gerichteten sozio-kulturellen Wandel.11 Dabei geht es mir wesentlich darum, diesen Wandel nicht nur ‚differenzierungslogisch‘ einzuordnen, sondern auch die differentiellen und diversen (Teil-)Strukturen und (Teil-)Prozesse zu bestimmen, die mit den Begriffen Theatralität und Theatralisierung effektiv gefasst werden können. Neben den damit verbundenen Fragen nach dem Was und dem Wie von Theatralität und Theatralisierung stellen sich Fragen nach dem Warum, nach Ursachen und Bedingungen. Welche Faktoren, Generatoren oder Verstärker (z.B. Massenmedien, ökonomische Abhängigkeiten, Konkurrenzverhältnisse, mentale Dispositionen) und welche systematischen Bezugsprobleme, z.B. Knappheit von Aufmerksamkeit12 oder Anomie, spielen hier eventuell über verschiedene sozio-kulturelle Bereiche (Felder, Spezialkulturen, Szenen) hinweg eine Rolle? Die Beantwortung dieser Fragen erweist sich insgesamt als anspruchsvoll, weil die hier gemeinten Phänomene vielfältig sozio-kulturell ‚eingebettet‘, bedingt, miteinander verflochten, wechselseitig voneinander abhängig, aufeinander wirkend und in ihren Bedeutungen mindestens teilweise bivalent oder ambivalent sind. So ist das expandierende und penetrierende ‚Theater‘ der (Massen-)Medien nicht nur ein Moment und ein Ausdruck der hier gemeinten Entwicklung, sondern auch ein Faktor, eine Ursache und ein Verstärker von Prozessen der Theatralisierung.
11 Der Status dieses Begriffs ist insofern mit dem des Eliasschen Zivilisationsbegriffs vergleichbar, der ebenfalls verschiedene Komponenten bzw. Teilprozesse subsumiert: Pazifizierung, Vorrücken von Schamgrenzen, Psychologisierung u.s.w. 12 Vgl. dazu z.B. die Beiträge von Schwier/Schauerte (Band 1) und Schicha (Band 2).
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Herbert Willems
Das mit Theatralisierung Gemeinte und nicht Gemeinte möchte ich nun zum Zweck einer ersten Veranschaulichung und Konkretisierung etwas eingehender am Bereich des Politischen bzw. des politischen Feldes13 erläutern: Zunächst ist in dem hier vertretenen theoretischen Kontext zu unterstreichen, dass es keinen ‚Nullpunkt‘ und kein Jenseits von Theatralität gibt. Auch politische Praxis ist wie jede soziale Praxis seit jeher und notwendig Praxis von Theatralität. Diese ist allem Politischen (wie auch aller alltäglichen Lebenswelt, aller Religion, allem Recht, allem Sport u.s.w.) wesentlich inhärent, wird durch das Politische und die Konfiguration des Politischen als Feld aber spezifisch und wandelt sich entsprechend. Das heißt nicht nur, dass es keine politische Realität ohne Theatralität gibt, sondern auch dass sich die Frage nach Theatralität in diesem Zusammenhang zunächst nicht als Frage nach einem ‚Mehr oder Weniger‘ stellt. Vielmehr ist hier, wie etwa der Vergleich der politischen Kulturen des Nationalsozialismus oder des Stalinismus mit heutigen westlichen Demokratien zeigt, als erstes die systematische Verschieden- und Andersartigkeit von (Regime-)Theatralität festzustellen. Dabei mag man im vergleichenden Blick auf einzelne Praxis- und Handlungstypen, Formen und Strukturen von differentiellen Theatralisierungsgraden sprechen. So sind die genannten Fälle totalitärer Regimes in vielerlei Hinsicht – man denke etwa an die Theatralität von Paraden, Schauprozessen, Parteitagen, (Führer-, Opfer-) Kulten u.s.w. – theatraler und theatralischer als die heutigen westlichen Demokratien, die wiederum eigene und neue Formen von Theatralität (z.B. mythischer ‚Vergangenheitsbewältigung‘) generiert haben. Am Beispiel dieses ‚Systemvergleichs‘ zeigt sich aber auch eine qualitative Differenz, die hier als Verständnis von Theatralisierung zentral ist: Während totalitäre Regimes, jedenfalls die genannten, Massenmedien beherrschen und sich ihrer primär im Dienst ihrer Macht bedienen, sind westliche Demokratien als politische Felder ganz und gar auf und durch Massenmedien ‚gepolt‘. Diese bestimmen, limitieren und formieren heute als relativ autonomes Feld das politische (Macht-)‚Spiel‘ und sind nur in dieser (primären) Rahmung ein Instrument von (Macht-)‚Spielern‘, die sich z.B. der gegebenen medialen Bühnen bedienen können und müssen. Die politische Praxis und Wirklichkeit westlicher Demokratien wurde und wird aber offensichtlich – und auch dafür kann der Begriff der Theatralisierung stehen – nicht nur in einem fundamentalen strukturellen Sinne sondern auch in immer neuen Formen und graduell zunehmend vom Kraftfeld der ‚Medientheater‘ bestimmt. Die Nachkriegsgeschichte des politischen Feldes Deutschlands z.B. ist unübersehbar eine Geschichte seiner Medientheatralisierung. Politik wird mittlerweile fast nur noch als symbolische Medieninszenierung bzw. als Performanz/Performance im Rahmen medialer oder medienbezogener Anlässe und als Reflexion rituellen und strategischen (also theatralen) Handelns in den Medien erfahrbar. Und die Politiker selbst scheinen heute mehr denn je auf Medienpublika bezogene Informationspolitiker, Image-Arbeiter und ‚Performancekünstler‘ zu sein, die sich und ihre ‚Ensembles‘ mindestens ebenso gern in Talk-Shows14 wie im Parlament aufführen. Politik ist zur „Dauerwerbesendung“ (Vogt 2002) geworden, weil politische Macht immer
13 Die Theatralität und die Theatralisierung dieses Feldes ist offensichtlich und wurde gerade auch von Politikwissenschaftlern (vgl. z.B. Sarcinelli 2002; Dörner 2001; Schatz/Nieland 2004; Meyer/Ontrup/Schicha 2000; Schicha 2004) aber auch von Soziologen (vgl. Hitzler 1998, 2002; Soeffner 1998; Soeffner/Tänzler 2002) thematisiert. 14 Man spricht zu Recht von ‚Talkshowisierung‘ (vgl. Tenscher 2002).
Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These
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massiver, unmittelbarer und differenzierter zur Funktion aktueller Publikumseindrücke und (d.h.) Zustimmungsquantitäten geworden ist. Politische Parteitage z.B. lassen sich mittlerweile nicht mehr nur mit Theatermetaphern beschreiben, sondern sie haben als Medienevents offensichtlich ganz und gar den Charakter von höchstgradig ritualisierten und inszenierten Image-Aufführungen, die expliziten Drehbüchern mit eindeutiger Medienausrichtung folgen (vgl. z.B. Brosda 1999: 199ff.).15 Und natürlich denkt man hier auch an (jedenfalls im politischen Feld Deutschlands) neue Institutionen wie das ‚TV-Duell der Kanzlerkandidaten‘.16 In ihm spitzt sich der Zusammenhang von Inszenierung, Performance und Korporalität einerseits und Publikum und Wahrnehmung andererseits dramatisch zu, und zwar, wie wir gesehen haben, als substantielle Machtfrage. Worum es in diesem Fall geht, ist im Zusammenhang und Aufeinandertreffen verschiedener Felder und Akteure ein durchaus sinnkomplexer sozialer Anlass, eine ‚Cultural Performance‘, ein Medienevent, das zugleich Merkmale eines Spektakels, einer Zeremonie, eines Spiels und eines Kampfs hat. In diesem Rahmen, aber auch davor und danach, manifestieren sich Habitus, Mentalitäten, Verhaltensstile, korporale Zeichen, habituelle und reflektierte Strategien, die auf ein Publikum zielen, das sich offenbar zunehmend als eine Art Theater-Publikum versteht und eine Zuschauermentalität an den Tag legt. Und im Bezug auf diese Realitäten finden ihrerseits inszenierte Diskurse statt, die wie das Medienevent selbst auf Figurationen, Felder, Akteure, Netzwerke, Mentalitäten und Kapitalverhältnisse verweisen. Das ‚TV-Duell‘ ist auch ein gutes, wenn nicht das beste Beispiel nicht nur für eine generell gewachsene Bedeutung von Inszenierung und Performance (inklusive Korporalität) im politischen ‚Spiel‘, sondern auch für die entsprechende Professionalisierung der Beratung und Betreuung immer medien- und imageversierterer politischer Akteure. Die im Feld des Politischen wie in anderen Feldern tätigen Werber und anderen Berater sind Inszenierungsvirtuosen, Performancekünstler und Publikumsspezialisten, die nichts anderes im Sinn haben, haben sollen und haben müssen, als das jeweilige ‚Theater‘. Unübersehbar ist auch eine reflexive Theatralisierung von politischen Diskursen und Diskurs-Politiken, und zwar mindestens auf zwei Ebenen. Zum einen werden (und sehen sich) politische Akteure offenbar zunehmend mit Diskursen und Publika konfrontiert, die sie mit der Metaphorik des Theaters als Schauspieler, Image-Arbeiter, zynische Strategen u.s.w. (dis-) qualifizieren. Zwar hat der Rückgriff auf die Theatermetapher im Bezug auf Politik seit jeher eine gewisse intuitive Plausibilität und auch eine lange Tradition, aber gerade im Hinblick auf journalistische Politikbeobachtungen (etwa des ‚Spiegel‘) scheint die Konjunktur dieser Deutung und dieses Deutungsmusters erst in der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Auch jedermanns Politikbild (und ‚Politikverdrossenheit‘) scheint heute mehr denn je – und in gewisser Weise durchaus zu Recht – durch die Theatermetapher geprägt zu sein. Zum anderen neigen offenbar auch die Politiker selbst mehr und mehr dazu, sich und die Welt in diesem Sinne zu deuten (vgl. Schatz/ Nieland 2004: 173ff). Neuerdings ziehen sie das Theatermodell sogar zur Legitimation für
15 Insofern ähneln sie dann wieder ‚Parteitagen‘ in totalitären Regimes. 16 Welches Wirkpotential in dieser dramatischen und dramatisierten Veranstaltung steckt, hat ein sehr großes Publikum erlebt.
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ihre dramaturgische Praxis heran, z.B. im Falle aufgedeckter Täuschungen17, die eben jenes (Diskurs-)Image der Politiker bei ihrem Publikum bestätigen und verstärken. Darüber hinaus hat der Theaterbegriff und haben ähnliche Begriffe wie Show oder Image in den öffentlichen Diskursen der Politik und der Politiker auch als Kampfbegriffe Konjunktur. Auch in ihren strategischen Imagearbeiten und aggressiven Imagekämpfen verwenden heutige Politiker besonders gern die Theatermetaphorik, um den jeweiligen Gegner zu diskreditieren und sich selbst entsprechend aufzuwerten, d.h. als ‚authentisch‘, ehrlich, seriös u.s.w. (also moralisch überlegen) zu präsentieren. Auch in dieser Praxis steckt natürlich ein Wissen um die Realität der Theatralität der politischen Praxis. Dass diese schließlich auch von (Politik-)Wissenschaftlern zunehmend mit Hilfe des Theatermodells beobachtet und in mehr oder weniger öffentlichkeitswirksamen Diskursen beschrieben wird, mag man für eine Theatralisierung besonderer Art halten. Auch sie bleibt nicht folgenlos für das Selbst- und Weltbewusstsein der betreffenden Publika (Politiker, Wähler, Journalisten). Das Wissen und das ‚Bewusstsein‘, um das es hier geht, ist ebenso Ausdruck wie Faktor von Theatralisierungen. Heutige Politiker müssen sich mit ihrer Theatralität auf Publika einstellen, die eben jene Politiker unter Theatralitätsaspekten relativieren, die aber auch – paradoxerweise? – mehr denn je disponiert zu sein scheinen, sich durch Inszenierungen und Performanzen/Performances gewinnen zu lassen. Zu den hier bedeutsamen Faktoren der Theatralisierung, die gerade der Medientheatralisierung der Politik Vorschub leisten, gehört die Entideologisierung bzw. ideologische Entpolarisierung der politischen Publika und ihre ‚Entbettung‘ aus profilierten Kulturen und ‚Lagern‘. In den Offenheiten und Spielräumen, die mit solchen Entwicklungen entstehen, kann und muss sich Theatralität, z.B. in der Form von Image-Arbeit, entfalten und Kontingenz reduzieren bzw. Struktur bilden. Was im Blick auf das politische Feld erkennbar oder nur allzu offensichtlich ist, scheint im Prinzip auch für andere Felder zu gelten: Sport18, Religion, Recht, Erziehung, Medizin/ Psychotherapie19, Kunst/Theater20, Journalismus21, Werbung, Wirtschaft22 und sogar Wissenschaft23 sind diagnostizierte Fälle. Auch auf diesen Feldern sind Prozesse und Tendenzen auszumachen, die mit dem Begriff der Theatralisierung gefasst und zusammengefasst werden können. Allerdings sind die diesbezüglichen Formen, Ursachen und Hintergründe sehr unterschiedlich und mehr oder weniger feldspezifisch24, d.h. abhängig von der Eigenlogik des jeweiligen Feldes und seiner ‚Einbettung‘ in die Gesellschaft. 17 Vgl. dazu den Beitrag von Schicha (Band 2), der sich mit dem Beispiel der ‚Bundesratslüge‘ der Unionsministerpräsidenten befasst. 18 Auch in diesem Zusammenhang spielen die Massenmedien eine zentrale Rolle als Theatralisierungsfaktor. Gerade das Fernsehen zielt immer stärker darauf ab, den jeweiligen Wettkämpfen eine dramaturgische und dramatische Gestalt zu geben und damit die Zuschauer zu emotionalisieren. Die Unterhaltungsorientierung des Mediensports und sein Bestreben, ein möglichst großes Publikumsinteresse zu schaffen, stimulieren einen „Dramatisierungs-Boom“ (Schwier/Schauerte). Vgl. dazu den Beitrag von Schwier/Schauerte (Band 1). 19 Vgl. den Beitrag von Warstat (Band 1). 20 Vgl. die Beiträge von Fischer-Lichte und von Lautmann (Band 1). 21 Vgl. Willems 2007. 22 Vgl. den Beitrag von Langenohl/Schmidt-Beck (Band 2). 23 Vgl. die Beiträge von Münch und von Suchanek (Band 1). 24 Man mag auch von einem unterschiedlichen Theatralisierungstempo der verschiedenen Felder sprechen. Die Theatralisierung der Wissenschaft z.B. schreitet gegenwärtig besonders dynamisch voran.
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So stellt sich z.B. die Theatralisierung im Feld des Sinnmarktes bzw. der Religion anders dar als in anderen Feldern. Im (Teil-)Bereich der katholischen Kirche z.B. sind viele und vielfältige, aber auch spezifisch distinkte Theatralisierungen zu beobachten. Sie reichen von der gegenwärtigen Renaissance des alten Liturgie-Theaters über Eventisierungsprozesse der kirchlichen Veranstaltungskultur25 und den Einzug regelrechter Bühnenaufführungen (Kinderkrippenspiele, Musicals etc.) in den Kirchenraum bis hin zu einer prinzipiellen, wenn auch impliziten Umdefinition der ‚Rolle‘ des Papstes zu einem Image- und Performance(Groß-)Unternehmer im Dienste der Corporate Identity des Unternehmens Kirche.26 Hinter diesen Phänomenen stehen historisch-feldspezifische Struktur- und Kulturbedingungen wie die sich verschärfende Konkurrenz auf dem Markt der Sinnanbieter, Publikumsverknappung, ein Mentalitätswandel des (potentiellen) Publikums, das z.B. immer höhere Ansprüche an die Qualität der religiösen Performance stellt, und zu Hilfe gerufene Beratungs- und Werbungsexperten27. Demgegenüber steht etwa die Theatralisierung des Sports (des ‚Leistungs-‘ wie des ‚Massensports‘) eher mit Prozessen der Mediatisierung und der Ökonomisierung/Kommerzialisierung in Verbindung.28 Theatralität und Theatralisierung gehen in Kontexten wie der Religion mit bestimmten Prinzipien von Realitätskonstruktion und mit prinzipiellen Realitätsumstellungen einher. Von spezifischer und exemplarischer Bedeutung mag hier eine Reduktion von Realität auf Theatralität sein. Dies ist z.B. dann der Fall, wenn sich die für das religiöse Publikum maßgeblichen Erlebnisse primär oder nur noch aus dem ‚Theater‘ der Religion ergeben. Wenn deren
25 Vgl. den Beitrag von Hepp/Krönert/Vogelgesang (Band 2) sowie Ebertz 2000 und den Band des Forschungskonsortiums WJT zum Weltjugendtag 2005 in Köln (Forschungskonsortium 2007). 26 Von Theatralisierung bzw. differentiellen Theatralisierungsgraden kann speziell im Bezug auf das Feld der Religion auch im interkulturellen bzw. internationalen Feld-Vergleich gesprochen werden. So ist die Theatralisierung der Religion (nicht zuletzt aufgrund entsprechender Sinnmarkt- bzw. Sinnvermarktlichungsbedingungen) in den USA am weitesten fortgeschritten. Ich zitiere dazu einen kritischen Beobachter, der in einem Vergleich von USA und Großbritannien feststellt: „Die Leute hier in Großbritannien gehen einmal im Jahr, an Weihnachten, in die Kirche; sie gehen zu Hochzeiten und Beerdigungen, und das war’s. Amerika dagegen ist so ziemlich das einzige westliche Land, das Kirche und Staat rigoros getrennt hat. Deshalb sind die Kirchen zu freien Unternehmen geworden. Es gibt aggressive Werbung, Verkäufer, die Religion verhökern wie Marktschreier ihr Seifenpulver. Und Konkurrenzkirchen gieren nach Kunden: Komm in meine Kirche, nicht in die anderen! Gib mir dein Geld, nicht den anderen. (...) Da gibt es Musik, blinkende Scheinwerfer, kreischende Mikrofone, Kinderbetreuung, Restaurants, Amüsement jeder Art. Das ist der Ort, an dem man seine Sonntage verbringt, Leute trifft. In Europa bekommt man hübsches farbiges Glas und manchmal schöne Choräle. Aber die Kirche ist kaum der Ort, wo man hingeht, um mal so richtig Spaß zu haben! So ein amerikanischer Gottesdienst gleicht einem Rockkonzert – oder einem Reichsparteitag“ (Dawkins 2007, 160). Ein besonderes Phänomen ist das ursprünglich aus den USA stammende Fernsehpredigertum, der „Televangelism“. Auch wenn ihre Bedeutung zeitweilig abgenommen hat, gelingt es Fernsehpredigern in den USA auch heute noch, ganze Footballstadien mit ihren Predigten und Performances in der von Dawkins beschriebenen Weise zu füllen. Gerade im Televangelism wird die Verschränkung von (religiöser) Mediennutzung, Kommerzialisierung und Theatralität/Theatralisierung besonders deutlich. Vgl. dazu beispielsweise Hadden/Swan 1981 und Bruce 1990. 27 Von dem Theatralisierungsprozess der Reklamisierung werden auch und gerade die Kirchen zunehmend erfasst bzw. sie lassen sich davon erfassen, in der Hoffnung, dieser Geist heile ihre Publikumsschwindsucht (vgl. Reichertz 2002). 28 Die jeweilige Logik und die einzelnen Kontextbedingungen des Feldes spezifizieren natürlich auch die Inhalte von Theatralität und Theatralisierung. Im Falle des Sports z.B. bestehen diese wesentlich in Dramatisierungen von Konkurrenz, Kampf und Leistung sowie in diversen Korporalisierungen, inklusive des (Kleidungs-)‚Outfits‘. Im Kontext der Religion geht es dagegen um eine Theatralität und Theatralisierung von Sinngebung, Innerlichkeit und Gemeinschaft, um hergestellte ‚Erlebnisse‘ wie die der ‚Erbauung‘ oder der meditativen Stimmung.
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‚Inhalte‘ ganz oder tendenziell an Bedeutung verlieren und es stattdessen hauptsächlich oder ausschließlich auf die ‚Form‘, auf die ‚Atmosphäre‘, die liturgische Performance, das Ritual als solches ankommt, dann hat jedenfalls eine gewisse Theatralisierung der religiösen Praxis stattgefunden. In diesem Fall müssen die religiösen Akteure im Kampf um ihr (Rest-)Publikum besonders und immer mehr in (ihre) Theatralität investieren. Theatralisierung in diesem (doppelten) Sinne ist vermutlich nicht nur im Kontext der Religion sondern auch in anderen (Feld-)Kontexten als Entwicklungstendenz festzustellen. So weist unsere politische ‚Erinnerungskultur‘ nicht nur eine eigene Art von Theatralität auf29, sondern beschränkt sich auch möglicherweise zunehmend auf diese Theatralität – eine Theatralität, die dann scheinbar paradoxerweise bei gleichzeitigem ‚Substanzverlust‘ expandiert. Oder man nehme das Beispiel des Zuschauersports (wie etwa die letzte Fußball-Europameisterschaft). Er bietet Events, Anlässe und Rahmen, sich zu vergnügen, zu feiern, ‚Party zu machen‘. Aber, von zahlenmäßig relativ kleinen Spezialkulturen (Fan-Kulturen) abgesehen, scheint die innere Bindung des (Massen-)Publikums an die wahrzunehmenden Ereignisse, Aktionen und Akteure eher zu schwinden. Im Maße seiner gewonnenen Spektakularität und Unterhaltsamkeit hat der Zuschauersport wohl an ‚Ernsthaftigkeit‘ für das Publikum verloren und wird eher spielerisch (also als ‚Theater‘) genommen, wahrgenommen und genutzt.30 Hier wie in anderen Kontexten (Politik, Religion, Kunst etc.) mag gelten: Während die Theatralisierung der sozialen Verhältnisse fortschreitet‚ nehmen ‚Glauben‘ und Identifikation der Akteure wie der Publika ab, und Distanz und Flexibilität – aber auch theatrale Aktivität und Kreativität gerade der Publika – nehmen zu.31 Theatralität und Theatralisierung spielen sich bereichsspezifisch auch und besonders ‚unterhalb‘ der Makroebene der Felder auf der (Mikro-)Ebene von speziellen Gruppenkulturen bzw. ‚Spezialkulturen’32 und Szenen ab, deren gesellschaftliche Ausbreitung, Ausdifferenzierung und Pluralisierung im Zusammenhang mit Medientechnologien (medientechnischer Infrastruktur), dem Feld der Massenmedien und dem Internet als eine besondere Bedingung und Seite von Theatralisierung anzusehen sind. Dies ist auch deshalb der Fall, weil Interaktion bzw. Interaktionstheatralität33 ein Kern der betreffenden sozio-kulturellen Gebilde bleibt, aber dynamisch diversifiziert und mit Medientheatralität verknüpft wird. So ist ein breites und sich immer weiter auffächerndes Spektrum spezieller Kulturen entstanden, die jeweils ihre eigene Theatralität kultivieren und in gewisser Weise in dieser Theatralität bestehen. Zu einem großen und größer werdenden Teil handelt es sich dabei um stark und spezifisch theatralische Kulturen, speziell Musik-, Tanz-, Event- und (andere) Körperkulturen.34 Aber auch das (Wieder-)Aufleben und der Funktionsgewinn traditioneller Varianten, die um Rituale (Zeremonien) organisiert sind, lassen sich in diesem Sinne deuten.35
29 Theatralität in Form von dramatischen Monumenten, Museen, medialen Performanzen u.s.w. 30 Ich gebe allerdings die Vorläufigkeit, die Einseitigkeit und die Fragilität dieser Deutung gerne zu und verweise auf den Beitrag von Gumbrecht in diesem Band. 31 Dies impliziert auch eine Zunahme „zynischer Darsteller“ (Goffman 1969) und zynischer Publika. 32 Vgl. zum Begriff und zu seiner Anwendung z.B. Wetzstein/Steinmetz/Reis/Eckert (1993). 33 Vgl. dazu den folgenden Beitrag von mir. 34 Vgl. dazu z.B. die Beiträge von Diaz-Bone, Hitzler/Pfadenhauer, Bullerjahn/Heipcke, Schwier/Schauerte und Gumbrecht (Band 1). 35 Vgl. dazu die Beiträge von Schorch und von Diaz-Bone (Band 1).
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Mit dem Begriff und mit der These der Theatralisierung (erst recht in Verbindung mit dem Begriff der Gesellschaft) geht es hier zudem und zunächst um die Lebenspraxis prinzipiell aller personalen Akteure. Die hier gemeinte Theatralisierung alltäglicher und außeralltäglicher Lebenswelt reicht von der Körperpflege und der Kleidung36 über das erotische Hofieren und die persönliche Beziehungsarbeit bis zu jedermanns Performanz des Trauerns37. Auch in diesem Zusammenhang gibt es natürlich ‚Kopplungen‘ und ‚Rückkopplungen‘ mit bestimmten Feldern, wobei wiederum den Massenmedien, aber auch – im Zusammenspiel mit diesen – dem ökonomischen Feld eine ‚(ver-)führende Rolle‘ zukommt. Theatralisierung auf der Ebene der Lebenswelt jedermanns hat offensichtlich viel mit der gewachsenen Relevanz von Werbung, Konsum(-kultur) und Konsumismus38 bzw. dem Angebot und dem Gebrauch von (z.B. modischen) ‚Requisiten‘ zu tun, die als Waren jedermann verfügbar (geworden) sind und kommerziell aufgedrängt werden. Dabei und darüber hinaus geht es um lebenspraktische Fragen des Images und (damit) des Stils/der (Selbst-)Stilisierung – um Fragen, die Individuen und Gruppen als Konkurrenten um Aufmerksamkeit, Geltung und Anerkennung stellen und mit Inszenierungen, Präsentationen und Performances zu beantworten suchen.
2. Theatralisierung und Enttheatralisierung Die Begriffe Theatralität und Theatralisierung sind im Blick auf die empirische Verfassung und Entwicklung der Gegenwartsgesellschaft einerseits fast übermäßig evident. Andererseits gibt es sozio-kulturelle Wandlungen bzw. Wandlungen von Theatralität, die eher einen Gegenbegriff nahelegen oder nahezulegen scheinen. Ich meine Varianten einer zumindest auf der Oberfläche gegenläufigen Entwicklung zur Theatralisierung bis hin zur Genese und Verbreitung von Formen von ‚Anti-Theatralität‘. Im Bereich des Politischen z.B.39 gibt es neben der und parallel zu der sich ausdifferenzierenden und verstärkenden ‚Schau-Seite‘ mit Schau-Spielern, Schau-Kämpfen, SchauDiskursen, Schau-Symbolen u.s.w. offensichtlich einen Bedeutungsgewinn von Räumen außerhalb der (Medien-)Öffentlichkeit, in denen entscheidungsrelevante Kommunikationen stattfinden (können) und jenseits öffentlichen Theatralitätsdrucks ‚offen‘ oder ‚offener‘ ge-
36 Vgl. dazu den Beitrag von Thiedeke (Band 1). 37 Es sind also nicht nur bereichs- bzw. feldspezifische Dispositionen, die Theatralisierungen Vorschub leisten und Form wie Inhalt geben, sondern auch bestimmte ‚Basisprozesse‘ der modernen Kultur. Dazu gehört der facettenreiche Prozess der Individualisierung und (d.h.) des Aufstiegs individualistischer (Selbst-)Wertorientierungen und (Selbst-)Deutungsmuster. Als ein Beispiel kann hier die Stil- und Diskurswandlung der Trauerkommunikation dienen, wie man sie allgemein in Todesanzeigen findet. Diese bilden offenbar zunehmend – und über die Verschiedenheit der diversen Milieus hinweg – Bühnen, auf denen sich vor allem ‚Hinterbliebene‘ in den charakteristischen und charakterisierenden Formen eines theatralischen Individualismus dramatisch aufführen. Oder man nehme in diesem Zusammenhang die Begräbniszeremonie selbst, die immer öfter auch schon vor dem Todesfall als eine Art individualistischer Kult in regelrechten Drehbüchern antizipiert und bis ins Detail dramatisch gestaltet wird (vgl. Möller 2008). 38 Vgl. Bolz 2002. 39 Und vermutlich ebenso auf allen anderen sozialen Feldern und gewiss im Kontext aller großen Organisationen.
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sprochen und verhandelt wird und werden kann (vgl. Schatz/Nieland 2004: 176f). Natürlich haben und sind auch solche Räume oder ‚Hinterbühnen‘ ihrerseits in gewisser Weise Theatralität. Aber diese Theatralität impliziert jedenfalls ‚nach Außen‘ gerade nicht „etwas zur Erscheinung zu bringen“ (Fischer-Lichte 1998: 87), nicht ‚Zurschaustellung‘, nicht Performance, sondern umgekehrt Unsichtbarkeit, Verbergen, Geheimnis. Vermutlich hat man es hier mit zwei Seiten einer Medaille zu tun: Im Zuge der Theatralisierung des politischen Lebens bzw. der politischen Öffentlichkeit entwickelt sich in dieser Sphäre zugleich eine Rück- und Gegenseite, verschieben und verändern sich Bühnen und Relevanzen und Funktionen von Bühnen, Inszenierungen und Aufführungen. Worum es mir hier geht, ist auch ein Spektrum von Verhaltensweisen, Semantiken und Praktiken, das gemessen an einem gegebenen oder gewesenen symbolischen Ordnungsniveau negativ ist und vielfach auf der Ebene der lebensweltlichen und der medialen Interaktionsordnung festgestellt wurde. Ich meine scheinbar kultivierten oder unkultivierten ‚Naturalismus‘ bzw. Sexismus (vgl. Weiß 2003), Obszönität, „Anti-Ritualismus“ (Soeffner 1995), Entmystifikationen, ‚Entzauberungen‘, Stigmatisierungen, die diversen Ansätze, die sich mit dem Begriff der Authentizität verbinden, u.s.w. Johannes Weiß spricht in diesem Zusammenhang sogar von der ‚Diagnose‘ einer „sozial-moralischen Verwahrlosung“ (2003: 224f). Danach machen sich im öffentlichen Leben „zunehmend nicht bloß distanzlose, sondern rüd-primitive Umgangsformen breit, und in den Medien, vornehmlich im Fernsehen, lasse sich ein offenbar unaufhaltsamer Prozeß der Entsublimierung und Entintimisierung, der hemmungslosen Selbstenthüllung und Selbsttrivialisierung beobachten. ‚Gewöhnlichkeit‘ im Sinne zivilisatorischer und moralischer, aber auch rein intellektueller Anspruchslosigkeit präge immer mehr alltagskulturelle Sinnwelten und Handlungsorientierungen“ (ebd.: 224). ‚Diagnosen‘ dieser Art haben in den Sozialwissenschaften nicht nur Aktualität und viel aktuelle „ad-hoc-Evidenz“ (ebd.: 224f), sondern auch Tradition. Von Durkheim und Simmel über Gehlen und Goffman bis Sennett konstatiert gerade die soziologische Modernitätstheorie auch einen Verfallsprozess von symbolischer Ordnung und Normalität, d.h. Theatralität. Allerdings besitzen die damit gemeinten Überschreitungen und Verletzungen zumindest teilweise ihre eigene Theatralität. Bisweilen, etwa in den medial inszenierten Formen radikaler Selbst- und Fremdentblößung, sind sie sogar besonders theatralisch und dramatisch. Darüber hinaus und im Zusammenhang damit sind hier bestimmte semantisierte oder auf Semantiken fußende Disqualifikationen, Umwertungen und Abwertungen von Theatralität bemerkenswert. ‚Theater‘ und Theatralität haben ja unter modernen Bedingungen bzw. in der Gegenwartsgesellschaft keineswegs überall und immer einen guten Ruf und müssen sich, was wiederum Theatralität auf den Plan ruft, vielfach verbergen, um akzeptabel oder erfolgreich sein zu können.40 Offensichtlich gibt es auch eine Art kulturelle Gegenbewegung
40 Das gilt speziell für die Bereiche, in denen Glaubwürdigkeit zentral ist und auf dem Spiel steht: persönliche Beziehungen, aber auch die Felder der Religion, der Kunst oder der Politik. ‚Schauspieler‘ sind hier bekanntlich sehr verbreitet, jedoch ist das Image des Schauspielers nicht besonders beliebt. Das Etikett der Schauspielerei kann sich hier sogar zu einer Art Stigma verdichten. Bekannte Beispiele dafür sind die Politiker Möllemann und Schröder. Deren Gegenspieler betrieben entsprechend negative Image-Arbeit, also eine strategische Theatralität der Zuweisung von ‚Minuspunkten‘. Umgekehrt gab und gibt es allerdings auch eine Tradition der Disqualifikation von Politikern durch eine ‚Theatralität der Blödigkeit‘. Kohl, Scharping oder Beck sind Beispiele dafür, wie sich negative Image-Arbeit gegen Politiker an Aspekten von (angeblich negativer) Theatralität festmachen kann.
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zu Theatralität und Theatralisierung – eine Gegenbewegung, die zum Teil als Theatralisierungseffekt zu verstehen ist. In dem Prozess, in dem Theatralisierung, immer auch mit (wenn auch sozial ungleich verteilten) Kosten, Belastungen und Verlusten voranschreitet, stellen sich zugleich intuitive und reflexive Abneigungen, Gegenbedürfnisse und Gegenverständnisse ein. Traditionsreich und heute weit oder weiter denn je verbreitet ist jedenfalls eine ‚Kritik‘ am (schönen) ‚Schein‘, an der ‚Oberflächlichkeit‘ der Kultur und ihrer Menschen, am ‚Körperkult‘, an der Mode u.s.w. – mitsamt einer Theatralität der Antitheatralität, die bis hin zu Subkulturen wie den sogenannten Punks reicht41. Sofern es in diesem Zusammenhang um eine verfestigte Entwicklung, eine Tendenz, einen Trend geht, verwende ich den Begriff der Enttheatralisierung42. Er bildet im Folgenden sozusagen den Gegen- und Komplementärbegriff zu den Begriffen Theatralität und Theatralisierung. Bei den damit gemeinten Phänomenen hat man es allerdings insbesondere im Medienkontext zumindest großenteils mit Realitäten zu tun, die auf Theatralität oder Theatralisierung dieser oder jener Art verweisen bzw. sozusagen als die andere Seite ein und derselben Medaille direkt damit zusammenhängen. Pornographische oder auch journalistische Obszönität z.B. impliziert zwar einen Bruch von (insbesondere ritueller) Theatralität; dieser Bruch wird aber mit Bedacht inszeniert und performiert, und er richtet sich ganz und gar an ein Publikum, das ihn als eine spezifische Unterhaltung wahrnimmt und wahrnehmen soll. Die Logik der Theatralität und der Theatralisierung ist also im sozio-kulturellen Gesamtzusammenhang der Gesellschaft keineswegs exklusiv, ‚übersichtlich‘ und konsistent. Es gibt innerhalb wie außerhalb der ‚Medientheater‘ mehrschichtige, mehrdeutige, widersprüchliche und paradoxe Verhältnisse zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung, Bühnenaufwertung und Bühnenabwertung, Bühnenvermehrung und Bühnenverlust, performativer Entzauberung und (Wieder-)Verzauberung u.s.w.; und es gibt neben Enttheatralisierungen, die real und primär sind, systematische Ambivalenzen zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung. Schon auf der Ebene der alltäglichen Lebenswelt waren und sind in diesem Sinne Prozesse wirksam, die für das Begriffspaar Theatralisierung/Enttheatralisierung sprechen. Ein Beispiel für eine im heutigen Alltagsleben sichtbare Ambivalenz zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung ist das Vor- und Eindringen von Kommunikationstechnologien in die Kontexte der alltäglichen Interaktionsordnung, etwa der Handy-Gebrauch43, der einerseits neue Möglichkeiten der Selbst-Inszenierung und Selbst-Performance eröffnet hat und immer noch eröffnet, andererseits aber auch in die normierte und gewohnte Interaktionsordnung einbricht und deren Theatralität irritiert oder stört. Ein anderes und sicher wichtigeres Beispiel für das hier Gemeinte sei etwas ausführlicher betrachtet: der moderne Humanismus, der sich bis in die Gegenwart hinein entfaltet. Mit dem
In diesem wie in jenem Zusammenhang haben sich regelrechte Diskurse entfaltet, hinter denen teilweise auch Strategien in (Macht-)Kämpfen stehen. 41 Vgl. dazu im Kontext der Werbungskopie solcher Modelle Willems/Kautt 2003: 197 ff. 42 Dieser Begriff ist in einem Gespräch mit Johannes Weiß entstanden, der unter anderem mit seiner Rede von „Vergewöhnlichung“ auf diese Seite des sozio-kulturellen Wandels hingewiesen hat (vgl. Weiß 2003). 43 Oder man nehme das (wiederum Medien-)Beispiel des Laptops, der heutzutage von jedermann fast überall aufgebaut und benutzt wird, regelmäßig ohne jede Rücksicht auf das ‚Ethos‘ (Goffman) des jeweiligen sozialen Anlasses.
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historischen Niedergang der Moral der Ehre und dem parallelen Aufstieg der humanistischen Würdemoral verbindet sich eine spezifische innere und äußere Enttheatralisierung, nämlich eine tendenzielle Auflösung der Selbstidentifizierung des Individuums mit seinen sozialen Rollen bei gleichzeitiger Aufwertung der „Menschlichkeit hinter und unterhalb der von der Gesellschaft auferlegten Rollen und Normen“ (Berger et al. 1975: 79).44 Der Aufstieg der „Welt der Würde“ bedeutet also eine gravierende Umwertung und Umstellung der Realität bzw. der Realität der Theatralität, die in diesem Fall auf eine ganze Kosmologie verweist. D.h. vor allem: „In einer Welt der Würde im modernen Sinn ist die soziale Symbolik, die die Interaktion der Menschen beherrscht, eine Verkleidung“ (ebd.: 80), sozusagen bloße Theatralität, die als Uneigentlichkeit, Oberfläche/Oberflächlichkeit, Verstellung moralisch abgewertet, disqualifiziert und verpönt ist. Mit der historischen ‚Würdigung‘ des Menschen degenerieren die ‚Wappenschilder‘, die sozialen Rollen und Rollenzeichen mindestens tendenziell zur Bedeutung eines bloßen ‚Theaters‘ und werden in diesem Sinne ‚bewusst‘ und thematisiert.45 Allerdings gehen diese kosmologisch-symbolischen (Trans-)Formationen mit neuen und teilweise besonders theatralischen Formen von Theatralität einher. Man denke etwa an die gruppentherapeutische und die massenmediale Bekenntniskultur mit ihren dramatischen Praktiken (z.B. das ‚Psychodrama‘). Und natürlich leben zugleich die Moral der Ehre und die Symbolik des ‚Wappenschilds‘ durchaus sowohl in alten als auch in neuen Formen fort (vgl. Vogt 1997). Die gerade in der jüngeren Vergangenheit geradezu inflationierenden Ehrungen, Ehrungszeremonien und Ehrenzeichen sind ein Beispiel und ein Beleg dafür sowie für eine gewisse ‚Renaissance‘ und (Re-)Theatralisierung von Ehre.46 Unter dem Titel Enttheatralisierung sind im Blick auf die Gegenwart und die jüngere Vergangenheit vermutlich hauptsächlich medien-kommerziell induzierte und ‚gepflegte‘ Formen der Abweichung von symbolischen (Interaktions-)Ordnungsnormen zu fassen. Die Massenmedien liefern gerade mit neueren und neuen Formaten nicht nur immer zahlreichere, sondern auch in der Tendenz immer krassere Beispiele für symbolische Formverluste, Rahmenbrüche47 und (ernste) Spiele mit Grenzen, die einmal verbindlich waren oder sogar als heilig geachtet wurden.48 Besonders auffällig sind in diesem Zusammenhang inszenierte Überschreitungen, Verletzungen und Zerstörungen ritueller Ordnungsformen: die von Goffman (1977b) so genannten „negativen Erfahrungen“, wie sie bezeichnenderweise in verschie-
44 Gehlen spricht vom „nackten Charakter“, der zur Zeit Molières „als komisch bühnenreif war“ (1957: 58). 45 Mit dieser Entwicklung sind natürlich andere kosmologische Formationen und Transformationen verbunden, die wie die Würde ‚Anti-Theatralität‘ postulieren und als gegenläufig zum Prozess der Theatralisierung zu verstehen sind. Dazu gehören der moderne ‚Naturalismus‘ und der Wert der ‚Natürlichkeit‘ ebenso wie die Vorstellungen und Normen der Wahrhaftigkeit und der Authentizität, mit denen Inszenierungs- und Performanceverbote sowie entsprechende Grenzen von Theatralität verbunden sind. 46 Die Massenmedien spielen hier eine eigenständige und wichtige Rolle, indem sie der jeweiligen Ehrung durch die Implikation der Massenhaftigkeit des Publikums zusätzliches Gewicht verleihen. Damit verstärken sie auch Motive und Phantasien sowohl auf der Seite der zu Ehrenden als auch auf der Seite des allgemeinen oder speziellen Publikums. 47 Hier ist allerdings auch an alltägliche Interaktionslebenswelten zu denken, die dem ‚naturalistischen‘ Beobachter der Gegenwart in der Form grassierender ‚schlechter Manieren‘ Evidenz für die Enttheatralisierungsthese liefern. 48 Wir leben also in einer (medialen) Welt der Würde und der expandierenden würdemoralischen Diskurse, der eine gleichzeitig expandierende Welt der – inszenierten und performierten, ja zelebrierten – Würdelosigkeit, Entwürdigung und Schamlosigkeit sozusagen parallel läuft.
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denen ‚Shows’49 ebenso systematisch wie inflationär und mit Verschärfungstendenz generiert werden. Der Begriff der Enttheatralisierung trifft in diesem Zusammenhang z.B. dann, wenn die interaktionsrituelle Theatralität des Selbstes50 zu Zwecken der (Medien-)Publikumsunterhaltung zum Gegenstand systematischer ‚Heruntermodulation‘ oder Destruktion (durch Beleidigung, Beschmutzung, Verspottung u.s.w.) gemacht wird51. Der Formenkreis von symbolischen ‚Ordnungswidrigkeiten‘, um den es sich hier handelt, spricht nicht nur durch seine Qualität und Quantität, sondern auch durch seine kosmologische Akzeptabilisierung und Normalisierung, sein Azeptabel- und Normalgewordensein für den Begriff der Enttheatralisierung. Die Phänomene, um die es geht, liegen ja mittlerweile nicht mehr wie etwa (noch) die pornographische Obszönität jenseits der Grenzen von Akzeptabilität und Normalität, sondern entfalten sich mehr und mehr innerhalb dieser Grenzen. Hier haben sich unübersehbar grundlegende symbolische Grenzlinien und Grenzverständnisse verschoben bzw. sind verschoben worden. Die Massenmedien erscheinen in diesem Zusammenhang nicht nur als die sozialen Hauptorte von ‚negativer Theatralität‘ und Enttheatralisierung, sondern können auch, wie im Falle der beschriebenen Theatralisierungen, als ein eigenständiger und starker Faktor (Generator) dieser Entwicklung angesehen werden. Indem die Medien und die medialen Performanzen die habituell gestützte Interaktionsordnung mit ihren Normen und Ritualen gewissermaßen überspringen, schaffen sie zunächst eine Art Freiraum, einen ‚rituellen Grenzbereich‘, der von der spezifischen Restriktivität bzw. der Schamhaftigkeit und Peinlichkeit der unmittelbaren Interaktionssphäre im Prinzip frei ist. An die medienimmanente „Herabsetzung von Schamschwellen“ (Weiß 2003: 225) schließen die Gesetze des (Medien-)Marktes und d.h. die Nachfragen der Publika an. Der Markt bedient natürlich letztlich aus Profitgründen Publikumswünsche, und zwar mit (verständlicher) Vorliebe massenhafte. Weiß52 stellt für das „auf Massenbedürfnisse abstellende“ Fernsehen fest, dass es „den einen (wenigen) ganz unerhörte Profitchancen bietet, den anderen (vielen) unerhörte Möglichkeiten des leicht erreichbaren und in jeder Hinsicht billigen Vergnügens, aber auch der Identifikation, der Selbstversicherung und sogar der Selbsterhebung“ (ebd.: 225f).53 Das unter den Titeln Theatralisierung und Enttheatralisierung angestrebte ‚diagnostische‘ Bild erscheint bis hierher nicht nur als komplex und ambivalent54, sondern auch als weiter 49 Man denke etwa an ‚Reality-Shows‘ wie „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus!“ (RTL) oder an Casting-Shows wie „Deutschland sucht den Superstar“ (RTL). Die Inszenierungslogiken dieser Show-Formate stehen gewissermaßen komplementär zueinander: Während wir in der Casting-Show beobachten können, wie Alltagsmenschen, die ‚Stars‘ werden wollen, im allgemeinen mehr oder weniger „negative Erfahrungen“ machen und regelmäßig unterhalb eines symbolischen Normalitätsniveaus absinken, sehen wir im ‚Dschungel-Camp‘, wie ‚Stars‘ degradiert werden und ihr Image gegen rituelle Verletzungen verteidigen müssen. 50 Sie ist bekanntlich ein zentrales Thema Goffmans, das er in allen seinen Arbeiten mehr oder weniger fokussiert. 51 Einen wichtigen Sonderfall bilden hier die mittlerweile globalen Fluten von Pornographie. Pornographisierung bedeutet im Hinblick auf die in der Pornographie inszenierte symbolische Ordnung Enttheatralisierung: Überschreitung und Verletzung von normierter Würde- und Liebesmoral. 52 Ganz ähnlich Bourdieu (1998) in seinen letzten Überlegungen zum Fernsehen. 53 Weiß konstatiert also einen Zusammenhang zwischen Prozessen der Medientheatralisierung einerseits und einer gewissen kulturellen Primitivisierung andererseits, sozusagen eine kulturelle ‚Abwärtsspirale‘. Sie kann als eine Art Enttheatralisierung verstanden werden. 54 Mit der Parallelität von Theatralisierung und Enttheatralisierung geht es, wofür auch die folgenden Überlegungen sprechen, um eine der Ambivalenzen, die für die Moderne und die Modernisierung überhaupt charakteristisch sind.
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differenzierungs- und theoretisch fundierungsbedürftig. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass die hier gemeinten Tatsachen und Entwicklungen, z.B. ‚Informalisierungen‘ des Benehmens oder ‚normalistische‘ Grenzziehungen, auch eine Frage der mehr oder weniger flüchtigen Mode und des kurzfristigeren ‚Zeitgeistes‘ sind.55 Die Richtung einer weiteren Klärung der hier thematischen Phänomene und Begrifflichkeiten soll der folgende kurze Versuch einer soziologischen Kontextualisierung weisen.
3. Sozio-kulturelle (Struktur-)Bedingungen und Faktoren von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung Im Blick auf die Moderne bzw. die Gegenwartsgesellschaft lässt sich eine Reihe von soziokulturellen Bedingungen und Faktoren (Generatoren) von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung ausmachen. Einige dieser Tatsachen seien im Folgenden (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) genannt und in aller hier gebotenen Kürze angedeutet. Damit werden einerseits systematische Abhängigkeiten, Konditioniertheiten und Generiertheiten von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung bzw. von Ambivalenzen zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung deutlich. Deutlich wird andererseits, dass Theatralität und (Ent-)Theatralisierung nicht nur anderen Prozessen (sozio-kulturelle Differenzierung, Enttraditionalisierung, Individualisierung etc.) gleichsam aufsitzen oder anhängen, sondern auch – insbesondere in medialen Formen – eine eigene sozio-kulturell generative und bestimmende Bedeutung und Kraft besitzen. Mit Theatralisierung meine ich – und deswegen ist dieser Begriff hier der Schlüsselbegriff – ganz wesentlich diesen Punkt: insbesondere im Zuge der Mediatisierung der Gesellschaft vollzogene und sich vollziehende Wandlungen, Umstellungen von Mustern oder sogar der Konstruktionslogik von Wirklichkeit durch (Medien-)Theatralität. Sie erlangt auf vielen Feldern und in vielen Bereichen sozusagen ein funktionales, praxisbestimmendes Eigengewicht und wird zumindest zu einem maßgeblichen, wenn nicht dominierenden Faktor von Praxis.
55 So hatte die Würdemoral in der Zeit der ‚68er‘ eine sozial weitreichende Hochkonjunktur. Nicht ‚Äußerlichkeiten‘, sondern der ‚bloße Mensch‘ und das ‚bloß Menschliche‘ zählten jedenfalls als Modell in der dominanten Jugendsubkultur mehr als je zuvor und mehr als je danach – mit der Implikation einer Theatralität gewisser Theatralitätsnihilierungen. Was dann folgte, war und ist bekanntlich eher eine Renaissance traditionellen ‚Statusdenkens‘ und traditioneller Statustheatralität – zunehmend gepaart mit teils neuen und teils modulierten Statusverständnissen und Statussymboliken, wie sie etwa im Bereich der Korporalität Platz gegriffen haben und Platz greifen (vgl. Koppetsch 2000).
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3.1 Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft Mit ihren Differenzierungsformen und Differenzierungsfolgen, insbesondere mit ihrem Primat der funktionalen Differenzierung, und ihrer strukturellen Komplexität, bedingt und erzeugt die heutige Gesellschaft sozio-kulturelle Verhältnisse, speziell Verhältnisse des Wissens und Nichtwissens, die für die Realitäten der Theatralität spezifisch folgenreich sind. Von offensichtlicher Wichtigkeit sind in diesem Zusammenhang die Formen und Inhalte der Rollen (!) und Rollenhaushalte der Akteure sowie deren Einbettung in spezifische bzw. funktionsspezifische Handlungszusammenhänge. Sozio-kulturelle Differenzierung bedeutet zumindest tendenziell eine Komplexitätssteigerung, Diversifizierung, Dynamisierung und Mobilisierung der individuellen Rollenhaushalte mit Implikationen von und für Theatralität und Theatralisierung. Solche Implikationen liegen speziell in den differenzierungs- und mediatisierungsbedingten Netzwerken, die entsprechende (Theatralitäts-)Arbeit, ja eine eigene Art von (Netzwerk-)Theatralität mit sich bringen. ‚Networking‘ impliziert wesentlich die Theatralität der Image-Arbeit, die heute natürlich weitgehend über (Verständigungs-)Medien läuft und der mit dem Internet noch einmal eine ganz neue Dimension von Möglichkeiten zugewachsen ist. Ein strukturbedingter und strukturerzeugter Faktor von Theatralität und Theatralisierung besteht auch in der modernitätsimmanenten Fremdheit, die Alois Hahn „generalisierte Fremdheit“ (2000: 54) nennt. Sie impliziert einen mit Differenzierungsprozessen wachsenden (Spiel-)Raum der (Des-)Informierbarkeit und Informationsbedürftigkeit sowie einen Zwang zur (Des-)Information durch Präsentation, Performanz und Inszenierung. Worum es hier geht, sind zwei Formen von Fremdheit, nämlich einerseits Fremdheit in der Form des ‚einfachen‘ Nichtwissens, der bloßen Abgeschnittenheit von (z.B. biographischen) Informationen, die man prinzipiell verstehen kann, und andererseits um Fremdheit in der Form des Nichtverstehens bzw. Nichtverstehenkönnens aufgrund von z.B. spezialisierungsbedingten Wissensasymmetrien bzw. Inkompetenzen. Beide Fremdheitsformen gewinnen im Modernisierungsprozess systematisch an Bedeutung – mit der Implikation von Erfordernissen, Zwängen und Spielräumen, wahre und unwahre Eindrücke zu erzeugen, andere zu ‚entfremden‘, sie ‚ins Bild zu setzen‘ oder/und ihnen etwas vorzumachen, sie mit Wahrheiten, Halbwahrheiten oder Unwahrheiten (für sich) ‚einzunehmen‘.56 Es besteht damit auch ein systematischer Zusammenhang zwischen Theatralisierung und Fiktionalisierung von ‚Lebenswirklichkeit‘. Die theatrale Konstruktion der Wirklichkeit ist in vielen Formen eine Erzeugung von Fiktionen, die Fremdheiten und d.h. Realitätsverluste funktional kompensieren.57
56 Dies ist natürlich auch einer der (wissens-)strukturellen Voraussetzungen und Hintergründe der von Goffman betonten Tendenz des (Inter-)Akteurs, sich selbst in das (sozial) ‚beste Licht‘ zu rücken (vgl. z.B. 1969). 57 Eine systematische Rolle spielt hier natürlich die professionelle Werbung. Sie kann und soll neben Aufmerksamkeit Image und Distinktion erzeugen und Produkte „individualisieren“ (Schmidt 1995a: 31), ihnen eine „Persönlichkeit“ (Kroeber-Riel 1988, 1993) geben. Werbung ist also auch ein symbolischer Sinngenerator, der mit der entsprechenden Aufladung des beworbenen Objekts und mit „ideellem Mehrwert“ (S. J. Schmidt) Konsummotive und Konsumerlebnisse erzeugt. Das Vermögen, in diesem Sinne zu fungieren und ganz allgemein Image-Arbeit zu leisten, macht Werbung zu einer der wichtigsten Stützen, ‚Betriebssysteme‘ und Kriseninterventionsressourcen der Wirtschaft.
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Entsprechend stark, gezielt und bewusst muss die Publikumsorientierung der Akteure werden, die ihre Publika mit zunehmender Differenzierung und Diversifizierung immer weniger einfach voraussetzen können und immer mehr dazu gezwungen sind, sie kennen zu lernen, sie bzw. ihre relevanten Perspektiven zu ‚recherchieren‘, um das ‚Design‘ der eigenen Theatralität angemessen einzustellen. Umgekehrt muss es denjenigen, die auf diese Weise adressiert werden, naheliegen, sich gegenüber der ihnen dar- oder angebotenen Theatralität bewusst, reflexiv und u.U. vorsichtig und prüfend zu verhalten. Dieselben Strukturbedingungen, die den genannten Theatralisierungen zugrunde liegen, haben gleichzeitig ein ‚Bewusstsein‘ von und für Theatralität zur Folge. Man versteht seine soziale Welt umso mehr in theatralen Kategorien oder als eine Art Theater, je mehr man gezwungen ist, sich in immer mehr, immer diversere, immer schneller aufeinander folgende ‚Kontexte‘ (Anlässe, Settings, Rahmen) ‚einzuspielen‘ und zugleich geradezu aufgerufen ist, ‚aufzuspielen‘ und ‚sich aufzuspielen‘. Theatralität wird dann im Einzelnen unselbstverständlicher, (kontingenz-)bewusster und reflektierter – unter anderem mit der Konsequenz, dass das Deutungsmuster Theatralität (das kosmologische Theatermodell) an Plausibilität und Resonanz gewinnt. Hinzukommt, dass mit der sozialen Differenzierung zugleich die kulturelle Differenzierung der, insbesondere medialen, Sinnwelten fortschreitet, in die man sich ‚hineinsteigern‘ muss oder will. Auch dieser realen Theatralisierung des Lebens, der Pluralisierung der gespielten, zu erlebenden und zu spielenden ‚Stücke‘, korrespondiert ein forciertes Theatralitätsbewusstsein und ‚theatrologisches‘ Denken der Akteure. Die Entwicklung des Internets hat den hier gemeinten Prozessen zweifellos noch einmal einen Schub gegeben und sie punktuell in ‚qualitativen Sprüngen‘ fortgeführt (vgl. Willems 2008). Die andere Seite derselben Medaille besteht in gegenläufigen Entwicklungen: Enttheatralisierungen. Sie liegen z.B. in strukturbedingt erweiterten Möglichkeiten, sich der Teilnahme an Inszenierungen, Präsentationen und Performances zu entziehen, einzelne ‚Theater‘ oder Bühnen zu relativieren oder zu meiden oder ‚Hinterbühnen‘ zu organisieren. Es gibt insbesondere auch einen strukturbedingten Relevanzverlust einzelner Formen von Theatralität, eine Indifferenz gegenüber eigener und fremder Theatralität, z.B. auf der Ebene der rituellen Interaktionsordnung, sowie ein systematisches Scheitern von Theatralität an strukturbedingten oder strukturerzeugten Wahrnehmungsverhältnissen. Speziell die allseits bekannte ‚Reiz-‘ und ‚Informationsüberflutung‘ reduziert die Aussichten, z.B. von Werbungsperformanzen, in der Wahrnehmung eines adressierten Publikums überhaupt oder so wie beabsichtigt ‚anzukommen‘. Auch in dieser Hinsicht kann man von strukturbedingter oder strukturerzeugter Enttheatralisierung sprechen. Aufführungen scheitern immer häufiger an fehlendem oder indisponiertem Publikum.
3.2 Funktionale (Aus-)Differenzierungen und Spezialisierungen von Theatralität Eine besondere und besonders wichtige Rolle spielt im Zusammenhang mit den genannten Differenzierungsprozessen die funktionale Ausdifferenzierung und zugleich kontinuierliche Expansion von sozialen Systemen, Branchen, Organisationen, Betrieben, Rollen und Professionen, die mehr oder weniger hauptsächlich Aspekte oder ganze ‚Komplexe‘ von Theatralität produzieren und bedienen.
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Zum einen sind hier die selbständigen Spezialanbieter von Theatralität bzw. theatraler ‚Infrastruktur‘ zu nennen. Die heute bereits gigantischen und zumindest teilweise immer noch wachsenden Systeme der Werbung, der ‚Marktforschung‘, des (speziell Event-)Marketings, der Beratung, der „Wartung“ (Goffman 1969), des ‚Trainings‘ und ‚Coachings‘ sind Faktoren diverser Theatralitäten, Theatralitätsaspekte und Theatralisierungen. Alle hier gemeinten Systeme haben unter Marktbedingungen eine Tendenz dazu, den Bedarf anzuheizen und zu produzieren, zu dessen Deckung sie sich anbieten und dienen wollen. Theatralität wird damit zu einem Dienst, der als spezialisierte Leistung eine Neigung zur Expansion wie auch zur Perfektion und zur Virtuosität hat. Darin liegt natürlich auch – wiederum mit Theatralisierungseffekten – eine Orientierung, Motivation und Stimulation für jedermann, der sich z.B. an den Idealvorgaben und Stilisierungen der Werbung ausrichten kann. Zum anderen zeigt sich eine über die verschiedenen Sozialsystemtypen hinweg generalisierte Tendenz zur Ausdifferenzierung und Spezialisierung theatraler Funktionen. Sie beginnen bei jedermanns Homepage und enden bei den entsprechenden Abteilungen und Rollengefügen großer Organisationen, die heute mehr denn je auf der Basis interner und externer Ressourcen und Spezialisten Wert auf außen- und innenorientierte Image-Arbeit legen.
3.3 Kontingenzsteigerungen und Anomisierungen In dem Maße wie Kontingenz und Anomie, wie Unbestimmtheit, Offenheit, Veränderlichkeit, Orientierungslosigkeit zur modernen ‚Zeitsignatur‘ geworden sind und werden, wie sich institutionelle, traditionale und habituelle Ordnungen und Bindungen lockern oder auflösen, entsteht ein ambivalenter Spielraum für die individuellen und individualisierten Akteure. Sie sind, wie die Soziologie von Simmel über Gehlen bis Beck konstatiert (Gehlen 1957, 89ff.; Beck 1986), mehr denn je freigesetzt und besitzen im Maß ihrer Freisetzung nicht nur das Privileg der Freiheit, sondern stehen zugleich unter dem Zwang, sie sinnvoll zu gebrauchen. Dies betrifft mit der Implikation einer entsprechenden Bewusstheit und Reflexivität auch Theatralität, z.B. Korporalität in der Form von Kleidung, die nun mehr denn je zur Disposition steht, aber auch gewählt und gestaltet werden muss, wenn Erfolge bei Publika erwünscht sind. Theatralität, theatrale Handlung und Handlungskunst, ist im Zusammenhang der hier gemeinten sozio-kulturellen Wandlungen aber auch so etwas wie eine systematische soziale Problemlösung, die angefordert wird und verbreitet ist. Eine Schlüsselrolle spielen in diesem Zusammenhang Formen strategischer Theatralität, die zumindest teilweise an die Funktionsstelle von sozialen (institutionellen, traditionalen) Strukturen treten und Kontingenz reduzieren können. So muss es in vielen Handlungsbereichen mittels strategischer Theatralität darum gehen, mehr oder weniger entbundene und ungebundene andere zu einem bestimmten gewünschten Verhalten zu veranlassen bzw. für etwas (Absichten, Pläne) zu gewinnen. Im Bereich des Politischen z.B. ist offensichtlich, dass mit Entwicklungen wie der ‚Verflüssigung‘ der Ideologien und der tendenziellen Erosion gewachsener Partei- und Lagerbindungen eine Umstellung des Denkens und Handelns der politischen Akteure einhergeht und einhergehen muss. Geltung, Zustimmung und Anschluss muss heute mehr denn je und
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permanent (nicht nur zur Wahlzeit) gegenüber relevantem Publikum und von diesem durch Theatralität erworben werden.58 Ähnlich stellt sich die Lage im religiösen Bereich dar. Auch hier ist ja die Zeit verbindlicher und bindender Ideologie und selbstverständlicher Verankerung im sozialen Raum längst vorbei, kann immer weniger die Gruppe vorausgesetzt und muss immer mehr ein Publikum immer wieder neu affiziert werden: durch ‚ansprechende‘ Gestaltung (Formulierung) der ‚Botschaft’59 und der Zeremonien, durch (deren) Eventisierung, durch besondere Freundlichkeit des Personals, auch und zunehmend durch Inanspruchnahme professioneller Werbungsdienstleistung. Ein anderes Feld und Beispiel sind jedermanns persönliche Beziehungen, insbesondere Intimbeziehungen, die heute mehr denn je (bewusst) ‚gepflegt‘ werden müssen – auch weil sie mehr denn je wählbar und abwählbar sind und damit im Prinzip permanent zur Disposition stehen.60 Entsprechend muss man Theatralität und in Theatralität (nicht zuletzt Performance) investieren. Oder man nehme die ‚posttraditionalen‘ Freizeitgemeinschaften als Beispiel. Auch hier ist Kontingenz ein ‚Systemproblem‘ und Theatralität eine Lösung, nämlich ein zu handhabendes Bindungs- und Integrationsprinzip. Denn diese (neue) Art von Gemeinschaft kann ihre Mitglieder „nicht über das hinaus verpflichten, was diese sich je individuell als Verpflichtung selber auferlegen. Sie kann Mitgliedschaft nicht erzwingen, sondern lediglich zur Mitgliedschaft verführen (...). Sie besitzt nur Autorität, weil und solange ihr Autorität zugestanden wird“ (Hitzler 1998: 5). Mitgliedschaft und Partizipation müssen in diesem Kontext also permanent erworben werden; sie sind eine direkte Funktion der Performanz/Performance der Gemeinschaft und in der Gemeinschaft, die sie sozusagen ‚veranlasst‘. Generell kann man feststellen, dass theatrale Handlungskünste aller Art in einer Gesellschaft, die von Unbestimmtheit bestimmt ist, als Ordnungsfaktoren ersten Ranges fungieren. Theatralität ist insofern eine direkte Funktion von Modernität; oder aus der Prozess-Perspektive formuliert: Theatralisierung ist eine Funktion von Modernisierung.
3.4 Knappheiten und Verknappungen Die Entwicklung der modernen Gesellschaft geht auf allen ihren Feldern mit systematischen Knappheiten und Verknappungen von Ressourcen einher, die Theatralität betreffen und auf den Plan rufen. Aufmerksamkeitsknappheit erscheint geradezu als ein Charakteristikum der Gegenwartsgesellschaft, das als Einschränkung und Grenze der Erfolgswahrscheinlichkeit von Handlungen ein Problem darstellt und von den Akteuren als Problem und Aufgabe wahrgenommen und bearbeitet wird. Vielfache und berechtigte Rede ist heute von Aufmerksamkeit als 58 Die andere Seite ist eine der Öffentlichkeit (jedoch nicht der Logik der Theatralität) entzogene politische Praxis, die darin besteht, Macht auf der Basis persönlicher Beziehungen und Interaktionen auszuüben, zu bilden und zu steigern. 59 In den Varianten etwa, die im „Wort zum Sonntag“ verkündet werden. 60 Auch Eltern-Kind-Beziehungen leben im heutigen (Mittelschichts-)Normalfall zunehmend von persönlicher Zustimmung und Anerkennung (Autorität), die durch Theatralität zu ‚erwerben‘ ist.
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knappem ‚Gut‘, von ‚Ökonomien der Aufmerksamkeit‘ und von (Konkurrenz-)‚Kämpfen um Aufmerksamkeit‘. Dass diese Rede auf Realitäten verweist, nämlich z.B. auf informationelle Überkomplexität, Überlastung und diversifizierte Resonanzen (Ansprechbarkeiten) von Publika, und dass diese Realitäten Theatralität verschiedener Art als Problemlösung hervorrufen, liegt auf der Hand. Wer nicht ins soziale Nichts der Unauffälligkeit, des Nichtbemerktwerdens oder Nichtgemerktwerdens geraten will oder etwas geraten lassen will, muss aktiv und d.h. performativ (auf sich) aufmerksam machen. Alle Akteure, die etwas qua Image und Meinung zu gewinnen und zu verlieren haben, Politiker, Wissenschaftler, Künstler, ‚Randgruppen‘ etc., haben ein Motiv und neigen dazu, als Kämpfer um Aufmerksamkeit und als Arbeiter an Aufmerksamkeit aktiv zu werden und d.h., sich eines bestimmten Repertoires von Strategien und Methoden der Theatralität zu bedienen. Von ihnen wird umso häufiger, variantenreicher, intensiver und bewusster Gebrauch gemacht, je mehr sich das Problem der Aufmerksamkeit generalisiert und verschärft. Das Problem der Aufmerksamkeitsknappheit wird mit einer Reihe typischer Strategien und Methoden bearbeitet, die zu teils feldspezifischen, teils felderübergreifenden Arsenalen gehören. Neuheit bzw. (Über-)Dramatisierung von Neuheit z.B. ist ein probates Aufmerksamkeitsmittel der professionellen Wirtschaftswerbung, aber es ist auch in der Wissenschaft, in der Politik, in der Kunst zu finden. Eine andere wohlbekannte und spezifisch theatrale/ theatralische Methode ist die Provokation. Sie spielt in der neueren Wirtschaftswerbung, dem sich dort dramatisch verschärfenden Problem knapper Publikumsaufmerksamkeit entsprechend, eine zunehmend große Rolle (vgl. Jäckel/Reinhardt 2002; Willems/Kautt 2003). Aber natürlich kennt man diese Methode der Aufmerksamkeitsgenerierung auch z.B. aus der Politik und aus dem Alltagsleben. In den sich vermehrenden, vervielfältigenden und verschärfenden Wettbewerben um die Erreichung, Bindung und Beeindruckung von Publika muss es also in erster Linie und permanent darum gehen, Aufmerksamkeit zu erheischen. Auffallen und Gefallen fallen dabei prinzipiell auseinander, faktisch aber bedarf es normalerweise eines – herzustellenden – Zusammenhangs zwischen diesen beiden Wahrnehmungsdimensionen. Allerdings ist das Aufmerksamkeitsproblem in gewisser Weise systematisch primär61, und es schiebt sich empirisch ‚umweltbedingt‘ immer mehr in den Vordergrund der praktischen Handlungsproblematik und auch des Problembewusstseins der Akteure (etwa in der Werbung). Die entsprechenden Kommunikationen bzw. Produkte, z.B. Medienprodukte, müssen also zunehmend bewusst, planvoll, strategisch, ‚aufmerksamkeitsökonomisch‘ gestaltet werden, d.h. von dem Bemühen geprägt sein, in der Wahrnehmung eines Publikums überhaupt ‚anzukommen‘. Diese Praxis der Problembearbeitung trägt wesentlich dazu bei, das Problem (der Aufmerksamkeitsknappheit) selbst zu verschärfen und damit wiederum Aktivitäten der Problemlösung anzuheizen. Besonders deutlich zeigt sich das auf dem Feld der Massenmedien, wo die Erzeugung von Aufmerksamkeit von immer mehr Interessenten an Aufmerksamkeit und Verbrauchern von Aufmerksamkeit immer massiver, gezielter und methodischer betrieben wird – mit der Folge von immer knapper werdender Aufmerksamkeit. Diese Problematik impliziert eine Produktivität und Dynamik von Theatralität, d.h. Theatralisierung.
61 Ohne vorgängige Aufmerksamkeit gibt es kein Verstehen, keinen Eindruck und keine Wirkung.
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Mit dem Problem der Aufmerksamkeitsknappheit eng verbunden ist die Knappheitsproblematik des Verstehens und der Verständlichkeit. Die Differenzierung und Diversifikation der Kulturen (Subkulturen, Milieus, Spezialkulturen, Szenen), der Habitus, der Relevanzstrukturen, der sprachlichen Kodes bringt eigene Probleme des ‚Ankommens‘ mit sich, nämlich Zwänge, das Verstehen und die Verstehensbedingungen von relevanten Publika ins Auge zu fassen und sich – durch Theatralität – verständlich zu machen. Eine weitere sich in der Gegenwartsgesellschaft zuspitzende Grundknappheit der Moderne, die Theatralität und Theatralisierung ebenso betrifft wie hervorruft, besteht in der Knappheit von spezifischen Images, nämlich von Images, die positiv achtungsgeladen sind. Die Achtungstypen, um die es hier geht, sind mit kontext- bzw. feldspezifisch bedeutungsvollen Begriffen wie Prestige, Ansehen, (guter) Ruf, Reputation, Autorität, Beliebtheit, Sympathie, Charisma u.a.m. belegt. An den damit gemeinten Attributionen gibt es heute aus Struktur- und Kulturgründen mehr und vielfältiger denn je objektiven und subjektiven Bedarf62 – mit der Konsequenz von entsprechender Konkurrenz und von Arbeit mit dem Ziel, das jeweils knappe ‚Gut‘ zu erhalten und zu behalten. Auf einer ganz grundlegenden Ebene geht es hier um – fremdheitsbedingt – zu füllende ‚Image-Informationslöcher‘, einen elementaren ‚Zwang zur Selbstdarstellung‘ und zur (Aus- und Um-)Definition, mit dem ein Zwang und ein nahe liegender Wille verbunden ist, ‚gute Eindrücke‘ zu machen und d.h. positive Attributionen hervorzurufen. Versucht wird dies in diverser und diversifizierter Theatralität mit allen erfolgversprechenden Mitteln in Selbst- oder Stellvertretung (vgl. Weiß 1998). Es gilt, sozial relevante, und d.h. achtungsrelevante, Informationen sichtbar oder unsichtbar zu machen, (demonstrativ) zu zeigen oder zu verhüllen, im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne Bilder von sich und anderen (Objekten) zu machen und als ‚Eindrücke‘ zu hinterlassen. Image wird damit zum praktischen Schlüsselbegriff, der wie der Begriff der Performance, der heutzutage auch schon ein Jedermannsbegriff ist, eine Bewusstheit und Reflexivität anzeigt, für die die Begriffe Theatralität und Theatralisierung angemessen sind. Und Image-Arbeit wird zu einer Handlungskunst aller Handelnden, die von Spezialisten kontextspezifisch elaboriert wird. In der Tat leben wir schon lange und zunehmend im „Zeitalter der Images“ (Boorstin 1987), der Image-Arbeiter und der Image-Theatralität. Es liegt auf der Hand, dass diese Theatralität und diese Theatralisierung viel mit (Massen-)Medien und Mediatisierung zu tun hat, d.h. mit dem Aufkommen qualitativ neuer Bühnen, Inszenierungs- und Performanzformen. Was für Aufmerksamkeit, Verständlichkeit und Image gilt, gilt in ähnlicher Weise auch für Glaubwürdigkeit. Sie, d.h. die Zuschreibung von Kompetenz, nämlich der Kompetenz, erhobene Geltungsansprüche auch einzulösen, und Vertrauenswürdigkeit, ist zwar einerseits in vielen Bereichen mehr oder weniger überflüssig geworden, z.B. durch Geld und Verfahren. Sie ist aber andererseits gleichzeitig noch, wieder oder sogar verstärkt erforderlich und eine systematisch knappe Ressource. Dies hat zum einen mit generellen Strukturbedingungen zu tun, insbesondere der ‚generalisierten Fremdheit‘ (s.o.), mit der Glaubwürdigkeit erfordernde Image-Formen einhergehen, aber auch mit Mentalitätsmomenten wie einer generalisierten Neigung zum Verdacht, zum Misstrauen, zum ‚Risikobewusstsein‘ und zur Unterstellung von Eigennutz. Glaubwürdigkeit ist, gerade unter diesen Voraussetzungen, auch deswegen
62 Auf der subjektiven Ebene bedeutet dieser Bedarf ein Bedürfnis bzw. ein Geltungsbedürfnis.
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eine knappe Ressource, weil heute mehr denn je von allen möglichen Akteuren die verschiedensten Geltungen behauptet und Geltungsansprüche erhoben werden, während gleichzeitig in vielen Bereichen insgesamt die Möglichkeiten eher abnehmen zu prüfen, was sich dahinter verbirgt. Die von funktionaler Differenzierung (Spezialisierung) bedingten ‚Realitätsverluste‘, Verstehens- und Urteilsgrenzen, Abgeschnittenheiten von fremden Lebensläufen und ähnliche systematische Umstände mehr bringen bei gleichzeitiger Inflation von Geltungssubjekten, Geltungsbedürfnissen und Geltungsbehauptungen einen erhöhten Bedarf mit sich, Glaubwürdigkeit zu (re-)produzieren. Auch neue Medien und Handlungskontexte wie das Internet schaffen neuen Bedarf an Glaubwürdigkeit und an entsprechender Theatralität, um sie (wieder-)herzustellen. Glaubwürdigkeit ist also knapp und fragil und ruft daher (wie die anderen Knappheitsprobleme), vor allem wenn sie praktisch relevant wird, feld-, akteurs- und themenspezifische Problemlösungsversuche auf den Plan. So haben Marktteilnehmer, die Intransparentes, Heikles oder Fragwürdiges anzubieten haben (Dienstleister, Banken, bestimmte Industrien u.s.w.), einen gesteigerten Bedarf an Glaubwürdigkeit63, dem sie mit einem entsprechend entwickelten Strategien- und Methodenarsenal begegnen. Eine relevante Rolle spielen in diesem Zusammenhang diverse Medien-Bühnen und Einrichtungen wie die Werbung und der Journalismus. Sie fungieren in je besonderer Weise und Motiviertheit als Glaubwürdigkeits(re-)generatoren, verknappen aber auch Glaubwürdigkeit. So lassen sich Journalisten einerseits direkt oder indirekt für glaubwürdigkeitsgenerative Image-Arbeiten instrumentieren. Andererseits hat der Journalismus als solcher eine aufmerksamkeitsfunktionale (aufmerksamkeitsknappheitsbedingte) Tendenz zur Skandalisierung und damit zur Destruktion von Glaubwürdigkeit. Theatralität ist in diesem Fall also prinzipiell nicht nur eine Antwort auf ein Knappheitsproblem, sondern auch dessen Ursache und Verstärker. Zu den in der Gegenwartsgesellschaft zugespitzten chronischen Knappheiten der Moderne, die in einem direkten Zusammenhang mit Theatralität und Theatralisierung stehen, gehören neben Aufmerksamkeit, Verständlichkeit, (positivem) Image und Glaubwürdigkeit auch Gedächtnis bzw. nachhaltiges Wissen und Erinnerung. Neben dem Nichtwahrnehmen/Nichtwahrgenommenwerden (Ignoranz) und neben der ‚Oberflächlichkeit‘ der Wahrnehmung ist das Vergessen/Vergessenwerden eine charakteristische Epochentendenz – eine Tendenz, die, wenn sie als Problem erscheint64, Theatralität evoziert. Die hier gemeinte ‚Vergesslichkeit‘ ist vor allem für diejenigen Akteure ein Problem und ein Auftrag, die danach streben, in ‚guter Erinnerung‘ zu bleiben oder andere oder anderes in ‚guter Erinnerung‘ zu halten, sei es vorübergehend oder dauerhaft. Diese Akteure müssen mittels theatraler Handhabung von Informationen versuchen, nachhaltig zu beeindrucken oder gezielt reflexive (biographische) Erinnerungsarbeit und d.h. Image-Arbeit zu leisten – sei es in Eigenregie (Eigenarbeit) oder durch Beauftragung professioneller Gedächtnisgeneratoren, z.B. Künstler, die Denkmäler schaffen, oder Experten der Werbung, die mit Hilfe immer raffinierterer Strategien und Techniken65, Erinnerungen an ‚gute Eindrücke‘ wecken und wach halten.
63 Natürlich ist unter Konkurrenz- oder Kampfbedingungen auch Unglaubwürdigkeit, nämlich die des Gegners, ein knappes Gut, das etwa qua politischer Werbung bzw. Propaganda zu beschaffen ist. 64 Im Vergessen, Vergessenwerden und Vergessenmachen kann auch eine Problemlösung liegen. 65 Vgl. dazu im Bezug auf die Gedächtnistechnologie der Werbung Willems/Kautt 2003: 116f.
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3.5 Vermarktlichung, Verwettbewerblichung und Verwerblichung Die sich gegenwärtig historisch zuspitzende Vermarktlichung und damit Verwettbewerblichung und Verwerblichung66 aller Bereiche der Gesellschaft ist ein struktureller Schlüsselfaktor diverser Theatralitäten und (Ent-)Theatralisierungen, insbesondere einer Verbreitung und Forcierung von strategischen bzw. informationspolitischen Handlungsformen, Werbungstypen, Image-Politiken (Image-Arbeiten) und ‚Ästhetiken‘. Vermarktlichung impliziert zunächst insofern Theatralität und Theatralisierung, als sich Marktteilnehmer als Tauschakteure, Anbieter und Nachfrager strategisch, d.h. beobachtend (einschätzend, belauernd) und eindrucksmanipulatorisch, gegenübertreten. So sind Kaufinteressenten normalerweise gut beraten, ihr wahres Kaufinteresse zu verschleiern, so wie Verkäufer gut beraten sind, ihr Objekt und u.U. sich selbst ‚schön‘ zu machen67. Mehr ‚Ensembles‘ denn je und solche verschiedenster Art müssen heute auch jenseits des Feldes der Wirtschaft ‚wirtschaften‘, d.h. unter Markt-, Konkurrenz- und Knappheitsbedingungen ‚erfolgsökonomisch‘ und (d.h.) strategisch agieren. Auf allen heutigen Feldern (Politik, Religion, Kunst, Erotik u.s.w.) treten Akteure als (Selbst-)Anbieter, (Selbst-)Verkäufer und Konkurrenten um bereichsspezifisch knappe Güter und (Markt-)Anteile auf. Bewertungen, Werte, Preise und (d.h.) Erfolge hängen dabei immer auch von Theatralitätsaspekten ab, von mit Erwartungen, Hoffnungen und Kalkülen verbundenen Wahrnehmungen (Aufmerksamkeiten), Einschätzungen und (‚guten‘) ‚Eindrücken‘, die, z.B. durch Ästhetisierung und Stilisierung, ‚gemacht‘ werden müssen. Auf Märkten auftretende Anbieter jedweder Art müssen ihre Angebote bzw. ‚sich selbst‘ jedenfalls – qua Theatralität – möglichst bekannt und attraktiv machen; Nachfragen müssen motiviert und angeheizt, Bedürfnisse geweckt und für das jeweilige Angebot in Anspruch genommen werden. Marketing und Werbung, und damit korrespondierende Formen von Theatralität, werden damit zentral und sozio-kulturell ‚raumgreifend‘. Marktgesellschaft und Werbegesellschaft fallen in eins und bestimmen zunehmend, was in sozialer Praxis (und damit auch mental) ‚eigentlich vorgeht‘. Werbung, werbungsnahe und werbungsähnliche (theatrale) Handlungsformen spielen ihre also systematisch wichtige und immer wichtiger werdende Rolle mit der Implikation sowohl einer gewissen Gestaltung als auch einer gewissen Fiktionalisierung der Wirklichkeit. Die Image-Arbeit der Werbung ist eine beeindruckende Arbeit an der und mit der materialen Wirklichkeit ihres Objekts und zugleich mit der Wirklichkeit des jeweiligen Publikums, dem es möglichst ‚gute‘, starke und nachhaltige Eindrücke im Sinne eines (Gesamt-)‚Bildes‘ von dem beworbenen Objekt zu vermitteln gilt. Damit kann und muss Werbung in (vom Recht und von der Opportunität gesetzten) Grenzen immer fiktiv, (auto-)‚poetisch‘ und in gewissem Maße rücksichtslos gegenüber ‚Wahrheit‘ sein (vgl. Zurstiege 1998: 97). Ihre strategischen Image-Konstruktionen sind Ergebnisse von informationellen Selektionen, Erfindungen, Lügen, Stilisierungen, Schönungen, Ausblendungen, Über- und Untertreibungen und überhaupt 66 Diesem Prozess ist mein Buch „Die Gesellschaft der Werbung“ gewidmet (Willems 2002a). Darin wird der Versuch unternommen, nicht nur die Entwicklung des ausdifferenzierten ‚Systems‘ der Werbung, sondern auch des darüber hinaus generalisierten und differenzierten Handlungstyps der Werbung bzw. des Werbens im Blick auf Gegenwart und Zukunft zu rekonstruieren. 67 Im Bereich der Immobilienvermarktung spricht man im Bezug darauf heute von ‚staging‘. Jedermann kennt das und neigt doch dazu, sich davon beeindrucken zu lassen bzw. darauf hereinzufallen.
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jeder zielführenden Art von ‚Unwahrhaftigkeit‘.68 Eingeschlossen ist dabei eine Logik der schönen Form und des schönen Inhalts bzw. einer schönen Welt. Mit dem Repertoire ihrer Theatralität bringen heutige Werbeaktivitäten aber längst nicht mehr nur beworbene Objekte zum Strahlen. Vielmehr dringen sie zunehmend, das vorhandene Image-Reservoir des jeweiligen Publikums nutzend, mehr oder weniger komplex konstruktiv in einen offenen Wirklichkeits- und Definitionsraum vor, und zwar strategisch mit konstruierten Wirklichkeitsbildern (Images), die Kalkülen dienen. So zielt die neuere Pharma-Werbung neben der ‚offiziellen‘ Image-Arbeit für einzelne Anbieter und Medikamente darauf, das Feld ihres Absatzes durch die Erfindung oder Dramatisierung von Krankheitsbildern zu bereiten.69 Die generalisierte Logik und Dynamik der theatralisierenden Vermarktlichung bzw. Verwerblichung reicht heute von den großen (Sub-)Systemen (Feldern) bis auf die Ebene der Person und der persönlichen Beziehungen. Auch heutige ‚Privatmenschen‘, insbesondere junge, müssen mehr denn je im Streben nach allerlei ‚Gütern‘ (Geselligkeit, Erotik u.s.w.) auf Märkten, nämlich Märkten für persönliche Beziehungen, auftreten und, wie Sennett konstatiert, versuchen, durch entsprechendes Sich-Aufführen „eine Person [zu sein, H.W.], die anderen auffällt“ (1985: 111). Es gilt auf diesen Märkten als Teilnahme- oder Erfolgsbedingung, das weiß jedermann, sich als ‚Mensch‘ interessant und gefällig zu machen. D.h., sich zu distinguieren und zu idealisieren, das ‚Outfit‘ zu stilisieren, den ‚Body‘ zu bilden, Individualität zu dramatisieren und anderes mehr für ‚gute Eindrücke‘ und zielführende Images zu tun. Akteure (Ensem-
68 Dies ist nur die eine Seite der Medaille. Andererseits ist die Werbung mit den realen und metaphorischen Bildern, die sie macht, notwendigerweise auch wahr und informativ. Nicht nur, weil sie aus rechtlichen Gründen in mancher Hinsicht zur Wahrheit bzw. zum Täuschungsverzicht gezwungen ist, sondern auch, weil sie selbst sachliche Kommunikationsinteressen hat und solchen Interessen Genüge tun muss. Werbung macht immer auch sichtbar und wahrnehmbar, was sonst nicht gesehen würde, und Werbung muss ihr Publikum auch sachlich richtig informieren, z.B. über den Preis oder andere Eigenschaften des beworbenen Objekts. Es hätte in diesem Punkt wie in anderen wenig Sinn zu lügen. Werbung muss vielmehr immer auch relevante zutreffende Aussagen machen, weil ohne sie die gewünschten Anschlusshandlungen, z.B. Kaufakte, nicht zustande kämen. Darüber hinaus gibt es (Image-)Fiktionalisierungs- bzw. Täuschungsgrenzen, die in der praktischen Realisierung des beworbenen Objekts durch das Publikum liegen. Zwar will und mag die werbliche Image-Arbeit auch dessen Objekterfahrung beeinflussen, so dass die inszenierte Werbungswirklichkeit auf die subjektive Wirklichkeit des Rezipienten (Konsumenten) ausstrahlt oder teilweise übergeht, aber eben diese Wirklichkeit stellt auch eine Art Verifikationsinstanz dar, die zu ignorieren strategisch irrational wäre. Enttäuschungen des durch Werbung erfolgreich motivierten Publikums (des Käufers, des Wählers u.s.w.) sind schädlich für das Image des beworbenen Objekts. Werbung bildet also systematische Synthesen aus (Image-)‚Dichtung‘ und Wahrheit, wobei auch in der ,Dichtung‘ schon insofern Wahrheit liegt, als sie tatsächlichen Wertvorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen des Publikums und des Auftraggebers entspricht und auf die realen Image-Welten des Publikums zurückgreift. 69 Ein Beispiel für die Effektivität dieser verdeckt operativen Werbung ist die Vermehrung der so genannten Sozialphobiker. Das British Medical Journal prägte in diesem Zusammenhang „den Begriff ‚Krankheitshändler‘ oder ‚Disease-Monger‘ (Bd. 324: 886, 2002). Damit ist gemeint, dass Pharmafirmen nicht bloß Pillen für existierende Krankheiten verkaufen, sondern der Welt neue, vermeintlich behandlungsbedürftige Krankheiten präsentieren – zusammen mit den soeben entwickelten Medikamenten“ (Meichsner 2002: 47). Theatralität dieser und ähnlicher Art ist heutzutage normaler Bestandteil professionellen Realitäts-Managements. Der Kampf um Wirklichkeit mit dem Ziel von (ökonomischer) Wirkung ist vielfältig und wird in effektiver und d.h. letztlich professioneller Weise überall gekämpft. Ein weiteres Beispiel dafür ist das „viral marketing“, bei dem Firmen Arbeitskräfte dafür bezahlen, dass sie in verschiedenen ‚Räumen‘ des Internets (Chat-Foren, Newsgroups, Homepages u.s.w.) als vermeintlich unabhängige und (daher) ‚authentische‘ Privatpersonen aussagekräftige (empfehlende) Hinweise auf Produkte des jeweils zahlenden Unternehmens geben.
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bles) stehen diesbezüglich auch und gerade in beruflichen Marktsituationen zunehmend unter (strategischem, dramaturgischem) Handlungsdruck. Vor allem in den sich mehrenden Berufen, Berufskontexten und Karrieretypen, in denen Zulassungen und Erfolge wesentlich von Images und persönlichen (Gunst-)Beziehungen abhängen, muss entsprechend agiert werden. Auf allen Feldern werden immer mehr Rollen dramaturgisch immer anspruchsvoller und verlangen immer größere Investitionen in ‚außenwirksame Äußerlichkeiten‘ ab – von der Korporalität bis zur biographischen Imagepflege. Auf allen Feldern sind die Spieler (der Rollen) entsprechend – mit Konsequenzen für ihren Lebensstil, ihren Habitus und ihre Mentalität – gezwungen, imagedramaturgisch (hyper-)aktiv zu sein. Selbst in der Wissenschaft geht es heute mehr als je zuvor und mehr als je zuvor erfolgsbestimmend um das, was „in der Selbstwahrnehmung der Wissenschaft eigentlich nicht vorkommen darf: die in ihr verbreiteten Formen des ‚imagemanagement’“ (Schwanitz 1998: 273).70 Auf der anderen – der sozusagen negativen – Seite der Medaille stehen Markt, Marktprinzipien und Vermarktlichungen als Faktoren, die Inszenierungen, Präsentationen und Performances, aber auch die implizite Theatralität von Stilen, nicht nur spezifisch anfordern und formieren, sondern auch erübrigen und unterminieren, weil und insoweit sie von der (Tausch-) Rationalität des Marktes abweichen. In dem Maße wie es in sozialen Beziehungen zu einer exklusiven Orientierung an „Tauschgrößen“ (Max Weber) kommt, wird nicht nur das ‚Persönliche‘, sondern auch das Theatrale und Theatralische überflüssig. Wie die Mitgliedschaftsbedingungen von Organisationen beschreiben die Marktbedingungen, die Erfolgsbedingungen des Marktes, einen Raum der Relevanz und der Irrelevanz von Theatralität. Sie haben damit und darüber hinaus eine gewisse symbolische Negations-, Auflösungs- und Sprengkraft. Man kann also sagen, dass Marktverhältnisse, Marktprinzipien und Vermarktlichungen mit einem Spannungsverhältnis zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung einhergehen bzw. ein solches Spannungsverhältnis erzeugen. An den Märkten und Vermarktlichungen entwickelt, formiert und wandelt sich, bewährt sich und scheitert Theatralität.
3.6 Vergeldlichung, Kommerzialisierung und Konsumisierung/Konsumismus Theatralisierungen und Enttheatralisierungen stecken auch in den mit Vermarktlichungen (wie auch miteinander) verknüpften Prozessen der Vergeldlichung, der Kommerzialisierung und der Entwicklung der ‚Konsumgesellschaft‘ bzw. des Konsumismus als dazugehöriger Mentalität. Der historische, soziale und kulturelle Aufstieg des Geldmediums und die tendenziell stark gestiegene Geldverfügung und Kaufkraft ‚breiter Schichten‘ sind in diesem Zusammenhang sicher von größter Bedeutung. Geld ist ja heute nicht nur ein Schlüssel zu fast 70 Oder man nehme das Feld der Religion bzw. des Christentums. Hier hat sich im Zuge von ‚Säkularisierung‘ und ‚Protestantisierung‘ einerseits ein gewisser Theatralitätsverlust ergeben. Andererseits hat sich teilweise im gleichen Zusammenhang eine teils neue, teils erneuerte religiöse Theatralität etabliert, die stark markt- und (damit) medienorientiert ist. Diese Theatralität hat eine wesentlich andere Qualität als die alte: Religion wird heute – unter den Bedingungen der medientechnischen Infrastrukturen, des Sinn-Marktes und eines entsprechend disponierten (konsumistischen, individualistischen) Publikums – normalerweise konsumiert und muss sich entsprechend anbieten und darbieten. Vgl. den Beitrag von Hepp/Krönert/Vogelgesang (Band 2).
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allen ‚Gütern‘, sondern auch ein Schlüssel, der in diesem Sinne für eine historisch einmalig große Zahl von Menschen (jedermann) auch tatsächlich verfügbar und ebenso leicht wie erfolgreich zu handhaben ist. Lebenssinn, Rat, Gesundheit, Schönheit, Gemeinschaft, das ganze Spektrum ‚hedonistischer‘ Waren und Dienstleistungen und mehr als Vieles mehr sind käuflich, und zwar leicht käuflich. Entsprechend hat sich der Raum möglicher und nötiger Theatralität bzw. ihrer Funktionen, z.B. die Erzeugung von Aura oder Sympathie, verengt. Zahlungsfähigkeit substituiert dann theatrale Handlungsfähigkeit, Vergeldlichung impliziert eine gewisse Enttheatralisierung. Sie erweist sich in diesem Zusammenhang, wenn man Georg Simmel folgt, nicht zuletzt auch als Implikation und Folge kosmologischer und mentaler Vergeldlichung.71 Indem die Funktionsweise des Geldes als kosmologisches Modell genommen und generalisiert wird, etabliert sich eine entsprechende Art von ‚Rational Choice-Mentalität‘, die mehr oder weniger nach messbaren und kalkulierbaren Gewinnen fragt und Welt und Leben entsprechend relativiert. Dieser Mentalität ist eine strategische Theatralität gleichsam angegliedert, während gleichzeitig andere symbolische Ordnungsformen und damit Theatralität Relevanz und motivationale Deckung einbüßen. Andererseits ermöglicht und erschließt Geld eben den dynamisch und unabsehbar weiter expandierenden Raum käuflicher Theatralität, die Welt der Waren (Requisiten) und Dienstleistungen, deren symbolische und dramaturgische Bedeutung sich wesentlich auch an ihrem Geldwert bemisst. Geld und alle in Geld übersetzbaren Objekte sind damit auch, sei es explizit oder implizit, Themen und Inhalte von Theatralität, die als Theatralität des Angebots und des Konsums von Waren und Dienstleistungen im Vordergrund der Gegenwartskultur steht. Der vielleicht entscheidende Punkt ist hier die am anhaltenden Aufstieg der ‚Konsumgesellschaft‘ bzw. der ‚Erlebnisgesellschaft‘ hängende Theatralisierung. Die zu konsumierenden Objekte (von der Kleidung bis zum Event) stellen je nach ihrer ökonomischen und/ oder symbolischen ‚Ladung‘ Repertoires von Theatralität dar und machen den Akteur – heute mehr Akteure als je zuvor – sowohl zum (beschriebenen) Objekt der Beschreibung als auch zum Subjekt einer Art Selbstbeschreibung. Letztere steckt in den individuellen Handhabungen der Bedeutungen der konsumierten Objekte für Wahrnehmende bzw. Publika. Mit der allgemeinen und zugleich differenzierten Hebung des Wohlstands und der gleichzeitigen Entwicklung (Expansion, Differenzierung) der Konsumkultur, des Konsumangebots und der Konsumneigung geht insofern eine Theatralisierung und eine entsprechende, auf objektive Zeichen und Zeichenwelten bezogene Subjektivität und Subjektivierung einher. Jedermann wird schon durch seine ‚Einkaufspolitik‘ und die damit verbundenen Zwänge und Möglichkeiten, sich und seine Lebenswelt ‚einzurichten‘ und zu gestalten, zum ‚Bühnenbildner‘ und zum Regisseur der Theatralität seines Lebens. Der heute höchstgradig generalisierte Konsumismus wirkt sich dabei auch insofern als ein Faktor der Theatralisierung aus, als er gleichsam darauf drängt, immer wieder Neues, Anderes, Besseres ‚anzuschaffen‘. Von eigener und besonderer Wichtigkeit sind hier die Wandlungen und Weiterentwicklungen der ‚Konsumgesellschaft‘ zur ‚Erlebnisgesellschaft‘ bzw. zum Erlebniskonsum und 71 In seiner „Philosophie des Geldes“ sieht Simmel den modernen „Stil des Lebens“ durch dessen Vergeldlichung versachlicht, symbolisch entleert und qualitativ eingeebnet. Das Geld sei der „fürchterlichste Nivellierer“ der Moderne (Simmel 2003).
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Erlebniskonsumismus (vgl. Schulze 1992; Gebhardt et. al. 2000). Theatralität und Theatralisierung sind dabei schon insofern in besonderer Weise involviert, als es in der ‚Erlebnisgesellschaft‘ immer um außergewöhnliche Objekte und Ereignisse geht. Mit dieser ‚Gesellschaft‘ entfaltet sich m.a.W. eine eigene auf Dramatik und Dramatisierung hinauslaufende Theatralität, die sich aus der Erlebnisfunktion (Euphoriefunktion) und dem Erlebnisangebot ergibt und definiert. Außergewöhnliche Erlebnisse und insbesondere Events (Erlebnisveranstaltungen und veranstaltete Erlebnisse) müssen erzeugt und d.h. inszeniert werden; sie werden als lebensweltlich-interaktive wie auch als mediale Erlebnisse/Events erst durch entsprechende Theatralität zu Erlebnissen jener besonderen Art. Deren Generierung hat heute einerseits und vor allem einen strategisch-instrumentellen bzw. kommerziellen Hintergrund: Erlebnisse bzw. Events werden vermarktet und dienen der Vermarktung (‚Eventmarketing‘, ‚Kultmarketing‘). Dementsprechend bewusst und reflektiert ist die Erlebnistheatralität, und dementsprechend weit ist ihre Verbreitung. Heute verkehrt man schon im Alltagsleben in vielen ‚Theatern‘ – vom Kaufhaus72 über das Gasthaus bis zum Gotteshaus –, die sich dadurch auszeichnen und auszuzeichnen versuchen, dass sie in irgendeiner Weise außergewöhnlich sind und besonders gratifizieren, insbesondere ‚Vergnügen machen‘. Gleichzeitig und andererseits findet die ‚Erlebnisgesellschaft‘ auch jenseits spezieller Einrichtungen und Angebote als Lebenspraxis, Mentalität und Habitus jedermanns statt, der als normales ‚Erlebnistier‘ und ‚sensation seeker‘ sowohl außergewöhnliche Erlebnisse sucht und konsumiert als auch an der Herstellung solcher Erlebnisse partizipiert. Dazu gehört z.B. das (mit medialer Unterstützung) eventisierte Essen (‚Dinner‘) oder die (ebenso inspirierte) außergewöhnliche, nämlich theatralische, Liebeserklärung. Eventisierung und Theatralisierung hängen also immanent und spezifisch zusammen. In den generellen und speziellen bzw. milieuspezifischen Eventisierungen stecken Formen von Spannung, ‚Action‘, Dramatik. Theatralität ist damit sowohl das, was erlebt wird, als auch der Kontext der Erlebnisproduktion, einschließlich ihrer Hinterbühnen (vgl. Goffman 1969).
3.7 Entwicklung formaler (Groß-)Organisationen Als eigener Raum, Träger und Generator von Theatralität und Theatralisierung, aber auch als Theatralitätsgrenze und Faktor von Enttheatralisierung, wirkt und fungiert der die moderne Gesellschaft insgesamt prägende und charakterisierende Systemtyp der formalen Organisation73, der sich in vielen Bereichen „gesellschaftlichen Lebens sozusagen zwischen das Gesellschaftssystem und die einzelnen Interaktionssysteme schiebt“ (Luhmann 1975: 12). Formale Organisationen haben eine eigene, für diesen Systemtyp charakteristische, wenn auch in vielen prinzipiellen Punkten der ‚Selbstdarstellung‘ von Personen ähnliche Theatralität. Und insofern steckt in ihrer Entwicklung und ihrem gesellschaftlichen Aufstieg auch eine spezifische Theatralisierung der Gesellschaft. Eine Ahnung von dieser Theatralisierung und einen Einblick in sie verschafft die Organisationsanalyse Luhmanns, die auch als Beispiel für 72 Vgl. den Beitrag von Hellmann (Band 1). 73 Man spricht zu Recht von der modernen Gesellschaft als ‚Organisationsgesellschaft‘.
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die organisationsanalytische (also über die Interaktionsebene hinausgehende) Brauchbarkeit des Goffmanschen Bühnenmodells74 ein längeres Zitat verdient: Bei ihrer Selbstdarstellung verwickelt sich eine Organisation – wie übrigens jeder Handelnde – notwendig in gewisse Schwierigkeiten und Paradoxien, die nur dadurch lösbar sind, daß man die Darstellung auf einen Teil der Wirklichkeit beschränkt, daß man nur einige Räume seines Hauses zugänglich macht. Wie für die internen Funktionen der formalen Systeme Symbole und Erwartungen generalisiert werden müssen, so sind im externen Verkehr Idealisierungen erforderlich. Wirklichkeiten sind nicht von selbst akzeptabel. Jeder Mensch muß seine Persönlichkeit als eine Art ideale, sozial gefällige Identität entwickeln und anderen ausschnittweise kommunizieren, oder er bekommt Anpassungsschwierigkeiten. Und so benötigt auch ein soziales System eine wirksame Selbstdarstellung der eigenen Bedeutung. Sie ist nicht einfach vorhanden, sondern muß konstituiert, ausgebaut, laufend gepflegt und verbessert werden. Und dieser Prozeß setzt, weil mehrere daran mitwirken, mehr Bewußtheit voraus als beim Einzelmenschen. Alle sichtbaren Fakten müssen dazu vorbereitet, von Mängeln und Unzulänglichkeiten befreit und in Richtung auf akzeptierbare Werte überhöht werden. (...) Ferner werden alle Zeichen interner Meinungsverschiedenheiten und derjenigen Operationen, die zu ihrer Überwindung notwendig waren, den Zuschauern vorenthalten. Denn eine richtige Entscheidung darf keine Hinweise auf andere Möglichkeiten enthalten. Aus diesem Grunde hält man auch mit der vorzeitigen Bekanntgabe von Änderungsplänen zurück: Änderungen in der Organisation, in den Arbeitsmaximen, den Ansichten, den wichtigen Verbindungen oder im Personal werden heimlich vorbereitet, um die Darstellung der laufenden Geschäfte bis zum Tage X nicht zu untergraben. Auch die Formulierung der Entscheidung selbst tritt in den Dienst der Sortierung des Sichtbaren und des Unsichtbaren. Zuweilen muß eine Entscheidung individuell stilisiert werden, um ihre Routiniertheit und Gedankenlosigkeit zu verbergen, zuweilen muß gerade umgekehrt der Charakter einer gleichen Regelung herausgestellt werden, um die Unterschiedlichkeit der Fälle zu eliminieren. Für das lange Liegen der Vorgänge auf den Aktenblöcken gibt es genug unvermeidbare Ursachen, die das Tageslicht vertragen; es brauchen nicht alle mitwirkenden Ursachen genannt zu werden. Schließlich muß die Tatsache des Verbergens ihrerseits verborgen werden, denn sie paßt nicht in die Schau. Diese Notwendigkeiten tragen viel zur Ruhmlosigkeit des Verwaltungsdienstes bei: Die eigentlichen Leistungen müssen oft unsichtbar bleiben. Überzeugende Gestaltung ist nur in begrenztem Raum möglich. Sie setzt unzugängliche Bereiche voraus, in denen sie unter Ausschluß von Zuschauern produziert wird. Dazu sind dicht gesetzte Schranken der Kommunikation und der Informationsmöglichkeit erforderlich, vor allem eine ausreichende persönliche Kontrolle über den eigenen Arbeitsplatz, zuweilen auch eine Trennung verschiedener Zuschauerkreise. Die Grenzen der einsehbaren Szene haben ihren Sinn als Grenzen der Konsistenzanforderung: Auf der Bühne des formalen Verhaltens herrscht eine besondere Ausdrucksdisziplin. Dort muß eine einheitlich-geschlossene Darstellung gegeben werden. Jedes Aus-der-Rolle-Fallen diskreditiert den Gesamteindruck, kann der bisher geltenden Situationsdefinition den Boden entziehen und peinliche Verwirrung schaffen. Hinter den Kulissen sind andere Erscheinungen, ist ein freieres Verhalten möglich (Luhmann 1972: 112-116).75
74 Luhmann verwendet es als Grundlage seiner Überlegungen, macht dies aber nicht allzu stark kenntlich. 75 Man sieht hier überdeutlich, dass sich die Kategorien des Goffmanschen Theatermodells, das die Interaktionsebene und das personale Selbst fokussiert, auch jenseits der Interaktionsebene bewähren. Bühne, Darstellung, Fassade, Kulisse, Schau, Eindruck, Region, Ensemble, Täuschung, destruktive Information, Verbergen/Geheimhaltung, Visibilität/Invisibilität, Idealisierung, Mystifikation, Lüge, Stilisierung, Imagepflege, Informationskontrolle/Informationspolitik, Ausdrucksdisziplin, Konsistenzzwang, Fiktionsschutz, dramaturgische Loyalität, Insider/Outsider, Doppelstrategie, Publikumssegregation, Rollenbewusstsein, Kreditierung/Diskreditierung, Aus-der-Rolle-Fallen, Peinlichkeit, Anomie/negative Erfahrung und viele andere Konstrukte und Gegenstandsverständnisse Luhmanns hat schon Goffman im Rahmen seiner Modell-Systematik als soziologische Begriffe entwickelt.
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Organisationen sind nicht nur ein eigener Raum und Generator von Theatralität und Theatralisierung, sondern unterliegen auch Theatralisierungen bzw. werden in sie hineingezogen. Offensichtlich stehen Organisationen heute – wiederum wie Personen – unter einem erhöhten und zunehmenden Theatralitäts- und Theatralisierungsdruck. So wird für sie markt- und konkurrenzbedingt der Zwang stärker und bewusster, nach Außen und nach Innen Image-Arbeit zu betreiben. Sie wird in Organisationen zunehmend funktional ausdifferenziert, (rollen-) spezialisiert und komplex, wie man beispielsweise und besonders deutlich an dem Organisationstyp der Universität76 sehen kann. Als Strukturen, die sich in diesem Sinne (von Theatralität und Theatralisierung) entwickeln und wandeln, bilden Organisationen auch so etwas wie einen Rahmen und Kontext für Ensembles und Netzwerke von Ensembles, die jeweils gegebene Spielräume für eigene ‚Spiele‘ nutzen. Damit entfalten sich dann auch Formen von Theatralität, z.B. eine Theatralität ritueller oder strategischer Interaktion, die für die Akteure, ihren Lebensstil und ihr ‚Lebensgefühl‘, ihr Selbst- und Weltbewusstsein von großer Bedeutung sind. Die Realität der Theatralität ist heute mehr denn je nicht nur eine Realität der Theatralität von Organisationen, sondern auch eine in Organisationen von wie immer aggregierten menschlichen Akteuren, die unter den jeweils gegebenen strukturellen Bedingungen, die ihre Möglichkeiten, Grenzen und Perspektiven bestimmen, existieren und agieren. Man kann die hier gemeinten durch die Organisation strukturierten Lebenswelten und Lebenspraxen vor allem in den oberen Bereichen der Organisationshierarchien durchaus mit höfischen Gesellschaften und deren Theatralität vergleichen (vgl. Kuzmicz 1986). Einen Zusammenhang zwischen Organisation/‚Organisationsgesellschaft‘ und Theatralisierung kann man weiterhin darin sehen, dass die Zahl und die Vielfalt der Organisationen bzw. Betriebe zunimmt, deren Zweck (Produkt, Leistung) einerseits im Angebot von Theatralität (Medienerzeugnisse, Events etc.) und andererseits in der ‚infrastrukturellen‘ Ermöglichung und Ausstattung von Theatralität besteht. Es gibt immer mehr spezialisierte Organisationen (und Rollen), etwa Event-Anbieter, Werbeagenturen, Beratungsunternehmen oder Marktforschungsinstitute, die als Faktoren der Theatralisierung wirken, indem sie Akteure befähigen und motivieren, verlocken, nötigen oder zwingen, eigene Theatralität sowohl zu beobachten und zu reflektieren als auch zu optimieren. Die andere Seite der Medaille sind organisationsbedingte oder organisationsinduzierte Formen von Enttheatralisierung. Hier ist insbesondere an die Wirkung von Mitgliedschaftsregeln77 zu denken, die auch Grenzen der Relevanz und Akzeptabilität von Theatralität definieren und fixieren. Auch dadurch, dass Organisationen entsprechende Funktionen absorbie76 Die Theatralisierung der Universität als ein spezieller Bereich der Theatralisierung der Wissenschaft hat in der jüngeren Vergangenheit insbesondere durch die diversen ‚Reformen‘ und politischen Bildungsdiskurse starke Impulse erhalten. Die (in gewisser Weise selbstreflexive) wissenschaftliche Untersuchung dieser Prozesse steht, von einzelnen Ansätzen abgesehen (vgl. die Beiträge von Suchanek und von Münch in Band 1), noch aus. Stattdessen stellt sich die Wissenschaft bisweilen lieber in den Dienst ihrer Theatralisierung, z.B. durch Preise für angeblich gute Lehre oder Wettbewerbe unter Titeln wie ‚Performing Science‘. 77 Der Organisationsbegriff Luhmanns setzt an diesem Punkt an. Mit Luhmann (1975: 12) sind Sozialsysteme als organisiert zu bezeichnen, die „die Mitgliedschaft an bestimmte Bedingungen knüpfen, also Eintritt und Austritt von Bedingungen abhängig machen. (...) Mit Hilfe solcher Mitgliedschaftsregeln – etwa Autoritätsunterwerfung gegen Gehalt – wird es möglich, trotz frei gewählter, variabler Mitgliedschaft hochgradig künstliche Verhaltensweisen relativ dauerhaft zu reproduzieren“.
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ren und bestimmend in soziale Praxis eingreifen78, wirken sie bei gleichzeitiger Produktion eigener und neuer Theatralität in gewisser Weise enttheatralisierend.
3.8 Soziale Kontrollen, Kontrollverluste und Freiräume Die Realitäten der Theatralität sind – jedenfalls soweit sie in Kommunikationen bestehen – offensichtlich mehr oder weniger von Strukturen und Effekten sozialer Kontrolle abhängig. Je dichter, restriktiver und schärfer diese sind, desto geringer sind die theatralen Handlungsspielräume und desto stärker sind die theatralen Handlungszwänge der Akteure, die natürlich prinzipiell nie völlig frei von sozialen Kontrollbedingungen erleben und handeln. Die Entwicklung der modernen Gesellschaft zeichnet sich in diesem Punkt durch eigentümliche Bivalenzen und Ambivalenzen aus, die mit Theatralisierungen und Enttheatralisierungen einhergehen. Der Auflösung, Abschaffung und Lockerung von sozialen Kontrollen steht deren Innovation, Verschärfung und Intensivierung/Effektivierung gegenüber. Mit modernen Systemdifferenzierungen und mit technischen Innovationen und Applikationen in den Bereichen der Überwachung79, Datenaufzeichnung und Datenverarbeitung hängen teils ganz neuartige, teils verfeinerte Kontrollen zusammen. Sie evozieren auf der Seite des real oder potentiell Kontrollierten Informationskontrollen, bestimmte (Selbst-)Darstellungen, (Selbst-)Inszenierungen und Performanzen/Performances (also Theatralität), schränken aber auch die subjektiven Spielräume der Informationskontrolle, der (Selbst-) Inszenierung und der ‚Eindrucksmanipulation‘ (also Theatralität) ein. Jedermann ist heute Objekt vielfältiger Überwachungen und Beobachtungen, die teils folgenlos sind, teils aber auch sozial auf das festlegen, was man willentlich oder unwillentlich von sich zu erkennen gegeben hat. Entsprechend wichtig ist es – und erscheint es auch subjektiv –, soziale Informationen über sich zu kontrollieren. Das bedeutet praktisch: Formen von Theatralität und Theatralisierung, nämlich Akte der Demonstration und des Verbergens, der Simulation und Dissimulation, der Geheimhaltung und Offenbarung, der Stilisierung u.s.w. In dem Maße wie man in den diversen Gedächtnissen aufgehoben, und d.h. spezifisch detektiert, gefiltert und gespeichert ist, sind aber auch die Möglichkeiten eingeschränkt, sich weiterhin ‚informationell selbst zu bestimmen‘. Man liegt in den fremden Gedächtnissen sozusagen fest und wird in ihren Rahmen auch insofern ver- und entwirklicht, als jene Speicher
78 Man denke etwa an die Bestattungsindustrie oder das Event-Marketing. 79 Exemplarisch ist die Kameraüberwachung öffentlicher Räume. Man denke auch an die Tatsache, dass inzwischen nahezu alle Mobilfunkgeräte mit Kameras und den verschiedensten Netzwerkanschlüssen ausgestattet sind. Im Internet zeugen zahlreiche Foto- und Videoplattformen (youtube.com und flickr.com sind nur die bekanntesten Beispiele) von der offenbar gängigen Praxis, (heimlich) gefilmte (Alltags-)Gespräche einer (prinzipiell totalen) Medienöffentlichkeit zu präsentieren. (Den aufgenommenen Personen, die sich selbst und das Erlebte unerwartet ‚in einen anderen Rahmen gestellt‘ sehen, mag es dann gehen wie den Versuchspersonen in Garfinkels Krisenexperimenten mit versteckten Tonbandgeräten.). Generell erzeugt der Fortschritt und die fortschreitende Verbreitung von Aufnahme- und Überwachungstechniken ebenso wie die alten und neuen Medien-Pranger (von der massenmedialen Reportage bis zur Internet-Plattform) Gründe und Motive für (theatrale) Selbstkontrollen – natürlich abhängig davon, wie viel und was man zu verbergen und zu verlieren hat. Vor allem bestimmte Akteursklassen, wie z.B. Prominente, befinden und fühlen sich in einer gleichsam oder tatsächlich panoptischen Situation.
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ein Eigenleben führen, das man höchstens begrenzt durchschauen und beeinflussen kann. Alois Hahn beschreibt diesen Aspekt der informationellen Enteignung, Objektivierung und Entsubjektivierung im Blick auf die Gedächtnisse der modernen Bekenntniskulturen und Bekenntnisinstitutionen: Charakteristisch für die Gegenwart ist (...), daß eine Fülle von Informationen, die ich über mich liefere, sei es bei der Ausfüllung eines Fragebogens, bei einem Verhör, in der Sprechstunde, im ‚Curriculum vitae‘ oder ‚Lebenslauf‘ nicht Bekenntnisse sind, die ich in einer bestimmten Situation ablege und die dann vergessen werden. Vielmehr gibt es zahlreiche Methoden, diese Bekenntnisse zu speichern und sie nach von mir selbst nicht steuerbaren Kriterien neu zu ordnen, sie auf geheime Strukturen hin zu analysieren, um meine Gesundheit, meine Verläßlichkeit oder Zurechnungsfähigkeit daraus abzuleiten. Diese Speicherung von Bekenntnissen, wie sie mit den modernen Techniken der Datenverarbeitung in vorher unglaublichem Ausmaß möglich wird, stellt wahrscheinlich (...) eine in ihren Folgen schwer abschätzbare Neuheit dar. Der mit allen Bekenntnissen immer auch schon gegebene Aspekt der Kontrolle, der Steuerung und der Überwachung erhält jedenfalls eine ganz neue Qualität (Hahn 1982: 428).
Die moderne ‚Überwachungsgesellschaft‘ ist insofern also in puncto Theatralität und Theatralisierung ambivalent. Ihre (Überwachungs-)Verfahren und sozialsystemischen Gedächtnisse sind gleichzeitig Generatoren und ‚natürliche Feinde‘ von Theatralität bzw. Faktoren der Enttheatralisierung. Wie man identifiziert und entsprechend beurteilt und behandelt wird, bestimmt man gleichzeitig immer mehr und immer weniger über die ‚Eindrücke‘, die man (performativ) ‚macht‘. Eine weitere Entwicklung ist hier von Bedeutung: die Theatralisierung sozialer Kontrolle. Sie findet insbesondere medial – und auch hauptsächlich medial induziert – in Form neuer kommunikativer Gattungen statt, die ‚abweichendes Verhalten‘ (von der Überschuldung bis zur Sucht) sowohl – dramatisch und dramatisierend – zeigen und thematisieren als auch zum Gegenstand normierender und normalisierender Reaktionen, Reflexionen und Instruktionen machen. Beispiele dafür sind Sendungen, die Erziehungsprobleme und spezialisierte Erziehungsmaßnahmen inszenieren. Auf diese und verwandte Weise80 wird heute mehr denn ‚weiche Sozialkontrolle‘ massenwirksam ausgeübt. Theatralität und Theatralisierung sind also an Mechanismen und Prozessen sozialer Kontrolle beteiligt und werden zugleich durch solche Mechanismen und Prozesse restringiert und evoziert. Die ‚Überwachungsgesellschaft‘ und ihr Fortschritt bilden aber nur die eine Seite der Medaille. Der ‚Kontrollseite‘ der Gesellschaft steht eine Gegenseite und Gegenentwicklung gegenüber. Während sich einerseits die besagten Kontrollen und Informationsspeicher verstärken, differenzieren, verfeinern und intensivieren, etablieren und weiten sich andererseits soziale Kontrollfreiräume, Toleranzen, Anonymitäten und ‚informationelle Selbstbestimmungschancen‘. Diese Gegenseite der historischen Entwicklung der ‚Überwachungsgesellschaft‘ hat ihrerseits Implikationen und Folgen für Theatralität. Sie impliziert z.B. einen erweiterten strategisch-dramaturgischen und stilistischen Manövrierspielraum für das Individuum, gewisse Entstigmatisierungen und Chancen zur Führung von ‚Doppelleben‘. 80 Eine lange Tradition haben medial geführte psychologische und psychologisch-therapeutische Diskurse, Thematisierungen und Selbsthematisierungen. Edukatorische Diskurse und kommunikative Gattungen wie ‚Supernanny‘ (RTL) oder mediale Schuldnerberatungen sind dagegen mehr oder weniger neu.
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Theatralität ist grundsätzlich nicht nur eine Funktion sondern auch ein (negativ) bestimmender Faktor sozialer Kontrollverhältnisse. Nicht zuletzt sind Handlungsformen von Theatralität, nämlich das individuelle Management von identitätsrelevanten Informationen und Informationsbezirken (Vorder- und Hinterbühnen), eine systematische, strukturell zunehmend begünstigte Möglichkeit, soziale Kontrollen zu Gunsten eigener Interessen und eigener Autonomie des Individuums zu konterkarieren, zu hintergehen und zu unterlaufen. Der individuelle ‚Stratege‘ und der ‚Performancekünstler‘ sind hier sozusagen die prototypischen Figuren. Deren Theatralität und ihre Handhabung bilden eigene und an Bedeutung gewinnende soziale Kontrollgrenzen und eine Art Gegenmacht des Individuums gegenüber der und eventuell gegen die Gesellschaft.
3.9 Individualisierung Zu den zentralen Bedingungen und Faktoren von (Ent-)Theatralisierungen gehören auch die Strukturen, Prozesse und Dispositionen, die mit dem Begriff der Individualisierung belegt werden. Verschiedene Aspekte sind hier von Bedeutung und zu unterscheiden. a) Der Aspekt der Freisetzung des Individuums aus institutionellen und traditionellen Kontexten (s.o.) impliziert immer auch und wesentlich inszenatorische und performative Gestaltungsfreiheiten und Gestaltungszwänge. Das ‚entbettete‘ Individuum kann und muss (‚sich‘) inszenieren und performieren, wobei es keineswegs völlig frei ist. Vielmehr unterliegt es Publikums(geschmacks-)urteilen und einem generellen Stilimperativ – mindestens im Sinne eines Konsistenzprinzips. Man soll sich auch zumindest in der eigenen ‚Selbstdarstellung‘ eine distinktive Form geben. ‚Freisetzung‘ heißt aber auch, sein Leben im Ganzen, und d.h. seine diversen Rollen, zu organisieren, zu ‚orchestrieren‘ und zu ‚managen‘. Auch dies, z.B. die Handhabung von Rollenkonflikten, verlangt Theatralität ab – eine ‚Lebenspolitik‘ der Geheimhaltung, der Rollensegregation, der Simulation und Dissimulation. b) Ein weiterer Aspekt des hier – unter dem Titel Individualisierung – Gemeinten sind gesteigerte individuelle und individualistische Geltungsbedürfnisse und Geltungsansprüche, wie sie sich z.B. in einer generalisierten Bekenntnis- und Autobiographisierungspraxis manifestieren (vgl. Burkart 2006)81. Das individualisierte und individualistische Individuum der Gegenwart (ein Idealtyp) scheint bei gleichzeitiger „Dynamisierung“ (Hahn 1982) seiner biographischen Selbstdefinition wie kein anderes Individuum zuvor ‚Spiegelungen‘ und Geltungen seiner subjektiven Innenwelt bzw. Individualität zu brauchen und zu fordern. Es muss daher darauf aus sein, ‚sich selbst‘ in einer Akzeptanz und Anerkennung (Applaus) versprechenden Weise ‚zum Ausdruck‘ zu bringen. Man kann in diesem Zusammenhang von einem „expressiven Individualismus“ (Burkart 2006) oder (vielleicht besser noch) von einem individualistischen Expressivismus sprechen, denn der Gegenstand der hier gemeinten theatralen und theatralischen Bemühung ist ein immer unbestimmteres, immer offeneres Selbst, das mit entsprechender Theatralität immer wieder neu ‚konstruiert‘ und ‚definiert‘ werden kann und muss. 81 Dabei handelt es sich, wie man weiß, um theatrale (Werbe-)Veranstaltungen besonderer Art (vgl. z.B. SchulzBuschhaus 2001; Hettlage 2003).
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c) Individualisierung steht weiterhin im Zusammenhang mit spezifischen Ausprägungen eines zentralen Aspekts von Theatralität, nämlich Korporalität: Der ‚oberflächliche‘, der expressive Körper, insbesondere der Attraktivitäts- und Schönheitskörper, gewinnt als ‚Träger des Selbst‘ objektiv und subjektiv an Bedeutung (vgl. Koppetsch 2000). Daneben und in Zusammenhängen damit wird der ‚Tiefen-Körper‘, der fühlende Körper, der Erlebnis-Körper, insbesondere der erotische Erlebnis-Körper, subjektiv und objektiv-sozial wichtiger, und zwar ebenso wie der ‚Oberflächen-Körper‘ als Dimension und gleichsam als Medium der Selbst-Bestimmung und Selbst-Vergewisserung des Individuums. Johannes Weiß bemerkt hierzu treffend, „dass Individualisierung, radikal vollzogen, auch den Rückgang bzw. das Zurückgeworfensein auf die je eigene Leiblichkeit und Sinnlichkeit bedeutet, in der, viel mehr als in der Teilhabe an irgendwelchen Sinn- und Wertordnungen, die Unvertretbarkeit der individuellen Existenz wurzelt. Das erklärt, warum die leiblichen resp. leibnahen Zustände und Verrichtungen eine so hervorstechende Rolle bei der Selbst-Präsentation von Individualität spielen“ (2003: 226). Eingeschlossen ist in diesen Zusammenhang auch die Bedeutung und Nutzung des Körpers als Authentizitäts- und Authentisierungsbasis, die durch eine Theatralität der Anti-Theatralität fungiert. Diese Theatralität verspricht im Bezug auf den Körper die Transzendenz des Sozialen hin zur Natur und damit zur Authentizität.82 Entsprechend stark ist heute die Tendenz, genau diesen Körper zu inszenieren und zu performieren.
3.10 Mediatisierung Die Relevanz der Medien, insbesondere der Massenmedien und des Internets, liegt in allen hier fokussierten Zusammenhängen auf der Hand. Jedoch wäre es – auch wenn die Theatralität der (Massen-)Medien offensichtlich ist – falsch, die Prozesse der (Ent-)Theatralisierung mit der unter Titeln wie ‚Mediengesellschaft‘ diskutierten Entwicklung der (Massen-)Medien gleichzusetzen. Weder beschränkt sich (Ent-)Theatralisierung auf (Massen-)Medien noch sind diese schlechterdings als ‚unabhängige Variable‘ von (Ent-)Theatralisierung anzusetzen. Dennoch kann man im Kontext von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung von einer herausgehoben und zunehmend wichtigen Rolle der Massenmedien und des Internets sprechen – auch und vor allem deswegen, weil es sich hierbei um eigenständige und dynamisch wachsende Gebilde handelt, die nicht nur einen immer vielfältiger werdenden theatralen Charakter haben, sondern auch in immer stärkerer und differenzierterer Weise Theatralität entfalten, anstoßen und verursachen. Drei Punkte sind in diesem Zusammenhang zentral: 1. Die technologische Entwicklung der Massenmedien selbst – und als eine Steigerung davon die Entwicklung des Internets – kann als eine Form von Theatralisierung betrachtet
82 In diesem Zusammenhang setzt Weiß Individualisierung als Ursache einer „Vergewöhnlichung“ an, die vor allem den Körper bzw. Korporalität erfasst. Individualisierung erklärt, so Weiß, warum man sich bei dem Bemühen, auf körperliche (leibliche) „Weise ganz authentisch, also ganz bei sich selbst zu sein, so leicht im Allerallgemeinsten des Allgemeinmenschlichen (…) wiederfindet resp. verliert, warum also solches Streben gerade nicht beim ganz Eigenen, sondern beim Allergewöhnlichsten endet“ (2003: 226).
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werden, insofern diese Medien in einem Analogieverhältnis zum Theater bzw. zur Bühne und zugleich in dessen überbietenden Nachfolge stehen. Mit der ‚Mediatisierung‘ der Kommunikation verlässt das Theater in gewisser Weise seinen eigenen materiellen Raum und dringt in und mit neuen Formen und Inhalten von Theatralität in alle Räume der Gesellschaft vor. Die medientechnologische Entwicklung und die mit ihr einhergehende Entwicklung sozialer (Handlungs-)Felder implizieren eine immer massivere Expansion und Differenzierung von Theatralität, eine immer größere Zahl und Vielfalt von Bühnen, dramaturgischen Ausstattungen, Zeichen, Skripts, Inszenierungen, Performances, Akteuren, (Publikums-)Wahrnehmungen. Mit dem Internet hat es diesbezüglich einen weiteren quantitativen und qualitativen Sprung gegeben (vgl. Willems 2008). Wiederum ist mit einem neuen Medium eine neue Ebene von Theatralität entstanden, ein ganzer Kosmos mehr oder weniger neuer Formen (Gattungen) von Theatralität, der in vielfältiger Interaktion und Wechselwirkung mit schon bestehender (Medien-)Kultur steht und gerät.83 Homecams (vgl. NeumannBraun 2002), Homepages oder Weblogs (vgl. Schmidt/Guenther 2008) z.B. bedeuten neue Bühnen, neue Skripts, neue Fassaden, neue rituelle und strategische ‚Spiele‘ (z.B. des Werbens) und nicht zuletzt neue Wirklichkeiten und mentale Orientierungen. Die Theatralität, die sich mit den neuen Kommunikationsformen entfaltet, wird immer differenzierter, komplexer, massiver und perfekter, aber auch in mancher Hinsicht fragiler und verdächtiger84. 2. Vor allem aber wird die mediale Theatralität immer bestimmender für soziale (Aktionsund Interaktions-)Praxen, Beziehungen und Identitäten. Die Massenmedien und in Verbindung mit ihnen das Internet gewinnen gleichsam als gesellschaftliche(s) Super-Theater (Welt-Theater) im Verhältnis zu allen sozialen Bereichen (alltägliche Lebenswelten, Funktionssysteme/Felder, Organisationen, Spezialkulturen, Szenen), auf die sie sich beziehen und die sich auf sie beziehen, immer größere Bedeutung, soziale Wirk- und Wirklichkeitsmacht. Fischer-Lichte konstatiert in diesem Zusammenhang eine Art Kolonialisierung der Lebenswelt und stellt in ihrem Rahmentext zu dem DFG-Schwerpunktprogramm „Theatralität“ einen gravierenden Wandel der Realität durch mediale Theatralität fest: Das mediale „Simulakrum wird zum Erfahrungsraum, und der mediale Schein erweist sich als eine der vielen Stufen von Scheinbarkeit, in die sich die traditionell als Gegensatz zum Schein erfahrene und definierte Wirklichkeit aufgelöst hat. Die neuen Medien tragen so wesentlich zur Theatralisierung unserer Alltagswelt bei, indem sie nur noch den Zugang zu einer inszenierten Wirklichkeit offen halten“ (Fischer-Lichte 2002: 293). Von besonderer und genereller Wichtigkeit ist hier, dass sich im Zuge der besagten Theatralisierung sozusagen die Architektur bzw. die Konstruktionslogik der Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion gewandelt hat und weiter wandelt. Die Ordnung der Rahmen (im Goffmanschen Sinne) wird mindestens für die partizipierenden Akteure vielschich-
83 Vgl. den Beitrag von Willems/Pranz (Band 2); und die Beiträge in Willems 2008. 84 Der Manipulationsverdacht, der dem Inszenierten und Performierten typischerweise entgegengebracht wird, läuft in der mediatisierten Kommunikation, die sich ihre Kontexte selbst erschafft und ‚Realität‘ durch ‚Virtualität‘ ersetzt, gewissermaßen ins Leere.
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tiger, komplexer.85 Im selben Zusammenhang ergeben und verschieben sich auch gesteigerte und diversifizierte Bedeutungen, Kontrollierbarkeiten und Manipulierbarkeiten des Bildes (im Verhältnis zu Sprache, Wort und Schrift). Mediatisierung ist Theatralisierung wesentlich im Sinne von Visualisierung. Dabei geht es einerseits um das Bild und den Aufstieg des Bildes als Entsprechung der primären Theatralität der (Bühnen-)Anwesenheit mit dem symbolischen Körperausdruck (Korporalität) im Zentrum. Dem Körper und seiner kommunikativ-expressiven Medialität wird im Zuge der Mediatisierung ein neuer (Groß-)Raum jenseits der Interaktion und der ihn bestimmenden Interaktionsordnung gegeben. Andererseits wird der Körper im Rahmen und mit den Möglichkeiten medialer Theatralität in immer komplexerer Weise sozusagen denaturiert und virtualisiert. Theatralisierung liegt hier auch in der technischen Steigerung und gesteigerten Nutzung der Möglichkeiten bildlicher Fiktionalität, die natürlich Verbindungen mit Sprache eingehen kann und regelmäßig eingeht. Die Theatralität(-en) der Medien impliziert aber nicht nur eine starke und penetrante (Um-) Polung der lebensweltlichen Wirklichkeitskonstruktionen, sondern sie bildet gleichzeitig alle sozialen Felder sozusagen in sich ab und steht in einem Interdependenzverhältnis zu ihnen. Im Bezug auf die Felder des Sports, des Rechts, der Wissenschaft, der Religion, der Kunst, der Bildung, der Intimität u.s.w. fungiert sie als „kulturelles Forum“ und Bühne (Newcomb/Hirsch 1986)86, die die Realitäten dieser Felder immer differenzierter in sich ‚spiegelt‘ und zugleich immer maßgeblicher beeinflusst und bestimmt. Selbst das ‚hart‘ scheinende Wirtschafts- oder Wissenschaftsgeschehen spielt sich zunehmend als Medientheatralität oder in Abhängigkeit von Medientheatralität ab.87 Alle Felder geraten zunehmend in das Kraftfeld, in die Anziehung und unter den Druck von Medientheatralität, die ihnen Handlungsorte anbietet und aufzwingt und der entsprechend sie eigene Theatralität ein- und umstellen müssen. Darin besteht ein wesentlicher Faktor der Theatralisierung der Gesellschaft. 3. Die Massenmedien und das Internet bilden auch selbst ausdifferenzierte und dynamisch wachsende Felder, die bzw. deren Kulturen einen Prozess der Theatralisierung durchlaufen haben und durchlaufen. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Angebotskultur des ‚Leitmediums‘ Fernsehens zeigt, dass eine Theatralisierung aller Programmbereiche (Werbung, Unterhaltung, Nachrichten/Berichte) und ‚Formate‘ stattgefunden hat und fortschreitet. In diesem Zusammenhang sind zum einen klassische Formate wie „Das Wort zum Sonntag“, die „Tagesschau“ oder Werbespots auffällig. In der historischen Kontrastierung ältester und neuester Varianten dieser Formate sieht man z.B. wie die Wetterkarte zu einer Wetter-Show oder „Aktenzeichen XY“ von einer betulichen Berichtssendung zu einer Art Reality-Kriminalfilm mutiert. Zum anderen sind hier mit zunehmender Beschleunigung erfundene neuere und neue Formate zu nennen, die eine qualitativ oder graduell innovative Theatralität entfalten. 85 Man denke etwa an die Darstellung von Räumen im Videospiel, die sich im Rahmen einer formatspezifischen Theatralisierung grundlegend geändert hat: Statt um ‚funktionale‘ Spielfelder, in denen ausschließlich ‚spieldienliche‘ Handlungen möglich sind, geht es dabei mehr und mehr um die Inszenierung komplex gerahmter Erlebniswelten mit zunehmend kontingentem Charakter (vgl. Pranz 2008a, b). 86 Dazu ausführlich mein folgender Aufsatz. 87 Börsensendungen sind ein Beispiel. Vgl. dazu den Beitrag von Langenohl/Schmidt-Beck (Band 2).
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Zwei Tendenzen treten insbesondere im Blick auf diese (Medien-)Theatralität hervor: Auf der einen Seite handelt sich dabei um jene oben thematisierten theatral gerahmten oder theatralisierten Enttheatralisierungen: ‚Vergewöhnlichungen‘, Ritual-, Image-, Stilund Rahmenbrüche, wie sie etwa mit und in „Big Brother“ sozusagen kultiviert werden. Auf der anderen Seite zeigen sich verschiedene Gegentendenzen. Dies sind insbesondere Stilisierungs- und Hyperstilisierungstendenzen, speziell Tendenzen zur Selbst- und Lebensstilisierung (wie im Falle des ‚Promi-Dinners‘), sowie (mediale) Image- und Starkulte, die wiederum von „Big Brother“88 über „Germany’s next Topmodel“ bis zu den inflationierenden Preisverleihungszeremonien reichen. Hintergrund dieser diversen (Medien-)Theatralisierungen sind sozio-kulturelle Feld- bzw. Marktbedingungen, wie z.B. funktionale Differenzierungsprozesse, spezielle Unternehmensbildungen (wie etwa Ideenfabriken), ein sich verschärfender Konkurrenzkampf um Publika (Marktanteile) oder Aufmerksamkeitsverknappungen (s.o.). Die medienkulturellen Folgen dieser Bedingungen, Theatralisierungen und Enttheatralisierungen, sind dann ihrerseits im Sinne von Theatralisierungen und Enttheatralisierungen folgenreich, nämlich als kopierbare Modelle, Impulse, Verstärker oder Degeneratoren von bestimmten Normen, Normalitäten, Stilen oder Moden.
4. Schluss Mit dem vorliegenden Werk soll also keiner ‚Theatrologie‘, keinem ‚dramaturgischen Ansatz‘ und erst recht keinem ‚Theatralismus‘ oder ‚dramatologischen‘ Konstruktivismus das Wort geredet werden – weder theoretisch noch empirisch-analytisch oder diagnostisch. Es sollte allerdings deutlich geworden sein und im Folgenden noch deutlicher werden, dass die Theatermetaphorik, das Theatermodell und das Theatralitätskonzept eine spezifische anthropologische Dimension und spezifische Realitäten treffen. Hans-Georg Soeffner (2004) spricht von der „Wirklichkeit der Theatralität“ und meint damit zum einen deren insbesondere von Hellmuth Plessner betonte anthropologische Seite, nämlich die „Anlage des Menschen, den eigenen Ausdruck zu kontrollieren“ (ebd.: 236), und zum anderen „die von der Theatralität erzeugte Wirklichkeit“ (ebd.). Mit dieser Unterscheidung ist allerdings noch nicht die (nicht nur vom individuellen ‚Menschen‘) erzeugte und zu erzeugende Theatralität erfasst, die jene Wirklichkeit erzeugt. Man muss also die Realität der Theatralität selbst – von der Theatralität der Architektur bis zur Theatralität der Gattungen der Internetkommunikation – von der Realität unterscheiden, die von Theatralität hervorgebracht wird. Diese Realität ist eine Realität von Semantiken, Ideen, Deutungen, Deutungsmustern, Alltagstheorien, Kosmologien u.s.w.; kurz, es ist die gesellschaftliche Wirklichkeit.
88 Dort wird Jemand vom Niemand zum Star.
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Es liegt auf der Hand, dass die Theatermetaphorik, das Theatermodell und das Theatralitätskonzept im Bezug auf die Realitäten der Theatralität und der (Ent-)Theatralisierung prinzipiell spezifisch begrenzt sind. Ebenso aber ist deutlich, dass die besagten Begriffsmittel und Ansätze in den empirischen Kontexten, die hier in Frage stehen, einen primären und unverzichtbaren Dienst leisten und dass sie theoretisch nicht nur anschlussbedürftig sondern auch anschlussfähig sind. Die ‚Nachfrage‘ nach Theorie bzw. nach Modellen und Konzepten ergibt sich hier aus empirischen Beobachtungen. Es geht um teils sehr offensichtliche und teils eher unterschwellige sozio-kulturelle Phänomene, Entwicklungen und Wandlungen, die vergleichbar, ähnlich oder verwandt erscheinen und die es daher zunächst auf identifizierende und differenzierende Begriffe zu bringen gilt. Die thematischen Phänomene sind allerdings nicht nur mehr oder weniger unterschiedlich verfasst, sondern auch unterschiedlich kontextiert, bedingt und verursacht; sie entstehen aus verschiedenen Quellen, bilden aber sozusagen einen empirischen Gesamtzusammenhang, der die Begriffe Theatralität und (Ent-)Theatralisierung im Ganzen wie im einzelnen nahe legt und geeignet erscheinen lässt. Zu veranschlagen und zu untersuchen sind hier einerseits Funktionen und (Begleit-)Effekte grundlegender sozio-kultureller bzw. gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse (Professionalisierung, Vermarktlichung, Individualisierung etc.), die sich – bei aller Unterschiedlichkeit – immer auch in Theatralität manifestieren und sich in Theatralitätswandel bzw. in (Ent-)Theatralisierungen auswirken. Andererseits gilt es, die sozio-kulturelle Differenzierung in zweierlei Hinsicht zu beachten: Zum einen gibt es neben einer (gesellschafts-)alltäglichen eine bereichs- bzw. feldspezifische Ebene und damit Besonderheiten, besondere Bedingungen und Eigenlogiken von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung, die etwa in der Kunst anders ausfällt als in der Politik, im Recht oder in der Wissenschaft. Zum anderen erscheint die hier privilegierte Begrifflichkeit durch den empirischen Aufstieg und die evidente Kulturbedeutsamkeit bestimmter theatraler oder ‚posttheatraler‘ Gebilde (Ordnungen, Systeme, Figurationen) besonders gerechtfertigt und vielversprechend, nämlich die Massenmedien und das Internet. Ihnen wird im 2. Band dieses Werks entsprechend konzentrierte Aufmerksamkeit gewidmet. Die in Aussicht gestellte ‚Diagnose‘ kann also weder auf der ‚symptomatologischen‘ noch auf der ‚ätiologischen‘ Ebene eindimensional sein. Und entsprechend komplex muss die sie begleitende und die ihr vorausgehende Theorie sein.
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Zur Einführung: Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These
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Überblick über das Werk und Zusammenfassungen Herbert Willems
In dem vorliegenden Werk wird Fragen der Theatralität, der Theatralisierung und der Enttheatralisierung vor dem Hintergrund konzeptueller und theoretischer Vorüberlegungen hauptsächlich empirisch-analytische Aufmerksamkeit geschenkt. Es geht im Rahmen einer Art Bestandsaufnahme, die vor allem im Bezug auf die Gegenwartsgesellschaft im weitesten Sinne differenzierungstheoretisch orientiert ist, um verschiedene sozio-kulturelle Kontexttypen und Ordnungsebenen, auf denen sich die hier gemeinten Tatsachen darstellen und abspielen. Mit der entsprechenden Gliederung des Werks kann und soll aber keine absolute Trennbarkeit der verschiedenen Kontexte und Ebenen von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung unterstellt werden. Vielmehr muss es sich hier eher um den Versuch handeln, kategoriale Ordnung auf ein immer komplexer und dynamischer werdendes Gefüge von Beziehungen, Interdependenzen und Wechselwirkungen zu projizieren. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die alle sozio-kulturellen Bereiche aufgreifende und penetrierende Rolle der Massenmedien und des Internets, der der 2. Band gewidmet ist. Im 1. Band geht es zum einen um die zugrunde liegenden Blickwinkel, Leitideen und Leitthesen (Theatralität/Theatralisierung/Enttheatralisierung) sowie deren begriffliche und theoretische Fundierung. Zum anderen und schwerpunktmäßig beinhaltet dieser Band empirisch-analytische Arbeiten, die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ordnungsebenen ansetzen. Der 1. Block der empirisch-analytischen Beiträge bezieht sich auf die Ebene der alltäglichen und außeralltäglichen Lebenswelten, die im Prinzip ‚alle Welt‘ und jedermann umfassen, betreffen und ‚angehen‘. In der anschließenden Reihe von Beiträgen wird (Ent-) Theatralisierung im Kontext von speziellen (Gruppen-)Kulturen bzw. Netzwerken, Spezialkulturen und Szenen thematisiert. Im 3. Beitragsblock geht es um Untersuchungen auf der Ebene sozio-kultureller ‚Großbereiche‘, nämlich sozialer Felder1 bzw. Teilfelder und sozialer Organisationen: Politik, Sport, Religion, Wissenschaft, Medizin/Psychotherapie, Kunst/Theater, Wirtschaft u.s.w.
1 Ich verwende den Begriff im Sinne Bourdieus (1982, 1987). Mit Luhmann könnte man von Subsystemen sprechen.
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Die Untersuchungen dieses Bandes offenbaren die Varietät von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung und machen gleichzeitig diverse ‚Kontextabhängigkeiten‘ und sozio-kulturelle ‚Einbettungen‘ der hier fokussierten Tatsachen, Entwicklungen und Wandlungen deutlich. Deutlich wird andererseits aber auch die felderübergreifende Vergleichbarkeit und Ähnlichkeit von als Theatralität zu fassenden Zeichen- und Praxisformen (Image-Arbeit, Ästhetisierung etc.) sowie von Strukturbedingungen bzw. strukturellen Bezugsproblemen (Kontingenz/ Anomie, Aufmerksamkeitsknappheit, Anbieterkonkurrenz etc.), die diesen Zeichen- und Praxisformen zugrunde liegen. Die begrifflichen und theoretischen Fundierungen des 1. Bandes voraussetzend und spezifizierend, widmet sich der 2. Band den Massenmedien und dem Internet. Diese Fokussierung ist durch die Tatsache begründet, dass ‚die Medien‘ in den hier gemeinten Prozessen (Theatralisierung und Enttheatralisierung) in der Kontinuität wie in der Diskontinuität des Theaters nicht nur eine je besondere und eigenständige, sondern auch eine zunehmend komplexe und wichtige Rolle spielen, und zwar in Interdependenz mit anderen sozialen Bereichen bzw. Feldern. Die ‚Wirklichkeit der Theatralität‘ ist hier damit in zwei Formen interessant: als Wirklichkeit, die (Medien-)Theatralität als solche darstellt, und als Wirklichkeit, die von (Medien-)Theatralität durch ihre spezifischen sozio-kulturellen Ordnungen und Voraussetzungen hervorgebracht wird. Den 2. Band schließen Beiträge ab, die entsprechend grundsätzliche Überlegungen im Bezug auf beobachtete (Um-)Brüche, (Um-)Polungen und Polarisierungen der Gegenwarts(welt)kultur anstellen. Insbesondere wird nach prinzipiellen Ambivalenzen, Widersprüchen und Paradoxien gefragt, die mit Begriffen wie Theatralisierung und Enttheatralisierung gefasst werden können.
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Zusammenfassungen der Beiträge des 1. Bandes2 1. Einleitung Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept: Von Fischer-Lichte über Goffman zu Elias und Bourdieu (Herbert Willems) Im ersten Schritt der Einleitung dieses Werks (Theatralität als Ansatz, (Ent-)Theatralisierung als These) werden dessen sozial- und kulturwissenschaftliche Hintergründe sowie dessen leitende Ideen, Thesen und begrifflich-theoretische Grundlagen einführend skizziert. Insbesondere geht es darum, zu umreißen, was unter Theatralität und (Ent-)Theatralisierung zu verstehen ist. Der Begriff der Theatralität wird dabei zunächst im Anschluss an das ‚theatrologische‘ Verständnis Fischer-Lichtes definiert, die ihn an den „Aspekten“ Inszenierung, Performance, Korporalität und Wahrnehmung festmacht. Vor diesem Hintergrund bezweckt der folgende Beitrag eine soziologische Problematisierung eines ‚theatrologischen‘ Theatralitätsbegriffs und die weitere und differenziertere soziologische Ausarbeitung dieses Begriffs als Voraussetzung des (Ent-)Theatralisierungsbegriffs. Ausgehend von dem Verständnis Fischer-Lichtes wird einerseits – vor allem im Anschluss an Goffman – der Versuch unternommen, den Theatralitätsbegriff als soziologisches Konzept zu differenzieren und zu präzisieren. Es werden einige Unterscheidungen und soziologische Schlüsselkonzepte vorgeschlagen, um die Realitäten der Theatralität besser fassen und bestimmen zu können. Andererseits gilt es, eine soziologische (Meta-)Perspektive zu gewinnen, die es gestattet, diese Realitäten zu ‚kontextualisieren‘ und auf den verschiedenen sozio-kulturellen Ebenen (Gesellschaft, Feld, Interaktion, Akteur) historisch einzuordnen. Die von Bourdieus Feld/Habitus-Ansatz komplementierte Figurationssoziologie von Norbert Elias erscheint hierzu, und d.h. auch als Rahmen der Untersuchung von (Ent-)Theatralisierungsprozessen, besonders geeignet.
2 Die folgenden Zusammenfassungen der Beiträge stammen überwiegend von den Autorinnen und Autoren. Ich habe deren Vorlagen lediglich überarbeitet, ergänzt oder gekürzt.
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2. Alltägliche und außeralltägliche Lebenswelten Stile und (Selbst-)Stilisierungen zwischen Habitualität und Medialität (Herbert Willems) Der Begriff des Stils ist – ähnlich wie etwa die komplementären Begriffe Deutungsmuster und Ritual – ein sehr weitreichender und daher differenzierungsfähiger und differenzierungsbedürftiger Begriff, der ein breites Spektrum von Phänomenen zu fassen und aufzuschließen vermag. Auf allen Ebenen und in allen Kontexten von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung sind Stile und Stilbegriffe, die ja zuallererst auf Form, Performanz, Gestaltung und Distinktion verweisen, von erheblicher oder sogar maßgeblicher Relevanz. In dem Aufsatz wird Stil auf zwei Ebenen behandelt: Einerseits erscheint er als Habitusprodukt und Habitusgenerator (Stil ‚erster Ordnung‘), d.h. als eher impliziter, unbewusster Stil. Andererseits wird Stil als ‚expliziter Stil‘ (Hahn) thematisiert (Stil ‚zweiter Ordnung‘). Diese Ebene ist auch die Ebene der Diskursivierung von Stilen, und es ist die Ebene der (Selbst-)Stilisierung. Eine Schlüsselrolle spielt in diesem Zusammenhang das Feld der Massenmedien. Es wird am Beispiel der Werbung und ihrer Jugend(-lichen)-Inszenierung als Stil-Forum (Stil-Bühne) betrachtet, das auf lebensweltliches (habituelles) Stilwissen ebenso referiert wie wirkungsvoll ausstrahlt. Den Stilbegriff auf die Ebene der „Gestaltung“ zu beschränken, wie es Thomas Luckmann (1986) vorgeschlagen hat, würde ihn nicht nur von den habituellen Dispositionen und ihren lebensweltlichen (Interaktions-)Korrespondenzen abziehen, auf die er, wie gezeigt wird, gewinnbringend anwendbar ist, sondern auch einen Zugang zu dem zentralen und immer wichtiger werdenden Zusammenhang zwischen dieser Ebene und der der ‚Gestaltung‘, insbesondere der massenmedialen Inszenierung und Performanz, verschließen. Die Massenmedien sind es, die im sinnverarbeitenden Rückbezug auf Habitus und Lebenswelt und in darauf bezogener sinngebender Performanz von zunehmender Bedeutung für die Realität der Stile und (Selbst-)Stilisierungen, für ihre Entfaltung, Entwicklung und Wandlung geworden sind und werden.
Goffmans Stigma-Identitätskonzept – neu gelesen (Ernst von Kardorff) Der Beitrag fragt danach, inwieweit die in Goffmans 1963 publiziertem Essay Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität entwickelten Analysen zur Stigmatisierung angesichts gesellschaftlicher Veränderungen im Umgang mit diskreditierten und diskreditierbaren Personen und Gruppen auch unter den Bedingungen eines „flexiblen Normalismus“ (Jürgen Link) noch Bestand haben. Dazu werden die zentralen Annahmen Goffmans mit ausgewählten neueren Entwicklungen vor allem aus dem Bereich der Psychiatrie und der Rehabilitation von Menschen mit Behinderung in Beziehung gesetzt. Unter theoriesystematischen Gesichtspunkten diskutiert der Beitrag theoretische Konzepte zur Weiterentwicklung der Goffmanschen Perspektive; neben Ansätzen zum Emotionsmanagement werden hier Ansätze der Körpersoziologie und der Biografieforschung angesprochen. Als exemplarischer Bezugspunkt für die Tragfähigkeit derartiger theoretischer
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Erweiterungen werden Veränderungen in den modernen Dienstleistungsbeziehungen gewählt, die gleichermaßen Aspekte der Rahmenverschiebungen in der Interaktionsordnung und einer aufwändigen und riskanten Identitätsarbeit betreffen.
Korporales Kapital und korporale Performanzen in der Lebensphase Alter (Klaus Schroeter) Das Körperthema hat bekanntlich in vielen Sozial- und Kulturwissenschaften nach einer mehr oder weniger langen Phase der Vernachlässigung schon lange Konjunktur. Jedoch gilt dies längst nicht für alle seine Aspekte und auch nicht für alle Disziplinen, auf die der Körper verweist und die auf den Körper verweisen. Ein Beispiel ist das Alter(n) und die Gerontologie. Insbesondere die Symbolhaftigkeit und die soziale Konstruktion des Körpers werden in der sozialen Gerontologie weitgehend ignoriert. Die Überlegungen dieses Aufsatzes deuten an, wie diesem Desiderat zu begegnen ist. Dazu werden zum einen im Anschluss an Bourdieu das korporale Kapital und die Korporalität im Alter in Augenschein genommen. Zum anderen wird gezeigt, wie Menschen ihr Alter in alltäglichen Handlungen immer auch über den Körper inszenieren und performieren (Doing Age). Und zum Dritten wird der Blick darauf gelenkt, wie sich unter den gesellschaftlichen Imperativen von Fitness und Wellness die gerontologischen Konzepte des erfolgreichen und produktiven Alterns in die regulierenden Strategien der ‚Bio-Politik‘ einordnen lassen.
„Nur der zuletzt empfundene Eindruck ist wichtig.“ Mode als paradoxes Reflexionsmedium (Udo Thiedeke) In der modernen (komplexen) Gesellschaft kann man der Mode kaum entgehen. Wer gesellschaftlich partizipiert sieht sich, abgesehen von streng regulierten sozialen Kontexten, mit dem nachahmenden periodischen Stilwechsel individueller Distinktion konfrontiert, wobei man sich nur lächerlich macht, wenn man das eigene gesellschaftliche Engagement als ‚modisch‘ bezeichnet. Charakteristisch für das gesellschaftliche Phänomen Mode scheint demnach ihre Paradoxie zu sein. Sie tritt thematisch als ubiquitäre Marginalität in Erscheinung, bezieht ihre soziale Attraktivität aus der Nachahmung von Abweichungen und ihre zeitliche Stabilität aus periodischer Ablösung. Gerade darin zeigt Mode aber keinen strukturellen Defekt, sondern ihre Leistungsfähigkeit, in der modernen Gesellschaft eine vorübergehende soziale Ordnung zu formen. Sie erlaubt den sozialen Einbezug individueller Abweichung bei geringen ‚sozialen Folgekosten‘ und macht beobachtbar, wie sich dabei alle in den Kommunikationen der Mode selbst beobachten. Mode erscheint demzufolge als Form von Öffentlichkeit, die eigene ‚modische‘ Orientierungsformen ausprägt und somit selbst als paradoxes Reflexionsmedium in Erscheinung tritt, das als ‚schwacher Strukturmechanismus‘ gesellschaftlichen Orientierungswissens wirkt.
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Die Inszenierung des mobilen Selbst (Günter Burkart) Das Mobiltelefon hat sich in kurzer Zeit von einem exotischen Luxusspielzeug zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Alltagswelt entwickelt. Der überwältigende Erfolg des Handy in wenigen Jahren hat zu markanten Veränderungen der öffentlichen Selbstpräsentation geführt. Wir sehen immer häufiger Menschen, die sich seltsam benehmen. Dies hat etwas mit der zeitlich-räumlichen Entbindung der Kommunikation zu tun, die mit diesem Medium gegenüber dem Festnetztelefon noch einmal gesteigert wurde. Es kommt damit aber auch zu Störungen der Kommunikation, zu Interferenzen zwischen face-to-face-Kommunikation und technisch vermittelter Fernkommunikation. Möglicherweise hat der Erfolg des Handy auch etwas mit dem Übergang zur Postmoderne zu tun, in der neue Formen der Oralität begünstigt, hierarchische Strukturen und institutionelle Ordnungen abgebaut, neue Vergemeinschaftungsformen möglich werden. Vielleicht gibt es sogar so etwas wie eine neue postmoderne Identität, die sich als mobiles Selbst öffentlich inszeniert. Der Beitrag versucht diese Fragen soziologisch zu elaborieren und theorie- wie empiriegestützt zu bearbeiten.
Wissen Live: Sitzordnung, Performanz und Powerpoint (Hubert Knoblauch) Der Vortrag ist eine vom alltäglichen Gespräch deutlich unterschiedene kommunikative Gattung, die sich durch eine besondere Theatralität auszeichnet. Innerhalb dieser Gattung hat sich in den letzten Jahren eine Form der audiovisuell unterstützten ‚Präsentation‘ herausgebildet, die gemeinhin als ‚Powerpoint-Präsentation‘ bezeichnet wird. Diese Vortragsform unterscheidet sich von traditionellen Vorträgen u.a. im Hinblick auf sozialräumliche Ordnungsaspekte und Interaktionsformen und bildet so eine besondere Art von medial hybrider ‚Performance‘. Nach einer Diskussion des zentralen analytischen Begriffes der Performanz wird in dem Beitrag der Aspekt der räumlich-gegenständlichen Rahmung derartiger Präsentationen betrachtet. Dabei zeigen sich Zusammenhänge zwischen räumlicher Ordnung, formalem bzw. informellem Kontext und der Interaktionsform. Zusätzlich wird die Konstruktion von ‚Liveness‘ und Spontaneität im Kontext der Präsentation analysiert, um schließlich die PowerPoint-Präsentation als eine zunehmend verbreitete Form des medialen Wissenstransfers zu beschreiben.
Keine Beziehung ohne großes Theater. Zur Theatralität im Beziehungsaufbau (Karl Lenz) In diesem Beitrag wird gezeigt, dass in der Gegenwart in den Anfängen einer Zweierbeziehung die Theatralität in aller Regel ein sozialer Zwang ist. Dass heute in den Beziehungsanfängen so viel an ‚Theater‘ erforderlich ist, erwächst aus bestimmten kulturellen Rahmenbedingungen, die aufgezeigt werden. Darauf aufbauend wird im Weiteren anhand des rituellen Problems der Kontaktaufnahme zu einem Fremden die kommunikative Arbeit beschrieben,
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die in dieser sozialen Situation zu leisten ist. Für die Bewältigung haben sich unterschiedliche Formen der Kontaktaufnahme herausgebildet, die anhand von Filmanalysen vorgestellt werden. Kurz wird auch aufgegriffen, wie sich die Kontaktannahme durch das Online-Dating verändert. Der Zwang zur Theatralität ist nicht auf die Kontaktaufnahme begrenzt, sondern setzt sich fort. Bis es zur Paarbildung kommt, müssen eine Reihe von Begegnungen arrangiert werden, die als Möglichkeitsraum dafür dienen, Interesse an einer Beziehung anzuzeigen und die Ernsthaftigkeit dieses Interesses unter Beweis zu stellen. Für die zu leistende Identitätsarbeit ist die Selbstdarstellung die primäre Informationsquelle. Eine Selbstdarstellung besitzt stets eine Tendenz zur eigenen Idealisierung und steht damit immer schon an der Grenze zur Täuschung, die leicht überschritten werden kann. Schließlich geht es um die Frage, ob sich der Zwang zur Theatralität durch die Ausbreitung der audiovisuellen Medien und der dadurch bewirkten medialen Durchdringung der sozialen Wirklichkeit noch gesteigert hat.
Zeigen und Verbergen. Intimität zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung (Thomas Schwietring) Ausgehend von der Beobachtung, dass Inszenierungen verschiedenster Aspekte von Intimität in der Öffentlichkeit, in den Bildmedien und im Alltag eine immer größere Rolle spielen (Theatralisierung), stellt der Beitrag die Frage nach dem Verhältnis von Intimität und Inszenierung, d.h. dem Intimen an der Intimität einerseits und der inszenierenden Darbietung andererseits. Dieser Gegensatz wird kritisch erörtert, so dass deutlich wird, dass Intimität als die Abgrenzung einer Innenseite immer mit einer Darstellung nach außen einhergeht. Zeigen und Verbergen bedingen sich gegenseitig. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt nach dem Wandel von Sozialität in einer Gesellschaft gefragt, in der private und privateste Angelegenheiten immer stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken und persönliche Beziehungen als Modell sozialer Beziehungen schlechthin erscheinen.
Tod, Opferritual, Theatralisierung. Spaltungen am Ursprung der Gesellschaft (Gallina Tasheva) Ausgehend von einer existentialsoziologischen Bestimmung des Menschen wird die für die Moderne paradigmatische These, dass die Vernunft stärker ist als der Tod, in Frage gestellt und die ‚Gemeinschaft der Vernunft‘ aus der trennend-bindenden Kraft ihrer Fragilität betrachtet. Damit öffnet sich dem soziologischen Blick eine Beziehung zur Alterität, die an die Anfänge des Lebens und an die elementaren Formen der Sozialität rührt, wo sich das gesellschaftliche Band an seinem Ursprung durch Gabe, Opfer und Tausch, Drama, Spiel und Zeremoniell, Gemeinschaft, Gesellschaft und Mitsein spaltet. Mit der Steigerung der Individualisierung und Subjektivierung und der funktionalen Ausdifferenzierung klaffen Faktizität und Normativität, Freiheit, Arbeit, Spiel und Muße immer
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mehr auseinander. Im Universum des Diskurses Sinn zu erzeugen, heißt dann, die Repräsentation zu verdoppeln, um das Dasein als das schlechthin Nicht-Repräsentierbare durch die ganze Leiblichkeit des Ausdrucks hindurch im symbolischen Tausch präsentierbar und sich selbst erkennbar und anerkennungswürdig zu machen. Die Fähigkeit „ein akzeptables Image des eigenen Selbst“, das Anerkennung bekommt, aufrecht zu erhalten, ist „tief im Menschen verwurzelt“, wie Goffman immer wieder bemüht ist zu zeigen. Diese Veranlassung, die wir unbewusste Theatralität nennen können, entfaltet sich immer, wenn sich Interaktionsmuster als unhaltbar erweisen oder als unhaltbar aufgeführt werden. Unbewusste Theatralisierungen fungieren selbstregulierend zwischen den Bedeutungs- und Interaktionssystemen, dem Anerkennungsdrang der Gemeinschaft und den Heimsuchungen des Anderen, um mit ihrer ganzen performativen Kraft konfliktgeladene Situationen von Spannungen zu entlasten, neue Verhaltensarrangements zu kreieren und möglichst Zustimmung zu erlangen.
3. Spezielle (Gruppen-)Kulturen Das Turmspringen der Sa in Vanuatu: Ritual, Spiel oder Spektakel? Eine dramatologische Perspektive (Thorolf Lipp) Der Süden der Insel Pentecost im Vanuatu-Archipel ist Schauplatz eines spektakulären Ereignisses: in mehreren Dörfern der Region bauen die Männer zwischen März und Mai einen bis zu 30 Meter hohen Turm aus Holz, von dem sie dann an bestimmten Tagen kopfüber herunterspringen. Dabei werden sie nur von um die Fußknöchel gebundenen Lianen gesichert. Die Auswertung der bestehenden Literatur, sowie von Film- und Fotoaufnahmen zeigt, dass dieser Brauch seit vielen Jahrzehnten unverändert durchgeführt wird. Im vorliegenden Beitrag wird die Frage aufgeworfen, um welche Art des ‚sozialen Dramas‘ es sich hier eigentlich handelt. Zunächst liegt der Gedanke nahe, es handele sich beim Turmspringen um ein Initiationsritual, so wie es etwa von Victor Turner im Rahmen seiner dramatologischen Ritualtheorie beschrieben wird. Die ethnologische Untersuchung des Phänomens hat jedoch ergeben, dass es fragwürdig erscheint, das Turmspringen überhaupt als ‚Ritual‘ zu begreifen. Stattdessen wird die Veranstaltung hier als „riskantes Spektakel“ aufgefasst und deutlich gemacht, dass es sich dabei um eine „Flussunterbrechung“ handelt, die sich vom ‚Ritual‘ kategorial unterscheidet. Der Befund, wonach das ‚Spektakel‘, das oft als eine vorherrschende Form der Theatralisierung in modernen Gesellschaften betrachtet wird, auch in einer urproduktiven Gesellschaft angetroffen werden kann, mag überraschen. Am Beispiel des Turmspringens wird jedoch deutlich, dass die von Turner behauptete wesenhafte Verschiedenheit zwischen „modernen“ und „vormodernen“ Gesellschaften, die er mit seiner „liminal – liminoid“ Dichotomie aufzuzeigen versuchte, so nicht haltbar ist. Das Turmspringen weist nämlich, obschon es auch heute noch in einem „vormodernen“ Kontext aufgeführt wird, weitaus mehr „liminoide“ als „liminale“ Züge auf, weswegen hier die These vertreten wird, dass der Begriff der Liminoidität letztlich überflüssig ist. Entscheidend ist vielmehr die kategoriale Unterscheidung von Spiel oder Spektakel einerseits und Ritual andererseits.
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Rituelle und symbolische Inszenierung von Zugehörigkeit. Das sorbische Osterreiten in der Oberlausitz (Marén Schorch) Die Sorben gehören zu den offiziell anerkannten und gesetzlich geschützten autochthonen Minderheiten in Deutschland. Die katholischen Sorben in der Oberlausitz (im östlichen Sachsen) befinden sich gleichsam in einer doppelten Minderheitensituation: Als ethnische Minorität gegenüber einer weitgehend deutschen Majorität und als religiöse Minderheit in einem eher protestantisch bzw. atheistisch geprägten Umfeld. Anhand eines religiösen Rituals – dem Osterreiten am Ostersonntag – wird exemplarisch das öffentliche Bekenntnis religiös-ethnischer Zugehörigkeit katholischer Sorben analysiert. In der seit 1541 belegten alljährlichen Prozession aus derzeit ca. 1.700 Reitern bündeln sich die wesentlichen Elemente der Identität katholischer Sorben: Sprache, Religiosität und Selbstbekenntnis als Sorbe. Hiermit ist nicht nur die individuelle, situative Konstruktion und soziale Anerkennung ethnischer Identität verbunden, sondern auch die Stärkung des spezifisch sorbisch-katholischen Milieus in der Oberlausitz. In dem Beitrag wird neben den Rahmenbedingungen der Prozession, den zentralen Akteuren und typischen Charakteristika des religiösen Rituals (und/oder Events?) auch die Frage diskutiert, inwieweit in dieser rituellen und symbolischen Inszenierung, gerade in der Renaissance des Rituals seit den 1990er Jahren, auch eine Reethnisierung, eine Rückbesinnung auf ethnische Zugehörigkeit angesichts der Kontingenz/Komplexität der Moderne zu sehen ist.
‚Tangowelt Berlin‘ – Strukturierung, Performanz und Reflexivität eines kulturellen Feldes (Rainer Diaz-Bone) Der Artikel stellt die sozialhistorische Entwicklung des Tangos Argentino sowie dessen Adaption, Strukturierung und Praxisformen in der europäischen Tangowelt dar, wie sie sich in der Berliner Tangoszene als europäischer Tangometropole artikulieren. Dabei werden Konzepte der Theorien Goffmans, Bourdieus, Foucaults, aber auch der Theorie der Performanz und des Theatralisierungs-/Enttheatralisisierungsansatzes auf die Tangowelt bezogen. Zunächst wird das Skript des Tangoevents (Milonga) als ein Schema einer alternativen Tanzsalonkultur dargelegt. Die Performativität der Geschlechterrollen wird dann als durch die sozialen Kontexte und deren Investitionen mitstrukturiert analysiert. Der Tangounterricht als „Körperlabor“ ist dabei das Relais, wo die Arbeit am Habitus erfolgt und wo die in die Tangowelt Eintretenden sich zu Tangotänzerinnen und Tangotänzern zu transformieren suchen. Die vernetzten Tanzpaarungen auf dem Parkett des Tangosalons lassen sich als Realisierungen einer Statusordnung deuten, die die Interaktionsordnung zwischen den Geschlechterkollektiven strukturiert. Die Tangowelt ist durch die Reflexivität der Rollen charakterisiert, die es den Frauen und Männern in der Berliner Tangowelt ermöglicht, die scheinbar traditionalistischen Formen der Unterwerfung bzw. Dominanz in der ursprünglich lateinamerikanischen Tangophilosophie des „Führens und Folgens“ performativ für die in Bewegung geratenen, sich pluralisierenden Geschlechterrollen spätmoderner Gesellschaften zu adaptieren und zu transformieren. Ermöglicht wurde dies durch die umschematisierende Adaption des „Phänomens Tango“ in Europa durch die entstehenden Kulturmilieus seit den 1980er Jahren. Die Akteure können
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hier auf diskursive Problematisierungen zurückgreifen, die Ressourcen sind im reflexiven Spiel mit den Rollen. Es zeigt sich, dass in der Tangowelt selber sozialwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Theoreme und Theorien ihren Einfluss ausüben; die reflexive Performativität in der Tangowelt wird so auch durch den Theorieeffekt ermöglicht.
‚Vergesst die Party nicht!‘ – Das Techno-Publikum aus der Sicht der Szene-Macher (Ronald Hitzler/Michaela Pfadenhauer) Die Party bildet den Kulminationspunkt des Geschehens (in) der Techno-Szene. Sie gilt es nicht nur, wie DJ Westbam einmal angemahnt hat, nicht zu vergessen. Sie muss auch organisiert und produziert werden: von Veranstaltern, Logistikern, Technikern, Club-Managern, Bookern, Künstlern u.s.w. Aus der Sicht all dieser ‚Macher‘ ist die Techno-Party-Szene ausdifferenziert: sowohl im Hinblick auf die Erbringung szenerelevanter Leistungen als auch im Hinblick auf club-, labelund DJ-spezifische Teilszenen, auf regional- bzw. lokalspezifische Teilszenen und vor allem im Hinblick auf stilspezifische Teilszenen. Unter den letzteren gelten die Dance&TranceSzene, die House-Szene und die Rave- bzw. Techno-Szene im engeren Sinne veranstaltungstechnisch betrachtet als die wesentlichsten: Die Rave- bzw. Techno-Szene im engeren Sinne ist nach wie vor relativ groß und begreift sich selber als ‚echt‘. Wer bei der Party auf dem einschlägigen Floor bleibt, der will augenscheinlich wirklich ‚raven‘, also tatsächlich im Wortsinne ‚sich austoben‘. Der House-Floor hingegen wird vorzugsweise von einer etwas älteren, relativ finanzkräftigen und an Selbstdarstellungschancen interessierten Teilszene geschätzt. Wer bei der Party auf den House-Floor strebt, der will sich typischerweise nicht übermäßig verausgaben, sondern eher sanft durchwippen und sich mit anderen Personen beschäftigen. Trancer & Dancer sind deutlich weniger ‚schicki-micki‘ als House-Leute, oft sogar dezidiert unmodisch und ‚hippiesk‘ im Auftreten und Erscheinungsbild. Auch wenn die Techno-Party-Szene hierzulande die pop-typischen Entwicklungen interner Diversifizierung und Hierarchisierung, Subszenenbildung, Kommerzialisierung, Standardisierung u.s.w. durchlaufen hat und sich in den Underground zurückgezogen hat, versteht sich der gemeine Raver nach wie vor keineswegs als Zuhörer und Zuschauer, also als Teil eines Publikums, noch betrachten, begreifen und behandeln die ‚Macher‘ die Raver als ein Publikum.
Karaoke, eine Tautologie des Populären. Befragungen zu Motivation und Fremdwahrnehmung von Karaokesängern (Claudia Bullerjahn/Stefanie Heipcke) Unter Karaoke versteht man das amateurhafte, mikrofongestützte Singen von populären Songs zu einem vorproduzierten Halb-Playback vor Publikum. Für Karaoke ist darüber hinaus der Wechsel zwischen der Rolle als Sänger und Publikumsmitglied kennzeichnend. Das komplexe Phänomen Karaoke umfasst somit die drei Dimensionen ‚Singen‘, ‚Selbstdarstellung‘ und ‚Gruppe‘. Erst vermehrt in jüngerer Vergangenheit gibt es außerhalb Asiens wissenschaftliche Erörterungen zum Phänomen Karaoke, obwohl dieses
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populäre Phänomen asiatischer Herkunft auch in Europa seit Beginn der 1980er Jahre massenhafte Verbreitung gefunden hat. In der vorliegenden Untersuchung geht es einerseits um Alltagstheorien zum Karaokesingen und Fremdbilder von Karaokesängern allgemein, andererseits um die besondere Faszination von Karaoke für Karaokesänger und deren Motivation. Beim Karaokesingen nähern sich Laien mit Profi-Equipment und mehr oder minder defizitärem Stimmgebrauch den Medienangeboten der Pop-Profis, was insbesondere bei älteren, nicht in die Szene involvierten Personen auf Unverständnis stößt. Neben dem Singen ist beim Karaoke das sich Darstellen vor einem Publikum ein ganz entscheidender Bestandteil, wobei verschiedene Impression-Management-Strategien oder -taktiken Verwendung finden. Glaubwürdigkeit und Authentizität erreichen Karaoke-Sänger dadurch, dass sich ihre Imitationen populärer Vorbilder zumeist nur auf die Stimme beziehen, nicht jedoch auf den Körper. Ebenfalls entspricht das Karaokepublikum nicht dem festen sozialen Gefüge einer üblichen Gruppe: Unverbindlichkeit und zufällige Bekanntschaften von kurzer Dauer und geringer Intensität sind Hauptmerkmale, was es mit dem Ensemble im Goffmanschen Sinne vergleichbar macht. Anerkennung und Toleranz, gesichert durch ein differenziertes soziales Regelwerk, bilden wichtige Grundlagen für das Funktionieren von Karaokeclubs, denn erst sie ermöglichen es, dass Singen als wesentliche Coping-Strategie und zur symbolischen Selbstergänzung genutzt werden kann.
4. Soziale Felder Theatralisierung des Sports (Jürgen Schwier/Thorsten Schauerte) Die häufige Verwendung der Theater-Analogie im Feld des Sports kann grundsätzlich kaum überraschen, da sportliche Wettkämpfe unaufhörlich spektakuläre Aktionen, dramatische Wendungen, überraschende Ereignisse, persönliche Triumphe und tragische Niederlagen produzieren. Mitverantwortlich hierfür ist sicherlich der Umstand, dass für den Sport sowohl die Ästhetik des körperlichen Tuns, das leibhaftige Eingehen von Wagnissen und die Unmittelbarkeit der Situation als auch vielfältig miteinander verwobene Prozesse der Bedeutungsbildung und Repräsentation konstitutiv sind. In diesem Zusammenhang kommt den Massenmedien sicherlich eine zentrale Rolle in der Theatralisierung des Sports zu. Gerade das Leitmedium Fernsehen zielt darauf ab, den jeweiligen Wettkämpfen eine dramaturgische Gestalt zu geben, die Körper der Athleten in risikoreicher Aktion einzufangen und die Zuschauer zu emotionalisieren, während Vereine, Verbände und Vermarkter unentwegt nach noch attraktiveren Präsentationsformen, neuen Wettbewerben sowie noch nie gesehenen Bildern suchen, um das Interesse der Medien an einer Berichterstattung über die jeweilige Sportart zu wecken oder aufrechtzuerhalten. Die Unterhaltungsorientierung des Mediensports und sein Bestreben, ein möglichst großes Publikumsinteresse zu gewährleisten, stimulieren quasi einen Dramatisierungs-Boom, der im vorliegenden Beitrag mit Blickrichtung auf die Konstruktion der Sportereignisse, die Heldenfiguren im Sport, die Selbstdarstellungsstrategien von Sportzuschauern sowie die extra für das Fernsehen geschaffenen Sportspektakel rekonstruiert wird.
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„Lost in Focused Intensity“. Spectator Sports and Strategies of Re-Enchantment (Hans Ulrich Gumbrecht) In einer scheinbar umfassend säkularisierten Welt bieten Sportevents eine Möglichkeit zur Resakralisierung und Wiederverzauberung („re-enchantment“) der Wirklichkeit. Bei näherer Betrachtung lassen sich mehrere Hauptaspekte einer sakralen Natur von Publikumssportarten („spectator sports“) identifizieren. Durch die Wahrnehmung als ‚Wunder‘ werden sportliche Leistungen in Kategorien des Religiösen eingeordnet. Zugleich greifen im Fall sportlicher Veranstaltungen vor Publikum auch Mechanismen der Alltagstranszendierung, die im Ergebnis zu einer quasi-religiösen Vergemeinschaftung führen können. Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang auch die Raumdimensionen in Form des Stadions, das erst durch den sportlichen Wettkampf zu einem ‚heiligen Ort‘ und einem spezifischen Setting für jene rituellen Wiederholungen transformiert wird, ohne die es funktionslos wäre. Insgesamt manifestiert sich im Sport ein Bedürfnis, das keineswegs ausschließlich säkular ist, sondern eben auch als Ausdruck der Kompensation einer ‚entzauberten‘ Alltagswirklichkeit verstanden werden kann.
Alazon und Eiron: Formen der Selbstdarstellung in der Wissenschaft (Dietrich Schwanitz) Im Anschluss an Arbeiten von Goffman, Bourdieu und Luhmann beschäftigt sich Dietrich Schwanitz mit reputationsbegründenden Strategien der Selbstdarstellung und dem ‚impression management‘ im Wissenschaftsbetrieb. Sein Interesse gilt Formen der unmittelbaren Interaktion in der Lehre, dem wissenschaftlichen Kongress, dem Probevortrag bei Berufungen und den Gremien der akademischen Selbstverwaltung. Schwanitz beschreibt und analysiert Inszenierungs- und Dramatisierungsmöglichkeiten innerhalb der Scientific Community, wie z.B. die Beteiligung an Kontroversen bei Paradigmenwechseln, die Erweiterung der Publikumsensembles über das Wissenschaftssystem hinaus, die Schulenbildung durch die Erfindung ‚opaker‘ Sprachen, die die Differenz zwischen Insidern und Outsidern akzentuieren, und die Selbstverortung im wissenschaftlichen Terrain durch Stilsignale.
Die Selbstbeschreibung von Hochschulen. Strategien für den Wettbewerbsvorsprung, die gesellschaftliche Legitimation und Beschäftigungsfähigkeit im Kontext globaler Herausforderungen (Justine Suchanek) Es gibt kaum einen gesellschaftlichen Bereich, der nicht von den tief greifenden Prozessen der Europäisierung und Globalisierung betroffen ist. Auch das Hochschulsystem steht zunehmend globalen Herausforderungen gegenüber. Hochschulen treten mehr und mehr in einen (internationalen) Wettbewerb um Ressourcen, Wissenschaftler und Studierende. Nicht nur die Forschung, die sich am durch die Globalisierung der Märkte veränderten Wissensbedarf der Wirtschaft ausrichten soll, steht unter einem Internationalisierungsdruck. Da sich Akademiker verstärkt auf internationalen Arbeitsmärkten behaupten müssen, werden Paradigmen
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des interkulturellen Lehrens und Lernens für die Wahl der Hochschule wichtiger. Zeitgleich werden europäische Rahmenbedingungen für die zu erwerbenden Qualifikationen und Kompetenzen vorgegeben, die es auf nationaler Ebene umzusetzen gilt. Immer noch überwiegend vom Steuerzahler finanziert, werden in der Öffentlichkeit insofern nicht nur Fragen nach der Effizienz und dem Verbleib der investierten Mittel laut, sondern auch nach dem Nutzen der Hochschule für die Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund fragt der Beitrag danach, mit welchen Strategien Hochschulen auf die globalen Herausforderungen reagieren. Untersucht werden hochschulische Selbstbeschreibungen, die in Hochschulleitbildern auf den Homepages der jeweiligen Hochschulen festgehalten werden. Hier können Signale an die Umwelt gesendet werden, die auf die eigenen Leistungen verweisen. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass Hochschulen auf die Globalisierungsanforderungen mit konvergenten Mechanismen reagieren, wobei sie ihre Leistungen für die Gesellschaft überstilisieren, um in einem günstigeren Licht zu erscheinen.
Die Inszenierung wissenschaftlicher Exzellenz. Wie der politisch gesteuerte Wettbewerb um Forschungsressourcen die Wissenschaft den Darstellungszwängen der öffentlichen Kommunikation unterwirft (Richard Münch) Darstellungs- und Kommunikationszwänge haben in Deutschland spätestens mit der Exzellenzinitiative zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an den deutschen Hochschulen auch die Wissenschaft erfasst. Dabei zeigt sich in besonderem Maße, dass wissenschaftliche Exzellenz sozial konstruiert wird. Was als exzellent gilt, entscheidet sich in Verfahren der Exzellenzzuschreibung. Je mehr diese Verfahren in den Vordergrund der wissenschaftlichen Arbeit treten, umso größere Bedeutung erlangen Techniken der Inszenierung von Exzellenz. Es verselbständigt sich dadurch die Konstruktion eines Rationalitätsmythos der leistungsgerechten Verteilung von Forschungsressourcen, der weit von der Realität abweichen kann. Diese Kluft zwischen Mythos und Realität kann nur dadurch einigermaßen in Grenzen gehalten werden, dass der wissenschaftliche Wettbewerb offen gehalten und Tendenzen der Konzentration von Exzellenzzuschreibung auf wenige herausgehobene Institutionen unterbunden werden.
Theatralisierung des Theaters (Rüdiger Lautmann) Theatralisierung wird an ihrer Urszene untersucht – als die Selbstthematisierung einer kulturellen Institution. Unterschieden werden Theater und Theatralisierung. Mit den Kategorien des interdisziplinär tauglichen Theoriemodells der Theatralität (Performance, Inszenierung, Körperlichkeit und Wahrnehmung) wird das aktuelle Geschehen im Kunsttheater kultursoziologisch-faktenorientiert untersucht. Als empirische Grundlage dienen eine ‚beobachtende Teilnahme‘ (aus Zuschauerposition) und die Presseberichterstattung. Das Kürzel „Regietheater“ vernebelt den Inhalt und die Ursachen des theaterästhetischen Wandels. Die Theatralisierung verändert unter anderem die Treue zum Stücktext, die Her-
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stellung einer Illusion und die Maskierung der Spieler. Sie entfesselt die Individualität der Darsteller und enthält eine Absage an das herkömmlich Schöne. Die Wahrnehmungsweise des Publikums ändert sich durch Öffnung der „vierten Wand“; das Publikum wird zu einem Mittel der Selbstthematisierung des Theaters. Zu erklären ist der selbstreflexive Stil nicht aus einer Politisierung oder Absage an das ‚bürgerliche‘ Theater. Auch der Generationenwechsel wirkt sich nur teilweise aus. Die Theatralisierung zieht nicht den Verlust des Publikums nach sich. Verantwortlich für den Stiltrend sind basale Prozesse der Moderne: funktionale Differenzierung und Steigerung der Arbeitsteilung. Das Theater hat durch seine Theatralisierung seine künstlerische Vitalität bewiesen und sein Profil gegenüber den konkurrierenden Medien Film und Fernsehen gestärkt.
Enttheatralisierung des Theaters als Theatralisierung des öffentlichen Lebens (Erika Fischer-Lichte) In dem Beitrag wird von der These ausgegangen, dass die Enttheatralisierung, die das Theater in den letzten dreißig Jahren immer wieder vollzogen hat, als Antwort auf einen spezifischen Modus der Theatralisierung des öffentlichen Lebens zu verstehen ist, der sich als eine Art Entwirklichung weiter Lebensbereiche realisiert. Diese These wird unter Rekurs auf unterschiedliche Beispiele plausibilisiert: auf Klaus Michael Grübers Inszenierung Rudi (1979) im ehemaligen Grandhotel Esplanade, an den Audiotouren der Gruppe „Hygiene heute“ (2000-2002) und an den Produktionen der Gruppe Rimini Protokoll Sabenation (2004) und Wallenstein. Eine dokumentarische Inszenierung (2005). Der jeweilige Vorgang einer Enttheatralisierung wird mit bestimmten zeittypischen Phänomenen in Verbindung gebracht. So wird gezeigt, dass Rudi auf einen spezifischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit und Gegenwart reagierte, wie sie Ende der siebziger Jahre vorherrschte. Die Audiotouren von Hygiene heute werden in den Kontext der durch die neuen Medien entstandenen Ununterscheidbarkeit von Facta und Ficta gestellt. Und an Rimini Protokoll wird herausgearbeitet, wie sie die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf das Leben und die Schicksale einzelner zeitgenössischer Menschen lenken, die durch spezifische Fernsehformate wie daily soaps, reality-TV, „Deutschland sucht den Superstar“ u. ä., trotz gegenteiliger Behauptungen der Fernsehmacher, mehr und mehr aus unserem Blickfeld verschwinden. Wenn wie hier die Welt und das menschliche Leben vollkommen theatralisiert werden, bleibt dem Theater nichts anders übrig, als sich zu enttheatralisieren.
Spielen und Heilen – Zur Theatralisierung des Therapeutischen (Matthias Warstat) Der Beitrag untersucht theatrale Strukturen auf dem Feld des Therapeutischen. Jede Therapeut-Patienten-Beziehung impliziert komplexe Darstellungsleistungen, die performativen Charakter haben und nicht selten auch mimetische oder fiktive Züge annehmen. Manche Formen von professioneller Psychotherapie machen sich darüber hinaus spezifische Techniken des Theaters zueigen. Von ‚Theatertherapie‘ im engeren Sinne sollte dann die Rede sein, wenn Theatralität nicht nur ein Teilaspekt der jeweiligen Heilmethode ist, sondern die
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angestrebten Heilwirkungen in erster Linie aus theatralen Prozessen erwachsen. In diesem Sinne, als eigenständige Disziplin und Profession, ist Theatertherapie in den 1930er Jahren entstanden und hat in den 1960er und -70er Jahren einen bedeutenden Aufschwung erlebt, der in dem Aufsatz knapp nachgezeichnet wird. Obwohl sich Theatertherapie und Kunsttheater im Zuge dieses Aufschwungs im 20. Jahrhundert aufeinander zu entwickeln, weisen sie einen markanten Unterschied auf: Die ‚Aufführung‘ als zentrales Paradigma des Kunsttheaters wird im therapeutischen Raum häufig gerade nicht angestrebt. Aufführungen bergen für Akteure und Zuschauer bestimmte Risiken, die im Rahmen professioneller Therapien vermieden werden müssen. Theatralisierung meint auf dem Feld des Therapeutischen insofern zumeist nicht das Sich-Exponieren für Dritte in einer Aufführung. Vielmehr gleicht die theatertherapeutische Arbeit einem Probenprozess, in dem sich für den Patienten im Zusammenspiel von Verkörperung und Projektion, Einfühlung und Distanzierung neue Perspektiven auf die eigene Lage ergeben.
Artifizielle Natürlichkeit (Matthias Hoffmann) Für die hospizielle Sterbebegleitung wird gefordert, dass der Umgang mit den Patienten durch Natürlichkeit geprägt ist. Ähnlich dem alltäglichen Umgang von Menschen und dem Umgang von Familienmitgliedern miteinander soll Nähe und Offenheit in der Interaktion zwischen der Hospizkraft und dem Sterbenden herrschen. In dem Aufsatz wird die These vertreten, dass es sich bei dieser Natürlichkeit notwendig immer um eine von besonderen Bedingungen abhängende Natürlichkeit handelt. Im Sinne der Unterscheidung von Front- und Backstage (Goffman) geht es dabei um einen offenen Raum auf einer Vorderbühne (Frontstage), dessen kunstfertige Herstellung sich auf einer „Hinterbühne“ (backstage) verbirgt, die vom Patienten nicht einsehbar ist. Dieser Hinterbühne, so die These weiter, kommt für die Hospizarbeit eine weit entscheidendere Bedeutung zu, als allgemein angenommen wird. Die Tätigkeit des Hospizbeistandes als solche ist die Interaktion mit dem Patienten, aber diese ist erfolgreich nur möglich, wenn auf der Hinterbühne kontinuierlich eine ganze Reihe von Voraussetzungen geschaffen wird. Weiterhin wird die Selbstbeschreibung/Selbstdarstellung der Hospiztätigkeit, wie sie sich in Lehrbüchern findet, kritisch mit Situationen verglichen, die in aktuellen Ethnographien zu stationären Hospizen beschrieben werden.
Zur Inszenierung spektakulärer Ungleichheiten. Vom bürgerlichen Beruf zur Ökonomie der Talente (Cornelia Koppetsch) Die Deregulierung von Arbeitsmärkten und Wohlfahrtsinstitutionen hat zur Verschärfung ökonomischer Verteilungskonflikte und sozialer Ungleichheiten beigetragen. Auch innerhalb von akademischen Berufsfeldern, die zunehmend einem Wettbewerbs- und Rentabilitätsdruck ausgesetzt werden, kommt es immer häufiger zu Scherenentwicklungen zwischen einer kleinen Elite und dem Gros weniger privilegierter Beschäftigtengruppen. Davon ausgehend beschäftigt sich der Beitrag mit den kulturellen Sinn- und Rechtfertigungsgrundla-
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gen, durch die zunehmende Ungleichheiten legitimiert und in den Mikrostrukturen moderner Arbeitswelten verankert werden. Als prototypisch für die „Ökonomie der Talente“ werden die Berufsgruppen der Kultur- und Medienberufe herangezogen, die sich in Abgrenzung zum Berufsmodell der Angestellten am Identitätsmodell der „Kreativen“ orientieren. Gezeigt wird, wie es diesen Beschäftigtengruppen gelingt, gesellschaftliche Sinnstiftung und ökonomische Verwertungslogik in der Institution der Ideenwettbewerbe zu versöhnen und damit zur charismatischen Aufwertung des Wettbewerbsprinzips beizutragen.
„Retail Theater“. Zur Inszenierung des Shoppings (Kai-Uwe Hellmann) Die Theatralisierung des Alltags äußert sich in vielen Gestalten. Besonders häufig begegnen wir ihr beim Einkaufen, wo die attraktive Inszenierung opulenter Warenwelten inzwischen zur Regel geworden ist. Denn auch das Shopping lebt nicht mehr nur vom Grundnutzen des Versorgens allein. Das bieten alle im Übermaß. Knappheit des Angebots ist wahrlich kein Thema mehr. Vielmehr geht es um die Knappheit der Nachfrage, um den Kampf um die Kunden, und dafür braucht es den Zusatznutzen des Erlebens, die Verführung der Kunden durch das Versprechen der Erregung, dargeboten im Sinne einer Theatervorstellung. Der Kunde kommt, um sich künstlich inspirieren zu lassen, um etwas Aufregendes zu erleben. Es folgt eine Reise in die Welt des Möglichen, der Phantasie. Dies ist Logik und Funktion dessen, was der Handel als „Retail Theater“ bezeichnet.
Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept? Anforderungsprofile von Arbeitgebern im Rekrutierungsprozess (Justine Suchanek/Barbara Hölscher) Auf der Bühne des Arbeitsmarkts werden zweckrationale Tauschbeziehungen zwischen den Akteuren ausgehandelt, wobei alle drei von Bourdieu beschriebenen Kapitalarten einbezogen werden: ökonomisches, kulturelles, aber auch soziales Kapital. Besonders offensichtlich ist, dass kulturelles Kapital von Bewerbern gegen ökonomisches Kapital der Arbeitgeber eingetauscht wird, dass also Bewerber ihr über Zertifikate nachweisbares kulturelles Kapital (Bildungstitel) in ökonomisches Kapital (Entlohnung) transformieren können. Arbeitgeber versuchen dabei besonders professionelle und besonders kompetente Mitarbeiter am Arbeitsmarkt zu rekrutieren. Was aber als Professionalität gilt, ist weniger über Zertifikate, sondern eher inszenierungstheoretisch zu bestimmen: Es ist die Kompetenz der überzeugenden Selbstdarstellung, also eine auf ein Stellenprofil zugespitzte Kompetenzdarstellung. Mit welchen inhaltlichen Forderungen Arbeitgeber die Worthülse ‚Kompetenzen‘ füllen und inwiefern im Rekrutierungsprozess und in den Stellenausschreibungen das soziale Kapital von Arbeitgeberseite eingefordert werden könnte, ist zunächst weniger offensichtlich. Zu diesen Fragen will der Beitrag an Hand einer explorativen Studie Einsichten liefern. Im Horizont von Stelleninseraten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), welche sich im Kern an Suchende für Positionen in Wirtschaftsunternehmen richten, werden folgende Leitfragen verfolgt: (a) Welche Anforderungen an Professionalität stellen Organisationen der Wirtschaft in Stellenausschreibungen? (b) Welche Rolle nimmt hierbei das soziale Kapital
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ein? Im Kern wird gezeigt, dass in Stelleninseraten vor allem Professionalitätsprofile von Bewerbern gefordert werden, die auf besondere „cultural attitudes“ (Bell), eine gute Ausbildung, hohes technisches Vermögen, Forschungsbefähigung und gewisse Medienkompetenzen sowie die Ambition zum lebenslangen Lernen abstellen. Dies soll von besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen auf dem Gebiet des sozialen Kapitals, also von Fähigkeiten des Bewerbers zur „sozialen Netzwerkarbeit“, aber auch zum „Selbstmanagement“ flankiert werden.
Terrorismus als Performanz (Bernhard Giesen) Im Zeitalter asymmetrischer Konflikte hat sich die Natur militärischer Auseinandersetzungen verändert. Dies zeigt sich besonders deutlich in den kulturellen und symbolischen Dimensionen des heutigen Terrorismus, der dem Terrorismus vergangener Jahrzehnte ähnlich ist, aber sich auch in vielerlei Hinsicht von diesem unterscheidet. Der Terrorakt ist mehr denn je zu einer öffentlichen, theatralischen Darbietung geworden, der eine publikumswirksame Bedeutung zukommt. Gleichzeitig verlieren hierarchische Strukturen innerhalb terroristischer Organisationen an Bedeutung, was deren effektive Bekämpfung erschwert. Nach Überlegungen zur sozialen Verortung der Terroristen wird ihre spezielle weltanschauliche Situation näher betrachtet, die eine klare Zweiteilung der Welt in ‚Gut‘ und ‚Böse‘ beinhaltet und als Legitimationsgrundlage für den bewaffneten Kampf gegen eine vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung fungiert. Hierbei wird zugleich auch der Blick auf jene Mythen, Skripte und Narrative gelenkt, derer sich die Terroristen bedienen.
Literatur Bourdieu, Pierre (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Theatralität als (figurations-)soziologisches Konzept: Von Fischer-Lichte über Goffman zu Elias und Bourdieu Herbert Willems
Zentraler Ausgangs- und Zielpunkt des folgenden Beitrags ist der für dieses Sammelwerk grundlegende Begriff der Theatralität. Dieser Begriff ist als soziologischer Begriff trotz der langen soziologischen Tradition der Theatermetapher, des Theatermodells und der Rollentheorie und trotz der einschlägigen Pionierleistung Erving Goffmans, des großen ‚Theatersoziologen‘, einerseits immer noch nicht hinreichend geklärt und andererseits ebenso empirisch-analytisch wie theoretisch notwendig und vielversprechend. Die empirisch-analytische Bedeutsamkeit des Theatralitätsbegriffs ergibt sich aus dem sozio-kulturellen Wandel, den ich mit dem Begriff der (Ent-)Theatralisierung bezeichnet habe. In theoretischer Hinsicht erscheint der Theatralitätsbegriff nicht nur als klärungsbedürftig, sondern auch als besonders integrations- und entwicklungsfähig. Zu denken ist hier zunächst an eine ganze Reihe von eher mikrosoziologischen Ansätzen und Konzepten wie Position/Rolle, Habitus, Rahmen, kommunikative Gattung, Skript, Ritual, Image, Kapital, strategisches Handeln und kulturelles Forum. Meines Erachtens können diese und andere Konzepte im Rahmen der Figurations- bzw. Feldsoziologie (Elias, Bourdieu) ein konsistentes analytisches Instrumentarium bilden, das den Realitäten der Theatralität und der (Ent-)Theatralisierung gerecht zu werden verspricht (s.u.). Gleichzeitig zeichnet sich damit eine allgemein-theoretische Weiterentwicklung der Figurationssoziologie ab. Im Folgenden soll ein erster Schritt in diese Richtung unternommen werden, nämlich der Versuch, Aspekte eines soziologisch tragfähigen Theatralitätsbegriffs zu entfalten und zu präzisieren.
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1. Theatralität als Realität und Theater als Metapher und Modell Die Sprache des Theaters und die Ideen der Vergleichbarkeit und Ähnlichkeit von Theater und (sozialer) ‚Welt‘ sind bekanntlich tief in das Soziale und schließlich auch in die Soziologie eingedrungen (vgl. Rapp 1973; Soeffner 2004). Die Theatermetaphorik und das Theatermodell gehören zweifellos zu den traditionsreichsten und erfolgreichsten Perspektiven und Deutungsmitteln der Soziologie. Einen Höhepunkt erreichte der Erfolg dieser ‚Semantik‘ mit der bis heute lebendigen Rollentheorie in den 50er, 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. In diese Zeit und diesen theoretischen Diskurskontext fällt auch Erving Goffmans ebenso vorgebahntes wie bahnbrechendes Erstlingswerk „The Presentation of Self in Everyday Life“, das bereits seit Ende der 40er Jahre entstand, 1959 veröffentlicht wurde und 1969 unter dem (nicht ganz glücklichen) Titel „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“ in deutscher Übersetzung erschien. Mit diesem Buch hat Goffman die Theatermetaphorik und das Theatermodell in einem radikalen und systematischen Sinne ‚ausbuchstabiert‘ und damit nicht nur so etwas wie das programmatische Fundament seines späteren Werks gelegt, sondern auch eine bis heute nicht überbotene Basis für die soziologische Erforschung entsprechender Realitäten1 wie auch für die Ausarbeitung eines soziologischen Theatralitätsbegriffs und einer soziologischen Theatralitätstheorie geschaffen.2 Im Folgenden werde ich daher von dieser Basis ausgehen und auf Kernstücke des Goffmanschen Konzeptrepertoires zurückgreifen. Goffmans zentrale Ausgangspunkte sind anthropologischer, konstitutionslogischer und ontologischer Natur. Im Anschluss an Goffman von Theatralität zu sprechen heißt zunächst, eine anthropologische Konstante anzunehmen. Ähnlich wie für Hellmuth Plessner unterliegt der Mensch für Goffman einem grundlegenden Zwang zur Darstellung und zur Selbstdarstellung (Goffman 1969), der mit einem entsprechenden Potential und einem Bedürfnis gepaart ist; der Mensch ist seinem (Kultur-)Wesen nach immer auch ein (Selbst-)Darstellungs-, Inszenierungs- und Performanzsubjekt. Mit der conditio humana ist m.a.W. zugleich die Möglichkeit und Notwendigkeit von Theatralität gesetzt. Fischer-Lichte formuliert den ‚interaktionistischen‘ Kern der anthropologischen Konstruktion, um die es hier geht, so: „Der Mensch tritt sich selbst – oder einem anderen – gegenüber, um ein Bild von sich als einem anderen zu entwerfen und zur Erscheinung zu bringen, das er mit den Augen eines anderen wahrnimmt bzw. in den Augen eines anderen reflektiert sieht“ (Fischer-Lichte 2000: 21). Der reale Hintergrund der sozialen und soziologischen Metaphorik des Theaters liegt für Goffman aber nicht nur auf der anthropologischen Ebene, sondern auch und zugleich auf der
1 In der Soziologie herrscht allerdings bis heute bei allem Erfolg der hier thematischen Begriffsmittel kein Konsens über deren logischen bzw. ontologischen Status. Handelt es sich bei diesen Konzepten, z.B. dem der Rolle, um wissenschaftlich konstruierte Schemata zur Klassifizierung von Objekten, die ‚an sich‘ nicht diese Struktur aufweisen (also um Gesichtspunkte bestimmter Beobachter), oder sind die besagten Termini Abbilder sozialer Realität? 2 Knoblauch (in diesem Band) weist zu Recht darauf hin, dass Goffmans Konzepte in diesem Zusammenhang nur sehr vereinzelt und bruchstückhaft rezipiert und verarbeitet worden sind. Das gilt nicht nur für die Sozial- und Kulturwissenschaften im allgemeinen, sondern auch für die Soziologie.
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Ebene des Sozialsystems, letztlich auf der Ebene der Gesellschaft.3 Das Soziale, insbesondere die unmittelbare Interaktion, funktioniert Goffman zufolge in Analogie zum Theater, es erscheint sehr weitgehend als theaterähnlich und sogar als ‚theaterhaft‘. Goffman hegt in diesem Sinne, wie Dahrendorf formuliert, einen „totalen Rollenverdacht“ (1969). Theatralität ist für ihn durchaus Realität. Diese (‚realistische‘) Sicht der Dinge verleitet Goffman aber nicht dazu, die Theatermetaphorik oder das Theatermodell als den ‚Königsweg‘ der Sozialforschung zu propagieren. Vielmehr erkennt er in diesen Deutungsmitteln nur ein begrenzt weit reichendes Hilfsmittel, ein „Gerüst“ (1969: 232), um jener Realität (der Theatralität) analytisch habhaft zu werden. Dieses ‚Gerüst‘, mit dem er sich ausdrücklich auf der Ebene der Mikrosoziologie bewegt4, dient Goffman vor allem als Ansatz einer formalen Soziologie, die analytische Informationen hauptsächlich aus dem Vergleich zieht. Die Vergleichbarkeit von Welt/Leben/Lebenswelt einerseits und Theater andererseits ist für Goffman also von grundlegender methodologischer und forschungsstrategischer Bedeutung (vgl. Rapp 1973: 30; Willems 1996). In der programmatischen Absicht, die „Interaktionsordnung“ aufzuklären, greift Goffman die Metaphorik des Theaters also nicht einfach im Sinne einer Generalisierung ‚dramatologischer‘ Kategorien nach dem Motto „Wir alle spielen Theater“ auf. Vielmehr operiert er mit einer „Strategie der Analogien“ (Lenz 1991: 57), die (wie schon bei Georg Simmel) wesentlich darauf zielt, „durch die Anwendung ‚fremder‘ Modelle auf das Selbstverständliche und Alltägliche, sichtbar zu machen, was unter dieser wohlvertrauten Oberfläche vor sich geht, und aufzuzeigen, wie sich unser Eindruck des Selbstverständlichen und Alltäglichen immer wieder herstellt“ (Lenz 1991: 57). Modelle wie das des Theaters, aber auch z.B. das des Spiels oder der Zeremonie, ‚verfremden‘ also in analytisch instruktiver Weise, und sie begünstigen, weil sie – gerade auch im Bezug auf die Realitäten der Theatralität – ‚realistisch‘ sind, die Erzeugung analytischer Informationen mit hohem empirischem Gehalt. Darüber hinaus bilden sie eine Art Ordnungsfaktor, einen Bezugsrahmen, der die Verarbeitung und Einordnung der gewonnenen analytischen Informationen gestattet. Goffman hütet sich also im Ansatz und in der Anwendung des Theatermodells vor kruden Analogien. Für ihn ist dieses Modell wie jedes Modell vor allem ein vielseitig nützliches Hilfsmittel, analytischen Zugang zur Realität zu finden, insbesondere zur Realität der Theatralität, die er aber durch das Theatermodell eben nur begrenzt, und zwar spezifisch begrenzt, erfasst sieht. Aus der Einsicht, dass das Theater nur ein Modell mit eigenem Licht und eigenem Schatten ist, zieht Goffman die forschungsstrategische Konsequenz, mit einer Mehrzahl von Modellen zu arbeiten. Neben und nach dem Theatermodell greift er auf die Modelle des Spiels (vgl. 1973b), der Zeremonie (vgl.1971a, 1974b), des Territoriums (vgl. 1974b), des Reparaturzyklus (1973a) u.a.m. zurück. Weil für ihn ein soziologischer ‚Spiegel‘ nicht ausreicht, um der Heterogenität und Vielschichtigkeit seines Gegenstandsbereichs gerecht zu werden, benutzt er eine Vielfalt sich perspektivisch ergänzender „Spiegel, die 3 In diesem Sinne meint Uri Rapp, dessen Buch über die „Theatersoziologie“ zu Unrecht fast in Vergessenheit geraten ist: „Es muß etwas in der Konstitution der Gesellschaft selbst stecken, das diesen Vergleich immer wieder hervorruft“ (1973: 29). 4 Auf dieser Ebene allerdings sieht Goffman eine überlegene Passung des Theatermodells. In der Kontinuität von Georg Simmel, Hellmuth Plessner, Kenneth Burke und George H. Mead geht er davon aus, dass das Theater „in sich selbst ein Abbild und Symbol menschlicher Interaktion ist“ (Rapp 1973: 30f.).
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es ihm ermöglichen, ein kaleidoskopartiges Bild der sozialen Welt zu erzeugen, um Ecken zu blicken oder doppelte Böden zu erkennen“ (Bergmann 1991: 324). Goffmans Ansatz ist insofern kein ‚dramaturgischer Ansatz‘, sondern ein ‚modell-pluralistischer‘ (weil ‚modellrelativistischer‘) Ansatz.5
2. Ebenen und Komponenten von Theatralität Das Konzept der Theatralität in der hier zunächst zugrunde gelegten Fassung von FischerLichte (dazu meine obige Einführung) eignet sich in erster Linie für die Untersuchung sozialer Praxiskontexte, die der Praxisform des Theaters gleich oder ähnlich sind. Es geht damit, im Kern mit dem Verhältnis von (inszenierter) Performance (inklusive Korporalität) und Wahrnehmung, insbesondere um die von Goffman fokussierte soziale Systemebene der unmittelbaren Interaktion bzw. der „Interaktionsordnung“ (Goffman 1981c). Auf dieser Ebene, aber auch und gerade jenseits sozialer Situationen, sind Differenzierungen und Ergänzungen des Fischer-Lichteschen Theatralitätsbegriffs soziologisch nützlich und erforderlich.
2.1 Ausdruck, Darstellung, Inszenierung, Performanz/Performance und (Re-)Präsentation Eine erste und grundlegende Präzisierung und Umstellung des Theatralitätsbegriffs ergibt sich, vor allem Fischer-Lichtes und Goffmans Überlegungen zusammenführend, aus der Unterscheidung von Ausdruck (a), Darstellung (b), Inszenierung (c), Performanz/Performance (d) und (Re-)Präsentation (e). a) Als Ausdruck können mit Goffman alle die in irgendeiner Weise materiellen, speziell körperlichen, „Spuren und Hinweise“ (Goffman 1981b: 14) bezeichnet werden, die ein Lebewesen bzw. ein Mensch sozusagen als „bloße Nebenwirkung“ (Goffman 1981b: 14) seines Verhaltens und Erscheinens zeigt oder hinterlässt. Elemente des Ausdrucks sind m.a.W. wesentlich dadurch definiert, dass sie unwillkürlich6 sind bzw. zustande gekommen sind. Als bedeutungsvolle „natürliche Rahmen“ (Goffman 1977b) stellen Ausdruckselemente, wie z.B. expressive Kontrollverluste7, aber auch soziale Informationen dar, die zu Objekten der Selbst- und Fremdkontrolle werden können. Man kann versuchen, sie zu verheimlichen, vorzutäuschen, zu kaschieren u.s.w., und erreicht dann schon die Ebene der
5 Dem entspricht bei Goffman ein terminologischer Pluralismus. 6 Goffman widmet dem Thema der Unwillkürlichkeit, einer lebensweltlichen Relevanzstruktur und ‚Weltanschauung‘ folgend, große Aufmerksamkeit. Er behandelt es als reale Inszenierungsgrenze und im Zusammenhang damit als lebensweltliche Basis der Authentisierung. 7 Klassisch das Weinen.
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Darstellung oder sogar die der Inszenierung und der Performance im Sinne eines absichtsvollen ‚Agierens‘ vor einem Publikum. Mit dem Begriff des Ausdrucks (Ausdruckselements) sind aber zunächst und gerade auch das Jenseits und die Grenzen inszenatorischer und performativer (Selbst-)Kontrolle gefasst, also jene Sichtbarkeiten und Wahrnehmbarkeiten, die ‚sozial informieren‘ und sich nicht oder nur begrenzt beherrschen bzw. manipulieren lassen. b) Zwischen der im hiesigen Kontext basalen Ebene des Ausdrucks im Sinne Goffmans und der sozusagen ultimativ theatralen Ebene der Performance (Aufführung/Vorführung; vgl. Knoblauch in diesem Band) im Sinne Fischer-Lichtes ist eine eigene Zeichen- und Handlungsebene anzusiedeln, für die der Begriff der Darstellung passend erscheint. Unter Darstellungen – im Unterschied zu bloßen „Ausdruckselementen“ – sind all jene strukturierten und prozessierten Zeichengebilde bzw. symbolischen Formen zu verstehen, die im (alltags-)praktisch-habituellen Lebensvollzug soziale Kundgabefunktionen erfüllen. Beispiele dafür sind die gewohnheitsmäßig reproduzierte „persönliche Fassade“ (Goffman 1969) oder Ritualisierungen des Verhaltens und der Interaktion, etwa zwischen den Geschlechtern. Im Anschluss an ethologische Vorstellungen liefert Goffman eine Definition der hier gemeinten Kundgabeformen: Angenommen, die Gesamtheit von Verhalten und Erscheinungen eines Individuums informiere diejenigen, die es beobachten, ein wenig über seine soziale Identität, über seine Stimmung, seine Absicht und seine Erwartungen, über den Stand seiner Beziehungen zu ihnen. In jeder Kultur wird ein bestimmtes Spektrum dieses Zeige-Verhaltens und Aussehens spezialisiert, damit es regelmäßiger und vielleicht effektiver diese informierende Funktion erfüllen kann, wobei das Informieren schließlich, wenn auch nicht immer eingestandenermaßen, die Kontrollaufgabe bei der Ausführung übernimmt. Diese indikativen Ereignisse kann man Darstellungen („displays“ im Original, H.W.) nennen. Wie wir sagten, legen sie provisorisch die Bedingungen des Kontakts, den Modus, den Stil oder die Formel fest für den Verkehr, der sich zwischen den Personen entwickeln soll, vorausgesetzt, daß die Darstellung erfolgt ist und die Personen sie wahrgenommen haben (Goffman 1981a: 9f.).
So verstanden (als aktiv bzw. interaktiv (re-)produzierte Zeichengebilde mit standardisierter Kundgabefunktion) sind Darstellungen zunächst und primär mit Habitus bzw. fungierenden Habitus als korporalen Erscheinungsformen und Verhaltensgeneratoren in Verbindung zu bringen.8 Darstellungen können demnach einerseits gänzlich spontan, unbewusst, ‚natürlich‘ erhandelt und erlebt werden. Und tatsächlich ist dieser Funktionsmodus normalerweise der Fall, was wesentlich die (praktische wie theoretische) Rede von Alltag, Lebenswelt, Normalität u.s.w. begründet. Andererseits werden Darstellungen gerade unter modernen (Medien-)Bedingungen immer wieder und zunehmend zum Gegenstand der Reflexion und der reflexiven und reflektierten Darstellung. Auf dieser Ebene – und nur auf dieser Ebene – sind die Begriffe Inszenierung und Performance (Aufführung/Vorführung) angebracht. Sie verweisen – und markieren damit einen Unterschied zur primären Darstellung
8 Dies gilt speziell für die Ritualisierungen, die im Mittelpunkt des Goffmanschen Werks stehen.
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– auf ein Heraustreten aus dem routinierten und spontanen Lebensvollzug. Dies kann in außeralltäglichen Kontexten wie dem Theater oder der Therapie9 der Fall sein oder auch im Alltagsleben, z.B. dann, wenn es darum geht, anderen etwas vorzuspielen oder ‚vorzumachen‘. In solchen Situationen ist heute, und zwar offensichtlich zunehmend, auch praktisch die Rede von Performance. Deren Varianten können wie die der Darstellung und der Präsentation (s.u.) unter dem Begriff der Performanz zusammengefasst werden, der seinerseits wiederum von der Unterscheidung von Darstellung, Performance und Präsentation einerseits und Inszenierung andererseits Genauigkeit profitiert. c) Inszenierungen sind heute weniger denn je auf ihren klassischen Ort, das Theater, begrenzt, sondern sind eine Art von Praxis, die in zunehmender Zahl und Vielfalt auf allen sozialen Feldern vorkommt, weshalb ich an anderer Stelle von „Inszenierungsgesellschaft“ gesprochen habe (Willems 1998). Man kann die verschiedenen Inszenierungsvarianten jenseits des Theaters aber im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners grundsätzlich analog zum Modell des auf einer Theaterbühne eine fiktionale Realität ‚In-Szene-Setzens‘ definieren: Inszenierungen liegen demnach dann vor, wenn „Handlungen oder Zusammenhänge absichtsvoll und mit einer bestimmten Wirkungsabsicht zur Erscheinung gebracht werden“ sollen (Ontrup/Schicha 1999: 7), wenn man sich um ein „kalkuliertes Auswählen, Organisieren und Strukturieren von Darstellungsmitteln (bemüht, H.W.), das in besonderer Weise strategisch auf Publikumswirkung berechnet ist“ (ebd.). Der so verstandene Inszenierungsbegriff trifft sehr unterschiedliche Typen von sozialer Praxis, sozialen Sinnkontexten und Handlungsprozessen, die letztendlich auf die Herstellung (mindestens) einer Performance zielen. Eine Performance bildet sozusagen das autonome Endstück und Endergebnis einer Inszenierung, die normalerweise Planungen, die Entwicklung von Skripts, (Selbst-)Besprechungen zwischen ‚Regisseur‘ und performativen Akteuren (Performern), Absprachen/Koordinationen und Proben impliziert. Die Schwindelmanöver des Hochstaplers oder des Spions, die politische Demonstration, der Werbespot, der ‚Probevortrag‘, der Heiratsantrag, die Kunstausstellung oder die ‚Love Parade‘ sind zumindest idealtypisch gesehen Beispiele für Performances, die aus Inszenierungen hervorgehen. Als Handlungs- bzw. Produktionszusammenhänge sind diese in bestimmte soziale Kontexte (Felder, Institutionen, Organisationen u.s.w.) ‚eingebettet‘, die sie bedingen und bestimmen. So inszenieren z.B. politische Parteien ihre Parteitage, Kirchen ihre Kirchentage, Museen ihre Ausstellungen u.s.w. jeweils unter bestimmten Funktions- und Zweck-Vorzeichen und unter den Vorzeichen eines bestimmten ‚Geistes‘, der sich letztlich in der Performance manifestiert, manifestieren muss und soll. In, mit und neben Inszenierungen und Performances spielen immer auch Darstellungen und Ausdruckselemente eine Rolle. Der Körper bzw. Korporalität steht hier als fungierender Habitus und (damit) auch als Grenze und Problem inszenatorischer und performativer (Selbst-)Kontrolle im Mittelpunkt. Unwillkürliche (spontane) Körperreaktionen
9 Vgl. den Beitrag von Warstat (Band 1).
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und mehr oder weniger unverfügbare Körperaspekte, wie z.B. das Aussehen oder das Alter des Körpers, limitieren die ‚Virtualität‘ und auch die Virtuosität einer Performance. Selbst um maximale Eindruckskontrolle bemühte ‚Performancekünstler‘ (re-)produzieren immer auch die ‚Basiskontinuität‘ ihres Körpers, spontane Ausdrucksweisen und ihnen selbst oft ganz unbewusste Darstellungen. d) In ihrer Definition von Theatralität (dazu meine obige Einführung) führt Fischer-Lichte den ‚Aspekt‘ der Performance neben dem der Inszenierung – und gleichberechtigt neben diesem – ein. Dies entspricht (wiederum) dem Modell und der Realität des Theaters, darüber hinaus aber auch Differenzen zwischen sozialen ‚System-‘ und Wirklichkeitsebenen sowie Raum-, Bühnen- und Rollen-Differenzen. Die Performance bildet sozusagen einen eigenen sozialen Systemtyp und eine eigene Art von Wirklichkeit, und sie hat eine eigene Art von Örtlichkeit: die Vorderbühne im Gegensatz zur Hinterbühne, auf der sich die inszenatorischen Aktivitäten der Planung, Vorbereitung und Herstellung der Performance entfalten. Diese Differenz der Räume und Bühnen reflektiert auch Goffmans Unterscheidung zwischen „Regiedominanz“ und „dramatischer Dominanz“ (vgl. 1969). Der Performer hat dramatische Dominanz; er beherrscht die Szene, nicht jedoch die Inszenierung, die der Regisseur dominiert und über die jedenfalls möglicherweise der Regisseur dominiert, nämlich den Performer und die Performance. Die Unterscheidung zwischen Regiedominanz und dramatischer/performativer Dominanz und die grundlegendere Unterscheidung zwischen Inszenierung und Performance sind nicht nur von prinzipieller Bedeutung, sondern treffen auch empirische Entwicklungen auf möglicherweise allen sozialen Feldern. Die ‚Aspekte‘ der Inszenierung und der Performance haben sich jedenfalls in vielen Handlungsbereichen offensichtlich verselbständigt und – auch im Weltbewusstsein der Akteure – an Relevanz gewonnen. Gleichzeitig haben sich entsprechende Funktionen, Situationen10 und Rollen ausdifferenziert. e) In der Fassung von Fischer-Lichte wie auch in der von Goffmans „Rahmen-Analyse“ (1977b) meint der Begriff der Performance transitorische (s.u.) (Interaktions-)Prozesse, die an die situierten Körper von (Inter-)Akteuren gebunden sind. Von dieser Ebene von Performanz sind all jene inszenierten und situativ vorgeführten Zeichen und Zeichenkonfigurationen zu unterscheiden, die mehr oder weniger dauerhaft präsent, d.h. in gewisser Weise entzeitlicht, sind. Hier geht es um die bewusst, absichtlich und willkürlich präsentierte „Materialität der Kommunikation“ (Gumbrecht/Pfeiffer 1988), z.B. Fassaden, ‚Bühnenbilder‘, Kulissen, Requisiten u.s.w., die wie im Falle der Architektur gleichsam für sich selbst und für andere und anderes sprechen. Derartige Präsentationen können allein stehen und als Repräsentationen fungieren; sie bilden aber auch die Hintergründe ‚lebendiger‘ Performances, mit denen sie entsprechend abgestimmt werden müssen oder die sich entsprechend auf sie abstimmen müssen. Die Theatralisierung der Gesellschaft besteht auch in dem zunehmenden Wert, der von immer mehr Menschen auf (insbesondere käufliche) Präsentationen gelegt wird, während gleichzeitig die Performance und die ‚Performancekünstler‘ Konjunktur haben. 10 Zum Beispiel Pressekonferenzen, auf denen sich etwa Fußballspieler als Selbst- und Fremddarsteller bewähren müssen.
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2.2 Materialität und Korporalität Wie immer man Theatralität fasst, die Dimension der Materialität und damit der Visibilität/ Visibilisierung spielt mit, sei es dass etwas zur Erscheinung gebracht oder verhüllt wird oder werden soll.11 Im Zentrum der Materialität der Theatralität steht einerseits der Raum bzw. das ‚Setting‘ und andererseits der immer verortete menschliche Körper und die an ihm haftenden und hängenden Materialitäten – von der Kleidung über den Schmuck bis zum Geruch (vgl. Lautmann 2000). Wenn man Theatralität als Interaktionstheatralität bzw. Performance versteht (s.u.), dann muss der (menschliche) Körper als Zeichenträger und Zeichengeber ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Wählt man eine allgemeinere Perspektive auf Theatralität, wie dies Goffman getan hat, dann relativiert sich die Relevanz des Körpers im Prinzip als eine Form von Materialität neben anderen Formen. Dazu gehören körpernahe Objekte wie die Kleidung ebenso wie körperferne(re) Objekte wie Fahrzeuge, Einrichtungsgegenstände oder Gebäude, die ebenso wie der Körper und mit dem Körper Bedeutungen tragen und mit Bedeutungen versehen werden können. Goffman spricht in diesem Zusammenhang im Blick auf Interaktionen von Elementen der „Fassade“ als einem „standardisierten Ausdrucksrepertoire“ (1969: 23). Ein Hauptbestandteil dieses Repertoires ist das situative „‘Bühnenbild‘, das Möbelstücke, Dekorationselemente, Versatzstücke, die ganze räumliche Anordnung umfasst – die Requisiten und Kulissen für menschliches Handeln, das sich vor, zwischen und auf ihnen abspielt“ (ebd.: 23). Von diesen „szenischen Komponenten des Ausdrucksrepertoires“ unterscheidet Goffman die (menschlich-)körperlichen oder körperbezogenen Ausdrucksmittel der „persönlichen Fassade“, die man sozusagen mit sich herumträgt (vgl. ebd.: 25). Zur persönlichen Fassade sind Amtsabzeichen oder Rangmerkmale, Kleidung, Geschlecht, Alter, Rasse, Größe, physische Erscheinung, Haltung, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik und dergleichen zu rechnen. Einige dieser Ausdrucksträger, zum Beispiel die rassischen Merkmale, sind in starkem Maße fixiert und verändern sich bei dem Einzelnen nicht von Situation zu Situation. Andere Ausdrucksträger, wie etwa die Mimik, sind dagegen verhältnismäßig flüchtig und können sich während der Darstellung von einem Augenblick zum anderen verändern (ebd.: 25).
Ähnlich wie Goffman mit seinem Verständnis der Interaktionsordnung fasst Fischer–Lichte den Körper als performativ unhintergehbaren ‚Aspekt‘ von Theatralität und spricht von Korporalität als „historisch und kulturell bedingter Art der Körperverwendung in kommunikativen Prozessen“ (Fischer-Lichte 1995: 9). Gemeint ist damit insbesondere der „Körper als Darstellungsmittel und Ausstellungsobjekt“ sowie „die Inszenierung von Körpern zum Zweck der Mimesis, der Maskerade, des Rollenspiels und der Zur-Schau-Stellung (zum Bei11 Die Materialität der Theatralität (oder allgemeiner: die ‚Materialität der Kommunikation‘) besteht natürlich in vielen Formen, die an den verschiedensten Zeichen- bzw. Symbolsystemen partizipieren und diese wahrnehmbar machen. Beispielsweise sind diverse Materialien geeignet, dem rituellen Geschlechterkode Ausdruck zu verleihen. Goffman führt dazu aus: „I have suggested that every physical surround, every room, every box for social gatherings, necessarily provides materials that can be used in the display of gender and the affirmation of gender identity. But, of course, the social interaction occurring in these places can be read as supplying these materials also“ (Goffman 1977a: 324).
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spiel am Pranger, auf dem Jahrmarkt, auf Völkerausstellungen, bei Modeschauen, in Striptease-Lokalen, auf der Bühne etc.). Die Inszenierung erfolgt einerseits durch eine besondere Art von Kleidung, Schminke, Coiffure, andererseits durch bestimmte Techniken und Praktiken der Körperverwendung“ (ebd.: 10). Neben den Aspekten der sozialen Zeichenhaftigkeit des Körpers und seiner darauf basierenden Verwendbarkeit und Verwendung muss ein soziologischer Korporalitätsbegriff die entsprechende (binnen-)körperliche Durchformung und Überformung, insbesondere im Sinne von Zivilisation, reflektieren (s.u.). In diesem Sinne von Korporalität geht es um die Inkorporation und Verkörperung sozialer Sinntatsachen (Werte, Ideale, Normen, Ansprüche, Geschlechterkonzepte u.s.w.) sowie um entsprechende ‚Kräfte‘ des Körpers, die in ihm „Gestalt angenommen haben als Gewohnheiten, Bewegungskompetenzen, Selbstdeutungen, Empfindungsweisen und Wahrnehmungsstile“ (Hahn 1988: 666). Korporalität hat es, so gesehen, mit der Gestaltwerdung und Gestaltung sozialen Sinns zu tun, der sich auf dem Wege des Lernens (der Erfahrung) im und am Körper, in körperlicher ‚Verfassung‘, Zeichenhaftigkeit, Spontaneität und Subjektivität niederschlägt. Der Körper ist in diesem Verständnis auf sich und andere (Körper) bezogener und ‚bedeutender‘ sozialer Sinn-Körper, von sozialem Sinn durchdrungener und durch sozialen Sinn durchdringender Körper und Wissensspeicher.12 Mit dem hier angedeuteten Begriff von Korporalität, der den Körper nicht nur in seiner ‚Äußerlichkeit‘, sozusagen mit Haut und Haaren13, sondern als ‚Gesamtkörper‘ fasst, wird der Habitusbegriff14 zu einem zentralen analytischen Schlüssel. Er verschafft Zugang zur identifizierenden Gestalt des Körpers (‚äußerer Habitus‘), zu seiner stilistischen Produktivität im expressiven Verhalten und Handeln (s.u.), seinen Möglichkeiten, als Medium der Gestaltung zu fungieren, sowie zu seinen (Selbst-)Wahrnehmungen und zu seinem Wahrgenommenwerden. Worum es hier geht, ist also nicht nur die Korporalität der Wahrnehmung selbst, sondern auch der Körper als Wahrnehmungsthema, das aufgrund kognitiv-habitueller Dispositionen so oder so aufgefasst, verstanden und interpretiert wird. In diesem Zusammenhang spielen naive ‚Theorien‘ des Körperausdrucks, die die Deutung des Charakters, der Ehrlichkeit, der Gemütsverfassung, der Leistungsfähigkeit u.s.w. anleiten, eine zentrale Rolle. Sie spezifizieren den Körper als Projektionsfläche von (inneren) Wesenseigenschaften, Werten, Kompetenzen, Neigungen u.s.w.15 12 Das heißt aber nicht, den Körper für voll ‚sozialisierbar‘ bzw. ‚theatralisierbar‘ zu halten. Die „völlige Beherrschung des Körpers durch das Bewusstsein oder die Gesellschaft ist allemal Utopie“ (Hahn 1988: 669). Das Dasein des Körpers als Körper ist eine primäre Tatsache, die sozialen Sinn und Kommunikation zugleich fundiert und unterläuft. Kein Zivilisierungsprozess hat und wird den Körper je ganz unterwerfen oder durchformen können. Er war und bleibt eine Bedingung und Grenze von Macht und sozialer Kontrolle – auch der Selbstkontrolle des Individuums. Bei allem, was die Kulturen und Epochen unterscheidet, Zeugung, Altern und Tod, Krankheit, Geschlecht, Rasse, Verdauung oder sexuelle Potenz sind universelle Tatsachen – gewiss in der Kultur, kultiviert und mit Kultur variierend, aber nicht durch Kultur aus der Welt zu schaffen. 13 Günther Burkart (2000) hat der Kultur- und Statusbedeutung der menschlichen Behaarung (nicht nur des Kopfes) einen Aufsatz gewidmet. 14 Vgl. als Überblick über die deutsche (Weber, Plessner, Gehlen, Elias, Berger/Luckmann), französische (Durkheim, Foucault) und amerikanische (Parsons, Goffman) Tradition der Habitustheorie Willems 1997: 181ff. 15 So werden einem trainiert wirkenden Körper eher als einem untrainiert wirkenden Attribute wie hoher Status oder ‚sexuelles Glück‘, aber auch Selbstbeherrschung, Selbstbewusstsein, Zuverlässigkeit und Ausdauer, zugeschrieben (vgl. Wedemeyer 1996: 410f.).
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Ein (wissens-)soziologischer Korporalitätsbegriff muss aber über die Ebene des Habitus und der Habitualisierung hinausgehen und sozusagen auf der sozialen Systemebene nach den differentiellen Konstruktionslogiken der sozialen Wirklichkeit des Körpers fragen. Denn der Körper zeichnet sich ja durch die Ambivalenz aus, einerseits gleichsam omnipräsent zu sein, andererseits aber, der Logik sozio-kultureller (System-)Differenzierung folgend, je nach der sozialen Sinn- und Kommunikationssphäre, in der er relevant wird, Bedeutungen anzunehmen oder überhaupt von Bedeutung zu sein. Als Ausgangspunkt eines derart differenzierungstheoretisch orientierten Korporalitätsbegriffs bietet sich im Anschluss an Goffman wiederum die unmittelbare Interaktion an. Sie ist gewissermaßen der soziale ‚Urort‘ und – immer noch – der soziale ‚Hauptort‘ des Körpers und der Korporalität. Der Körper ist Grund und Grundlage von Interaktionssystemen, deren eigene Ordnung, die ‚Interaktionsordnung‘, mit der Kopräsenz von Körpern sozusagen in Kraft tritt und durch (ihre) Rahmen mit Normen verbundene „Sprachen individueller Erscheinungen und Gesten“ festlegt (Goffman 1971b: 41). In jeder Situation kann ein Mensch aufhören zu sprechen, aber er kann nicht aufhören, sich mit seinem Körper auszudrücken; „er muß damit entweder das Richtige oder das Falsche sagen, aber er kann nicht gar nichts sagen“ (Goffman 1971b: 43).16 Im Zuge von sozio-kulturellen Differenzierungsprozessen, von Prozessen der Differenzierung von Feldern (Subsystemen), Medien und Diskursen hat sich auf dieser Ebene und jenseits dieser Ebene auch die Wirklichkeit des Körpers bzw. der Korporalität differenziert. Heutzutage gibt es nicht nur eine historisch einmalige Vielfalt von interaktionsbezogenen und interaktionellen Körperrelevanzen‚ Körperbedeutungen, ‚Körpersprachen‘, sondern auch und gerade jenseits der Interaktionsebene eine höchst differenzierte und sich immer weiter differenzierende Wirklichkeit von Körper-Wirklichkeiten. Alle sozialen Systemtypen haben ihre je besonderen Körperbezüge und ihre je besondere Korporalität. Von zentraler Wichtigkeit – auch als ‚Spiegel‘ der Korporalität der Interaktionsordnung – sind natürlich die Massenmedien und das Internet. Mit der Medientechnik- und der Medienkulturevolution, der Entwicklung und Differenzierung immer neuer medienkommunikativer Gattungen und Diskurse entsteht und wandelt sich auch Korporalität. Sie bleibt aber, das lehrt Goffmans Analyse der Geschlechterdarstellung in der Werbung (vgl. 1981a), zumindest bis zu einem gewissen Grad im lebensweltlich-habituellen Alltagswissen der Interaktionsordnung verwurzelt. Die Anzeigenwerbung z.B. verarbeitet in der Interaktionsordnung implizierte KörperSymboliken und Körper-Semantiken, die ihrerseits von den medialen Körper–Performanzen nicht unberührt bleiben.17
16 Das berühmte „Axiom“ von Watzlawick u.a. (1969), dass es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren, meint im Prinzip Ähnliches. Im Gegensatz zu Watzlawick u.a. vertritt Goffman aber einen engeren Kommunikationsbegriff. Goffman unterscheidet Ausdruck von Kommunikation, unter der er den „Gebrauch der Sprache oder sprachähnlicher Zeichen zur Übermittlung von Informationen“ (Goffman 1981b: 14) versteht. Kommunikation in diesem Sinne hält Goffman für durchaus vermeidbar, ja sie ist für ihn durch Vermeidbarkeit definiert. Dagegen hält er sowohl Ausdruck als auch Ausdrucksdeutung in Anwesenheit anderer für unvermeidbar. 17 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird ein allgemeines körpersoziologisches Konzeptualisierungsdefizit zum besonderen Problem, das Cornelia Koppetsch zu Recht beklagt: „Nach wie vor fehlt es an Untersuchungen, die den Körper als Bedeutungsdarsteller und Sinnträger ausbuchstabieren und ein Begriffsinstrumentarium für die Typisierung von Körperausdruck und Körpersymbolik bereitstellen“ (2000: 9).
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Basale soziale Eigenschaften der ‚Aspekte‘ von Theatralität
2.3.1 Sinnkontextualität Die genannten ‚Aspekte‘ von Theatralität (Darstellungen, Inszenierungen, Performances, Präsentationen, Wahrnehmungen) sind soziale Sinnkontexte und haben soziale Sinnkontexte. D.h., es gibt diese ‚Aspekte‘ nicht isoliert und an sich, sondern nur als sozialer Sinnkontext und im sozialen Sinnkontext, der sowohl für die objektive als auch für die subjektive Wirklichkeit des jeweiligen ‚Aspekts‘ maßgebend ist. Ein soziologischer Theatralitätsbegriff kann sich daher nicht darauf beschränken, ‚Aspekte‘ von Theatralität zu unterscheiden, sondern er muss auch ihre sinnhafte Einbettung, Veranlassung und äußere wie innere Organisation erfassen. Einen soziologischen Ansatz und damit eine Spezifikation des Theatralitätsbegriffs bietet hier Goffmans „Rahmen-Analyse“ (vgl. 1977b)18. Sie erlaubt es z.B., Darstellungen wie die lebensweltlichen Ritualisierungen der Geschlechterinteraktion als Sinnstrukturtyp (Modul) zu bestimmen und anhand des Kriteriums ihrer Komplexität („Rahmenkomplexität“) zu differenzieren. Goffman liefert also nicht nur einen ‚dramatologischen‘, sondern auch einen sinntypologischen und strukturanalytischen Zugang zu Theatralität(en), zu deren objektiver und subjektiver Sinnhaftigkeit als Spiel, Zeremonie, Demonstration, Wettkampf, Täuschung u.s.w. Die Realität der Theatralität erschließt sich erst aus einem Verständnis dieser Sinnkontexte, die in der Rahmen-Analyse sowohl als Sinnstrukturen wie als Praxis (der Rahmung) wie als subjektive Wirklichkeitsdeutungen19 thematisiert werden. Ein rahmentheoretisches Kriterium, das Goffman anbietet, um Varianten der Aufführung („performance“, Goffman 1974a: 124ff) zu unterscheiden, ist das der „Reinheit der Aufführung“. In diesem Bezugsrahmen zeigen sich Strukturdifferenzen, die die übliche Rede von Performance, Inszenierung u.s.w. gerade verschleiert. Goffman präsentiert ein Spektrum der ‚Reinheit der Aufführung‘ , das einem intuitiven Verständnis, einem intuitiven Wissen und einer intuitiven Urteilsfähigkeit jedermanns entspricht: Dramaturgische ,Drehbücher‘, Nachtklub-Auftritte, persönliche Auftritte verschiedener Art, das Balett und ein großer Teil der Orchestermusik sind in diesem Sinne rein. Kein Publikum, keine Aufführung. Die Grenzfälle sind hier ad-hoc-Aufführungen, wie sie im häuslichen Kreis vorkommen, wenn ein Gast etwas auf dem Klavier oder der Gitarre spielt. (...) Das nächste ist die öffentliche Austragung von Wettkämpfen oder Wettspielen. Zwar ist die soziale Situation entscheidend, in der der Wettkampf stattfindet, und dahinter das Eintrittsgeld, das am Eingang kassiert wird, doch hängt alles davon ab, daß sich die Wettkämpfer so verhalten, als wäre der Ausgang des Wettkampfes ihr Beweggrund. (...) Etwas weniger rein sind persönliche Feiern wie Hochzeiten und Bestattungen. Bei diesen Anlässen sind gewöhnlich Zuschauer anwesend, jedoch in der Rolle von Zeugen und von Gästen, und gewöhnlich werden sie einge-
18 Die „Rahmen-Analyse“ kann als das theoretische Hauptwerk Goffmans gelten, weil es die vielfältigen analytischen Perspektiven und begrifflichen Unterscheidungen seiner früheren Arbeiten integriert oder zu integrieren vermag. Schlüsselkonzepte wie Bühne, Ritual, Rollendistanz, Täuschung, Territorium, Stigma oder Image werden in der „Rahmen-Analyse“ erneut aufgegriffen und im Kontext einer Theorie sozialen Sinns systematisch verortet. Die „Rahmen-Analyse“ bildet damit selbst so etwas wie einen Rahmen. 19 Goffman übersetzt m.a.W. die jeweilige Rahmung (das Sinnverständnis) der Akteure, z.B. das Verständnis eines bestimmten Täuschungs- oder Spieltyps, und macht sie als Perspektive des Verstehens und Handelns transparent.
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Herbert Willems laden und zahlen kein Eintrittsgeld. (...) Vorlesungen und Vorträge sind eine recht gemischte Klasse hinsichtlich der Reinheit der Aufführung, kurz, verschiedenartige Mischungen von Belehrung (die durchaus als Sache des Zuhörers betrachtet werden kann) und Unterhaltung. (...) Am wenigsten rein scheinen mir Arbeits-Aufführungen zu sein, etwa auf Bauplätzen oder bei Proben, wo die Zuschauer ganz offen Leute bei der Arbeit beobachten, die sich ganz deutlich nicht um die dramatische Seite ihrer Arbeit kümmern (Goffman 1977b: 144f.).
Diese rahmenanalytische Differenzierung impliziert auch eine Differenzierung des Publikumsbegriffs. Der differentiellen ‚Reinheit der Aufführung‘ korrespondiert eine differentielle ‚Reinheit der Publika‘.
2.3.2 Habitualität Theatralität ist, wenn man den Begriff allgemein bzw. soziologisch fasst, zwar nicht immer direkt an menschliche Akteure gebunden. Sie steckt z.B. auch in Gebäuden oder Texten, die für sich stehen können. Indirekt oder direkt sind jedoch immer Akteure bzw. Interakteure und damit Habitus/Habitusformen im Spiel. Die oben gemachten Aussagen zum Verhältnis von Körper/Korporalität und Habitus sind also zu ergänzen und zu verallgemeinern. Die genannten ‚Aspekte‘ von Theatralität stehen in je besonderen Verhältnissen zu Habitus bzw. Habitusformen und Habitusfunktionen. Verschiedene Ausdruckselemente, wie etwa der persönliche Stil der Handschrift oder die unwillkürliche mimische Verlegenheitsreaktion, sind mindestens teilweise Habituseffekte. Viele Darstellungen, z.B. die Formen des Lächelns, sind Habitusprodukte oder Habitusmomente. Inszenierungen stehen insofern in einem besonderen Verhältnis zu Habitus, als sie spezifische Kompetenzen (Handlungskunst) implizieren bzw. eine Urteilskraft erfordern, die habituell voraussetzungsvoll ist. Bestimmte Habitusformen sind auch für die Performance wichtig. Der äußere Habitus und das innere Habitusensemble des Performers sind sozusagen Medien seiner Performance. Die verschiedenen Performancetypen verweisen auf spezifische Habitusformen, an deren Fungieren sich die Erfolgswahrscheinlichkeit der jeweiligen Performance entscheidet. Nicht zuletzt braucht der Akteur auf jedweder Bühne bestimmte (habituelle) ‚Charaktereigenschaften‘ und Haltungen. Habitus sind schließlich immer auch in den Kontexten der Wahrnehmung relevant, bedingend und bestimmend. Als mentale Strukturen und kognitive Stile des Akteurs (‚Regisseurs‘, Performers) wie seines Adressaten (Publikums) bilden sie zentrale Bedingungen wie auch Halte- und Ankerpunkte jeglicher Inszenierung und Performanz. Deren Erfolg ist wesentlich durch die habituelle Wahrnehmungs- und Beobachtungskompetenz des Akteurs und zugleich durch die habituellen Wahrnehmungsbedingungen des adressierten Publikums bestimmt. Dessen Wahrnehmung, z.B. die des Medien-Publikums, hängt primär von seinen habituellen „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskategorien (...) ab, so daß in einer hochdifferenzierten Gesellschaft eine enge Beziehung zwischen der Natur und Qualität der ausgesandten Information und der Struktur des Publikums besteht. Ihre Lesbarkeit und Durchschlagskraft sind umso größer, je direkter sie auf implizite oder explizite Erwartungen antworten, die die Rezipienten prinzipiell ihrer Erziehung durch das Elternhaus und ihren sozialen Bindungen
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(...) verdanken“ (Bourdieu 1998: 169).20 Erfolgsentscheidend ist also die (habituelle) Fähigkeit des Akteurs, konkrete, spezifische und für die Gestaltung der Präsentation oder Performance spezifisch relevante (Publikums-)Wahrnehmungen wahrzunehmen bzw. die Habituslogik dieser Wahrnehmungen wahrzunehmen.
2.3.3 Relationalität und Sequenzialität Theatralität hat es immer mit Relationen zu tun und kann wesentlich oder ausschließlich in Relationen bestehen. Ein Beispiel dafür ist die relative Größe – etwa im Verhältnis von Bankzentralen21 oder von Männern und Frauen in Werbeanzeigen22. Relationalität charakterisiert natürlich nicht nur mehr oder weniger fixe (statische) Arrangements, sondern auch Theatralität in der Form von Prozessen bzw. Interaktionsprozessen, die Zeichen oder zeichenhafte Verhaltenselemente in sequenzielle (Abfolge-)Ordnungen bringen. Hier geht es also um verzeitlichte Relationalität, um Sequenzialität bzw. sequenzielle Ordnung im Handeln. Drei Ansätze der Deskription und Analyse bieten sich auf dieser Ebene an23: a) die dem Theatermodell benachbarten und mit ihm assoziierten Skriptansätze (vgl. Kaminski 1986; Abelson 1976, 1981); b) Ritualmodelle (vgl. Belliger/Krieger 2003; Goffman 1971a,b, 1974, 1981a); c) Spielmodelle der strategischen Interaktion (vgl. insbesondere Goffman 1981b). Als Methode entspricht den Konzepten der (theatralen) Sequenzialität die „Sequenzanalyse“ (vgl. Oevermann 1993; Bergmann 1985, 1991), die sich ebenso auf ‚natürliche‘ Interaktionen, z.B. Alltagsgespräche, wie auf ‚unnatürliche‘ (Interaktions-)Prozesse, z.B. mediale Performanzen, anwenden lässt. Da es sich (soweit es sich) bei den Prozessen der Theatralität um faktisch vorstrukturierte oder, wie im Fall von fiktionalen Medieninszenierungen, sogar minutiös durchkomponierte Prozesse handelt, ist der Versuch bestens begründet, analytisch Zug um Zug eine sequenzielle „Fallstrukturgesetzlichkeit“ (Oevermann 1993: 183) zu identifizieren.
20 Im Medienbereich spielt die literarisch-künstlerische Produktion (auch) in diesem Zusammenhang eine Sonderrolle. Die Dispositionen, die die Wahrnehmung und Bewertung von Literatur, der man ‚Kunstwerkcharakter‘ zuschreibt, anleiten, werden in hohem Maße durch das Bildungssystem vermittelt. Dagegen ist die Rezeption vieler anderer medialer Gattungen (z.B. des Unterhaltungsbereichs oder der Werbung) vom Bildungsstand der Rezipienten nahezu unabhängig (vgl. Bourdieu 2001: 237). Für die Produzenten ‚hoher Literatur‘ gilt entsprechend, dass sie besonders stark vom Bildungssystem abhängen – wenn sie auch nicht müde werden, sich von ihm zu distanzieren. Ihm verdanken sie nicht nur ihre Rezipienten, sondern auch zum großen Teil die eigenen habituellen Dispositionen, die sie zu einem erfolgversprechenden Handeln befähigen. 21 Ich denke an die Skyline von Frankfurt, von der ich auf meiner regelmäßigen Fahrt von Gießen nach München immer wieder, und immer wieder an Goffmans Deutung der relativen Größe denkend, beeindruckt bin (vgl. Goffman 1981a). 22 Goffman hat sich dem Gegenstand in seinem Buch „Geschlecht und Werbung“ (1981a) gewidmet und in der relativen Größe ein zentrales rituelles Muster der (symbolischen) Qualifikation und Strukturierung des Geschlechterverhältnisses gesehen. 23 Es ist die Ebene von Theatralität, die Fischer-Lichte mit ihrem Theatralitätsbegriff im Auge hat.
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Herbert Willems
Medientheatralität
2.4.1 Interaktionstheatralität und Medientheatralität In einem ‚theatrologischen‘ Verständnis ist Theatralität, dem Modell des Theaters bzw. der Bühne entsprechend, im Grunde Interaktionstheatralität. Die Theatralität des Theaters wird als Modell genommen und auf die verschiedensten sozio-kulturellen Kontexte übertragen, so dass z.B. Wettkämpfe, Konzerte oder Parlamentsdebatten den Realitäten des Theaters analog gesehen und untersucht werden können. Die unmittelbare Interaktion ‚von Angesicht zu Angesicht‘ (Anwesenheit) stellt dann also eine Art kleinster gemeinsamer Nenner der verschiedenen Kontexte von Theatralität dar. Die Theatralität der Massenmedien, deren zentrale Bedeutung für die Kultur der Gegenwarts(-welt-)gesellschaft außer Frage steht, liegt demgegenüber auf einer anderen Ebene und gleichsam quer zu allen anderen Theatralitäten (dazu meine obige Einführung). Die Massenmedien verarbeiten aufgrund ihrer Publikumsabhängigkeit insbesondere den Formen- und Wissensbestand der lebensweltlichen Interaktionsordnung(en), deren Akteure (jedermann) durch die massenmedialen Inszenierungen und Performanzen von Interaktionen ebenso bestätigt wie irritiert und informiert werden. Ich möchte daher von Medientheatralität sprechen und diese grundsätzlich von Interaktionstheatralität unterscheiden. Einige Differenzen sind mehr oder weniger offensichtlich und zentral: 1. Die massenmediale Performanz ist im Gegensatz zu der des Theaters oder des Alltags kein „Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern“ (Fischer-Lichte, s.o.). Vielmehr wird einerseits das Verhältnis von Performanz (z.B. dem aufgeführten filmischen Drama) und Wahrnehmung unterbrochen und mittelbar. Andererseits überbrückt das Medium die Grenzen der Anwesenheit und erzeugt damit sowohl ein anonymes Wahrnehmungskollektiv prinzipiell unbegrenzter Quantität (Millionen schauen gleichzeitig die Tagesschau) als auch eine neue Art von Ko-Präsenz: die ‚Live-Übertragung‘ macht eine prinzipiell unbegrenzte Zahl von (abwesenden) Zuschauern zu Quasi-Anwesenden und d.h. auch zu entsprechend Erlebenden (z.B. Mitfühlenden bei Sportveranstaltungen, Beerdigungsfeiern u.a.m.). 2. Auf der Grundlage der diversen medial ermöglichten und strukturierten ‚wahrnehmenden Teilnahmen‘ haben sich neue, vom Theater-Publikum mehr oder weniger weit entfernte Publikumstypen und Publikumsaktivitäten entwickelt, die vom einsamen oder gemeinsamen Fernsehabend bis zum ‚Public Viewing‘ reichen.24 Medientheatralität impliziert also im Unterschied zu Interaktionstheatralität auf der Ebene der Wahrnehmung (Nutzung) ebenso die Möglichkeit vollkommener Anonymität und ‚Asozialität‘ wie die Möglichkeit neuer (Interaktions-)Sozialität bis hin zu der gesteigerten (Euphorie-)Gemeinschaftlichkeit und Intimität von ‚Events‘.
24 Hier ist auch an die Differenz zwischen Publikum im Medium und Publikum vor dem Medium zu denken. Man beachte im Hinblick auf Publikum im Medium etwa Talk Shows, in denen Publikum als Kommentator eingespielt wird, oder musikalische ‚cultural performances’‚ wie die eines gewissen André Rieu, in denen das Publikum dramatisch aktiv und zu einer Art Ko-Performer wird.
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3. Die verschiedenen Medientypen (Presse, Fernsehen, Radio u.s.w.) und die entsprechenden Modi ihres Gebrauchs stellen eigenständige und eigenlogisch strukturierende (konstitutive, limitierende) Faktoren der Performanz und der Inszenierung dar. So wie die Theaterbühne die Inszenierung und die Performance mitsamt der entsprechenden Korporalität spezifisch ‚formatiert‘, so wirkt sich auch der jeweilige Medientyp bedingend und bestimmend aus. Das Medium selbst ist durch seine spezifischen Möglichkeiten und Möglichkeitsgrenzen ein Zeichen- und Sinngenerator und zugleich ein Zeichen- und Sinndegenerator. 4. Systematisch different ist auch die Logik der ‚Rückkopplung‘ zwischen Akteuren und Publika. Auf der Ebene der massenmedialen Theatralität gibt es natürlich kein kopräsentes Publikum, das re-agiert, z.B. Applaus ‚spendet‘, aber es gibt unmittelbare Reaktionsbzw. Applausanaloga und funktionale Äquivalente wie Einschaltquoten oder Ergebnisse von Markt- und Meinungsforschungen (Befragungen), die sogar genauer und strategisch zielführender sein können als das Applausgeräusch von Anwesenden. Diese zunehmend elaborierte und ihrerseits inszenierbare und inszenierte Art der ‚Rückkopplung‘ gestattet auch gegenüber sehr großen Publika schnelle und präzise Lern- und Erkundungsprozesse, und sie bindet die Subjekte der Medientheatralität tendenziell enger und bewusster an ihre Publika und deren Vorstellungen und Bedürfnisse. 5. Auch der ‚Aspekt‘ der Korporalität spielt im Kontext der Massenmedien eine systematisch andere Rolle als im Rahmen von Interaktionstheatralität. Während sozusagen allseitige Korporalität im unmittelbaren Interaktionsprozess unvermeidlich und unverzichtbar ist (sie ist das ‚Medium‘ der Theateraufführung wie der lebensweltlichen Darstellung und Performance), können oder müssen die verschiedenen Massenmedientypen Korporalität einerseits spezifisch exkludieren oder verknappen. Man denke an das Radio, das Korporalität auf die Stimme beschränkt, die Presse, in der Korporalität potentiell ganz durch Schrift ersetzt wird, oder das Internet, in dessen Kommunikation der Körper gleichfalls gänzlich verschwinden kann (vgl. Sandbothe 1998: 588; Pranz 2008: 322).25 Andererseits implizieren Medien wie die Fotografie, das Fernsehen und das Internet – auch im Rückgriff auf traditionell-lebensweltliche Körperbilder – neue und je besondere Möglichkeiten der Körperinszenierung und Körperaufführung, der Kontrolle, Instrumentalisierung, Manipulation und Fiktionalisierung von Korporalität. Die Theatralisierung der massenmedialen und der internetbasierten Kommunikation besteht entsprechend in gewissen ‚Korporalisierungen‘, in Aufführungen und Thematisierungen des Körpers, die sich von den Grenzen seiner materiellen Realität mehr oder weniger freimachen können26. 25 Für das Internet stellt Mike Sandbothe fest, dass dessen „‚virtuelle Realität‘ (...) nicht zuletzt deshalb als ‘virtuell‘ bezeichnet wird, weil es sich bei ihr um eine Realitätsform handelt, deren Konstruktion sich in einem künstlichen digitalen Raum vollzieht, in dem die Nutzerinnen und Nutzer losgelöst von den raum-zeitlichen Zwängen ihrer physischen Körperlichkeit virtuelle Körper mit imaginären Eigenzeiten und Eigenräumen erfinden können“ (Sandbothe 1998: 587). Die (internet-)mediale Entbindung von der primären Korporalität des Lebens, die ja Element der obigen Theatralitätsdefinition ist, führt zu einer spezifischen Expansion und Modulation von Theatralität. „Denn im Netz ist infolge der medialen Entkörperlichung seiner Akteure die Kommunikation von den psychosozialen Aspekten einer raum-zeitlich fixierbaren Körperidentität entlastet, die dem theatralen Spiel mit Identitäten im ‚wirklichen‘ Leben physische Grenzen setzt“ (Sandbothe 1998: 588). 26 Vgl. den Beitrag von Pranz (Band 2).
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6. Unmittelbare Aktionen und Interaktionen sind ihrem Wesen nach „transitorisch“. FischerLichte betont diesen Aspekt als fundamentales Merkmal der Theatralität des Theaters: „Das materielle Artefakt des Theaters hat nicht – wie etwa ein Bild oder der Text eines Gedichts – eine von seinem Produzenten abgehobene, fixierbare autonome Existenz, sondern existiert nur im Prozeß seiner Herstellung“ (Fischer-Lichte 1994: 15). Und: „Das Transitorische des Theaters (...) hat sein Eigenes nicht nur darin, dass es sich in der Zeit realisiert, sondern dass diese seine Realisation an ihre Urheber gebunden bleibt, keine übertragbare, wiederholbare, eigenständige Existenz besitzt“ (ebd.: 15). Georg Lukács hat die mit dem Begriff der Transitorität gemeinte Gegenwärtigkeit27, Ereignishaftigkeit und Flüchtigkeit als distinktes und produktives Charakteristikum der Bühnenaufführung und der „Bühnenwirkung“ beschrieben. Es lohnt hier, Lukács’ diesbezügliche Auffassung ausführlich zu zitieren. Im Bezug auf die bis heute verbreitete Meinung, das Theater ließe sich durch den Film effektiv ersetzen oder sogar überbieten, stellt er fest: Dieser schöne Traum ist aber ein großer Irrtum. Er übersieht die Grundbedingung aller Bühnenwirkung: die Wirkung des tatsächlichen Menschen. Denn nicht in den Worten und Gebärden der Schauspieler oder in den Geschehnissen des Dramas liegt die Wurzel der Theatereffekte, sondern in der Macht, mit der ein Mensch, der lebendige Wille eines lebendigen Menschen, unvermittelt und ohne hemmende Leitung auf eine geradeso lebendige Menge ausströmt. Die Bühne ist absolute Gegenwart. Die Vergänglichkeit ihrer Leistung ist keine beklagenswerte Schwäche, sie ist vielmehr eine produktive Grenze: sie ist das notwendige Korrelat und der sinnfällige Ausdruck des Schicksalhaften im Drama. Denn das Schicksal ist das Gegenwärtige an sich (...). Die ‚Gegenwart‘, das Dasein des Schauspielers ist der sinnfälligste und darum tiefste Ausdruck für das vom Schicksal Geweihte der Menschen des Dramas. Denn gegenwärtig sein, das heißt wirklich, ausschließlich und aufs intensivste leben, ist schon an und für sich ein Schicksal – nur erreicht das sogenannte ‚Leben‘ nie eine solche Lebensintensität, die alles in die Sphäre des Schicksals heraufheben könnte (Lukács, zit. n. Rapp 1973: 35).
Für Interaktionstheatralität überhaupt gilt im Prinzip nicht nur, dass sie sich, wie Fiebach formuliert, „in unmittelbarer Tätigkeit von Darstellenden und Zuschauenden raumzeitlich entfaltet und verzehrt“ (Fiebach 1978: 127), sondern ihre Transitorität, ihre Unmittelbarkeit und unmittelbare Vergänglichkeit, ist auch ein generatives und funktionales Merkmal, das sich in der theatralen Performance nur sozusagen verdichtet. Transitorität ist in diesem Fall ein spezifischer Wirklichkeits-, Wert- und Erlebnisverstärker. Dass die Erzeugnisse der Massenmedien, die „massenmedialen Zeitkonserven“ (Sandbothe 1998: 584), nicht-transitorisch, sondern mittelbar und „im Prinzip beliebig reproduzierbar“ sind (ebd.: 585), impliziert demnach einen gewissen Verlust, den man unter dem Begriff der Enttheatralisierung fassen mag.28
27 Im Blick auf das Theater spricht Rapp von der „Gegenwärtigkeit des Zuschauers (...) Nur vor der Wahrnehmung von Zuschauern, nur in der Beziehung zu dieser Wahrnehmung ist die Bühne absolute Gegenwart“ (Rapp 1973: 36). 28 Transitorisch, d.h. „absolut gegenwärtig“ (Fischer-Lichte 1998: 585), bleibt natürlich die konkrete Wahrnehmung der medialen Konserven mit der Implikation, dass jeder Wahrnehmungsmoment auch im Bezug auf ein und dasselbe Medienerzeugnis besonders und einmalig ist.
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2.4.2 Kulturelle Foren, Bühnen und Symbolverkäufer Medien wie das Fernsehen bilden Konfigurationen von Foren, die Kultur sind und auf denen Kultur (Ideen, Deutungsmuster, Images, Meinungen etc.) performiert, reproduziert und erzeugt wird. Man kann in diesem Zusammenhang auch von Medien-Bühnen29 sprechen, insofern Medien die Grundlage von allerdings sehr unterschiedlichen (Kultur-)Performanzen darstellen. Einen maßgeblichen Ausgangspunkt für das Verständnis der Funktion dieser Foren oder Bühnen und ihrer kulturellen Bedeutungen bieten die fernsehtheoretischen Überlegungen von Newcomb und Hirsch, die das Konzept des „kulturellen Forums“ (1986: 177ff) entwickelt haben.30 Es beinhaltet und unterstreicht sozusagen zwei Kultur-Seiten des Mediums: zum einen die kulturelle Abhängigkeit, Bezogenheit und Reflexivität der medialen Performanzen, deren Produzenten auf vorhandene Sinn- und Wissensbestände des jeweiligen Publikums zurückgreifen und zurückgreifen müssen. Zum anderen fasst dieser konzeptuelle Rahmen die Massenmedien als eigensinnige und eigengesetzliche Plattformen, Schau- und Marktplätze, auf denen jene ,real existierende‘ Kultur nicht oder nicht nur reproduziert, sondern auch in immer neuen Variationen, die das Publikum adressieren, transformiert und abgewandelt werden. In diesem zweiten Sinn meint Forum also auch besondere Spielräume und Freiräume, mit Kultur umzugehen und kulturelle Innovationen zu produzieren. Die Analogie zum Theater liegt dabei auf der Hand. Newcomb und Hirsch greifen in diesem Zusammenhang Victor Turners klassischen Begriff des „rituellen Grenzbereichs“ („liminal stage“) auf und nehmen im Hinblick auf das Fernsehen generell an: (...) es gibt eine Art Niemandsland, in dem man sich weder ganz außerhalb der Gesellschaft noch wirklich innerhalb ihrer Grenzen befindet, einen Freiraum, in dem Regeln strapaziert oder gar gebrochen werden können, in dem sich Rollen umkehren und Kategorien umstoßen lassen. Für Turner ist das Entscheidende die Freisetzung von üblichen Zwängen, die die Demontage der ‚uninteressanten‘ Interpretationen des sogenannten gesunden Menschenverstandes und der ‚Sinnfälligkeiten des Alltagslebens‘ ermöglicht (Newcomb/Hirsch 1986: 180).
Folgt man den Überlegungen von Newcomb und Hirsch bzw. Turner, dann bilden Massenmedien wie das Fernsehen einen theateranalogen Spielraum – und: Spiel-Raum – der Sinnverarbeitung und Sinnerarbeitung, der Sinndestruktion, Sinnumwandlung und Sinnproduktion. Dieser Spielraum, genauer gesagt: ein Spielraum von Spielräumen, ist allerdings systematisch limitiert – nicht nur durch die Kultur des Publikums, an der sich die Verständlichkeit, die Akzeptabilität und die Attraktivität des jeweiligen Medienprodukts entscheidet, sondern auch durch den entsprechenden Markt, dessen Gesetze die Bedeutung, die Relevanz und die empirische Nutzung eben jener Kultur bestimmen. Medienakteure, z.B. Werber oder Journalisten, müssen unter sich auf allen Feldern generalisierenden und verschärfenden Marktbedingungen als Markt- und Vermarktungssubjekte 29 Hickethier (vgl. 2001) spricht von medialen Bühnen, die restriktiven Zugangsbedingungen unterliegen. 30 Wie andere betrachten Newcomb und Hirsch das ‚Leitmedium‘ Fernsehen als das gegenwärtig gesellschaftszentrale kulturelle Forum.
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operieren, d.h. mit Blick auf den Absatz ihrer Produkte nach Erfolgsbedingungen fragen und sich im Handeln daran ausrichten. Die Produkte, die es zu vermarkten gilt, sind symbolisch (sinn-)gehaltvolle Performanzen. Im Anschluss an Sahlins (1976: 217) sprechen Newcomb und Hirsch daher von „Symbolverkäufern“ und (als) „Sinnvermittlern“. Sie (die medialen ‚Symbolverkäufer‘, H.W.) sind kulturelle Sinnproduzenten (‚bricoleurs‘), die durch die Kombination von sehr unterschiedlichen, bedeutungsgeladenen Kulturelementen neue Sinngehalte aufspüren und schaffen. Sie reagieren mit hoher Sensibilität auf konkrete Ereignisse, auf den Wandel gesellschaftlicher Strukturen bzw. Organisationsformen oder auf Veränderungen in Einstellungen und Wertvorstellungen. Auch technologische Innovationen wie die Einführung von Kabelkommunikation oder die Nutzung von Videorecordern sind für sie wichtige Anstöße. Wir schließen Fernsehproduzenten in Sahlins Katalog von ‚Symbolverkäufern‘ ein, denn auch sie verfahren nach demselben Grundrezept, übrigens genauso wie Fernsehautoren und, in geringerem Maße, Regisseure bzw. Schauspieler. Gleiches gilt für Programmplaner und Anstaltsleitungen, die über den Ankauf, die Herstellung und die Ausstrahlung von Programmen zu entscheiden haben. Sie alle fungieren in den verschiedenen Phasen dieses komplexen Prozesses als Sinnvermittler (Newcomb/Hirsch 1986: 180).31
Die medialen Symbolverkäufer sind demnach in gewisser Weise selbst Medien, indem sie Elemente der Publikumskultur (selektiv) beobachten, aufgreifen, verarbeiten und in immer wieder neuen Synthesen dem Publikum offerieren. Symbolverkäufer brauchen und gebrauchen in ihrer beruflichen Praxis also immer auch und primär ihre Jedermanns-Habitus. In Verbindung mit dieser ‚Innenausstattung‘ verfügen sie gleichzeitig über professionelle (Spezial-)Kenntnisse und Urteilsfähigkeiten, insbesondere eine berufspraktisch geschulte Sensibilität in Sachen Publikumsverstehen und ‚Kreativität‘, z.B. im Produzieren von Texten verschiedener Art.32 Symbolverkäufer werden darüber hinaus sowohl in ihrer Ausbildung als auch in ihrer beruflichen Praxis permanent zu spezifisch ‚bildenden‘ Selbstreflexionen und Selbstevaluationen veranlasst, sind also in einschlägiger Hinsicht typischerweise nicht nur intuitiv (habituell) sondern auch reflexiv und ‚artikulativ‘ besonders kompetent.33 Der Kreislauf des Wissens, in dem diese ‚Verkäufer‘ stecken und den sie kognitiv wie performativ mitkonstituieren, hat seine zentrale ‚Polung‘ in der Wahrnehmung des jeweiligen Publikums, die wahrgenommen und verstanden werden muss, um kontrolliert bzw. manipuliert werden zu können. Ob es den Medienakteuren hauptsächlich darum geht zu unterhalten, berichtend (oder ‚nachrichtend‘) zu interessieren oder zu werben, die adressierten Publika sind in jedem Fall in diesem (doppelten) Sinne die ‚Autorität‘, der sie sich im Design und im Absatz ihrer Produkte zu unterwerfen haben (vgl. Fiske/Hartley 1978: 86). Die me31 Tenbruck (1989) spricht von „Kulturproduzenten“ (ebd.: 53) bzw. „Kulturintelligenz“ (ebd.: 17) und weist auf einen durch die „berufsmäßige Vermehrung der Kulturintelligenz und deren Allgegenwart in den Massenmedien“ forcierten „Ideenpluralismus“ (ebd.: 56) hin. 32 Symbolverkäufer aktivieren in solchen Zusammenhängen auch ein professionell-technisches ‚Lehrbuchwissen‘, etwa über Formen der Textgestaltung (vgl. Rager/Hartwich-Reick/Pfeiffer 1998). 33 So müssen etwa Werbeproduzenten bei der Konzeption von Werbekampagnen und bei der Gestaltung der konkreten Werbemittel (Spot, Printanzeige etc.) ihr Vorgehen reflektieren, Problemlösungen vorschlagen und diskutieren sowie ihr Konzept schließlich dem Auftraggeber präsentieren, der genaue Auskunft über die vorgeschlagene Konzeption erhalten möchte. Und Journalisten richten ihren Blick auch reflexiv und lernwillig auf die Aktivitäten, Erfolge und Misserfolge ihrer (Markt-)Konkurrenten, die sie aus strategischen Gründen ‚evaluieren‘ (vgl. Bourdieu 1998: 32).
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dialen Sinnvermittler müssen also gleichsam und buchstäblich die Sprache des jeweiligen Publikums sprechen34, dessen Wissen, Kenntnisse, Meinungen/Überzeugungen, Ideologien, Symbole, Rituale, Stile, Skripts, Images u.s.w. zur Generierungs- und Formulierungsgrundlage ihrer Sinnangebote machen. Man kann daher mit Ruth Ayaß in Analogie zum ‚recipient design‘ der Face-to-face-Konversation von einem „medialen recipient design“ (2002) sprechen. Medienakteure müssen sich allerdings im Wesentlichen ohne die Orientierung und Kontrolle direkter Wahrnehmung und ‚Rückkopplung‘ auf ihr Publikum einstellen. Das ‚recipient design‘ medialer Kommunikation ist damit zunächst ungleich vager als in der Alltagsinteraktion und in hohem Maße von Spekulationen geleitet, was durch die Größe und Unbekanntheit des Publikums noch potenziert wird (vgl. Ayaß 2002). Es kommt hier daher einerseits in besonderem Maße auf ein habituelles ‚Gespür‘ an. Andererseits bedarf es der speziellen Leistungen professioneller Beobachtung und ‚Empathie‘. ‚Medien-Theater‘ und Medien-Theatralität bilden also keine Freiräume, in denen mit Kultur (Symbolen, Bedeutungen etc.) beliebig gespielt oder experimentiert werden könnte. Zwar muss hier mit Kultur immer auch gespielt werden, um das Publikum zu überraschen, zu informieren, zu vergnügen. Aber dieses Spielen muss eben im Rahmen der gegebenen Marktlage und adressierten Publikumskultur stattfinden. So kann auf dem Gebiet der Unterhaltung kaum eine „Demontage der ‚uninteressanten‘ Interpretationen des sogenannten gesunden Menschenverstandes und der ‚Sinnfälligkeiten des Alltagslebens‘“ (s.o.) stattfinden. Unterhaltungsformate performieren zwar gerne das „Außergewöhnliche“, aber sie tun es, wie Bourdieu konstatiert, gewöhnlich „in seiner gewöhnlichsten Definition“, indem sie z.B. „den gewohnten Rahmen sprengende Situationen und Personen“ beschreiben, aber „nach der Logik des gewöhnlichen Menschenverstandes und in der alltäglichen Sprache, die sie vertraut erscheinen läßt“ (Bourdieu 1999: 160 f.).35 Am wenigsten trifft die Vorstellung eines rituellen Grenzbereichs die Realität der Werbung.36 Zwar hat und nutzt auch sie erhebliche und expandierende Spielräume der Ideenproduktion und Gestaltung, aber sie fungiert ihrem ganzen Wesen nach eher im Sinne eines kulturellen Zentralbereichs als Forum. Als ein solcher Bereich zelebriert sie geradezu existierende symbolische und kosmologische (Grund-)Ordnungen, die sie als Unterbau und bewegender Inhalt ihrer Performanzen benötigt und verarbeitet. Werber müssen sich z.B. vorrangig für all jene Komponenten des Publikumswissens interessieren, die das intendierte
34 Fiske/Hartley konstruieren daher die kulturelle Funktion des Fernsehens analog zu der Rolle des Barden in mittelalterlichen Gesellschaften. „The real authority for both bardic and television messages is the audiences in whose language they are encoded“ (Fiske/Hartley 1978: 86). 35 Eine dem entgegengesetzte ‚reine‘ Literatur, die sich selbst von der Funktion der Unterhaltung distanziert und die Demontage gewohnter Denk- und Wahrnehmungsmuster regelrecht zum Programm erhebt, sowie ein entsprechendes Publikum bildet sich seit dem 18. Jahrhundert heraus. Auf diese Literatur trifft das Konzept des rituellen Grenzbereichs genau zu. Eine prinzipielle Grenze zwischen dieser Literatur und Texten, die der ‚bloßen Unterhaltung‘ dienen, lässt sich freilich im Sinne des Turnerschen Konzepts nicht ziehen. Denn natürlich kommt es vor, dass auch Texte der Unterhaltung Grenzen berühren, Regeln brechen, Rollen umkehren und Kategorien umstoßen. Und umgekehrt fordert man heute auch von der ‚hohen‘ Literatur, dass sie ‚Geschichten erzählen‘ und unterhalten soll. 36 Von ihr sprechen Newcomb und Hirsch in ihrem richtungsweisenden Aufsatz bezeichnenderweise überhaupt nicht.
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(Kauf-)Verhalten zu beeinflussen versprechen. Das können etwa Glücks- oder Moralvorstellungen oder Vorstellungen von Glaubwürdigkeit sein, die dann entsprechend inszeniert und performiert werden.37 Das heißt aber nicht, dass Werbung nicht auch in dem besagten Sinn als Grenzbereich oder sogar als kultureller Rahmenbrecher fungieren kann und tatsächlich gelegentlich fungiert.38 Aber wenn dies geschieht, dann geschieht es nur ausnahmsweise und aus wohlerwogenen strategischen Gründen,39 die wiederum mit der Logik, und d.h. Teleologie, der Werbung zu tun haben. Auch in diesem Fall, z.B. wenn es um Aufmerksamkeitserzeugung durch Erwartungsenttäuschung geht, wird die (habituelle) Kosmologie des Publikums vorausgesetzt, instrumentiert und in gewisser Weise bestätigt. Neben dem großen und stetig expandierenden Bereich der warenförmigen und auf Absatz zielenden medialen Performanz-Konserven (vor allem der Unterhaltung und der unterhaltsamen Nachrichten/Berichte) steht der große und sich gleichfalls ausweitende Bereich des ‚lebendigen‘ symbolischen Selbst-Marketings (Selbst-Verkaufs), der Image-Arbeit, der ‚Promotion‘ von Politikern, Sportlern, Kirchenführern, Künstlern u.s.w. Auch diese Akteure, die häufig als Stellvertreter40 fungieren, nutzen die Medien (offiziell und inoffiziell) als Bühnen, jedoch ist die Performanz (bzw. Performance) in diesem Fall nicht das zu vermarktende Objekt, sondern Mittel zum Zweck, der in symbolischem (Image-)Kapital besteht. Die Logik des kulturellen Forums waltet aber auch hier, insofern die Publikumskultur die entscheidende Erfolgsbedingung des jeweiligen Akteurs ist.
2.5
Wahrnehmungen
2.5.1 Wahrnehmungen, Beobachtungen und Publika Der Fischer-Lichtesche Theatralitätsbegriff beschreibt eine Struktur mit zwei Seiten (‚Polen‘), die (idealtypisch im Theater) systematisch und unmittelbar zusammenhängen. Die eine Seite bilden die ‚Aspekte‘ der Inszenierung, der Performance und (damit) der Korporalität. Auf der anderen Seite steht der ‚Aspekt‘, den Fischer-Lichte mit dem, verglichen mit den anderen ‚Aspekten‘, relativ unspezifischen Begriff der „Wahrnehmung“ belegt.41 Eine erste soziologische Präzisierung dieser ‚Seite‘ ergibt sich aus der Differenzierung des Wahrnehmungsbegriffs durch den Begriff der Beobachtung. Denn Wahrnehmung ist in diesem Zusammenhang der denkbar umfassendste Terminus, der im Bezug auf die betreffenden Vorgänge keinen Unterschied macht zwischen Absichtlichkeit und Unabsichtlichtkeit, Verhalten und Handeln, Spontaneität und Reflexivität, Aufmerksamkeit und Unaufmerksam37 Unterhaltungsproduzenten müssen demgegenüber vor allem jene kulturellen Publikumseigenschaften im Sinn und im Auge haben, die unterhaltsame Erlebnisse zeitigen. Komik z.B. kann nur vor dem Hintergrund entsprechender Normalitätsvorstellungen erzeugt werden. 38 Es kommt vor, daß sie Grenzen berührt, Regeln bricht, Rollen umkehrt und Kategorien umstößt. 39 Allerdings gibt es auch sozusagen systemimmanente und historische Variationszwänge der Werbung. Diese ist im Prinzip ebenso wie andere medienkommunikative Gattungen zunehmend „darauf angewiesen, neue Einfälle in die stereotypen Darstellungsmuster zu bringen“ (Newcomb/Hirsch 1986: 184). 40 Vgl. zur Logik der Stellvertretung und des stellvertretenden Handelns die grundlegende Untersuchung von Johannes Weiß (1998). 41 Dieser Theatralitätsbegriff entspricht damit im Grunde einem Sender/Empfänger-Modell der Kommunikation.
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keit u.s.w. Der Wahrnehmungsbegriff bleibt auch – und dies ist ein auf die ‚theatrologische‘ Perspektive zurückzuführender Mangel – diffus im Hinblick auf die differentiellen (Teilnehmer-)Status eines Wahrnehmenden (Rezipienten).42 Unreflektiert bleibt vor allem das gerade jenseits des Theaters wichtige und immer wichtiger werdende Verhältnis von Wahrnehmung und Handlung bzw. das Verständnis von Wahrnehmung als Handlung und des Wahrnehmenden als Akteur. Dem Begriff der Wahrnehmung/des Wahrnehmenden sollte hier daher der spezifischere der Beobachtung/des Beobachters an die Seite gestellt werden. Grundsätzlich kann unter Beobachtung eine bestimmte Form der Wahrnehmung bzw. ein bestimmtes Wahrnehmen verstanden werden, nämlich Wahrnehmung als Handeln. Ein Beobachter ist demzufolge ein Wahrnehmungsakteur; er ist spezifisch wahrnehmungsmotiviert und in seinen entsprechenden Aktivitäten orientiert; er hat eine auf einen bestimmten Gegenstand, ein Thema, eine Frage gerichtete Aufmerksamkeit und ein Bewusstsein von seiner Aufmerksamkeit. Einen besonderen und besonders relevanten Fall, der auch in besonderer Weise auf ‚Aspekte‘ von Theatralität bezogen ist, bildet der strategische – und d.h. sich vorzugsweise (performativ) selbst verhüllende – Beobachter, der sich im Sinne seiner Zielsetzungen gerade nicht an dem orientiert, was ein Beobachteter ihm ‚vormacht‘, sondern nach möglichst unmanipulierbaren (unwillkürlichen) Haltepunkten und Aufschlüssen über Vorgegebenes und Vorgeführtes sucht. Hier liegt also – im Gegensatz zum Theater und zu vielen Situationen alltäglicher Interaktionstheatralität – ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten von Theatralität vor. So wie ein Performer – und in besonderer Weise ein strategischer Performer – ‚Eindruck machen‘ will, so will ein strategischer Beobachter, sei er Publikum oder nicht, ‚Eindrücke‘ unterlaufen oder zerstören und ‚Wahrheit machen‘, wenn auch nur solche, die ihn zu seinem Ziel führt. Ein strategischer Beobachter ist also ein spezifischer Informationssammler und zugleich ein Informationsbewerter. Wahrnehmung/Beobachtung ist in diesem Fall mit bewusster, gezielter und reflexiver Einschätzung, mit Beurteilung und damit auch mit der Voraussetzung von (habitueller) Urteilsfähigkeit verbunden. Demgegenüber ist die nicht-strategische Wahrnehmung bzw. Beobachtung, z.B. eines Theaterstücks oder eines Medienerzeugnisses, zwar auch spezifisch interessiert, fokussiert und voraussetzungsvoll, aber weder ist sie darauf aus, etwas Verdecktes herauszufinden, noch ist sie darauf angewiesen, sich selbst zu verdecken. Vielmehr richtet sich das kognitive Handeln in diesem Fall ganz offen darauf, die Partizipation an einem sozialen Geschehen, Tatbestand oder Ereignis (z.B. im Dienst subjektiver Gratifikation) zu optimieren. Mit dem Begriff der Wahrnehmung wird auch der hier evident wichtige Begriff des Publikums problematisch bzw. differenzierungsbedürftig. Ein Publikum ist zunächst als der aktuell oder zukünftig wahrnehmende/beobachtende oder für Wahrnehmungen/Beobachtungen vorgesehene Adressat einer Inszenierung und Performanz/Performance zu verstehen. In diesem Sinne gibt es natürlich sehr unterschiedliche Publika und Publikumstypen: alltägliche Interaktionspublika, Organisationspublika, Medienpublika u.s.w. 42 Wahrnehmender kann man ja in den verschiedensten ‚Positionen‘ sein: legitimer- oder illegitimerweise, als verstehender Adressat einer Mitteilung, als zufälliger Rezipient von Mitteilungen, ‚Reizen‘ und ‚Eindrücken‘ der verschiedensten Art, als verhüllt oder unverhüllt nachforschender Beobachter.
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Ein zentraler Punkt, der zentrale Unterschiede macht, ist in diesem Zusammenhang das Ob eines Publikumsbewusstseins auf der Seite des oder der Adressaten. Im Falle des Theaterpublikums und theateranaloger Publika ist die ‚Situationsdefinition‘ normalerweise klar. Die theatralen Akteure richten sich auf ein und an ein Publikum, das sich selbst als Publikum, als Adressat einer (inszenierten) Performance, versteht. In diesem Fall ist das Publikum also eine Klasse von Beobachtern, und zwar eine ‚natürliche‘ Ansammlung von Menschen bzw. eine Gruppe, die beobachten soll und beobachten will, was ihr vorgeführt wird. In anderen Fällen, speziell im Kontext medialer Kommunikation, ist die Situation heterogener und komplexer. So produziert die (mediale) Werbung zweckgerichtete Inszenierungen und Performances für ein erst durch entsprechende Beobachtungen und Beurteilungen konstruiertes und definiertes ‚künstliches‘ Publikum, das sich über das Ob und Was seiner ‚Rolle‘ durchaus nicht immer im Klaren ist und sein soll. Oder man nehme das Beispiel der politischen Parteien, die ihre potentielle Wählerschaft als Publikum bzw. als ein Ensemble von Publika identifizieren und (mehrfach-)adressieren, z.B. über die Performanz politischer Entscheidungen43. In diesen Fällen sind die adressierten Publika vielfach bloß Wahrnehmende oder Beobachter, aber nicht Wahrnehmende oder Beobachter dessen, was ‚eigentlich vorgeht‘. Ein weiterer Punkt ist hier – wiederum im Unterschied zur Theatersituation – von Bedeutung: (Massen-)Mediale Performanzen können gleichsam an ihrem Publikum (oder ihren Publika) vorbeilaufen. Sie werden regelmäßig nicht in dem geplanten oder erforderlichen Umfang oder (Sinn-)Verständnis wahrgenommen. Und umgekehrt werden sie typischerweise auch von nicht-adressierten Rezipienten (auf je besondere Weise) wahrgenommen bzw. beobachtet. Dieses und jenes ‚Vorbeilaufen‘ ist natürlich heute – bei zunehmendem Aufkommen und zunehmender Diversifikation von medialen Performanzen und Rezipienten – mehr denn je der Fall und mag als eine Form von Enttheatralisierung verstanden werden.
2.5.2 Wahrnehmungen und (Um-)Deutungen durch Medienpublika: Rahmen und Rahmungen Heutige (Massen-)Medienpublika sind, wenn man Newcomb und Hirsch folgt, das Ziel von insbesondere professionellen ‚Symbolverkäufern‘, die sich mit entsprechenden (‚gefälligen‘) Produkten so an sie richten, dass diese Produkte systematisch viel mit dem Sinn des jeweils anvisierten Publikums zu tun haben. Das heißt aber nicht, dass Medienprodukte von ‚ihrem‘ Publikum – und erst recht von nicht-intendierten Wahrnehmenden/Beobachtern – ebenso oder auch nur tendenziell so ‚dekodiert‘ werden, wie sie für ihr Publikum ‚enkodiert‘ worden sind, und zwar selbst dann nicht, wenn die Medienproduzenten ihr Publikum richtig identifizieren und bezüglich seiner Dispositionen richtig ‚lesen‘. Im Hinblick auf „Fernsehtexte“ stellt Werner Holly grundsätzlich fest: Die Rezipienten und Rezipientinnen sind alles andere als Sklaven eines Fernsehtextes mit einer einzigen Lesart. Wie genau diese eigenständigen Rezeptionsweisen und Deutungen verlaufen, mit welchen Faktoren des situationellen und subkulturellen Kontextes sie zusammenhängen, davon wissen wir allerdings kaum etwas (Holly 1995: 121).
43 Das meint auch politische Entscheidungen als Performanz.
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Fragt man in diesem Zusammenhang zur Grundlegung letztlich unverzichtbarer empirischer Untersuchungen nach entsprechenden Ansätzen, nach Ansätzen also, die von einer Vielfalt von Lesarten, von situationellen und subkulturellen Kontextabhängigkeiten der Medienrezeption und von aktiven Medienrezipienten (rezeptiven Medienakteuren) ausgehen, dann ist neben den breiten Forschungstraditionen des Symbolischen Interaktionismus‘ und der Cultural Studies (vgl. Hepp 1999; Hepp/Winter 2003) wiederum an Goffmans Rahmen-Analyse (1977b) zu denken (s.o.). Diese hat in der Medien- bzw. Medienkulturforschung zwar schon häufig Anwendung gefunden, ihre systematische Bedeutung und Anschlussfähigkeit ist aber in dem hier thematischen Kontext noch nicht differenziert herausgearbeitet worden. Der kultur- bzw. wissenssoziologische Ansatz der Rahmen-Analyse erscheint hier zunächst insofern besonders brauchbar, als er eine analytische Lesart von praktischen Lesarten (Rahmen) sowohl auf der Ebene der ‚Enkodierung‘ (Medienproduktion) als auch auf der der ‚Dekodierung‘ (Medienrezeption) darstellt. Allerdings steht bei Goffman generell die sinnstrukturelle ‚Grammatikalität‘ der Wahrnehmung und (d.h.) Interpretation (Rahmung) im Vordergrund. Die Praxis der Interpretation (nicht nur von ‚Medientexten‘) ist für ihn zunächst eine Frage der jeweils anwendbaren gruppen- oder subkulturspezifischen Rahmen, aus denen sich je besondere Interpretationspotentiale und damit Wirklichkeits- oder sogar Weltbilder ergeben. Forschungsprogrammatisch heißt das letztlich zu versuchen, sich „ein Bild von dem oder den Rahmen einer Gruppe, ihrem System von Vorstellungen, ihrer Kosmologie zu machen (…), obwohl das ein Gebiet ist, das auch genaue Analytiker gewöhnlich gern an andere weitergereicht haben“ (Goffman 1977b: 37).44 Neben der Ebene der Rahmen, Rahmenschätze und Rahmenordnungen, d.h. der objektiven Sinnstrukturen, geht es Goffman – und das markiert die Metapher des Rahmens vor allem dadurch, dass sie gleichzeitig Geschlossenheit und Offenheit45 signalisiert – um die Praxis der Rahmenanwendung, der Rahmung, und zwar der Rahmung in der Wahrnehmung und Beobachtung einerseits und im performativen Handeln andererseits. Für Goffman ist die Rahmung eine eigenständige Ebene, die als Ebene von Praxis im Unterschied zur Sinnstrukturebene mit typischen Anpassungs- und Konkretionserfordernissen, Mehrdeutigkeiten, Ambiguitäten und Unsicherheiten, Problemen und Störungen verbunden ist. Diese Ebene verweist damit auf (gruppen-)kulturspezifisch geprägte und vielseitig kompetente bzw. urteilsfähige (Inter-)Akteure, die in verschieden gerahmten situationellen Kontexten stehen und unter den jeweils gegebenen Bedingungen kognitiv und performativ zu handeln haben. Innerhalb der Spielräume der Rahmenordnungen und der situativen Rahmungsbedingungen entfaltet sich aus Goffmans Sicht eine gewisse Rahmungsautonomie des Wahrnehmenden, der in der Wahrnehmung und im Umgang mit dem Wahrgenommenen durchaus als aktiv und als Akteur erscheint. Dies zeigt sich bereits auf der Ebene der unmittelbaren (interpersonalen) Interaktion, wo der ‚informationellen Selbstbestimmung‘ des Wahrgenommenen nicht nur durch die objektiven Rahmenordnungen, sondern auch durch die Rahmungen des
44 Hier gibt es Parallelen und Anschlussfähigkeiten an mehr oder weniger benachbarte Ansätze, insbesondere die, die unter den Begriffstiteln Deutungsmuster, Semantik, Habitus, Mentalität und kognitiver Stil laufen. 45 Im Punkt der ‚Offenheit‘ gibt es eine gewisse Parallelität zum Symbolischen Interaktionismus und zu den Cultural Studies. Im Vordergrund dieser Forschungstraditionen stehen ja Kontingenzen und Spielräume der Bedeutungskonstitution, speziell im Prozess der Aneignung medialer ‚Texte‘.
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Wahrnehmenden Grenzen gesetzt sind. In der Kontinuität seiner am Theatermodell orientierten Unterscheidung zwischen dem Eindruck, den jemand zu ‚machen‘ versucht, und dem Ausdruck, den er ‚ausstrahlt‘, kommt Goffman in der „Rahmen-Analyse des Gesprächs“ zu dem Ergebnis: … bei der – wenn auch noch so genauen – Wahrnehmung dessen, was der Sprecher hervorrufen möchte, kann sich der Zuhörer dem Berührtsein entziehen und statt dessen das Gehörte hinaufmodulieren, es in ein Ganzes auflösen, er kann die Aussage allein von der Seite nehmen, daß sie lediglich eine versteckte Selbsterhöhung ist, oder ein müder Versuch der Schmeichelei, oder die x-te Wiederholung einer Geschichte, die man von dem Sprecher schon oft gehört hat, oder ein interessanter Versuch, sich einen vornehmen Akzent zuzulegen. (...) So kann den rasch wechselnden Rahmen in jemandes Rede ein weiteres System von Rahmenwechseln überlagert sein, die der Zuhörer hereinbringt – manchmal auch nur für sich selbst. Was der Polymorphie die Perversion hinzufügt (Goffman 1977b: 588).
Diese Möglichkeit der ‚Perversion‘, die Goffman für den Zuhörer im unmittelbaren Interaktionsprozess feststellt, kann generalisiert und auch auf die Ebene der Medienrezeption übertragen werden. Auch Medienrezipienten beziehen sich auf Ströme rasch wechselnder Rahmen, denen sie innerhalb ihrer je eigenen Rahmenhaushalte ihr eigenes System von Rahmenwechseln überlagern können oder müssen – mit der Folge von signifikanten Bedeutungs- und Wirklichkeitsunterschieden. Rahmungssubjekte sind m.a.W. auch in der Medienwahrnehmung jederzeit und an jeder Stelle in der Lage, hinauf- oder herunterzumodulieren; sie sind in – allerdings strukturierten – Spielräumen, eben innerhalb der ihnen verfügbaren Rahmen, aktiv und beweglich; sie sind auch durchaus in der Lage, subversiv oder sogar als ‚semiologische Guerilla‘ (Eco) zu operieren, die sich weit von gemeinten oder normierten Lesarten entfernen kann.46 Wahrnehmung, speziell Medienwahrnehmung, ist also nach der Lesart der RahmenAnalyse zunächst und primär durch die Rahmen bestimmt, die die Wahrnehmenden in ihrer Wahrnehmung zugrunde legen bzw. zugrunde legen können. Auf dieser Ebene geht es um Rahmenordnungen und um Rahmenwissen, das sozial differenziert ist und sich in sozial differenzierten Sozialisationsprozessen und Sozialisationsschicksalen teilweise habituell verfestigt. Heute (in einer höchst differenzierten Gesellschaft) gibt es natürlich eine historisch einmalige Pluralität von Rahmen, Rahmenordnungen und Beständen von Rahmenwissen, die als mehr oder weniger stabile „Optiken“ (Bourdieu 1998)47 Wahrnehmungen und daran anschließendes Handeln bedingen und steuern. Die ‚Pragmatik‘ der Rahmung, die tatsächliche Rahmungspraxis, ist also mindestens doppelt präkonditioniert: durch die objektiven Rahmenordnungen und durch das objektive Rahmenwissen der Akteure. Die individuelle Autonomie und Freiheit der Rahmung ist insofern relativ, begrenzt und sekundär. Am geringsten sind die Spielräume und am größten sind die Konsenserfordernisse der Rahmung auf der Ebene der alltäglichen Lebensführung bzw. Interaktion, deren Rahmenord46 Ein bemerkenswertes Beispiel für eine subversive Form von ‚Rahmungsperversion‘ jenseits der von Goffman fokussierten Interaktionsebene findet sich in der Sadomasochismus-Studie von Wetzstein u.a. Sie berichten von einem pornographieinteressierten Sadomasochisten, der „regelmäßig den neuesten Report der ’Bundesprüfstelle für jugendgefährdete Schriften‘ liest, um sich so über attraktive Angebote auf dem laufenden zu halten“ (Wetzstein u.a. 1993: 120). 47 Goffman (1977b) spricht ebenso metaphorisch von „Kameras“.
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nungen historisch tendenziell komplexer geworden sind und werden. Auf dieser Ebene ist eine gewisse Gemeinsamkeit des Rahmenwissens und Übereinstimmung der ‚Situationsdefinitionen‘ schon aus einfachsten Verständigungs- und Koordinationsgründen unverzichtbar. Wer etwa den Rahmen der Werbung nicht von dem der Nachrichten unterscheiden kann (und normalerweise tatsächlich richtig unterscheidet), dürfte heute kaum ‚gesellschaftsfähig‘ sein. Gleichzeitig, neben diesen ‚pragmatischen‘ Rahmen und Rahmungen, nimmt aber auch die fiktionale Rahmenkomplexität und Rahmungsfreiheit in diversen interaktions- und medientheatralen Kontexten – vom ‚Psychodrama‘ der Gruppentherapie bis zum Computerspiel – dynamisch zu. Auch in diesen Zusammenhängen kommt es allerdings darauf an, dass die Akteure im wachen Bewusstsein objektiver „Rahmenränder“ (Goffman 1977b) handeln. Fehlrahmungen in dieser Hinsicht würden leicht in die Psychiatrie führen.
2.6 Figurationssoziologie, Theatralität und (Ent-)Theatralisierung Meine bisherigen Überlegungen bewegten sich in der Absicht soziologisch notwendiger und weiterführender Differenzierungen im Wesentlichen innerhalb der Grundfigur des FischerLichteschen Theatralitätsbegriffs bzw. der entsprechenden ‚Aspekte‘. Ich möchte nun über die Grenzen dieses und jedes ‚Mikro(soziologischen)-Ansatzes‘ (dazu meine Einführung) hinausweisen und behaupten, dass Norbert Elias mit seiner Figurationssoziologie und Pierre Bourdieu mit seinem figurationssoziologisch lesbaren Feld/Habitus-Ansatz48 in diesem Zusammenhang als weiterführende Perspektiven besonders geeignet und nützlich sind. Eine an Elias und Bourdieu orientierte Figurationssoziologie kann hier aus zwei Gründen als eine Art Rahmen und Schlüssel fungieren: Zum einen besitzt sie bezüglich der Realitäten der Theatralität, und zwar, wie zu zeigen ist, gerade bezüglich dieser Realitäten und ihrer Entwicklung (Theatralisierung/Enttheatralisierung), eine spezifische, ihrer Perspektive verdankte Aufklärungskraft. Zum anderen kann sie das Theatralitätskonzept und benachbarte Konzepte sowie ganze Ansätze, insbesondere den Goffmans49, mit einem doppelten theoretischen Gewinn integrieren: Eine derart ‚angereicherte‘ Figurationssoziologie entwickelt nämlich die integrierten Deutungsmittel und zugleich sich selbst weiter. Und damit wiederum verspricht sie das qualifizierteste Instrumentarium für die analytische Erforschung der Realitäten der Theatralität. 48 Zum Ansatz der Figurationssoziologie vgl. Elias 1980a, b, 1981, 2006; zu Bourdieus Feld/Habitus-Ansatz vgl. Bourdieu 1976, 1982, 1987. 49 Von den vielen hier gemeinten konzeptuellen Komponenten des Goffmanschen Ansatzes seien die vier vielleicht wichtigsten genannt: 1. Die (Sozial-)Raumsoziologie. Im Bezug auf Theatralität sind Goffmans klassische Konzepte der Region/Regionalisierung, der (Vorder-, Hinter-)Bühne (1969) und des Territoriums (1974) von besonderer Bedeutung. Goffman liefert in diesem Zusammenhang auch eine auf Mikro- wie Makroräume beziehbare Ritualtheorie des Raumes (vgl. Willems/Eichholz 2008). 2. Goffmans Soziologie sozialer Anlässe (vgl. 1971a, b). Sie ergänzt einerseits seinen ‚dramaturgischen Ansatz‘ und seine Raumsoziologie und fundiert andererseits kulturwissenschaftliche Konzepte wie Cultural Performance (Singer 1972) und Event (vgl. Gebhardt u.a. 2000). 3. Goffmans ritualtheoretisch ausgerichtete Version des Imagebegriffs (vgl. 1971a). Sie steht neben anderen Varianten des Imagebegriffs, die sich auch auf (theatrale) ‚Aspekte‘ wie Publikumswahrnehmung, Korporalität, Performance, Aura und Charisma beziehen. 4. Goffmans Konzept des strategischen Handelns bzw. der strategischen Interaktion (vgl. 1981b). Im Hinblick auf symbolische Handlungs- und Ordnungsaspekte überschneidet es sich mit dem ‚dramaturgischen Ansatz‘ und dem Imagebegriff.
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Grundsätzlich sprechen hier im Hinblick auf empirische Forschung und auf Theoriebildung folgende Punkte für die Zugrundelegung der Figurationssoziologie als allgemeinsten Theorierahmen: – ihre prinzipielle Überwindung der Trennung von ‚Mikro-‘ und ‚Makrosoziologie‘, – ihre systematisch historische und differenzierungstheoretische Anlage, – ihre Inklusion aller sozialen Ordnungsebenen und Ordnungsformen, – ihre Fokussierung von symbolischer bzw. ritueller Ordnung, – ihr habitustheoretisch angelegter Akteursbegriff, – ihre Materialitäts-, Körper- und Raumbezogenheit bzw. sozialräumliche Dimension. Im Folgenden skizziere ich die ‚Architektur‘ der Ansätze von Elias und Bourdieu in dem besagten Sinne. Es geht mir vor allem um die Verwandtschaft und Komplementarität der Perspektiven und Konzepte dieser Ansätze sowie ihre entsprechende Eignung, Realitäten der Theatralität aufzuklären und die Begrifflichkeit der Theatralität zu integrieren und zu instruieren. Umgekehrt sollte der (Mehr-)Wert mikrosoziologischer ‚Dramatologie‘ für eine Figurationsoziologie der Moderne bzw. Gegenwartsgesellschaft bereits deutlich geworden sein. Damit – mit diesem soziologischen Instrumentarium – besteht und entsteht auch eine Grundlage nicht nur für die (Zeit-)‚Diagnose‘ von Prozessen und Wandlungen, die etwas mit Theatralität zu tun haben, sondern auch für eine entsprechende (Gegenstands-)Theoriebildung. So mag z.B. die Rede von der ‚Theatralisierung der Lebenswelt‘ spezifiziert und relativiert werden.
2.6.1 Figurationssoziologie Elias geht mit seiner „Soziologie der Figurationen“ von einem bestimmten methodologisch und programmatisch folgenreichen Verständnis des Sozialen aus, dem die (Jahrzehnte später entwickelten) Vorstellungen Bourdieus sehr nahe kommen. Es geht Elias grundsätzlich um das Bild von sozialen Beziehungen zwischen Menschen bzw. Akteuren, die „kraft ihrer elementaren Ausgerichtetheit, ihrer Angewiesenheit aufeinander und ihrer Abhängigkeit voneinander auf die verschiedenste Weise aneinander gebunden sind und demgemäß miteinander Interdependenzgeflechte“ bilden (Elias 1981: 12). Der Begriff der Figuration zielt in diesem Sinne auf diverse soziale (Beziehungs-)Ordnungen und deren „ganz bestimmte Gestalt. Das ist es, was der Begriff der Figuration zum Ausdruck bringt“ (Elias 2006: 74). Die Bandbreite der damit gefassten sozialen Gebilde ist in Inhalt sowie in struktureller Form und Komplexität höchst unterschiedlich. Man kann den Begriff „auf relativ kleine Gruppen ebenso wie auf Gesellschaften, die Tausende oder Millionen interdependenter Menschen miteinander bilden, beziehen. Lehrer und Schüler in einer Klasse, Arzt und Patienten in einer therapeutischen Gruppe, Wirtshausgäste am Stammtisch, Kinder im Kindergarten, sie alle bilden relativ überschaubare Figurationen miteinander, aber Figurationen bilden auch Bewohner eines Dorfes, einer Großstadt oder einer Nation, obgleich in diesem Falle die Figuration deswegen nicht direkt wahrnehmbar ist, weil die Interdependenzketten, die die Menschen hier aneinander binden, sehr viel länger und differenzierter sind“ (Elias 1981: 143). Mit seiner Abstraktheit und dadurch, dass er sich gleichermaßen und gleichzeitig auf Strukturen und (historische) Prozesse bezieht und beziehen lässt, trifft der Figurationsbegriff
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am besten (besser als Begriffe wie System oder Institution) die Realität der sozio-kulturellen Differenzierung, d.h. zunächst die differentielle Komplexität und die Diversifikation von sozialen Beziehungs- und Verflechtungstypen, in denen Akteure stecken und handeln. Ebenso gut trifft der Figurationsbegriff die Bildung und Wandlung (Verflüssigung) von immer unterschiedlicher fest gefügten Typen sozialer Beziehungen und Ordnungen (Beziehungsgeflechte), speziell die heute mehr denn je ‚im Fluss‘ befindlichen Netzwerke und die wechselhaften Beziehungs- und Akteurskonstellationen innerhalb strukturierter Beziehungsgefüge, wie sie etwa formale Organisationen50 darstellen. Gleichzeitig und in unabtrennbarer Verbindung mit den sozialen Ordnungsebenen der Figurationen bezieht die Figurationssoziologie den Menschen in einem ‚ganzheitlichen‘ und zugleich vielseitig differenzierten Sinne ausdrücklich in die Begriffsbildung ein (vgl. Elias 2006: 73). Entsprechend diesem Ansatz wendet sich Elias wie auch Bourdieu programmatisch gegen herkömmliche ‚disziplinäre‘ Unterscheidungen und Trennungen verschiedener ‚Dimensionen‘ des Menschen und des menschlichen Daseins in den ‚Menschenwissenschaften‘. Mit dem Figurationsbegriff, den er ein „einfaches begriffliches Werkzeug“ nennt (1981: 141), will Elias aber vor allem „zwischen den zwei großen Gefahren der soziologischen Theoriebildung und der Menschenwissenschaften überhaupt hindurch(steuern), zwischen der Gefahr von einem gesellschaftslosen Individuum, also etwa von einem ganz für sich existierenden Handelnden auszugehen, und der Gefahr, ein ‚System‘, ein ‚Ganzes‘, kurzum eine menschliche Gesellschaft zu postulieren, die gleichsam jenseits des einzelnen Menschen, jenseits der Individuen existiert“ (Elias 2006: 74). Die Schöpfung des Figurationsbegriffs hat also auch an dieser Stelle sozusagen einen sozialphilosophischen, methodologischen und programmatischen Hintergrund. Sie geht gegen den „gesellschaftlichen Zwang, so zu sprechen und zu denken, als ob ‚Individuum‘ und ‚Gesellschaft‘ zwei verschiedene und überdies auch noch antagonistische Figuren seien...“ (Elias 1981: 140)51. Das Bild und „Selbstbild vom ‚Ich im verschlossenen Gehäuse‘, das Bild des Menschen als ‚homo clausus’“ (ebd.: 141), kann und soll in diesem Rahmen soziologisch nicht verdoppelt, sondern vielmehr thematisiert und erklärt werden: aus Figurationen. Auf der Ebene des Menschen bzw. des menschlichen Akteurs geht es Elias ebenso wie auf der sozialen ‚Beziehungsebene‘ um ein möglichst komplexes Gesamtbild von Aspekten und Zusammenhängen. D.h. nicht nur, dass er alle Seiten des Menschen, neben den kognitiven und mentalen auch die körperlichen (korporalen) und emotionalen Seiten, in seine Untersuchung einbezieht. Vielmehr betrachtet er diese Aspekte auch in ihren genetischen, praktischen und funktionalen Zusammenhängen mit den jeweiligen Figurationen, die er wiederum in historisch-differenzierungstheoretische Kontexte stellt. Die Gesellschaft bzw. Figuration erscheint dabei als ein Habitusgenerator und Habitusregenerator: Sie braucht, bildet und regeneriert insbesondere ein ihren symbolischen Ordnungen und strukturellen Verflechtungslogiken entsprechend orientiertes Individuum mit
50 Allerdings bleibt dieser wichtigste soziale Figurationstyp der modernen Gesellschaft bei Elias unterbestimmt (vgl. Kiss 1991). 51 Vgl. dazu Mongardini (1992), der Elias’ figurationssoziologisches Denken zu Recht vor allem in die Tradition von Georg Simmel stellt.
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einem „bestimmten Schema der Selbstregulierung“ (Elias 2006: 74) und der Emotionalität52. Dieser Verfassung des Individuums, die auch den ‚Aspekt‘ der Korporalität betrifft, aber weit über ihn hinausgeht, hat sich Elias unter dem Titel Zivilisation gewidmet, und er hat sie in seinen Untersuchungen zu seiner zentralen Sache gemacht. Zivilisation ist für ihn ein komplexes, die Identität des Individuums im Kern bestimmendes Moment von mehr oder weniger langfristigen „Figurationsprozessen“ (Elias 1981: 144). Zu den Figurationen und ihrer Praxis gehören für Elias immer und gerade auch die symbolisch kontextierten und geladenen Emotionen und die „emotionalen Bindungen der Menschen aneinander“ (1981: 149). In erklärter Frontstellung gegenüber den soziologischen ‚Systemtheorien’53, die „die Unabhängigkeit der menschlichen Persönlichkeitsstruktur relativ zu der Gesellschaftsstruktur einfach als Postulat“ annehmen (ebd.: 146), betont Elias nicht nur grundsätzlich die sozusagen dialektische Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern auch die immanente Präsenz und Relevanz des ‚Bio-Psychischen‘, nämlich des Emotionalen, in der Gesellschaft bzw. ihren Figurationen. In diesem Zusammenhang verwendet er, ähnlichen Begriffsschöpfungen Bourdieus vorausgehend, den für seine (Komplex-)Perspektive charakteristischen und zentralen Begriff der Valenz und stellt fest: Diese emotionalen Bindungen der Menschen aneinander (...) haben für die Interdependenz der Menschen keine geringere Bedeutung als die (…) Bindungen auf Grund zunehmender Spezialisierung. In der Tat sind die verschiedenen Typen der affektiven Bindungen unabtrennbar. Die emotionalen Valenzen, die Menschen, sei es direkt in ‚face-to-face’-Beziehungen, sei es indirekt durch die Verankerung in gemeinsamen Symbolen, aneinander binden, stellen eine Bindungsebene spezifischer Art dar (Elias 1981: 150).
In dieser Feststellung kann auch im Bezug auf die soziale (symbolische) Realität der Theatralität ein wichtiger Hinweis gesehen werden. Verschiedene Formen von Theatralität – nicht nur Interaktionstheatralität, sondern gerade auch Medientheatralität – besitzen Valenzen oder lassen sich als Ausdruck, ‚Medium‘ oder/und (Re-)Generator von Valenzen verstehen. Ein ‚theatrologischer‘ Blick auf Theatralität tendiert zumindest dazu, diese ‚Dimension‘ zu ignorieren oder zu vernachlässigen.54 Aus figurationssoziologischer Sicht ist der Mensch spezifisch (emotional/valent) Erlebender und Erlebter und zugleich immer auch spezifischer Akteur. Als solcher stellt er in gewisser Weise eine bivalente Größe dar. Einerseits ist er ein ‚Erzeugnis‘ bestimmter sozialer bzw. sozialisatorischer Figurationen und bleibt immer von bestimmten Figurationen abhängig und in seinen Möglichkeiten bedingt und eingeschränkt. Andererseits kann er und wird er normalerweise je nach der „Eigenart der betreffenden Figuration“ (Elias 2006: 75) und je nach der Relation von Figuration und eigenem Habitusensemble einen „Freiheitsspielraum“ (ebd.) besitzen. Dieser ermöglicht es ihm, innerhalb von Figurationen planend, wählend und gestaltend zu operieren, aber auch „sich von einer bestimmten Figuration abzulösen und sich
52 Dieses Schema wurzelt also gleichermaßen und gleichzeitig im sozialisierten Individuum und in der Gesellschaft (Figuration). 53 Elias (1978) meint damit ein breites Spektrum, das von Marx bis Parsons reicht. 54 Goffman ist (auch) hier Ausnahme und Wegweiser, insofern er die Emotionalität der Theatralität und gerade auch jene von Elias gemeinte soziale Bindungsebene systematisch ins Auge und ins Konzept fasst (vgl. z.B. 1971a, b).
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in eine andere einzufügen“ (ebd.: 75). Je nach Figurationstyp und figurativer Position bzw. Kapitalausstattung tritt der Akteur bei Elias wie bei Bourdieu sogar als ein maßgeblicher Faktor in Erscheinung – nicht nur für das Geschehen im Feld, sondern auch für die Entwicklung des Feldes selbst, nämlich insofern diese sozusagen eine Funktion von ‚Spielverläufen‘ bzw. kämpferischen Auseinandersetzungen ist.55 Welche ‚Rolle‘ der Akteur in konkreten Figurationen, auf Handlungsfeldern – hier und jetzt wie langfristig – spielen kann und tatsächlich spielt, ist nicht erst für Bourdieu56, sondern schon für Elias wesentlich eine Habitusfrage. Als ‚praxeologischer‘ (Kompetenz-)Begriff steht der Habitusbegriff durchaus (und schon sehr früh) im Zentrum der Figurationssoziologie (vgl. Elias 1983, 1980a, b, 1990). Mit ihrem entsprechenden Verständnis von Verhaltens- und Lebensstilen57, Ritualen und Strategien sowie mit ihrem Begriff von Habitus als (sozial ungleich verteiltem und ‚spielbestimmendem‘) Kapital weist die Figurationssoziologie – gerade in Verbindung mit den parallelen und komplementären (Feld/Habitus-)Theorievorstellungen Bourdieus – sozusagen im sachlichen Kernbereich des Theatralitätsansatzes systematisch über diesen bzw. dessen Akteurs- und Praxisvorstellung hinaus.
2.6.2 Figurationssoziologie und Bourdieus Feld/Habitus-Ansatz Auch Bourdieu entwickelt, nicht nur im gedanklichen Grundansatz sondern auch in vielen einzelnen begrifflichen Komponenten der Eliasschen Soziologie sehr ähnlich58, eine Theorie, die auf die sozialen Beziehungsgefüge von Menschen/Akteuren, ihre symbolischen, rituellen und strategischen ‚Spiele‘ und die derart aufeinander bezogenen Menschen/Akteure selbst abzielt59. Wie Elias denkt auch Bourdieu prinzipiell in relationalen und ‚dialektischen‘ Kategorien, und zwar wie jener in Kategorien von Zusammenhängen zwischen ‚Sozio-‘ und ‚Psycho-Logik‘, „Sozio-“ und „Psychogenese“ (Elias). Dabei geht es auf der ‚menschlichen Seite‘ wie bei Elias schwerpunktmäßig sowohl um das Bewusstsein bzw. die Mentalität als auch um den Körper – und dies sowohl auf der Ebene der sozialen Körper-Realität und Körper-Theatralität (Korporalität) als auch auf der Ebene ‚innerer Tatsachen‘ (insbesondere geschmacklicher und moralischer Gefühle und Affekte), die – mit höchst relevanten Implikationen für Theatralität – als soziale ‚Kräfte‘ in sozialen Beziehungen und Interaktionen wirken. Eine Schlüsselrolle spielen für und bei Bourdieu diejenigen Figurationen, die er als „Felder“ bezeichnet. Auch Elias spricht des öfteren von Feldern, arbeitet den Feldbegriff aber – ähnlich wie den von ihm verwendeten Habitusbegriff – im Unterschied zu Bourdieu nicht 55 Ausgehend von entsprechend habituell disponierten Akteuren beschreibt Bourdieu z.B. die Entwicklung des literarischen Feldes hin zur Autonomie als (von Akteuren gekämpfter) „Kampf um die Kontrolle über den Sinn und die Funktion künstlerischer Tätigkeit“ (1999: 134). 56 Bekanntlich hat er den Habitusbegriff in der jüngeren Soziologie prominent gemacht. 57 Vgl. dazu meinen folgenden Aufsatz. 58 Die begriffliche Parallelität zwischen Elias und Bourdieu reicht vom Schlüsselbegriff des Feldes über den des Habitus bis hin zu den Begriffen des Rituals, des (Lebens-)Stils und der Distinktion. Der Theatralitätsbezug dieser Begriffskonfiguration liegt mehr oder weniger auf der Hand. 59 Bourdieu wendet sich damit auch wie Elias gegen traditionelle Dualismen, gegen die Entgegensetzung von Individuum und Gesellschaft, Objektivität und Subjektivität, Handlung und Struktur u.s.w.
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systematisch aus.60 Der Sache nach lässt sich hier aber eine sehr weitgehende Ähnlichkeit des Denkens und des Blicks feststellen. Mit Bezug auf Elias’ Figurationsanalyse der „höfischen Gesellschaft“ gibt Bourdieu selbst den deutlichsten Hinweis auf die enge Verwandtschaft von Feld- und Figurationskonzept: „Der Fürstenhof, so wie ihn Elias beschreibt, stellt ein eindrucksvolles Beispiel für das dar, was ich Feld nenne…“ (Bourdieu 1989: 35). Der Feldbegriff meint bei Bourdieu allerdings nicht nur mehr oder weniger ausgedehnte ‚Lebenswelten‘ von der Art der wesentlich auf persönliche Beziehungen gegründeten ‚höfischen Gesellschaft‘, sondern auch jenseits dieser sozialen Ordnungsebene (Systemebene) liegende Bereiche, die sich im Zuge entsprechender funktionaler (Aus-)Differenzierungsprozesse entwickeln und schließlich als Sinn- und Handlungssphären ein Höchstmaß an Besonderheit, Autonomie und Komplexität gewinnen. Bourdieu sieht, konzipiert und untersucht – darin über Elias hinausgehend und ähnlich wie Luhmann – eine ganze Reihe solcher gegenwartsgesellschaftlichen Felder – vom politischen bis zum künstlerischen, vom wirtschaftlichen bis zum wissenschaftlichen, vom juristischen bis zum religiösen, vom sportlichen bis zum journalistischen Feld. Dabei betont er – wiederum ähnlich wie Luhmann – die prinzipielle, aber auch relative Eigensinnigkeit, Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit dieser Felder. Ebenso wie Elias bringt Bourdieu die (feldspezifische) Logik sozialer Praxis, in gewisser Weise in der Nähe der Theatermodells, auf den metaphorischen Begriff des Spiels (vgl. Bourdieu 1998, 1989). In einem grundsätzlichen perspektivischen Sinn entfalten Bourdieu und Elias die Vorstellung von Spielfeldern, auf denen mit der Implikation von Kooperation und Solidarität wie von Konkurrenz und Kampf bestimmte Spiele mit bestimmten Spielregeln, Spielern, Ausrüstungen, Einsätzen, Trümpfen, schicksalhaften Spielverläufen, Gewinnen, Verlusten u.s.w. gespielt werden. Der Akteur wird dementsprechend nicht isoliert (‚homo clausus‘), sondern als ein Akteur ‚im Spiel‘ betrachtet – in einem Spiel, das ebenso ihm gegenüber eine „relative Autonomie“ hat wie der Akteur dem Spiel gegenüber (Elias 2006: 75). Fischer-Lichtes Theatralitätsverständnis, aber auch das (implizitere) Goffmans, ist mit dieser Sozial- bzw. Praxisphilosophie einerseits durchaus vergleichbar. Auch Fischer-Lichte und Goffman unterstellen sozusagen Spiele, zu spielende und gespielte Spiele61 und Spieler, die im Zusammen- und Gegenspiel mit anderen Spielern den Verlauf und den Ausgang des Spiels mehr oder weniger beeinflussen. Im Zentrum des jeweiligen Spiels stehen aus Elias’ wie aus Bourdieus Sicht andererseits nicht, wie eine ‚theatrologische‘ Perspektive nahe legt, die ‚spielerischen‘ Aspekte der Inszenierung und der Aufführung, sondern objektive Kapitalund d.h. Machtverhältnisse aufgrund unterschiedlicher und asymmetrischer Positionen und Ressourcenverteilungen im (Spiel-)Feld. Die Eliasschen und die Bourdieuschen Akteure befinden sich in einem (vor-)strukturierten und vor diesem Hintergrund dynamischen und von ihren eigenen (Bemächtigungs-)Aktivitäten dynamisierten „Spannungsgefüge“ (Elias) von 60 Mit dem Konzept des Feldes, das in den soziologischen Diskursen der letzten Jahrzehnte zunehmend an Bedeutung gewonnen hat, befinden sich Bourdieu und Elias auch in einer mehr oder weniger weitgehenden perspektivischen Nähe zu anderen (wissens-)soziologischen Klassikern. Zu nennen sind die Institutionentheorie von Berger/Luckmann (1969), die Luhmannsche Systemtheorie mit ihrem Konzept des (funktionalen) „Subsystems“ und die Foucaultsche Diskurstheorie mit Konzepten wie „Spezialdiskurs“ (1991). 61 Im Sinne der Goffmanschen Differenzierung zwischen Rahmen und Rahmung kann man zwischen Spiel als Struktur (Regelsystem) und Spiel als Prozess (Spielverlauf) unterscheiden.
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Machtbeziehungen. „Im Zentrum der wechselnden Figurationen“ sieht Elias (1981: 142f.) „das Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der einen und bald mehr der anderen Seite zuneigt“. Genau in diesem Sinne definiert Bourdieu die Logik der Felder, wobei er den auch im Hinblick auf Theatralität treffenden und in einem grundsätzlichen Sinne instruktiven Begriff der Arena62 verwendet: Ein Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld – es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum – , und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein (Bourdieu 1998: 57).
Das Terrain der Theatralität, die symbolische Ordnung und (performative) Praxis, ist demnach alles andere als sozial(-strukturell) kontextlos und unbedingt; und damit ist es auch nicht unschuldig, sondern vielmehr eingebunden in und bestimmt durch soziale (Kapital-, Macht-) Strukturen, Funktionen und Interessen, die ‚auf dem Spiel stehen‘ und im ‚Spiel‘ umkämpft sind. Schon Elias zeichnet das Bild einer auf sozialen Ungleichheiten beruhenden und soziale Ungleichheiten (re-)produzierenden symbolischen und theatralen Ökonomie und Konkurrenzgesellschaft, in der der Aufstiegsorientierung der einen (unteren Positionen/Schichten) eine Absetzungsorientierung der anderen (oberen Positionen/Schichten) entspricht. Bourdieu gebraucht die Metapher des „Gravitationsfelds“, in dem „die Akteure (…) durch unüberwindliche Kräfte in eine fortwährende, notwendige Bewegung gezogen werden, um den Rang, den Abstand, die Kluft gegenüber den anderen aufrechtzuhalten“ (1989: 35). Es geht hier also – und an dieser Stelle liegen Anschlüsse an Goffman63 besonders nahe – um die historisch variierende, aber auch kontinuierende Funktion und den Wert der Distinktion, um mit symbolischen (Theatralitäts-)Mitteln ausgetragene und mit strukturellen Konsequenzen verbundene Bemühungen und Kämpfe um Geltung, Anerkennung und Überlegenheit.64 Das ‚Spielfeld‘ ist dabei auch, aber keineswegs bloß, die Bühne, auf der Interaktionen stattfinden, und der Akteur ist auch, aber keineswegs bloß, das Individuum auf, vor oder hinter der Bühne. Daß jede ‚Theatrologie‘ insofern, auch wenn sie sich auf die scheinbar ‚reinste‘ Theatralität bezieht, zu kurz greift, macht schon und gerade die Eliassche Figurationsanalyse der höfischen Gesellschaft und ihrer rituellen Theatralität (Etikette) klar: Elias erkennt in der „praktizierten Etikette“ nicht nur ‚Selbstdarstellungen‘ einzelner Höflinge oder Höflingsensembles, sondern eine „Selbstdarstellung der höfischen Gesellschaft“ (1983: 154). „In ihr stellt sich die höfische Gesellschaft für sich selber dar, jeder einzelne abgehoben von jedem anderen, alle zusammen sich abhebend gegenüber den Nicht-Zugehörigen und so jeder einzelne und alle zusammen ihr Dasein als Selbstwert bewährend“ (ebd.: 158). Die Realität der
62 Eine Arena ist ja gleichzeitig ein Schauplatz bzw. eine Bühne und ein Kampfplatz bzw. ein Wettkampfplatz. 63 Zu denken ist hier neben dem ‚dramaturgischen Ansatz‘ (1969) insbesondere an die ritualtheoretisch gerahmte Imagekonzeption Goffmans (1971a). 64 Vgl. dazu meinen folgenden Aufsatz.
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Theatralität entspringt demnach sozusagen der Figuration, die in diesem Fall ein komplexes Spiel innerhalb und jenseits von einzelnen Schauplätzen, Bühnen und Interaktionen umfasst, definiert und zu spielen zwingt. Aus der Sicht der Figurationssoziologie ist es also ein systematischer Fehler, in der Untersuchung von Theatralität den primären Fokus auf sie selbst bzw. die Inszenierung oder die Performanz zu legen. Statt Theatralität derart zu theatralisieren, kommt es figurationsanalytisch darauf an, Formen von Theatralität, wie etwa die höfische Etikette, so zu rekonstruieren, „daß es möglich wird, in ihnen Aufbau und Funktionsweise der (…) Figuration, aus der sie einen Ausschnitt darstellen, und damit zugleich die Charaktere und die Attitüden der Menschen, die sie mit einander bilden und durch sie geprägt werden, verständlich zu machen“ (Elias 1983: 126). Erst vor diesem Hintergrund, dem Hintergrund der Figuration(en), erschließt sich die konkrete historische Sozialität, die soziale Realität und d.h. auch die objektive und subjektive Funktionalität und Sinnhaftigkeit von Theatralität. So zeigt sich z.B. in der Figurationsanalyse der höfischen Gesellschaft, dass die Zeremonie des königlichen „lever“ (das morgendliche Aufstehen des Königs) nicht nur ein in ein spezifisches soziales Beziehungs-, Macht- und Habitusgefüge eingebettetes Element der komplexen Theatralität des Hofes war, sondern auch vom König als strategisches Herrschaftsinstrument genutzt wurde (vgl. ebd.: 126ff). Der König instrumentierte auf der (Habitus-)Basis von Distinktionsbedürfnissen und Abstiegsängsten durch eine persönliche Abstufung des Zugangs zu sich seine „privatesten Verrichtungen, um Rangunterschiede herzustellen, und Auszeichnungen, Gnadenbeweise oder entsprechend auch Mißfallensbeweise zu erteilen. (…) die Etiquette hatte im Aufbau dieser Gesellschaft und dieser Regierungsform eine symbolische Funktion von großer Bedeutung“ (ebd.: 129)65. Ohne ein Verständnis dieser Funktion und ihrer figurativen Voraussetzungen bleibt auch die entsprechende Theatralität mitsamt den Aktionen und Akteuren, die sie bewerkstelligen, im Grunde unverstanden. Die Figurationssoziologie bzw. der Feld/Habitus-Ansatz erweitert also den Horizont der Erforschung von Theatralität (Theatralisierung/Enttheatralisierung) erheblich und systematisch. Sie tut dies auch dadurch, dass sie sich nicht nur auf einzelne Figurationen/Felder als ‚Kontexte‘ von Theatralität richtet, sondern auch auf die sich historisch wandelnden Zusammenhänge zwischen sozialen Figurationen/Feldern zielt. Auch auf dieser Ebene sehen Elias und Bourdieu implikations- und folgenreiche Macht-, Kraft- und Spannungsverhältnisse, insofern nämlich Figurationen bzw. Felder wechselseitig voneinander abhängig sind und andere Felder irritieren, beeinflussen und sogar durchdringen und dominieren können. Eine in diesem Sinne zunehmend effektive und penetrante Rolle spielt Bourdieu zufolge das Feld der Wirtschaft, etwa im Verhältnis zum journalistischen Feld. Unter dem Gesichtspunkt von Theatralität spezifisch und mehrfach interessant ist in diesem Zusammenhang das in alle Richtungen wirkende und in verschiedene Feld-Richtungen dominierende Feld der Massenmedien, in dessen ‚Sog‘ offensichtlich z.B. die Felder der Politik, der Kunst, der Religion oder der Intimität mit bedeutsamen Theatralitäts- und (Ent-) Theatralisierungsfolgen geraten sind. Die medialen Inszenierungen, Foren, Bühnen und Per-
65 Elias schildert ausführlich die verschiedenen „Züge“ der königlichen Aufstehenszeremonie, die den Rahmen eines macht- und disziplinierungstechnischen ‚Privilegiensystems‘ bildete (vgl. 1983: 126ff).
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formanzen66 bilden dabei so etwas wie Schaltstellen der massenmedialen Figuration(-en) in ihren Interdependenzverhältnissen mit anderen Figurationen (Feldern). Im 2. Band des vorliegenden Werks wird diese Thematik, aber auch die entsprechend zunehmende Bedeutung des Internets, eingehend untersucht.
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2. Alltägliche und außeralltägliche Lebenswelten
Stile und (Selbst-)Stilisierungen zwischen Habitualität und Medialität Herbert Willems
Auf allen Ebenen und in allen Kontexten von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung sind Stile und Stilbegriffe, die ja zuallererst auf Form, Performanz, Gestaltung und Distinktion verweisen, von erheblicher oder sogar maßgeblicher Relevanz.1 Im Folgenden frage ich sowohl im prinzipiellen Hinblick auf Theatralität als auch in einem zeitdiagnostischen Sinne, nämlich im Sinne des Titels (Ent-)Theatralisierung, nach Bedeutungen, Hintergründen und Funktionen von Stilen und (Selbst-)Stilisierungen. Es wird sich zeigen, dass die entsprechende Begrifflichkeit und empirisch-analytische Betrachtung zur Spezifikation und Erweiterung des Theatralitätskonzepts und der (Ent-)Theatralisierungsthese beitragen.
1. Stilbegriffe Der Begriff des Stils mit seinen verschiedenen Varianten und anwendungsbezogenen Abwandlungen wie Verhaltensstil, Lebensstil, Denkstil, Erziehungsstil, Stilisierung/Selbststilisierung ist schon seit vielen Jahrzehnten – meist assoziiert mit den Begriffen der Ästhetik und des Geschmacks – ein Schlüssel- und Erfolgsbegriff der Sozial- und Kulturwissenschaften. Von Max Weber und Georg Simmel über Norbert Elias und Erving Goffman bis zur modernen Kultur- und Wissenssoziologie, repräsentiert etwa in den Werken Pierre Bourdieus oder Gerhard Schulzes, hat der Begriff auch in der Soziologie Tradition, ja er stellt gerade in vielen neueren Soziologievarianten jeweils so etwas wie eine tragende Säule dar, wenngleich er auch immer wieder Gegenstand der Kritik wurde (vgl. z.B. Luckmann 1986a). Vor allem der Lebensstilbegriff hat sich im Begriffsrepertoire der Sozial- und Kulturwissenschaften fest etabliert. 1 Gleichwohl wurde das Konzept der Theatralität – auch im Rahmen des gleichnamigen DFG-Schwerpunktprogramms – bislang kaum in dieser Richtung reflektiert oder gar entwickelt.
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Auch in der Selbst- und Weltdeutung jedermanns, in lebensweltlichen Alltagsdiskursen und alltäglichen Mediendiskursen sind die Varianten des Stilbegriffs schon lange fest verwurzelt und gängig. Man spricht z.B. – Stilbewusstsein und Bewusstsein von Stilbewusstsein indizierend – von ‚Life Style‘ und von ‚Styling’2; man sieht und unterscheidet auch (mehr oder weniger im Gefolge sozialwissenschaftlicher Diskurse) Lebensstile oder Erziehungsstile und belegt sie mit wertenden Begriffen3; und regelmäßig (dis-)qualifiziert man ein Tun oder Lassen (anderer) als ‚guten Stil‘ oder ‚schlechten Stil‘. Gemeint ist damit normalerweise – durchaus im Sinne wissenschaftlicher Begriffsverwendung – eine sich in Handlungen entfaltende ‚Haltung‘ und die Gebundenheit oder Selbstbindung an eine Form. Auch eine moralische oder sogar normative Idee von ‚starkem Charakter‘ (Goffman 1971) schwingt hier oft mit. Unter Druck, in der Krise, in der Niederlage, im Scheitern ‚Haltung‘ und ‚Form‘ zu wahren wird im Allgemeinen hoch geschätzt.4 Vermutlich hat die Alltagsverwendung und Alltagsdiskursivierung des Stilbegriffs tendenziell deutlich zugenommen, was als Symptom einer praktischen Reflexivität/Reflexivierung, einer Relevanz- oder Wertsteigerung der (Form-)Kategorie Stil oder/und als Symptom praktischer Stilprobleme, Stilverluste (Entstilisierungen) oder Stilkrisen gedeutet werden kann. Stilaspekte und Stilfragen scheinen jedenfalls in vielen Bereichen mindestens bedeutsamer, bewusster, reflektierter und expliziter geworden zu sein (s.u.). Gleichzeitig ist ein stilistischer Pluralismus und Relativismus sowie eine weitreichende (stilistische) ‚Informalisierung‘ der Selbstdarstellung und des Benehmens, ja ein Vordringen „des Laisser-faire in fast allen Lebensbereichen“ (Ferchhoff 2002: 383), zu konstatieren – einschließlich einer wachsenden Toleranz gegenüber Stilbrüchen und Stilbruchinszenierungen. Stil ist also sozial wie sozialwissenschaftlich/soziologisch ein interessantes und komplexes Thema. Als (sozial-)wissenschaftlicher Begriff ist der Stilbegriff geeignet, diverse Phänomene in den verschiedensten sozio-kulturellen Kontexten zu bezeichnen. Er lässt sich jenseits seines traditionellen Orts, der Kunst, „auf alle Bereiche des menschlichen Handelns anwenden, auf profanes und sakrales, auf Arbeit und Spiel, auf äußere Bewegungen und innere Vorgänge, auf Körperliches und Seelisches. Voraussetzung dafür ist, daß sich in den Handlungen oder ihren Resultaten charakteristische Merkmale finden lassen, die nicht einfach auf die manifesten Ziele dieser Aktivitäten oder auf ausdrückliche Verhaltensregeln zu reduzieren sind“ (Hahn 1986: 603). Beim Stil handelt es sich also um etwas sehr Allgemeines und zugleich sehr Variantenreiches. Als ‚charakteristische‘ Eigenschaft von Verhalten, Handeln und Praxis sowie von dem, was daraus resultiert, verweist Stil auf Differenzen zwischen Individuen, Gruppen, Epochen, Kulturen und Subkulturen, und zugleich weist er darüber hinaus. Die Fähigkeit und die Neigung zum Stil und zur (Selbst-)Stilisierung sind sozusagen anthropologische Konstanten. Auch Goffman gelangt in seiner „Rahmen-Analyse“ des Stils zu dieser Feststellung und verknüpft den Stilbegriff zudem weiterführend mit dem der (diffusen) sozialen Rolle:
2 Speziell von Körperstyling. 3 Wie etwa ‚autoritär‘ oder ‚antiautoritär‘. Die Frage des ‚richtigen Erziehungsstils‘ taucht bekanntlich regelmäßig in den Bildungs- und Erziehungsdiskursen des Feuilletons auf. 4 Hier geht es m.a.W. um stilistische Theatralität als praktisch-moralische Kategorie.
Stile und (Selbst-)Stilisierungen zwischen Habitualität und Medialität
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Es gibt den Stil eines bestimmten Schachspielers und etwa den Stil sowjetischer im Unterschied zu dem amerikanischer Spieler. Es gibt Nationalstile der Diplomatie oder zumindest Tendenzen in dieser Richtung. Eine Diebesbande kann Stil haben, einen charakteristischen modus operandi. Es gibt einen männlichen und einen weiblichen Pokerstil. Ja, unsere ganzen sogenannten diffusen sozialen Rollen lassen sich zum Teil als Stile sehen, nämlich als die Art, etwas zu tun, die für ein bestimmtes Alter, Geschlecht, eine bestimmte Schicht u.s.w. angemessen ist (Goffman 1977: 318f.).5
Verstanden als die einem inneren Ordnungsprinzip folgende charakteristische Art, etwas zu tun (‚modus operandi‘), ist der Stilbegriff nicht nur auf spezifisch ‚Förmliches‘, ‚Oberflächliches‘, ‚Ästhetisches‘ im Verhalten/Handeln oder Verhaltens-/Handlungsresultat zu beziehen, sondern auch auf Prozesse des Bewusstseins und überhaupt des Erlebens anzuwenden. Es gibt offensichtlich Stile des Fühlens und des Denkens, „Denkarten“, wie Gehlen (1957: 27) sie nennt.6 Die moderne Soziologie verwendet hierfür Begriffe wie Mentalität (mentale Struktur, kognitiver Stil), Deutungsmuster und Habitus (s.o.). Die inneren Stile und StilDispositionen, die damit bezeichnet werden, verweisen wiederum wie alle Verhaltens- und Handlungsstile auf soziale Kontexte (Figurationen, Felder) der stilistischen Praktikabilität und Funktionalität sowie auf Kontexte der Sozialisation. Dies ist die (habitus-)generierte und generative Ebene des Lebensstils, wie sie etwa Simmel, Elias und Bourdieu ins Auge gefasst haben. Im wahrnehmbaren Verhalten bzw. Handeln, wo sie als Haltungen „eher expressiver als instrumenteller Natur sind“ (Hahn 1986: 603)7, haben Stile sozial identifizierende und (d.h.) differenzierende Effekte und Funktionen bis hin zu weitreichenden sozialen Image- und Identitätsbildungen. In diesem Sinne hat Goffman vom Stil als der „Aufrechterhaltung expressiver Identifizierbarkeit“ gesprochen. Sie impliziert eine wiederkehrende oder permanente Reaktualisierung eines (Regel-)Prinzips im Verhalten/Handeln. Goffman hat dieses Prinzip einen Rahmen genannt und als spezifischen Rahmentyp bestimmt, nämlich als Rahmen einer ‚intersubjektiven‘ Sinntransformation, die er mit dem Begriff des Moduls (key) bzw. dem der Modulation belegt: „Man kann den Stil als eine Modulation sehen, als offene Transformation von etwas, die etwas anderem (oder einer Transformation von etwas anderem) nachgebildet ist“ (1977: 319). Stile bzw. Verhaltens- und Handlungsstile sind also einerseits als reale Eigenschaften von Objekten und (Verhaltens-)Prozessen zu verstehen. Sie können als Rahmungen erkannt und erschlossen werden, weil sie sich als solche manifestiert haben und wahrnehmbar sind. Andererseits verweist die Rahmung des Stils auf einen unsichtbaren, latenten ‚Urheber‘, einen Generator oder Produzenten, d.h., sie geht mit einer Eigenschaft des Sich-Verhaltenden/Handelnden einher. Stil läßt sich mit Goffman als eine Eigenschaft irgendeiner bestimmten Verhaltens- oder Handlungsweise „sehen, die ihr Urheber in alle seine Betätigungen einbringt,
5 Man könnte hier und an anderen Stellen der ‚Stil-Theorie‘ auch den Begriff der Gestalt im Sinne der Gestalttheorie verwenden. Stile des Verhaltens sind in gewisser Weise Verhaltensgestalten. Darüber hinaus geht es hier um Gestalten in Gestaltungen und Verhältnisse zwischen Gestalt und Gestaltung. 6 Ein Beispiel dafür ist die „experimentelle Denkart“, die Gehlen (1957: 27ff) im Sinne eines Idealtyps für die Moderne (das „technische Zeitalter“) konstatiert. Denkarten oder Denkstile sind natürlich auch den erwähnten ‚diffusen Rollen‘ zu unterstellen, d.h. den Geschlechtern, den Generationen u.s.w. 7 Soeffner spricht von einer „ästhetischen Komponente“, die der Stil „im Gegensatz zu alltäglicher Typenbildung enthält“ (1995: 79).
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wobei die Eigenschaft selbst irgendwie in ihm fortbesteht“ (1977: 320). Goffman spricht von „Basiskontinuität“ (1977: 317f). Die Feststellung (Zuschreibung) eines Stils ist aber immer auch ein Wahrnehmungs- und Verstehensresultat bzw. eine Konstruktion eines (Selbst-)Wahrnehmenden/(Selbst-)Beobachters, der aufgrund seines (Typisierungs-, Rahmungs-)Wissens wahrnimmt und versteht. Dieses Wissen und der entsprechende kognitive Prozeß haben wie der produzierte Stil selbst zumindest im lebensweltlichen Alltag typischerweise einen habituellen Charakter. Auf der Basis habitueller Disposition wird Stil primär intuitiv festgestellt, d.h., man gelangt spontan zu einem Urteil über Regelmäßigkeit und Angemessenheit, zu einer entsprechenden Identifizierung und Unterscheidung. So sprechen wir vom „Stil einer Person, wenn wir in allen ihren Handlungen ein vielleicht nicht leicht oder überhaupt nicht definierbares Prinzip am Werke sehen, das als ein konstantes Moment in den verschiedenen Aktivitäten nur moduliert wird“ (Hahn 1986: 604). Jenseits dieser – primären – Ebene von Stil, Stilbildung und Stilwahrnehmung gibt es ein historisch und inter- wie intrakulturell variables Stilbewusstsein bzw. stilistisches Kontingenzbewusstsein und – damit einhergehend – ein explizites Stilwissen, das in diversen Diskursen zirkuliert.8 Zu den entsprechenden Wissensbeständen gehört neben ‚hochkulturellem‘ Bildungswissen9, das primär über familiale und schulische Sozialisation vermittelt wird, zunehmend spezialkulturelles Stilwissen, z.B. von Jugendsubkulturen. Wie alles Stilwissen kann auch solches als Voraussetzung von Stilwahrnehmungen, Stilreflexionen und Stilbildungen (spezial-)‚kulturelles Kapital‘ darstellen und damit soziale Handlungs- und Erfolgschancen (Positionierungen) bestimmen.
2. Stile, Habitusformen und Habitusfunktionen Bei Bourdieu, aber auch schon in der deutschen Tradition der Habitustheorie (bei Gehlen, Elias u.a.), erscheinen Stile zunächst als weitgehend verinnerlichte Habitus, denen eine „handlungsgenerative Funktion eignet. Ein sehr begrenzter Satz von Dispositionen erzeugt eine nahezu unendliche Zahl von Handlungen, denen man nachträglich ihre Stilähnlichkeiten ansieht, ohne daß man sie immer vorhersehen könnte“ (Hahn 1986: 609). Goffmans oben zitierter allgemeiner Hinweis auf eine „Eigenschaft irgendeiner bestimmten Handlung“, die in ihrem „Urheber (…) irgendwie (…) fortbesteht“, ist in diesem Sinne zu deuten, wie umgekehrt Habitus sozusagen als Stilkorrespondenten und Stilresultate zu verstehen sind, nämlich als Resultate von partikularen Lebensstilen, die ihrerseits wiederum (meta-)‚stilistisch‘ zusammenhängen können. Im Rahmen der Figurationssoziologie (s.o.) kann man an dieser
8 Von der (Modernisierungs-)Tendenz zur Ausprägung und Ausweitung von Stilbewußtsein bzw. stilistischem Kontingenzbewußtsein und explizitem Stilwissen sowie der Tendenz zur Selbststilisierung und zur Selbstunterordnung unter bestimmte Stilvorgaben und Stilimperative wird am Ende dieses Aufsatzes ausführlicher die Rede sein. 9 Klassischerweise umfasst es z.B. Kenntnisse von epochalen Architektur- und Kunststilen.
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Stelle ‚axiomatisch‘ formulieren: In dem Maße und in der Eigenart, wie sie den figurationsspezifischen Praxen inhärent sind, fordern Lebensstile auch habituelle Dispositionen an und erhalten und prägen diese zugleich. Unter modernen (Differenzierungs-)Bedingungen – zugespitzt unter den Bedingungen der Gegenwartsgesellschaft – gibt es natürlich einmalig viele figurationsspezifische Stile des Lebens, die sozusagen Habitus- und damit auch Stilprogramme darstellen und als Habitualisierungsprogramme wirken.10 Habituserzeugte Stile wie etwa die Verhaltensstile des Handschreibens oder des Sprechens zeichnen sich zunächst dadurch aus, dass sie sich wesentlich spontan und unbewusst (implizit, ‚stillschweigend‘, selbstverständlich) vollziehen und damit den Akteur zugunsten von befähigender Aufmerksamkeit, Reflexion und Energie entlasten.11 Derartige Stile haben in erster Linie einen reaktiven und symptomanalogen Charakter und laufen erst einmal ‚hinter dem Rücken‘ des Akteurs ab12, der ihnen insofern als ‚Subjekt‘ in gewisser Weise untergeordnet ist. Vor allem die (habituelle) ‚Macht der Gewohnheit‘ behält in diesem Zusammenhang schließlich die Oberhand; ‚Neigung‘ und ‚Hang‘ setzen sich im Allgemeinen langfristig durch. So mag es unter (günstigen) Umständen möglich sein, eine Handschrift nahezu perfekt zu fälschen, aber beim spontanen Schreiben – vor allem unter Zeitdruck – schlägt die eigene Handschrift doch durch (vgl. Hahn 1986: 608)13. Die Logik und die ‚Macht‘ der hier gemeinten Automatismen kann man auch daran erkennen, dass diese (dank ihrer ‚zweiten Natürlichkeit‘) selbst dann noch ablaufen, wenn sie sozusagen kommunikativ sinnlos geworden sind. Dies ist z.B. an den korporalen Ausdrucksweisen zu beobachten, die sich beim Telefonieren, also ohne visuelle Wahrnehmung des adressierten Publikums, manifestieren14. Die Einsicht in diese (Funktions-)Verfassung habitueller Verhaltensstile ist im Hinblick auf Theatralität mindestens dreifach relevant: Erstens erhellen Grenzen des theatralen ‚Spielraums‘ und der theatralen Subjektivität. Der Akteur erscheint nicht nur als ‚Spieler‘, sondern auch als ‚Gespielter‘. Zweitens wird verständlich, warum und wie selbst unter den Bedingungen der zum Traditionsverlust tendierenden Moderne bzw. Gegenwartsgesellschaft bestimmte Verhaltensstile, z.B. geschlechtsspezifische Expressivitätsstile, hartnäckig kontinuieren (vgl. z.B. Willems/Kautt 2003: 127ff). Drittens sind die adoptierten, kreierten und gekauften (theatralen) Stile, (Selbst-)Stilisierungen und ‚Stylings‘, die für die Gegenwartskultur so charakteristisch sind, in gewisser Hinsicht zu relativieren. Diese Stiltatsachen entbehren sozusagen die Funktionseigenschaften bzw. die Haftungseigenschaften der ‚zweiten Natürlichkeit‘ der Stile ‚erster Ordnung‘. Im Gegensatz zu diesen sind jene eher künstlich, ‚aufgesetzt‘ und leicht abzulegen, also instabil und fragil.
10 Voraussetzung für diese Effektivität ist natürlich eine dauerhafte, regelmäßige, häufige und intensive Teilnahme an der jeweiligen Praxis. 11 Dies ist ein habitustheoretischer Konsens, der von Durkheim über Elias und Gehlen bis zu Bourdieu und zur neueren Wissenssoziologie (vgl. z.B. Knoblauch 1998 und in diesem Band) reicht. 12 Natürlich können anscheinend spontane und der Selbstkontrolle entzogene Verhaltensweisen dem Handelnden auch bewußt und Gegenstand seiner Aufmerksamkeit werden. Klar ist auch, daß sie sich in vielfältiger Weise beeinflussen und vortäuschen lassen und daß es zur Lebenspraxis gehört, daß dies immer wieder geschieht. 13 Eine ebensolche Übermacht geht vom sprachlichen Habitus bzw. Sprechhabitus aus, den man unter Umständen zeitweise erfolgreich verdecken kann, der sich aber letztendlich doch ,zu Wort meldet‘. 14 Diese Ausdrucksweisen (Gestik, Mimik, Körperhaltung) stammen evolutionär aus unmittelbaren Interaktionssystemen (vgl. Watzlawick/Beavin/Jackson 1969) und bleiben habituell und funktional darauf bezogen. Von der Bedeutung der Stimme im Rahmen des Telefonats sei hier abgesehen.
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Besonders zu beachten ist hier aber auch die spezifische bzw. spezifisch theatrale Kompetenzseite des stilgenerierenden Habitus. Der Habituslogik, die im Verhalten stilistisch waltet, verdankt sich nämlich auch das Gelingen der Performanz bzw. der (interaktionellen) Performance des Stils. So sehr der Habitus durch seine stilistische (Symptom-)Produktivität ausliefert15, so sehr liefert er im Zusammenhang von Performanz individuell wie sozial unverzichtbare Ressourcen, nämlich zunächst die der ‚Natürlichkeit‘, dann aber auch die der Flexibilität, der Urteilskraft und der Virtuosität. Die habitusverdankte ‚Natürlichkeit‘ macht als nicht-performierte Performanz den besten Eindruck.16 Die ‚Natürlichkeit‘, um die es hier geht, ist eine Voraussetzung oder ein Bestandteil von Aura und Charisma der verschiedensten Art und darüber hinaus ein Fundament von jedermanns Alltagswirklichkeit und ihrer ‚Konstruktion‘. Daß die habitusverdankte Spontaneität und der Eindruck des Spontanen sozial grundlegende Wirklichkeitsbedingungen sind, wird von Goffman vor allem im Hinblick auf die für die soziale Integration zentrale Ebene der rituellen Achtungskommunikation gezeigt: Jedermann und seine Interaktionen leben auf dieser Ebene davon, dass mit dem Erweis von Achtung (Ehrerbietung) auch der Eindruck der Echtheit entsteht17. Aber auch in anderen Darstellungen, ‚Selbstdarstellungen‘ und Performances stellt (habitusverdankte) ‚Natürlichkeit‘ eine wichtige oder unverzichtbare Eindrucksressource dar. Im Blick auf unmittelbare Interaktion stellt Goffman prinzipiell fest, daß sich Stil nicht für bewusste Selbstinszenierung eignet: „Stil kommt uns unecht vor, wenn er absichtsvoll ist“ (Goffman 1977: 319). Im Bezug auf die bereits erwähnte und noch ausführlicher zu behandelnde Stil- und Stilisierungswirklichkeit „zweiter Ordnung“ ist diese Feststellung bzw. ihre habitustheoretische Implikation von besonderer Bedeutung. Es liegt auf der Hand: Die zur Normalität dieser Gesellschaft gewordenen Bemühungen um (Selbst-)Stilisierung neigen dazu, nicht mehr zu sein als bemühte (Selbst-)Stilisierungen bzw. durchsichtige Stil-Kopien. Allerdings erlebt man auch durchaus erfolgreiche ‚Stilisten zweiter Ordnung’: Akteure, die sich weit jenseits ihrer Kindheit theatrale Verhaltensstile angeeignet haben und immer wieder neu aneignen, die sie ziemlich ‚natürlich‘ performieren oder sogar perfektionieren. Die Lernprozesse, die dieser ‚Subjektivität‘ vorausgehen, verweisen allerdings wiederum auf habituelle Voraussetzungen bzw. Anschlusspunkte. Es gibt in diesem Sinne nicht nur unterschiedlich talentierte ‚Selbstdarsteller’18, sondern auch unterschiedlich talentierte Stil-Kopisten und stilistische ‚Bastel-Existenzen‘ (Ronald Hitzler). Die Assoziation von Stil- und Habitusbegriff liegt hier schließlich auch im Blick auf den ‚äußeren Habitus‘ von Individuen nahe. Mit dieser Habitusseite, insbesondere mit der physischen Korporalität, ist ja wie mit Stilen aller Art ein, wenn auch relativ ‚statisches‘, (Gestalt-)Charakteristikum gemeint, nämlich das charakteristische Erscheinungsbild eines
15 Z.B. Erkennungsdiensten verschiedener Art. 16 Hahn führt in diesem Zusammenhang Kleists Abhandlung über das Marionettentheater als veranschaulichendes Beispiel an (vgl. 1986: 606). 17 Hier handelt es sich um einen rituellen Aspekt, der unabhängig von der Frage der Ehrlichkeit ist. 18 Dies ist die Meinung von ‚Persönlichkeitspsychologen‘, die im Kontext des besagten DFG-Schwerpunktprogramms schwerpunktmäßig mit dem Begriff der „histrionischen Persönlichkeit“ gearbeitet haben (Laux/Renner 2004).
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Menschen oder einer Menschengruppe.19 Goffman (1976) spricht von der „persönlichen Fassade“, die ebenso wie Verhaltens- und Lebensstile Individuen und Gruppen identifiziert und die mit diesen Stilen auch effektiv und funktional zusammenhängt (s.o.).
3. Habitus(de)formation und Gesellschaft Habituelle Stilbildungen und Stilfunktionen ‚primärer‘ und ‚sekundärer‘ Art sind auch unter den in gewisser Weise strukturfeindlichen Strukturbedingungen der Gegenwartsgesellschaft gesellschaftsgenerell wie bereichsspezifisch möglich, real und lebenspraktisch bewährt. So sehr die unter Titeln wie Modernisierung oder Postmodernisierung zusammengefassten Prozesse (der Entinstitutionalisierung, der Enttraditionalisierung, der Informalisierung, der Entritualisierung, der Individualisierung u.s.w.) auch habituelle Dispositionen wegbrechen lassen, auflösen, irritieren und belasten, so sehr entstehen neue und erneuerte Habitusformen und damit Stilformen, und ebenso widerstehen alte Habitusformen den fortschreitenden sozio-kulturellen Wandlungen. Man kann auf der Basis empirischer Beobachtungen sogar zu dem Schluss kommen, dass die Gegenwartsgesellschaft in habitueller Hinsicht viel traditionaler (und d.h. ‚unmoderner‘) ist, als sie sich selbst beschreibt und ihre Menschen sich selbst verstehen.20 Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Andererseits ist aus figurations- bzw. differenzierungstheoretischer Perspektive (s.o.) anzunehmen und festzustellen, dass grundlegende Strukturbedingungen dieser Gesellschaft habituellen Stilen, Stilbildungen und Stilfunktionen gewissermaßen entgegenstehen und entgegenwirken. D.h. vor allem: Die (Gegenwarts-)Gesellschaft limitiert und relativiert Habitusfunktionen, habituelle Stilbindungen und Stilbildungen dadurch, dass sie ihre Akteure in eine große Zahl und Vielfalt von relativ autonomen, komplexen, veränderlichen und im Verhältnis zueinander inkonsistenten Handlungsfeldern einbindet und immer wieder dazu zwingt, in mehr oder weniger neuen (Praxis-)Lagen jenseits ihrer ‚primären‘ Figurationen und Habitus zu (er-)leben und zu handeln21. Die figurationsspezifischen Lebensformen und Lebensstile, an denen das Individuum partizipiert, stehen höchstens noch partiell und bedingt, nicht mehr aber im Gesamtzusammenhang in einem konsistenten Verhältnis zueinander. Sie sind heute weiter denn je davon entfernt, eine stilistische Einheit oder einen ‚Metastil‘ zu bilden oder auch nur miteinander verträglich zu sein. Umso mehr kommt es darauf an, differenziert, differenzbewusst und gerade nicht ‚automatisch‘, sondern mit erhöhter Aufmerksamkeit oder sogar Wachsamkeit situationsbezogen zu handeln. Darüber hinaus sind viele heutige Handlungssphären und Verhaltensaspekte stilistisch unterbestimmt, ‚unterstilisiert‘, 19 Dem entspricht in gewisser Weise das Design von Produkten (vgl. Steinwachs 1986). 20 Dafür sprechen beispielsweise die (Alltags-)Kosmologieanalysen Goffmans und anschließende Untersuchungen (vgl. z.B. Willems/Kautt 2003). So lässt sich etwa das Geschlechterverhältnis als ein relativ kontinuierliches habituelles Kulturverhältnis verstehen, nämlich als ein kognitiver (alltagstheoretischer) und zugleich ritueller Verhaltensstilkomplex. 21 In diesen Lagen gilt es typischerweise, sich aktuell prämierte Stile oder Stilelemente anzueignen – auch eine Kunst, die sich zu einem Habitus entwickeln kann.
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und auch die Stile selbst weisen vielfach eine Tendenz zur Unbestimmtheit auf. Arnold Gehlen hat zu Recht von „Unbestimmtheit als Zeitsignatur“ (1957: 89ff) gesprochen und damit auch so etwas wie einen gesellschaftlichen (Meta-)Stil der Stillosigkeit gemeint, der in eigentümlicher Weise neben einer Inflation von Stilen und Stilisierungen und neben einem Hang (Habitus) zur (Selbst-)Stilisierung steht. ‚Man‘ kann sich daher und auch im Blick auf die gesteigerte und sich steigernde Unbestimmtheit von (eigener) Zukunft und zukünftigen Praxisanforderungen nicht mehr und immer weniger auf inhaltlich ‚ausdefinierte‘ habituelle Voraussetzungen und erst recht nicht auf bloße Gewohnheiten verlassen. Vielmehr bedarf es einer allerdings wiederum habitualisierbaren Einstellung auf Neuheit, Offenheit, Diversität, Kontingenz, Veränderlichkeit, Dynamik und (d.h.) Anpassungs- und Lernerfordernisse. Es bedarf insbesondere auch einer ‚Gefaßtheit‘ auf Überraschungen und Enttäuschungen und der Fähigkeit, sich immer wieder neu zu ‚fassen‘. Die Figuration der (Gegenwarts-)Gesellschaft impliziert aber nicht nur eine Limitierung, (Kontingenz-)Umstrukturierung und Neuentwicklung von Habitusformen und damit entsprechenden Stilen, sondern auch eine fortschreitende Entkoppelung von Stilen und Habitus. Stile tendieren m.a.W. zunehmend dazu, sich sozusagen von Habitus zu emanzipieren. Neben den Habitus bestehen und entstehen noch andere, ebenso wichtige oder noch wichtigere Stilgeneratoren, Stilgedächtnisse und Stilforen auf den Ebenen der figurations- bzw. feldspezifischen Kommunikationen, Diskurse und Visualisierungen, heute insbesondere auf den Ebenen der Massenkommunikationsmedien, des Internets und der Märkte für Konsumgüter. Stile, Stilelemente und Stilkomponenten sind und werden hier explizit, reflektiert, thematisiert und ganz bewusst kreiert22. In der Gegenwartsgesellschaft geht also die Existenz, Persistenz und Evolution von eher unbewussten und präreflexiven Habitusstilen mit von diesen Stilen mehr oder weniger abgelösten Stil-Universen, mit ‚stilistischen‘ Innovationen, Modulationen und Pluralisierungen sowie mit einem Vordringen von ‚stilistischen‘ Regeln/Regelungen und (Regel-)Kreationen einher. Und dies wiederum impliziert ein geschärftes Stilbewusstsein und stilistisches Regelbewusstsein der beteiligten Akteure. In diesem Zusammenhang sind auch die verschiedenen gesellschaftlichen Differenzierungsformen von systematischer Bedeutung. Mit Hahn ist zunächst eine sozusagen führende Rolle der funktionalen Differenzierung zu konstatieren: „Je stärker (…) die funktionale Ausdifferenzierung der verschiedenen Daseinssphären, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß Stilbildungen eher durch die subsystemische Tradition als durch die frühkindlich erworbenen Dispositionen der Individuen erklärbar sind“ (1986: 609). Der funktionalen Differenzierung korrespondieren gleichzeitig andere – sekundäre – sozio-kulturelle Differenzierungen mit spezifischen Stil- bzw. Lebensstilkorrelaten. Im Übergang zur primär funktional differenzierten modernen Gesellschaft wird die alte Oberschicht – teilweise in den Rahmen der sozialen Felder (Subsysteme) – abgelöst von neuen „guten Gesellschaften“ (Elias), die (Lebens-)Stile kultivieren und orientierende Stilmodelle für ‚aufstrebende‘ Gruppen und Individuen bilden. Und an die Stelle großer, homogener ‚Blöcke‘ wie Klassen treten zunehmend Milieus, Subkulturen, Spezialkulturen, Szenen u.s.w., die eigene Stile bzw. Lebensstile 22 Auch und gerade in der modernen Kunst können sich spezifische Stile entwickeln, die – obwohl niemals unabhängig von den unbewußten ‚Basiskontinuitäten‘ (epochalen oder gruppengebundenen Dispositionen) der Künstler – in hohem Maße bewußter Kreation entspringen (vgl. Hahn 1986: 609).
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und mehr oder weniger ausgeprägte und stabile habituelle Dispositionen generieren und regenerieren. Diese Entwicklungen implizieren eine tendenzielle Erweiterung der Möglichkeiten, Freiheiten, Zwänge, Anforderungen und Anregungen von Akteuren, sich Stile, Stilelemente und ganze Lebensstile anzueignen. Zur Deckung des entsprechenden stilistischen Definitionsund Orientierungsbedarfs können die Massenmedien und das Internet beitragen, die aber ihrerseits auch Generatoren von stilistischer Kontingenz (Komplexität, Differenzierung) und von stilistischem Kontingenzbewusstsein sind (s.u.).
4. (Selbst-)Stilisierungen und Distinktionen Neben die eher implizite, unbewuste (daher) unwillkürliche Distinktion und Distinguiertheit des Individuums durch Habitus-Stile tritt in der Gegenwartsgesellschaft also zunehmend stilistische Kontingenz, Optionalität und ‚Subjektivität‘, Freiheit und Zwang, aber auch das Bedürfnis zur stilistischen Selbstgestaltung und d.h. absichtlichen Distinktion. Persönliche Stile von Individuen, sowie auch Gruppen-Stile und Stile von großen Organisationen (s.o.), müssen, sollen und wollen zunehmend etwas oder auch etwas sein, und das ruft (Theatralitäts-)Begriffe wie Inszenierung, Performance und Korporalität auf, das man nicht ‚hat‘, sondern entwickelt, sich aussucht und sich gibt. Stile oder Stilelemente fungieren dann nicht oder nicht nur als Symptome oder Indikatoren von Identität, in die man sozusagen hineingewachsen ist, sondern eher als Generatoren und Ressourcen Identität – durch explizite, bewusste (daher) willkürliche Distinktion. Mit dem jeweils ‚gepflegten‘ Stiltyp und je nach ‚gepflegtem‘ Stiltyp geht es um soziale Abgrenzung und Absetzung, die zwischen und innerhalb von sozialen (Groß-)Gruppen in die verschiedensten Richtungen gehen kann. Man kann z.B. als (individualistischer) ‚Normalist‘ mit kleineren Variationen Desselben die eigene ‚Note‘ betonen. Man kann aber auch in einer Art von Anti-Normalismus versuchen, sich mit dem Stil ‚feiner Leute‘ von oben gegen den Rest der sozialen Welt, d.h. vor allem gegen jeglichen ‚Durchschnitt‘, abzusetzen. Umgekehrt kann man sich wie die so genannten Punks in einer anderen Art von Anti-Normalismus von unten distinguieren und vom ‚braven Bürger‘ (Girtler) wie vom ‚feinen Pinkel‘, aber auch vom ‚Penner‘, absetzen. Hans-Georg Soeffner (1995: 76ff) hat die in mancher Hinsicht exemplarische Weise der Punks mit spezifisch theatralen und theatralischen, ja geradezu dramatischen Mitteln, einen Stil zu bilden und zu ‚pflegen‘, untersucht und kommt ganz im Sinne des Theatralitätsbegriffs zu folgendem (wissenssoziologischen) Schluss: „Spezifische Erscheinungsform und Inszenierungspraxis von ,Punk‘ als Stil und von ,Punks‘ als Gruppenmitgliedern und Designern dieses Stils sind [...] Ergebnis einer bewussten Stilisierung und eines impliziten, kollektiv geteilten Wissens der Punks darum, welche Details und Elemente eines Symbolsystems ausgewählt und realisiert werden müssen, um die richtige ,performance‘ von ,Punk‘ zu inszenieren“ (ebd.: 83). Der Stil bzw. die Stilisierung der Punks ist also alles andere als ‚geschmacklos‘ und ‚unzivilisiert‘. Er ist vielmehr eine ganz bewusste, reflexive und (Spezial-)
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Wissen, (Spezial-)Urteilskraft und Kunstfertigkeit voraussetzende Gestaltung, eine sinngeladene stilistische Entscheidung und Selbstfestlegung auf ein distinktes und distinktives Modell, das nicht nur auf andere Möglichkeiten verweist, sondern auch ein demonstratives Gegen- und Anti-Modell dazu darstellt und sein will. Wer sich so ‚stylt‘, d.h. zunächst und vor allem: seinem ‚äußeren Habitus‘ eine entsprechende Form (Gestalt) gibt, beabsichtigt und bewirkt soziale Unterscheidung – im Falle der Punks eine spektakuläre und provokatorische Totalunterscheidung im Rahmen der ganzen Gesellschaft. Eine frühe Form solch bewusster und theatralischer Selbststilisierung mit der Funktion der Abgrenzung von der ‚Normalität des Bürgers‘ stellt der ‚künstlerische Lebensstil‘ dar, wie er in der Bohème des 19. Jahrhunderts entwickelt und gepflegt wurde (vgl. Bourdieu 1999: 93ff.).Was hier prämiert und gegen den ‚Konformismus des Bürgers‘ gewendet wurde, waren Ausdrucksformen des individuellen als Kunstwerk begriffenen Lebens, bis hin zu Überschreitungen und Waghalsigkeiten, die als Affront des gesunden Menschenverstands erscheinen mussten. Dennoch stand dieser gleichsam unter den (Labor-)Bedingungen einer sich selbst exkludierenden Gruppe entwickelte Stil Pate für die individuellen Selbststilisierungen jedermanns, die Simmel mit dem Begriff des Lebensstils bezeichnet hat. In der „bürgerlich-kapitalistischen Moderne“ des beginnenden 20. Jahrhunderts fungiert der Stil, so Simmel, „als generelle Formung des Individuellen“, errichtet er „eine Schranke und Distanzierung gegen den anderen“ (Simmel 1989: 695). Eine Reihe von Jahrzehnten später hat Bourdieu auf seine Weise im Sinne dieses ‚funktionalistischen‘ Stilverständnisses argumentiert. Für ihn ist Stil bzw. Stilisierung „das strategische Mittel zur Darstellung von Distinktion“ (Bourdieu 1983: 120). Mit Elias (figurationssoziologisch) kann man in diesem Zusammenhang im Blick auf die Gegenwartsgesellschaft und die (weitere) historische Entwicklung sowohl eine Differenzierung nach sozialen Schichten und Feldern als auch ein ‚Absickern‘, d.h. eine soziale Generalisierung, von Distinktionsbedürfnissen, Distinktionsaktivitäten und Distinktionssymboliken mittels (Selbst-)Stilisierungen konstatieren. Auch Gehlens „sozialpsychologische“ Zeitdiagnose ist hier heranzuziehen und erhellend. Vieles spricht dafür, dass Gehlen (1957: 65) Recht hat, wenn er im Streben nach Geltung, (d.h.) Distinktion und (d.h.) Überlegenheit, im Anspruch und in der Praxis des Geltenwollens und Mehrgeltenwollens geradezu eine Signatur der Epoche sieht.23 Dem Streben nach Normalität („Normalismus“ nach Jürgen Link) steht demnach ein generalisierter Anti-Normalismus gegenüber, der nicht nur die besagten Extreme, sondern auch die ‚Normalen‘ und ‚Normalsten‘ umfasst und sie motiviert, sich selbst und ihr Leben zu stilisieren. Das allgemeine, verallgemeinerte und verstärkte Geltungs- und Distinktionsstreben findet heute in der Allianz von Waren- und Konsumkultur einerseits und (insbesondere konsumistischer) Medienkultur (Werbung, Seifenopern, ‚Promi-Dinner‘ etc.) andererseits seinen wichtigsten Erfüllungsgehilfen. Er trägt den entsprechenden Publikumsbedürfnissen symptomatisch und zugleich verstärkend und (re-)generativ Rechnung – so z.B. wenn, wie es zunehmend der Fall ist, Serien- und Massenprodukte vom Fertighaus über die Kleidung bis 23 Gehlen konstatiert schon im Ausgang der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Tendenz, die sich seither noch deutlich verstärkt hat: „eine Allgegenwart, Stärke und zugleich Verunsicherung des Geltungsbedürfnisses, die historisch wohl ohne Vergleich sind …“ (1957: 65).
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zum Automobil mit Design- und Styling-Unterschieden versehen werden (vgl. Steinwachs 1986). Auf dieser Art von Grundlage kann, will und soll heute jedermann sich selbst, seine ‚Individualität‘ und seine Lebenswelt stilisieren, d.h. die käuflichen Versatzstücke (pseudo-) distinktiv orchestrieren (vgl. Sennett 1985: 110; Burkart 2006: 21). Stil wird in diesem Fall – im Prinzip nicht anders als in den genannten ‚Extremfällen‘ – „zu einem Ausdrucksmittel und zu einer Darstellungsform sozialer Abgrenzung. Er veranschaulicht ,Mitgliedschaft in ...‘ und ,Abgrenzung von ...‘ durch bewusste Präsentation und Stilisierung seines Selbst für interpretierende andere“ (Soeffner 1995: 81). Im Bezug auf die Angebote des „Konsumkapitalismus“ spricht Ulrich Oevermann im Sinne dieses Stilbegriffs von Lebensstilen „als Mustern der Selbstdarstellung und Lebensführung (…), die man sich, z.B. verkörpert in Kleidung oder Eßgewohnheiten und Urlaubsusancen als Exklusivität kauft, unter die man sich also subsumiert. Lebensstile sind demnach standardisierte Formen der Herstellung von Individualität (…). Wer in diesem Sinne ‚up-todate‘ sein will, muss sich ständig darüber (z.B. vermittels Zeitschriften) informieren, was jeweils ‚in‘ ist“ (2001: 49). So verstanden – und Oevermann (2001) führt sie so vor – sind Lebensstile das Gegenteil von Habitusformationen, nämlich als Theatralität und Theatralisierung fassbare Strategien und Materialien der Distinktion, die aus einem Markt erwachsen und auf einem Markt angeboten werden. Dieser Markt bezieht sich allerdings notwendigerweise auf verschiedene Kapitalsorten der Publika, auf ökonomisches und kulturelles Kapital nach Bourdieu, d.h. auch auf habituelle Dispositionen.
5. Massenmedien als Stil-Foren und Stil-Bühnen 5.1 Stilisten, Stile und (Selbst-)Stilisierungen In den, neben den und in gewisser Weise auch über den interaktionellen Lebenswelten – und d.h. auch den direkt erfahrenen Produkt- und Konsumkulturen, die heute ja Hauptträger von Stilen und Stilisierungen sind – spielen die Massenmedien eine zentrale und vielseitige Rolle als eine Sphäre von Stilen, Stilverarbeitungen, Stilbildungen und (Selbst-)Stilisierungen24. Wie in anderen Kulturhinsichten (Symbole, Skripts, Rituale u.s.w.) fungieren die Massenmedien auch in stilistischer Hinsicht zunächst als ein Ensemble „kultureller Foren“ (s.o.), das auf vorgegebenen Sinn und vorgegebenes Wissen, nämlich Stilsinn und Stilwissen des Publikums, sozusagen technisch referiert. Dieses Wissen ist gerade unter den Differenzierungs-, Konkurrenz- und Knappheitsbedingungen des heutigen Medienmarktes eine von den Medienakteuren nicht mehr einfach nur zu unterstellende, sondern bewusst, reflexiv und strategisch zu berücksichtigende, zu kontrollierende und zu instrumentierende Erfolgsbedingung für die Medienangebote und Medienanbieter. Demgemäß genau identifiziertes (etwa mit Hilfe von Sozialforschung rekonstruiertes) Stilwissen ist z.B. die Voraussetzung dafür, dass Me24 Von den diesbezüglichen Relevanzen und Besonderheiten des Internets sehe ich hier ab. Vgl. dazu Willems (2008).
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dienerzeugnisse zum Zweck der Aufmerksamkeitserzeugung oder/und der Unterhaltung mit Stilbrüchen arbeiten können (vgl. z.B. Jäckel/Reinhardt 2002).25 Medienerzeuger und Medienerzeugnisse referieren auf das entsprechend relevante Wissen bzw. Stilwissen ihres Publikums auf verschiedenen Selektions- und Transformationsstufen, die ihrerseits mit dem Stilbegriff fassbar sind: Die verschiedenen Medientypen, Programmbereiche (Unterhaltung, Nachrichten/Berichte, Werbung), medienkommunikativen Gattungen, ‚Gattungsfamilien‘ und Gattungsvarianten zeichnen sich jeweils durch eigentümliche (kognitive, inszenatorische, performative) Stile und ‚Meta-Stile‘ aus, die auch die Referenz auf das Publikumswissen und dessen inszenatorisch-performative Umsetzung im Medium strukturieren. So kultivieren die verschiedenen (Gattungs-)Varianten der ‚Talk Show‘ einen je eigenen Stil der Selbst- und Fremdthematisierung.26 Die Massenmedien fungieren also, vermittelt durch ihre eigene stilistische Organisation, die zumindest vordergründig immer komplexer wird, als Stilforen bzw. Stilbühnen, auf denen im (Rück-)Bezug auf das jeweilige allgemeine oder spezielle Publikum Stile und Stilelemente der verschiedensten Art performiert werden. Eine zentrale und grundlegende Rolle spielen dabei lebensweltlich-traditionelle (Habitus-)Stile, z.B. rollenspezifische Verhaltensstile der Geschlechter, der Kinder, der Jugendlichen, der Alten, der Berufe u.s.w. Sie werden typischerweise in einer Art Kopie zu Verständigungs-, Attraktions- und Beeinflussungszwecken inszenatorisch aufbereitet und medial dargeboten. Auf diese Weise fungieren Massenmedien jenseits aller Motive und Intentionen ihrer ‚Macher‘ als kosmologische Einrichtungen, die die ‚Weltanschauungen‘ ihrer Publika ebenso instrumentieren wie bestätigen, demonstrieren und stabilisieren. Goffman hat diese Funktion ritualtheoretisch gefasst und empirisch-analytisch unter Beweis gestellt (vgl. 1981; vgl. auch Willems/Kautt 2003: 127ff). Als Stil-Re, die entsprechende latente Publikumserwartungen erfüllen, liefern die Massenmedien heute die wohl wichtigsten symbolischen und kosmologischen ‚Stützkonstruktionen‘ der Gesellschaft. Gleichzeitig sind sie auf verschiedenen Ebenen und in den verschiedensten sachlichen Hinsichten die gesellschaftlich wichtigsten Stil-Informanten. Sie bilden Foren und Bühnen für die immer wieder neuen (lebens-)stilistischen Angebote jenes von Oevermann gemeinten „Konsumkapitalismus“ (s.o.), insbesondere für Moden (vgl. Würtz/ Eckert 1998; Ferchhoff 2002: 385ff). Sie berichten, und visualisieren, was ‚in‘ und was ‚out‘ ist, informieren über Stilistisches aber auch eher indirekt oder implizit – z.B. in Shows wie dem „Promi-Dinner“, die statushohe Lebensmilieus inszenieren und wo lebenspraktisch kopierbare Stile, Stilelemente und Stilisierungen nicht nur vorgeführt sondern auch vorgelebt werden. Stil-Informationen ergeben sich mit anderen Vorzeichen und in anderer Weise auch aus mehr oder weniger starken stilistischen Irritationen bzw. Erwartungsenttäuschungen, z.B. aus Berichten über fremde und befremdliche Verhaltens- und Lebensstile (auch in der ‚ei25 Ebenso verweisen z.B. die Lebensstilzitate bzw. die Lebensstil-Stilisierungen, die im (fernseh-)medialen Inszenierungsangebot gerade in den oberen und unteren Extremvarianten (‚feine Leute‘, Stars, Prominente einerseits, ‚Randgruppen‘ andererseits) eine große Rolle spielen, auf entsprechendes Publikumswissen, das die Werbungsdramaturgie in Form von Stereotypen, Skripts u.s.w. zum Tragen bringt. 26 Offensichtlich gibt es hier wie anderswo einen engen Zusammenhang zwischen dem Stil der Sendung und dem Stil bzw. dem Milieu/Habitus des Publikums, weswegen z.B. der ‚parasoziologischen‘ Rede Harald Schmidts vom „Unterschichtenfernsehen“ (vgl. Burkart 2006: 29) nicht prinzipiell zu widersprechen ist.
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genen Gesellschaft‘) sowie aus dokumentierten und inszenierten Stilbrüchen27. Nicht zuletzt durch ihre fiktionalen Erzeugnisse im Unterhaltungsbereich fungieren die Massenmedien auch gleichsam als Stil-Labore, als Räume und Schauplätze stilistischer, verhaltens-, denkoder lebensstilistischer Experimente. Als Stilforen und Stilbühnen bzw. Stillabore sind die Massenmedien also sozial und sozialisatorisch höchst bedeutungs- und wirkungsvoll. Sie generieren und regenerieren Stilwissen, (kopierbare) Stilmodelle, Stilbewusstsein und stilistisches Kontingenzbewusstsein; sie motivieren und instruieren individuelle (Selbst-)Stilisierungen und fungieren als ‚Instanz‘ der stilistischen Orientierung, Vergewisserung und Indoktrination28. Über diverse Mediengattungen hinweg wird normalerweise immer wieder ein und dieselbe Botschaft verkündet: dass es wichtig für das Image, die soziale Geltung und auch die ‚persönliche Identität‘ sei, sich richtig, d.h. ‚up-to-date‘ und hochwertig, aber auch individuell (‚typ-‘)angemessen und originell, zu stilisieren und auf den eigenen Stil wie auf den anderer zu achten29. Die Massenmedien fördern damit auch einen „expressiven Individualismus“ (Burkart 2006: 34)30, eine stilistische ‚Bastel-Praxis‘ und eine Mentalität, die Selbstverwirklichung und den Weg zur Selbstverwirklichung in ‚Oberflächen‘ sieht und sucht (s.u.). Insofern wäre es vielleicht auch angebracht, statt von einem expressiven Individualismus von einem individualistischen Expressivismus oder Stilismus zu sprechen.
5.2 Werbung als kulturelles Stil-Forum: Stile und (Selbst-)Stilisierungen von Jugend, Jugendlichen und Jugendlichkeit Die Werbung ist dasjenige medienkulturelle (Stil-)Forum bzw. die (Stil-)Bühne, das die hier gemeinte ‚Philosophie‘ zumindest tendenziell am reinsten und nachdrücklichsten vertritt, ja geradezu propagiert und zelebriert. Gleichzeitig und entsprechend ist die Werbung ein – auf das jeweilige Publikum gerichteter – vielstimmiger und lauter Daueraufruf zur Stilisierung und Selbststilisierung, zu der sie auch die Materialien (Produkte als Requisiten) und Methoden empfiehlt. Der strategischen Handlungs- und d.h. Idealisierungslogik der Werbung, ihr Publikum für ein Produkt (oder allgemeiner: ein Objekt) „einzunehmen, und das heißt, dieses von seiner vorteilhaften Seite, im Kontext strahlender Ereignisse zu zeigen“ (Goffman 1981: 114), korrespondiert ihr allgemeines soziales Erfolgs- und Lebensrezept. Demnach ist es ratsam, sich im Handeln ausschließlich an Erfolgsbedingungen zu orientieren und daher je nach Handlungsziel nicht auf Wahrheit, sondern auf (Publikums-)Wahrnehmung und Kontrolle 27 Das mittlerweile schon klassische Beispiel aus dem Bereich der Werbung ist die Benetton-Kampagne. Seit einiger Zeit gibt es in diesem Bereich eine regelrechte Tendenz, mit Stil- und Ritualbrüchen zu arbeiten. Die Hauptfunktion dieser Strategie liegt in der Produktion von Publikumsaufmerksamkeit. Aber auch die Adressierung von Lebensstilen und Habitus kann der Zweck dieser Übung sein. Dies ist z.B. der Fall, wenn die Werbung auf Jugendliche und Jugendkulturen zielt, für die ‚Nonkonformität‘ und Provokation Identitätsideale sind (vgl. Willems/Kautt 2003: 175ff). 28 Besonders nachgefragt wird diese Instanz ‚naturgemäß‘ vom jugendlichen Publikum und von allen Gruppen und Individuen, die ein besonderes Interesse daran haben, stilistisch ‚up to date‘ zu sein. 29 Die entsprechenden ‚Botschaften‘ sind vielfältig kontextiert. Sie reichen von der Werbung über Ratgeberdiskurse bis hin zu dem Diskurs über ‚Frau Merkels’ Kleidung oder Frisur. 30 Burkart (2006: 34) spricht sogar von einem „Zeitalter des expressiven Individualismus“.
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von Wahrnehmung zu setzen: normalerweise auf ‚schönen Schein‘ und den ‚guten Eindruck‘ des Publikums im Sinne herrschender Werte. Stilisierung bzw. Selbststilisierung ist demnach kein Selbstzweck, sondern ein Klugheitsprinzip, das die Werbung ihren Rezipienten (jedermann) an die Hand gibt, nahe legt und gleichsam ausbuchstabiert. Ein Stilisierungsimperativ liegt aber eben auch und zunächst in der Werbungsperformanz selbst, in ihrer Logik als kommunikative Gattung, die gewissermaßen den Hintergrund jener kosmologischen ‚Ausstrahlung‘ bildet. Aus funktionalen und strategischen Gründen des Verständlich-, Deutlich- und Attraktivmachens muss die Werbung verschiedene Stiltypen (Lebensstile, Verhaltensstile) nicht nur – immer im Blick auf das jeweilige Publikum – selektiv aufgreifen, sondern auch stilisieren, gleichsam poetisch verdichten. Man kann also von Hyper-Stilen oder Hyper-Stilisierungen sprechen.31 Sie sollen vor allem die kognitiven, die kathektischen und die moralischen Habitus des jeweiligen Publikums, d.h. seine Wirklichkeitsverständnisse, seinen Geschmack und seine (Selbst-)Achtungsvorstellungen, optimal ansprechen, bedienen und in dem gewünschten Sinne bewegen und veranlassen. Infolge dieser operativen Stilisierungslogik, die die Funktionen der normativen Idealisierung einerseits und der sozusagen technischen (‚systemischen‘) Simplifikation, Pointierung und Beschleunigung der Kommunikation andererseits zur Deckung bringt, wie auch infolge ihrer Medialität bzw. Medienspezifität stellt die Werbung alles andere als einen Spiegel der Lebenswirklichkeit der Stile dar. Zwar wird in ihr tendenziell die ganze Bandbreite der ‚real existierenden‘ Stile performiert. Die Wirklichkeit der Stile existiert in der Werbung aber nur insofern, als sie in die werblichen Medien- und Gattungsrahmen passt, und d.h. in diesen Rahmen darstellbar und strategisch funktional performierbar ist. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, wie die Werbung unter diesen Voraussetzungen Stile bzw. (Selbst-)Stilisierungen von Jugend, Jugendlichen(-Gruppen) und Jugendlichkeit inszeniert. Ausgangspunkt ist dabei im Sinne des kulturellen Forumskonzepts (s.o.) die Annahme, daß die entsprechenden Werbungsperformanzen in einem Verhältnis ‚loser Kopplung‘ und Wechselwirkung zu lebensweltlichen Stil- und Stilisierungstatsachen stehen. Konzepte und Thesen der Jugend(sub-)kulturtheorie bilden hier daher einen instruktiven Hintergrund der empirisch-analytischen Beobachtung von Werbung. Einige grundlegende Merkmale und Spezifika aktueller Jugend- und Jugendlichen-Stile der Werbung seien nun vor dem Hintergrund von und im Blick auf die korrespondierenden stilistischen Lebens(welt)wirklichkeiten, die der Werbung vorausliegen und folgen, herausgestellt.
5.2.1 Eigenwert und Zentralwert des Stils Die Werbung konstruiert Jugend und Jugendliche (ideal-)typischerweise nicht über das Herstellen von Beziehungen zu institutionellen Funktionskontexten und entsprechend ‚ernstzunehmenden‘ Handlungen (Beruf, Mitgliedschaft in einer Partei oder Ähnliches), sondern hauptsächlich über ‚Äußerlichkeiten‘ der Erscheinung und des Verhaltens: Korporalität/ 31 Goffman (1981) prägt den Begriff „Hyper-Ritualisierungen“ und meint damit insbesondere in der Werbung stilisierte Interaktionsrituale zwischen den Geschlechtern.
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Körperstyling, emotionale/affektive Expressivität32, Kleidung/Mode, besondere freizeitliche bzw. spielerische Erlebnisräume und Erlebnisaktivitäten (Sport, Erotik, Musik, Tanz). Diese Image-Konstruktion entspricht einerseits – bei aller empirischen Variation jugendlicher Lebenslagen – der sozialen Rolle bzw. dem Rollenmodell des Jugendlichen, der in der Kontinuität der Kindrolle von ‚erwachsenen‘ Verpflichtungen und Handlungszwängen noch relativ freigestellt sein soll oder sein darf. Die Werbung übersteigert allerdings die Rollen-Vorstellung von Jugend als sozialem Schon- und Spielraum und von Jugendlichen als verspielten Wesen, die ein spielerisch leichtes Leben führen dürfen. Andererseits und gleichzeitig zeigt sich hier der allgemeine (Funktions-)Mechanismus und die Kultur der Werbung, die mit ihren spezifischen Wirkungsabsichten, von dieser ‚Rollentheorie‘ sozusagen Gebrauch machend, versuchen muss, ihre Objekte (Produkte) mit Hilfe von Zeichen und Symbolen zu ‚beleuchten‘ bzw. in das ‚rechte Licht‘ zu rücken. Es ist also nicht verwunderlich, dass Jugend und Jugendliche in der Werbung am exklusivsten und intensivsten mit den Paradiesvorstellungen der Konsumkultur und des Konsumismus und mit den entsprechenden Erkennungs- und Positionierungszeichen assoziiert werden. Mit den und in den Jugend und Jugendliche qualifizierenden Zeichenwelten der Werbung wird in prinzipieller Deckung mit den Realitäten der Lebenswelt Stilen und (Selbst-)Stilisierungen generell zentrale und inhaltlich spezifische Identitätsbedeutung verliehen. Stile und (Selbst-)Stilisierungen erscheinen als die Träger, Sender und Unterscheider des (Jugendlichen-)Selbst, das sich mit der Wahl von Stilmitteln bzw. eines Stiltyps als ein besonderes und besonders wertvolles konstituiert und von anderen Jugendlichen(-gruppen), die sich ihrerseits über Stil ‚definieren‘, distinguiert (vgl. Willems/Kautt 2003: 198ff). Dem Stil bzw. der (Selbst-)Stilisierung kommt im Leben des (Werbe-)Jugendlichen also eine ähnliche, nämlich zentrale und autonome, Bedeutung zu wie im Bereich der Kunst, für den Hahn feststellt, daß „Stil und die damit zusammenhängenden Probleme die Sache selbst sind“ (1986: 610). Indem er nicht nur Form oder Anhängsel einer Handlung ist, sondern für sich selbst steht und einen Eigenwert besitzt, kann und soll der Stil als Identitätsgenerator fungieren und dem Stilisten zu sozialer Erkennung und Anerkennung und (damit) zu gutem Selbstwert und Selbstgefühl verhelfen. Auch damit korrespondieren die werblichen Jugend-(lichen-)Images durchaus der sozio-kulturellen Lage lebenswirklicher Jugendlicher, deren Stile und (Selbst-) Stilisierungen vielfach als maßgebliche Identitätsgeneratoren beschrieben worden sind33. Diese Bedeutungen und Relevanzen des Stils und der (Selbst-)Stilisierung zeigen sich in besonderer und geradezu metaphorischer Weise in der Jugendmode und im modischen Handeln von Jugendlichen, das die Werbung ebenso instruiert wie kopiert und moduliert. Die Mode verkörpert sozusagen auf materieller Ebene (und daher immer unmittelbar und mehr oder weniger unmißverständlich) die jeweilige Stil-Identität bzw. die stilistische Position, Entschiedenheit und Entscheidung des Jugendlichen (vgl. Ferchhoff 2002: 391ff). In der (Jugend-)Mode werden Stil und Stilisierung sozusagen zur Selbstaussage und zum (Selbst-) 32 Fröhlichkeit, Spaß, Euphorie und Ekstase, aber auch Melancholie, sind expressive Muster bzw. emotionale/affektive Themen, die die Werbung gern, ja vorzugsweise mit Jugend und Jugendlichen in Verbindung bringt. 33 Die am Center for Contemporary Cultural Studies in Birmingham seit Mitte der 60er Jahre verfassten Studien sind in diesem Zusammenhang klassisch und bis heute einflußreich, so z.B. Clarke 1979 (im Folgenden zitiert nach 1998), Hebdige 1979 (zitiert nach 1998) und Willis 1981. Vgl. als eine neuere Arbeit zum Zusammenhang von Stil/Stilisierung bzw. Mode und Jugend z.B. Ferchhoff 2002, 2007.
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Bekenntnis (vgl. Würtz/Eckert 1998). Alle Formen von Jugendkleidung tendieren dazu, dass sie „zuweilen in vestimentären Botschaften oder im bewegungsbetonten, körpersprachlichen Modern Talking geradezu bekenntnishaft eine Haltung, einen Stil bzw. Habitus zum Ausdruck bringen wollen“ (Ferchhoff 2002: 387). Die Werbung nimmt solche ‚Semantik‘ und solche Intentionalität sensibel wahr; und sie greift sie gezielt auf und macht sie sich zunutze, indem sie versucht, (Kleidungs-)Mode mit dem Versprechen eines entsprechenden symbolischen (Identitäts-)Mehrwerts zu verkaufen.
5.2.2 Homologie und Haltung Im Anschluss an Lévi-Strauss’ Konzept der „Homologie“ haben verschiedene Studien gezeigt, dass die lebensweltlichen Verhaltens- und Lebensformen, Praktiken und Zeichen von Jugendlichen-Gruppen bzw. -Subkulturen eine tendenzielle innere Konsistenz (Stimmigkeit) auf der ästhetischen und symbolischen bzw. kosmologischen Ebene aufweisen (vgl. z.B. Willis 1981, 1991; Clarke 1979; Ferchhoff 2007). Durch das ‚Passungsverhältnis‘, den inneren Beziehungs- und Verweisungszusammenhang verschiedener Komponenten und Elemente der jeweiligen jugendlichen Lebenswelt und Praxis wird ein Kontext erzeugt, in dem die Akteure die „Welt als sinnvoll erfahren können“ (Hebdige 1998: 406). So machte z.B. „die Homologie zwischen einem alternativen Wertesystem (‚Tune in, turn on, drop out‘), halluzinogenen Drogen und Acid Rock die Hippie-Kultur für den einzelnen Hippie zu einer zusammenhängenden ganzen Lebensweise“ (ebd.). Im Hinblick auf die Jugend(lichen)-Inszenierungen der Werbung ist das Konzept der Homologie natürlich insofern zu relativieren, als es hier nicht um gelebte ‚Lebensweisen‘ oder Lebensstile, sondern um mit stilistischen Zeichen arbeitende Inszenierungen bzw. inszenierte Zitate von ‚Lebensweisen‘ geht, und zwar nach Maßgabe medientyp- und gattungsspezifischer Gegebenheiten bzw. Restriktionen und funktionaler Imperative (s.o.). In der Werbung müssen die entsprechenden Stile, Stilelemente und Symboliken34 z.B. entsprechend zugespitzt, pointiert, aber auch im Blick auf die ‚Zielgruppen‘ bearbeitet, aufgeweicht oder verschärft, angereichert u.s.w. werden. Dennoch kann man auch in diesem Zusammenhang eine Art Homologie feststellen, insofern ästhetische, symbolische und semantische Aspekte so organisiert sind, daß „jeder Teil in einer organischen Beziehung zum anderen (steht)“ (ebd.: 406). Insbesondere geht es jeweils um die Erzeugung einer ästhetischen „Totalität“ (Baacke 1986: 81f.) im Sinne einer mindestens tendenziellen Passung verschiedener (theatraler) Zeichenformen – von der spezifischen Form der Musik über Raumgestaltungen und Möblierungen der Szene bis hin zum Körperstyling (Kleidung, Frisur, Körperbemalung u.s.w.), zu Momenten der korporalen Expressivität (Haltung, Bewegung, Mimik und Gestik) und zur Sprache (Sprechweisen und Sprachformen). Ihrer Homologie entsprechend können mehr oder weniger komplexe Jugend(lichen)-Stile in der Werbung über einzelne Stilelemente symbolisiert und sozusagen zitiert werden – mit einem entsprechenden kommunikativen Effizienz- und Sparsamkeitsgewinn (Schnelligkeit,
34 Insbesondere aussage- und eindruckskräftige Darstellungssymboliken.
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geringer Performanzaufwand). Vorausgesetzt wird dabei ein Stilwissen und ein Urteilen der Rezipienten, das z.B. bestimmte korporale Selbstdekorationen (etwa Tätowierungen) in Bezug zu spezifisch ‚passenden‘ Formen von Musik setzt35. Auf dieser Basis werden für die Publika, seien es Jugendliche oder an jugendlichen/Jugendlichkeit orientierte Ältere, auch mentale Haltungen36 aufgerufen (vgl. Willems/Kautt 2003: 194).
5.2.3 Bewusstheit und Reflektiertheit des Stils Wie bereits Hebdige (1979/1998) in seiner klassischen Studie über jugendliche Subkulturen festgestellt hat, zeichnen sich Jugend(lichen)-Stile (ideal-)typischerweise durch ein im Vergleich mit Stilen anderer Altersklassen höheres Maß an Bewusstheit und Reflektiertheit aus. Jene Stile fungieren tendenziell gewissermaßen als Selbstthematisierungen und Selbstbeschreibungen. Nicht selten reflektieren sie sich selbst oder andere Stile durch demonstrative und irritierende Stilzitate oder Kombinationen von Stilelementen oder in der Form komischer oder ironischer Kommentare (vgl. Willems/Kautt 2003: 191f). So haben auffälliger „Bekleidungsmix und Stilbruchinszenierungen bis heute Konjunktur – (…) z.B. als demonstrative Geschlechtsrollenkonfusion per Kleiderkomödie…“ (Ferchhoff 2002: 387). Ebenso gibt es bis heute als „Zeichen des Anders-sein-Wollens und des Protests“ jugendliche „Anti-Moden. Auch sie (etwa die No-Name-Produkte) waren und sind – ohne modisch sein zu wollen – zweifelsohne Moden“ (Ferchhoff 2002: 394). Für die Jugend(lichen)-Stile der Werbung gilt in diesem Zusammenhang prinzipiell Ähnliches: Auf allen Ebenen der „Materialität der Kommunikation“ (Gumbrecht/Pfeiffer 1988), d.h. auf der Ebene der Kleidung, der Sprache, des körperlichen Ausdrucks u.s.w., und vor allem auf der Ebene der ästhetischen Formalisierung und Arrangierung der eingesetzten Materialien (z.B. Farbigkeit, Bildausschnitt, Kontrastwahl, Collage u.s.w.), gibt der jeweilige Stil zu verstehen, daß er als Stil angelegt und gemacht ist und so gelesen werden will. Er ist ausdrücklich „absichtliche Kommunikation“, „eine mit Bedeutung beladene Wahl“, die sich als „sichtbare Konstruktion“ zur Schau stellt (Hebdige 1998: 393 f.).37 Mit Hahn (1986: 609) kann man von „expliziten Stilen“ sprechen, die expressive und demonstrative Funktionen erfüllen (s.o.).
35 Überhaupt ist der Verweisungszusammenhang von korporalen Stilisierungen und Musikstilen eine zentrale Komponente jugendkultureller Homologien. So werden etwa Musikstile wie ‚Techno‘, ‚Hip-Hop‘ oder ‚Heavy Metal‘ mit bestimmten Kleidungsstilen assoziiert und umgekehrt können und sollen letztere die Vorliebe für eine bestimmte Musik zum Ausdruck bringen. 36 „Attitude“, wie es in der Anzeige eines Jugendmodeherstellers heißt. 37 Ähnlich spricht Soeffner hinsichtlich der Selbstinszenierung von Punks von einer „Überhöhung des Alltags“, bei der der Handelnde den Stil so inszeniert, „daß dieser über sich selbst hinausweist auf einen – auch ihn selbst legitimierenden – Hintergrund. Der jeweilige Stil wird so zu einem System von Hinweisen und die jeweilige Inszenierung zu einer Andeutung“ (1995: 94).
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5.2.4 Veränderlichkeit und Gestaltbarkeit des Stils Charakteristisch für die Jugendlichen- wie für die Werbe-Jugendlichen-Stile ist auch, dass sie nicht Dauer oder Kontinuität, sondern eher die Vergänglichkeit ihrer selbst betonen, dass sie die Aktualität des jeweiligen Designs, seine ‚Hipness‘ herausstellen und damit auch zu erkennen geben, daß es bald wieder ‚out‘ sein wird. Dies gilt unübersehbar für die Jugendmode, die im Unterschied zur (langsameren) ‚normalen Mode‘ „vor allem vom rasanteren Wechsel und von der Diskontinuität (lebt). Was heute in oder hip ist, ist einen Monat später schon out“ (Ferchhoff 2002: 393). Die Verselbständigung und Zentralisierung der Bedeutung von Stil für die (werbe-)jugendliche Identität und (Selbst-)Identifizierung geht also mit einer Temporalisierung und Verflüchtigung von Stil (Stil-Symbolik) einher. Sie zwingt die einzelnen Individuen ebenso wie ganze ‚Szenen‘ zu einer bewussten, bewusst machenden und bewussthaltenden ‚Dauerevaluation‘ und Daueraktualisierung ihres stilistischen Erscheinungsund Verhaltensbildes. Gesteigerte Bewusstheit, Reflektiertheit und Veränderlichkeit als Merkmale von Jugend(lichen)-Stilen einerseits und relativ ausgeprägt(er)es Stilbewusstsein und Stilinteresse von Jugendlichen andererseits gehen (ideal-)typischerweise einher mit deren ausgeprägt(er) er Fähigkeit und Neigung zur Stil-Bastelei38. Sie vollzieht und entfaltet sich nicht im sozialen Nichts und nicht aus dem kulturellen Nichts, sondern im Gegenteil – wesentlich als auf ‚Eindruck‘ zielende soziale Praxis – im Rückgriff auf einen in der Vergangenheit erzeugten Formenbestand39. Im Verein mit lebensweltlichen Informanten können die Massenmedien bzw. die Werbung dementsprechend doppelt nützlich sein: als ‚kulturelles Gedächtnis‘, das Optionen und Anregungen für ‚Stil-Bastler‘ bereithält und bereitstellt, und als ‚Spiegel‘, in dem erkannt werden kann, was gerade wo ‚up-to-date‘ ist und (Eindrucks-)Erfolg verspricht. Die Massenmedien bzw. die Werbung fungieren auch insofern als ‚Spiegel‘, als sie individualistische (Jugend-)‚Stil-Basteleien‘ als Muster repräsentieren und (d.h.) stilisieren (vgl. Willems/Kautt 2003: 194ff).
5.2.5 Distinktion und Identifikation durch Stil und (Selbst-)Stilisierung Untersuchungen von lebensweltlichen Jugend(lichen)-Stilen führen immer wieder zur Feststellung von Distinktions- und Identifikationsfunktionen zwischen Kollektivität und Individualität. Hebdige (1998) sieht den „primären Sinn“ eines Jugend(lichen)-Stils ganz allgemein darin, „einen bedeutungsvollen Unterschied (und parallel dazu eine Gruppenidentität) mitzuteilen. (...) Wie ein Stil erzeugt und verbreitet wird, das bestimmt in erster Linie diese absichtlich signalisierte Unterscheidung, von der alles andere ausgeht“ (ebd.: 394 f.). Clarke
38 Darauf bezogene empirische Studien operieren mit Levi-Strauss’ Begriff der „Bricolage“. 39 Clarke stellt in diesem Zusammenhang generell fest: „Die Schöpfung kultureller Stile umfasst also eine differenzierende Selektion aus der Matrix des Bestehenden. Es kommt nicht zu einer Schaffung von Objekten aus dem Nichts, sondern vielmehr zu einer Transformation und Umgruppierung des Gegebenen in ein Muster, das eine neue Bedeutung vermittelt“ (1998: 378).
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spezifiziert dieses Verständnis mit dem Hinweis, dass dem Stil die doppelte Funktion zukommt, sowohl „die Grenzen der Gruppenmitgliedschaft gegenüber anderen Gruppen“ als auch „die Grenze der Gruppe gegenüber den eigenen Mitgliedern und allen Außenstehenden“ zu demonstrieren (1998: 382 f.). In seiner Untersuchung der (Jugend-)Kultur der ‚Punks‘ betont auch Soeffner den hier gemeinten Zugehörigkeitsaspekt des Stils und der Stilisierung. Stil definiert er allgemein als eine „beobachtbare (Selbst-)Präsentation von Personen, Gruppen oder Gesellschaften“ und stellt dann spezifizierend fest: „Stil als eine spezifische Präsentation kennzeichnet und manifestiert die Zugehörigkeit eines Individuums nicht nur zu einer Gruppe oder Gemeinschaft, sondern auch zu einem bestimmten Habitus und einer Lebensform, denen sich diese Gruppen oder Gemeinschaften verpflichtet fühlen“ (1995: 78). Die (Jugendlichen-)Gruppen40 und gruppenspezifische Habitus und Lebensformen identifizierende und distinguierende Funktion von Stilen/Stilisierungen, wie sie z.B. in den Images Punk, Rap oder Techno zum Ausdruck kommen, zeigt sich auch in der Werbung. Mit Stilinszenierungen bzw. Stilzitaten ruft die Werbung sozusagen gruppenspezifische Habitus- und Lebensformen auf und richtet sich damit performativ auf die für sie relevanten (Ziel-)Gruppen, die natürlich mit den performierten Gruppen nicht übereinstimmen müssen. In jedem Fall spricht die Werbung auf diese Weise auch entsprechende Identifikations- und Distinktionsbedürfnisse ihrer Publika an und verspricht ihnen, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Immer – und gerade in der Adressierung von Jugendlichen – muss die Werbung mit ihren Inszenierungen auf diese Bedürfnisse setzen und sie performativ umsetzen. Gleichzeitig betont die Werbung mit Jugendlichen und für Jugendliche heute mehr denn je die individuelle (Selbst-)Stilisierung und die individualistische Distinktion durch Stil-Adoption und Stil-Adaption bzw. Stil-Bastelei. Damit entspricht die Werbung der lebensweltlichen Realität zum einen insofern, als die wenigsten Jugendlichen einer jugend(sub)kulturellen Gruppe oder Szene angehören oder sich voll mit ihr identifizieren. Heutige Jugendliche sind in ihrer Mehrheit eher „jugendkulturelle Grenzgänger“, „part-time-Stylisten mit Sinn für Notwendigkeiten“ (Vollbrecht 1995: 36), die sich aber immer wieder jugend(sub)kultureller Modetrends bedienen. Zum anderen ist der werbliche Jugend-Stil-Individualismus insofern realistisch, als er individualistischen Identitäts- und (d.h.) (Selbst-)Stilisierungsbedürfnissen von Jugendlichen entspricht. Zumindest einem „Großteil der Jugend (geht es, H.W.) immer mehr darum, dem individuellen Look das eigene finessenreiche Ich-Finish zu geben“ (Ferchhoff 2002: 388). Während es offenbar immer unwichtiger wird, welche Stile man ‚pflegt‘41, kommt es immer mehr darauf an, daß man das medial gestützte Unternehmen der Selbststilisierung als solches effektiv und virtuos betreibt, dass man das (Selbst-)Stilisieren ‚pflegt‘ und im Sinne seiner selbst als einem individualistischen ‚Gesamtkunstwerk‘ optimiert.
40 D.h.: Subkulturen, Spezialkulturen, ‚posttraditionale Gemeinschaften‘, Szenen. 41 Ganz unterschiedliche Stile stehen in der Lebenswelt wie in der Werbung ‚gleichberechtigt‘ nebeneinander (vgl. Willems/Kautt 2003: 197ff).
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6. Jugendlichkeit als gesellschaftlicher Lebensstil und Lebensstil-Modell Gerade in der heutigen Werbung kann man die vielleicht dichteste und deutlichste Bestätigung für die nun schon alte These Friedrich Tenbrucks sehen, dass die Kultur der modernen Gesellschaft von einem „Puerilismus“ durchdrungen und die Jugend „in mancher Hinsicht zur dominanten Teilkultur geworden“ sei (1965: 56). Für die Werbungsperformanz wie für die Gesamtkultur der Gesellschaft gilt heute mehr denn je, dass „Umgang, Vergnügen, Lektüre, Freizeit, Moral, Sprache, Sitte der Erwachsenen (…) zunehmend jugendliche Züge“ (ebd.) aufweisen. Als kosmologisches (Selbst- und Fremd-) Deutungsmuster und Modell, d.h. als eine Ansammlung von Vorstellungen, Idealen, Erwartungen, Ansprüchen, Wünschen und Bedürfnissen, dringt Jugendlichkeit in beiden Altersrichtungen vor: in die Kindheit und Kinderkultur42 einerseits und in die höheren Altersklassen andererseits. In diesem für das Bewusstsein wie für die soziale Praxis folgenreichen Sinne überwindet Jugendlichkeit aber nicht nur die Grenzen der Altersklassen, sondern – sozusagen als wahre Leitkultur – auch die aller ‚sozialen Klassen‘, Schichten und Milieus. Jugendlichkeit als kosmologisches Modell und Lebensstil ist nun ihrerseits in gewissem Maße historisch und in ständiger Entwicklung und Wandlung begriffen. Für die Gegenwartsgesellschaft kann man einen generalisierten ‚Jugendlichkeitskomplex‘ im Sinne eines Idealtyps feststellen, der wesentlich auch auf einen vielseitigen und variantenreichen ‚Stilismus‘ hinausläuft. Das heißt, so Ferchhoff: „Ästhetisierende und pseudoästhetisierende Dimensionen werden zentral. (…) Die Außenwahrnehmung des Menschen, seine inszenierte Erscheinungsweise hat an Bedeutung gewonnen, und Individualität wird mehr denn je durch eklektizistische (Lebens-)Stildifferenzen, durch Kontingenz, Beweglichkeit und Offenbleiben definiert und betont …“ (2002: 384). Was nunmehr „wirklich zählt, ist das (Lebensstil-) Design. (…) Das sichtbar Tiefste am (jugendlichen) Menschen ist seine – über gepflegtes Outfit, Körperdesign, Musik und Mode inszenierte Oberflächenselbstdarstellung, -stilisierung, -reflexivität und -kostümierung“ (ebd.). Gewiss ist dies nur eine (Theatralisierungs-) Tendenz und nur eine Tendenz. Sie ist aber offenbar von universeller und großer (Kultur-) Relevanz. Worum es damit geht ist nicht weniger als eine prinzipielle Verschiebung von Werten, Wertgewichten und auch praktischen Lebens-, Erlebens- (Erlebnis-) und Handlungsorientierungen. Mit dieser Verschiebung vom ‚Inneren‘ zum ‚Außen‘, von der ‚Tiefe‘ zur ‚Oberfläche‘ wird der Körper und alles, was mit ihm bzw. seiner Theatralität zusammenhängt (insbesondere Kleidung bzw. Mode), zu einem Zentrum der (Selbst-) und (Fremd-)Aufmerksamkeit und zu einem zentralen Bezugspunkt einer Art ‚Außenlenkung‘ (Riesman), der ein (Körper-) Kapital, ein Habitus, ein Distinktionsmittel und eine Form von Selbststeuerung entspricht. Begleitet und verstärkt von der Theatralität der Massenmedien, gerade auch, aber längst nicht nur der Werbung, und auf der Basis eines entsprechenden (enormen) Relevanzgewinns von Visualität hat sich Jugendlichkeit als jugendliche Korporalität zum Richtpunkt manifester und latenter Selbstbewertung entwickelt (vgl. Koppetsch 2000). Die Kraft, die vom Leitbild Jugendlichkeit ausgeht, führt zu einer Neudefinition des Körpers und der ‚Pflege‘ des Kör42 Man betrachte zur schnellen Gewinnung von Evidenz die Darbietungen des (Fernseh-)‚Kinderkanals‘ oder Erfolgskinofilme wie die ‚Wilden Kerle‘.
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pers, an dem heute von mehr Menschen denn je mehr, systematischer, disziplinierter und rationaler denn je gearbeitet wird. Die Kraft des Jugendlichkeitsmodells führt auch zu immer neuen Investitionen in theatrale „Restitutionsprozesse, die maßgeblich dazu beigetragen, dass Bereiche wie Sport, Mode, Kosmetik und Schönheitschirurgie seit Jahrzehnten beispiellos prosperieren“ (Ferchhoff 2002: 390f). ‚Forever young‘ lautet die entsprechende durchaus realitätswirksame Utopie und Illusion, wozu vor allem medial mannigfaltig Beihilfe geleistet wird. Die Theatralität des Körpers (Korporalität), insbesondere auch seine Gestaltung aus eigener oder fremder Kraft, ist zu einem zentralen Diskurs- und Daseinsthema sowie auch zu einem kommerziellen, industriellen und medialen Arbeits- und Kampfbereich geworden.43 Die kulturelle Verjugendlichung der Gesellschaft ist aber im Kontext der diesem Werk zugrunde liegenden zeitdiagostischen Überlegungen auch jenseits von ‚Oberflächenselbstdarstellung‘, Mode, Körperstyling und ‚Versportung‘ von zentraler Bedeutung. Als ebenso wichtig erscheint z.B. eine dynamisch fortschreitende ‚Verspielung‘. Es dürfte heute gerechtfertigt sein, von einer historisch einmalig ‚verspielten‘ Gesellschaft zu sprechen, die sich jedenfalls auch an der ‚Verspieltheit‘ der Jugend bzw. der entsprechenden Vorstellung von Jugend orientiert.
Schlussbemerkung Der Begriff des Stils ist also – ähnlich wie etwa die komplementären Begriffe Deutungsmuster und Ritual – ein sehr weitreichender und daher differenzierungsfähiger und differenzierungsbedürftiger Begriff, der ein breites Spektrum von Phänomenen zwischen Habitualität und Medialität zu fassen und aufzuschließen vermag. Es kann gerade im Kontext und im Licht von Theatralität und (Ent-)Theatralisierung kein Zweifel an seiner theoretischen und empirisch-analytischen Bedeutung, Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit bestehen. Der Bezug auf diesen Kontext zeigt allerdings auch eine spezifische konzeptuelle Verwiesenheit und Angewiesenheit sowie einen konzeptuellen Anschlussbedarf des Stilbegriffs auf. Diesen Begriff auf die Ebene der „Gestaltung“ zu beschränken, wie es Thomas Luckmann (1986a) vorgeschlagen hat, würde ihn nicht nur von jenen habituellen Dispositionen und ihren lebensweltlichen (Interaktions-)Korrespondenzen abziehen, auf die er, wie sich gezeigt hat, gewinnbringend anwendbar ist, sondern auch einen Zugang zu dem zentralen und immer wichtiger werdenden Zusammenhang zwischen dieser Ebene und der der ‚Gestaltung‘, insbesondere der medialen Inszenierung und Performanz, verschließen. Die Massenmedien sind es ja, die im sinnverarbeitenden Rückbezug auf Habitus und Lebenswelt und in darauf bezogener sinngebender Performanz von zunehmender Bedeutung für die Realität der Stile und (Selbst-)Stilisierungen, für ihre Entfaltung, Entwicklung und Wandlung geworden sind und werden. 43 Die Kultur der Gesellschaft entwickelt sich in diesem Theatralisierungsprozess der korporalen Verjugendlichung also in eine ganz andere Richtung als die Sozialstruktur. Immer ‚älter‘ werdend, macht die Gesellschaft immer mehr ‚auf jugendlich‘.
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Goffmans Stigma-Identitätskonzept – neu gelesen Ernst von Kardorff
1. Zur Aktualität von „Stigma“ angesichts sozialen Wandels Erving Goffmans Arbeiten gehören heute unbestritten zum soziologischen Kanon.1 Der 1963 veröffentlichte Essay Stigma. Notes on the management of spoiled identity2 ist mit Wir spielen alle Theater (1959/dt.1969) Goffmans bekanntester Text und dürfte zusammen mit Asyle (1961/dt.1972) auch zu seinen außerhalb der Soziologie einflussreichsten Arbeiten zählen.3 Auch wenn Stigma vielleicht nicht zu Goffmans bedeutendsten theoretischen Texten gehört, kommt ihm gleichwohl eine methodologische Schlüsselstellung in seinem Forschungsprogramm zur Analyse der Regelgeleitetheit der Reproduktion mikrosozialer Ordnung in der face-to-face Interaktion zu: am Zusammentreffen zwischen „normalen“ und stigmatisierten Personen zeigt Goffman exemplarisch, welche individuellen und gemeinsamen Anstrengungen alle Beteiligten unternehmen müssen, um trotz wahrgenommener Andersartigkeit, Abweichung oder Statutsdifferenz die (Fiktion der) verlässlichen Routinen der mikrosozialen Ordnung zu garantieren und den Gefährdungen der individuellen Respektabilität, der existenziellen Sicherheit gemeinsam zu begegnen sowie die riskanten Übergänge zwischen unterschiedlichen Rahmungen in reflexiv aufeinander bezogenen Handlungslinien erfolgreich zu meistern und zum Gelingen der Interaktion beizutragen. Was kann eine erneute Lektüre eines so erfolgreichen, vielzitierten und debattierten Textes noch an Neuem bringen? Aus meiner Sicht lohnt sie sich unter der Perspektive sozialen Wan1 Vgl. auch Ditton (1980); Marx (1984); Drew/Wootton (1988); Giddens (1987); Burns (1992); Manning (1992); Lemert/Branaman (1997); Fine/Smith (2000); Hettlage in: Kaesler (1999); Knoblauch in: Kaesler/Vogt (2000); Willems (2000). Hettlage/Lenz (1991) sehen in Goffman einen „Klassikers der zweiten Generation“. 2 Alle Zitate aus der deutschen Ausgabe von 1967 werden nachfolgend als Stigma zitiert. 3 Asyle und Stigma haben vor allem in der Erziehungswissenschaft, der Psychiatrie und Psychologie, der Sozialarbeit, Behindertenpädagogik und der Kriminologie und ihren jeweiligen Praxisfeldern fachliche Auseinandersetzungen stimuliert, politische Reformprozesse eingeleitet (v. Kardorff 1991; Schülein 2007) und beeinflussen die einschlägigen wissenschaftlichen Diskurse, etwa in den Disability Studies, bis heute. Richter (2003) hat anhand der Datenbanken sociofile und medline festgestellt, dass seit Ende der 90er Jahre Artikel mit dem Stichwort „Stigma“ im Titel im Vergleich mit einem Jahrzehnt zuvor (durchschnittlich zwischen 10 und 20 Beiträgen in beiden Literaturdatenbanken) wieder deutlich häufiger erscheinen, im sociofile zwischen 20 und 30 Artikeln, im medfile exponentiell steigend von 1999 an (40 Beiträge) bis 2002 (80 Artikel). Neben dem ungebrochenen wissenschaftlichen Interesse verweist dies auch auf eine zunehmende gesellschaftliche Sensibilisierung für Stigmatisierungsprozesse wie auch auf eine Zunahme neuer Gruppen, die Gefahr laufen, stigmatisiert zu werden: die „Überflüssigen“, das Prekariat, die Modernisierungsverlierer, Übergewichtige, etc.
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dels wie unter theoriesystematischen Gesichtspunkten gleichermaßen. Seit dem Erscheinen von Stigma vor nunmehr 45 Jahren hat sich nicht nur in den USA der gesellschaftliche Umgang mit auffälligen und von der Norm abweichenden Personen und Gruppen deutlich verändert; einige der noch zu Goffmans Zeiten stigmatisierten Gruppen haben sich soziale Akzeptanz oder zumindest Toleranz, einige auch einen respektablen Platz in der Öffentlichkeit erkämpfen können.4 Die Herausbildung neuer Milieus und vielfältiger Lebensentwürfe im Rahmen von Wertepluralismus und zunehmender Individualisierung hat Variationsspielräume von Normalität erweitert5, aber auch zu Normenunsicherheit beigetragen; parallel dazu haben Entwicklungen im Wirtschaftssystem, auf dem Arbeitsmarkt, im Bildungs- und Gesundheitswesen und die sie begleitenden öffentlichen und politischen Diskurse6 neue Formen stigmatisierbarer Abweichung erzeugt. Zu den neuen Personengruppen, die hier in den Blick geraten, gehören z.B. Menschen, die den gestiegenen und hochgradig standardisierten Anforderungen im Bildungssystem, der geforderten Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt oder den massenmedial propagierten Idealen verbaler und körperlicher Inszenierungskompetenz nicht entsprechen können oder wollen. Zwar können Betroffene heute von den Erfahrungen des individuellen wie kollektiven Stigmamanagements etwa von Behinderten, Homosexuellen oder ethnischen Minderheiten profitieren, zugleich haben sich aber die Anforderungen an persönliche wie kollektive Identitätsarbeit und Identitätspolitiken unter den Bedingungen der reflexiven Moderne erhöht: angesichts eines „flexiblen Normalismus“ (Link 1997) werden die Erwartungen an soziale Identität(en) uneindeutiger und riskanter mit der Folge, dass die Ausbildung einer als relativ stabil empfundenen Ich-Identität und die Entwicklung von Ambiguitätstoleranz (Krappmann 1969) gegenüber miteinander konkurrierender und im Wettstreit miteinander liegender Möglichkeiten und Zumutungen erhebliche Anstrengungen und nicht zuletzt eine zunehmende und weitgehende Selbstinstrumentalisierung verlangt; dies ließe sich im Rahmen der von Elias (1969) beschriebenen säkularen Entwicklung zu einem vermehrt erforderlichem Selbstzwang, zu einer immer perfektionierteren „methodischen Lebensführung“ (Weber 1993) bis hin zu einem „unternehmerischen Selbst“ (Bröckling 2007) deuten. Angesichts dieser gesellschaftlichen Entwicklungen scheint es mir notwendig, den mikrosozialen Kosmos der Goffmanschen Interaktionsordnung zur Aufnahme makrosozialer Entwicklungen zu öffnen und seine Überlegungen insbesondere um anschlussfähige Konzepte von Emotionsarbeit, Körperinszenierung und biografische Arbeit zu erweitern7. Dies ist theoriesystematisch sowohl unter dem Aspekt der Rahmungserfordernisse innerhalb einer bestimmten Situation
4 Dazu haben unter anderem bürgerrechtlich inspirierte Initiativen Betroffener, politische Debatten um die Inklusion marginalisierter Gruppen in Bildungs- und Sozialsysteme und auf den Arbeitsmarkt, fachliche und professionelle Strategien zur sozialen Integration und ein Perspektivenwechsel von vorrangig defizitorientierten und individualisierenden Konzepten in Richtung eines ressourcenfördernden Empowerment und der Berücksichtigung sozialer Kontexte in den mit Abweichung, Störungskorrektur, Behandlung und Rehabilitation befassten Disziplinen beigetragen. 5 Link (1997) und Waldschmidt (2003) sprechen hier von einem „flexiblen Normalismus“, der verschiedenste Abweichungsformen semantisch situations- und trendgerecht zu integrieren versucht. 6 Mit Foucault (1974) ließe sich von der Entwicklung „produktiver Diskurse“ sprechen, in denen die Erzeugung stigmatiserbarer Abweichungsformen vervielfältigt wird. 7 Zwar finden sich auch in Stigma immer wieder Hinweise auf Emotionsmanagement und biografische Aspekte; sie bleiben allerdings meist kursorisch und werden mit Ausnahme der körperlichen Ko-Präsenz als konstitutivem Merkmal von face-to-face Interaktionen nicht systematisch weiterverfolgt.
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als auch mit Blick auf die riskanten Übergänge zwischen verschiedenen Interaktionssituationen bedeutsam: angesichts von gesellschaftlich erzeugten Vermischungen/Verwischungen der Rahmungen von Interaktionssituationen und kommunikativer Gattungen8 in der modernen Dienstleistungsgesellschaft, etwa der Verwischung der Grenzziehungen zwischen warenförmiger und privater Beziehung, entstehen Interaktionsparadoxien; für die Identitätskonstruktion erfordert der Wechsel zwischen verschiedenen Interaktionen eine transsituationale Ich-Idenität9, die die existenzielle „Lücke“ zwischen den Vertrauen sichernden Regeln der Interaktionsordnung gesellschaftlich überbrückt. Bevor ich auf diese Fragen eingehe, beginne ich mit einer kurzen Darstellung der dafür wesentlichen Grundannahmen in Stigma; die Mehrzahl der im Folgenden herangezogenen Beispiele stammt aus den Feldern der Psychiatrie und der Rehabilitation, ohne dass die Ausführungen nur auf diese Felder beschränkt sein müssen.
2. Zu einigen Grundannahmen von Goffmans Stigmakonzeption 2.1 Stigmata Stigmata bezeichnen auffällige Merkmale einer Person, die als zutiefst diskreditierend oder als Merkmale besonderer Auserwähltheit (etwa im religiösen Sinne) gelten. Menschen, selbst im engeren Umfeld der Betroffenen, reagieren auf das Vorliegen eines Stigmas häufig spontan mit negativen Empfindungen und Bewertungen, mit unkontrollierter Mimik und Gestik, die Missbilligung, Ekel oder angstvolle Abwehr ausdrücken; zuweilen zeigen sie auch offen diskriminierendes Verhalten, zumindest dann, wenn sie sich dabei der Unterstützung ihrer Bezugsgruppe sicher sein können oder es sich um ein offensichtlich gesellschaftlich geächtetes Merkmal handelt. Goffman klassifiziert Stigmata auf der Basis gesellschaftlich beobachteter Reaktionen auf Personen mit entsprechenden Eigenschaften entlang der folgenden drei Dimensionen (Stigma: 12,13): – Abscheulichkeiten des Körpers (physische Deformationen wie körperliche Behinderungen, Entstellungen, Sprachfehler, u.s.w.); – Individuelle Charakterfehler (basierend auf Zuschreibungen wie Willensschwäche, illustriert an Drogenabhängigen, Alkoholikern, Straftätern, Arbeitslosen, etc.); – Phylogenetische Stigmata (Rasse, Nation, Religion).
8 Parallelen zu derartigen Vermischungen der Rahmungen sehe ich auch bei den kommunikativer Gattungen (vgl. Knoblauch/Luckmann (2004), wie sie etwa in der Dienstleistungskommunikation vorkommen, z.B. in der Sozialarbeit: kumpelhafte Gestik und Rhetorik verknüpft mit fachlichen und sanktionsbewehrten Erziehungsegeln oder in den Medien etwa im Format der „Dokusoap“. 9 Hinter dem von Goffman beschriebenen Konzept der Rollendistanz (vgl. Goffman 1961/dt.1973), die für kompetente Interaktion und für Rahmenwechsel (etwa das keying, vgl. Goffman 1974/dt.1977) erforderlich ist, verbirgt sich das meiner Meinung nach von Goffman nicht gelöste/nicht diskutierte Problem der Subjektkonstitution: die Frage nach der existenziellen Basis(konstruktion), mit der Individuen Krisen des Übergangs zwischen Interaktionssituationen und den jeweiligen Rahmungen der Interaktionsordnung selbst bewältigen (vgl. Schülein 2007).
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Diese Stigmata bilden dabei eine besondere Klasse von Eigenschaften, in die Personen mit den entsprechenden Merkmalen eingruppiert werden. Diese sind in den soziokulturellen Repräsentationen der Gesellschaft verankert und fungieren als unbefragte Gewissheiten alltäglicher Wahrnehmungsformen und Handlungsorientierungen. Dem Einzelnen helfen sie bei einer raschen und für praktische Zwecke der alltäglichen Interaktion ausreichend genauen, zuverlässigen und situationsangemessenen Kategorisierung seiner Mitmenschen. Auch wenn diesen Merkmalen kein ontologischer Status zukommt, nehmen sie in den kulturellen Stereotypen und im Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder häufig einen derartigen Charakter an. Demgegenüber betont Goffman, dass Stigmata Relationen bezeichnen, die den Abstand Stigmatisierter zu den Nicht-Stigmatisierten vor der Folie dominanter Normalitätsdispositive markieren.10 Eine Person erhält ein Stigma, wenn sie ... in unerwünschter Weise anders [ist], als wir es antizipiert hatten. Uns und diejenigen, die von den jeweils in Frage kommenden Erwartungen nicht negativ abweichen, werde ich die Normalen nennen (Stigma: 13; Herv. im Original).
Damit kann potentiell jede Person, die ein „situational unangemessenes Verhalten“ (Goffman 1971: 155) zeigt, zum Normabweichler werden und ist damit dem Risiko der Stigmatisierung ausgesetzt. Derartige Klassifikationen beruhen auf zwei grundlegenden Formen der Identifikation (...): die kategoriale, durch die das andere Individuum einer oder mehreren sozialen Kategorien zugeordnet wird, und die individuelle, die das beobachtete Individuum mit einer einmaligen Identität ausstattet, und zwar auf der Grundlage der äußeren Erscheinung, des Klangs der Stimme, der Nennung von Namen oder anderer Hilfsmittel, die zur Unterscheidung zwischen Personen dienen (Goffman 1981/dt.1994; Herv. im Original).
Betroffene erfahren dabei die Zuschreibung des Stigmas durch die Filter sozial kodierter Wahrnehmung in den alltäglichen Interaktionen; dies wirkt auf die psychische und performative Verkörperung des Stigmas durch den Stigmatisierten zurück. Die Normalitätsdispositive, die den semantischen Code für die Stigmatisierung darstellen, basieren dabei auf den präskriptiven und institutionalisierten Normen einer Gesellschaft, etwa dem Strafrecht, aber mehr noch auf ihren „normalistischen“ Normen (Link 1997), d.h. den mehrheitlich geltenden und subjektiv als selbstverständlich empfundenen Verhaltenserwartungen, die im Sinne einer Normativität des Faktischen die Variationsspielräume akzeptierter Normalität in den jeweiligen Rahmungen der Interaktionsordnung umreißen. Hinzu kommen Regeln, die Vertrautheit vermitteln und Sicherheit garantieren wie Regeln des Anstands, der Zuvorkommenheit oder des Takts sowie Darstellungen, die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit der Teilnehmer und ihr Engagement in der Interaktion vermitteln sollen. Weitere Regeln, die für Krisensituationen vorgesehen sind, sollen die Befolgung sozial akzeptierter Heilungsrituale im Falle einer Verletzung dieser Regeln gewährleisten.11 Vor der Folie dieser Normalitäts10 „Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding an sich weder kreditierend noch diskreditierend.“ (Stigma: 11). 11 vgl. hierzu: Hettlage 1999, 193ff.; Goffman spricht in Stigma von „Wiederherstellungsmaßnahmen“ (157).
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annahmen und Regeln sowie der Erwartungen an ihre situationsgerechte Anwendung durch kompetente Andere kann im Prinzip jedes unerwartete, ungewöhnliche oder spontane Verhalten, das Aussehen, die Kleidung, die Sprache, etc. zum Anlass einer Störung der Interaktionsordnung (Goffman 1981/dt.1994)12 werden. Das sozialisatorisch vermittelte „intuitive Wissen um Sozialstruktur“ (Cicourel 1975) erweist sich dabei als hochsensibles Wahrnehmungsraster für derartige Störungen.
2.2 Soziale Identität, persönliche Identität und Ich-Idenität Mit den in der Überschrift genannten Unterscheidungen gelangt Goffman zu einem dynamischen Identitätskonzept, in dem die erlebte Ich-Identität jeder Person aus ihrer aktiven Gestaltung der ihr zugeschriebenen sozialen Identität und den unverwechselbaren Merkmalen ihrer persönlichen Identität resultiert. Über die soziale Identität wird der Status der Person folgenreich bestimmt: Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ‚soziale Identität‘ zu antizipieren – um einen Terminus zu gebrauchen, der besser ist als ‚sozialer Status‘, weil persönliche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel ‚Ehrenhaftigkeit‘ ebenso einbezogen sind wie strukturelle Merkmale von der Art des ‚Berufs‘ (Stigma: 10).
Zu dieser sozialen Identität13 tritt die „persönliche Identität“ hinzu. Darunter versteht Goffman die unverwechselbaren Merkmale einer Person, die „Identitätsaufhänger“, an die weitere Eigenschaften angeheftet werden können, die „wie Zuckerwatte um die Person herum gewickelt“ werden können und klebrig an ihr haften bleiben (vgl. Stigma: 74f.). Diese persönlichen Merkmale verändern sich im Lauf der Biografie, etwa durch einen angenommenen Habitus, der die erreichte soziale Stellung anzeigt und durch körperliche Merkmale und Ausdrucksformen, die sowohl bewusst gestaltet als auch unbeabsichtigt gezeigt werden.14 Im Konzept der Ich-Identität schließlich spricht Goffman von „empfundener“ Identität, mit der „das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt“ (Stigma: 132) bezeichnet wird; Ich-Identität erscheint damit als die in-
12 „Die Interaktionsordnung bezeichnet jene kleinen Räume der Interaktion, in denen wir in körperlicher Präsenz mit anderen handeln. Es ist gerade ihre Unmittelbarkeit, die ihre Eigengesetzlichkeit ausmacht – im Unterschied zur Gesellschaftsstruktur“ (Knoblauch 1994: 34). 13 Die Grundgedanken sozialer Identität finden sich bereits in den Schriften von Cooley im Konzept des reflexiven „looking-glass-self“ (1902) und werden in Meads Sozialisationstheorie mit der Unterscheidung von persönlicher („I“ ) und sozialer Identität „me“ vorbereitet (Mead 1934/dt. 1968); dies gilt auch für soziale Klassifikationsprozesse, wie sie in Anselm Strauss‘ Essay „Mirrors and Masks: The Search for Identity“ (Strauss 1959/dt. 1968) analysiert wurden. Goffman differenziert die soziale Identität in die virtuale soziale Identität, die den Erwartungshorizont anhand der sichtbaren Merkmale (etwa Habitus, Kleidung, Rollstuhl) definiert und durch das von der betreffenden Person konkret gezeigte Verhalten, das seine aktuale soziale Identität für nachfolgende Interaktionen näher bestimmt. 14 Vgl. Bourdieus (1976) mit dem Habituskonzept verknüpfte Überlegungen zur Hexis, also den äußerlich vorhandenen Körpermerkmalen, wie Behinderung, starkes Übergewicht oder bestimmten Eigenarten des Körperausdrucks.
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nere psychische Seite, das Selbsterleben, das Selbstbild und die Reflexivität der Person. Aus der erlebten Differenz zwischen zugeschriebener sozialer Identität und den Attributen seiner persönlicher Identität entwickelt der Einzelne durch aktive Gestaltung15 seine Ich-Identität, sein Selbstbild, das die Grundlage für das individuelle Stigmamanagement bildet: „Die Idee der Ich-Identität erlaubt uns, zu betrachten, was das Individuum über das Stigma und sein Management empfinden mag (...)“ (Stigma: 132). Der Einzelne muss die Aspekte seiner sozialen und persönlichen Identität emotional, kognitiv und in seinem Verhalten aktiv zu seiner „Ich-Identität“ synthetisieren. In dieser beständigen Arbeit versuchen nicht nur Stigmatisierte die ihnen zugeschriebene soziale Identität auf verschiedene Weise zu kontrollieren16 und Aspekte ihrer persönlichen Identität in besonderer Weise zu präsentieren; dabei kommt es zu einem beständigen Wechsel der Darstellungsformen, wobei zugleich eine kontinuierliche Identifizierbarkeit im Sinne biografischer Konsistenz gewährleistet werden muss. Dieser häufig von einem Wechselbad der Emotionen begleitete Balanceakt der mit Blick auf die maßgeblichen Anderen und auf das eigene Erleben Plausibilität und Akzeptabilität der Konstruktion der individuellen biografischen Identität sichern muss, bleibt immer prekär und irritierbar.17
3. Stigma und Stigmatisierung unter den Bedingungen der reflexiven Moderne Die nachhaltige Wirkung von Stigma und den etwas früher erschienenen Studien in Asyle beruht auf der Erkenntnis der gesellschaftlichen Folgen von Diskriminierung, Statusverlust und sozialer Isolierung sowie auf deren Auswirkungen auf Selbstwertgefühl und Identität von Einzelnen und Gruppen. Unter den veränderten Bedingungen der „zweiten Moderne“ (Beck/Bonß 2001; Giddens 1991) haben sich, wie bereits mehrfach angedeutet, Kontexte und Spielräume für Identitätskonstruktionen verändert und erweitert (z.B. Keupp u.a. 1999). Offen gezeigte Vorurteile und diskriminierende Verhaltensweisen gegenüber ungewöhnlichen Lebensentwürfen und einigen abweichenden Minderheiten sind einer größeren gesellschaftlichen Toleranz und Offenheit gewichen. Inwieweit es sich dabei jedoch lediglich um eine 15 Man könnte hier im Sinne von Strauss 1968 auch von Arbeit sprechen; mit diesem Konzept könnte auch das Stigmamanagement sowohl umfassender als auch präziser gefasst werden. 16 Goffman spricht hier von den Aufgaben der Informationskontrolle (vgl. Stigma: 56ff.). 17 Dies gilt vermehrt für die Anforderungen an theatralisiert präsentierte Individualitätsbeweise (Willems 2007) in einer Mediengesellschaft wie auch für die sich in raschem Wandel befindlichen Erfordernisse zur flexiblen Präsentation der eigenen Person auf dem Arbeitsmarkt und bei Bewerbungsgesprächen. Als Folge lässt sich zugespitzt von einer „Ich-Jagd“ (Gross 1998) sprechen und die Ausbildung von „patch-work“ Identitäten (vgl. Keupp u.a.1999) beobachten, mit denen Individuen den jeweiligen Facetten sozialer Erwartungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären gerecht zu werden versuchen. Diese makrosozialen Entwicklungen zwingen zu einem stark von äußeren Einflüssen bestimmten Identitätsmanagement, ohne dass es dabei zu einem „außengeleiteten Charakter“ kommt, wie früher von Riesman et al. (1956) vermutet wurde; vielmehr müssen die wechselnden Einflüsse von außen in Formen einer krisenfesten Selbststeuerung transformiert werden, die strategisch riskante Wahlentscheidungen mit den Anforderungen an unverwechselbare Identität und einer für sich selbst identifizierbaren biografischen Ich-Identität verknüpft (vgl. auch Kaufman 2004).
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Schein-Akzeptierung (Stigma: 152)18 oder auch nur um bloße Gleichgültigkeit gegenüber Stigmatisierten handelt, ist empirisch nur im Einzelfall zu beantworten19. Zudem verleihen eigenständige kollektive Strategien und ein gestiegenes Selbstbewusstsein marginalisierter Gruppen dem Stigmamanagement eine neue Qualität und gesellschaftlichen Einfluss in Öffentlichkeit, Politik, bei den Instanzen sozialer Kontrolle, in den Versorgungssystemen und bei den Professionen. Beispielhaft dafür können die Selbstbeschreibungen psychisch-kranker und behinderter Menschen und die Reaktionen der einschlägigen Disziplinen stehen: So bezeichnet sich etwa eine Berliner Selbsthilfeinitiative als „Irrenoffensive“ und klagt mit diesem Begriff die Einlösung bürgerrechtlicher Forderungen nach gleichberechtigter Behandlung und Selbstbestimmung sowie nach gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Anliegen ein, ohne das mit der medizinischen Diagnose „psychisch krank“ verbundene soziale Urteil zu akzeptieren. Und mit Blick auf ihre Erfahrungen in und mit den Institutionen der Psychiatrie, und dem dort tätigen Personal sprechen viele Betroffene von sich nicht als Kranke sondern als „Psychiatrieerfahrene“, die sich in einem gleichnamigen Bundesverband zusammengeschlossen haben. In den 70er Jahren haben politisch engagierte Körperbehinderte, orientiert an den Zielen und Erfolgen der „Independent Living Bewegung“ aus den USA ihre Zusammenschlüsse in „Krüppelinitiativen“ umbenannt, um den herrschenden Machtverhältnissen im „Jahr der Behinderten“ ihre eigene Melodie in ironischer Absicht vorzuspielen (vgl. Köbsell 2006). Die „traditionellen“ Stigmata wie Behinderung und Geisteskrankheit, aber auch andere von gesellschaftlichen Normen und Normalitäten abweichenden Lebensweisen werden in der wissenschaftlichen Debatte seit einiger Zeit unter Konzepten wie Diversität (Waldschmidt/Schneider 2007; Krell/Riedmüller/Sieben/Vinz 2007) und politisch etwa unter dem Schlagwort „es ist normal, verschieden zu sein“ normalisiert. Dieser neue Typus wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskurse verweist auf eine durch soziale Bewegungen vorbereitete und im Rahmen postmoderner Diskurse erzeugte politische und öffentliche Sensibilität gegenüber den mit eigener Stimme politisch artikulierten sozio-kulturellen Differenzen und den damit verbundenen Ansprüchen auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Anerkennung. In diesen Diskursen werden disziplinär, institutionell und professionell konstruierte Bilder des Anderen als des „Fremden“, etc. dekonstruiert und verweisen auf ihren in Interessen-, Macht- und Herrschaftszusammenhängen oder in historischen Gewohnheiten verankerten Charakter.20 So zeigen die Disabilty Studies deutlich, dass und wie traditionsverankerte alltägliche, politische, aber auch wissenschaftlichen Konstruktionen des „Behinderten“ Barrieren für eine gesellschaftliche Teilhabe vor allem in der betroffenen Person und nicht in der behindernden Umwelt sehen. Mit Selbsthilfegruppen, öffentlichem Sprechen in Talkshows, Foren im Internet, etc. haben (sich für) Stigmatisierte neue Möglichkeiten zu einer stärker selbstbestimmten In-
18 Vgl. Goffman Stigma: 152; auch: Cloerkes (2001). 19 Viele Betroffene berichten immer wieder von der Unsicherheit darüber, wie sie nun „wirklich“ von den anderen gesehen und ob sie von ihnen anerkannt werden, eine Besorgnis von der Goffman auch in Stigma mehrfach berichtet. Angesichts ambivalenter Erwartungen scheint sich diese Unsicherheit zu verallgemeinern, zumal Vergleiche mit medial präsentierten Idealbildern aufgrund der raschen Moden riskant sind. 20 Insbesondere sind hier die Disability Studies (statt vieler: Albrecht u.a. 2001; Dederich 2007; Waldschmidt & Schneider 2007) und die Diversity-Forschung (z.B. Krell u.a. 2007) zu nennen, die sich dabei u.a. auf Argumentationsfiguren aus den Gender-Studies beziehen.
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formationspolitik und zur Entwicklung neuer individueller und politisch einflussreicher kollektiver Identitätsstrategien eröffnet. Trotz aller semantischer Umcodierungen, vielfältiger Integrationsbemühungen engagierter Fachkräfte und Initiativen und staatlicher Inklusionsstrategien im Recht, in Bildungs-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik21 bleiben diskreditierte und diskreditierbare Merkmale wie chronische Krankheit oder Behinderung, soziale Herkunft, Gefängnisaufenthalt, Hautfarbe und ethnische Herkunft gleichwohl weiterhin gesellschaftlich stigmatisiert und es werden beständig neue Merkmale in den Kreis diskreditierbarer Merkmale aufgenommen. Kurz: Stigmata kommen und gehen, aber Stigmatisierung bleibt bestehen.22 Insofern werden Betroffene weiterhin ein komplexes Stigmamanagement, eine aufwändige Identitätsarbeit leisten und kollektive Identitätspolitiken entwickeln müssen23.
3.1 Stigmatisierung als der gesellschaftliche Normalfall Am Wandel stigmatisierbarer Eigenschaften zeigen sich symptomatische Verschiebungen in den sozialen Wahrnehmungsmustern. Stigmatisierung selbst bleibt jedoch der gesellschaftliche Normalfall.24 Sie beschreibt einen von Goffman bis heute gültig beschriebenen generellen und persistenten Modus sozialer Klassifikation. Mit der sozial erfolgreichen Zuschreibung eines Stigmas verbindet sich zugleich ein Master-Status der betroffenen Person, der dazu führt, dass ihr Aussehen, ihr Handeln, ihr Sprechen, kurz die gesamte Person nur über ihr Stigma wahrgenommen wird: der alkoholkranke Mensch wird zum Alkoholiker, etc.. Be-
21 Statt der substantivischen Zuschreibung „Behinderter“ wird in den Fachdisziplinen und in offiziellen Dokumenten von „Menschen mit Behinderung“ gesprochen, um die Identifikation von Personen über den Master-Status „Behinderter“ zu vermeiden. Mit der Grundgesetzergänzung § 3, Abs. 3 GG (Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden), den Gleichstellungsgesetzen und dem allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz sowie dem Sozialgesetzbuch IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) wurden bürgerrechtliche Forderungen (Selbstbestimmung) aufgenommen und – neben Benachteiligungsverboten und Nachteilsausgleichen – weitere positive Ansprüche („Sicherung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben“) politisch und rechtlich normiert. 22 Stigmata und Stigmatisierung haben eine lange Tradition der meist negativen Brandmarkung und der sozialen Deklassierung der Betroffenen, worauf Goffman in der Einleitung zu seinem Essay hinweist; Müller (1996) zeigt dies historisch für den „Krüppel“, aber es können immer neue Gruppen hinzukommen: in der Gesundheitspolitik etwa die Raucher oder die Übergewichtigen, in der Rhetorik des politischen Alarmismus etwa Muslime und gewalttätige Migranten; andere Gruppen wiederum werden im Rahmen eines „flexiblen“ Normalismus von offener Stigmatiserung und Diskriminierung relativ ausgenommen, wie Lesben und Schwule, oder aber im Kontext politisch korrekter Sprache von neuem stigmatisiert. 23 Goffmans besondere Leistung besteht darin, die Bedingungen und Prozesse der Stigmatisierung sowie die darauf erfolgenden Reaktionen bzw. die präventiven Anstrengungen der beteiligten Akteure in der sozialen Interaktion als allgemeinen Mechanismus analysiert zu haben, der sich in den unterschiedlichsten (Sub-)Kulturen nach den allgemeinen Regeln der Interaktionsordnung (Goffman 1981/dt.1994) vollzieht. 24 Die offene gesellschaftliche Ächtung etwa von Homosexualität, von AIDS und einigen anderen chronischen Krankheiten ist einem toleranteren öffentlichen Umgang gewichen; dies trifft allerdings weniger auf Behinderung (Cloerkes 2003) und kaum auf psychische Krankheit zu: vgl. z.B. Scheff (1999); Link/Phelan (2001); Angermeyer/Matschinger (2003); Angermeyer (2004) sowie das Sonderheft zu Stigma und Stigmatisierung des J. of Community and Applied Social Psychology, 16, 2006. Darüber hinaus werden neuerdings (wieder) soziale Lagen und individuelle Ausdrucksformen als persönliche Stigmata zugerechnet, von Arbeitslosigkeit über Armut und Hartz-IV-Bezieher (vgl. Anhorn/Bettinger/Stehr 2007) bis zum Übergewicht (vgl. v. Kardorff/Ohlbrecht 2007).
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troffene geraten damit in eine Kommunikationsfalle25: alle Lebensäußerungen werden mit dem Wissen um ihre Krankheit, Behinderung oder anderweitige Abweichung wahrgenommen, so dass Stigmamanagement und hier besonders die Informationskontrolle gegenüber den „Wissenden“ (und von Diskreditierbaren: auch vor den Unwissenden) dauerhaft betrieben werden muss. Die negativen sozialen und psychischen Folgen der Stigmatisierung sind vielfältig beschrieben: von Goffmans The moral career of the mental patient (1959), über die Arbeiten von Becker (1963) und Scheff (1973; ders. 2006) bis hin zu Studien aus einzelnen Fachdisziplinen. Während gesellschaftlicher Abstieg, soziale Isolation und unzutreffende Vorstellungen oder Schuldzuweisungen an Angehörige etwa bei „Geisteskranken“ nach wie vor verbreitet sind26, sind nicht mehr alle psychischen Störungen gleichermaßen mit einem negativen Stigma behaftet: diverse Befindlichkeitsstörungen (vgl. Illouz 2006) oder Erschöpfungszustände (vgl. Ehrenberg 2004) können mit Verständnis, wenn schon nicht bei Arbeitgebern so doch bei Angehörigen, Ärzten und in der Öffentlichkeit rechnen. Und wie Cloerkes aufgrund vielfältiger empirischer Befunde festhält, sind Stigmatisierungsfolgen weder zwangsläufig noch einheitlich (2001: 154), noch sind es die individuellen Bewältigungsformen, von der auch eine breite Betroffenenliteratur Zeugnis ablegt. Darin finden sich vielfältige und beeindruckende Beispiele für die reflexiven, aktiven und kreativen Strategien gelungener Transformationen und Gestaltungen des Vorgegebenen, die über eine bloße Kompensation verloren gegangener Funktionseinschränkungen hinausgehen.27 Die angedeuteten Veränderungen sind selbst zum Teil Ergebnis eines säkularen Wandels in kulturellen Deutungsmustern und sozialen Repräsentationen (vgl. Flick 1998) der Gesellschaft. Dies wird z.B. deutlich an der semantischen Verschiebung von der „Krüppelfürsorge“ Ende des 19. und zu Beginn des 20 Jhdt. bis zur gegenwärtigen Betonung von Teilhabe und Selbstbestimmung. An dieser Entwicklung, zu der, wie bereits erwähnt, etwa Behindertenverbände und mehr noch die kleine aber aktive Behindertenbewegung wesentlich beigetragen haben (vgl. Köbsell 2006), zeigt sich, was Goffman im Begriff des Stigma-Managements bereits angedeutet hatte: dass Betroffene nicht nur Opfer, sondern (in bestimmten strukturellen Grenzen) selbst individuell und kollektiv aktive Gestalter ihres Lebens sind, sein können und sein müssen. Heute muss der Stigmatisierte zudem als souveräner „Kunde“ agieren und wird, wenn ihm dies misslingt, zusätzlich moralisierend stigmatisiert. An diesen kursorischen Ausführungen zeigt sich, dass Stigmatisierung der unausweichliche gesellschaftliche Normalfall bleibt. Sie entfaltet ihre normative Kraft vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Normalitätsdispositive und tritt den jeweils Diskreditierten und Dis25 Man könnte hier von einem Kommunikationsparadoxon sprechen (vgl. Watzlawick u.a 1990). In Selbsthilfegruppen von Alkoholkranken z.B. wird das Paradoxon in Richtung einer offensiven und zugleich selbstkontrollierenden Selbstdefinition „aufgelöst“: auch der „trockene“ Alkoholiker bleibt immer ein Alkoholiker. 26 So schreibt etwa Finzen, hier exemplarisch als Vertreter der Sozialpsychiatrie: „Die sozialen Folgen der Stigmatisierung müssen als zweite Krankheit verstanden werden, die Folgen der Schuldzuweisung und die unmittelbaren Stigmatisierungsfolgen für die Angehörigen gleichsam als Dritte“ (2000: 178). Dass auch Angehörige in den moralischen Diskurs ihrer abweichenden Mitglieder einbezogen werden haben Angermeyer und Matschinger (2004) gezeigt. Für die Stigmatisierung der Eltern behinderter Kinder: z.B. Carnevale (2007). 27 Zu den biografischen Voraussetzungen und Ressourcen, die derartige Transformationen gelingen oder scheitern lassen: aus medizinsoziologischer Sicht vgl. Antonovsky (1997); zu den biografischen Bedingungen von Resilienz aus soziologischer und familiensystemischer Sicht: Welter-Enderlin/Hildenbrand (2006).
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kreditierbaren als strukturelle Gewalt, etwa über professionelle Deutungshoheit, entgegen, die sich im Kontext gesellschaftlicher Machtbeziehungen vollzieht: „(...) stigma exists when elements of labeling, stereotyping, separation, status loss, and discrimination occur in a power situation that allows them“ (Link/Phelan 2001). Damit erweitert sich die Anschlussfähigkeit der grundlagentheoretischen Überlegungen Goffmans zu gesellschaftstheoretischen, institutionellen und organisationssoziologischen Konzepten. Insbesondere geraten damit Herrschaft, Macht und strukturelle Gewalt in den Blick. Besonders in Asyle (1961/dt.1972) wird auch Goffmans gesellschaftskritische Verteidigung des Individuums gegenüber der Definitionsmacht der Professionellen und der Gewalt organisationeller Arrangements und Abläufe sichtbar, ein Aspekt der von den Kritikern der Psychiatrie, der Gefängnisse und anderer totaler Institutionen aufgegriffen wurde.28
3.2 Beschädigte Identität? Stigmatisierte müssen sich in besonderer Weise beständig mit der Diskrepanz zwischen der ihnen zugeschriebenen sozialen Identität (virtuale Identität) und den Wirkungen ihres konkret gezeigten Verhaltens (aktuale Identität) auseinandersetzen; die alltägliche Konfrontation mit dieser Diskrepanz beschädigt (...) seine soziale Identität; sie hat den Effekt, dieses Individuum von der Gesellschaft und sich selbst zu trennen, so dass es dasteht als diskreditierte Person angesichts einer sie nicht akzeptierenden Welt (Stigma: 30).
Beschädigt werden damit auch die Bemühungen um einen eigenständigen Identitätsentwurf, der nur in Reaktion auf die stigmaspezifischen Zuschreibungen und Zumutungen möglich ist, sei es in Form der Abgrenzung, ironisierender Distanz oder der Übernahme der zugeschriebenen Rolle und der damit verbundenen Nutzung sekundärer Anpassungsgewinne. Goffmans Formulierung von der „beschädigten Identität (spoiled identity)“ wird von Betroffenen wie von Vertretern der „Disability Studies“ (Albrecht u.a. 2001; Dederich 2007) auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Argumenten kritisiert: normativ als essentialistische Defizitunterstellung, fachlich als expertendefinierte Begrenzung eigenständiger Entwicklungsmöglichkeiten, machttheoretisch als normalistischer Modus negativer Identitätsunterstellungen seitens der Dominanzkultur mit der Folge einer konzeptionellen Enteignung der Selbstbestimmung der Betroffener. Beobachtungen aus der Gesundheits- und Rehabilitationsforschung legen nahe, dass unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen die „moralischen Karrieren“ (Goffman 1972; Stigma: 45 ff) vieler chronisch Kranker und Behinderter neue Verlaufsformen aufweisen, nicht zuletzt, weil die veränderten gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster und sozialen Repräsentationen von Abweichung von den Betroffenen selbst durch eigenständige Rahmungen (z.B. Biografisierung; Einführung von Wendepunkten, etc., kurz: durch verschiedene Strategien des 28 Vgl. für die Psychiatriekritik z.B. Basaglia (1980), Wambach (1983), v. Kardorff (1991); Goffmans Asyle hat viele mikrosoziologische und institutionenkritische Nachfolgestudien in der Psychiatrie, z.B. Scheff (1973), Fengler/ Fengler (1980), in der Medizinsoziologie, z.B. Sudnow (1974), der Altenhilfe z.B. Knobling (1987) inspiriert.
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Stigmamanagements) durchbrochen und transformiert werden29, 30. Damit gewinnt die Analyse von individuellen wie kollektiven Identitätspolitiken (vgl. Stigma:153 ff.) an Gewicht. Sie reagieren auf den Zwang, dass Diskreditierbare und Diskreditierte sich immer in Bezug zur dominanten Normalität positionieren und ihre Selbstdefinitionen, sei es positiv oder in Abgrenzung – und dann unter Begründungszwang stehend – vornehmen müssen. Darüber hinaus gilt, empirisch inzwischen vielfach belegt, dass „Individuen zu denselben Auffassungen von Identität wie wir“ tendieren. Die Disability Studies betonen dagegen die Möglichkeiten eines Neu- und Gegenentwurfs zur Hegemonie der meist unbefragten Normalitäten, die von dort ausgehende individualisierende Attributionen umkehren: nicht die betroffene Person ist behindert, sondern die behindernde (materielle, soziale, symbolische) Umwelt macht sie zum Behinderten.
3.3 Stigmatisierung und sozialer Ausschluss Wer sich kultureller Schemata zur Stigmatisierung bedient, reagiert auf eine als bedrohlich, irritierend, abstoßend, verletzend, den Erwartungen stark widersprechend etc. wahrgenommene Situation: sozial, um den reibungslosen Fortgang der Interaktion zu sichern, psychologisch, um sich zu schützen, Anforderungen abzuwehren, in Ruhe gelassen zu werden, etc.. Zunächst versuchen die Interaktionspartner bei einer Begegnung mit einer Person, die sich auffällig verhält oder ein sichtbares Stigma aufweist entsprechend der Irrelevanzregel durch ein bewusstes, mehr oder weniger taktvolles „Übersehen“, die Situation für sich selbst, die Anderen und den Stigmaträger im Sinne einer Normalisierung zu „retten“, Peinlichkeiten zu vermeiden und das Gesicht des Betroffenen zu wahren. Diese gemeinsamen Bemühungen zielen auf die „Heilung“ der verletzten Interaktionsordnung, die immer auch eine „rhetorische Ordnung“ der Sozialwelt ist (Wolff 1976). Im Verlauf der Begegnung mit Stigmatisierten kommt es aber ebenso häufig zum meist schleichenden Kontaktabbruch bis hin zu sozialer Ausschließung und zur Delegation der zum Problem gewordenen Person an zuständige Professionen wie Psychiater und Sozialpädagogen, die das Stigma etwa durch Diagnosen und Gutachten offiziell bestätigen und darauf bezogene Interventionen ratizifizieren.31 Retrospektiv dienen
29 Zu Veränderungen dieser Rahmungen hat auch eine u.a. durch Gesundheits- und Selbsthilfebewegung (v. Kardorff 1996) initiierte und intensivierte Entwicklung einer neuen Kommunikationskultur zwischen engagierten Fachkräften und Betroffenen(initiativen) beigetragen, wie etwa in der Sozialpsychiatrie die Praxis des Trialogs mit dem ein neuer Wahrnehmungsrahmen für das Verständnis psychischer Krankheit und ihrer sozial ver-rückenden Folgen aus einer gemeinsam zu entwickelnden Perspektive von Ärzten, Betroffenen und Angehörigen angezielt wird (vgl. Bock/Deranders/Esterer 1997). Auch „Biografisierung“ stellt eine neue unter anderem aus der soziologischen und psychologischen Biografieforschung übernommene fachliche Strategie dar, mit der zunächst in der Pflege, aber auch in Psychiatrie, Sozialarbeit und Pädagogik Neurahmungen des Umgangs mit krisenhaften Lebensgeschichten unterstützt werden. 30 Zu diesen Transformationsprozessen hat die medizinsoziologische Forschung eine Vielzahl von Studien vorgelegt, die die Bedingungen, Mechanismen und Verläufe der Bearbeitung derartiger individueller, familialer und von Fachkräften gestützter Trajectories rekonstruiert haben: z.B. Corbin & Strauss (2006), Roth (1963), Schütze (1999), Lucius-Hoene/Deppermann (2002), Waldschmidt (1999), u.s.w. 31 Dies kann ein psychiatrisches Gutachten sein, mit dem das Aufenthaltsrecht eingeschränkt, eine pädagogische Diagnose, die zur Zuweisung in eine Sonderschule führt, die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die nachfolgene Heimeinweisung durch einen medizinischen Dienst oder die Zuerkennung einer Erwerbsminderungsrente durch die Rentenversicherung, u.s.w..
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derartige Ereignisse und Dokumente den Beteiligten aus dem Umfeld der Betroffenen als Rechtfertigung für Kontaktabbruch und sozialen Ausschluss; sie markieren die gelungene Transposition einer Person von einem Status (gesund, von guter Herkunft) in einen kategorial anderen Status (geisteskrank mit allen entsprechenden Attributen von „unfähig zu vernünftiger Entscheidung“ über „unberechenbar“ bis zu „unheilbar“). Dorothy K. Smith (1987) hat in ihrer Studie „K. ist geisteskrank“ am Beispiel der Erzählungen ehemaliger Freundinnen einer schließlich von der Psychiatrie für krank erklärten Mitstudentin die Strategien einer nachträglich erforderlichen „heilenden“ Rechtfertigung eines schrittweise vollzogenen kollektiven Ausschlusses und eines Kontaktabbruchs detailliert nachgezeichnet32.
4. Zu den Paradoxien der Entstigmatisierung Goffman zeigt, dass Interaktionen sich zu ihrem Gelingen einer doppelten Fiktion bedienen müssen: bezogen auf die virtuale soziale Identität muss eine Scheinnormalität (phantomnormalcy) fingiert werden, bezogen auf die personale Identität muss eine Scheinindividualität (phantom-uniqueness) präsentiert werden. Mit Blick auf ihre soziale Identität müssen die Interaktionspartner ihre aktuale auf die in allgemeinen Erwartungen fundierte „virtuelle Identität“ hin anpassen; mit Blick auf die personale Identität, müssen sie ein erkennbares und konstantes Profil zeigen, das sich von allen anderen unterscheidet. Stigma-Management ist also paradox: wenn eine beeinträchtigte Person sich den Normen unterwirft, muss sie auf der anderen Seite ihre Differenz betonen. Eine Folge dieses Paradoxons ist, wie Tom Shakespeare (2000), ein prominenter Vertreter der Disability Studies, hervorhebt, dass dies zu einer essentialistischen Fixierung einer (fiktiven) Gruppenidentität der Stigmatisierten beiträgt; dies zeigt sich an einem ausschließlichen und ausschließenden Festhalten einiger Betroffener an einer gemeinschaftsbildenden Semantik z.B. als „Psychiatrieerfahrene“; zugleich führt dies zu einer kaum aufhebbaren Distanz zur Gemeinschaft der „Normalen“ und, nach innen gerichtet, zu einer wirksamen Form der sozialen Kontrolle in der Gruppe der Gleichbetroffenen, der gegenüber die Darstellung von Differenz bei gemischten Kontakten signalisiert werden muss. Die berührt die Themen Täuschung und Kuvrieren in Stigma. Während bei Goffman das Täuschen noch eine gewichtige Rolle spielt, scheint dies auf den ersten Blick heute angesichts postmoderner Enttabuisierung einerseits und der Doppelstruktur einer medial inszenierten Bekenntniskultur (Willems/Jurga 1998; Willems 2007) und der auf Individualisierungszwänge antwortenden Selbstdarstellungsbedürfnisse Betroffener von geringerer Bedeutung zu sein: die Offenbarung depressiver Verstimmungen und Ängste, von Erfahrungen des Burn-out oder Mobbing, der kompetente Umgang mit Krankheit 32 Harold Garfinkel (1956) hat die Voraussetzungen analysiert, unter denen die Transformation der Identität einer bislang als normal, ehrenhaft oder gesunden Person zu einer abweichenden, diskreditierten Person von den Interaktionspartnern öffentlich wirksam und erfolgreich gelingen kann. Goffman hat (1961/dt. 1972) hat am Beispiel psychisch Kranker gezeigt, wie diese Transformationsprozesse mit dem Konzept der „Karriere“ (hier: Zeit vor der Klinikaufnahme, Klinikaufenthalt, nachklinische Phase) analysiert werden können. In beiden Aufsätzen nehmen Garfinkel und Goffman wechselseitig aufeinander Bezug.
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und Behinderung oder die Präsentation hoch individualisierter Lebensstile werden – anders als Armutslagen oder Suchtkrankheiten, denen der Geruch des Selbstverschuldeten anhaftet – von der Öffentlichkeit mit einer gewissen Sympathie, einem Schuss voyeuristischer Sensationslust und nicht zuletzt mit Aufmerksamkeit für die eigene Normalitätsausrichtung in einer außengeleiteten Kultur verfolgt oder mit Beifall für das Besondere33 bedacht. In dieser Situation gelingt es darstellungskompetenten Betroffenen, offen mit ihren Beeinträchtigungen umzugehen. Diese Offenheit hat jedoch nicht zwingend Akzeptanz zur Folge. In der von den Einflüssen der Postmoderne geprägten Gegenwart führt dies für viele Betroffene nur begrenzt zu erweiterten Handlungsoptionen34 und befördert eher eine Art Gleich-Gültigkeit. In nachmittäglichen Talkshows erhalten Stigmatisierte Gelegenheiten zum impression management. Hier wird die säkulare Beichte zum Wahrheitsdispositiv im Rahmen einer öffentlichen Bekenntniskultur. Die zunehmende Veröffentlichungsbereitschaft täuscht aber selbst über das Verschwinden der Täuschung: während die Selbstdarstellung der eigenen Leidens-, Bewältigungs- und Erfolgsgeschichten selbst wiederum eine Voraussetzung für die öffentliche Präsentation darstellt, sind Techniken der Täuschung und des Kuvrierens wie Goffman sie in Stigma beschrieben hat, nach wie vor erforderlich35: Viele Stigmatisierte haben in ihrer Biografie, die Goffman unter dem Gesichtspunkt des moralischen Werdegangs36 analysiert, erfolglos versucht, das Paradoxon der Stigmatisierung durch Rahmenverschiebungen aufzulösen: wie etwa jener Psychotherapiepatient, der seinen Analytiker während der Sitzung nach dessen Biografie, seinen Träumen und Assoziationen befragt und durch diese nicht vorgesehene Rollenumkehr nicht nur den Analytiker soweit provoziert, dass dieser in seiner Hilflosigkeit die Polizei ruft, sondern auch die Interaktionsordnung „Behandlung“ radikal in Frage stellt; oder der behinderte Schauspieler Peter Radtke, der sich in einer Fernsehdiskussion gegen seine Präsentation als Mensch, „der von Geburt an einer schweren Behinderung leidet“37 verwahrt oder die Mitte der 80er Jahre von körperbehinderten Aktivisten gegründeten Krüppelinitiativen, die das auf caritativ-paternalistische Fürsorge eingestellte Normalitätsdispositiv der Mehrheitsgesellschaft und ihrer politischen Repräsentanten heraus33 Das Erstaunen, dass sogar Behinderte ihr Leben befriedigend leben oder besondere Leistungen in Sport, Kunst und Wissenschaft erbringen, verweist nachdrücklich auf die Geltung der in sozialen Repräsentationen sedimentierten Normalitätsstandards und Bewertungsschemata (vgl. auch: Stigma:.144). 34 So konstatieren Zaumseil/Leferink (1997) etwa für Schizophrene gewachsene Handlungsspielräume und Lebensnischen in der pluralistischen Welt der Postmoderne und sprechen vor diesem Hintergrund sogar von einer „Modernisierung der Schizophrenie“; empirische Studien und Erfahrungsberichte Betroffener sprechen hier allerdings eine andere Sprache (vgl. Gaebel, u.a. 2005). 35 So müssen z.B. psychisch Kranke oder HIV-Positive vermeiden, ihre Krankheit bei Bewerbungsgesprächen zu erwähnen; nicht zuletzt aus diesem Grunde verzichten daher viele Betroffene auf den ihnen zustehenden Behindertenausweis, aus dem der Grund für die Behinderung erschlossen werden kann. 36 „Personen, die ein bestimmtes Stigma haben, zeigen eine Tendenz, ähnliche Lernerfahrungen hinsichtlich ihrer Misere zu machen und ähnliche Veränderungen in ihrer Selbsterfahrung – einen ähnlichen ‚moralischen Werdegang‘ zu haben, der beides ist, Ursache und Wirkung der Gebundenheit an eine ähnliche Sequenz persönlicher Anpassungen“ (Stigma: 45). Vgl. auch: Goffmans Aufsatz „The moral career of the mental patient“ in: Goffman (1961/dt. 1972: 125 –168). 37 Die unbefragte Unterstellung Gesunder, dass das Leben Behinderter nur Leiden sei, hat nicht nur die Ideologie des „tödlichen Mitleids“ (Dörner 1988) hervorgebracht, sondern auch verdeckt, dass es vor allem auch die sichtbaren gesellschaftlichen Barrieren und der unsichtbare Normalismus sind, die zur Konstruktion des Behinderten beitragen.
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forderte. Die individuellen wie auch die skizzierten kollektiven Versuche zeigen aber, dass ein Entrinnen aus dem festgefügten Gehäuse der Normalität (oder besser: des Normalismus) nur schwer möglich ist. Gleichwohl ist es Stigmatisierten durch eine geschickte „single-issue“-Politik gelungen, öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen und fundamentale Rechte durchzusetzen, ohne dass dabei die Logik der Stigmatisierung außer Kraft gesetzt worden wäre. In seinem Film Idioten hat Lars van Trier mit einer doppelten Rahmenverschiebung experimentiert: die Normalen, die die Idioten spielen, werden in der Konfrontation mit den echten „Idioten“ in die Normalität der Praxis stigmatisierender Ausgrenzung zurückgeholt, und damit über die Grenzen der Grenzüberschreitung belehrt.
5. Rahmenverschiebungen im Verhältnis von privater und öffentlicher Identität In modernen Dienstleistungsbeziehungen werden Aspekte der Privatsphäre zunehmend warenförmig; und warenförmige Beziehungen sind zugleich immer häufiger auf den Anschein von Authentizität und Privatheit angewiesen.38 Diese Kommodifizierung von Dienstleistungen hat Konsequenzen für die Entwicklung von Handlungslinien, für das Verhältnis der Teilidentitäten untereinander und die Formen des Identitätsmanagements; dies zeigt sich exemplarisch an Konstellationen, in denen sich Grenzziehungen zwischen gewohnten privaten Interaktionssituationen und marktförmig angebotenen Dienstleistungen verwischen und neu definiert werden müssen, wie etwa in der Pflege (v. Kardorff/Meschnig 2008), bei der Beschäftigung privater Haushaltshilfen (Rerrich 2006) oder der „persönlichen Assistenz“, bei der Behinderte im Rahmen des sogenannten persönlichen Budgets als Arbeitgeber ihrer Helfer fungieren (Wansing 2006); hier werden ganz persönliche Anliegen und körpernahe Aufgaben in einem Vertragsverhältnis behandelt. Theoretisch berührt diese säkulare Entwicklung innerhalb der modernen Dienstleistungsgesellschaft das mikrosoziale Verhältnis von Rahmengestaltung, Identitätsdarstellung und Reflexion der Ich-Identität in der Interaktionsordnung. Dabei gilt ein Verhältnis doppelter Kontingenz: die Handelnden müssen neue Rahmungen erfinden und erproben und zugleich ihre Interaktionsstrategien und ihre Empfindungen an gewandelten Erwartungen neu ausrichten. Neuere Entwicklungen an der commodity frontier39 (Hochschild 2004) zeigen, dass bislang erprobte Handlungsperspektiven und das Identitätsmanagement auf beiden Seiten der vertraglich geregelten und monetarisierten personenbezogenen Dienstleistungen sich an derartigen Konstellationen in irritierender Weise brechen und vermischen. So analysiert Hochschild (2004) eine Zeitungsannonce, in der ein offensichtlich erfolgreicher Geschäftsmann eine attraktive junge Frau für Haushalt, Begleitung und intime Dienste sucht, 38 Dies gilt nicht nur für das Emotionsmanagement von Angestellten (vgl. bereits Mills 1951), in Dienstleistungsbeziehungen, wie dies Hochschild (1983/dt. 2006) exemplarisch für Flugbegleiterinnen und Inkassoangestellte gezeigt hat, sondern in gleicher Weise für die Beziehungsgestaltung innerhalb der betrieblichen Organisation, wovon eine unübersehbare Ratgeberliteratur etwa zu den Beziehungen zwischen Vorgesetzen und Untergebenen, etc. zeugt. Hierzu aus soziologischer Sicht: Voß/Pongratz (1998). 39 Das Konzept der Kommodifizierung geht auf Karl Polany (1944/dt. 1978) zurück.
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die dafür mit einem gestaffelten Tarif (geringe Vergütung für Haushaltsdienste, hohe Entlohnung für sexuelle Dienstleistungen) bezahlt werden soll. Die geforderten Attribute weisen dabei alle entscheidenden Merkmale der traditionellen Rolle als Ehefrau auf, allerdings ohne die dafür (protosoziologisch) vorausgesetzten Aspekte wie diffuse Solidarität, gemeinsame Lebensplanung, Nichtaustauschbarkeit der Personen, etc. (vgl. Oevermann 1979). Angesichts der ambivalenten Auflösung der Grenzen zwischen privater Beziehung und Berufsrolle, zwischen erotisch-sexueller Hingabe einerseits und Sekretärin und Haushaltshilfe andererseits entsteht eine neue Konstellation, die emotionale Neurahmungen für das Verhältnis von Nähe und Distanz, für „authentisch“ gezeigte Emotionen und strategisches Gefühlsmanagement erzwingt; diese Rahmenvermischungen sind für die moderne Gesellschaft kennzeichnend und machen neue Formen eines „Boundary Management“ erforderlich: So wechselt der persönliche Assistent eines Behinderten von der spezifischen professionellen Rolle, etwa einer Fachpflegekraft oder eines Heilpädagogen, in die Quasi-Rolle eines helfenden Familienmitglieds und Freundes, der gleichwohl in einem kündbaren Arbeitsverhältnis mit Arbeitnehmerrechten, aber eben auch in einem Anweisungsverhältnis zu seinem Arbeitgeber steht. Ganz persönliche Anliegen und die Erfüllung intimer Anliegen werden damit zwar aus einer fürsorglich-belagernd caritativen und häufig als demütigend erlebten Beziehung befreit, versachlicht und in einen Bereich der Selbstbestimmung, Wahlfreiheit und Selbständigkeit überführt, unterliegen aber einer von beiden Seiten als belastend empfundenen Situation, für die noch keine selbstverständlichen und bewährten Interaktionsregeln existieren. So erweitern und verändern sich derartige Beziehungsmuster in der Dienstleistungsmoderne, etwa in der Pflege, die als institutionell gesteuerte, professionell erbrachte und in ihrem Umfang vertraglich geregelte und im Umfang begrenzte Sachleistung gewährt wird, entscheidend: die Aufgaben der Pflege entgrenzen sich in die aktive Unterstützung von Selbstbestimmung und die Gestaltung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft.40 Derartige Veränderungen, Verschiebungen und Vermischungen erfordern von professionellen Dienstleistern und von den Kunden/Klienten die Bewältigung komplexer Aushandlungsprozesse unter Bedingungen einer strukturellen Asymmetrie. Im Wandel der Dienstleistungsbeziehungen müssen Inhalte und Verfahrensweisen traditioneller Arrangements neu bestimmt werden: etwa in der ArztPatient Beziehung beim shared decision making oder der Verhandlung über Umfang und Kosten ärztlicher Zusatzleistungen (IGel) (vgl. v. Kardorff 2008). Die hierbei erforderlichen Neurahmungen dürften die Begegnung zwischen Arzt und Patient deutlich verändern (vgl. Götz 2005).
40 Vgl. zu den daraus entstehenden Paradoxien, etwa der Veränderung/Diffusion traditioneller Berufsrollen und ihrer Aufgaben: Felkendorff (2003); v. Kardorff/Meschnig (2008).
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6. Stigmata und Emotionsmanagement Auf den ersten Blick scheint Stigmamanagement bei Goffman einem Muster subjektiv rationaler Strategien zu folgen41. Dieser Eindruck wird durch die Regeln der Interaktionsordnung nahegelegt: die Handelnden orientieren sich in ihren Interaktionen an den Kodierungen der jeweilig vorgegebenen situativen Rahmung (Goffman 1974/dt.1977; Willems 1997) und folgen den Regeln der Interaktionsordnung, die sie zugleich reproduzieren; sie tasten sich an den Rahmungen entlang und modifizieren und modulieren sie beständig (vgl. Goffman 1974/dt. 1977), wobei sie zugleich eine sorgsame Informationskontrolle hinsichtlich potentiell diskreditierbarerer Aspekte ihrer Person betreiben. Gleichsam beiläufig versuchen die Akteure dabei ein gesichtswahrendes impression mangement42 zu inszenieren, das eine intensive Gefühlsarbeit und -kontrolle erfordert. Damit versuchen sie ihren Status als kompetente Teilnehmer und als unverwechselbare Personen und Subjekte gleichermaßen zu sichern, indem sie in der Performanz ihrer narrativen Identität (s. Punkt 8) ihre Handlungsautonomie signalisieren. Die jeweiligen individuellen Strategien müssen dabei eine identitätsbewahrende Synthese zwischen den spontan erlebten Emotionen, den Anforderungen der konkreten Situationen und ihrer Teilnehmer und den sozialisatorisch vermittelten Codes der gesellschaftlichen Gefühlskulturen (Bellah u. a 1985) erreichen. Die Anpassung an die Situation, das Aushandeln von Variationen und Grenzen sowie die individuell gewählten/praktizierten Strategien des Stigmamanagements richten sich auf die Erfüllung der Anforderungen der Interaktionsordnung und der in ihr sedimentierten gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten. Die intensiven strategischen und (selbstinstrumentalisierenden) emotionalen Bemühungen des impression management, von denen das Stigmamanagement einen Unterfall darstellt, werden, worauf Scheff (2006: 141ff.) nachdrücklich verweist, erst als Reaktion auf die beständige Bedrohung sozialer Einbindung und Anerkennung verständlich. Auf die Ängste vor Gesichtsverlust, gleichbedeutend mit Statusverlust, auf Verlegenheit und Beschämung reagieren die Handelnden mit Respekt, Rücksicht und Takt, mit Versuchen der Rettung der Situation und dem Bemühen – schon im ureigensten Interesse – den endgültigen sozialen Ausschluss einer diskreditierten Person möglichst lange hinauszuzögern oder sich bei einer höheren, den Ausschluss offiziell bestätigenden Instanz rückzuversichern.43 Die Formen der individuellen emotionalen Bewältigung eines Stigmas und des praktischen Stigmamanagements werden erst im Kontext der gesamten Lebensgeschichte als 41 Goffman hat diesen Aspekt in seinen späteren Arbeiten zur Strategischen Interaktion (1969/dt.1981) systematisch entwickelt; kritisch zu dem von Goffman unterstellten Verhaltensmodell eines nach subjektivem Nutzenkalkül handelnden Individuums: z.B. Hochschild (1983/dt. 2007), vgl. auch Scheff (2006: 132). 42 Goffman knüpft hier an seine Analysen der face-to-face-Interaktion an, die er bereits in „The Presentation of Self in Every-Day Life“ (1959/dt. 1969) begonnen, in Encounters (1961/dt. 1973) und insbesondere in Interaction Ritual (1967/dt. 1971) weitergeführt hat. 43 Zurecht weist Scheff (2006) darauf hin, dass Gefühle von Beschämung und Scham in ihrer existenziellen wie psycho-sozialen Bedeutung in der Soziologie lange Zeit verdrängt waren; erst im Kontext der Debatten um soziale Ungleichheit, Statusverlust und Scham (vgl. Neckel 1991) sowie mangelnde Anerkennung (Sennett 2003) angesichts zunehmender sozialer Ungleichheit, ethnisch-religiöser Konflikte sowie von Jugendgewalt (z.B. Wacquant 2006) angesichts sozialer Schließungsprozesse werden sozio-psychologische Fragen von Respekt und Anerkennung auch in einer gesellschaftlichen und politischen Dimension diskutiert (vgl. Honneth 2003), nachdem Goffman sie für die Interaktionsordnung schon sehr früh, wenn auch vorrangig unter dem Gesichtspunkt des face-work aufgegriffen hatte (vgl. Goffman 1956 a;1956 b beide in Goffman 1967/dt.1971).
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Ergebnis von Wahlen „begrenzter Rationalität“ im Rahmen eines den Beteiligten oft verborgenen biografischen Lebensmusters erklärbar und verständlich: Wenn etwa eine Frau, die im mittleren Lebensalter einen schweren Schlaganfall erlitten hatte, dieses Ereignis im Nachhinein so rahmt: „Es war für mich en Glück, dass mir das passiert is“44, dann bezeichnet diese Konversionserzählung eine Transformation zu einem aktiv gestalteten Neubeginn und, im Kontext der gesamten Biografie, auf ein erst in der Rückschau als fremdbestimmt erlebtes betriebsam-getriebenen Lebens. Überspitzt: eine Stigmatisierung in der biografischen Arbeit kann sich als hilfreicher Schutzmechanismus erweisen, um in einem neuen Leben „anzukommen“. Darin wird auch noch ein anderer Gesichtspunkt deutlich, dass Interaktionspartner allgemein (und Diskreditierte und Diskreditierbare im Besonderen) versuchen, ihr „heiliges Selbst“ zu schützen (Hettlage 1999: 198)45 bzw. unter der Bedingung eines zugeschriebenen Stigmas neu zu konstituieren. Hinter den fordernden und schützenden Regeln der Interaktionsordnung erscheint damit ein existenzieller Abgrund, der in modernen säkularen Gesellschaften nicht mehr problemlos durch die Bezugnahme auf religiöse Transzendenz, sondern auf eine Art innerweltliche Vergöttlichung des Selbst (Goffman 1967/dt.1971) und zunehmend auch des Körpers (vgl. Schroer 2005) als scheinbar unverrückbare Letztgewissheit verweist. Darin kommt erstens die Bedeutung der (Suche nach) Identität in der Moderne zum Ausdruck, zweitens wird damit die Rolle der nicht-kontraktuellen Konstitutionsbedingungen der Geordnetheit der sozialen Ordnung (einschließlich der mikrosozialen Geordnetheit von Interaktionssituationen) der Gesellschaft insgesamt problematisiert und drittens ist damit das soziologisch schwierig zu bearbeitende Thema der existenziellen Bedingungen der individuellen Einbettung und Verortung der Individuen angesprochen. Alle drei Aspekte werden hier nur erwähnt, aber nicht weiterverfolgt. In The managed Heart (1983/dt. 2007) hat Hochschild auf die emotionale Leerstelle in Goffmans Ansatz verwiesen.46 Gerade beim Stigmamanagement spielt Emotionsarbeit (Hochschild 2006; Degele 1998) als reflexiver innerer Prozess jedoch eine zentrale Rolle. Goffman berührt dies zwar wenn er von der Ich-Identität als dem subjektiven „Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirkt“ (Stigma: 132) spricht. Eine Erweiterung der Goffmanschen Perspektive liegt hier in einer methodologisch exemplarisch angelegten Rekonstruktion z.B. der Erfahrungen wie Akteure einschneidende kritischer Lebensereignisse in reflexiver Gefühlsarbeit unter der Perspektive der nahen Anderen und mit ihrer Hilfe neu rahmen. Stigmamanagement und die Bewältigung von Lebenskrisen, Traumata, Behinderung, Krankheit oder Pflegebedürftigkeit erfordern eine umsichtige 44 Vgl. Schönberger/v. Kardorff (2006) Endbericht zum DFG-Projekt: Tradierung familialer Gesundheitsvorstellungen und -praktiken, Ms. Berlin. 45 „Jeder muss den anderen als „heiliges Selbst“ anerkennen, das nicht verletzt werden darf, sondern laufend in respektvoller Distanz verehrt werden muss“ (Hettlage 1999: 198). Dieser Schutzeffekt ermöglicht einen konzeptionellen Anschluss an Bourdieus Habitus-Konzept, das auf Seiten der Individuen weitgehend automatisiert eingeschliffenen Routinen des alltäglichen Handelns bezeichnet; Bourdieu (1976) beschreibt dies als Hysteresis-Effekt. 46 Hochschild vermisst bei Goffman eine konzeptionelle Verknüpfung zwischen Handlung und Selbst: „Die Akteure Goffmans haben nur eine schwache innere Stimme und verfügen kaum über aktive Fähigkeiten zum Gefühlsmanagement, die sie in die Lage versetzen, auf Situationsnormen und -regeln zu reagieren“ (1990: 173). Vgl. hierzu auch Scheff (2006) und Fußnote 33. Vgl. auch Schülein (2007), der zudem eine Reflexion des Subjektstatus der Person bei Goffman vermisst.
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Planung und die Entwicklung einer besonders streng reglementierten methodischen Lebensführung47. Chronisch Kranke ließen sich in ihren Strategien des Umgangs mit dramatischen Brüchen in ihrer Biografie in gewisser Weise sogar als unfreiwillige Pioniere methodischer Lebensführung und als unfreiwillige Virtuosen des Interaktions- und Gefühlsmanagements beschreiben. Sie führen exemplarisch vor, wie „in a world of alternative lifestyle options, strategic life-planning becomes of special importance“ (Giddens 1991: 85). Damit dies gelingt, müssen Gefühle nicht nur neu gerahmt, sondern auch kontrolliert und sozial akzeptabel gemacht werden. Man kann daher von einer erzwungenen emotionalen Selbstinstrumentalisierung entlang geforderter Lebensbewältigungsstrategien sprechen: Flexibilität, rationale Planung, Vergleiche, Neupositionierung, Selbstkongruenz, etc. Willems (1997) hat in diesem Zusammenhang zu Recht auf Parallelen zu Norbert Elias (1979) These vom zunehmenden Selbstzwang im Zivilisationsprozess aufmerksam gemacht (vgl. auch Scheff 2006). Die Selbstinstrumentalisierung der Emotionen ist allerdings riskant und geht auch nicht völlig auf: sie zwingt zu einem effizienteren Stigmamanagement, das in Verteidigung des Selbst, etwa der Selbstbestimmung, eine Trennung der Emotionen von der Dienstleistungsbeziehung beinhaltet. Gerade Stigmatisierte müssen im Interaktionsdreieck zwischen den affektiv neutralen und spezifischen Beziehungsmustern zu Dienstleistungsfachkräften wie Ärzten, Pflegern, etc. und den affektiven und diffusen Beziehungsqualitäten zu ihren Angehörigen entsprechende Rahmenwechsel beständig vollziehen, traditionelle Rollenmuster verändern und eingelebte Beziehungsarrangements mit ihren Teilidentitäten zumindest soweit harmonisieren, dass die Kontinuität ihres Selbst für sich und andere gewahrt bleibt48.
7. Der Körper als Projektionsfläche zur Stigmabewältigung Goffman hat in Stigma auf die bedeutsame Rolle des körperlichen Ausdrucks, von Gestik und Mimik bei der Interaktion zwischen Stigmatisierten und Nicht-Stigmatisierten hingewiesen. In der Interaktionsordnung reflektiert sich auch eine soziale Körperordnung (vgl. Schroer 2005), in der „die Interaktionspartner ihren Körper als Kommunikationsmittel in einer sozial erwartbaren Weise einsetzen“ (Gugutzer/Schneider 2007: 42). Colligan (2001) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Betroffene die Auseinandersetzung mit ihrem Stigma und seinen Folgen als embodied experience erleben und in ihr Verhalten inkorporieren. Dies betrifft nichtsprachliche Aspekte in der Interaktion, die durch sozialisierte Normalitätsvorstellungen transportiert und erst in einem längeren Reflexions- und Lernprozess bewusst gemacht oder auch gezielt eingesetzt werden können. Gleichwohl, so Colligan, sind stigmatisierte Individuen nicht länger auf die herrschenden Ideologien und Bilder der Mehrheitsgesellschaft angewiesen um ihre Interaktionen zu gestalten und ihre Identität zu formen, in Selbsthil-
47 Dazu gehören u.a. die Beachtung regelmäßiger Medikamenteneinnahme, die genaue Planung von Fahrten bei Mobilitätseinschränkung, die Lebensplanung entlang der Besuchszeiten der Pflegedienste, u.s.w. 48 Für psychisch Kranke, denen dies häufig nicht gelingt: z.B. Meyer (2000), für Krebskranke und ihre Partner, denen dies häufig ganz unspektakulär, wenn auch mit Konflikten und Brüchen gelingt: Schönberger/v. Kardorff (2004).
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fegruppen die eigenen Wunden zu lecken oder der Mehrheitsgesellschaft Parolen entgegen zuschleudern. Der verletzte, behinderte, missgestaltete, kranke oder hinfällige Körper wird zum Text oder zur Projektionsfläche, in der sich die gesellschaftliche, politische und/oder wissenschaftliche Regulierung der Körper andeutet: Beispiele hierfür sind die etwa die korrektiven und übenden Praktiken der Rehabilitation sowie die Zunahme der Schönheitschirurgie. Körperpraktiken wie Piercing oder Tätowierungen dienen der Demonstration von Individualität und als Zeichen für die Zugehörigkeit zu Lebensstilen, massive Veränderungen wie etwa eine Geschlechtsumwandlung als Ausdruck selbstgewählter Geschlechtsidentität. Im Kontext von Aushandlungsprozessen zwischen Stigmatisierung und Entstigmatisierung werden diese verkörperten Erfahrungen selbst zu theatralisierten Mitteln der Kommunikation, sie werden zu „dramaturgischen Körpern“ (Gugutzer 2004). Dabei unterliegen sie einer beständigen Beurteilung durch massenmedial vermittelte Bilder normierter Körper (vgl. Gugutzer/Schneider 2007). Die Akteure reagieren darauf mit Überanpassung, bis hin zur Anorexie oder mit Formen der Selbststigmatisierung als subversiver Strategie des Unterlaufens der propagierten Normalitäten.
8. Stigma und Biografie – zu transsituationalen Strategien Stigmatisierter Mit Goffman lässt sich zunächst festhalten, dass von Geburt an Stigmatisierte in ihrer Lebensgeschichte beim Erlernen der Regeln der Interaktionsordnung negative Erfahrungen kumulieren: sie müssen die beschämende Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und Ich-Identität kompensieren und in ihr Selbstbild zu integrieren versuchen: „People possessing stigmatic qualities frequently live biographical discontinuieties, as they live double lifes“ (Carnevale 2007: 11). Dieses doppelte Leben zeigt sich in häufig anpassungsorientiertem oder bewusst offensivem Verhalten auf der Vorderbühne und einem „eigentlichen“ Leben auf der Hinterbühne49 oder in einem Leben, das in Selbsthilfezusammenschlüssen und „Szenen“ einer speziellen oft selbstisolierenden „in-group“-Ausrichtung (Stigma:140f.) folgt. Im Laufe ihres Lebens müssen Betroffene ihre Identität im Rahmen des entscheidenden Wendepunktes „vorher war ich der“ und „jetzt bin ich ein anderer“ biografisch neu konstruieren und rahmen50. Sie müssen eine Passfähigkeit für die Bedingungen ihrer individuellen Existenz in der Gesellschaft und in der alltäglichen Interaktion finden. Weiter müssen sie Strategien entwickeln, die es ihnen ermöglichen, auch mit ihrem Stigma als sozial akzeptable Person „durchzugehen“ (vgl. Davis 1991). Dies geschieht über Erzählungen, die die unabdingbare Darstellung biografischer Kontinuität für sich, für und vor anderen über z.B. Behinderung und chronische Krankheit erzwingen, und mit deren Hilfe sie ein
49 Goffman hat diese Konzepte in „Wir alle spielen Theater“(1959/dt.1969) eingeführt. 50 Besonders deutlich zeigt sich dies in typischen Konversionserzählungen geheilter Suchtkranker: die Entscheidung zur Überwindung ihrer Sucht wird dabei häufig mit einem signifikanten „Erweckungserlebnis“ begründet, der dann eine aktive, zuweilen von Rückschlägen geprägte, aber schließlich durch Erfolg, neuen Lebenssinn, eine neue Partnerschaft, etc. gelungene Selbstheilung gegenübergestellt wird.
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„narratives Selbst“51 (vgl. Gergen 1994; Lcius-Hoene & Deppermann 2002; Kraus 2000) hervorbringen52. Gerade weil das Stigmamanagement eine aktive Herstellungsleistung seitens der Betroffenen erfordert, gerät die Rolle der biografischen Identität in den Blickpunkt: in den zur unverwechselbaren Ich-Identität geformten Lebenserfahrungen werden die biografischen Ressourcen (z.B. „salutogentische Potentiale“, vgl. Anotonovsky 1997), Anpassungs- und Widerstandspotentiale („Resilienz“; vgl. Welter-Enderlin/Hildenbrand 2006) sichtbar, die den Erfolg des Stigmamanagements bestimmen. Die Entwicklung, Verfeinerung, Anpassung und Modifikation derartiger narrativer Konstruktionen lassen sich als Durch- und Übergang, als trajectory53 im Sinne von Anselm Strauss verstehen: sie dienen der Neurahmung der eigenen Biografie um das kritische Lebensereignis herum (reframing) und sind unerlässlich für die Stabilisierung einer neuen Identität, die gleichwohl auf die aufgeschichteten Erfahrungen der „alten“ Identität angewiesen bleibt. Daten aus einem Forschungsprojekt zur Rolle von Partnern Krebskranker in der Rehabilitation (Schönberger/v. Kardorff 2004) belegen dieses Phänomen in extremer Weise und exemplarisch: die Transkripte der narrativen Teile von zwei im Abstand von sechs Monaten geführten Interviews mit der Ehefrau ihres an Darmkrebs erkrankten Mannes waren über ca. 30 Seiten fast wortgleich. Dies verweist auch darauf, welche rahmenden, strukturierenden und stabilisierenden Funktionen derartige Narrationen erfüllen. Frey weist darauf hin, dass das „private Selbst“, die Ich-Identität bei Goffman, zum „Sediment transsituationaler Erfahrung“ wird (Frey 1983: 70; Herv. von mir). Die Ich-Identität muss in allen Situationen bewahrt werden und sich bewähren; sie kann nicht jedes Mal grundlegend neu konstruiert werden. Eine Erweiterung der Stigma-Identitätsverbindung bei Goffman wird durch eine derartige narrative Perspektive eröffnet. Beide Perspektiven erhellen sich wechselseitig: die spezifischen Interaktionssequenzen erschließen sich erst vollständig aus der Rekonstruktion der narrativen (Neu-) Konstruktionen des Selbst, die Narrationen wiederum müssen auch immer mit Blick auf die Herstellung einer Passfähigkeit an die erlebten Anforderungen an Identitätsdarstellungen gelesen werden.
51 Mit Blick auf den biografischen Konsistenzzwang sieht Hettlage (2007) bereits bei Goffman ein „narratives Selbst“ vorgezeichnet. 52 In seinem beeindruckenden Selbsterfahrungsbericht „Tief im Hirn“ zeigt Helmut Dubiel am Beispiel des Verlaufs seiner 20 Jahre währenden Parkinson-Erkrankung, dass die Mitteilung der Erkrankung, die Störung des Selbstbildes und der Umgang mit Scham – hier vor dem Hintergrund fremder und eigener Erwartungen, ihn dazu gebracht haben, von wenigen engen Freunden abgesehen, ein ganz neues soziales Netz aufzubauen, das es ihm ermöglicht, seinen biografischen Neuentwurf ohne die Hypothek gegenüber den Erwartungen der „Wissenden“ aus seinem vergangenen Leben selbst zu bestimmen und zu kontrollieren. 53 Vgl. zum Konzept der „Verlaufskurve“: Glaser/Strauss; Corbin/Strauss (dt. 1996); Soeffner (1991); Schütze (1999); Strübing (2007).
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9. Ausblick Goffmans begriffliche Konzepte zur Analyse von Stigmatisierungsprozessen erweisen sich bis heute als anregendes und wirkungsvolles Instrumentarium, das durch seine Einbettung in den Rahmen der Interaktionsordnung erhellend wirkt. Um auf Veränderungen im gesellschaftlichen Umgang mit auffälligen Personen und abweichendem Verhalten und die Rahmenverschiebungen in der Dienstleistungsmoderne reagieren zu können, erweisen sich Konzepte der Gefühlsarbeit, körpersoziologische Ansätze und die mit der narrativen Biografieforschung und der Identitätsarbeit verbundenen Perspektiven als weiterführend: dies gilt sowohl für die Reagibilität auf säkulare gesellschaftliche Entwicklungen wie für ein vertieftes Verständnis der individuellen Anpassungsstrategien an die Herausforderungen, die mit Rahmenverschiebungen und -vermischungen verbunden sind. Im Grundsatz erweist sich Goffmans Analyse der Voraussetzungen und Abläufe von Stigmatisierungsprozessen als universeller gesellschaftlicher Mechanismus und nach wie vor als geeignete Ausgangsbasis, um von dort ausgehend die veränderten Formen der Identitätsbildungsprozesse unter den kontingenten Bedingungen einer normalistischen Gesellschaft zu untersuchen, in der jeder potentiell diskreditierbar ist. Damit sind zugleich neue Herausforderungen für Entstigmatisierungsstrategien und für ein komplexes Diversity-Management verbunden.
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Korporales Kapital und korporale Performanzen in der Lebensphase Alter1 Klaus R. Schroeter
1. Einleitung Während in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Alternsforschung der Körperaspekt nahezu unberücksichtigt bleibt, wird der Körper im anglophonen Gerontologiediskurs in den letzten Jahren vermehrt thematisiert (vgl. Schroeter 2004c). Als nahezu paradox erscheint es jedoch, dass gerade die (deutschsprachige) Soziale Gerontologie eine ausgesprochene „Körperscheu“ zeigt, und das, obwohl der Alterungsprozess immer auch körperlich erfahren und das Alter auch über den Körper repräsentiert wird. Denn: „Wo auch immer ein Individuum sich befindet und wohin auch immer es geht, es muß seinen Körper dabeihaben.“ (Goffman 2001: 152) Dass die gegenüber der Geriatrie um Eigenständigkeit bemühte Gerontologie dem Diskurs um die „biologischen Grundbefindlichkeiten“ (Schelsky) eher auszuweichen scheint, mag auf die Sorge zurückzuführen sein, dass eine Thematisierung des alternden und an Kräften nachlassenden Körpers nur all zu leicht die in der Gerontologie überwunden geglaubten Vorstellungen eines defizitären Alters neu beleben könnte. Denn aus dieser Perspektive könnte die Thematisierung des Körpers leicht als ein Schritt in die falsche Richtung – zurück auf das Feld biologischer Determinismen – missverstanden werden (Twigg 2004: 60).
2. Korporales Kapital Wurde der Körper in der Soziologie lange Zeit nur am Rande thematisiert, so nimmt die Körpersoziologie mittlerweile an Fahrt auf. Nachdem zunächst im anglo-amerikanischen Bereich – insbesondere durch die Arbeiten von Bryan Turner (1984) angestoßen – vor allem im Rückgriff auf die theoretischen Vorlagen von Bourdieu, Elias, Goffman und Foucault neue 1 Dieser Text ist eine gekürzte Fassung verschiedener bereits publizierter oder sich gerade im Druck befindender Überlegungen (vgl. Schroeter 2006b, 2007, 2008a-c).
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Theorieofferten vorgelegt wurden, gewinnt die Körpersoziologie nun auch hier zu Lande zunehmend an Kontur (vgl. u.a. Gugutzer 2004; Schroer 2005). Dabei kreist der Körperdiskurs im Wesentlichen um die drei Konzepte der naturalistischen, sozialkonstruktivistischen und phänomenologischen Auffassungen vom Körper. In der orthodox naturalistischen Sicht erscheint der Körper als eine universelle „natürliche“ biologische Entität. Die sozialkonstruktivistischen Ansätze gehen davon aus, dass die Körper immer auch sozialen und gesellschaftlichen Interventionen ausgesetzt sind, sodass deren Formationen als im historischen und sozialen Kontext kontingent erscheinen. Und der phänomenologische Ansatz rückt vor allem die leiblich-affektive Dimension der Körpererfahrung in den Vordergrund der Betrachtung (vgl. Shilling 1997). Die Erkenntnis, dass der Körper gleichermaßen als Medium/Instrument, als Produkt und als Produzent von Wirklichkeit (Klein 2005) fungiert, ist nicht zuletzt der Boudieu’schen Soziologie geschuldet, in dessen Habitus-Theorie soziale, psychische und korporale Strukturen in ein komplementäres Verhältnis zueinander gesetzt werden. Bourdieu (1979: 199) sieht den Körper voller „verborgener Imperative“ und begreift die Hexis2 – als unbewusste Einverleibung der Praxisstrukturen – als ein funktionales und strategisches Mittel im distinktiven Kampf um die sozialen Positionierungen in den sozialen Feldern. Der Körper erweist sich somit gleichsam als eine Bezugsgröße für den Identitätsprozess wie auch als Distinktionsmedium zur sozialen Positionierung. Das legt den Gedanken nahe, den Körper als eine individuell und kollektiv zu „bearbeitende“ Ressource und als eine spezifische Form von Kapital – als korporales Kapital – zu betrachten. Bourdieu (1987) spricht zwar gelegentlich vom „körperlichen Kapital“ oder vom „Körper-Kapital“, er behandelt den Körper aber nicht als eine eigenständige Kapitalart, sondern lediglich als eine Subform des kulturellen Kapitals, als inkorporiertes kulturelles Kapital, das den objektivierten Klassengeschmack „verkörpert“. Das korporale Kapital ist in allen Phasen des Lebens eine individuell und kulturell zu erfahrende und zu bearbeitende Größe. Körper wachsen und reifen, bauen und sterben schließlich ab. Körper werden trainiert und therapiert, rehabilitiert und repariert, sozial diszipliniert und ästhetisch modelliert. Sie werden gespürt, erfahren und erlebt und bereiten sowohl Lust und Vergnügen als auch Schmerzen und Leid. Den Körper als physisches (Bourdieu 1987; Shilling 1997) oder korporales Kapital zu betrachten, heißt ihn als „Körperding“ und als objektivierbares Maß zu sehen. Auch das korporale Kapital lässt sich in andere (ökonomische, soziale, kulturelle symbolische) Kapitalien konvertieren. Zum einen lassen sich Körper oder Teile davon unmittelbar „veräußern“. Dabei ist keineswegs nur (aber eben auch) an das „Ersatzteillager Körper“ gedacht, wenn Blut, Haare oder Organe gespendet, verkauft oder geraubt werden, sondern auch an all die Fälle, in denen der Körper als Arbeitskraft, Anschauungs- oder Dienstobjekt gegen Entgelt oder Zuwendung 2 Sowohl der griechische Begriff der „Hexis“ als auch der lateinische Ausdruck des „Habitus“ bezeichnen zunächst einmal eine Haltung bzw. ein Gehabe. Bourdieu verwendet die beiden Begriffe jedoch in einem unterschiedlichen Kontext. Der Habitus steht dabei für die (nicht zwangsläufig bewusst) verinnerlichten Wahrnehmungs- und Deutungsschemata, während die Hexis die „eingefleischten“ (inkorporierten) Gesten und Posituren, ein „Haltungsschema“ (schème postural) darstellt, z.B. „ein bestimmtes Gehen, eine spezifische Kopfhaltung, ein Verziehen des Gesichtes“ oder „die jeweiligen Arten, sich zu setzen, mit Instrumenten umzugehen“ (Bourdieu 1979: 190).
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zur Verfügung gestellt und der Wert des Körpers dabei auf dem „freien Markt“ ausgehandelt wird. Wenn soziales Kapital die Verfügbarkeit sozialer Beziehungen bzw. den Zugang oder die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen bestimmt, ist leicht vorstellbar, wie sich aufgrund vorhandener oder schwindender korporaler Kapitalien (z.B. Kraft, Stärke, Fitness, Attraktivität, Behinderung, Gebrechlichkeit) soziale Partizipationen, Inklusionen und Exklusionen erschließen lassen. Zum anderen lassen sich kulturelle Kapitalien inkorporieren, sodass sie zur habituellen Disposition einer Person werden, die dann z.B. als Kompetenz im kognitiven oder als Geschmack im ästhetischen Sinne fungieren. Das inkorporierte kulturelle Kapital wird damit zum festen Bestandteil des Habitus, der als Wahrnehmungs- und Deutungssystem die ideagene Basis sozialen Handelns stellt und seinen körperlichen Ausdruck in der leiblichen Hexis erfährt. Als korporale Bindung des Habitus wird die leibliche Hexis zur eingeschriebenen „Gedächtnisstütze“ (Bourdieu). Sie repräsentiert als sensitive und motorische Eigenheit des Haltungs- und Fassungsgefüges nicht nur die nach außen sichtbaren und in die Körper eingeschriebenen Zeichen (u.a. Körperhaltungen, Gebärden- und Mienenspiel), sondern auch die leibhaftigen Erspürnisse und Empfindungen. Insofern wird dem kognitiven Habituskonzept ein sowohl leiblicher als auch körperlicher Unterbau zugewiesen: Dem Habitus wird Spürsinn und leibliches Wissen eingehaucht, der Leib wird zum ontologischen Sockel der Reflexion (Gugutzer 2002). Weder Habitus und Hexis noch Körper und Leib sind empirisch, sondern nur analytisch voneinander zu trennen. Sie sind stets aufeinander bezogen und ineinander verschränkt. Kapitaltheoretisch gewendet, heißt das also, dass Körper und Leib Ressourcen und Kapitalien darstellen, die in Form von Materie oder in verinnerlichter bzw. inkorporierter Form „bearbeitet“ werden. Kapital „ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von Materie oder in verinnerlichter, inkorporierter Form.“ (Bourdieu 1983: 183) Auch in den Körper wird Arbeit investiert, z.B. durch Training, Ernährung, Kosmetik, Pflege u.s.w., sodass die über KörperArbeit erzielten Erscheinungsformen des korporalen Kapitals durch ihre symbolisch wahrgenommene Gestalt (z.B. als schöne, kräftige, makellose, gepflegte, gesunde, funktionstüchtige oder vice versa als unansehnliche, schwache, kranke, behinderte oder gebrechliche Körper) sozial bewertet werden. Und da verwundert es nicht, wenn – über Gesundheits-, Fitness-, Wellness- und Schönheitsprogramme gesteuert – kräftig in den Körper investiert wird, um Fitnessfantasien, Schlankheitsidealen und Gesundheitsvorstellungen gerecht zu werden und um auch im Alter das eigene Attraktivitäts- und „Beachtungskapital“ (Koppetsch 2000) zu erhalten oder gar zu steigern. Anders als noch in der Industriegesellschaft, als der menschliche Körper in den normalen Arbeitsprozessen ständig bewegt, trainiert, gestärkt und letztlich auch ausgezehrt wurde, muss der Körper in der modernen Kommunikationsgesellschaft eher den Mangel an Bewegung aushalten. Die alltägliche Körperarbeit geschieht nicht mehr primär am Arbeitsplatz, sie ist in die Fitnesscenter ausgelagert worden, in denen an modernen Körpermaschinen (Ergometer, Body Transformer, Crosstrainer, X-Vibe u.s.w.) Bindegewebe gefestigt, Muskeln auf- und Fettpolster abgebaut, Ausdauer trainiert und Körper in Form gebracht werden. Hier wird im Schulterschluss von Medizin und Sport harte Körperarbeit geleistet, um ein korporales Kapital aufzubauen bzw. zu erhalten, mit dem sich auch außerhalb der Sportstudios soziale Gewinne erzielen lassen.
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In der modernen Gesellschaft ist der Körper zu einer Frage der Wahl und Entscheidung geworden. Doch mit der Wahlmöglichkeit ist zugleich auch eine Pflicht verbunden, den Körper nach den gesellschaftlich präferierten Normvorstellungen zu modellieren, was eine massenhafte Standardisierung und Uniformierung der Körper zur Folge hat. Körperarbeit und Körperstyling sind keine Erfindungen der Moderne. Bereits Kracauer hatte in seiner Studie über „Die Angestellten“ einen „Andrang zu den vielen Schönheitssalons“ und den „Gebrauch kosmetischer Erzeugnisse“ beobachtet. „Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu halten.“ (Kracauer 1971: 25) Doch in einer Gesellschaft, in der die spezifische Denkweise der Ökonomie zunehmend Einzug in die alltägliche und private Lebensführung erhält und in der der Einzelne immer mehr zum Gestalter seines eigenen Körpers und Lebens wird, haben Körper und Gesundheit unter dem „neoliberalen Diktat“ eine sichtbare Aufwertung erfahren. Und dabei ist keineswegs nur an die Sport- und Modewelt zu denken. Auch wenn Schlankheit und Fitness die gesellschaftlich präferierten Ausdrucksformen des korporalen Kapitals sind und sich körperliche Attraktivität auf dem Gesellschaftsmarkt leichter verkaufen lässt, so haben auch die abnehmenden Körperkapitalien ihren Marktwert. Der gesamte Pflege- und Betreuungssektor lebt vom Kapital der korporalen Vulnerabilität (Schroeter 2004a, 2006a).
3. Korporale Performanz: Doing Age Das Alter ist mehr als eine soziale Rolle, mehr als eine individuelle Eigenschaft und auch mehr als ein bio-physisches Kontinuum. Altern ist soziale Praxis und als solche auch ein Mechanismus, durch den situative Handlungen zur Reproduktion sozialer Strukturen beitragen. Aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive betrachtet, zeigen wir uns gegenseitig durch signifikante Symbole unser „wahres“ oder „vermeintliches“ Alter an. Wir geben uns durch alternstypisch codiertes Aussehen, durch Kleidung, Tätigkeiten, Körperhaltungen oder Gesichtszüge als Alte, Junge, als jung Gebliebene oder alt Gewordene, als irgendwo zwischen Jung und Alt Anzusiedelnde zu erkennen. Das Altern atmet aus der sozialen Vermittlung und ist das Ergebnis sozialer Praxis. Altern ist ein fortlaufender Prozess interaktiver Präsentationen. Insofern ist Doing Age (Schroeter 2008a) eine soziale Konstruktion von Alternsdifferenz. Die Akteure zeigen sich durch symbolische Zuschreibungen gegenseitig ihre Altersgruppenzugehörigkeit an. Sie visualisieren und performieren ihr Alter. Und so lässt sich in Abänderung einer populären Alltagserkenntnis auch sagen: Man ist nicht nur so alt, wie man sich fühlt, sondern so alt, wie man sich darstellt und wie man handelt. Diese Überlegung speist sich zum einen aus der der philosophischen Anthropologie Plesserns entlehnten Annahme einer jeglichen menschlichen „Ausdrucksweisen vorgelagerte(n) Notwendigkeit des Ausdrückens überhaupt“ (Plessner 1975: 323). Zum anderen geht sie aus dem dramatologischen Ansatz Erving Goffmans hervor, nach dem die Menschen ihr Handeln wechselseitig darstellen und mit entsprechenden Deutungsanweisungen versehen. Das eigene Älterwerden wird im Wechselspiel und im Vergleich mit anderen erfahren, mit anderen
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Personen gleichen und auch unterschiedlichen Alters. Aber es ist nicht nur der „konkrete andere“ in der unmittelbaren face-to-face-Interaktion, der hier Zeichen setzt, auch der „verallgemeinerte andere“ stellt Ansprüche und weckt Erwartungen, was zuweilen Irritationen hervorruft: Die sozialen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen wirken ebenfalls wie ein Spiegel. Die Handlungen und Kommentare der Mitmenschen reflektieren die eigene Wirkung auf andere, sie stellen aber auch Anforderungen und Herausforderungen an eigene Handlungsmuster. Doing Age steht für die Darstellung (Performanz) und Inszenierung des Alterns. Performanz und Inszenierung sind nicht identisch. Beide gehören zum Phänomen der Theatralität, wobei Performanz den vor körperlich anwesenden Zuschauern bewusst oder unbewusst vollzogenen Darstellungsakt „durch Körper und Stimme“ und Inszenierung den spezifischen Modus der Zeichenverwendung (also: aktuelles Design, Mode, Kosmetik u.s.w.) und damit jene „Kulturtechniken und Praktiken“ meint, „mit denen etwas zur Erscheinung gebracht wird“ (Fischer-Lichte 2000: 20). Beide Aspekte stehen für (re)präsentative Interaktion und setzen Korporalität voraus (Willems 1998). Doing Age steht in struktureller Homologie zum Doing Gender (West, Zimmerman 1991). Insofern kann die Alternsforschung von der sozialkonstruktivistischen Genderforschung lernen. Wenn man Hirschauers (1994) Ansatz der „situativen Geschlechtskonstruktion“ auf das Alter überträgt, hieße das, dass auch die soziale Konstruktion des Alterns ereignishaft geschieht. Die Altersdifferenzierung kann dann in signifikanten sozialen Interaktionen aktualisiert, fortgesetzt oder aufrechterhalten werden, oder aber auch in den Hintergrund treten. Hirschauer geht davon aus, dass Geschlecht durch eine institutionelle Infrastruktur katalysiert wird, die sich auf verschiedene grundlegende Stabilitäten stützt (Hirschauer 1994: 680ff.). Die lassen sich jedoch nur zum Teil auf das Alter projizieren, weil das Alter im Unterschied zum Geschlecht keine statische, sondern eine sich im Laufe des Lebens verändernde Größe ist: – Durch die kognitive Stabilität des Wissenssystems wird das Alter gewissermaßen naturalisiert und universalisiert, insofern das alltägliche Altersverständnis durch (natur)wissenschaftliche Konstruktionen abgesichert und durch (sozial)wissenschaftliche Erhebungen (z.B. durch die geradezu routinemäßig als unabhängige Variable mitgeführte Kategorie „Alter“ bei verschiedenen Fragestellungen) stabilisiert wird. – Die Alterszugehörigkeit wird individualgeschichtlich durch verschiedene Gedächtnisformen verankert. Das biografische Gedächtnis fungiert als eine Art Alternshabitus, der die im Sozialisationsprozess an das Alter geknüpften Erwartungen, Neigungen, Erlebnisse und Erfahrungen als Wahrnehmungs- und Bewertungsmatrix abspeichert. Das korporale Gedächtnis verkörpert die in der Hexis eingeschriebenen Sozialisationserfahrungen von der ersten körperlichen Zuwendung durch die Eltern über die Geschlechtsreife bis hin zur körperlichen Vulnerabilität im Alter. Das Gedächtnis der Mitwisser (Angehörige, Freunde, Bekannte) stellt die sich verändernde Alternspräsentation z.B. durch Umgangsformen und Erwartungshaltungen gewissermaßen auf Dauer. Durch das Gedächtnis der Akten wird die Alterszugehörigkeit u.a. in Geburtsurkunde, Familienbuch, Personalausweis, Patientenbriefen, Sterbeurkunden u.s.w., dokumentiert. – Die semiotische Stabilität verweist auf einen Zusammenhang verschiedener Zeichen. Dazu gehören sowohl die sprachlichen Zeichen (etwa Vornamen, Formen der Anrede),
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stereotype Verhaltens- und Darstellungscodes (etwa Haltungen, Gesten, Sprechweisen) als auch materielle Artefakte (etwa alternstypisch codierte Kleidungsstücke, Kosmetika, Statussymbole u.s.w.) und korporale Indizien wie Körperstatur, Körperhaltung, Gesichtszüge, Haare, Haut u.s.w. Allerdings bedarf es zur Verstetigung von Altersdifferenzen auch einer das Alter strukturell reproduzierenden Sozial- und Gesellschaftsordnung. Auch wenn in der postmodernen Gesellschaft die ehemals klar markierten Altersstufen und die damit verbundenen Erwartungshaltungen zunehmend verwischen, so existiert doch in Analogie zu den von Hirschauer (1994: 686) genannten „geschlechtskatalysierenden Sozialarrangements“ eine ganze Reihe von mehr oder weniger institutionalisierten Ordnungsmustern, die altersdifferenzierte Interaktionen generieren: vom altersdifferenzierten Bildungssystem bis hin zu altersgruppenspezifischen Partizipationsstrukturen in Sport, Kultur und Freizeit. Nun ist die Wahrnehmung des eigenen Alters zu einem Großteil auch körper- und leibgebunden. Körper und Leib öffnen gewissermaßen die Tür zur sozialen Welt. Der Leib vermittelt dem eigenen Ich die sinnliche Wahrnehmung der Welt. Der „Leib ist sozusagen der Nullpunkt des Koordinatensystems“ (Schütz 1982: 215), mit dessen Hilfe sich der Mensch die Welt erschließt. Leib und menschliche Existenz sind nicht voneinander zu trennen. Der Leib erscheint als „ein besonders geeignetes Vermittlungsglied zwischen der Welt des Außen und des Innern“ (Schütz 1981: 92), das ein dem Erkennen vorausgehendes „somatisches Lebensgefühl“ (ebd.: 157) vermittelt.3 So wie die korporalen Kompetenzen in Kindheit und Jugend auf das „noch nicht“ verwiesen, auf das „noch-nicht-Können“ das „noch-nicht-Dazugehören“ u.s.w.), so mahnen die korporalen Kompetenzen im Alter den verbliebenen Abstand zur ideell gesetzten Grenze des „nicht mehr“ (Könnens, Dazugehörens u.s.w.) an. Der Körper bringt einem im Alter die Grenzen immer näher. Die Grenzen des körperlich Möglichen zeigen sich in den alltäglichen Handlungsmustern, wenn es einem schwerer fällt, die Kellertreppe hinauf- und hinabzusteigen, wenn man sich zum Zubinden der Schnürsenkel hinsetzen muss oder wenn die Beweglichkeit insgesamt eingeschränkt ist. Dabei ist das Altersempfinden nicht unfrei von Stimmungen, wenn mitunter der Eindruck überwiegt, noch ganz passabel für das Alter auszusehen oder wenn es Situationen gibt, in denen man merkt, dass die frühere Ausdauer und Energie fehlen, dass jetzt alles etwas langsamer geht, dass man an Gewicht zugenommen hat, Falten und schrumpelige Hände an sich entdeckt und einem das Gesicht im Spiegel fremd und älter erscheint. Es sind mitunter Situationen, die im Alltag gar nicht reflexiv erfasst werden, sondern sich einfach habituell einlagern. Der Alltag birgt eine Fülle von körperlich-physischen Belastun-
3 In den späteren Schriften von Schütz bleibt der Leib zwar eine grundlegende Größe für das Handeln und die Sinnkonstruktion, doch der entscheidende Schlüssel zum Zugang zur Lebenswelt ist das Bewusstsein, wobei sich Ego und Alter als geschlossene Einheiten gegenüberstehen. Hier ist Merleau-Ponty (1966) viel radikaler, bei ihm wird die intersubjektive Kommunikation zur „Zwischenleiblichkeit“ (intercorporéité). Die Wahrnehmung des anderen wird nicht wie bei Schütz auf einen kognitiven Vorgang reduziert, sie ist ein leiblicher Akt, in dem kognitives Erkennen und leibliches Empfinden zusammentreffen. In einem ähnlichen Zusammenhang spricht Schmitz (1985: 84ff.) von Einleibung, und meint damit zunächst einmal den durch die Anwesenheit eines anderen Menschen, Gegenstandes, Bildes, Geräusches u.s.w. hervorgerufenen Effekt auf das eigene leibliche Empfinden.
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gen, und die alltägliche Lebenswelt liefert immer auch korporale Dispositionsspielräume, innerhalb derer der körperlichen Konstitution entsprechend alltägliche Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen sind. Dabei werden die gespürten körperlichen Veränderungen jedoch keineswegs nur mit einem Misston des Bedauerns zur Kenntnis genommen. Sie werden als „normale“, mitunter auch als störende, Begleiterscheinungen des Älterwerdens wahrgenommen. Aber im Allgemeinen wird der Körper mitsamt seinen Veränderungen akzeptiert. Und es ist auch keineswegs so, dass die körperliche Gewinn-Verlust-Bilanzierung immer negativ ausfällt oder mit Wehmut verbunden ist. Die Akzeptanz des älter werdenden Körpers wächst mit der Zeit. Die körperlichen Veränderungen treten in der Regel nicht abrupt auf, sie schleichen sich mit der Zeit heran. Und die Zeit gewährt die Chance zur Reflexion und zur Bewusstmachung der körperlichen Neuordnung. Die körperlichen Begleiterscheinungen des Älterwerdens bleiben nicht im Verborgenen. Sie werden durch äußerlich sichtbare Zeichen auch in den alltäglichen Interaktionen nach außen getragen – z.B. durch dünne, graue oder ausfallende Haare, durch Alterspigmente, trockene oder faltige Haut, zittrige Hände, verlangsamte Handlungsabläufe u.s.w.). Diese Zeichen wirken dann als alterssignifikante Symbole, als Bedeutungsträger, die über eine konkrete Situation hinausweisen und nicht isoliert, sondern innerhalb von Symbolsystemen (Geertz 1983) funktionieren, in denen sie soziale Deutungen, Wahrnehmungsmuster und Ordnungsschemata repräsentieren. Nun werden auch im Alter soziale und korporale Strategien eingesetzt, um ein bestimmtes Gesicht zu wahren oder einen bestimmten Eindruck zu vermitteln. Darstellung und Fassade (Goffman 1996) sind Teile des Doing Age. Dazu zählen zum einen das Bühnenbild (z.B. die eingerichtete Wohnung, der gepflegte Garten, das Auto) und die Requisiten (z.B. Sport- und Freizeitausrüstung, Hometrainer, Gesundheitskost, kosmetische Utensilien) als die szenische Gestaltung des Handlungsortes. Zum anderen gehören dazu aber auch die persönliche Fassade (z.B. Geschlecht, äußere Erscheinung, Körperstatur, Körperhaltung, Haare, Sprechweise, Gesichtsausdruck, Gestik sowie alternstypisch codierte Statussymbole, Konsumgüter, Kleidung) und die soziale Fassade, d.h. die mit einer bestimmten sozialen Rolle verbundenen sozialen Erwartungshaltungen (etwa: wie „man“ sich als älterer Mensch zu verhalten und zu kleiden hat). Die dramatische Gestaltung des Alterns mag man sowohl in den habituell gesteuerten als auch in den z.T. bühnenwirksam inszenierten Hinweisen auf die Bedeutung und Besonderheit der eigenen Tätigkeit erkennen – so z.B., wenn durch die pointierte Hervorhebung des eigenen Erfahrungswissens oder durch den Hinweis auf früher Erlebtes oder Erlittenes gleichsam eine soziale Distanz zu anderen Altersgruppen erzeugt wird. Gleiches gilt wohl auch für die Darstellungstechnik der Idealisierung als dramatische Steigerung der hinter dem eigenen Verhalten und den Erwartungen der Zuschauer stehenden Werte (z.B. durch anspruchsvolle Lektüre, bewusste Ernährung, autonome Zeitgestaltung, demonstrative Kontemplation). Zum Doing Age als Teilbestand des dramaturgischen Alltagshandelns gehören aber auch die unwahren Darstellungen und Täuschungen. Dazu zählen nicht nur bewusste Lügen und die Verbreitung falscher Tatsachen, sondern auch Über- und Untertreibungen sowie die Bekanntgabe „halber Wahrheiten“. So bewegen sich die individuellen Einschätzungen, Wahrnehmungen und Äußerungen zum eigenen (kalendarischen) Alter und zum subjektiven Wohlbefinden und Gesundheitszustand mitunter irgendwo in der breiten Grauzone zwischen
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Wahrheit und Lüge, wenn nach dem Motto verfahren wird, dass zwar nichts gesagt werden darf, was nicht wahr ist, aber auch nicht alles gesagt und gezeigt werden muss, was relevant und wahr ist. Und so wird das wahre Alter manchmal verschwiegen, und die Falten des alternden Körpers werden durch Kosmetik und Kleidung kaschiert. Aber ebenso gilt auch die Umkehrung, dass man sich im Alter ganz anders fühlen kann als man aussieht, geradeso als trüge man eine Maske (Featherstone, Hepworth 1991), durch welche die sich dahinter versteckende wahre Identität verhüllt wird. Das individuelle Selbst wird quasi zum Gefangenen des alternden Körpers, der die wahre Identität nicht länger physisch zum Ausdruck bringen kann. Die Spannung zwischen dem inneren subjektiven Erleben und dem äußeren Erscheinungsbild spiegelt sich in der Altersmaske. Diese erscheint als „pathologisch“ und „abweichend“, während das innere, wesentliche Selbst als „normal“ gilt. Die Altersmaske verweist auf die Diskrepanz zwischen dem äußeren Körper und dem inneren Wohlbefinden. Die sichtbare körperliche Hülle erscheint als nichts anderes als eine Maske, die das wirkliche Selbst nur verdeckt, der äußere Körper nichts anderes als eine Überlagerung des immer noch jugendlichen inneren Selbst.
4. Fitness und Wellness im Kontext von Doing Age und Doing Gender Die moderne Gesellschaft ist auf Konkurrenz und Austauschbarkeit ausgerichtet. Da gehört das Distinktionsbestreben zum integralen Muster der individuellen Lebensführung. Dabei gewinnen Körperarbeit und Bodystyling zunehmend an Bedeutung. Die moderne Medienund Bildergesellschaft verlangt nach Körpern, die zur Inszenierung taugen. Und so rückt der Körper als konsumierende Größe ins Blickfeld der somatischen Gesellschaft. Als soziales Layout, das den Stellenwert des Einzelnen in der Gesellschaft zu bestimmen hilft, wird der Körper nach den dominierenden Vorstellungen der Konsumgesellschaft trainiert und modelliert. Dabei fällt dem Körper die doppelte Rolle als visualisierte und strukturalisierte Projektionsfläche (u.a. als kosmetisch, chirurgisch, sportiv, ökotrophologisch u.s.w. bearbeitet) und als aktiv strukturalisierende Dimension (u.a. als agierender und Zeichen setzender Distinktionsapparat) zu (Gilleard 2002: 141). So ist der Körper gleichermaßen a) subjektive Identitätsoberfläche, die es zu bearbeiten gilt (z.B. durch Kosmetik, Peeling, Mani-/Pediküre oder Hairstyling), b) Instrument des Selbst, das zu entwickeln, stärken und kultivieren ist (z.B. durch verschiedene Formen von Fitness und Wellness, wie Body-Fit, Depilation, medizinische Bäder, Body-Wrapping, Massagen, Feng-Shui) und c) handlungsfähige Struktur, die Risiken ausgesetzt und deswegen zu pflegen und zu hüten ist (z.B. durch präventives oder rehabilitatives Bewegungstraining, Diät oder Nahrungsergänzungsmittel). Insofern spielt nicht nur Ästhetik, sondern auch das Gesundheitsmotiv eine wichtige Rolle bei der Körperformation. Der Körper wird zum sichtbaren Ausdruck einer gesunden (oder auch ungesunden) Lebensweise und Bewegungskultur. Nach neueren sportwissenschaftlichen Untersuchungen stehen in der Altersgruppe der 35- bis 60-Jährigen mit Radfahren,
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Jogging und Schwimmen auch Ausdauersportarten an der Spitze der gesundheitsorientierten Sportarten, wobei Radfahren und Joggen in Deutschland stärker von Männern und Schwimmen und Gymnastik eher von Frauen betrieben wird (Denk et al. 1997; Steinheisser 2004). Lange Zeit galt die Annahme, dass Frauen (nicht nur) im Alter ein geringeres sportives Engagement zeigen als Männer. So zeigt z.B. die deutsch-finnische Vergleichsstudie FINGER (Woll 2006: 179), dass der Prozentsatz der durchgängig seit der Schulzeit sportlich aktiven Personen in Finnland fast doppelt so hoch liegt wie in Deutschland. Auf das Alter fokussiert wird der Unterschied noch deutlicher: Demnach treiben in Deutschland nur 5% der über 50jährigen Frauen, aber immerhin 30% der gleichaltrigen Männer durchgängig Sport, während sich in Finnland eine durchaus höhere und geschlechtsspezifisch nahezu paritätische Quote beobachten lässt. Gleichwohl zeigt sich aber auch, dass sich im Alter von 35 bis 55 Jahren eine Phase „relativer Stabilität“ in der sportlichen Aktivität einstellt und dass Frauen im Verhältnis zu den Männern mit zunehmendem Alter ihre sportlichen Aktivitäten steigern (Woll 2006: 187). So haben auch neuere Untersuchungen auf der Basis der Datensätze des sozioökonomischen Panels (Breuer 2003) gezeigt, dass Frauen ihre sportlichen Aktivitäten bis zum 65. Lebensjahr kontinuierlich erhöhen, während Männer hingegen ihr sportliches Engagement im Alter von 35 bis 44 und über 65 Jahren reduzieren. Ein wesentlicher Beweggrund dafür wird vor allem in dem stärker ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein der Frauen und in den verbreiteten Schlankheits- und Jugendlichkeitsidealen gesehen. Männer scheinen sich hingegen stärker auf die Kondition und auf das gegenseitige Kräftemessen zu konzentrieren (Opaschowski 1987, Woll 1996). Zu diesen Befunden passt auch die Erkenntnis, dass Frauen zwischenzeitlich immer häufiger in den Fitnessstudios und in den Sportkursen der Volkshochschulen vertreten sind (Mrazek 1988; Ohldag 1995). Aus den einstigen männlichen „Muckibuden“ sind zwischenzeitlich geschlechtsneutrale Sportstätten geworden. Die wenigen heute vorliegenden soziographischen Analysen von Fitness-Centern weisen einen in etwa gleich starken Frauen- und Männeranteil in der Klientel der Centerbesucher aus (Hilbich 1997; Samsel 1999). Bei all dem freilich zeigt sich auch, dass jüngere Personen im höheren Maß sportlich aktiv sind als ältere und dass Vertreter aus den unteren sozialen Milieus weniger Sport treiben als Personen aus den gehobenen sozialen Milieus und entsprechend niedrigere Fitness- und Beweglichkeitswerte aufweisen (Woll 2006). Die Untersuchungen machen deutlich, dass sich die Mitgliederstruktur in den letzten Jahren offensichtlich verändert hat. Sie zeigen auch, dass Frauen und Männer das Fitnessstudio offenbar unterschiedlich intensiv nutzen. Die Männer gehen zumeist drei- bis viermal und die Frauen ein- bis zweimal pro Woche in das Studio. Dabei liegt die durchschnittliche Aufenthaltsdauer bei der Hälfte aller Männer bei zwei bis drei und bei der Hälfte aller Frauen bei ein bis zwei Stunden, allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass der tatsächliche Zeitaufwand beim eigentlichen Training an den verschiedenen Geräten deutlich niedriger liegt (Hilbich 1997: 37; Samsel 1999: 58). Die Kieler Fitnessstudie4 (Hilbich 1997) hat gezeigt, dass „Figurbewusstsein“ und „Figurverbesserung“ sowohl bei Frauen als auch bei Männern die am häufigsten genannten Be-
4 Untersucht wurden vier Kieler Fitness-Studios (n = 120; w: 61; m: 59).
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weggründe für den Besuch eines Fitnessstudios sind und dass es auch bei den Motivationswerten „Gewichtsreduzierung“ und „Schönheitsideale“ kaum erwähnenswerte Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Die zeigen sich jedoch bei der Zielsetzung „Muskelaufbau“, was dazu führt, dass die Männer wesentlich stärker mit Freihanteln und an Kraftgeräten arbeiten und die Frauen ihre Ziele vor allem durch gymnastische und tänzerische Bewegungsformen zu erreichen versuchen (Hilbich 1997: 41ff.). In der niedersächsischen Untersuchung von Samsel (1999)5 zeigt sich hingegen eine ganz andere Alters- und Motivationsstruktur der Besucher von Fitnessstudios. Während die altersgemäße Verteilung der Kieler Stichprobe zwischen 16 und 57 Jahren liegt (Durchschnittsalter 31 Jahre; Hilbich 1997: 32) und damit dem bundesweiten Altersdurchschnitt der Mitglieder von Sportstudios von 32 Jahren entspricht (Ohldag 1995: 52), sind in den untersuchten Fitnessstudios in Bremerhaven und Oldenburg mehr als die Hälfte der Mitglieder (55%) über 40 Jahre alt. Dass hier die 55- bis 65-Jährigen 20% und die bis zu 25-Jährigen weniger als 10% der Klientel ausmachen, ist dabei sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass beide Studios vor allem mit dem Label der Gesundheitsorientierung werben und eine ärztliche Beratung anbieten (im Vergleich dazu liegt das Durchschnittsalter der Besucher der KieserStudios bei 46 Jahren6), wobei sich das kleinere Studio in Oldenburg weitgehend auf rein gesundheitsorientierte Individual- und Gruppenangebote (u.a. Rückenschule, BauchmuskelTraining) beschränkt (Samsel o.J.). Hier zeigt sich, das „[v]iele, vornehmlich ältere und übergewichtige Studiomitglieder (…) ausgesprochen multimorbide [waren]“ (Samsel 1999: 56). Die Studie zeigt, dass die weiblichen Besucher der Studios deutlich gesundheitsorientierter sind als die Männer und dass mit zunehmendem Alter die rehabilitativ-therapeutischen Trainingsmotive ansteigen. Im Gegensatz zur Kieler Studie werden hier die Motive „Figurbewusstsein“ und „Muskelaufbau“ deutlich niedriger bewertet, wohingegen körperliche und psychische Leistungsmerkmale an Relevanz gewinnen. Die Daten dieser Untersuchungen deuten darauf hin, dass in einer älter werdenden Gesellschaft das Streben nach Fitness zwar keineswegs erlahmt, dass aber Figur und Aussehen ihre hohen Dominanzwerte verlieren. Diese Erkenntnisse decken sich mit den gerontologischen Erfahrungen. Dort wird u.a. im Kontext des Altersstrukturwandels (Tews 1993; Schroeter 2000) darauf hingewiesen, dass Menschen heute zwar chronologisch älter werden als ihre Vorgänger-Generationen, dass sie jedoch sowohl in ihren expressiven als auch impressiven Befindlichkeiten vergleichsweise jünger erscheinen. Auch wenn die epidemiologischen Daten durchaus einen deutlichen Anstieg der Erkrankungsfälle mit zunehmendem Alter belegen, haben sich das physische und psychische
5 Untersucht wurden zwei Fitnessstudios in Bremerhaven (3000 Mitglieder, n = 614) und Oldenburg (600 Mitglieder, n = 345). 6 Das Kieser-Training ist ein von dem ehemaligen Boxer Werner Kieser entwickeltes präventives und therapeutisches Krafttrainigsprogramm mit besonders kurzen Trainingseinheiten. In den 90-er Jahren wurden die ersten Kieser-Studios in Deutschland eröffnet. 2006 gab es insgesamt 146 Kieser-Studios, 118 davon alleine in Deutschland, 19 in der Schweiz, 5 in Österreich und jeweils eins in Großbritannien, Luxemburg und in den Niederlanden. Das Kieser-Unternehmen mit ca. 1.600 Beschäftigen hat insgesamt 285.000 Kunden, davon allein 235.600 in Deutschland. Das Durchschnittsalter der Kunden (davon 53% Frauen) liegt bei 46 Jahren (KieserTraining 2006).
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Wohlbefinden (Fitness und Wellness), die Kompetenzen und Leistungsfähigkeiten der älteren Menschen in den zurückliegenden Jahren zunehmend verbessert. Und so halten sich die älteren Menschen heute oftmals für jünger als sie es chronologisch sind, sie sehen im Durchschnitt jünger aus und sind hinsichtlich ihrer Gesundheit, ihrer Selbstständigkeit und Kompetenz jünger und vitaler als frühere Generationen. Mit zunehmendem chronologischem Alter scheint die Differenz zwischen subjektiv empfundenem und „tatsächlichem“ (kalendarischem) Alter größer zu werden. So argumentieren z.B. Featherstone und Hepworth (1991, 1998), dass man sich im Alter ganz anders fühlen kann als man aussieht, geradeso als trüge man eine Maske, durch die die wahre Identität verborgen werde. Die Altersmaske (mask of ageing) verweist auf die Diskrepanz zwischen dem äußeren Körper und dem inneren Wohlbefinden. Der älter werdende Körper wird als eine bloße sichtbare Hülle wahrgenommen, der das jung gebliebene innere Selbst verhüllt. Diese Vorstellung deckt sich mit dem von Kaufmann (1986) vorgelegten Konzept des ageless self, nach dem ältere Menschen trotz der mit dem Altern verbundenen physischen und sozialen Veränderungen ein auf Kontinuität ausgerichtetes und gewissermaßen altersloses Selbstverständnis zum Ausdruck bringen. Im Gegensatz dazu verweist der von Woodward (1991) benutzte Begriff der masquerade auf eine soziale Fassade, mit der die sozialen und physischen Erscheinungsformen des Alters mehr oder weniger bewusst verborgen werden. In einer das Alter entwertenden Kultur ist die auf den alternden Körper bezogene Maskerade vor allem Ausdruck der Ablehnung des Alters, ein Versuch, das Alter gewissermaßen wegzuwischen oder auszulöschen. In der (post)modernern Gesellschaft hat die Vorstellung von einer ewigen Jugend den Wunsch nach einem ewigen Leben abgelöst (vgl. Featherstone, Hepworth 1991). So haben z.B. Öberg und Tornstam (2001) gezeigt, dass das Fitness- und Jugendlichkeitsideal als eine Art „Einheits-Alters-Phänomen“ alle Altersstufen durchzieht. Jugend, Schönheit und Dynamik sind die Schwungräder der modernen Konsumgesellschaft, die auch einen grundlegenden Einfluss auf die Erfahrung und Wahrnehmung des Alterns in modernen Gesellschaften haben. „Das Alter gilt als der größte Feind der Schönheit und muss mit allen Mitteln bekämpft werden“ (Degele 2004, 207). Von den Wertigkeiten der Schönheit und Jugendlichkeit – so wird oftmals argumentiert (vgl. u.a. Davis 1995; Hurd 2000; Twigg 2004; Woodward 1999) – würden vor allem Frauen angesprochen. Der „Mythos der Schönheit“, so argumentieren u.a. Stannard (1977) und Wolf (1991), sei ein Instrument der Männer, um Frauen in Abhängigkeit „zu halten“. Diese Argumentation wurde von Sontag ([1972] 1979) weitergeführt, indem sie den Frauen einen double standard of aging attestierte, womit sie deren doppelte Marginalisierung durch sexism und ageism zum Ausdruck brachte. Es wird davon ausgegangen, dass ältere Frauen mit nachlassender Attraktivität einem stärkeren Statusverfall im Alter ausgesetzt (Webster, Driskell 1983) und mit ihrem Körper insgesamt unzufriedener seien. Dass auch ältere Männer dem Jugendkult und Schönheitsideal unterliegen, wird vergleichsweise selten thematisiert. Körperliche Attraktivität ist aber ein Anliegen beider Geschlechter, und zumindest in der jüngeren Generation arbeiten Männer ganz gewaltig an ihrem körperlichen Erscheinungsbild. Die Bedeutung des Körpers für ältere Männer noch stärker herauszuarbeiten als bislang geschehen, scheint ein Desiderat sozialgerontologischer Forschung. Öberg und Tornstam (1999) haben in ihrer Untersuchung sodann auch zeigen können, dass Frauen aller Altersgruppen in der Tat ein größeres Gewicht auf ihr körperliches Erschei-
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nungsbild legen als Männer und dass sich Frauen auch mehr als Männer darum sorgen, dass sich mit zunehmendem Alter ihr Aussehen verändere. Nicht bestätigt wurde hingegen die Annahme, dass Frauen im Alter mit ihrem Körper unzufriedener seien als Männer. Während Männer fast aller Altersgruppen mit ihrem Körper zufrieden sind, steigt die Körperzufriedenheit der Frau mit zunehmendem Alter. Andere Studien kommen freilich zu anderen Ergebnissen. So hat Grogan (1999: 130) z.B. in ihrer Untersuchung festgestellt, dass „[w]omen reliably reported dissatisfaction with stomach, hips and thighs, irrespective of their age. Most were motivated to lose weight, and represented an ideal that was tall and slim with firm breasts, irrespective of their age“(vgl. auch Pliner et al. (1990), die zu ähnlichen Ergebnisse gelangen). Lamb et al. (1993) hingegen konnten zeigen, dass ältere Menschen durchaus ein realistisches altersbezogenes Körperideal entwickeln und mit zunehmendem Alter auch ein schwereres Körpergewicht als ideal ansehen. Und so scheinen die körperidealisierenden Botschaften der jugendzentrierten consumer culture im weiteren Lebenslauf eher an Bedeutung zu verlieren. Insofern stützen diese Ergebnisse keineswegs einfache „gerontophobische Bilder vom alternden Körper“, da ältere Frauen in der Tat eher als jüngere Frauen mit ihrem Körper zufrieden sind (Öberg, Tornstam 1999: 638). Die oftmals angenommene Diskrepanz zwischen psychologischem und chronologischem Alter lässt sich zumindest an Hand der schwedischen Daten nicht ohne Weiteres aufrecht erhalten. „The double marginalisation of women, the tragedy of the ageing mask and the ageless self in the betraying body do not materialise, as gerontologists have suggested“(Öberg, Tornstam 1999: 641). Mit einem Blick auf das so genannte vierte Alter relativiert sich diese Aussage jedoch, wenn Öberg (1996) in eine anderen Studie zeigt, dass die „mask-of-ageing“-Strategie, sich selbst von seinem Körper zu distanzieren, vor allem in einem problem-bezogenen und von körperlichen Verlusten geprägtem Altern (The Bitter Life) und weniger im erfolgreichen Altern (The Sweet Life) auftritt.
5. Die korporalen Kapitalien von Fitness und Wellness unter „neoliberalem Diktat“ In der modernen Gesellschaft sind vor allem junge, knackige, faltenlose und wohlgeformte Körper begehrenswert. Schlankheit und Fitness gelten als Ausdruck eines „schönen Körpers“. Schönheit liest sich heute „im Kategoriensystem“ der Gesundheit, wobei „Schönheit weniger denn je als natürliche Mitgift betrachtet, sondern als Ergebnis einer richtigen, gesunden Lebensweise in die Eigenverantwortung des Individuums gelegt wird“ (Koppetsch 2000: 110). Die persönliche Fassade ist längst zur zweiten Natur des Menschen geworden. Das Färben, Abtönen und Aufhellen der Haare und das Liften der Haut gehören heute zu den kulturellen Normalitäten. Doch während diese geradezu ins Gesicht geschriebenen Eingriffe öffentlich wahrnehmbar sind, erfahren andere, die gesamte körperliche Oberfläche betreffende Kosmetika und Eingriffe eine vergleichsweise geringe öffentliche Aufmerksamkeit. Aber diese letzte körperliche Grenzbastion beginnt zu bröckeln und der alternde Körper rückt allmählich als Ganzes auf die Bühne. Und so zielen die Botschaften von Mode und Werbung
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ebenso wie die von Lebenshilfe und Gesundheitsförderung auf eine Korrektur der erschlaffenden Körper. Alterszeichen werden weithin als von der Norm abweichende Makel vermittelt. Und an eben diesem Punkt setzt die Werbung der Körperindustrie an (Willems, Kautt 2002). Hier findet sich der konsumerische Ausgangspunkt für den endlosen Kampf gegen das Alt-Aussehen. Mit Hilfe der Massenmedien werden gewaltige Anstrengungen unternommen, das mittlere Lebensalter mit einem positiven und jugendlichen Image zu versehen, sodass der Kampf gegen das Altern bereits in der Lebensmitte zur sozialen Pflicht wird (Hepworth, Featherstone 1982). Der uns in den Medien (vor allem in der Werbung) theatralisierte und „zur Schau gestellte“ alte Körper ist nicht alt, er ist Ausdruck von Perfektionismus und eines unsichtbar gemachten Alters. Und die Bilder dieser Botschaft wirken ermunternd und manipulierend auf die distinktiven Lebensstile älterer Menschen, zumal wir immer auch durch den Körper lernen. In der modernen Gesellschaft wird der Körper zu einer Fiktion der Chancen und Optionen. Hier flottieren die auf die Modellierbarkeit des Körpers zielenden Angebote unter der modernen Ideologie der Fitness und Wellness. Und die zahlreichen Programme der Diäten, Schlankheitskuren und kosmetischen Chirurgie, die sportiven Trends (vom Trimm-Trab über Aerobic bis hin zum Power-Walking), die Angebote der Beauty-Farms und Wellness-Oasen sind Offerten an den Körper, seinen Symbolwert in der Gesellschaft zu steigern. Die lange Zeit mit der Jugend assoziierten Eigenschaften der Flexibilität, Spontaneität und Expressivität diffundieren in der (post)modernen Gesellschaft zunehmend in die Altersphase, sodass heute oftmals ein transgenerativer uniage behavioral style (Powell, Longino 2001: 203) beobachtet wird. Die vormals jüngeren Generationen vorbehaltenen Kultur-, Sport- und Gesundheitsrequisiten werden längst auch für Ältere vermarktet, um Gesundheit, jugendliche Frische und Selbstvervollkommnung bis ins hohe Alter zu erhalten (Featherstone, Hepworth 1998: 330). Denn schließlich ist der Körper ein soziales Layout, eine „Visitenkarte des Selbst“ (Klein 2005: 86), der unmissverständlich Auskunft über die „richtige“ und „erfolgreiche“ Lebensführung (im Alter) erteilt. Fitness und Wellness stehen nicht nur für eine visualisierte Gesundheit, sondern auch für eine sichtbar gemachte distinktive Form der Lebensführung und Lebenshaltung. Sie sind die symbolisch nach außen getragenen Formen des korporalen Kapitals. Ein trainierter Körper symbolisiert Ausdauer, Disziplin und Beharrungsvermögen, Tugenden, die auch in außersportlichen Bereichen Gewinn bringend eingesetzt werden können. Wer fit aussieht und sich „well“ fühlt, gilt als erfolgreich und zukunftsträchtig. Fit-Sein bedeutet „den Anforderungen der Gesellschaft ohne negative Komplikationen entsprechen und für sich die Möglichkeiten der Gesellschaft problemlos nutzen zu können.“ (Beuker 1993: 6) Fitness und Wellness stehen für Attraktivität und Schönheit, und die entsprechenden Programme dafür sind Wege zur Steigerung des korporalen Kapitals. Sie versprechen gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg. Wer sich auf dem gesellschaftlichen Markt der Möglichkeiten durchsetzen und erfolgreich sein will, der muss auch seinen Körper einsetzen. Und dazu hat er in eigener Verantwortung sowohl für Fitness und Wellness als auch für Gesundheit und Leistung zu sorgen. Diese Eigenverantwortung wird nicht durch bloße Repression erzwungen, sie hat sich in den Köpfen der Akteure habitualisiert und in ihre Körper eingeschrieben. In den Rationalitäten der modernen Gesellschaft erscheinen die Hinwendungen zu Fitness und die Anwendungen
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von Wellness als freiwillig und bewusst gewählte Formen der Lebensführung. In individueller Selbstverantwortung werden Gesundheit und Wellness durch Bewegungs- und Entspannungsprogramme, durch Ernährungs-/Diätpläne und Vitmaninpräparate zu steuern versucht. Durch das ständige Stoßen ins Horn der gerontologischen Erfolgs- und Produktivitätsdebatte (Schroeter 2002, 2004b) lassen sich wohl vertraute Töne in der aktiven Gesellschaft erzeugen. Denn die Wertschätzung der „jungen Alten“ und die soziale Geringschätzung der „alten Alten“ fußen doch gerade auf den dominanten Wertigkeiten der modernen Gesellschaft, die sich „verzweifelt auf Jugend schminkt“ (Bloch 1982: 40) und in der über allen Lebensaltern das verführerische und zugleich fordernde Jugendlichkeitsideal schwebt. Wer dem Tribut zollt, sich auch im Alter noch jung hält, seine Dynamik und Produktivität nicht verliert, der bleibt auch in der Leistungsgesellschaft erfolgreich und anerkannt. Denn der gehört eben zu den „souveränen und erfolgreichen Senioren“. Da kommt das neu entdeckte Vergesellschaftungsmodell des bürgerschaftlichen Engagements gerade recht. Als Ergänzung zum traditionalen Leitbild des wohl verdienten Ruhestands tritt dann die sinnvolle, soziale und zielbewusste Tätigkeit im Alter (Schroeter, Zängl 2006). Die modernen Parolen der Sozialen Arbeit und Sozialen Gerontologie heißen Empowerment und Kompetenzaktivierung, erfolgreiches und produktives Altern. Sie sind Ausdruck eines veränderten und modernisierten Selbstverständnisses der Humanwissenschaften. Ihre Leitgedanken fügen sich nahtlos in die regulierenden Strategien der Bio-Politik (Foucault 2004) ein, wenn sie auf die Kontrollierung und Normalisierung des Menschen, bzw. auf die „Maximalisierung des Lebens“ und auf die „Verantwortung für das Leben“ zielen (Foucault 1983: 148, 170). Disziplinierung des Körpers und Kontrolle der Bevölkerung sind die zwei Pole der Bio-Politik, in der das individuelle Handeln im Sinne des allgemeinen Interesses zu koordinieren und zu regulieren ist. Die Programme von Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung, von Prävention und Rehabilitation fügen sich ebenso in die Reihen der regulierenden Bio-Politik wie nunmehr auch die der Sozialen Gerontologie, in der unter dem Etikett des aktiven, erfolgreichen und produktiven Alters geragogische und therapeutische Konzepte entworfen werden, die Erfolg und Produktivität als neue Leitbilder propagieren. Diese Programme, die gleichsam auf die Selbstakzentuierung und Förderung der Eigenständigkeit zielen, werden durch die gesellschaftlichen Imperative von Fitness und Wellness ideologisch unterfüttert. In der modernen Gesellschaft wird das Rufen nach Autonomie und eigener Stärke, nach „Selfmanagement“, Kompetenzaktivierung und eigener erfolgreicher und produktiver Lebensgestaltung bis ins hohe Alter immer lauter. „Ressourcen erkennen, Ressourcen erweitern, Ressourcen nutzen“ – so klingt der Schlachtruf der modernen Selbstkontrolle. Das sich in der Moderne kristallisierende Menschenbild gleicht dem eines „Unternehmers“. Der moderne Mensch, ob jung oder alt, krank oder gesund, wird zum Entrepreneur seines eigenen Lebens. Der homo oeconomicus moderner Gesellschaften ist ein „Unternehmer seiner selbst“ (Foucault 2004: 314), der in sein eigenes Lebensprojekt investiert, indem er Kompetenzen langsam und stetig entwickelt, Adaptionstechniken und Strategien der Stressbewältigung aufbaut und sich durch mentales und physisches Training „fit“ hält. Mit unternehmerischem Kalkül wird dem „Risiko“ Krankheit oder Alter vorzubeugen versucht. Das manageriale Denken greift tief in den Willen der einzelnen Akteure. Überall nistet der Machbarkeitsgedanke. Der Einzelne wird in die persönliche Verpflichtung und Verantwor-
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tung genommen. Unter der Maßgabe kollektiv gewollter (und auch getragener) Programme – wie z.B. durch die von der WHO in Gang gesetzten Gesundheitsförderungsprogramme (u.a. „Healthy City“) mit all den dazugehörigen Projekten oder durch die vom Deutschen Sportbund initiierte „Trimm Dich“-Kampagne (Mörath 2005) – wird die Bevölkerung oder einzelne Bevölkerungsgruppen von der supranationalen bis hinunter auf die lokale Ebene zu stärken und in Form zu bringen versucht. Insofern haben wir es hier mit einem Gesundheitsdispositiv im Sinne eines heterogenen Gebildes zu tun, dessen dominante strategische Funktion in der Stärkung und Aktivierung des Engagements, der Ressourcen, Potenziale und Widerstandskräfte des Einzelnen besteht. Verantwortung und Risikominimierung sind die Vektoren, die sich auch im Sozial- und Gesundheitsbereich einen Weg schlagen. Flankiert werden diese richtungweisenden Leitmotive u.a. durch die Diskurse der Humanwissenschaften, die mit ihren Erkenntnissen sowohl den gouvernemental eingeschlagenen als auch den lebensweltlich zu erprobenden Weg der Selbstakzentuierung fördern und legitimieren. Freiheit, Wohlbefinden und Gesundheit werden zum regulativen Ideal, zur modernisierten Formel des „survival of the fittest.“ Auch in einer Gesellschaft, die immer mehr Bewegungsarmut aushalten muss, wirkt Unsportlichkeit als sozialer Makel. „Sportivität“ (Kaschuba 1989) ist zu einem Leitwert der modernen Gesellschaft geworden. Sportlichkeit verkörpert Gesundheit, Gelenkigkeit, Schlankheit und Attraktivität. Das sportive Amalgam aus Fairness, Fitness und Fun entspricht den ökonomischen Markt- und Machtverhältnissen, „in denen Individualismus, Teamgeist und Flexibilität oberste Werte sind, um erfolgreich sein zu können.“ Und so wird Fitness „nicht nur zum Prestigewert des Einzelnen in der Marktwirtschaft, sondern auch zur Funktionsstruktur des Ganzen.“ (Caysa 2003: 8f.) Gesundheit wurde schon von Parsons (1958) als „Zustand optimaler Leistungsfähigkeit“ gesehen und zu den „funktionalen Bedürfnissen“ des Einzelnen wie auch zur „funktionalen Vorbedingung“ des sozialen Systems gezählt. Und so lässt sich in einer Reformulierung dieser strukturfunktionalen Erkenntnis auch für die moderne Gesellschaft festhalten, dass Gesundheit, Fitness und Wellness politisch und ökonomisch instrumentalisiert und zu „gesellschaftlichen Imperativen“ werden. Und diese Imperative verlangen die Nutzbarmachung der sportiv erarbeiteten physischen Bewegungs- und Leistungsfähigkeit auch in Zusammenhängen außerhalb des Sports. Die auf die Modellierbarkeit des Körpers zielenden Angebote unterliegen ebenso wie die wissenschaftlich legitimierten Empowermentstrategien der Sozialen Arbeit und die mehr oder weniger vagen Vorstellungen eines erfolgreichen oder produktiven Alterns (vgl. Schroeter 2004) den gesellschaftlichen Imperativen von Fitness und Wellness (Bauman 2003: 93ff.; Rittner 1995; Schroeter 2006b). Sie richten sich an den formbaren und „flexiblen Menschen“ (Sennett 2000). Plastizität und Flexibilität sind die Voraussetzungen der Konsumgesellschaft, „alle Formen sollten geschmeidig, alle Zustände befristet, alle Gestalten umgestaltbar und alle Formen umformbar sein“ (Bauman 2005: 201), so auch der Körper. Durch das gesellschaftliche Credo der Fitness und Wellness werden Körper als Instrument und Körperarbeit als Techniken der Selbstdisziplinierung den Erfordernissen der (post)modernen Gesellschaft angepasst. Fitness und Wellness sorgen für das Wohlbefinden im Dienste eines gesunden und leistungsfähigen Lebens. Sie stehen für das „Fortschrittsmodell der Moderne: permanente Steigerung, unendliche Akkumulation, unabschließbares Wachstum“ (Duttweiler 2003: 31, 33). Sie sind die geeigneten Leitbilder der Konsumgesellschaft, weil sie keine Obergren-
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ze kennen (Bauman 2005). Stets kann man an seiner Fitness arbeiten oder versuchen, das Wohlbefinden zu perfektionieren. Körper können immer noch schneller, noch stärker oder noch schöner gemacht werden. Und so wird das unbändige Verlangen nach (körperlicher und leiblicher) Selbstvervollkommnung kaum erlöschen, es wird vielmehr stets weiter und aufs Neue durch die bunte Angebotspalette auf dem Konsumentenmarkt der Körperindustrie angetrieben. Fitness und Wellness sind positive Leitbilder der Konsum- und Leistungsgesellschaft, denen sich kaum jemand entziehen kann. Sie sind zu normativen Leitbildern geworden. Und wer da nicht mitmachen will (oder kann), gilt als „nicht normal“. Und deshalb ist das „Gegenteil von Wellness nicht Krankheit oder der kranke Körper, sondern eine Art von Wahnsinn: der Unwille oder die Unfähigkeit, sich wie ein vernünftiges Subjekt zu verhalten.“ (Greco 2004: 196) Und so stößt die korporale Grammatik von Fitness und Wellness spätestens im so genannten vierten oder fünften Alter an ihre Grenzen. Denn noch ist „[d]ie Krankheit (...) nicht abgeschafft, aber ihr Ende: der Tod, ist verblüffend zurückgedrängt.“ Doch entgegen aller Fitness-Philosophien hängt der „utopische Apfel der Verjüngung (...) noch in ziemlicher Ferne.“ (Bloch 1982: 528, 535)
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„Nur der zuletzt empfundene Eindruck ist wichtig“ Mode als paradoxes Reflexionsmedium1 Udo Thiedeke
Vorbemerkung: Wie wir wissen, wer wir sein sollen In der modernen Gesellschaft, in der wir leben, gehört es zu den Grundproblemen und Grundoptionen nicht zu wissen, wer man ist. Darauf, dass in dieser Gesellschaftsform die Herkunft aus einer Familie, die Zugehörigkeit zu einer regionalen, ethnischen oder religiösen Gruppe oder die Staatsbürgerschaft, eindeutig Auskunft darüber geben, was wir selbst von uns, was andere von uns und was wir von anderen zu erwarten haben, können wir uns nur noch wenig verlassen. Mit der Ausdehnung des modernen, funktionalen Differenzierungsprinzips der Gesellschaft, haben die segmentären, traditionalen und partikularen Unterscheidungen im globalen Maßstab an Prägekraft verloren. Als ein Epiphänomen unter anderen, deutet darauf der vielbeschworene „clash of cultures“ (Huntington) hin, der vor allem massenmedial als Frontstellung zweier gesellschaftlicher Ordnungsmodelle dargestellt wird. Hier scheint es aber weniger um Alternativen zu gehen, als vielmehr um Transformationsprobleme bei der Entfaltung einer modernen weltgesellschaftlichen Differenzierungsform. In deren Verlauf verschwinden die familiären, ständischen oder religiösen Ordnungen nicht. Sie erfahren aber gegenüber den überformenden Prinzipien einer zeitlichen Orientierung an Neuheit, einer sachlichen Orientierung an Verschiedenheit, einer sozialen Orientierung an Personen und einer lokalen Orientierung an Entgrenzung, eine Neuausrichtung, welche die gesamtgesellschaftliche Begrenztheit ihrer Ordnungsreichweite verdeutlicht. Jetzt wird es notwendig zu begründen, warum z.B. ethnische und sexuelle Verschiedenheit ein gesellschaftliches Ausgrenzungskriterium sein sollten, warum man glauben soll, wo man wissen kann, wieso man bleiben soll, wenn man reisen kann, wieso man schweigen soll, wenn man telefonieren, surfen oder ‚simsen‘ kann? Und das bedeutet zugleich, dass es notwendig wird, zu begründen, woher man kommt, wohin man will und wer man ist, evt. sogar schon, wer man sein möchte. 1 Dem Beitrag liegt der Habilitationsvortrag zu Grunde, den der Autor im Dezember 2005 vor der Habilitationskommission des Fachbereichs 02, Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg Universität Mainz gehalten hat.
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All dies soll und muss überall, jederzeit, in jedem thematischen Kontext, gegenüber allen, die man trifft möglich sein, so dass sich die Frage stellt, wie dieses Orientierungswissen, bis hinunter zu den Personen der Gesellschaft – die immer auch abweichende Personen sind – schnell und sozial wirkungsvoll kommuniziert wird? Die Antwort, die wir hierauf im Folgenden zu geben versuchen, wird lauten: Vielleicht indem ein paradoxes Reflexionsmedium für dieses individuelle, gesellschaftliche Wissen entsteht; oder einfacher gesagt: In besonderem Maße, dadurch, dass wir alle, ob wir wollen oder nicht, mit der Mode der Gesellschaft gehen. Was aber bedeutet das genau? Vor allem, was kann man sich soziologisch unter Mode, unter ihren gesellschaftlichen Bedingungen und Konsequenzen vorstellen? Das bedeutet, im Grunde danach zu fragen, wie Mode dazu beiträgt, ein sozial gültiges Orientierungswissen darüber verfügbar zu machen, wie man das einordnet, was gesellschaftlich nicht einzuordnen ist, die individuelle Abweichung?
1. Einleitung: Das Diktat der Indifferenz Auch Modeschöpfer leiden an der Mode. Zumindest deutete Karl Lagerfeld dies in einem Interview an: „Nur der zuletzt empfundene Eindruck ist wichtig – bis zum nächsten ‚Ausdruck‘ (...) nicht einfach (...)“ (2004: 38). Aber, wie viel schwerer haben es Soziologen mit der Mode! Handelt es sich doch anscheinend um ein soziales Phänomen, das sich jeder genaueren Beobachtung entzieht. Mode wirkt in sich widersprüchlich, ja, geradezu als Ausdruck von Unstetigkeit, Willkür und Normlosigkeit. Schon 1911 hält Georg Simmel fest: So häßliche und widrige Dinge sind manchmal modern, als wollte die Mode ihre Macht gerade dadurch zeigen, daß wir ihretwegen das Abscheulichste auf uns nehmen: gerade die Zufälligkeit, mit der sie einmal das Zweckmäßige, ein andermal das Abstruse, ein drittes Mal das sachlich und ästhetisch ganz Indifferente anbefiehlt, zeigt ihre völlige Gleichgültigkeit gegen die sachlichen Normen des Lebens, womit sie eben auf andere Motivierungen, nämlich die typisch-sozialen, als die einzig übrigbleibenden hinweist. (zitiert nach 1986: 182, 183)
Abgesehen davon, dass Simmel diese „typisch-sozialen Motivierungen“ der Mode nicht eindeutig erklärt, stellt sich neben der Frage, warum man dem Diktat der Indifferenz folgt, auch die Frage, nach der soziologischen Relevanz. Warum sollte man sich soziologisch bspw. dafür interessieren, ob die Röcke gerade lang oder kurz und die Postmoderne oder die Religion gerade ‚in‘ sein sollten? Die nähere Betrachtung offenbart zunächst die Alltäglichkeit des Phänomens. Auch der Soziologe muss feststellen, dass er, trotz vermeintlicher Distanz zum modischen Akzent, wie alle anderen, der Mode ausgeliefert ist. Eine kurze Anekdote mag das verdeutlichen. So bedeutete mir einmal eine ehemalige Studentin, bei einer zufälligen Begegnung nach Abschluss ihres Studiums, meine Seminare seinen ja immer ganz interessant gewesen. In Erinnerung sei ihr aber vor allem das gelbe Jackett geblieben, das ich einmal im Sommersemester getragen habe. So etwas hätte sie nicht erwartet.
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Es sei „ganz schön mutig“ gewesen eine solche Farbe zu tragen, wobei sie allerdings nicht zu erkennen gab, ob mich mein modischer Mut zum Held oder zum Narr qualifiziert hatte. Über die anekdotische Evidenz für die Allgegenwart der Mode hinaus, deutet das Beispiel an, dass der modische Ausdruck einen Maßstab dafür liefert, soziales Verhalten und mehr noch soziale Anschlussfähigkeit anhand einer zugeschriebenen Stilauswahl zu beurteilen. Und wir sind bereits an diesem Punkt darauf verwiesen, dass es anscheinend eine gesellschaftliche Tendenz zur Mode gibt. Gesellschaftlich deshalb, weil diese Tendenz sowohl individuelle Orientierungen, als auch Rollenerwartungen, Verhaltensnormen oder Milieuzugehörigkeiten übergreift. Mode überlagert ihnen ein eigenes, kollektiv wirksames Orientierungsmuster des periodischen Stilwechsels, das aber individuell zugerechnet wird. Alle mögen „mit der Mode gehen“ oder dem indifferenten „Modediktat“ unterworfen sein, als „modisch“ oder „unmodisch“ kann jedoch nur der Einzelfall beurteilt werden. Hinsichtlich einer definitorischen Eingrenzung können wir somit an dieser Stelle festhalten, dass sich das Phänomen Mode als ein kollektiv nachahmender, periodischer Stilwechsel individueller Distinktion, darstellt. Soziologisch scheint es also von Interesse, sich mit diesem so spielerisch und unwichtig anmutenden Phänomen der Mode auseinander zu setzen. Dabei soll jedoch weniger nach der individuellen oder kollektiven Motivation zur Mode gefragt werden. Das würde den Eindruck erwecken, als sei es im Laufe der Gesellschaftsentwicklung den Leuten plötzlich eingefallen, es doch einmal mit modischem Stilwechsel zu versuchen und wenig fruchtbare Fragen nach sich zieht, ob Moden willkürlich oder beliebig entstehen und vorangetrieben werden? (vgl. zur Diskussion Schnierer, 1995). Unfruchtbar erscheinen die Fragen nach der Willkürlichkeit der Motivation zur Mode deshalb, weil dann, wenn Mode gesellschaftsweit in Erscheinung tritt (und in der medial kommunizierenden Weltgesellschaft, gibt es auch empirisch wenig Anlass daran zu zweifeln) zu vermuten ist, dass angesichts der Komplexität potenzieller Moden, keine Möglichkeit besteht, Aussagen über die kausale Bedingtheit der Mode zu machen. Wäre dem nicht so, wären die kausalen Bedingungen der Mode, gar die spezifischen Entscheidungen, eine Mode zu wählen und anzueignen, aufzuweisen, dann würde das nicht nur die Modeindustrie und die Modemacher – die in diesem Fall wirklich Mode-„Macher“ wären – glücklich machen. Es würde auch die Varianz der Modeangebote drastisch auf das einengen, was ‚immer geht‘. Ein alltagsempirischer Blick auf den ‚Markt der Moden‘, der sich zu großen Teilen als ein Markt der ‚vermeintlichen Moden‘ und ‚modischen Versuche‘ darstellt, zeigt, dass wir davon zumindest bis heute weit entfernt sind. Gezieltes Anbieten modischer Accessoires oder die bewusste modische Stilisierung sind zwar mögliche Erscheinungsformen des Umgangs mit Mode, gehören aber, ebenso wie spontan auftretende Modetrends, zur Varianz der Mode. An Luhmann anschließend frappiert vielmehr, wie eine so unwahrscheinliche soziale Ordnung, wie sie eine Mode darstellt, angesichts der Zufälligkeit ihrer Ausgangs- und Entfaltungsbedingungen, überhaupt möglich sein kann? Was also macht die gesellschaftliche Attraktivität der Mode, bei all ihrer Unsicherheit, Unkontrollierbarkeit und sozialen Ambiguität aus? Soziologisch anspruchsvoller formuliert, geht es darum, zu beobachten, wie Mode als ein Attraktor gesellschaftlicher Sinnauswahl, Kommunikation und Handlungszurechung operiert. Deshalb soll im folgenden danach gefragt werden, wie Mode als Mechanismus sozialer
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Strukturbildung funktioniert und welcher gesellschaftliche Stellenwert ihr dabei zukommt. Letzteres heißt, zu fragen, ob die Mode vielleicht einen Indikator für die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Relationen und wenn ‚ja‘, für welche, darstellt und schließlich, ob wir heute ihren Wandel, vielleicht sogar ihre Auflösung beobachten?
2. Beobachtungsperspektiven: Anlehnung durch Abwechslung Bei soziologischer Beobachtung der Mode fällt ihre doppelte Sinnperspektive von Unterscheidung und Nachahmung auf. In der Mode wird das Neue als Unvergleichliches hervorgehoben und dadurch attraktiv. Mode verführt zur Nachahmung, um der Unterscheidung willen. Anders gesagt, im Versuch der Unterscheidung wird das Neue zur Tendenz. Mode weist somit selbst die Tendenz auf, ihre Inhalte durch Steigerung zu nivellieren. Bereits Simmel sieht Mode daher als „Lebensform“ (1986: 192) – und gemäß seiner Soziologie meint er wohl, als Form der Vergesellschaftung (vgl. 1992), in der Bedürfnisse sozialer Anlehnung und individueller Unterscheidung zusammenfallen. Ob wir heute allerdings noch seiner Diagnose folgen können, wonach diese Bedürfnisse deshalb zur Mode gerinnen, weil die Lebensweisen höherer Schichten von unteren Schichten kopieren werden, bis sich die Unterscheidungsfähigkeit dieser Klassenmoden durch Nachahmung so erschöpft hat, dass die Oberschichten ihre Lebensweisen wieder ändern (Simmel, 1986: 181, 184) – scheint fraglich. Simmels Ausführungen schließen an Überlegungen an, die man im Ansatz schon 1792 bei Christian Garve findet.2 Seit den 1950er Jahren werden sie unter der Bezeichnung „trickle down Theorien“ zusammengefasst (siehe Barber/Lobel, 1952; in einer nach dem symbolischen Interaktionismus erweiterten Fassung z.B. McCracken, 1985). Kurz gesagt, führen diese Theorien das modische Kopieren auf Reputationssteigerung zurück, die sich Angehörige unterer Schichten von der Nachahmung der Oberschichten versprechen. Diese soziologischen Ansätze erklären aber nicht, warum Mode in einer Gesellschaft überhaupt auftritt, in der die Schichtzugehörigkeit das vorherrschende Differenzierungskriterium darstellt. Abgesehen von Ausnahmefällen scheint in einer hierarchisch nach Rangpositionen geordneten Gesellschaft, der Übergang von einer Schicht in eine andere, kaum möglich. Verhaltens- und Kleiderordnungen der Feudalgesellschaft symbolisieren bspw. geradezu die Unüberschreitbarkeit tradierter Positionen, wie etwa Muzzarelli zeigt (1996; 1999). Wenn überhaupt scheint Mode hier ein Phänomen der Oberschicht zu sein, in der um Rangpositionen konkurriert wird, kaum aber zwischen den Schichten. Und selbst die Oberschicht kennt lange keine Bezeichnung für den nachahmenden Stilwechsel.3
2 Eine ähnliche Perspektive nimmt auch Kant ein. Hier hinken die niederen Stände den längst abgelegten ModeAttitüden höherer Stände hinterher (vgl. 1964: 572). 3 Als um 1600 von „der Mode“ die Rede ist, muss der Begriff die ganze Widersprüchlichkeit aufnehmen, die jetzt am nachahmenden Stilwechsel auffällt. Noch bringt „Mode“ ‚Fassung‘, etwa im Sinne von ‚Haltung‘ oder
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Auch Simmel muss an anderer Stelle seiner Reflexionen über die Mode feststellen, dass einerseits die „unteren Massen“ schwer beweglich und eigentlich nicht modisch interessiert, die Oberschichten hingegen im Grunde konservativ sind, und Veränderungen fürchten. Er vermutet die modischen Nachahmer daher in den neuen Mittelschichten (1986: 202), die nach oben etwas zu gewinnen und nach unten zu verlieren haben. Das bedeutet, Mode braucht sozialen Spielraum, damit man im modischen Verhalten Zugehörigkeitserwartungen signalisieren kann. Negativ gewendet scheint Mode daher ein Krisensymptom für die abnehmenden Ordnungskapazitäten der stratifizierten Differenzierungsform zu sein. Sie tritt an die Stelle der verloren gegangenen Orientierungen am ‚Oben‘ und ‚Unten‘. Auf einen solchen Orientierungswandel deutet bspw. die Umkehr der Kopierrichtung von modischen Stilelementen hin. So wirkt es heute nicht ungewöhnlich, dass Gloria Fürstin zu Thurn und Taxis, um ‚in‘ zu sein, zumindest zeitweilig den trashigen Punk-Stil nachahmt oder wie Luhmann bemerkt, dass es in der Mode inzwischen „(...) auch, und vielleicht dominierend, die Einführung von unten (...)“ gibt (1986: 654). Karl-Heinz Bette zeigt zudem, dass modische Anregungen auch aus abgelehnten Herkunftsmilieus übernommen werden (1989: 128).
Abb. 1: Gloria Fürstin von Thurn und Taxis als Punk
Was jetzt zählt und die Mode erst zur Mode macht, ist die zeitweilige Attraktivität von neuen Accessoires, die sich in ein individuelles Stilarrangement sozialer Unterscheidung hineinkopieren lassen, woher auch immer sie stammen mögen. Die Verwendung von Stilelementen, die ersichtlich nicht zum eigenen sozialen Kontext passen, verspricht möglicherweise sogar mehr Neuigkeitswert, d.h., mehr Erwartungsirritation und damit mehr Unterscheidungskapazität. Im Zuge des Orientierungswandels bringt Mode demzufolge auch die Möglichkeit zur Selbstsozialisation zum Ausdruck. Statt Herkunft soll in der Mode jetzt bspw. individuelle Originalität zum Ausdruck kommen.4 Zugleich deutet die Expansion der Mode in alle Be-
‚Form‘ zum Ausdruck, meint aber auch den Missbrauch übertriebener Stilisierung und bereits Abweichung sowie Orientierung am Vorbild (vgl. Luhmann, 1986: 652f.; mit Verweis u.a. auf John Hoskins, „Directions for Speech and Style“ von 1599). 4 Siehe z.B. Esposito (2004: 21) in Anschluss an Vischer (1879: 63), der darlegt, dass Kleidermode die Persönlichkeit desjenigen Menschen zum Ausdruck zu bringen habe, der sie trägt. Das mag an die Erwartungen erinnern, die an „Bildung“ gerichtet wurden, wonach „die Menschheit“ in der Person dadurch zu verkörpern sei, dass diese ihr „Ich“ mit der „Welt“ verknüpfe (Humboldt, 1969: 235). Jedenfalls fällt die gewandelte Bewertung auf, welche die Mode ab dem 17. Jhr. erfährt. Wird zunächst die Orientierung an Flüchtigkeit oder gar Künstlichkeit, als gefährliche Abweichung von der Natur des Menschen bewertet, so gilt die Mode im Verlauf des 18. Jhr. zunehmend als Ausdruck des individuellen Bestrebens um soziale Anpassung und so als vereinbar mit der „honnêteté“ (vgl. z.B. Höfer/Reichardt, 1986). Und so kann Kant zum Ende des 18. Jhr. zu der Meinung gelangen, dass die Abhängigkeit von der Mode besser sei, als die von der Natur (1964: 557).
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reiche gesellschaftlicher Wirklichkeit auf einen Bedarf an sozialer Selbsteinordnung hin – eine individuelle ‚Vergesellschaftung‘ unter eigener Kontrolle und in eigener Verantwortung. Und sie lässt sich als Hinweis auf eine Form der Differenzierung lesen, die einen solchen Bedarf anregt. Thesenartig gesagt, tritt Mode heute nicht deshalb in den unterschiedlichsten Ausprägungen von Verhaltens-, Architektur-, Kleider- oder intellektuellen Moden auf, weil aufstrebende Mittelschichten die Oberschichten nachahmen – oder weil eine nervöse Desorientierung (Simmel, 1986: 186), vorzugsweise in den „hektischen Großstädten“, ihrem Siedepunkt zustrebt. Soziologisch lässt sich dafür auch kaum das Hervorbrechen immer schon vorhandener modischer Eigenschaften „des Menschen“ verantwortlich machen. An Simmel anschließend vertritt etwa René König (1999: 16) eine derartige Position. Er schickt die neugierige Menschheit auf den Laufsteg und entwirft so, in einer Art historisierender Anthropologie, eine Geschichte der Mode von 35.000 Jahren, in der Mode soziologisch dann allerdings doch eine Angelegenheit der „Oberklasse“ bleibt (O.c.: 17). Demhingegen zeichnet sich ab, dass Mode ihre gesellschaftsweite Bedeutung erst erlangen kann, als es möglich und erforderlich wird sich individuell wechselnden sozialen Kontexten zuzuordnen, weil familiale und territoriale Zugehörigkeiten oder Rangpositionen nicht mehr in der Lage sind, soziale Beziehungskonstellationen vorherzubestimmen. Verstanden als ein Orientierungsmechanismus sozialer Einordnung scheint Mode nur in einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft denkbar (Zur funktionalen Differenzierung der Gesellschaft Luhmann, 1998: 743ff.) – im Übrigen auch nur als ‚ein‘ Mechanismus neben anderen. Mode kann erst in einer Gesellschaft orientierende Bedeutung gewinnen, die ihre soziale Ordnung fortwährend am Neuen aktualisiert, ihre Beständigkeit somit aus Unbeständigkeit gewinnt und ihren Differenzierungsmodus auf der Einheit des Uneinheitlichen gründet. Hierzu fällt die eigenartige Operationsweise der Mode auf. So hat es den Anschein, als könne zwar alles modisch werden, aber nicht alles Mode sein. Mode entfaltet nur dort ihre formierende Wirkung, wo ihre Flüchtigkeit erkennbar wird. Sie ist eben nicht mit dem Schmuck, der Tracht oder der Sitte zu verwechseln. Um mehr über die soziale Funktionsweise der Mode zu erfahren gilt es daher, den Fokus der soziologischen Beobachtung auf ihre Eigenlogik zu konzentrieren.
3. Formprinzip: Die Formung des Formlosen Eine solche Fokussierung hat vor kurzem Elena Esposito vorgenommen. In Anschluss an Luhmanns funktionalstrukturalistische Systemtheorie modelliert sie Mode als ein semantisches Formprinzip gesellschaftlicher Kommunikation (2004: 27f.). Die modische Kommunikationsweise kann demzufolge alle Kommunikationen der Gesellschaft durchdringen, seien sie wissenschaftlich, wirtschaftlich, künstlerisch oder familiär und sie anhand der Unterscheidung von ‚modisch‘ versus ‚unmodisch‘ ordnen.
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Mode selbst ist Esposito zufolge jedoch kein autonomes Teilsystem der Gesellschaft (O.c.: 171f.). Es gibt keinen umgrenzten Funktionsbereich. Kommunikative Reichweite und typische Eigenleistung der Mode bleiben diffus. Mode wirkt erst in ihrer Nichtigkeit und bleibt immer ‚nur‘ Mode. Charakterisieren lässt sie sich – in Anlehnung an Esposito und ihren Ansatz erweiternd – nur anhand modespezifischer Paradoxien: 1) Mode weist eine verallgemeinernde Tendenz zur Individuation auf. Selbst in seiner Modeverweigerung muss sich das Individuum an den Moden der anderen orientieren. 2) Die Beständigkeit der Mode liegt in ihrer Veränderung. Die heutige Mode ist morgen schon von gestern. 3) Mode erreicht ihren Sinn nur in der Sinnlosigkeit, z.B. im sinnlos erscheinenden Überfluss. Mode ist luxurierend. 4) Mode behandelt auch ihr Gegenteil als Mode und das nicht nur mit sozialem Bezug oder in zeitlicher Abfolge, sondern auch sachlich/thematisch. Auch Unmodisches kann modisch sein. Entsprechend der Annahmen der funktionalstrukturalistischen Systemtheorie deuten diese Paradoxien sowohl auf eine komplexe Problemlage gesellschaftlicher Differenzierung, als auch auf Problemlösungskapazitäten hin, die Mode, neben anderen Funktionsmechanismen, haben entstehen lassen. Wie oben skizziert, setzt sich Mode erst mit Bezug auf Problemlagen der funktional differenzierten, modernen Gesellschaft durch, die sich nach Luhmann (1998: 761ff.) benennen lassen als: – Das Repräsentationsproblem einer Gesellschaft ohne dauerhafte hierarchische Spitzenposition. – Das Kontingenzproblem einer Gesellschaft heterogener und autonomer Kommunikationssysteme. – Das Reflexionsproblem einer Gesellschaft, die sich in all ihren Kommunikationen – und nur in diesen – selbst reflektiert. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie Mode auf diese komplexen gesellschaftlichen Problemlagen reagiert? Laut Esposito antwortet Mode auf das Kontingenzproblem und löst es durch „kontingente Kontrolle von Kontingenzen.“ (2004: 55). Allerdings verweisen die oben skizzierten Paradoxien der Mode auch darauf, dass die Mode nicht nur, wie von Esposito behauptet, die soziale und zeitliche Sinndimension der Kommunikation (O.c.: 13) erfasst. Da Mode das Überflüssige disponierbar macht, beeinflusst sie auch die sachliche Sinndimension. Ja, der Einbezug der sachlichen Sinndimension in die modische Kommunikation liefert ein Indiz dafür, warum es sich bei der Mode um kein funktionales Teilsystem der Gesellschaft handelt, obwohl wir empirisch sehr wohl eine ausdifferenzierte Modeindustrie mit Modemachern, Modehäusern, Modepresse etc. beobachten können. Weder erfassen diese Modeorganisationen die sachlichen ‚Inhalte‘ der Mode ganz. Von ‚intellektuellen Modehäusern‘ war bisher jedenfalls noch nicht die Rede – auch nicht in der Modepresse. Es gibt also zumindest eine Mode außerhalb der Modeorganisationen, sozusagen eine ‚wilde Mode‘. Noch erscheint es sinnvoll Mode, die sachlich durch Nichtigkeit, Überflüssigkeit oder Verspieltheit auffällt, zur Grundlage organisatorischer Entscheidungen zu machen. Ziel der Entscheidungen von Modeorganisationen, die zum gesellschaftlichen Teilsystems der Wirt-
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schaft gehören, können deshalb auch nicht Moden sein, sondern die kommerzielle Verwertung von Modetrends, die man mit der Produktion, Präsentation und Distribution möglicher Modeaccessoires zu stimulieren versucht. Anders gesagt, Modeorganisationen sind (auch sachlich) nicht modisch. Ähnlich Parasiten ‚leben‘ sie wirtschaftlich von der Organisation der Differenzwahrnehmung „modisch/unmodisch“. Wiederum über Esposito hinausgehend soll weiter postuliert werden, dass Mode, bei der Formgebung gesellschaftlicher Kommunikation, neben dem Kontingenz-, auch das Repräsentations- und das Reflexionsproblem kontingent behandelt. Dazu rückt Mode keinen zentralen Wert, sondern das Nichts ins Zentrum sinnhafter Orientierung. Sie repräsentiert alles und nichts, reflektiert alles und nichts, wenn es gefällt oder nicht gefällt und gibt so dem Formlosen Form. Wie haben wir uns nun im Einzelnen die Antwort der Mode auf das Repräsentationsproblem einer funktional differenzierten Gesellschaft, die weder eine Person, noch ein Teilsystem ganz verkörpern, vorzustellen? Zunächst fällt hierzu die Verzeitlichung aller Repräsentationen auf. Mode kann nicht zeitlos sein. Sie repräsentiert ihre Zeit, mehr noch deren Zeitlichkeit, in immer wieder neuen Positionen einer dynamischen Gegenwart. Das deutet das obenstehende Zitat Lagerfelds ebenso an, wie etwa die Abneigung anderer Modemacher gegen die Vermutung ihre Kreationen seien zeitlos.5 Wer oder was zeitlos erscheint, wirkt zwar verlässlich, weil unwandelbar, hinterlässt aber auch den Eindruck der Langweile. Hier lassen sich kaum Anhaltspunkte zur zeitweiligen (und kurzweiligen) Unterscheidung ausmachen, was die Attraktivität zur Nachahmung reduziert. Die Vergänglichkeit modischer Positionen stellt aber nur einen Teil der Reaktion auf das Repräsentationsproblem dar. Zur zeitlichen Unsicherheit tritt die sachliche hinzu. Nur so kann der Fokus modischer Repräsentation wandern, ohne an Themen haften zu bleiben und modische Stilwechsel als willkürlich oder gar als geplant erscheinen zu lassen. Silvia Bovenschen hat bezüglich der sachlichen Unsicherheit modischer Repräsentation angemerkt, das Natürliche sei der Feind der Mode (1986: 21). Wie dem auch sei, zumindest fällt auf, dass das Natürliche und mehr noch das Notwendige zum Material der Mode werden, zum originellen Accessoire, das eine hergestellte Zufälligkeit widerspiegelt. Dessen Charakter der Überflüssigkeit, der keinesfalls hinter Zweckmäßigkeit versteckt wird, signalisiert sozial zugleich, dass man sich Extravaganz leisten kann, weil man auf die Sicherheit des Unsicheren setzt. Mode ist daher in der Lage den Exzess, ja, sogar das Leiden, den Tod oder den sozialen Abstieg, d.h., die eigentlich unsichtbare Kehrseite aller modischen Bemühungen – die soziale Exklusion – modisch zu verarbeiten. Ein eindrucksvolles Beispiel dazu liefert der „neuer Realismus“ genannte Modetrend, der Mitte bis Ende der 1990er Jahre Magersucht, Selbstmord oder Drogensucht bis zum ‚HeroinChic‘ steigerte.6 5 So wehrt sich etwa Jil Sander vehement gegen die Vermutung ihre Mode sei zeitlos, wenn sie betont: „Es gibt wohl kaum einen fragwürdigeren Begriff als zeitlos. Meine Mode ist nicht zeitlos, sie ist in der Zeit und soll in die Zukunft weisen.“ (Tasch, 2004: 68). 6 Diese Mode währte genau so lange, bis der Modefotograf Davide Soretti im Februar 1997 an einer Überdosis Heroin starb und damit wenig Gespür für die natürliche Künstlichkeit der Mode bewies – der Trend brach augenblicklich ab.
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Abb. 2: „Neuer Realismus“ Kirsten McMenamy fotografiert von Jürgen Teller
Dass Mode anscheinend wenig mit Schönheit, aber viel mit Künstlichkeit zu tun hat, macht deshalb auch vor denen nicht halt, die mit der Mode gehen. In der Mode ist man eben nicht nur Mensch, mit Rechten zur Individualität, sondern auch Person mit Pflichten zur gesellschaftlichen Selbstrepräsentation.7 Darin deutet sich die Antwort der Mode auf das Problem der sozialen Repräsentation an. Sichtbar wird diese Problemlösung, wenn man die Frage stellt, worin sich die modische Repräsentation abbildet? Vordergründig bildet sie sich in den Modetrends ab. In dem diese aber in ihrer kurzen Halbwertszeit und künstlichen Notwendigkeit, die zentrifugalen Kräfte gesellschaftlicher Differenzierung aufnehmen, verweisen sie auf die Formung des Einzigartigen, wenn nicht gar des Abweichenden. Dieses Einzigartige repräsentiert in der modernen Gesellschaft das Individuum. Die Repräsentation des Individuums hat aber wiederum eine paradoxe Basis: Weil sich die gesellschaftliche Anschließbarkeit, d.h., die Inklusion, potenziell auf alle, voneinander verschiedenen Individuen bezieht, kann ‚das‘ Individuum im einzelnen nicht mehr erfasst werden (Luhmann, 1998: 765). Laut Luhmann wird das Individuum dabei zur Person, einer kommunizierbaren Form von sozial zugerechneten, individuellen Verhaltenserwartungen, in der sich individuelle und gesellschaftliche Repräsentation kreuzen (1984: 429; 1991: 170). Das mag irritieren, da wir vom Alltagshandeln her gewohnt sind Bezeichnungen wie „Person“ und „Individuum“ nicht nur synonym zu verwenden, sondern hinsichtlich von Unverwechselbarkeit und Autonomie zu überhöhen. Zur Verdeutlichung sei daher das Konzept kurz erläutert. Die Form der Person weist zwei Seiten der sozialen Repräsentation des Individuums auf. Die gesellschaftliche Seite reprä7 Was Oscar Wilde in den Aphorismus fasst: „Die erste Pflicht im Leben ist, so künstlich wie möglich zu sein. Die zweite Pflicht hat bisher noch niemand entdeckt.“ (o.J.: 695).
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sentiert Verhaltensweisen, die Individuen in Bezug auf erkennbare individuelle Merkmale zugeschrieben und deren Ausdruck im Rahmen eines individuell typischen Verhaltensspielraums erwartet werden. Das erlaubt soziale Anschließbarkeit, d.h., die Kommunikation von individuellen Verhaltensmöglichkeiten, obwohl deren abgründige Variationsmöglichkeiten sozial gar nicht durchdringbar sind. Die individuelle Seite repräsentiert den Bezug des Bewusstseins auf das, was die anderen erwarten, welche Spielräume einem zugebilligt werden und wie man diese evtl. verändern kann, wenn man als Person ‚mit Eigenheiten‘ in Erscheinung tritt. Im ‚Interface‘ der Person werden gesellschaftliche Erwartungen, wahrgenommen als individuelle Verhaltensanforderungen oder -optionen, mit dem abgeglichen, was man selbst sein und vor allem darstellen möchte, ohne, dass man dazu alle anderen persönlich kennen lernen müsste. Unter Betonung ihrer indifferenten Operationsweise scheint Mode diesen Prozess des Kreuzens und Abgleichens, sozialer und individueller Erwartungen in der Person zu repräsentieren – d.h., nach außen zu wenden und regelrecht zu ‚verkörpern‘. Das ‚Interface‘ „Person“ wird zum ‚Display‘. Das legt die Vermutung nahe, dass gerade deshalb die Kleidermode im Zentrum der modischen Kommunikation steht. Indem sie die auf- und abtretenden Personen in eine modische Form bringt, ermöglicht sie nicht nur situative Perspektivwechsel. Vielmehr erlaubt sie es im gewählten Kleidungsstück den eigenen Geschmack und zugleich, in der Aneignung des modischen Stils, die gesellschaftlichen Erwartungen zu verdeutlichen. Das An- und Ausziehen modischer Kleidung symbolisiert die persönliche Aneignung einer Kopie, wobei sich deren Auswahl, zumindest hinsichtlich der Körpergestaltung, bevorzugt nach Erfolgsmodellen zu richten scheint (vgl. Luhmann, 1984: 430).8 Das provoziert die Unterstellung, dass die modische Kleidung aus Gründen sozialer Mitwirkung mehr oder weniger bewusst ausgewählt, getragen und wieder ausgezogen wird, wobei dieses „mehr oder weniger“ das modische Statement der ‚Lässigkeit‘ vermittelt. Jene paradoxe Verknüpfung von Zurechnungsperspektiven bringt schließlich die Antwort der Mode auf das Reflexionsproblem einer sich selbst beobachtenden Gesellschaft in den Blick, wie sie die Systemtheorie behauptet (Luhmann, 1998: 88). Mode eröffnet durch ihre Unsicherheit, soziale, sachliche und zeitliche Reflexionsspielräume. Morgen kann anderes in Mode sein, können andere Erwartungen, anderer Personen gelten. Mode reflektiert nicht die intransparente Welt des Gegebenen, sondern die Transparenz des Anscheins. Das verhindert Festlegungen und entlastet davon, die Reflexion kommunizieren zu müssen. Reflexionen und Reflektierende verschwinden bspw. im modischen Accessoire, das die Reflexionsarbeit abnimmt – wir müssen es nur noch ‚tragen‘.9 Um hierzu ein Beispiel zu geben, kann man, während man die Handtasche als modisches Accessoire beobachtet, die Mächte des Patriarchats reflektieren, überlegen, was das für die 8 Im Kontext einer (massen-)medial kommunizierenden Weltgesellschaft möchte man hinzufügen, dass sich die Auswahl der ‚Kopiervorlagen‘ vermehrt nach ‚exemplarischen Personen‘ (Prominente, Stars, Freaks) richtet. In ihrer bis zur Pathologie gesteigerten Exzentrizität (vgl. Bandelow, 2006), lassen diese individuelle Abweichung attraktiv zur Nachahmung, d.h., ‚vergesellschaftungsfähig‘ erscheinen. Die radikale Thematisierung der Selbstsozialisation suggeriert eine gelungene Inklusion der Person. 9 Ähnliches deutet Barbara Vinken in dem Diktum an, Mode sei nicht Kleidung, sondern ein Kommentar in Kleidern über Kleidung (1993: 10).
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vom Accessoire Gezeichneten bedeuten mag und alles in der Feststellung wieder auflösen, dass man sie – die Handtasche – nur trägt: Daß mir die Handtasche immerzu als Materialisierung eines geheimen, unheimlichen Frauenleidens erschienen ist; als böse, externe Geschwulst. Misogyne Zumutung sowohl für ihre demütige Trägerin als auch deren gentile Begleitung. Kurzum: Mit Sicherheit eine Männererfindung. (...) Tatsächlich nur als Musik, Glam, als Camp, auszuhalten, die Handtasche. Dann aber von großer Klasse. (Meinecke, 1999: 144.)
Unter diesen Bedingungen ist es leicht die modische Selbstreflexion als oberflächliche Inszenierung, gar als inhaltsleeren Konsumismus zu brandmarken. Ein Umstand, der umso verwerflicher erscheint, da man, wenn man mit der Mode gehen will, sich dem Modediktat bewusst ausliefert, ohne sich dessen bewusst zu werden.10 Dass die modische Reflexion ihren blinden Fleck nicht sieht, ist aber nur aus modeferner Perspektive ein Skandalon. Beobachtet man die Selbstreferenz der Mode, so spricht es eher für ihre Kapazität, die eigenen Paradoxien zu verschleiern. Was ‚in‘ ist, erscheint selbstverständlich und gerade nicht als modisch. Die Attraktivität einer Mode schwindet, wenn der Trend ‚durchdacht‘ wirkt – eine Reflexionslage, die Notwendigkeit oder gar ‚Anstrengung‘ signalisiert und so das luxurierende Sinnprinzip stört. Selbst diejenigen, die sich professionell mit Modeorganisation beschäftigen, sollten demnach allzu offenkundiges Nachsinnen über die Herstellung von Trends vermeiden. Aus dem Blickwinkel sog. Modeschöpfer sind daher für ‚Trendsetting‘ die anderen verantwortlich. Das meint, die Wirtschaft will immer Neues vermarkten, die Konsumenten langweilen sich allzu schnell, die Modepresse schreibt Moden willkürlich hoch oder runter und die anderen Modemacher kopieren nur (vgl. Graw, 2004: 137ff.). Das hat Auswirkungen auf die Sprache der Mode. Sie bleibt verständlich, bei aller Extravaganz des Erscheinungsbildes. Mode muss als Mode, d.h., als neu, ungewöhnlich und kopierfähig erkennbar sein, damit die Reflektion darüber vermieden wird, warum etwas modisch ist. Wirkt Mode hingegen hermetisch, dann schwindet das Interesse an ihr. Man sollte Mode daher nicht, wie Esposito (2004: 157), als „Nachahmung der Nachahmung“ auffassen, sondern als Nachahmung der Neuheiten, der Abweichungen und der Ungewöhnlichkeiten, die sich dadurch verbrauchen und die deshalb immer wieder neu, abweichend, ungewöhnlich erfunden werden müssen. Mode bleibt auf diese paradoxe Weise realitätstauglich, mag sie auch spielerisch und scheinbar realitätsfern entstehen.
10 Ein Umstand, für den sich evtl. die (Massen-)Medien haftbar machen lassen, wie etwa Giffhorn (1974: 107) meinte: (...) vollbringen nun die Medien das schwierige Kunststück, den Konsumenten gleichzeitig auf die ‚Autorität der Mode‘ zu fixieren und ihm seine ‚Freiheit‘ vorzugaukeln.“
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4. Perspektiverweiterung: Mode als paradoxes Reflexionsmedium Über Elena Espositos Ansatz hinausgehend, wurden bisher modische Lösungsmöglichkeiten für komplexe Problemlagen der modernen Gesellschaft, systemtheoretisch skizziert. Zusammenfassend gesagt, antwortet Mode auf die Probleme gesellschaftlicher Kontingenz, Repräsentation und Reflexion, indem sie: a) die Sicherheit des Unsicheren akzentuiert, b) das Ausgeschlossene als Eingeschlossenes repräsentiert und c) die Reflexion von Paradoxien in Selbstverständlichkeiten auflöst. Aufgrund dessen war zu zeigen, welche Orientierungsmöglichkeiten die aktuelle Mode in der sachlichen, sozialen und zeitlichen Dimension gesellschaftlicher Kommunikation verfügbar macht. Ungeklärt ist allerdings noch, wie Mode ihre Möglichkeiten im Strom der Kommunikationen entfaltet, wie sie als gesellschaftlicher Formmechanismus wirken kann? Entsprechend der paradoxen Soziologie der Mode stoßen wir auch hier wieder auf einen Selbstwiderspruch. Wird Mode als Mode kommuniziert, so verliert sie scheinbar jede Kraft zur Formgebung. Schon Hegel war aufgefallen, dass den Moden, wenn sie als Mode erkennbar werden, nichts weniger droht als die Lächerlichkeit ihrer Historisierung (1971: 411). Und auch Esposito muss, trotz gesellschaftlicher Allgegenwart der Mode, ihre „grundlegende Marginalität“ feststellen: Überall stößt man auf dieses Phänomen, das seine Funktion aber nur erfüllen kann, wenn es nicht zu genau beobachtet wird – nur so behält es seine marginale Stellung. (2004: 170).
Anscheinend hat dies zur Folge, dass die Mode selbst soziologisch nicht recht dingfest zu machen ist. Sie tritt nur mehr als „Formprinzip“ einer Semantik des Vorübergehenden, als „Metaprogramm“ kontingenter Kontrolle einer „para-normativen“ (Esposito, 2004: 172f.) Formgebung in Erscheinung. Nur, wie wirkt ein Metaprogramm, als Prinzip der Formgebung, das verschwindet, wenn es zum Zielpunkt semantischer Bezüge wird? Mode tritt zudem weder selbst als bewahrenswerter Themenvorrat der Kommunikation, d.h., als ‚Semantik‘ (Luhmann, 1984: 224) in Erscheinung, noch wirkt sie bestandsbildend, hinsichtlich tradierbarer Themen oder Handhabungen – letzteres würde den Modewechsel sogar blockieren. Angesichts der Dynamisierung zeitgenössischer Modewechsel, der medialen Dauerpräsenz gegenläufiger und kurzfristiger Modetrends, die so partikularisiert auftreten, dass die ‚Coolhunters‘ und ‚Trendscouts‘ Mühe haben, sie zu kommerziell verwertbaren Strömungen auszubauen, ist die formgebende Kraft der Mode schwer auszumachen. Stattdessen drängt sich heute sogar der Eindruck ihrer Selbstauflösung auf. Um dennoch zu erfassen, wie Mode gesellschaftliche Kommunikationen und soziale Erwartungen strukturieren kann, ist eine Perspektiverweiterung der Beobachtung in Richtung auf die kommunikative Realisierung von Mode vorzuschlagen. Eine solche Perspektiverweiterung kann hier nur angedeutet werden. Die Grundüberlegung wird aber vielleicht nachvollziehbar, wenn man der Frage nachgeht, was die Mode selbst formt? Zunächst fällt ein ganz selbstverständlicher Sachverhalt auf: Ohne die anderen, die mit der Mode gehen, ja, ohne Spiegel, taugt der schönste Hut nicht zum Modeaccessoire. Mode realisiert sich nur in aller Öffentlichkeit.
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Infolge des erheblichen Bedarfs an Selbstbeobachtungskapazität der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, hat sich die Öffentlichkeit, wie Luhmann konstatiert (1996: 187), zu einem Reflexionsmedium entwickelt. Öffentlichkeit macht beobachtbar, dass alle beobachten, und zeigt darin die Unüberschreitbarkeit innergesellschaftlicher Kommunikationsgrenzen, spiegelt also Intransparenz durch Transparenz. Als gesellschaftliches Medium koppelt sie Kommunikationen und erzeugt Kommunikationsformen, die binäre Unterscheidungen aufweisen und so die Fortsetzung von Kommunikation wahrscheinlicher machen. Zu solchen Formen der Öffentlichkeit gehört neben Privatheit, Prominenz, Skandal und Nachricht auch die Mode. Einen Hinweis darauf, dass Mode eine Form von Öffentlichkeit darstellt, liefert u.a. der Eindruck, dass ‚die Medien‘ – gemeint sind die Massenmedien – Mode ‚machen‘.11 So hat bspw. Annette Kleinert (1980) anhand der französischen Modejournale des 18. Jhr. gezeigt, wie diese, vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Öffentlichkeit, von der Präsentation modischer Neuheiten auf den modischen Vergleich umschalten und so eine regelrechte Polyphonie der Moden in Gang setzen. Aus Sicht derer, die mit der Mode gehen oder ihr scheinbar widerstehen, konkretisiert sich Mode im Spiegel fremder und eigener Meinungen, als Erscheinungsform von Öffentlichkeit, bzw. selbst als paradoxes Reflexionsmedium. Dass Mode als Medium operiert, so lange man modisch kommuniziert, wird nicht nur am Variantenreichtum und der Unverbindlichkeit der Moden erkennbar. Es wird auch anhand der Kommunikationspraxis deutlich. Kommunikationen beziehen sich zwar auf ‚die Mode‘, gemeint ist damit jedoch die Mode der anderen, eben jener paradoxe Zusammenhang, der einem, weil alle daran mitwirken, Reflexionen aufnötigt, die man besser nicht thematisiert. Wie alle anderen Medien, kann Mode nur so lange Kommunikationen in ihren Formen reproduzieren, so lange das Medium selbst ‚unsichtbar‘ bleibt.12 Mode als Medium bildet deshalb wiederum eigene Kommunikationsformen, anhand derer sich die modische Kommunikation fortsetzt. So bringt sie etwa den Dandy, die Haute Couture, den Chick, die Coolness oder die Authentizität hervor, wobei sie die TransparenzParadoxie der Öffentlichkeit, in die ihr eigene Paradoxie übersetzt, gesellschaftliche Inklusion durch individuelle Distinktion herbeizuführen. Soziologisch wird sichtbar, dass hier die individuellen Grenzen der Ungewöhnlichkeit an den Grenzen anderer gespiegelt werden können. Für die gesellschaftliche Inklusion bedeutet das z.B., dass in modischer Form die gesellschaftliche Spiegelung der Personen und nicht nur ihrer Rollen möglich wird (siehe zur Unterscheidung von Person und Rolle Luhmann, 1984: 430) – und sei es, um diese Differenz kommunizieren zu können, ohne sie unmittel11 Hinsichtlich der Vorbereitung politischer Entscheidungen herrscht, seit Verbreitung des Buchdrucks, analog dazu der Eindruck vor, die Massenmedien ‚machten‘ die öffentliche Meinung (vgl. Luhmann, 1996: 187/188). 12 Einige Beispiele sollen diesen Sachverhalt verdeutlichen: Das Verstehensmedium Sprache realisiert sich nur, wenn gesprochen wird. Und zumeist wird nicht ‚über‘ Sprache gesprochen, was andernfalls eine Reflexivität heraufbeschwört, die das Gesagte irritiert. Auch das massenmediale Verbreitungsmedium Druck funktioniert, ohne, dass man sich darüber Gedanken macht, wie gedruckt wird oder der Buchmarkt organisiert ist. Im Grunde funktioniert es sogar erst dann, wenn man vergisst, wie man liest oder wie die Autoren schreiben. Die Zahlungsfunktion des symbolisch generalisierten Mediums Geld steht wiederum in Frage, wenn seine Zahlungsfähigkeit zum Thema der Zahlungskommunikation wird. Wandert der Geldschein zwecks Echtheitsprüfung unter die UVLampe, dann wird das Medium augenblicklich sichtbar und alle Zahlungskommunikationen setzen aus.
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bar anzusprechen. Wie das geschieht, zeigt etwa die Gegenüberstellung von unmodischer, rollenkonformer Berufskleidung und modischer, persönlicher Freizeitkleidung, die ein und dieselbe Person trägt.
Abb. 3: Hotelpage Berufs- und Freizeitkleidung fotografiert von Sabine Plamper
Abb. 4: Stewardess Berufs- und Freizeitkleidung fotografiert von Sabine Plamper
In der modernen Gesellschaft erlaubt es die Mode, Personen- und Rollengrenzen öffentlich zu reflektieren. Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich diese Reflexionskapazitäten deshalb ausgebildet haben, weil das Auseinanderziehen von Person und Rolle angesichts von allfälligen Rollenwechseln, Mehrfachrollen und damit verbundenen wechselnden Sozialisationserwartungen, erhebliche Inklusionsprobleme, vor allem das Potenzial zu unüberschaubaren Mikrokonflikten nach sich zieht. Mode bietet hier die Möglichkeit, selbst dann individuell sichtbar und in der nachahmenden Abgrenzung sozial einbeziehbar zu erscheinen, wenn beim Entstehen neuer Rollen oder bei Rollenwechsel, Erwartungsgrenzen und damit Grenzen sozial geltenden Wissens überschritten werden müssen und ein persönliches ‚Flexibilitätsmanagement‘ (Nedelmann) gefragt ist. Ein Beispiel dazu liefert vielleicht das Phänomen, dass Frauen immer wieder zu Protagonistinnen der Mode, speziell der Kleidermode wurden. Jenseits von soziologisch schwer zugänglichen anthropologischen oder psychologischen Deutungen, wird im Spiegel des
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Reflexionsmediums sichtbar, dass Frauen ihre Person wohl weniger in Kleidermoden spiegeln, weil sie ‚Neigung‘ zur Selbstreflexion zeigen und eine besondere ‚Nachgiebigkeit‘ aufweisen, wie wir z.B. bei Esposito lesen (2004: 163f.). Setzt man Mode als gesellschaftliches Reflexionsmedium voraus, dann lässt sich die Modeaffinität der Frauen vielmehr als Ausdruck einer problematischen Orientierungssituation im Umbruch von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft deuten. Für Frauen scheint sich in dieser Situation das Problem einer verzögerten Neuorientierung ihrer Rollenzuordnung zu stellen.13 Im Gegensatz zu den Männern bleibt ihre kommunikative Reichweite zunächst auf wenige Rollen beschränkt, die zumeist privat, heteronom und nicht öffentlich, autonom definiert sind. Mit dieser Inflexibilisierung droht den Frauen das Verschwinden in einem Exklusionsbereich der modernen Gesellschaft, womit es unmöglich wird Person und funktionale Rolle zu unterscheiden. Die weibliche Kleidermode bietet hingegen eine Möglichkeit die eigene Person als soziale Potenzialität sichtbar werden zu lassen. In der modischen Kommunikation der spielerischen Variation des Verhältnisses von persönlichem Stil und nachahmendem Ausdruck signalisiert sie bereits flexible gesellschaftliche Anschlussfähigkeit, obwohl die strukturelle Inklusion noch unvollständig ist. Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass nur Mode diese Möglichkeit bietet, die Einheit von Extravaganz und Nachahmung, als Ausdruck von ‚gesellschaftsfähiger‘ Individualität zugänglich zu machen. Im Spiegel der Mode ist zu sehen, wie ungewöhnlich man selbst sein muss, um wie die anderen zu wirken. Mode macht auf diese Weise soziale Anschlussmöglichkeiten in den Spielräumen der Selbstgestaltung kommunizierbar. So bleibt zu vermuten, dass dieses Vermitteln von Spielräumen der Zugehörigkeit und seien sie minimal, wie bei der Auswahl zwischen neue Hosen oder Handtaschen, Klingeltönen, intellektuellen Haltungen oder Meinungen, die Attraktivität der Mode ausmacht. Angesichts der Einheit des Uneinheitlichen signalisiert Mode die gesellschaftliche Notwendigkeit, mit Inklusionsmöglichkeiten zu experimentieren. Und nur deshalb, nicht aus Laune oder Neigung, rückt mit der Mode das Unstete, Unkalkulierbare und Überflüssige ins Zentrum öffentlicher Beobachtung. Das Vexieren modischer Meinungen zeigt daher keinen Defekt des Mediums an, sondern sein Operieren unter den komplexen Bedingungen der modernen Gesellschaft. In den Moden wird es möglich unterschiedlichste Grenzen zu reflektieren, Meinungen umzuarrangieren, sich einzuordnen und wieder zu distanzieren, ohne weitreichende Folgen für Inkonsistenzen übernehmen zu müssen. Gerade weil man abweichen kann, das Modische flüchtig, das Accessoire luxurierend und all dies öffentlich ist, wird Nachahmung legitim.
13 Parsons hatte ähnlich argumentiert (1964: 74f.), die Mode den Frauen aber als Geschlechtsspezifikum zugeschrieben und ihre Funktion darin gesehen, Statusinkonsistenzen auszugleichen – Mode als normative Ersatzbefriedigung bei Statusdeprivation.
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5. Schluss: Die Mode der Gesellschaft Kehren wir zum Schluss zur „Mode der Gesellschaft“ zurück. Hier wird sichtbar, dass Mode, sowohl individuell, als auch kollektiv orientierend wirkt, jedoch ohne stabile Verhaltensmaßstäbe oder gar dauerhafte normative Orientierungen auszuprägen. Warum sie in der modernen Gesellschaft formgebend wirkt, erklären weder alleine ein menschlicher Drang sich zu schmücken, die Vorbildfunktion höherer Schichten, die Machenschaften der Kulturindustrie, noch der Werteverfall, die Nervosität der Großstädter oder die geheime Macht der Medien. Das Auftreten der Mode als eines formgebenden Reflexionsmediums der Kommunikation, und ihre gesellschaftliche Expansion, scheinen vielmehr darin begründet, dass sie einen Lösungsansatz für Orientierungsprobleme der gesellschaftlichen Inklusion unter komplexen Bedingungen darstellt. Sie stellt einen Lösungsansatz dar, der aufgrund seiner Selbstwidersprüchlichkeit, Oberflächlichkeit und Unbeständigkeit die gesellschaftliche Anschlussfähigkeit besonders des Individuellen, Partikularen und Abweichenden zu kleinen sozialen ‚Kosten‘ verspricht. Mode signalisiert öffentlich beobachtbare Möglichkeiten, individuelle Abweichung sozial konform zu arrangieren. Mit ihrer durch Mode geformten Kommunikation drückt bspw. die Person aus: „Ich gehöre dazu, weil ich mich unterscheide!“ Mode vermittelt demzufolge ein flexibles Orientierungsmuster der Inklusion. Bei all dem bleibt sie nur momentan attraktiv, erschöpft Vorbilder durch Überzeichnung und steigert jegliche Bedeutung zum Überflüssigen. Sie stellt eine Festlegung dar, die sich durch Festlegung selbst auflöst. Und sie macht im getragenen Accessoire, in der übernommenen Haltung, in der Orientierung am Trend kommunizierbar, dass alle anderen ähnlich beobachten, wenn sie mit der Mode gehen, ohne dass sie dies thematisieren müssten und ohne dass man ihre individuellen Motive kennt. Mode unterstützt deshalb die soziale Ordnungsbildung einer komplexen Gesellschaft, die ihre Probleme ohne Rückgriff auf eine verbindliche Zentralinstanz oder Hierarchie lösen muss. Vielleicht könnte sich die funktional differenzierte Gesellschaft ohne Mode kaum als „modern“, d.h., vom Wechsel des Neuen bestimmt, beschreiben. Zumindest trägt das Reflexionsmedium Mode dazu bei, die Normalitätserwartung des ständigen Wechsels im gesellschaftlichen Maßstab zu realisieren. Das bedeutet aber auch, dass Mode, als spezifischer Ausdruck der Selbstbeobachtung innerer Grenzen der modernen Gesellschaft, nicht mehr mit einer Theorie des Trickle-Down zu erfassen ist. Man zielt in einer solchen Gesellschaft geradezu an der gesellschaftlichen Anschlussfähigkeit vorbei, wenn man sich modisch an höheren Rängen orientiert. Die offenkundig gewordene Selbstbeobachtung der Gesellschaft, die in ihrer medialisierten Öffentlichkeit zum Ausdruck kommt, hat dazu beigetragen, die Orientierungsrichtung der nachahmenden Unterscheidung in allen Sinndimensionen freizugeben. Heute fördert sie sogar eine Individualisierung der Mode, die soweit geht, dass neben der Unterscheidung die Nachahmung zu verblassen und Mode sich aufzulösen scheint. Ob wir damit schon am Ende der Mode anlangt sind bleibt fraglich, denn je komplexer die gesellschaftlichen Sinnverweise erscheinen – und dazu gehören die Verweise auf individualisierte Personen und partikularisierte Gruppen – desto modischer muss die Mode
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werden. Modische Öffentlichkeit zerfällt heute ersichtlich in Moden, die alle Aspekte von Individualität und Inklusion zum Beobachtungsmaterial und damit modisch werden lassen. Mode, so hat es den Anschein, bringt mit der Steigerung ihrer Paradoxie, mit ihrem Zerfallen in Individualmoden, auch noch das sozial Ausgeschlossenste in eine kommunikationsfähige Form, macht es beobachtbar, d.h., attraktiv zur Nachahmung und damit kommunikativ anschlussfähig. Eine Entwicklung, die sich u.a. an synkretistischen Moden mit einer sehr heterogenen Mischung von Stilelementen beobachten lässt.
Abb. 5: Sample von Stilelementen in der japanischen „streetstyle“-Mode
Als formgebender Mechanismus, besser gesagt: als formgebendes Reflexionsmedium einer dynamisierten, sozial und sachlich flexibilisierten sozialen Ordnung betrachtet, wirkt Mode daher grundsätzlich ‚deformierend‘. Das soll nicht im Sinne einer ‚Destruktion‘ sozialer Ordnung, sondern im Sinne ihrer ständigen ‚Verformung‘ und ihres Neuarrangements verstanden werden. Mode stellt so gesehen nur eine ‚schwache Kraft‘ gesellschaftlicher Formgebung dar. Vielleicht macht sie aber gerade das in einer komplexen Gesellschaft attraktiv, da sich an ihr keine großen Strukturkonflikte entzünden, keine Normativität behauptenden Wertformationen oder konsensgeneralisierenden Institutionen kondensieren können. Es ist und bleibt eben „nur Mode“, um die es hier geht – was eben deshalb alle wissen. So ist zum Schluss ihre soziologische Definition zu vervollständigen. Mode soll gelten als: Paradoxes Reflexionsmedium eines kollektiv nachahmenden, periodischen Stilwechsels individueller Distinktion, das die gesellschaftliche Inklusion des Abweichenden durch Selbstbeobachtung sozialer Attraktivität wahrscheinlicher macht. Zumindest heute bleibt es dabei: In der Mode kommunizieren alle, anders sein zu wollen und dass sie gerade dies gemeinsam haben.
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Die Inszenierung des mobilen Selbst Günter Burkart
1. Von Autisten und Nomaden Ich sehe eine Frau neben ihrem Auto, suchend über offene Taschen gebeugt, sie scheint mit jemandem im Auto zu sprechen. Aber als ich vorbeigehe, sehe ich: niemand sitzt im Wagen. Mit wem redet sie? Zwei Mädchen kommen mir auf dem Gehsteig entgegen, sie laufen nebeneinander, nur eine spricht. Als ich näher komme, sehe ich, sie reden nicht miteinander, die eine spricht in ihr Handy. Eine Studentin kommt mir auf dem schönen Campus der Lüneburger Universität, die jetzt Leuphana heißt, entgegen. Sie grüßt per Kopfnicken und Blickkontakt aus etwas zu weiter Entfernung, ich reagiere deshalb verzögert. Als sie in der Nähe ist und an mir vorbeigeht, beachtet sie mich jedoch nicht mehr. Sie blickt nach unten oder „nach innen“, sie telefoniert. In Lüneburg kann es auch passieren, dass ein Busfahrer eine einsteigende Studentin begrüßt. In einem Fall, den ich beobachte, ignoriert die Studentin den Busfahrer, auch wenn sie im Vorbeigehen routiniert ihre Monatskarte hochhält. Sie telefoniert. Ein Mann geht allein zum Fahrkartenautomaten in der U-Bahn-Station und sagt: „Und wohin muss ich jetzt fahren?“ – „Okay, Rüdesheimer Platz. Die Berliner haben ja ein hochmodernes Automatensystem.“ Offenbar lässt er sich die Gebrauchsanweisung für den Fahrkartenautomaten von einem Bekannten geben, der kleine Knopf im Ohr verrät es. Eine kluge Idee! Auch im Supermarkt oder Möbelgeschäft stehen immer häufiger diese scheinbaren Autisten vor einem Regal und sinnieren laut darüber, welche der angebotenen Waren sie mitnehmen möchten. Noch merkwürdiger wirken Menschen, die einfach weiter telefonieren, wenn sie beim Bahnhofsbäcker einkaufen – sie erledigen das aufs Allernötigste reduzierte Gespräch mit der Verkäuferin und ihr Ferngespräch gleichzeitig. Oder stellen wir uns einen Flugreisenden vor, der an der Kontrollschranke weiter telefoniert, während er seine Jacke leert, sie auszieht und mitsamt seinem Handgepäck in den Korb befördert. Schließlich legt er dort auch das Handy hinein – ohne „aufzulegen“ –, um sofort, als es aus der Röntgenanlage zum Vorschein kommt, das Gespräch fortzusetzen, während er seine Jacke anzieht, seine Geldbörse verstaut und weitergeht. Auch hier wird die Kommunikation mit Anwesenden in extremer Weise auf minimale Körpersignale reduziert. Seit dem Beginn des Handy-Zeitalters kann man an öffentlichen Orten immer häufiger Menschen beobachten, die vor sich hin sprechen und Worte von sich geben, die scheinbar an niemanden gerichtet sind, wie in Fahrenheit 451, einem Science-Fiction-Roman von Ray
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Bradbury, der 1966 von François Truffaut verfilmt wurde. Zum Finale dieses Films sieht man „sprechende Bücher“ irgendwo in unberührter Natur auf und ab gehen und auswendig gelernte Bücher rezitieren, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. Es sind Rebellen, die sich dem totalitären System, das alle Bücher verbrannt hatte, durch Flucht entziehen konnten, und die nun selbst lebende Bücher sind... Im Unterschied zu den sprechenden Büchern dieses Science-Fiction-Dramas geht es bei den genannten Beispielen allerdings weder um anspruchsvolle Literatur, noch bewegen sich die Personen in einsamer Natur. Im Gegenteil: Manche Handy-User stellen sich gern inmitten einer Menschenmenge auf öffentliche Plätze und verkünden dort ihre Botschaften. Andere stellen sich ans offene Fenster ihrer Wohnung und sprechen zum Fenster hinaus, obwohl sie doch mit jemandem ganz woanders sprechen. Was an diesen Beispielen auffällt, ist eine Ignoranz der telefonierenden Menschen gegenüber Anwesenden; Gesprächspartner werden gewissermaßen in die Warteschleife gestellt, das „Publikum“ wird ausgeblendet. Vielleicht handelt es sich aber, in Wahrheit, um eine Art Inszenierung des mobilen Selbst: Seht, ich bin nicht hier, bin eigentlich an einem anderen Ort, bin absent present. Die Raum-Zeit-Fixierung meiner Kommunikation ist aufgehoben, die Ortlosigkeit ist meine Existenzweise, ich bin ein postmoderner Nomade. Die Ignoranz gegenüber Anwesenden hat also etwas mit Ortlosigkeit, ständiger Erreichbarkeit und der Ablösung der Kommunikation von raum-zeitlichen Fixierungen zu tun. Ich gehe deshalb zuerst auf einige Aspekte der Ortlosigkeit und der Auflösung raum-zeitlicher Verortungen der Kommunikation ein. Tele-Kommunikation in öffentlichen Situationen kann aber auch zu Störungen und zur Verletzung von Regeln der öffentlichen Kommunikation und der persönlichen Territorien führen. Im zweiten Teil des Beitrags werden zunächst einige Aspekte der Distinktion und des Persönlichkeitsausdrucks erörtert, die sich mit dem Handy eröffnen, bevor dann die Frage geprüft wird, ob das Mobiltelefon zu einem Signum der Postmoderne geworden ist, weil es die Möglichkeit der öffentlichen Inszenierung eines mobil gewordenen Selbst bietet.
2. Erreichbarkeit und Ortlosigkeit Der wesentliche Vorteil des Mobiltelefons wurde früh erkannt: die Möglichkeit ständiger Erreichbarkeit – perpetual contact (Katz/Aakhus 2002). Ubiquitäre Erreichbarkeit heißt, dass sich Kommunikationsteilnehmer mit Hilfe des Handy weitgehend aus räumlich-zeitlichen Fixierungen befreien können. Sie sind in Bewegung und trotzdem erreichbar. Das gilt zunächst, ganz banal, etwa in dem Sinn, dass es bequemer geworden ist, wenn man sich verabredet oder treffen will. Noch während der Anreise kann man Zeit und Ort verändern. Das Mobiltelefon ist zum Navigationsinstrument für „individualisierte Nomaden“ geworden. Es hat begonnen, die Uhr zu ersetzen – nicht in dem trivialen Sinn, dass man keine Uhr mehr braucht, weil das Handy auch eine Uhr enthält, sondern in dem grundlegenden Sinn, dass es mit dem Mobiltelefon im Prinzip überflüssig wird, bei der Koordination noch auf die Zeit zu achten. Time-based social coordination wird durch mobile-phone-based coordination er-
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setzt (Ling 2004: 57ff.). Verabredungen müssen nicht mehr auf eine genaue Uhrzeit bezogen werden. Diese kann sich jederzeit ändern und wird oft erst in letzter Minute festgelegt. Das kommt Jugendlichen entgegen (Ling/Yttri 2002). Auch der genaue Ort eines Treffens muss nicht mehr festgelegt werden, man kann sich bis auf Sichtweite gegenseitig heran-navigieren. Das Handy bringt einen deutlichen Zuwachs an individueller Mobilität. Im Unterschied zu anderen Kommunikationsmedien der schnellen Raumüberbrückung wie Telefon oder Radio verknüpft es diesen Vorteil noch mit dem der Ungebundenheit an einen festen Standort. Insbesondere ermöglicht das Handy, zwei der beiden wichtigsten Mobilitätstechniken zu kombinieren: Man kann mit jemandem telefonieren, während man sich räumlich von ihm entfernt (im Auto, im Zug, im Flugzeug) oder sich ihm nähert. Außerdem kann man mit dem Handy in Situationen telefonieren, wo es früher nicht möglich war: Am Strand, auf dem Berg, in der Wüste. Im Extremfall kann man mit weit entfernten Freunden oder Angehörigen über das unmittelbar bevorstehende eigene Sterben sprechen, wie es bei den Dramen am Mount-Everest oder bei den Terrorattacken vom 9.11.2001 geschah (Krakauer 2000; Katz/ Rice 2002). Mit dem Mobiltelefon geht die Vorstellung über die Verortung des Gesprächspartners verloren. Stellte sich in der Anfangszeit des Telefons noch das Problem, wie man lernt, mit jemandem zu sprechen, den man nicht sehen kann, so geht es nun um das Problem, wie man damit umgeht, mit jemandem zu sprechen, dessen Verortung in der Welt man nicht kennt.1 Deshalb die bekannte Gesprächseröffnung mit „Wo bist du denn?“ Es sind natürlich Fälle vorstellbar, wo es sogar als Vorteil empfunden wird, dass der andere den eigenen Standort nicht kennt; wo dessen Geheimhaltung geradezu die Bedingung dafür ist, dass überhaupt Kontakt aufgenommen wird: Wenn Kinder aus dem Urlaub anrufen („Mutti, mir geht es gut, hier ist es ganz toll, wenn du wüsstest, wo ich gerade bin...“); oder wenn Entführer die Polizei wegen der Übergabe des Lösegeldes anrufen. Man ist erreichbar, kann aber gleichzeitig seinen Aufenthaltsort geheim halten (einmal abgesehen von den technischen Möglichkeiten der Ortung und der entsprechenden Gegenmaßnahmen). Dies ist besonders relevant für bestimmte Gruppen, die per definitionem nicht an feste Orte gebunden sind, wie kriminelle Banden, Waffen- und Drogenschmuggler, Partisanenarmeen oder Terroristennetzwerke. Mit Hilfe des Mobiltelefons können solche Gruppierungen sich noch stärker von Ortsbindungen lösen, und sie können flexibler als bisher reagieren, ihre Strategien ändern und an neue Gegebenheiten anpassen. Sie sind zu smart mobs (Rheingold 2003) geworden. Zweifellos hat das Handy die Effizienz von kriminellen und subversiven Operationen solcher Art begünstigt. Das gilt auch für Streiks, Demonstrationen und sonstige Menschenansammlungen, die schwer zu dirigieren sind, wenn Unvorhergesehenes passiert. Auch für die verschiedenen Personengruppen, die zur regionalen Mobilität mehr oder weniger gezwungen sind – Arbeitsmigranten, Asylsuchende oder politische Flüchtlinge – erleichtert das Mobiltelefon manche Aktion. Andererseits ist Handy-Kommunikation im Prinzip heute schon technisch besser überwachbar als frühere Telekommunikationsformen. Polizei, Militär und Geheimdienste können die Vorteile der mobilen Kommunikation mindestens ebenso gut 1 Mit dem Problem haben sich u.a. Licoppe/Heurtin (2002) befasst. Vgl. dazu auch die Diskussionen um den verloren gegangenen Ortssinn (Meyrowitz 1985), allerdings bezogen auf das Fernsehen.
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nutzen und verfügen auch über technische und rechtliche Gegenmaßnahmen (zum Beispiel Abhörmöglichkeiten), die den Kriminellen nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen. Von der Ortlosigkeit ist es nicht mehr weit zur Heimatlosigkeit (Berger et al. 1987). Hochmoderne individualisierte Nomaden sind nirgendwo mehr zuhause, befinden sich ständig auf Reisen – an Nicht-Orten, wie Marc Augé (1994) etwa Flughäfen, Autobahnen, oder fensterlose Konferenzräume nennt. Im Prinzip müssen sie sich deswegen nicht heimatlos fühlen, jedenfalls nicht im traditionellen Sinne derer, die jahrzehntelang in ihrer angestammten Heimat lebten und durch Krieg oder Naturkatastrophe zur Flucht gezwungen wurden. Sie können sich – nicht zuletzt dank des Mobiltelefons und anderer devices der Kommunikation – durchaus „geborgen“ fühlen. Braucht der postmoderne mobile Nomade überhaupt noch ein Zuhause? – „Zuhause ist da, wo Ihr Telefon ist“, heißt es in einer Vodafone-Anzeige. Und in einem Fernsehspot von T-Mobile fragt ein Vertreter einen Jungen an der Haustür, wo der Papa sei. „Zuhause“, sagt der Junge. Ob er ihn sprechen könne. Nein, sagt er Junge. „Wieso?“ – „Er ist nicht da.“ – Nach einigen Irritationen über diese Antworten folgt die Auflösung: „Der ist auch unterwegs zuhause.“ Schöne neue Familienwelt! Bis zur Erfindung des Telegrafen hatte man das Problem, dass eine Vergrößerung der räumlichen Distanz auch eine Vergrößerung der zeitlichen Distanz mit sich brachte, wenn man kommunizieren wollte: Man musste einen Brief schreiben, der transportiert werden musste, oder einen Kurier schicken, der mit Pferd oder Kutsche um so länger brauchte, je weiter sein Weg war. Die Kommunikation über weite Entfernungen machte entweder den Transport von Menschen, die kommunizieren wollten, oder von Menschen, die das Kommunikationsmedium transportierten, erforderlich. Mit dem Telegrafen begann die „Trennung der Kommunikations- von den Transportmitteln, die immer auf irgendeine Weise die Mobilität des menschlichen Körpers vorausgesetzt hatten“ (Giddens 1988: 175). Diese Trennung war ein wesentlicher Schritt in der Entwicklung der Raum-Zeit-Konvergenz, wie Zeitgeographen sagen (vgl. Giddens 1988: 165), wenn sie das Schrumpfen der Entfernung zwischen zwei Orten im historischen Zeitablauf meinen. Sie entwickelt sich zunächst durch die Fortschritte in der Geschwindigkeit, durch die zunehmende Schnelligkeit der Transportmittel. Zwei Orte rücken sozial-räumlich näher zusammen, wenn die Reisezeit verkürzt wird. Sozialer Raum ist nicht dasselbe wie physikalischer oder geographischer Raum. Wenn wir unter sozialem Raum den Bereich der sozialen Positionierung von Menschen verstehen, dann ergibt sich aus einer ähnlichen sozialen Lage eine sozialräumliche Nähe. Der soziale Raum war auch früher schon nicht unmittelbar mit dem physikalisch-geographischen Raum verbunden, die Mitglieder der Arbeiterklasse befanden sich zum Beispiel nicht alle in derselben Region. Mit dem Mobiltelefon löst er sich noch stärker von der Lokalität. In der Konsequenz führt dies dazu, dass eine soziale Gruppe nicht mehr durch einen gemeinsamen Versammlungsort verbunden ist, sondern durch ihre miteinander vernetzten Telefone. Auch die Kategorie des öffentlichen Raumes („bürgerliche Öffentlichkeit“) würde eine völlig neue Bedeutung erlangen. Wozu noch große Massenkundgebungen, wenn jeder über das Handy erreichbar ist? Das Handy verwandelt den öffentlichen „Platz“ in einen individualisierten Mobilitätsraum. Die Öffentlichkeit wird ortlos.
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3. Störende Interferenzen Eine der auffälligsten Besonderheiten des Mobiltelefons ist, dass es die bisherige Beschränkung aufhebt, nur in einem geschlossenen Raum (Wohnung, Büro, Telefonzelle) telefonieren zu können. Das Handy erlaubt der Telekommunikation, die Schwelle zwischen Innen und Außen zu überschreiten. Individuelle Telefonkommunikation kann in face-to-face-Gespräche eindringen, private Kommunikation in öffentliche Räume. Zwei Kommunikationsformen, die bisher räumlich und zeitlich getrennt waren, können parallel stattfinden, sich überschneiden und durchmischen, aber auch gegenseitig stören. Bei physikalischen Wellen spricht man in solchen Fällen von Interferenzen. Es kann also zu Interferenzen zwischen lokal gebundenen kommunikativen Situationen der körperlichen Kopräsenz und Situationen der Telekommunikation kommen. Dies führt zu Konflikten, weil bisher geltende Regeln der öffentlichen Kommunikation verletzt werden. Sie müssen möglicherweise neu ausgehandelt werden. Welcher Art sind diese Regelverletzungen? Das Eindringen des privaten Telefonierens in den öffentlichen Raum wurde schon früh als irritierend und störend empfunden (Ling 1998). Fortunati (1998) stellte fest, dass dort, wo das Mobiltelefon noch nicht so stark verbreitet war – wie Mitte der 1990er Jahre in Deutschland – man sich eher durch das öffentliche Zurschaustellen gestört fühlte. Es wurde als Angeber- und Protz-Gehabe interpretiert, wenn jemand auf der Straße stand und telefonierte. Dort, wo das Mobiltelefon damals schon stärker verbreitet war – wie in Italien oder Großbritannien –, störte dagegen eher das laute Reden in der Öffentlichkeit. Auch später stimmte selbst unter den Handybesitzern immer noch eine Mehrheit der Ansicht zu, das Mobiltelefon störe andere Menschen (Ling 2005: 119).2 Licoppe/Heurtin (2002) berichten von einer Studie in Frankreich aus der Anfangszeit des Handy, als sich noch viele Leute gestört fühlten und peinlich berührt waren, wenn sie gezwungen wurden, anderen bei ihren privaten Gesprächen zuzuhören. Heute scheint dies, zumindest unter jungen Leuten, kein Problem mehr zu sein. Man hat sich daran gewöhnt, man duldet es... Die Störung fängt in der Regel mit dem Geräusch an, das man immer noch „Klingeln“ nennt, obwohl es häufig an Geräusche von Spielautomaten oder Computerspielgeräten erinnert. Es signalisiert das Eindringen von oft banaler Intimität in den öffentlichen Raum. Das öffentliche „Klingeln“ ist deutliches Zeichen einer Grenzverschiebung und der damit verbundenen Irritationen, es signalisiert Anwesenden das Eindringen einer Kommunikation aus der Ferne. Die vielfältigen Möglichkeiten verschiedener Pieps-Melodien, die es inzwischen gibt, schaffen ein Provokationspotential. Subversive Ironisierung von Pop-Klassik ist möglich; Melodien, die aus dem Hitparadenrepertoire der Klassik stammen, sind irgendwann nicht mehr konzertabel. Daniel Barenboim begründete angeblich seine Entscheidung, in Israel – gegen heftigen Widerstand – Musik von Wagner zu spielen (als nichtöffentliche Zugabe eines öffentlichen Konzertes im Juli 2001), unter anderem mit dem Hinweis darauf, dass in den Straßen von Tel-Aviv Wagner-Melodien schon längst zu hören seien (er meinte natürlich die „Melodien“ der Mobiltelefone).3 Das öffentliche Zirpen und Piepsen ist ein weiterer Er2 Insgesamt stimmten fast zwei Drittel aller Befragten einer europaweiten Studie im Jahr 2000 der Meinung zu, dass das Mobiltelefon einen störenden Einfluss auf die öffentliche Kommunikation habe (Ling 2004: 59). 3 Bericht der BBC vom 8.7.2001 (http://news.bbc.co.uk).
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folg der Popkultur gegenüber der zurückgedrängten Hochkultur, zumal Mitglieder der Eliten auf schrille und laute Töne eher verzichten (manchmal ganz auf Töne verzichten, zugunsten des lautlosen Vibrierens). „Individuelle“ Klingel-Töne bieten vielfältige Möglichkeiten der Störung der öffentlichen Ordnung. Man kann das Gerät so einstellen, dass bei jedem Anruf eine andere Melodie erklingt. Man kann warten, bis die Tonfolge abgeschlossen ist, bevor man den Anruf annimmt. Das Mobiltelefon hebt damit den durch Walkman mit Ohrhörern durchgesetzten Rückzug privaten Musiklärms aus der Öffentlichkeit zum Teil wieder auf. Dabei dominiert – aus Sicht der Diskursführer – das „Vulgäre“. Der Gebrauch des Mobiltelefons in Restaurants galt anfangs als Metapher für Vulgarität (Ling 1998: 74). In Interviews, die wir 1999 führten, war häufig von „Handy-Prolls“, „Angebern“, „schicki-micki“ und Ähnlichem die Rede (Burkart 2000). Um ein von ihm besonders geschätztes Restaurant zu charakterisieren, meinte der Starkoch und Restaurantkritiker Siebeck: „Selbstdarsteller mit Handys kämen sich hier verloren vor“.4 Ohnehin suchten Restaurants bald nach einem Kompromiss. In manchen Restaurants gibt es die Möglichkeit, die Telefone bei der Begrüßung am Eingang abzugeben. Sie bleiben aber angeschaltet, und die eingehenden Anrufe werden von einer dafür zuständigen Person, dem Handysitter, angenommen. Dieser muss dann entscheiden, ob er die Gäste sofort oder erst am Ende des Restaurantbesuchs über die Anrufe informiert.
4. Regelverletzungen Wer mobil telefoniert ist es gewohnt, dies vor Publikum zu tun (auch wenn dieses ausgeblendet wird). Mobiles Telefonieren im öffentlichen Raum kann deshalb in vielfältiger Weise zur Verletzung von Intimitätsregeln führen. Wer ohne akustische Abschirmung über intime Dinge spricht, verletzt Regeln des guten Geschmacks oder überschreitet Schamschwellen. Nicht alle gehen freilich so weit: Manche ziehen sich zurück, suchen eine Nische am Rande der Öffentlichkeit – gelegentlich kann man im Großraumwagen der Bahn hören: „Ach du bist‘s, Schatz – warte, ich gehe mal auf die Toilette...“ Aber in der Regel bleibt man sitzen, wo man ist, baut aber eine Art Schutzwall um sich herum auf, eine unsichtbare akustische Mauer – deswegen auch die häufig gemachte Beobachtung, dass zu laut geredet wird. Es wäre zu einfach, dies als bloße Charaktereigenschaft einiger enthemmter Personen abzutun, während „wir Normalen“ im Allgemeinen diskret sind. Es wäre auch zu einfach, mit schlechten Verbindungen oder Lautstärke in der Umgebung zu erklären, dass man lauter spricht als nötig. Es ist eher so, dass die Telefonierenden eine virtuelle Telefonzelle um sich herum aufbauen oder ein virtuelles Zelt: Im Zelt spricht man auch lauter als es der Umgebung angemessen wäre, weil man vergisst, dass es keine wirkliche akustische Abschirmung bietet. Es fehlt die akustische Selbstkontrolle, die man im Gespräch in der Öffentlichkeit sonst hat, weil man weiß, dass auch andere hören können, was man sagt.
4 ZEIT-Magazin, Nr. 2, 7.1.1999, S. 30.
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Es geht beim öffentlichen Telefonieren auch um die Verletzung von Höflichkeitsregeln, insbesondere der Regel Aufmerksamkeit und Priorität für Anwesende. Wer sich im öffentlichen Raum bewegt, sollte die Anwesenheit anderer Personen nicht ignorieren – das ist eine Grundregel der öffentlichen Kommunikation. Dazu gehört sowohl, sie nicht zu stören oder zu belästigen, als auch, sie nicht völlig zu ignorieren. Es gibt subtile Regeln für Blickkontakte und Körperabstände, Regeln der civil inattention: Desinteresse ohne Missachtung (Goffman 1969). Aber der Handy-Benutzer missachtet diese Regeln. Er tut so, als seien andere nicht anwesend; oder als sei er selber nicht anwesend. So, wie jene adligen Damen, die sich ungeniert in Gegenwart ihres Dieners entkleiden, weil sie ihn gar nicht als anwesenden Menschen klassifizieren. Das Mobiltelefon schließt Anwesende von der situativen Kommunikation aus. Die mobil Telefonierenden verletzen „Fassaden“-Regeln unter Bedingungen körperlicher Kopräsenz – sie drehen einem den Rücken zu, nehmen einen trotz körperlicher Nähe nicht wahr. Es ist die Gleichzeitigkeit von Zwang zum Mithören und Ausschluss vom Gespräch, die so störend erscheint. Schon beim stationären Telefon im Büro oder in der Wohnung erzeugt das Klingeln einen Konflikt, wenn Personen anwesend sind: Darf man das laufende Gespräch mit den Anwesenden unterbrechen, um ans klingelnde Telefon zu gehen? Das ist nicht zuletzt eine Statusfrage: Wenn der Ranghöhere in seinem Büro Besucher empfängt, darf er in der Regel ans Telefon gehen, wenn es klingelt. Umgekehrt wird es kritisch. Das Problem lässt sich leicht entschärfen, indem man bestimmte Arten von Gesprächen in neutrale Räume (ohne Telefon) verlegt oder das Telefon umleitet. Mit dem Handy gibt es im Prinzip keine solchen neutralen Räume mehr; es verschärft den Konflikt, indem es ihn potentiell für alle Lebenssituationen möglich macht: Jedes meiner Gespräche, egal wo ich bin, droht nun vom Klingeln des Handy unterbrochen zu werden. Es gibt Regeln, wie man sich als Neuankömmling in eine laufende Gesprächsrunde (bei einer Party, einem Empfang u.s.w.) einschaltet – und Regeln, wie man sich wieder aus der Runde zurückziehen kann: „Entschuldigen Sie mich, bitte.“ Stattdessen ertönt heute häufig ein „Klingeln“. Wir haben noch nicht gelernt zu sagen: „Entschuldigen Sie mich, mein Telefon klingelt.“ Und besonders befremdlich für Menschen, die noch kein Handy besitzen oder nie über eine Alternative zum Klingelgeräusch nachgedacht haben, ist es, wenn plötzlich der Gesprächspartner ohne akustische Vorwarnung sein Mobiltelefon aus der Tasche zieht und sich abwendet: Auch für den Griff zum Vibrator-Handy fehlt es noch an der entsprechenden Etikette. Der Linguist Schegloff (2002) erzählt eine Geschichte, die aufschlussreich ist für die Verwirrung in der Abgrenzung von privat und öffentlich („intersection of worlds“), die durch das Mobiltelefon herbeigeführt wurde. Eine junge Frau telefoniert in einem Zug, sie hat eine lautstarke Auseinandersetzung offenbar mit ihrem Boyfriend. Die meisten Leute scheinen nicht Notiz davon zu nehmen (obwohl nicht zu überhören, die Ohren kann man nun mal nicht gut verschließen) und tun weiterhin unbeteiligt so, als ob sie ihre Zeitung lesen oder die vorbeiziehende Landschaft betrachten – ganz im Sinne von Goffmans civil inattention. Nur ein Reisender schaut der Telefonierenden in die Augen, vermutlich etwas missbilligend. Die junge Frau faucht ihn an: „Was geht Sie das an? Dies ist ein privates Gespräch!“ – Was zwar stimmt, aber gleichzeitig auch nicht stimmt. Tatsächlich ist es so, meint Schegloff (2002: 286), dass sie gleichzeitig an zwei Orten ist: im Zug und „am Telefon“.5 Der erste ist öffent-
5 Zur Möglichkeit, mittels Telekommunikationstechnik an zwei Orten zugleich zu sein, vgl. auch Höflich (2005).
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lich, der zweite ist privat. Die Situation funktioniert, solange die telefonierende Person und die übrigen Anwesenden in einer Art Komplizenschaft („folie à deux“) so tun, als wäre das Telefongespräch nicht zu hören, als wäre eine unsichtbare akustische Wand um die telefonierende Person aufgebaut. Schegloff erinnert daran, dass man ähnliche Erfahrungen bereits mit dem Walkman machen konnte. Als er zum ersten Mal jemanden damit sah (ohne zu wissen, um was es sich handelte), dachte er, diese Leute seien in einem anderen „there“, einem anderen space als die übrigen Anwesenden. Manchmal ist das öffentliche Telefonieren auch mit einer handfesten Störung in körperlicher Hinsicht verbunden: Oft verhalten sich Telefonierende, wenn sie sich zwischen anderen Menschen bewegen, als seien sie rücksichtslose Rüpel, die sich keineswegs vor Körperkontakt scheuen, um schnell vorwärtszukommen. Wenn sich solche Leute zum Beispiel im Zug im Gedränge des Mittelgangs mit einem Rucksack fortbewegen, der ohnehin fast zu breit ist für den schmalen Gang, merken sie gar nicht, dass dessen Verlängerungen (Bänder, Schnüre, Schnallen) den Sitzenden erst recht ins Gesicht springen, wenn sie während des Durchdrängelns auch noch telefonieren. Mobiles Telefonieren kann also als Verletzung von Regeln der Kommunikation unter Bedingungen von körperlicher Kopräsenz aufgefasst werden. Der Analyse solcher Regeln hat sich bekanntlich Erving Goffman mehrfach zugewandt.6 Situative Kopräsenz ist dann erreicht, wenn Personen sich nahe genug sind, „um sich gegenseitig wahrzunehmen bei allem, was sie tun, einschließlich ihrer Erfahrungen der anderen, und nahe genug auch, um wahrgenommen zu werden als solche, die fühlen, dass sie wahrgenommen werden“ (Goffman 1971: 28, 1974: 7). Das in Situationen der Kopräsenz eindringende Mobiltelefon stört genau diese Balancierung gegenseitiger unauffälliger Wahrnehmung. Es stört, mit anderen Worten, die Routinisierung von Begegnungen, die in der praktischen Körperkontrolle begründet ist und die für die Stabilität sozialer Situationen eine wichtige Rolle spielt (Giddens 1988: 125).
5. Private Territorien und neue Regeln der Selbstdarstellung Das mobile Telefonieren kann auch als Verletzung von territorialen Regeln betrachtet werden. Goffman hat in einem Abschnitt über Die Territorien des Selbst (1974: 54ff.) die vielfältigen Weisen dargelegt, mit denen Individuen Ansprüche auf Territorien, auf persönliche Reservate anmelden. Das prototypische Reservat ist räumlich ausgedehnt und ortsgebunden. Der persönlicher Raum ist „der Raum, der ein Individuum überall umgibt und dessen Betreten seitens eines anderen vom Individuum als Übergriff empfunden wird“ (56). „Gesprächsterritorien“ legen zum Beispiel das Recht fest, nicht durch Dritte, die sich einmischen oder die zuhören, behelligt zu werden. Auch der Tisch im Restaurant steckt ein Territorium ab. Er verschafft eine gewisse Privatheit im öffentlichen Raum, zu den Nachbartischen wird eine Art fiktiver Vorhang aufgezogen. Das Klingeln und das unangemessen laute Reden beim 6 Insbesondere in seinen Büchern Behavior in Public Places (dt.: Verhalten in sozialen Situationen) sowie Das Individuum im öffentlichen Austausch (Goffman 1971, 1974).
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Telefonieren ist ein Übergriff in das temporäre Territorium der anderen Gäste, den diese als äußerst störend empfinden können (Ling 1998: 83). Je höher der Status, desto größer auch die Störung des persönlichen Territoriums, wenn jemand telefonierend dort eindringt. „Im allgemeinen gilt: je höher der soziale Status eines Individuums ist, desto größer ist der Umfang der Territorien des Selbst und die Kontrolle über deren Grenzen hinaus“ (Goffman 1974: 70). Die Verteidigung der Intimzone wird zur Statusfrage. Kein Wunder, dass bestimmte Restaurants zu den ersten Orten gehörten, wo das Handy verboten wurde. Der Gebrauch eines Handysitters dokumentiert Status und feine Manieren: Der Gesprächspartner wird nicht per Mailbox auf Distanz gehalten, sondern durch eine freundliche menschliche Stimme, mit der man wirklich reden kann. Wie die eingangs geschilderten Beispiele zeigen, ist das mobile öffentliche Telefonieren, wenn es ohne räumliche Abschirmung geschieht, der Situation strukturell ähnlich, in der jemand öffentlich Selbstgespräche führt. Das wirkt umso befremdlicher und umso „verrückter“, je lauter er oder sie dabei spricht. Das Individuum präsentiert sich nicht adäquat, es wirkt asozial – autistisch – in seiner Darstellung: Es scheint zu reden, ohne einen Gesprächspartner zu haben. Handy-Telefonierer verletzen deshalb häufig Regeln der öffentlichen Selbstdarstellung. Dies gilt umso mehr, wenn Körpermotorik und Gestik dazukommt. Wer mobil telefoniert, ist in seiner Bewegungsfreiheit weniger eingeschränkt als jemand, der in einer Telefonzelle steht und den Hörer, der mit dem Apparat durch ein kurzes Kabel verbunden ist, festhalten muss. Mobil Telefonierende können deshalb viel stärker Gestik und Motorik einsetzen und wirken so auf andere, die außer Hörweite stehen, nicht selten wie Pantomimen. Besonders in nördlichen Regionen ist der Anblick hin und her laufender, gestikulierender Personen auf einem öffentlichen Platz manchmal immer noch irritierend und gewöhnungsbedürftig. Wir sind auch in dieser Hinsicht Zeugen einer zivilisatorischen Enthemmung im Bereich der öffentlichen Körperpräsentation. Goffmans Überlegungen zur Verletzung von Verkehrsregeln für Fußgänger (Goffman 1974: 30ff.) lassen den Mobiltelefonierenden als jemanden erscheinen, dem es an der notwendigen körperlichen „Kundgabe und Abtastung“ fehlt – er wirkt ebenso befremdlich wie jemand, der gehend ein Buch liest. Das Goffmansche Navigationsproblem: Wie kommen Fußgänger aneinander vorbei, ohne Kontakt aufzunehmen, ohne sich zu grüßen, aber auch ohne Zusammenstoß? Wer telefoniert und gleichzeitig zielstrebig voranschreitet, ist – wie Hans-guck-in-die-Luft – in seiner Aufmerksamkeit für das Navigationsproblem gestört. Wer anwesend ist, kann normalerweise nicht nicht kommunizieren. Doch mobil Telefonierende scheinen das zu können, bezogen auf die anderen Anwesenden. Die strukturelle Störung der face-to-face-Kommunikation durch Telekommunikation lässt sich aber auch von den Telefonierenden ausnutzen. Eine interessante Variante besteht darin, dass ein Telefongespräch mit dem Handy nur fingiert wird, d.h. die Telefonierenden tele-kommunizieren gar nicht, sondern sie kommunizieren indirekt mit den Anwesenden. Sie erfinden Telefongespräche, um den in der Situation Anwesenden sozusagen eine nonverbale Botschaft zu übermitteln: „Ich bin beschäftigt, belästigt mich nicht“ (zum Beispiel gegenüber Bettlern; oder Frauen gegenüber Männern); „Ich bin eine wichtige, gefragte Person“. Oder sie versuchen, in einer ihnen peinlichen Situation den fiktiven Telefongesprächspartner verantwortlich zu machen, etwa an der Ladenkasse, wenn sie ihre Geldbörse vergessen haben.
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6. Distinktion und Display Jedes Handy hat ein Sichtfenster, ein Display. Aber display heißt auch Zurschaustellung. Wie andere Objekte der Alltagskultur bietet auch das Handy seinem „Nutzer“ die Möglichkeit, sich zur Schau zu stellen. Das Mobiltelefon kann einen Lebensstil repräsentieren, als Statusobjekte oder als Medium der Alltagsästhetik fungieren. Es kann Ausdruck von gehobenem Lebensstil oder von schlechtem Geschmack sein. Es wäre zum Beispiel ziemlich überraschend und würde als höchst unpassend empfunden, wenn ein Unternehmenschef sein Handy in einer Gürteltasche tragen würde, wie der Cowboy seinen Colt. Von Anfang an war das Mobiltelefon von Diskursen begleitet, die auf Möglichkeiten der Distinktion verwiesen, der gegenseitigen Abgrenzung zwischen Handy-Benutzern und Nichtbenutzern – und damit auch auf die Frage, ob das Gerät als „Statussymbol“ taugt. Ressentiments gegen Handy-Benutzer kamen in Artikeln von Journalisten mit gehobenem Anspruchsniveau zum Ausdruck, die sich darin von „Selbstdarstellern mit Handy“ ebenso wie von „Wichtigtuern aus dem Unterhaltungsmilieu“ distanzierten. Wie Bourdieu (1982) gezeigt hat, können sich Distinktions- und Klassifikationsstrategien so weit verfeinern, dass es schließlich um die Betonung der eigenen Individualität geht. Wie kann ein Massenkonsumartikel wie das Handy personalisiert werden? Man kann das Gerät mit speziellen Oberflächen ausstatten und sonstigem, was ihm ein individuelles Aussehen verschafft. Auch die Marke eignet sich in begrenztem Umfang als Indikator der Persönlichkeit. Zwar ist das Markenbewusstsein zunächst eher eine Frage der sozialen Zugehörigkeit (BMW oder VW; RIM-Blackberry oder Nokia) und nicht der persönlichen Note; aber wie auch Automobilhersteller durch eine Vielfalt von Modellen und Ausstattungsmerkmalen eine fast unendliche Palette von Individualisierungsmöglichkeiten bieten, so auch die Handys. Tatsächlich gleicht kaum ein Gerät dem anderen. Man könnte hier von serieller Einzigartigkeit sprechen (Eberlein 2006). Zusätzlich zu den Ausstattungsdifferenzen kann das Gerät mit weiteren Besonderheiten ausgestattet werden, etwa mit eigens gestalteten Schalen oder mit angehängten Objekten (als Talisman oder einfach nur als Schmuck). Besonders unter Jugendlichen ist diese Praxis verbreitet, weltweit (Fortunati 2005, Hjorth 2005, Bell 2005). In Asien behängen viele Jugendliche ihre Handys mit Amuletten und Kitsch, lassen das Gerät individuell bemalen oder kaufen in Läden mit reichhaltigem Angebot neue Schalen (sozusagen: ein neues Kleid). Das Angebot für die Oberflächengestaltung reicht von Micky Maus und Manchester United über Sex und Ferrari bis zu Osama bin Laden mit Heiligenschein, und sogar die Bilder von den Flugzeugen, die in die Twin Towers rasten, waren schon zu haben (Bell 2005: 81). Diese Besonderheiten des Geräts und seines Designs oder das Logo sind allerdings für Unbeteiligte normalerweise nicht wahrnehmbar, sondern dienen nur der Individualisierung innerhalb der Peer-Group. Für ein display der Person gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit eignet sich eher der Klingelton, mit dem man sich akustisch zur Schau stellt. Deshalb wurde die Individualisierung der Klingeltöne zur vielleicht wichtigsten Möglichkeit, Individualität zu demonstrieren. Sie eignen sich viel besser als Ausdrucksmedium der Persönlichkeit als das Oberflächen-Design, das ja nur wenige zu sehen bekommen, während der mächtige Sound neuerer Geräte oft weithin zu hören ist und zunächst eher an einen GhettoBlaster denken lässt als an ein Minitelefon. Das „Klingeln“ hat sich bei manchen „Nutzern“ von einem Signal – als Zeichen für einen Telefonanruf – in einen nicht-indikativen Persön-
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lichkeitsausdruck verwandelt. Einfach nur „klingeln“ lassen, einfach nur die Lieblingsmusik spielen, wenigstens kurz anspielen, vielleicht noch mit einem Stöpsel im Ohr, der den Umstehenden verdeutlichen könnte, dass der Betroffene sein Handy gar nicht hören kann, weil er gerade aus einem anderen Musikabspielgerät unterhalten wird. Oder nur ein akustisches Signal senden, das kein Zeichen für ein Telefongespräch sein soll, sondern selbst schon das Zeichen ist. Bei der Differenzierung von Klingeltönen zu Beginn der Entwicklung war allerdings nicht nur an Kinder und Jugendliche gedacht worden. Erstmals war die Individualisierung bei dem Business-Oberklassen-Handy 6110/6150 von Nokia möglich, das 1998 auf den Markt kam. Es ging um die Möglichkeit, verschiedene Klingeltöne zu nutzen, um Geschäftsleuten eine Anrufsignalisierung zu ermöglichen, die dadurch wissen konnten, wer der Anrufer war oder aus welcher Gruppe er kam. Viele technische Innovationen entsprechen keinem drängenden Bedürfnis, das schon lange nach Erfüllung suchte, oder gar einem erkennbaren Mangel. Aber sie erleichtern das Leben, bieten einen Zuwachs an Bequemlichkeit und werden daher bald unverzichtbarer Bestandteil der Lebensweise. Aus der jeweiligen Sicht der Vorgänger-Generationen, die ganz selbstverständlich mit einem etwas geringeren Maß an Bequemlichkeit lebten (vielleicht aber auch einem geringeren Maß an Kontrolle, die als Kehrseite der Bequemlichkeit erscheint, zum Beispiel steigendem Zeitdruck), erscheinen diese neuen Verhaltensweisen oft als überflüssig. Unverzichtbarkeit ist natürlich keine „technische“ Kategorie. Es sind nicht in erster Linie Sachaspekte, die das Mobiltelefon unverzichtbar machen, es sind eher symbolische oder soziale Aspekte. Im Extremfall kann der Verlust des Geräts zu Identitätsproblemen führen. Das Gerät wird immer mitgeführt, es gehört zum dominanten Lebensstil genauso dazu wie früher die Armbanduhr oder für englische Gentlemen Regenschirm und Melone. Hat man diese Körper-Extensionen vergessen oder verloren, fühlt man sich unwohl und unsicher. Man kann auch von Domestizierung sprechen. Das Mobiltelefon wird in einen konsumatorisch-technischen Lebensstil eingefügt, zu dem eine Vielzahl von Dingen und Geräten, Neigungen und Praktiken gehören, die sich zu einer Identität verdichten.7
7. Mit dem Mobiltelefon in die Postmoderne? Das Mobiltelefon ist zunächst nur ein banales Gerät, mit dem sich manches kommunikative Bedürfnis ein wenig bequemer erledigen lässt; warum sollte es die Gesellschaft verändern? Doch es gibt zeitdiagnostische Kommentatoren, für die mit der Durchsetzung des Mobiltelefons eine Zeitenwende eingeleitet wurde – häufig im Sinne des Übergangs in die Postmoderne. Es habe sich, so meint zum Beispiel der ungarische Philosoph Kristóf Nyíri, deswegen so schnell durchgesetzt, weil es zur Postmoderne passe. Nyíri (2005) betrachtet den Siegeszug des Mobiltelefons als Rückkehr zu nicht-entfremdeter Kommunikation. Wir seien im Verlauf
7 Zum Domestizierungsansatz der Cultural Studies vgl. Haddon (2003).
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der letzten Jahrhunderte (schon durch Schriftkultur und Buchdruck, dann aber endgültig in der Medienkultur) immer mehr daran gehindert worden, direkt und unverstellt miteinander zu reden. Die Kommunikation sei durch den modernen Rationalismus verzerrt worden, der es uns gewissermaßen erschwert hat, spontan und informell zu chatten. Die Postmoderne leite hier nun einen Kurswechsel ein und die ungehemmte mündliche Kommunikation komme wieder mehr zu ihrem Recht. An dieser Stelle kommt das Mobiltelefon ins Spiel, das genau in diese Entwicklung zu passen scheint. Ein gewisser Teil des postmodernen Diskurses scheint allerdings nichts weiter zu sein als eine Wiederholung der alten Auseinandersetzung zwischen Aufklärung und Romantik, zwischen Vernunft und Gefühl, zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft, zwischen Universalismus und Partikularismus – mit der allgemeinen Stoßrichtung einer Re-Romantisierung; das ist jedenfalls die Überzeugung von Jürgen Habermas (1985), der manche Soziologen gefolgt sind. Postmodernes Denken heißt dann, dass Gemeinschaft und Gefühl wieder an Bedeutung und an Legitimität gewinnen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Frage der Identität. Der Moderne wird gern, unter Berufung auf Erikson (1973), die Konzeption einer stabilen, einheitlichen Identität unterstellt. In der Postmoderne, so heißt es, löse sich diese jedoch auf, werde zu einer fragmentierten Identität. Aber es gibt im postmodernen Diskurs auch eine Tendenz (zurück) zum „ganzen Individuum“, im Gefolge einer Renaissance des „romantischen Individualismus“ (Eberlein 2000). Was auch immer im Einzelnen mit dem schillernden Begriff Postmoderne gemeint sein mag: Gewisse Strukturähnlichkeiten mit der Vormoderne und der Romantik sind auch im Zusammenhang mit dem Mobiltelefon nicht zu übersehen. Was die Moderne zurückgedrängt hatte, könnte durch die Postmoderne eine Renaissance erfahren, etwa die spontane mündliche Kommunikation, die weniger stark als die schriftliche von Vernunftprinzipien kontrolliert wird.
8. Eine neue Identität? Zur Idee der Postmoderne gehört – wie gesagt – auch die Vorstellung, dass die moderne Identität, mit der Vorstellung einer Kohärenz und Konsistenz der individuellen Entwicklung, im Verschwinden begriffen sei zugunsten einer Identität oder eines postmodernen Selbst, das meist als fragmentiert beschrieben wird. Postmoderne Theoretiker wie Kenneth Gergen führen dies zurück auf technisch-mediale Entwicklungen – von der Eisenbahn und dem Auto bis hin zur elektronischen Kommunikation (Gergen 1991). Durch den Übergang von der modernen zur postmodernen Welt werde – mittels der Technologien der „sozialen Sättigung“ – das moderne Selbst verschwinden und einem postmodernen Selbst weichen. Unter „sozialer Sättigung“ versteht Gergen zum Beispiel, dass wir durch Fernsehen, Stadtkultur und hohe Mobilität einem „Strudel sozialer Beziehungen“ ausgesetzt seien. Die neuen Technologien, so nimmt Gergen an, beschleunigen das soziale Leben und intensivieren die sozialen Kontakte, und das führt zu einer „Sättigung“ oder Übersättigung des Selbst – wir haben zu viele Kontakte, sind überfordert, alles wird oberflächlich. Das romantische Selbst des 18. Jahrhunderts,
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das mit Stichworten wie Tiefgang, Seele oder Kreativität charakterisiert wird (eine Nähe zum Begriff des romantischen Individualismus ist erkennbar), sei durch das moderne Selbst (Rationalität, Fortschritt) im Lauf des 20. Jahrhunderts verdrängt worden. Dieses moderne Selbst werde nun seinerseits durch das postmoderne verdrängt. Die Technologien würden uns mit vielen Stimmen aus der ganzen Welt versorgen – und wir wüssten nicht mehr, was gut und richtig und wahr ist (Gergen 1996: 29). Das fördere einen Pluralismus der Meinungen und führe zu einer Auflösung des einheitlichen Selbst. Abgesehen von dem hohen Abstraktionsgrad dieser Behauptungen vertritt Gergen hier einen Technikdeterminismus: Die Technologien wachsender Mobilität und Kommunikation verursachen eine soziale Sättigung, Fernsehen und Telefon zwingen uns gewissermaßen zu immer oberflächlicheren Beziehungen, und das höhlt schließlich auch unser Selbst aus. Die Technologien des 20. Jahrhunderts führen zu einer Reizüberflutung, die das bisherige soziale Leben und die Vorstellung von uns selbst als einer konsistenten Einheit zerstört. Für viele von uns, so glaubt Gergen (1996: 16), entstehen auch dadurch ernsthafte Probleme, dass „kleine und bleibende Gemeinschaften, mit einer begrenzten Gruppe wichtiger Personen, durch ein gewaltiges und sich stetig vergrößerndes Ausmaß von Beziehungen ersetzt“ werden. Die Unübersichtlichkeit macht uns zu schaffen, wir sind überfordert von den vielen Kontakten, weil wir dafür eigentlich nicht geschaffen sind – aber wir sind diesem Sog fast hilflos ausgeliefert. Für manche Personen allerdings sei das eher positiv. „Neue Technologien machen es möglich, Beziehungen – entweder direkt oder indirekt – mit einer immer größer werdenden Reihe von Personen aufrechtzuerhalten“ (ebd.: 24). Gergen versäumt allerdings zu sagen, unter welchen Bedingungen die Vervielfältigung von Beziehungen eher positiv oder eher negativ ist.
9. Globale Netzwerke oder Rückzug in lokale Gemeinschaften? In der optimistischen Variante des postmodernen Diskurses findet sich auch die Vorstellung, mit dem Mobiltelefon könne jedes Individuum weltweit ein flexibles, mobiles individuelles Netzwerk aufbauen, unter Umgehung formalisierter Strukturen und institutioneller Kontrollmechanismen (Geser 2005a, b). In der schönen neuen Welt der grenzenlosen Kommunikation können die Menschen jederzeit und überall miteinander kommunizieren. Man kann mit der ganzen Welt Kontakt aufnehmen, die zu einem global village zusammenschrumpft. Auf der anderen Seite findet sich eine gegensätzliche Auffassung, manchmal sogar im selben Text (Geser 2005b: 24), der zufolge das Handy den Rückzug in die eigene lokal-partikulare Welt fördere und die Außenkontakte reduziere. In der Tat bezieht sich die überwiegende Mehrheit der telefonischen Kontakte auch beim Handy, wie wir aus der empirischen Forschung wissen, nicht auf Fremde oder globale Freunde, sondern auf die sehr vertraute, lokale Nahwelt (Gournay/Smoreda 2003). So gesehen, fördert das Mobiltelefon nicht globale, sondern lokale Netzwerke. Es trägt dann sogar dazu bei, dass sich seine Benutzer gegen die Öffentlichkeit und die Außenwelt abschirmen. Der Widerspruch zwischen den Polen des virtual global village und des real local village lässt sich auflösen, wenn der Technikdeterminismus aufgegeben und eine Differenzierung
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nach sozialen Gruppen und Lebensstilen vorgenommen wird. Das gilt auch für die bereits erwähnten Überlegungen Gergens. Die mobile Kommunikation eröffnet zwar neue globale Möglichkeiten, im Prinzip für alle. Aber bestimmte Bevölkerungsgruppen nutzen sie nicht, weil es ihnen an kulturellem und sozialem Kapital fehlt, an der Möglichkeit des Zugangs zu wichtigen sozialen Netzwerken.8 Es ist eine Sache, wenn Jetsetter wie Gergen oder Geschäftsleute das Handy nutzen, die berufliche Kontakte in der ganzen Welt haben und auf das mobile Internet angewiesen sind. Eine andere Sache ist es, wenn wir es mit Akteuren zu tun haben, die sich überwiegend in ihrer alltäglichen Lebenswelt aufhalten, wo die Telefonkontakte sich weitgehend auf die Mikro-Organisation dieser Nahwelt beschränken. Es ist eben nicht die Technik als solche, die unser Verhalten bestimmt. Das Mobiltelefon lässt beide Möglichkeiten offen: sowohl eine Ausrichtung an globalen Netzen als auch die Abschottung der eigenen Welt gegenüber dem Fremden. In welche Richtung es dann geht, hängt wesentlich davon ab, in welchen Lebensstil und welches Sozialmilieu die Akteure eingebunden sind. Das gleiche Problem ergibt sich bei der Auffassung, man könnte mittels des Mobiltelefons die modernen Ordnungsstrukturen aushebeln, weil Institutionen zunehmend auf feste Zeitstrukturen und formale Abläufe verzichten würden (Katz/Aakhus 2002, Geser 2005a,b). In der Tat werden mit dem Mobiltelefon manche institutionellen Regelungen überflüssig, Planungsabläufe können ständig korrigiert werden. Auch die Arbeitswelt lässt sich flexibler organisieren. Die Antwort auf die Frage allerdings, wer davon am meisten profitiert, hängt auch davon ab, ob man zum Beispiel den Werbeanzeigen von Microsoft glaubt, in denen es heißt: „Mit Windows Mobile entscheiden Sie selbst, wann, wo und wie Sie arbeiten wollen.“ Wie Boltanski/Chiapello (2003) und andere gezeigt haben, sind Leistungsdruck und Kontrolle im neuen Kapitalismus nicht etwa zurückgegangen, sondern eher gestiegen. Sie sind aber flexibler geworden und scheinen den Bedürfnissen nach persönlicher Entfaltung stärker entgegenzukommen. Das Mobiltelefon verändert manche Kontrollmechanismen, aber dass es sie aufheben könnte, ist eine Illusion. Es lässt sich vielmehr zeigen, dass mit dem Handy eine Reihe neuer Kontrollmöglichkeiten aufgekommen sind, sowohl in privaten Beziehungen als auch in der Arbeitswelt, wo sich mancher Arbeitnehmer die Flexibilisierung seiner Arbeitszeiten mit permanenter Rufbereitschaft in der Freizeit erkaufen musste.
10. Inszenierung des mobilen Selbst oder rituelle Vergemeinschaftung? Mit dem Handy können Tendenzen der Individualisierung unterstützt werden. War das Telefonieren früher – als der Apparat zum Beispiel fest an einer Stelle in der Diele angebracht war – häufig eine familienöffentliche Angelegenheit, so befördern die neuen technischen Möglichkeiten eine Individualisierung und Privatisierung des Telefonierens. Das Mobiltelefon ist ein persönliches Telefon, und mancher gibt seine Handy-Nummer nur an wenige
8 Bourdieu (1983), Rifkin (2000).
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ausgewählte Personen weiter. Auch das alte Haus- und Familientelefon wurde inzwischen individualisiert, häufig hat jede Person ihren eigenen Anschluss. Schließlich lassen sich solche Tendenzen auch auf der semantischen Ebene feststellen. Eine britische Studie ergab, dass das Gerät mit Aspekten assoziiert wird, die man auf die Formel „perpetual reinvention of the individual“ bringen kann (Nafus/Tracey 2002: 206). Nun wäre es sicher übertrieben, das Handy als Biographiegenerator im Sinne von Alois Hahn zu bezeichnen. Es ist auch keine neue Institution der Selbstthematisierung. Aber vielleicht trägt es doch ein Stückweit dazu bei, die Aufmerksamkeit für die öffentliche Inszenierung des Selbst zu erhöhen. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, dass mit dem Mobiltelefon unter bestimmten Umständen Vergemeinschaftungstendenzen gefördert werden und das Mobiltelefon zur Konstruktion und Stabilisierung von Gruppen beiträgt. Untersuchungen über den HandyGebrauch bei Jugendlichen zeigen, dass mit dem Gerät darüber entschieden wird, wer zur Gruppe dazu gehört und wer nicht – etwa, wer im Adressbuch bei den wichtigen Leuten steht oder wer an SMS-Netzwerken partizipieren darf (Ling 2004, Harper/Gosset 2005, Feldhaus 2004). Wer bei einer abendlichen Verabredung dabei sein will, muss ständig ans Kommunikationsnetz der Gruppe angeschlossen bleiben. Als ich neulich in einem Regionalzug durch die Weiten des norddeutschen Flachlandes fuhr, saßen mir drei Kinder gegenüber, die gewissermaßen die Dialektik von Individualisierung und ritueller Vergemeinschaftung perfektioniert hatten. Sie saßen nebeneinander, und jedes Kind blickte verzückt auf sein Handy-Display, aber sie kommunizierten ständig miteinander, durch Lachen, durch flüchtige Seitenblicke, durch kurze Kommentare, während jeder für sich gebannt auf sein display schaute. Jeder spielte für sich, und doch spielten sie zusammen. Ich saß ihnen gegenüber und spielte einsam und alleine, bevor ich mich dann wieder an die Fertigstellung dieses Manuskripts machte – was in diesem speziellen Fall die Aufnahme einer besonderen Form der Kommunikation mit einem anwesenden Abwesenden darstellte.
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Wissen Live: Sitzordnung, Performanz und Powerpoint Hubert Knoblauch
1. Einleitung Ein Vortrag [lecture] ist eine institutionalisierte Form, das Wort zu ergreifen, in der ein Sprecher seine Ansichten über einen Gegenstand mitteilt, wobei seine Gedanken das bilden, was man als seinen »Text« bezeichnen könnte. Der Stil ist üblicherweise ernst und ein bisschen unpersönlich. Dabei herrscht die Absicht vor, etwas zu erzeugen, das man ruhig Verstehen nennt, also nicht nur Unterhaltung, emotionale Anregung oder Anstiftung zum Handeln. Die dafür herangezogenen Äußerungen erheben einen gewissen Anspruch auf Wahrheit, wobei Wahrheit als etwas erscheint, das kühl und aus der Distanz kultiviert und entwickelt werden muss – als ein Ziel, das um seiner selbst Willen verfolgt wird. Damit ist häufig ein Bühnenformat verbunden, das dem Umstand Rechnung trägt, dass die Zuhörer ein »unmittelbares Publikum« darstellen. Ich meine damit eine anberaumte Zahl an Individuen, die in der Regel sitzen. Ihre Zahl kann sehr unterschiedlich sein, ohne dass sie einen Einfluss auf den Stil des (in der Regel stehenden) Sprechers hätte. Das Publikum hat dabei das Recht, den ganzen Körper des Sprechers als den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit anzustarren (wie sie es auch bei einem Unterhalter tun würde); zudem steht dem Publikum lediglich der Rückkanal als Antwortmöglichkeit zur Verfügung. Diejenigen, die vor einem Publikum auftreten, werden Vorführende [performer] genannt, und was sie tun, nennt man eine Vorführung [performance] – im spezifisch theatralischen Sinn des Wortes.
Die Definition des Vortrags von Erving Goffman (1984: 165) bietet eine glänzende Einführung in das Thema dieses Beitrags, der sich mit Vorträgen beschäftigen wird: der Vortrag ist eine vom alltäglichen Gespräch deutlich unterschiedene Gattung, der sich – neben der besonderen Form der Interaktion zwischen Sprecher und Publikum – durch eine besondere Theatralität auszeichnet. Es ist für den weiteren Fortgang hervorzuheben, dass Goffman den Vortrag als eine Performance – und die Vortragenden als „performer“ bezeichnet, wollen wir doch den Begriff der Performance als analytischen Ausgangspunkt unserer Betrachtung wählen. Allerdings werden wir uns im Folgenden nicht mit dem von Goffman analysierten, zwischen „fresh talk“ und schriftlichem Text wechselnden Vortrag beschäftigen. Im Mittelpunkt der Arbeit soll vielmehr die Frage stehen, was mit dieser Gattung des Vortrags geschieht, wenn elektronisch gestützte audiovisuelle Hilfsmittel eingesetzt werden. Gemeint sind damit transparente Folien, vor allem aber die computergestützten Präsentationsprogramme (Apples Keynote, Microsofts PowerPoint, Open Office Impress, Adobe Acrobat, Corel Presentations und viele weitere), unter denen Powerpoint sicherlich das bekannteste sein dürfte (weil der
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Name nicht für die Marke, sondern für die Art des Computerprogramms stehen soll, wird im Weiteren nicht der Schreibweise der eingetragenen Handelsmarke gefolgt.) Was, so möchte ich fragen, geschieht mit dieser Gattung durch die Erweiterung um Powerpoint und andere visuelle Technologien? Nach einer Diskussion des zentralen analytischen Begriffes der Performanz möchten wir uns hier auf einen besonderen Aspekt solcher Vorträge konzentrieren, nämlich ihre räumlichgegenständliche Rahmung. Im Vordergrund also stehen Räume und Technologien.
2. Performanz und Performance Sind die „performance studies“ im angelsächsischen Raum schon etabliert, so hat sich die „Performanz“ auch im deutschsprachigen Raum zu einem eigenständigen Thema der Forschung entwickelt, das vor allem im Rahmen der Kulturwissenschaften behandelt wird. Der Begriff der „Performanz“ beschränkt sich allerdings keineswegs nur auf die Literatur-Theater- und Kunstwissenschaft, wo die „Performance“ ja als eigene Gattung besteht (Schechner 1988). Vielmehr erhielt der Begriff der Performanz seine Prägung in einem linguistischzeichentheoretischen Zusammenhang: So verwendet Austin (1962) das „Performativ“ für besondere Sprechakte, in denen das Reden eine sozial sichtbare Wirkung zeitigt (z.B. „Ich taufe dieses Schiff auf den Namen“). Ebenso einflussreich ist Chomskys (1965) linguistische Unterscheidung zwischen „competence“ als dem grammatischen Wissen und „performance“ als der Ausführung dieses Wissens im alltäglichen Sprechen. Diese linguistisch-zeichentheoretischen Vorgaben prägen auch die jüngere Diskussion um die „performance“, die mittlerweile solche Dimensionen angenommen hat, dass von einer „performativen Wende“, ja von einem performativen Paradigma die Rede ist. Einen wichtigen Beitrag dazu liefert zweifellos die amerikanische Philosophin Judith Butler. In ihren Arbeiten (Butler 1991) argumentiert sie, dass es sich etwa beim Geschlecht nicht um eine feststehende Kategorie handelt, sondern um etwas, das erst kulturell durch wiederholte Handlungen, Stilisierungen und Aktivitäten gleichsam realisiert werde, die sie als „Performance“ bezeichnet. Diesen Begriff weitet sie auch auf andere Kulturphänomene aus, deren Bedeutung ihnen erst im Kontext ihrer performativen Realisierung zuwachse (Butler 1997). Aus soziologischer Sicht ist es etwas verwunderlich, dass die Diskussion um die Performanz nicht nur die ethnomethodologischen und sozialkonstruktivistischen Theorien des Geschlechts übergeht, die das Geschlecht ebenso wie die soziale Wirklichkeit als etwas betrachtet, das erst im Kontext durch Handlungen erzeugt wird (Wirth 2002). Verwunderlich ist auch, dass selbst im angelsächsischen Raum wesentliche Vorläufer des Konzeptes der Performance häufig übergangen werden. So findet zwar Goffmans „Rahmen-Analyse“ zuweilen Erwähnung; unerwähnt bleibt jedoch, dass der Begriff der „performance“ schon im Mittelpunkt der frühesten dramaturgischen Untersuchungen Goffmans steht.1 Ebenso ver1 Vgl. Goffman 1980 (1959); ein Grund dafür mag sein, dass die deutsche Übersetzung (1983) von „Darstellungen“ spricht.
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wunderlich ist, dass die mit Goffman keineswegs unverbundene Forschungstradition der „Ethnographie der Kommunikation“2 ausgeblendet bleibt, die sich seit Beginn der 1960er Jahre damit beschäftigt, nicht nur über Performances zu reden, sondern sie zum Gegenstand empirischer Untersuchungen zu machen.3 Schon 1975 betonte Hymes die paradigmatische Bedeutung dieser vor allem ethnopoetischen Forschung, indem er von einem „breakthrough into performance“ sprach – und sein Appell wurde aufgenommen, betrachtet man sich den Umfang der Forschung in diesem Bereich, wie sie etwa von Bauman und Briggs (1990) skizziert wird. Performance, so betont Hymes, besteht keineswegs nur in der Handlung, sondern in der Ordnung der Kommunikation in Situationen sozialen Handelns – und damit auch der Ordnung der Situation selbst. Hymes möchte damit vor allem betonen, dass die Ausführung von Handlungen eine eigene Ordnung aufweist, die sich vom System der sprachlichen Zeichen (das von der Linguistik und der Semiotik untersucht wird) unterscheidet. Es handelt sich um eine soziale Ordnung der Situationen, in denen gesprochen wird, die in der Ethnographie der Kommunikation als „Sprechereignisse“ („speech events“) bezeichnet werden. Als Merkmale der Sprechereignisse erwähnt Hymes (1979) neben den sprachlichen Formen die Teilnehmer, die Kanäle und Codes, den Rahmen, die Normen der Deutung, die Ziele und Ergebnisse sowie die zeitlichen Muster. Hymes wendet sich dabei ausdrücklich gegen die Annahme Chomskys, „performance“ sei lediglich eine abweichende und unvollständige Verwirklichung des idealen Regelwerks der Sprache, die voller Fehler und Verzerrungen sei, weil sie von grammatikalisch irrelevanten Faktoren beeinflusst werde. Vielmehr forderte er dazu auf, die eigenständige Ordnung des Sprechens und Kommunizierens zu erforschen. Dieser Aufforderung folgte nicht nur die Ethnographie der Kommunikation, sondern auch die Konversationsanalyse oder die Gattungsanalyse (vgl. Knoblauch 1995). Sofern diese grundlegende Auffassung auch von der neueren Performance-Theorie geteilt wird, bestehen wenige Einwände dagegen, in diesem Zusammenhang auch von Performance bzw. Performanz zu reden. Allerdings sollte man die allgemeine theoretische Aussage, dass kulturelle Bedeutungen in körperlichen oder medialen Handlungen realisiert werden, die iterativ sind4, von dem unterscheiden, was man als „Performance“ im engeren Sinne und sehr absichtlich mit dem amerikanischen Lehnwort bezeichnen kann: Kommunikative Situationen, in denen das Vorführen als ausdrückliches Ziel besteht. Mit dem Kulturanthropologen Milton Singer werden solche Situationen als „cultural performance“ bezeichnet, also „particular instances of cultural organization, e.g. weddings, temple festivals, recitations, plays, dances, musical concerts etc.“ „For the outsider, these can conveniently be taken as the most concrete observable units of the cultural structure, for each performance has a definitely limited time span, a beginning and end, an organized programme of activity, a set of performers, an audience and a place and occasion of performance“5. Um
2 Ganz entscheidend für diese hierzulande häufig übersehen Verbindung war eine Tagung, an der neben Soziologen wie Goffman und Garfinkel auch anthropologische Linguisten wie Hymes und Gumperz teilnahmen. Vgl. Hymes und Gumperz 1964. 3 Vgl. das Kapitel „Attitudes toward Communicative Performance“ in Saville-Troike (1982). 4 Dieses von Butler betonte Merkmal der Wiederholung wird gerne mit der Ritualtheorie in Verbindung gebracht; aus der Perspektive der soziologischen Handlungstheorie erscheint es als wenig originell, ist es doch eines der Merkmale der Routinisierung und Institutionalisierung. 5 Singer, Milton, 1959: Traditional India. Structure and Chance. Philadelphia XIIf.
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solche anberaumten und stark organisierten kollektiven Ereignisse zu bezeichnen, möchte ich den Begriff der Performance vorschlagen (oder, wie man im Deutschen sagen könnte: Vorführungen; vgl. Knoblauch 1995: 179ff), den man deutlich von dem unterscheiden sollte, was oben als „Performanz“ bezeichnet wurde.6 Für die allgemeine Rede von Performanz wie die von Performance scheint der situative Realisierungscharakter von Wirklichkeit von besonderer Relevanz zu sein. Diese Relevanz darf keineswegs nur – wie es häufig in der Performance Theory der Fall ist – theoretisch gefordert werden. Im Sinne von Goffman und Hymes erfordert es gerade der Begriff der Performanz, die prozessual entstehende Ordnung erst aufzuzeigen, da sich diese ja nicht (wie etwa der Strukturalismus und weite Bereiche der Semiotik meinen) in den kontextfreien Zeichen erschöpft, sondern gerade erst in der Realisierung (eben der „Performanz“) ihre eigentliche Ordnung erst entfaltet. Genau dies soll im Folgenden geschehen. In diesem Beitrag soll eine besondere Form der „Performance“ untersucht werden. Dabei handelt es sich um die Art der audiovisuell unterstützten Präsentation, die im Volksmund auch als Powerpoint-Präsentation bezeichnet wird (Powerpoint bietet dafür zwar die marktbeherrschende, aber keineswegs einzige Software). Da es sich bei den Präsentationen generell um vortragsähnliche Publikumsereignisse handelt, die besonders anberaumt werden, haben wir es schon kategorisch mit etwas zu tun, das wir hier als „performance“ bezeichnen können – ja sogar als kulturelle Performance im Sinne Singers. Überdies aber soll auch die „Performanz“ in dieser „performance“ untersucht werden. Es soll also hier um die Frage nach der situativ geschaffenen Ordnung dieser Veranstaltung gehen. Freilich können dabei nicht alle situativ relevanten Aspekte betrachtet werden. Während schon an anderer Stelle die wesentlichen Merkmale der körperlich-gestischen Performanz analysiert wurden (Knoblauch 2008), konzentriert sich der folgende Hauptteil der Untersuchung auf die sozialräumlichen Aspekte der Performanz. Denn diese Aspekte sind wesentlich dafür verantwortlich, dass wir von einem Bühnenformat im Sinne einer „Performance“ reden können. Zudem zählen diese Aspekte gemeinhin zu dem „zeichenhaften“ Kontext, der nicht als Teil von Handlungsvollzügen selbst betrachtet wird. Es lässt sich hier also exemplarisch die Frage nach der Tragweite des Performanz-Begriffes stellen: Ist die Performance ausschließlich Vollzug7, oder erfordert sie eine situationsüberschreitende Regelung durch Zeichen und Institutionen?8
6 Diese Unterscheidung verläuft also deutlich anders als die von Fischer-Lichte (2003), der zufolge sich Performanz einmal auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im ‚Akt des Schreibens‘ oder auf die Konstitution von Imaginationen im ‚Akt des Lesens‘ bezieht. 7 Die Situativität der „Performance“ verleitet einige Autoren dazu, ihr eine neue Form der Authentizität zuzuschreiben, die andere Arten von Kunstwerken und, wie man sagen dürfte, kultureller Produktionen insgesamt schon längst verloren hätten. Vgl. dazu Mersch 2002. 8 Aus soziologischer Sicht geht es hier um die Differenz zwischen einem situationalistischen (?) radikalen Konstruktivismus, wie er etwa von Butler oder der Ethnomethodologie vertreten wird, und einem gemäßigten Sozialkonstruktivismus, wie er sich bei Berger und Luckmann oder Goffman findet.
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3. Die soziale Anordnung der Präsentation als Rahmung Wenn man den Powerpoint-Vortrag als Performanz untersucht, sollte man von kommunikativen Mustern reden, die hier verwendet werden. Dazu gehören keineswegs nur die „Sprechakte“ der Redner, sondern auch die Formen der Interaktion mit dem Publikum. In diesem Beitrag möchte ich mich jedoch, wie schon betont, lediglich auf diejenigen Aspekte der Präsentationen konzentrieren, die zwar Teil der Handlungssituation sind, zugleich aber die sprachlichen und körperlichen kommunikativen Handlungen sowie Interaktionen gleichsam begleiten. Es geht mir also um die sozialräumliche Ordnung oder, genauer, „Anordnung“ der Powerpoint-Präsentation. Ähnlich wie beim Theater handelt es sich hier um die Anordnung von Bühne und Publikum, die Requisiten und Ausstattungselemente, auf die das Augenmerk gelegt werden soll. Man könnte hier auch von „Inszenierung“ sprechen9, wäre dieser Begriff in der Soziologie nicht mit einer sehr viel weiteren Bedeutung versehen.10 Der alltagssprachliche Begriff der „Anordnung“, den ich hier vorschlagen möchte, entspricht dem, was wir hier beschreiben am ehesten, weil er zum einen auf die sozialräumlichen Aspekte verweist, zum zweiten deutlich macht, dass es um Handlungsprodukte geht, und drittens auf ihre Geordnetheit und damit Sinnhaftigkeit verweist. Dass solche Anordnungen keineswegs nur „äußerlicher Kontext“ von Handlungen sind, betonte Goffman mit dem Konzept der Rahmung. Von Rahmungen redet Goffman auch dann, wenn „konkrete, wirkliche Vorgänge (die für sich schon sinnvoll sind) als Ausgangsmaterial für Transformationen [benutzt werden]: Spaß, Täuschung, Experiment, Probe, Traum, Phantasie, Ritual, Demonstration, Analyse und milde Gabe“ (Goffman 1977: 602). Diese Transformationen kommen keineswegs von selbst zustande, sondern müssen mit bestimmten konventionellen Mitteln vollzogen werden, die wir auch als Rahmungselemente bezeichnen können. Wie Goffman anhand des Gesprächs selbst aufzeigt, können solche Rahmungen durch sprachliche Mittel erzeugt werden. Zur Rahmung zählen aber auch andere Handlungsmuster. So habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht, welche Rolle die Möglichkeit des körperlichen Zeigens und der Körperformation spielt, um die Eigenheit von Powerpoint-Präsentationen zu bestimmen (Knoblauch 2006). In diesem Beitrag möchte ich mich auf einen anderen Aspekt der Situation beziehen, der häufig vernachlässigt wird: Der Raum als Medium der Kommunikation sowie die darin befindlichen Medien. Von Raum rede ich hier keineswegs als einem vorsozialen Gebilde, sondern als Ordnungen von menschlichen Körpern und Dingen. Da Performanz an Körper gebunden ist, geschieht sie immer in einem räumlichen Zusammenhang. Gerade für die Betrachtung herausgehobener theatraler Performativität bzw. der Inszenierung ist die Räumlichkeit ja von besonderer Bedeutung, zeichnet sich diese doch durch die Differenz von „Vorderbühne“ und „Hinterbühne“ aus. Deswegen möchte ich anhand der Powerpoint-Präsentation die Frage stellen, wie die sozialräumliche Ordnung als Rahmung für diese Art der Veranstaltung wirkt. 9 Fischer-Lichte (2003) betont Performanz als „Vollzug von Handlungen“ und unterscheidet zwischen Theatralität als Wahrnehmungsmodus bzw. als rezeptionsästhetische Kategorie vs. Theatralität als Modus der Zeichenverwendung durch Produzenten und Rezipienten; Performance als Vorgang einer Darstellung durch Körper und Stimme vor körperlich anwesenden Zuschauern, Inszenierung als spezifischer Modus der Zeichenverwendung in der Produktion und Korporalität, die sich aus dem Faktor der Darstellung bzw. des Materials ergibt. 10 Vgl. Willems (1998); vor allem Soeffner (1989) verwendet den Begriff in einem Sinne, der sich weitgehend mit dem deckt, was hier als Performanz bezeichnet wird.
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3.1 Die Präsentation Wenn wir uns mit Powerpoint-Präsentationen beschäftigen, sollten wir vorab betonen, dass es sich um Sprechereignisse handelt, in denen technische Geräte verwendet werden. Für unsere Zwecke ist es keineswegs zwingend, dass dabei auch die Software der Marke „PowerPoint“ zum Einsatz kommt. Gegenstand der Untersuchung sind vielmehr Vorträge, die mit verschiedenen audiovisuellen Technologien unterstützt werden, wie Flip-Charts, Diapositive, Overhead-Folien und, in den meisten Fällen, Beamern und Laptops mit einer Präsentationssoftware. Unter Präsentationen verstehen wir generell mündliche Vorträge eines Hauptsprechers vor einem Präsenzpublikum unter Einsatz solcher audiovisueller Technologien.11 Vorträge stellen sehr klare Fälle für das dar, was Goffman als „fokussierte Interaktion“ bezeichnet: Die Redner stehen in einem von Raumanordnung, Sitzordnung und Aufmerksamkeitszuwendung der räumlich Anwesenden markierten Mittelpunkt, der zuweilen noch mit anderen Merkmalen eines „Bühnenformats“ ausgestattet ist: Ein Pult, eine besondere Beleuchtung, zuweilen sogar eine richtige „Bühne“ bzw. ein Podium. Die technische Ausstattung nun verstärkt dieses Format keineswegs auf eine unschuldige Weise, wie dies etwas beim Mikrophon der Fall zu sein scheint. Zwar kann das Laptop sehr beiläufig platziert sein, zuweilen (wenn die Folien von einer Konferenzzentrale eingespeist werden) sogar aus dem Vortragsraum ausgelagert sein. Dagegen erzeugen der Beamer (oder der Tageslichtprojektor bzw. die Flipchart) sowie die Leinwand (zuweilen auch nur die bloße, als Leinwand genutzte Wand) einen eigenen Fokus, der sich von dem konventioneller Vorträge deutlich unterscheidet: Steht dort die Sprecherin im Mittelpunkt (wie dies auch durch die „Gesichtsformation“ der „Zuhörer“ angezeigt ist, die ihre Körper auf sie ausrichten), so steht nun (auch?) die visuelle Präsentation im Mittelpunkt. Präsentationen sind deswegen nicht identisch mit Vorträgen; das wird auch in der Alltagssprache und der Ratgeberliteratur immer deutlicher, die die „Präsentation“ zunehmend als eigene Gattung aufführen. Für die weiteren Ausführungen sollte man jedoch beachten, dass zwischen beiden Formen fließende Übergänge bestehen: Vorträge können marginale Visualisierungen einsetzen, ohne jedoch ihren Vortragscharakter einzubüßen. Die Visualisierungen (z.B. eine Gliederung oder eine einzelne Folie) wirken dann wie eine Hintergrundtapete. Beide Formate können auch gleichzeitig und kaum verbunden auftreten, wie etwa beim schriftlichen und vorgelesenen Habilitationsvortrag, der durch eine Folienpräsentation „illustriert“ wird. Von einer Präsentation reden wir hier jedoch vor allem mit Blick auf den „klaren Fall“, dass eine Folienpräsentation mundsprachlich in einer noch näher zu bestimmenden Art der „freien Rede“ (unterstützt durch Folienausdrucke, Blick auf den Bildschirm oder Notizen) erläutert wird.12 Obwohl es sich in beiden Fällen um „Vorträge“ handelt, sollte man doch unterschieden zwischen dem textgestützten Vortragsformat und dem bildgestützten Präsenta-
11 Der erstaunlicherweise kaum untersuchte Einsatz der Tafel bildet sicherlich einen Ausgangspunkt solcher Präsentationen; es bleibt jedoch zu untersuchen, ob besonders die im Prozess des Vortragens erstellten Tafelbilder tatsächlich zur selben Gattung wie die computergestützten Präsentationen gehören. 12 Die besonderen Gattungsmerkmale der Präsentation in der Ratgeberliteratur hat Marion Mackert (2005) herausgearbeitet.
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tionsformat. Vom Zweiteren soll in der Folge die Rede sein. (Freilich gibt es zwischen beiden fließende Übergänge, auf die wir zu sprechen kommen werden.)13 Dass die Leinwand bei Präsentationen meistens einen Mittelpunkt bildet, wird gelegentlich durch eine gewisse Dezentrierung des Sprechers noch verstärkt: Während die Leinwand oder das Bild die Mitte der Blickwand okkupiert, stellt oder setzt sich der Sprecher daneben und wird zuweilen sogar durch eine die Hervorhebung der Leinwand fördernde Verdunkelung des Raumes noch zusätzlich ausgeblendet. Die Eigenart der Präsentation wird in manchen Fällen noch verstärkt, wenn Leinwand und Sprecher räumlich auseinandergelegt werden: Die Sprecherin steht am einen Ende des Raumes, während die Leinwand das andere Ende beleuchtet.
Leinwand
Beamer
I
= Redner = Publikum
Schaubild 1: „Bifokale Präsentation“
Dieser keineswegs einzigartige Fall veranschaulicht die Bifokalität der Präsentation: Neben der Sprecherin steht auch die Leinwand im Mittelpunkt des Interesses. Diese Bifokalität findet ihren Ausdruck in einer entsprechenden Handlungsweise des Publikums, das mit sehr auffälligen Kopfdrehungen zwischen dem einen Fokus und dem anderen wechselt. Noch stärker fällt die Bedeutung des „präsentativen“ Charakters dann auf, wenn der Sprecher vollständig aus dem Blick entschwindet und im Rücken des Publikums steht, das nun alleine auf die Leinwand ausgerichtet ist. Solche Ausrichtungen sind keineswegs folgenlos, entfällt doch in diesem Fall die Möglichkeit für den Sprecher, selbst zeigen zu können – eine Tatsache, die er durch aufwändigere 13 Ich möchte mich an dieser Stelle bei Anika König und Felix Degenhardt bedanken, die mir bei der Analyse einer ansehnlichen Zahl von Veranstaltungen beigestanden haben und die zu der graphischen Gestaltung ebenfalls beitrugen.
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sprachliche Prozeduren ausgleichen muss. Dazu gehören nicht nur deiktische Formulierungen, sondern vor allem auch Formen des „Zeigens zweiter Ordnung“ (Knoblauch 2006), also der Verweis auf Erkennungswörter sowie Parallelisierungen von bildlich visualisierten und sprachlichen Konstruktionen. Auch die Bifokalität der Präsentation bleibt nicht ohne Auswirkungen: Das Publikum trägt ihr durch dauernde Kopfwendungen Rechnung, die zwar vom Redner beeinflusst (etwa durch Deixis und Zeigen), jedoch nicht geleitet werden können. Diese Beispiele machen schon deutlich, dass die Anordnung des Raumes bzw. die Anordnung von Menschen und Dingen im Raum keineswegs folgenlos sind für die Präsentation selbst. Ob wir es mit einem „interaktiven“ oder einem monologischen Merkmal zu tun haben, steht in einem engen Zusammenhang mit dieser Anordnung. Gewisse Merkmale des Textes sind von der Anordnung abhängig, die sich auch auf das, was mit der Rede getan wird (also das, was man rhetorisch die „Funktion“ nennt), auswirkt. Allerdings ist das Verhältnis von Anordnung und Rede mit Begriffen wie „abhängig“, „Auswirkung“ und „Zusammenhang“ etwas irreführend, unterstellen sie doch eine vorgängige Trennung beider Aspekte, die dann kausal oder sinnhaft aufeinander bezogen werden müssten. Vielmehr sollten wir die Präsentationen als umfassende Sprechereignisse verstehen. Diese Sprechereignisse weisen zwar Unterschiede auf, die jedoch nicht von einzelnen Merkmalen bestimmt werden. Sofern sie Unterschiede aufweisen lassen sich diese bestenfalls an Merkmalskombinationen festmachen, die man als Rahmungsmerkmale oder Markierungen bezeichnen kann. Ich möchte zunächst einige solcher Markierungen beschreiben, bevor ich darauf zurückkomme was mit diesen Markierungen gerahmt wird.
3.2 Sozialräumliche Markierungen der Präsentation Auch wenn Zuhörer und Redner eine gewisse Bewegungsfreiheit haben, so bewegen sie sich doch in einem architektonisch geprägten Gebilde, das recht starke Rahmungen für Präsentationen vornimmt. Als Musterbeispiel dafür kann einmal der innenarchitektonisch auf Präsentationen spezialisierte Raum gelten, in dem Beamer, Leinwand, Verdunkelung und andere technische Geräte fest installiert sind. Solche Räume finden wir in Konferenzgebäuden, aber auch in anderen Einrichtungen, wie etwa Universitäten oder Ämtern.
Blick ins Publikum zweier formaler Veranstaltungen (eingebaute Beamer, feste, frontale Sitzordnung, formale Kleidung etc.)
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Am gleichsam unteren Ende der architektonisch spezialisierten Skala finden wir Räume, in denen die Präsentationen improvisiert erscheinen: Beamer werden auf Stühle oder Tische gestellt und mit Büchern justiert, Leinwände fehlen oder werden behelfsmäßig aufgestellt, das Publikum muss die Sitzgelegenheiten selbst ausrichten.
Zwei eher informelle Veranstaltungen (improvisierte Anordnung, nicht befestigte Apparaturen, informelle Kleidung14)
Beide Fälle erscheinen als Endpunkte eines Kontinuums, in dem auch andere als die architektonischen Rahmenbedingungen variieren. So sieht man etwa am „oberen Ende“ der Skala, dass Veranstaltungen in formal für Präsentation gestalteten Räumen häufig auch in anderer Hinsicht stark formalisiert sind: Die Sitzordnung ist dort in der Regel geometrisch und zumeist frontal, die Kleidungsordnung ist gehoben und formal, und auch die Interaktionsmuster sind in einem sehr starken Maße formalisiert: Die Präsentationen weisen klare Grenzen zwischen Reden und Publikumsbeiträgen auf, die von Rednern oder speziellen Moderatoren „gemanagt“ werden (Publikumsbeiträge werden aufgerufen und durch Bedankung ratifiziert). Am unteren Ende haben wir es dagegen mit Präsentationen in Räumen zu tun, die auch für andere Handlungsmuster genutzt werden: Seminarräume, Versammlungsräume oder sogar nur große Büros. Obwohl auch diese Präsentationen anberaumt und vereinbart, also formal organisiert sind, haftet ihnen im Schnitt eine gewisse Informalität an: Die Kleiderordnung ist weitaus legerer; die Sitzordnung ist stark gelockert, und auch die Interaktionen zwischen Sprecher und Publikum durchbrechen die Schranken zwischen „Präsentation“ und „Diskussion“: Publikumsfragen während des Vortrags, Unterbrechungen und Einwürfe sind durchaus möglich. Die Bandbreite zwischen formalen und informellen Präsentationen steht zwar in einem Zusammenhang mit ihrer Größe – größere Veranstaltungen neigen aus verständlichen Gründen zur Formalisierung, da Ordnung hier schwerer interaktiv herstellbar ist. Allerdings 14 Dass der Redner im ersten Fall eine Krawatte trägt, hängt mit dem „freiwirtschaftlichen“ Kontext zusammen, in dem die Veranstaltung stattfindet; der Umstand, dass er kein Jackett trägt, ist schon Ausdruck für Informalität in diesem Bereich.
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finden sich Formalisierungen auch bei kleineren Veranstaltungen: Seminarräume in Wirtschaftsorganisationen oder besonders ausgestattete Lehrräume in Universitäten zählen dazu. Doch auch sie orientieren sich an den Extremen der Formalität und Informalität. In diesen Fällen sind ebenfalls einige, aber keineswegs alle Merkmale formalisiert. Während es in Wirtschaftsorganisationen die Kleidungsordnung und die Technik sein kann, können etwa die Interaktionsmuster informeller sein.15 Sowohl die Sitzordnung wie auch ihre informelle oder formale Ausgestaltung ähneln einer anderen Lehr- und Lernsituation: der Schule. Auch hier finden wir die frontale Sitzordnung mit geometrisch vereinzelten Hörern und einem Primärsprecher, der sich unterschiedlicher technischer Hilfsmittel bedienen kann. Und auch hier finden wir informelle Anordnungen (wie sie sich vor allem seit den 1970er Jahren ausgebreitet haben).16 Im Unterschied zu anderen kulturellen Publikumsformaten, wie etwa dem Theater, dem Kino oder dem Konzert, weisen die Präsentationen häufig (wenn auch nicht immer) einen doppelten Ort der Publikumsbeteiligung auf: Das Publikum darf nicht nur (entweder an bestimmten, formal festgelegten Stellen oder selbst initiiert) mitreden; die Partizipation des Publikums am Präsentierten wird auch durch die Pulte, Tische oder ausklappbaren Schreibflächen gewährleistet, die der Sprechsituation zeichenhaft den kulturellen Charakter der Wissensvermittlung verleihen. Die Differenz zwischen Formalität und Informalität könnte sogar so gedeutet werden, dass in diese Situation zwei etwas unterschiedliche Wissensvermittlungsmodelle eingeschrieben sind: Im einen, stärker formalisierten Fall ein „Übertragungsmodell“ mit einem „Wissenden“ und einem bzw. mehreren Wissenaufnehmenden, so dass das Hören und die Aufzeichnung als „Übertragung“ verstanden werden; im anderen, weniger formalisierten Fall, eine Art Verarbeitungsmodell, das Wissen als etwas ansieht, das die Rezipienten durch aktive Beteiligung erwerben müssen. Ohne diese Modelle zu scharf voneinander abgrenzen zu wollen, zeigt sich doch, wie sehr diese sozialräumliche Rahmung nicht nur Sprecher- und Hörerrollen vorprägt, sondern auch die Formen, in denen beide interagieren. Informalität und Formalität sind nicht nur „metaphorisch“ mit Nähe und Distanz verbunden. Wenn wir auf den Sprecher blicken, dann haben sie unmittelbare Auswirkungen auf die Nähe und Distanz des Sprechers zum Publikum und auf seine Sprecherrolle.17 Formale Raumordnungen nämlich legen nicht nur die Sitzordnung fest, sondern auch den Ort des Sprechens: besondere Pulte und feste Vorrichtungen für Notebooks bzw. Tageslichtprojektoren, fest montierte Mikrophone, Sonderbeleuchtung und dekorative Insignien des Podiums (Wappen, Fahnen, Logos etc.) zählen zu den einschränkenden Merkmalen formalisierter Veranstaltungen, die massive Auswirkungen auf die Sprecherrolle haben. Das fixierte Mikrophon etwa fordert fast den schriftlichen Vortrag – es verhindert jedenfalls den Vortrag des beweglichen, verschieden Orte einnehmenden Sprechers und macht selbst das Zeigen auf
15 Zu den Merkmalen zählen: Architektonische Räume, technische Ausstattung, Sitzordnungen, Kleidungsstile, Interaktionsmuster, Sprecher- und Publikumsrolle. 16 Freilich handelt es sich hier um Einflüsse aus der Reformschulbewegung, die im Zusammenhang mit neuen Lehrformen stehen. Vgl. AG Bremer Schule e.V., Bremer Kinder danken für neue Schulen. Bremen 1958. Für das Präsentationsformat ist allerdings auch das „Meeting“-Format von Bedeutung, das sich seit den 1950er Jahren als neues Kommunikationsmuster ausgebreitet hat und den Vortrag einerseits mit interaktiven Komponenten durchmischt wie auch in anderen Hinsichten (Kleiderordnung) informalisiert. Vgl. dazu Mead/Byers 1968. 17 Zum Begriff der Sprecherrolle und ihre Abwandlungen vgl. Goffman 2005.
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die Leinwand zu einem technischen Problem. Dagegen ermöglicht, ja fordert das kabellose Mikrophon geradezu den frei beweglichen – und damit auch den „freien“ Redner. („Fordern“ meint, dass die Zuhörer es als Mangel wahrnehmen können, wenn mit einem beweglichen Mikrophon ausgestattete Sprecher ein Manuskript „stur“ ablesen, ohne die technische Möglichkeiten wenigstens durch „Randbemerkungen“ – und Seitenschritte – zu nutzen.18) Insgesamt erzeugen Mikrophone, Rednerpulte, Leinwände etwas, das für die Performanz im engeren Sinne charakteristisch ist: ein Podium. Das Podium kann zuweilen sogar architektonisch durch eine Erhöhung vorgegeben sein; aber auch die anderen genannten Merkmale (einschließlich der – dem Sprecher gegenüber – „frontalen“ Sitzordnung) markieren den Ort des Sprechers als deutlich herausgehoben (diese Herausgehobenheit wird auch psychisch sozusagen nachgefühlt in dem, was wir als Lampenfieber bei Rednern kennen.) Informelle Präsentationen nun zeichnen sich dadurch aus, dass sie diese Herausgehobenheit zurücknehmen: Sprecher stellen sich neben die Leinwand, setzen sich neben oder gegenüber der Leinwand und sprechen im Sitzen. Damit erzeugen sie – jedenfalls semiotisch – eine größere Nähe zum Publikum. Gerade aber Präsentationen zeichnen sich dadurch aus, dass diese Nähe keineswegs – etwa wie im Meeting19 – in eine Gleichrangigkeit aufgelöst wird. Zum einen gilt auch bei interaktiven Aufweichungen das Recht des Primärsprechers durchgängig: Sprecher können jederzeit das Rederecht für sich beanspruchen. Dieses Recht ist auch keineswegs aufgeweicht, wie die räumliche Konstellation anzeigt, sondern bleibt auf eine räumlich etwas verwickeltere Weise bestehen: Zwar können sich die Sprecher gleichsam unters Publikum mischen, wie wir dies im folgenden Fall einer Präsentation in einer Verwaltungseinrichtung illustrieren: Leinwand
Beamer
Notebook
= Redner = Publikum
Abb.: Präsentation in einer Verwaltungseinrichtung
18 Wir haben es hier nicht „nur“ mit einer Etikette zu tun, sondern mit konventionalisierten Rahmungen – Rahmungen also, die gewisse Bedeutungen verleihen, ohne dass der Handlungssinn von diesen Bedeutungen determiniert sein muss. 19 Ein „Meeting“, so bemerkt Schwartzman (1989: 7), ist „a specific type of focused interaction“, „a communicative event involving three or more people who agree to assemble for a purpose ostensibly related to the functioning of an organization or group“ sowie „multiparty talk“.
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Die vermeintliche Gleichrangigkeit des Sprechers wird durch die technischen Geräte nicht nur „symbolisch“ aufgehoben; die Tatsache, dass der Sprecher alleine Zugang zu den Geräten (und zwar nicht nur zum Notebook, sondern damit auch zum Beamer und zur Leinwand) hat, verschafft ihm sozusagen auf technische Weise das primäre Rederecht (reizvoll wäre hier die Frage, wie eine „Group-presentation-shareware“ aussehen könnte, in der alle Beteiligten als Präsentatoren aufträten). Dieses primäre Rederecht ist nicht nur eine sozusagen normative Regel; weil die Inhalte des Notebooks vom Sprecher beansprucht werden, könnte es sogar formaljuristisch gesichert werden. Dennoch sollte man nicht übersehen, dass Sprecher bei diesen informellen Veranstaltungen keineswegs notwendig auf dem Podium stehen. Im Fokus – und dies ist hier nicht metaphorisch gemeint – steht vielmehr die Technik selbst, und zwar nicht mehr die in diesen Fällen unbedeutenden oder verkleinerten und tragbaren Mikrophone und Lesepulte, sondern Notebooks, Beamer und Leinwände. Diese Fokussierung geht häufig sogar so weit, dass die Räume abgedunkelt und die Sprecher regelrecht „ausgeblendet“ werden. Auch wenn das Rednerpult in manchen klassischen Vortragsräumen leicht seitlich der Mitte platziert war – etwa um das Logo der Einrichtung, ein symbolisches Kunstwerk oder Moderatoren und Komitee in der Mitte zu halten –, haben wir es hier mit einer Auslagerung der Redner aus dem Zentrum zu tun, die schon oben als Dezentrierung der Redner bezeichnet wurde. Diese Dezentrierung bedeutet jedoch nicht die Abschaffung des Podiums: Das Podium wird vielmehr von der Technik besetzt, die mit dieser Dezentrierung gleichsam in den Mittelpunkt rückt. Auch wenn sich die Lichtqualität der Beamer in den letzten Jahren deutlich verbessert hat, erfordert (auch hier im normativen und nicht im technikdeterministischen Sinne) ihr Einsatz häufig eine weitere Verdunkelung: Gardinen werden vorgezogen oder Jalousien werden so gesenkt, dass selbst „reizvoll“ gelegene Räume, die für den Blick nach draußen gedacht sind, den Charakter jener Vorlesungsbunker annehmen, die in den sechziger Jahren an manchen Universitäten erbaut wurden. Die Verdunkelung des Raumes und die Dezentrierung der Sprecher können durchaus als Rahmungen verstanden werden. Konnte der Blick der Zuhörer im traditionellen Hörsaal durchaus nach außen schweifen, so wird er jetzt auf eine Weise an die Leinwand gebunden, die mehr an das Kino als an die klassische Vorlesung erinnert. Daraus allerdings den Vorwurf abzuleiten, Powerpoint-Präsentationen seien gleichbedeutend mit Info- oder Edutainment, erschiene jedoch sehr oberflächlich. Jedoch liegt es nahe, diese Außenweltreduktion durch einen Ausbau der Visualisierungen auszugleichen – und genau das scheint auch die Folge zu sein. Auf etwas unsicherem Grund könnte man die Regel formulieren: Je mehr die Leinwand in den Mittelpunkt tritt, umso mehr Visualisierungen erfordert auch der Vortrag – gleichsam unabhängig von den Ambitionen des Vortragenden. Während somit gleichsam die Technik die Bühne betritt, deutet die Dezentrierung des Sprechers auch eine Veränderung der Sprecherrolle an: Die Redner stehen nicht im Zentrum kraft der Autorität ihrer Worte; vielmehr legt die semiotische Struktur nahe, dass die Worte zum Kommentar der Bilder werden. Doch darauf werden wir später ausführlicher zu sprechen kommen müssen.
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4. Pseudospontaneität und Liveness So anregend die vorige Bemerkung wäre, um nun über die Präsentation im Allgemeinen zu spekulieren, so sehr beginge sie den Fehler eines Pansemiotismus, der einzelne Bilder mit der handelnden Wirklichkeit verwechselt: Zwar können die angegebenen Merkmale als „Rahmungen“ der Präsentationen wirken: allerdings sollte man unterstreichen, dass sie dies eben nicht von sich aus tun, sondern als Teile von Handlungen. Performanz, so wurde ja eingangs betont, besteht nicht aus den bloßen Zeichen, sondern aus der Realisierung, aus den kommunikativen (also zeichenhaften) Handlungen, deren Ordnung nicht in den Zeichen, sondern im Vollzug zu finden ist. Um über die Performanz zu reden, muss ich auf Analysen insbesondere von audiovisuellen Aufzeichnungen der Präsentationen zurückgreifen, die an anderer Stelle erläutert werden. So können Präsentationen auch in vermeintlich formalen Rahmungen sehr informell ausfallen, und dass informelle Rahmungen sehr leicht formalisiert werden können, wird in vielen Promotions- oder Habilitations-Prüfungsvorträgen deutlich, die selten in formal ausgestalteten Präsentationsräumen stattfinden, ansonsten aber hochgradig formalisiert sind. Formalität ist also nicht eine Eigenschaft von Zeichen, sondern eine Eigenschaft der Handlungen, in denen Zeichen verwendet werden, und zu diesen kommunikativ verwendeten Zeichen zählen auch die häufig als den Handlungen äußerlich liegenden sozialräumlichen Anordnungen. Allerdings kann hier ja nicht eine Typologie der Präsentation insgesamt vorgenommen werden. Vielmehr wollen wir uns auf die Rolle der sozialräumlichen Merkmale für die Performanz konzentrieren. Das ist auch durchaus möglich, wird ihnen doch in den Handlungen selbst eine gewisse „Eigenständigkeit“ zugestanden. Denn die meisten Vorträge thematisieren die sozialräumlichen Aspekte selbst ausdrücklich: Es kann sich dabei um spontane Kommentare zu situativen, im Voraus nicht bekannten Eigenheiten handeln (fixierte Mikrophone, besondere Bedienungsarten oder gar Probleme mit den technischen Projektionsgeräten, besondere Anordnung des Publikums u.s.w.); es kann sich aber auch um situierte, auf die Situation der Präsentation von vornherein zugeschnittene Elemente handeln: Manuskripttexte, die vorab verfasst wurden und zur Präsentation verlesen werden, Papierkopien der Folien (für Redner oder sogar für Redner und Publikum), die einen weiteren Fokus aufbauen; ausgebaute Bildillustrationen zu Texten oder „kritische Kommentare“ und Vorbemerkungen, die, gepaart mit technisch unaufwändigen Präsentationen, Sympathie bei denjenigen im Publikum erheischen, die solchen Präsentationen generell oder ihren „professionellen Formen“ gegenüber skeptisch eingestellt sind. Die Eigenständigkeit der sozialräumlichen Zeichen ist natürlich auch dann deutlich, wenn sie sozusagen unwidersprochen und unmarkiert verwendet wird: Auf die Formalität wird mit formaler Rede reagiert, die Informalität eines Rahmens wird durch den Ausbau spontaner Elemente der freien Rede bedient. Und gerade hier, so scheint mir, tritt auch die Spezifik der Performanz solcher Präsentationen am deutlichsten zutage: während papiergestützte Schrifttext-orientierte Präsentationen noch sehr viele Merkmale herkömmlicher Vorträge teilen, entstehen doch auch bis in die Redegattung und die Sprecherrolle hinein davon differierende Varianten der Redegattung, so dass man von einer eigenen Gattung reden möchte. Wenn ich von dieser neuen „Redegattung“ spreche, beziehe ich mich auf jene schon erwähnten, ich möchte sagen: idealtypischen Präsentationen, in denen die Texte als Kommen-
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tare zu den Visualisierungen erscheinen. Der Begriff des „Kommentars“ ist dabei zunächst eine Metapher, die sich inhaltlich daran festmacht, dass die Gliederung des gesprochenen Textes ganz entscheidend von der Abfolge der Folien geprägt ist. Einzelne Textblöcke werden nicht nur durch die „Schaltpausen“ unterschieden, sondern sind unmittelbar mit den visuellen Folien verbunden (im Unterschied dazu benutzt die als Präsentation auftretende Variante des freien Vortrags die Folie lediglich als Hintergrundtapete ohne textstrukturierende Funktion). Strukturell zeichnet sich diese Redegattung zwar durch die (in der Software ja vorgegebene und vorstrukturierte) Gliederung aus. Dabei meine ich jedoch nicht nur die folieninterne Gliederung, die zur „Itemisierung“ des Vortrags führt (Schnettler 2006) (häufig kommt auch die Elaboration einer einzelnen Visualisierung auf, die einer „Bildinterpretation“ gleicht [Pötzsch/Schnettler 2006]). Ich meine damit auch die Gliederungsstruktur, die verschiedene Folien miteinander verbindet. Sie führt leicht dazu, dass in der Performanz argumentative Zusammenhänge, durch additive ersetzt werden, wie etwa „und dann…, und dann…“). (Wir kennen dies aus den Aufsätzen im Schreiben unerfahrener Schüler). Es ist übrigens keineswegs unbedeutend, dass diese additiven Auflistungen Ähnlichkeiten zu narrativen Abfolgen („und dann, und dann, und dann“) haben, werden doch in den elaborierteren Fassungen dieser Gattung narrative Muster auch gerne als Ersatz für argumentative Muster eingesetzt. Man könnte hier auch von einer Pseudo-Narrativität reden, wenn sich die zeitliche Abfolge hauptsächlich auf das Nacheinander des Mediums und nicht des Inhalts bezieht. Schließlich zeichnet sich die Präsentation durch die besondere Rolle der körperlichen Performanz aus, wie sie besonders im Zeigen und der Körperhaltung zum Tragen kommt (Knoblauch 2006). Im Unterschied zum herkömmlichen Vortrag ist in der Präsentation das, worüber man spricht, auch etwas, auf das gezeigt werden kann (in Wortfolien sogar in einem direkten Verhältnis). Dabei sollte man beachten, dass es sich im Regelfall eben nicht um eine Demonstration eines „realen Gegenstandes“ handelt, wie im entsprechenden Typus des naturwissenschaftlichen medizinischen Vortrags (etwa bei der Sektion), der Verkaufsrede oder des kunstwissenschaftlichen Dia-Vortrags (Mackert 2005). Die Präsentation zeichnet sich dadurch aus, dass das, über das gesprochen wird, selbst nicht als Sache oder gar als Repräsentation vorhanden ist, sondern durch andere Zeichen „illustriert“ wird. Dabei kann es sich um die vielen graphischen Symbole handeln, die von den Software-Programmen bereitgestellt werden, um Schaubilder, Diagramme und Organigramme, die meist denselben Quellen entstammen20 – oder einfach um sprachliche Zeichen (in dieser Hinsicht ist die Vorstellung von Videoaufzeichnungen von Präsentationen selbst noch keine Präsentation, sondern eine Demonstration). Wie bei der Demonstration verdeutlicht das Zeigen eine Transformation des Wissens: Aus dem Wissen, das sprachlich in einer zeitlichen Abfolge entwickelt (und deswegen narrativ oder argumentativ geordnet) wird, wird ein Wissen, das räumlich geordnet werden kann – eine Räumlichkeit, die nicht bloß visuell-zeichenhaft bleibt, sondern im Zeigen auch räumlich-performativ wird.
20 Diese Übernahmen verändern natürlich auch die Sprecherrolle dramatisch, die nicht mehr auf die „auctoritas“ des wissenden Ich pocht, sondern zu einer intertextuellen Polyphonie neigt, wie sie von der Postmoderne vorhergesagt wurde. Man kann dies leicht bei Referaten und Powerpoint-Vorträgen in Seminaren beobachten, in denen das Wissen etwa über die Bedeutung einzelner Folien nicht mehr im Subjekt verankert auftritt.
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Schon die Möglichkeit des Zeigens macht deutlich, dass diese Redegattung eigene Sprecherrollen aufweist: Sprecher sind hier eben auch Körper, die als Dreh- und Angelpunkt zwischen dem Gezeigten und dem Publikum vermitteln. Diese Rolle ist keineswegs nur eine der „Animation“, vielmehr treten die Sprecher als intersubjektives Wahrnehmungsorgan auf, das stellvertretend für andere das sieht und zeigt, was auch andere sehen sollen. Sie ist also auch ein Bindeglied des Vortrags zur Technik, die ja semiotisch so zentral ist. Die Sprecherrolle der idealtypischen Präsentation zeichnet sich überdies durch etwas aus, das man als Pseudospontaneität bezeichnen könnte: Gerade jene Vorträge, die sehr stark auf die Folien zugeschnitten sind, weisen ein Stilregister auf, das man als deutlich „kolloquialungezwungen“ bezeichnen könnte: Anstelle eines vorverfassten und entsprechend „geschliffenen“ Textes (wie wir ihn aus klassischen Vorträgen kennen), werden stark umgangssprachliche Formulierungen und Wendungen verwendet – einschließlich der umgangssprachlichen Merkmale, die im Vergleich zur Schriftsprache häufig als „Defizite“ erscheinen, wie Abbrüche, Stockungen, Wiederholungen –, die im Vergleich zum klassischen Vortrag geradezu als Stilbruch wirken könnten.21 Diese Ungezwungenheit des Stils konnotiert eine Art des Sprechers, der als ausgeprägt „spontan“ erscheint: Bei der Präsentation wird „quasi frei“ geredet, und diese Freiheit bedeutet auch Abstand von der Formalität und Distanz. Allerdings erscheint diese freie Rede nur frei, sie ist es im Falle der Powerpoint-Vorträge aber nicht und kann es nicht sein. Der einzige Fall einer wirklich freien Rede bestünde im Scheitern der Präsentation, wenn nämlich der freie Vortrag mit den Folien nichts zu tun hätte. Zwar mag sich auch ein herkömmlicher freier Redner an Formeln, Versatzstücken und auswendig gelernten Texten orientieren; dies allerdings bleibt sozusagen sein eigenes Geheimnis. Im Falle von Powerpoint muss man dagegen von Pseudospontaneität reden, weil der Redner nicht nur auf eine Vorlage zurückgreift – das Publikum sieht diese Vorlage selbst, so dass das, was im Augenblick gesagt wird, als vorgeplant, vorentworfen und „designt“ erkennbar ist. Blickt man auf den rahmenden situativen Hintergrund, wird diese Pseudospontaneität durchaus verständlich: Sie konterkariert gleichsam die formale Vorarbeit durch Informalität. Allerdings würde hierzu auch ein „kasualer“, ungezwungener schriftlicher Stil genügen. Was aber erklärt die das herkömmliche Stilempfinden verletzende Spontaneität? Auch diese Frage ist mit Blick auf die situativen Rahmenmerkmale durchaus verständlich, stellt die Spontaneität geradezu den Gegenpol zu dem dar, was man als vorgeplant, vorentworfen und „designt“ bezeichnet. Bedenkt man überdies, dass diese Vorentwürfe zu einem guten Teil (und zwar nicht nur, was Gliederung und Graphik betrifft, sondern auch häufig die Inhalte selbst, die als Folien heruntergeladen werden können) nicht von den Sprechern selbst gestaltet wurden, dann kann diese Spontaneität geradezu als Kompensation für diese Vorgegebenheiten der Apparatur verstanden werden. Die Spontaneität rahmt damit den Vortrag auf eine Weise, die seine eigene Vorgeschichte abschwächt und den Sprecher wenigstens als Vortragenden zum Autor macht.
21 Es geht hier also nicht um die klassischen rhetorischen Stilebenen, denn hier tritt die wissenschaftliche Sprache schon als „genus humile“ auf; genauer träfe die Kategorie des „casual“ oder gar „intimate style“, also des ungezwungenen oder gar vertraulichen Stils (Plett 1983: 105ff.). Um den Stil der Präsentation zu verstehen, muss jedoch auch die Differenz zwischen schriftsprachlichem monologisch ausgerichtetem und mündlichem konversationellem Stil betont werden, wobei die Präsentation typischerweise sehr entschieden dem zweiten Stil folgt.
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In diesem Sinne ist die Präsentation in einem ausgeprägten Sinne performativ – unterstreicht sie doch durch ihre spontanen Elemente etwas, das gar nicht selbst spontan erzeugt wird. Das ähnelt ein wenig dem Schauspieler, unterscheidet sich aber auch davon, weil das Skript des Schauspielers gleichsam öffentlich ist. Gerade das Bemühen der „typischen Präsentation“ um Spontaneität ähnelt vielmehr dem, was Auslander (1999) als „Liveness“ bezeichnet: „Live“ sind Medienereignisse, die man selbst miterlebt oder die etwas nachspielen, das man möglicherweise schon von der CD, von der DVD oder von der Schallplatte her kennt. Im Unterschied jedoch zur Liveness herkömmlicher Medien ist der Powerpoint-Vortrag ein Hybridmedium: Er enthält einen medial vorentworfenen und präsentierten Teil und verbindet ihn mit einem „live“ gebotenen Teil. Die Hybridität kann nun als der Grund für die Pseudospontaneität angesehen werden: Sie nämlich macht aus einem „Medium“ (das auch über Email versandt werden oder ins Internet gestellt werden kann) erst einen Vortrag, sie erst erzeugt den performativen Charakter, für den die genannten sozialräumlichen Insignien unerlässlich sind. Freilich hat auch der klassische Vortrag einen performativen Charakter. Dieser besteht aber im Grenzfall des vorgelesenen Vortrags in der halbwegs unbewegten Intonation geschriebener Worte. Dass die Präsentation andere performative Anforderungen stellt, verdankt sie nicht nur ihrem hybriden Charakter. Sie schuldet diese Performativität auch der besonderen Medialität, die eben nicht mehr nur Worte intoniert (und in der Intonation die Tätigkeit des redenden Subjekts anzeigt), sondern die Bilder und auch die Worte als Bilder zeigt.
5. Schluss Wenn von der „Gattung“ der Präsentation die Rede ist, soll keineswegs behauptet werden, dass es sich um eine völlig neue Gattung handelt. In der Geschichte der Wissenschaft, der Künste und der Technik kennen wir schon seit langem Formen des Vortrags, die dem sehr ähnlich sind, was hier Präsentation genannt wird. Von soziologischer Relevanz ist jedoch, dass diese Art der bildlich geprägten Präsentationen herkömmlich auf die engen Bezirke klassischer Wissensvermittlung beschränkt war: Universitäten und Schulen waren die Einrichtungen, in denen die Präsentation vorherrschte. Seit dem Beginn dieses Jahrhunderts erleben wir eine Ausbreitung schriftlicher Visualisierungen auch in der freien Wirtschaft und der Verwaltung. Die Präsentationstechnologien der jüngeren Zeit haben es erlaubt, dass die Präsentation als eine Redegattung allmählich zum Teil eines kommunikativen Allgemeinwissens wird. Freilich, Straßenfeger und Zimmerleute benötigen diese Kompetenz zwar noch nicht (obwohl auch das nur eine Frage der Zeit sein könnte), aber all jene, die in irgendeiner Weise mit dem zu tun haben, was man als akzeptiertes Wissen bezeichnen kann (das als „Information“ gespeichert wird), sind schon oder werden noch mit dieser Gattung passiv oder aktiv vertraut werden. Da das Internet ja auch sehr vieles enthält und verbreitet, das man kaum als legitimes Wissen ansehen würde (von Pornographie über Computerspiele bis zu Blogs) ist die hybride Präsentation mehr noch als das Internet ein Medium, das es Organisationen erlaubt, sich für sich selbst und ihr eigenes Wissen sichtbar zu machen – und damit auch das Medium der Wissensgesellschaft.
Wissen Live: Sitzordnung, Performanz und Powerpoint
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Keine Beziehung ohne großes Theater. Zur Theatralität im Beziehungsaufbau Karl Lenz
„Wir alle spielen Theater“, dieser äußerst marktwirksam gewählte deutsche Titel von Erving Goffmans Erstlingswerk1 trifft auf die Aufbauphase einer Paarbeziehung voll zu. Beziehungsanfänge kommen – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – ohne Theatralität (vgl. Willems: 1998) nicht aus. Ohne großes Theater keine Ehe bzw. keine eheähnliche Beziehung! Da die Ehe als kulturelle Selbstverständlichkeit in den letzten Jahrzehnten einen massiven Bedeutungsverlust hat hinnehmen müssen (vgl. Schneider/Rosenkranz/Limmer: 1998), soll im Weiteren von Paarbeziehung oder – synonym dazu – Zweierbeziehung gesprochen werden. Deutlich wird damit, dass viele Beziehungen in der Gegenwart trotz eines erfolgreichen Beziehungsaufbaus nicht in eine Ehe münden. Und auch dann, wenn ‚irgendwann‘ geheiratet wird, erscheint es nicht mehr angemessen, die Zeit davor als bloße Vorphase einer Ehe zu konzeptualisieren (ausführlicher hierzu vgl. Lenz: 2006a). In der Gegenwartsgesellschaft ist die Theatralität in aller Regel in den Anfängen einer Zweierbeziehung ein sozialer Zwang. In der Aufbauphase einer Paar- oder Zweierbeziehung haben wir es überhaupt mit einem merkwürdigen sozialen Vorgang zu tun: Eine Person, die man möglicherweise vor kurzer Zeit noch gar nicht gekannt hat, steigt in relativ kurzer Zeit zum höchstsignifikanten Anderen auf. Mit dieser anderen Person verbringt man dann mehr Zeit, vertraut ihr mehr Geheimnisse an und misst ihr mehr Bedeutung zu als allen anderen Personen, auch Personen mit denen man seit vielen Jahren, möglicherweise seit Geburt (wie den Eltern), verbunden ist. In diesem Beitrag möchte ich zunächst die kulturellen Rahmenbedingungen für die Theatralität im Beziehungsaufbau aufzeigen. Anschließend wird anhand des rituellen Problems der Kontaktaufnahme zu einem Fremden die zu leistende kommunikative Arbeit behandelt. Als eine neue Form der Kontaktaufnahme wird unter diesem Blickwinkel auf das Online-Dating eingegangen. Der Zwang zur Theatralität ist nicht auf die Kontaktaufnahme begrenzt, sondern setzt sich – wie skizziert wird – fort. Zum Abschluss werfe ich die Frage auf, ob die Medialisierung der sozialen Wirklichkeit zu einer Theatralisierung im Beziehungsaufbau führt.
1 Der Originaltitel lautet „The Presentation of Self in Everyday Life“.
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1. Kulturelle Rahmenbedingungen für die Theatralität im Beziehungsaufbau Auch wenn heute in den Beziehungsanfängen in aller Regel ein sozialer Zwang zur Theatralität vorherrscht2, gilt dies nicht für alle Zweierbeziehungen in allen Kulturen. Dass heute in den Beziehungsanfängen so viel an Theater erforderlich ist, erwächst aus den kulturellen Rahmenbedingungen. Im Falle einer arrangierten Ehe ist die Inszenierung der angehenden Ehepartner für das Zustandekommen der Beziehung weitgehend belanglos. Dass die Theatralität im Beziehungsaufbau von zentraler Relevanz ist, dazu hat ganz wesentlich die Individualisierung der Paarbildung beigetragen. Damit ist gemeint, dass die Paarbildung zu einer exklusiven Angelegenheit des Paares wurde und nicht mehr in den Händen der Eltern oder anderer Personen liegt, wie dies bei arrangierten Ehen der Fall ist (vgl. Lenz: 2003a). Die Individualisierung der Paarbildung war bereits im bürgerlichen Paarungsmuster vorhanden, welches ein fester Bestandteil des im 18. Jahrhundert aufkommenden bürgerlichen Familienmodells war. Mit dem Adjektiv „bürgerlich“ wird angezeigt, dass diese Familienform zunächst im aufstrebenden Bürgertum entstanden ist. Davon ausgehend gewann dieses Modell eine kulturelle Hegenomie und breitete sich nach und nach in anderen sozialen Milieus aus. Grundlegend für die bürgerliche Familienform war eine Trennung von Produktion und Reproduktion, von Erwerbsarbeit und Hausarbeit. Diese beiden getrennten Lebensbereiche wurden jeweils der alleinigen Zuständigkeit eines Geschlechts übertragen. Der Mann ging außerhalb des Hauses der Erwerbsarbeit nach und hatte den monetären Unterhalt der Familie zu sichern. Die Frau wurde von solchen produktiven Tätigkeiten entbunden, damit sie sich voll und ganz dem häuslich-familialen Bereich widmen konnte. Die Kindererziehung wurde zu ihrer Hauptaufgabe. Im Bürgertum galt die Familie als Inbegriff des Privaten, als harmonische und friedliche Gegen-Welt zur kalten und als bedrohlich empfundenen Außenwelt. Im bürgerlichen Paarungsmuster war die Individualisierung der Paarbildung in Form des Initiativrechts des Mannes institutionalisiert (vgl. Lenz: 2003a). Arrangierte Ehen sollte es dem bürgerlichen Ideal zufolge nicht mehr geben. Schon der Eheratgeber von Theodor Gottlieb von Hippel (1972; 1. Aufl. 1774) spricht sich dagegen aus. Arrangierte Ehen wurden abgelehnt, da sie zerbrechlicher seien und die geforderte Emotionalität nicht wachsen lassen (vgl. auch Mahlmann: 1991). Die Initiative zur Ehe und die Auswahl der zukünftigen Ehefrau war ein Vorrecht des heiratswilligen Mannes. Die Eltern hatten damit Macht zugunsten der jungen Generation verloren. Dieser Machtverlust betraf jedoch vorerst nur die Eltern des Mannes, noch nicht die der Frau. Der Weg des Mannes zur Ehe führte nämlich noch notwendigerweise über die Brauteltern. Der formelle Heiratsantrag des Mannes an den Vater – das Um-die-Hand-der-Tochter-Anhalten – bildete einen zentralen rituellen Akt der Paarbildung. Zuerst war die Zustimmung der Eltern erforderlich, erst dann wurde der Antrag der angehenden Braut eröffnet. Sicherlich war es für den werbenden Mann erforderlich, bei
2 Mit der gewählten Formulierung „in aller Regel“ soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es aufgrund der hohen kulturellen Heterogenität der Gegenwartsgesellschaft ethnische Milieus gibt, in denen noch oder wieder arrangierte Ehen und Zwangsheiraten vorkommen. So hat Necla Kelek (2005) in ihrem Buch „Die fremde Braut“ darauf hingewiesen, dass viele junge türkische Frauen – gegen ihren Willen – mit in Deutschland lebenden türkischen Männern verheiratet werden.
Keine Beziehung ohne großes Theater. Zur Theatralität im Beziehungsaufbau
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den Eltern einen guten Eindruck zu hinterlassen, als sichtbares Zeichen einer vorhandenden Kultiviertheit. Ausschlaggebend war das impression management allerdings auch hier noch nicht. Entscheidend war vielmehr, dass der Werber in den Augen der Eltern eine ‚gute Partie‘ für die Tochter war. Dafür zählten vor allem die soziale Stellung sowie die Einkommensund Vermögensverhältnisse, über die im Vorfeld genauestens Erkundigungen eingezogen wurden. Da Frauen aus diesem Sozialmilieu nicht durch Berufsarbeit zum Lebensunterhalt beitragen konnten, musste sichergestellt werden, dass die ökonomische Basis des Mannes für eine Ehe ausreichend war. Nicht übersehen werden darf, dass auch für den bürgerlichen Mann die Mitgift der Frau von hoher Relevanz war.. Zwar war Liebesheirat im Bürgertum zum kulturellen Ideal aufgestiegen, allerdings wurde an Stelle der romantischen Liebe das Ideal der vernünftigen Liebe vertreten, das ein emotionales Band zwischen angehenden Ehegatten als wünschenswert und notwendig erklärte, ohne jedoch dadurch die Dominanz sozialer Kriterien bei der Paarbildung zu schmälern. Dass im Konfliktfall die „Stellung“ Vorrang vor Gefühlen hatte, ist ein wiederkehrendes Thema der Gesellschaftsromane der damaligen Zeit (z.B. Buddenbrooks von Thomas Mann: 1901). Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Individualisierung noch erheblich ausgebaut (vgl. Lenz: 2003a). Während im ausgehenden 19. Jahrhundert zunächst die rechtliche Zustimmungspflicht des Vaters weggefallen ist, hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Konvention, dass der Mann beim Vater um die Hand des ‚Fräulein Tochters‘ anhalten muss, immer stärker an Verbreitung verloren. Eheratgeber aus den 50er Jahren kennen dieses Thema noch, werfen z. T. explizit die Frage auf, ob man noch um die Hand der Tochter anhalten solle, lassen aber deutlich erkennen, dass dieses Verhaltensmuster in den 50er Jahren nicht mehr zeitgemäß ist. In der Gegenwart ist die Beteiligung der Eltern auf ein bloßes Informationsrecht reduziert. An die Stelle des Um-die-Hand-Anhaltens ist mittlerweile das Den-Eltern-sagen-Müssen getreten, dass man einen ‚neuen Freund‘ bzw. eine ‚neue Freundin‘ oder dass man sich zur Heirat entschlossen habe. Indem die Aufbauphase zu einer exklusiven Angelegenheit des Paares wird, nehmen die Anforderungen an die kommunikative Kompetenz der Handelnden enorm zu. Die Paarbildung wird zu einer Aufgabe, die das angehende Paar weitgehend eigenständig kommunikativ zu bewältigen hat. Verstärkt wird dies dadurch, dass mit der Individualisierung der Paarbildung es auch zu einer räumlichen Verlagerung der Begegnung der Geschlechter kommt. Im bürgerlichen Sozialmilieu des 18. und 19. Jahrhunderts konnte diese Erstbegegnung aufgrund der starken Familiengebundenheit der Frauen nur im Familienkontext stattfinden. Das Kennenlernen verlagerte sich seither in die außerfamiliale Öffentlichkeit. In Eheratgebern der 50er Jahre wird ausführlich auf diesen Wandel hingewiesen: Während „wohlerzogene junge Menschen“ noch bis zur Jahrhundertwende „eheführende Bekanntschaften“ fast ausschließlich „innerhalb der Familie oder von der Familie durchgeführten und beaufsichtigten Veranstaltungen“ (Oheim: 1959: 47ff) machten, haben sich die Gelegenheitsstrukturen für die Jugend erheblich erweitert: Neben dem Kennenlernen durch Geselligkeiten in der Familie können sie sich auch – so weiter die Verfasserin – auf öffentlichen Veranstaltungen (z.B. Tanzvergnügungen, in Jazz- und anderen Clubs, bei Volksfesten) oder auch bei der Ausbildung und der Berufsarbeit kennen lernen. Freizeit und Arbeit werden zu den wichtigsten Begegnungsräumen der Geschlechter. Zur Schaffung des sozialen Zwanges der Theatralität im Beziehungsaufbau trägt noch ein weiteres zentrales Element bei: die romantische Liebessemantik. Versteht man – in An-
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schluss an Georg Simmel (1985) – die primäre Ausrichtung an der Individualität als das Kernstück der romantischen Liebe, dann ist im Laufe des 20. Jahrhunderts eine fortschreitende Annäherung an dieses Beziehungsideal zu konstatieren (vgl. ausführlicher Lenz: 2005a). In Abkehr vom bürgerlichen Paarungsmuster werden in den Beziehungsratgebern der 50er Jahre und noch stärker in den aktuellen soziale Merkmale durch die persönlichen Qualitäten der Beziehungspartner als Leitkriterien der Partnerwahl verdrängt. In den Eheratgebern der 50er Jahre ist noch deutlich der Widerstreit dieser beiden Leitkriterien sichtbar. In den aktuellen Beziehungsratgebern kommen soziale Merkmale als Leitkriterien überhaupt nicht mehr vor oder sind zumindest noch deutlich weiter in den Hintergrund getreten. Auf das zentrale Moment der Individualität hebt bereits Simmel (1985: 242ff) in seiner Gegenüberstellung von zwei Liebespaaren aus dem Werk Goethes ab: Faust und Gretchen entsprechen nicht dem Ideal der – wie es bei Simmel heißt – „absoluten Liebe“. Gretchen hat keine Vorstellung von der Einzigartigkeit des Charakters von Faust, sie sieht ihn lediglich als einen Mann, zu dem sie aufblickt. Für Faust ist ihre Begegnung lediglich ein Abenteuer, eine Station auf seiner Reise. Dabei ist es für ihn einerlei, ob es sich um Gretchen oder um eine andere Frau handelt. Beide „lieben“ – wie es Simmel ausdrückt (1985: 243) – „an dem Individuellsten des anderen vorbei“. Diesem Paar stellt Simmel als ein Beispiel für die absolute oder – wie ich es bezeichne – die romantische Liebe von Eduard und Ottilie aus den „Wahlverwandtschaften“ gegenüber. Bei ihnen wird alles Gattungsmäßige ausgeschaltet, und ihre „Leidenschaft (ist) ganz und gar durch das Faktum der Individualität bestimmt“ (Simmel 1985: 244). Eduard und Ottilie sind Prototypen einer romantischen Liebe. Sie ist durch die Einbeziehung – wie Luhmann (1982) mit Nachdruck hervorhebt – einer „grenzenlos steigerbaren Individualität“ der einander Liebenden gekennzeichnet. Die romantische Liebe ist auf ein einzigartiges Individuum ausgerichtet, und durch die Verbindung zweier einzigartiger Individuen gewinnt die Beziehung ihre Einmaligkeit. Um als einzigartiges Individuum erscheinen zu können und nicht nur als Frau oder Mann oder als Träger leicht sichtbarer sozialer Merkmale (z.B. als Mann von Stand), ist man gezwungen, diese Einzigartigkeit auch anzuzeigen und sicherzustellen, dass diese auch erkannt wird. Diese Liebessemantik macht den Beziehungsaufbau einer Zweierbeziehung zu einem sozialen Setting, in dem die Individualität, weswegen man sich ja liebt, fortlaufend präsentiert werden muss. Die Selbstdarstellung der Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit braucht einen breiten Raum. Nur dann, wenn es wechselseitig gelingt, sich als jemand darzustellen, der/die anders ist als die anderen, und auch als solche/r wahrgenommen zu werden, ist das Fundament für die Höchstrelevanz und damit für eine Liebesbeziehung gelegt. Die Individualisierung der Paarbildung, die damit eng verbundene Verlagerung der Begegnungsräume in die außerfamiliale Öffentlichkeit und die romantische Liebessemantik wirken zusammen und bewirken im Beziehungsaufbau von Paarbeziehungen einen Zwang zur fortlaufenden Selbstdarstellung, einen Zwang zur Theatralität.
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2. Beziehungsanfang als kommunikatives Problem Nach den kulturellen Rahmenbedingungen sollen die kommunikativen Probleme im Beziehungsaufbau und die Lösungsstrategien näher betrachtet werden. Ausführlich mit dem Beziehungsanfang als kommunikatives Problem hat sich Murray Davis (1973) in seinem völlig zu Unrecht wenig beachteten Buch „Intimate Relations“ beschäftigt. Davis bezeichnet die erste Begegnung von zwei sich bislang fremden Personen als „Pickup“. Pickups haben nach Davis eine feste Struktur. Davis geht dabei davon aus, dass die Kontaktaufnahme nur durch eine Partei initiiert wird. In einer Vorphase muss der Initiator bzw. die Initiatorin, im Weiteren kurz A genannt, zunächst feststellen, ob die andere Person (kurz B) Eigenschaften besitzt, die aus ihrer Sicht der Mühe wert sind, die ein Anfang notwendigerweise mit sich bringt. Auch muss sie danach Ausschau halten, ob bei B eine Bereitschaft zur Kontaktaufnahme vorhanden ist. Da A weitere Informationen (noch) nicht vorliegen, werden die Eigenschaften vor allem an der körperlichen Attraktivität und den situativen Verhaltensweisen von B festgemacht. Dies ist nicht der ‚Oberflächlichkeit‘ der Handelnden geschuldet, sondern eine unmittelbare Konsequenz der vorhandenen Informationslage. Um die Kontaktbereitschaft einschätzen zu können, wird A auf nonverbale Hinweise achten und diese seinerseits durch Werbesignale (Lächeln, Blicke) zu stimulieren versuchen. Die Offenheit auszuloten, ist notwendig, da jemanden anzusprechen ein Eindringen in ein fremdes Territorium ist und von daher als eine Form der Belästigung aufgefasst werden kann. Werbesignale sind aber auch deshalb notwendig, da eine schroffe Abwehr für die jeweilige Person einen Gesichtsverlust darstellt, den sie möglichst vermeiden möchte. Aus diesem Grunde wird die Kontaktaufnahme nonverbal vorbereitet. Sind die gewünschten Eigenschaften und Offenheit vorhanden, ist als nächstes – so Davis – eine Eröffnung für einen verbalen Austausch notwendig sowie anschließend Themen, die die begonnene Konversation andauern lassen. Nur wenn das Gespräch fortgesetzt wird, ist es möglich, mehr über die andere Person zu erfahren und auch sich selbst darzustellen. Da gemeinsame Erfahrungen noch nicht vorhanden sind, braucht es Gesprächsinhalte, die kein persönliches Wissen voraussetzen. Sehr häufig wird der Kontakt durch small talk am Laufen gehalten. Egal was geredet wird, der zentrale Gehalt ist die wechselseitige Zuschreibung und Aushandlung der Identität von beiden Personen. Es geht darum festzustellen, wer der andere ist, wie man vom anderen gesehen wird und wer man selbst in dieser Situation ist. Je nachdem, wie diese Phase verläuft, wird sich das Interesse an der anderen Person verstärken oder abschwächen. Ein Beziehungsaufbau ist mit einer Begegnung natürlich keineswegs abgeschlossen. Am Ende der Pickup-Situation kommt es darauf an, ein Wiedersehen vorzubereiten. Dies kann dadurch erfolgen, dass man sich fest verabredet, eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme durch Austausch der Telefonnummern, Mailadressen oder Wohnadressen schafft oder den anderen mit Wissen ausstattet, wo man regelmäßig anzutreffen ist. Von der ersten Begegnung bis zur Paarbildung kann es unterschiedlich lange dauern und auch eine unterschiedliche Anzahl von Begegnungen einschließen. Da man viele Personen kennen lernt, aber nur mit wenigen davon eine Paarbeziehung eingeht, bedarf es im Weiteren einer Verständigung über die besondere angestrebte Beziehungsqualität. Dies wird durch das Setzen von Beziehungszeichen (Goffman: 1974) angezeigt. Unterschiedliche Beziehungszeichen kommen zur Anwendung: z.B. ein intensiver Kuss oder eine erwiderte Liebeserklärung. Eine besondere Bewandtnis hat es – zumindest in unserem Kulturkreis – mit dem Kuss
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(ausführlich zum Kuss vgl. Best: 1998). Das erste Beziehungszeichen muss kein Kuss sein, allerdings kommt eine Aufbauphase in aller Regel ohne Küssen nicht aus. Diese Sonderstellung des Kusses wird auch darin deutlich, dass er ein fester Bestandteil der Verlobungs- und Eheschließungsrituale ist. Zwischen Eröffnung und dem ersten Beziehungszeichen kann unterschiedlich viel Zeit vergehen. Das erste Beziehungszeichen muss noch keineswegs mit dem subjektiven Gefühl verbunden sein, von nun an ein Paar zu sein (Paarkonstitution), was zugleich der Übergang in die Bestandsphase ist (vgl. Lenz: 2006a). Mit einem Fremden in Kontakt zu treten, ist eine heikle Angelegenheit, da – wie Erving Goffman gezeigt hat – die höfliche Gleichgültigkeit die dominante Verhaltensregel zwischen Fremden ist: Man nimmt sich wahr, ohne den anderen in irgendeiner Weise weiter zu behelligen. „Allgemeine Regel, so könnte man sagen, ist, dass miteinander bekannte Personen in einer sozialen Situation einen Grund haben müssen, nicht in Blickkontakt miteinander einzutreten, während einander nicht Bekannte, eines Grundes bedürfen, um es zu tun“ (Goffman 1971: 121). Ein Ansprechen ohne überzeugenden Grund ist ein Verstoß gegen eine rituelle Ordnung, der geheilt werden muss. Wie wird mit diesem Problem in Pickups umgegangen? Für die Beantwortung dieser Frage werde ich vor allem auf Filmanalysen zurückgreifen3.
2.1 Kennenlernen als nicht-intendiertes Ereignis Bei der Suche nach einer Antwort zeigt sich schnell, dass Pickups nicht immer die von Davis beschriebene Struktur haben müssen. Ich möchte dies anhand einer Szene aus einem Kassenschlager der frühen 50er Jahre mit dem Titel „Schwarzwaldmädel“ (vgl. Seidl: 1987) zeigen. Schwarzwaldmädel (BRD, 1950) – Sequenz 64 Bärbel: Hans: Bärbel:
mir sind die äpfele runtergefalle; weinen sie nicht kleines fräulein. ich helfe ihnen ja = hähä danke schö;
Hans:
<<erstaunt>> die sind ja echt,
Bärbel: Hans: Bärbel:
ja, was dachten sIE denn? (---) bitt schön, danke, hähähä ((leicht lachend)) gut schmenkense, gäh?
Hans:
HErrlich.
Bärbel: Hans: Bärbel: Hans: Bärbel:
die sind von meiner tante aus dem schwarzwald. <> aus dem schwarzwald. ja::? ((atmet laut ein)) nettes Kostüm haben sie. (--) wo haben sie das ausgeliehen? GAr nit; (-) das ist auch echt; (-) genau wie die äpfel.
3 Diese stammen wie auch die anderen hier verwendeten empirischen Materialien aus dem Forschungsprojekt „Institutionalisierungsprozesse in Zweierbeziehungen“ (vgl. Lenz: 2003a). 4 Für die Transkription wurde das Gesprächsanalytische Transkriptionssystem (GAT) verwendet (vgl. Selting et al.: 1998).
Keine Beziehung ohne großes Theater. Zur Theatralität im Beziehungsaufbau
Hans:
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na bei ihnen scheint ja alles echt zu sein.
Beide lachen, Tusch ((= musikalische Info der Kapelle, dass gleich Rede folgt)) Bärbel: s ist (den)n DA los?
Bärbel und Hans begegnen sich in dieser Situation als Fremde. Jedoch findet hier kein Verstoß gegen die rituelle Ordnung statt, da Hans Bärbel als Helfer gegenübertritt. Eine Hilfesituation macht es möglich, Kontakt mit einem Fremden aufzunehmen, ohne dass dieser dies als ein unberechtigtes Eindringen in sein persönliches Territorium empfindet. Widerfährt einer Person ein Missgeschick bzw. erleidet sie einen Schaden, dann können Anwesende – gegebenenfalls müssen sie sogar – eine Helferrolle annehmen. Eine Helferrolle ist im Sinne von Goffman (1971) mit einer „Eröffnungsposition“ verknüpft. Eine Hilfeleistung impliziert das Recht auf Initiative gegenüber einer anderen Person, auch wenn man diese nicht kennt. Als Hilfsbedürftiger darf man angesprochen und auch angefasst werden; es ist dabei davon auszugehen, dass diese Unterstützung vielfach auch erwünscht ist. Hilfesituationen als Pickup-Situationen kommen in Spielfilmen – und zu vermuten ist auch im realen Leben – zahlreich vor. Sie machen es notwendig, die Strukturbeschreibung der Erstbegegnung bei Davis zu korrigieren. Aus dem Film wird nicht sichtbar, dass Hans Bärbel vorher überhaupt beobachtet hat und die Absicht hatte, mit ihr in Kontakt zu treten. Das könnten natürlich Aussparungen in einem Film sein, Unsichtbarkeiten, die in Filmen vorkommen können (vgl. Lenz: 2006b). Jedoch erfordern Hilfeleistungen sehr häufig ein rasches Eingreifen, wodurch ein längeres Kalkulieren – zumindest von Seiten des Helfenden – nicht möglich ist. Eine Hilfesituation lässt nicht zu, länger – im Sinne einer Vorphase bei Davis – zu kalkulieren, ob eine Kontaktaufnahme sich lohne, sondern erwogen wird lediglich die Frage, ob man helfend initiativ wird oder nicht. Eine Hilfesituation verkürzt die Grundstruktur einer Pickup-Situation, da die Vorphase entfällt. Deutlich wird im Anschluss an dieses Filmbeispiel, dass das Kennenlernen zweier fremder Personen nicht nur durch die einseitige Kontaktaufnahme möglich ist, wie Davis noch unterstellt. Die Gegenüberstellung macht die Besonderheit dieses zweiten Typus‘ deutlich erkennbar: Die Initiative geht in diesem Fall nicht von einer Person aus, sondern das Kennenlernen kommt durch ein Ereignis zustande, das nicht beabsichtigt war. Neben dem Kennenlernen durch einseitige Kontaktanbahnung lässt sich das Kennenlernen durch ein nicht-intendiertes Ereignis als eine zweite Grundform unterscheiden. Diese generalisierende Bestimmung lässt schon erkennen, dass diese Grundform nicht nur in einer Hilfesituation vorkommt. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Kennenlernen über eine Arbeitsbeziehung.
3.2 Vermittlung durch Dritte Mit der Unterscheidung zwischen einseitiger Kontaktanbahnung und nicht-intendierten Ereignissen sind die Grundformen der Pickups noch nicht erschöpft. Die Analyse von Spielfilmen zeigt, dass es daneben noch eine weitere Grundform gibt: die Kontaktherstellung durch eine dritte Person. Hierzu nur zwei kurze Filmbeispiele: – Bridget Jones und Mark aus dem Film „Bridget Jones – Schokolade zum Frühstück“ (USA/GB 2000) begegnen sich als Erwachsene zum ersten Mal bei der Neujahrsfeier von
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Bridgets Eltern. Bridgets Mutter ist es, die die beiden einander vorstellt, mit dem Hintergedanken, dass die beiden ein ideales Paar wären. Es wird aber bis zum Ende des Filmes dauern, bis auch Bridget und Mark davon überzeugt sind. – Hans und Uschi aus dem Film „Eine Berliner Romanze“ (DDR 1956) lernen sich über Hans’ Freund Lord kennen. Sie treffen sich zu dritt auf dem Rummel und Lord stellt Hans Uschi vor, die aber dieses Kennenlernen mit geringem Interesse quittiert. Hans verliebt sich sofort in Uschi und es gelingt ihm durch seine Penetranz, Uschi für sich zu gewinnen. In diesen beiden Fällen stammen die Dritten jeweils aus dem natürlichen Netzwerk (Mutter, Freund). Während im ersten Fall die Paarbildung ein unmittelbares Handlungsziel von Bridgets Mutter war, entsprang im zweiten Fall die Vorstellung seiner Begleiterin lediglich einem Höflichkeitsritual von Lord gegenüber seinem Freund, den er auf dem Rummel zufällig traf. Möglich ist es aber auch, dass es sich um professionelle Dritte (Heiratsvermittler oder Partnervermittlungsinstitute) handelt. Dieser Weg ist durchaus mit der familiengebundenen Partnerwahl im bürgerlichen Sozialmilieu kompatibel, hat sich aber inzwischen ebenfalls von der elterlichen Einflussnahme losgelöst. Das Besondere besteht darin, dass die Partnersuche von bestimmten anfänglichen Schritten entlastet wird, die an räumliche Anwesenheit sowie an eine spezifische soziale Kompetenz gebunden sind und dadurch zeitaufwändig werden können. Es entfällt, jemanden Fremden anzusprechen oder sich ansprechen zu lassen und das Interesse an einer Beziehung anzuzeigen bzw. gegenüber jemandem Bekannten das Interesse an einer Intensivierung zu bekunden. Ebenso ist es nicht erforderlich, nach Signalen Ausschau zu halten, ob der/die andere „frei“ und auch bereit für einen Beziehungsaufbau ist. Wenn es dann zu einer ersten Begegnung kommt, treffen sich auch zwei Fremde, die aber bereits bestimmte Vorinformationen über die andere Person haben. Vor allem wissen sie voneinander, dass eine Offenheit für eine neue Beziehung vorhanden ist und damit etwas Wesentliches für eine mögliche Paarbildung. Auch wenn diese Schritte wegfallen, heißt das noch lange nicht, dass damit schon der Beziehungsaufbau abgeschlossen wäre, dieser steht erst bevor. Besonders kritisch ist das erste Treffen, da beide davon überzeugt werden müssen, dass es lohnend ist, diesen Kontakt fortzusetzen. Nur wenn der Kontakt über die erste Begegnung hinaus Bestand hat, besteht die Chance, dass daraus eine Paarbeziehung entsteht. Auf dem Weg dorthin sind auch hier das Setzen eines ersten Beziehungszeichens und die Selbstdefinition als Paar erforderlich.
2.3 Rituelle Probleme in der einseitigen Kontaktanbahnung Nachdem deutlich gemacht wurde, dass Pickups nicht mit einer einseitigen Kontaktanbahnung gleichgesetzt werden dürfen, möchte ich mich im Weiteren genauer mit dieser Grundform befassen. Wie wird in diesem Fall mit dem rituellen Problem des Ansprechens eines Fremden umgegangen? Auch hierfür soll eine Filmszene näher betrachtet werden. Sie stammt aus der deutschen Liebeskomödie „Im Juli“ (2000) von Fatih Akin. In der ausgewählten Szene begegnet auf einem Hamburger Markt der junge Referendar Daniel der flippigen Schmuckverkäuferin Juli. Bevor Daniel ins Bild tritt, unterhält sich Juli mit
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einer Freundin, die sie heute an ihrem Stand besucht hat, über ihn. Er gehe jeden Tag an ihrem Stand vorbei; sie habe sich jedoch noch nicht getraut, ihn anzusprechen. Ihre Freundin ermuntert sie zur Kontaktaufnahme. Dies wird dadurch erleichtert, dass Daniel kurz vor ihrem Stand ein Missgeschick passiert: Der Henkel seiner Papiertüte reißt und einige eingekaufte Waren fallen zu Boden. Daniel sammelt diese wieder ein und wird dabei von einer Passantin unterstützt. Dann setzt der nachfolgende, in der Wiedergabe leicht gekürzte Dialog ein: Im Juli (BRD, 2000), Sequenz 3 Juli: Daniel:
HEY !DU! (2.0) komm doch mal HER- (8.0) siehst AUS wie jemand der GLÜCK gebrauchen kann; ich seh’ wohl EHER aus wie jemand der ’ne neue tüte braucht.
Juli zeigt ihm einen Ring mit einer Sonne. Juli: was IST das. Daniel das ist eine SONne- (...) Juli:
die SONne macht LICHT, (-) licht in MEInem leben (.) licht in Ihrem leben (.) licht in DEInem leben. (...) `n anderes wort für licht ist GLÜCK,
Daniel Juli:
ach SO und der der ring der bringt GLÜCK, DU bist aber schlAU.
Daniel Juli: Daniel
ich werd’ ja auch bald LEHrer. LEHrer? (-) ECHT (-) is’ ja LUstig- (---) wie is=’n dein nameäh daniel (.) daniel (banIER);
Juli: Daniel Juli:
is’ aber ’n SCHÖner name; ja und wie heißt DU? ICH heiße JUli-
Daniel Juli:
JUli; wie der MOnat; (1.5) was is’ mit dem RING? (3.5) das is’ ’n GAnz alter MAyaring. (--) die legENde SAgt (.) dass der TRÄger dieses rings sein GLÜCK erkennen kann. (---) sehr bald wird ein MÄdchen auf dich ZUkommen (.) sie wird AUCH eine sonne tragen geNAU wie du (-) DIEse person (.) und nur DIEse (.) ist dazu beSTIMMT dein GLÜCK zu sein.
Daniel
was willst=’n dafür HAben, (...)
Sie feilschen über den Preis. Daniel FÜNFunddreißig mehr HAB’ ich nicht (-) a’=ich will ihn HAben, Juli: OK aber (---) aber NUR weil (--) weil ich dich GERN hab’. Daniel DAnke, Juli: ähm WARte=mal (--) das ist heute Abend (-) kannst ja mal vorBEI schaunSie gibt ihm einen auf dem Verkaufstisch liegenden Flyer. Daniel DANkeschön (-) bin ich ja mal geSPANNTJuli: ICH erst; Daniel tschÜss, Juli: tschÜss,
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Pickups in Form einer einseitigen Kontaktaufnahme weisen – wie dieses Beispiel zumindest nahe legt – eine Vorphase auf, die in diesem Film vor allem durch das Gespräch der beiden Freundinnen erkennbar wird. Juli spricht keine Person an, die sie zum ersten Mal sieht. Seit längerem schon beobachtet sie Daniel als einen ständigen Marktbesucher; ihr Interesse an seiner Person gründet sich ausschließlich auf sein Erscheinungsbild. Juli verwendet das Anbieten eines Ringes – sogleich ein Beziehungssymbol – zur Anbahnung des Kontaktes. Juli benutzt in diesem Beispiel einen Vorwand für die Kontaktaufnahme. Sie täuscht Daniel, da sie bei ihm einen Eindruck hervorruft, ihr gehe es darum, etwas zu verkaufen. Es ist durchaus gängig, dass potenzielle Kunden auf dem Markt von den Standbetreibern für die Anpreisung ihrer Produkte angesprochen werden. Wie dieses Fallbeispiel zeigen kann, ist eine Täuschung in einer Pickup-Situation eine kommunikative Strategie5, die geeignet ist, das Eintreten eines rituellen Verstoßes zu vermeiden6. In einem Markt-Setting besitzen Verkäufer/innen das Recht, ihre Waren den potenziellen Kunden anzubieten, was auch das direkte Ansprechen mit einschließt. Die Szene lässt auch erkennen, dass die Benutzung einer vorgespielten Kaufinteraktion für eine Beziehungsanbahnung es notwendig macht, im Sinne einer Personalisierung über die bloße Kaufinteraktion hinauszugehen. Damit es nicht bei dieser einen Interaktion bleibt, bereitet Juli am Ende dieser Interaktion ein Wiedersehen vor, indem sie Daniel zu einer Party einlädt. Das ist eine deutliche Übertretung von dem, was man in einer Kaufinteraktion normalerweise erwartet; für eine Beziehungsanbahnung ist allerdings – wie bereits betont – ein Wiedersehen unverzichtbar. Auch wenn es ihr in der vorgetäuschten Kaufinteraktion nicht gelingt, Daniel bereits ihr Beziehungsinteresse anzuzeigen, so leistet die Täuschung für ihren Beziehungsaufbau doch einen wichtigen Dienst: Bei der nächsten Begegnung treffen nicht mehr zwei Fremde aufeinander, sondern bereits zwei Bekannte, für die eine Kontaktaufnahme ein rituelles Gebot ist. Das Vermeiden eines rituellen Verstoßes ist aber nicht nur durch Täuschungen möglich. Dies soll durch einen nochmaligen Verweis auf die eingangs zitierte Szene aus dem „Schwarzwaldmädel“ verdeutlicht werden. In diesem Film nimmt die Pickup-Situation die Gestalt einer Hilfeleistung an. Der Film weist zugleich auf ein soziales Setting hin, in dem das Kennenlernen fremder Personen nachhaltig erleichtert wird. Was sich vor unseren Augen abspielt, ist ein Maskenball. Ein Maskenball ist im Sinne von Goffman (1971: 129ff) eine „offene Region“. Unter einer offenen Region werden „räumlich abgegrenzte Orte“ verstanden, „an denen Menschen, gleich wer sie sind und ob sie einander kennen, das Recht haben, Blickkontakt miteinander zu initiieren“. Das Besondere eines Maskenballs als offene Region liegt darin, das die Anwesenden bereits durch ihre Kleidung anzeigen, dass sie sich „außerhalb ihrer Rolle befinden“ (Goffman 1971: 132). Sie geben zu erkennen, dass sie jemand anderen darstellen. Ihre geborgte und sichtbar gemachte, andere Identität federt gleichsam die rituellen Ansprüche an das eigene Selbst ab. Weitere offene Regionen sind Bars, Tresen in Kneipen oder auch Geselligkeiten in privaten Räumen. Generell sind offene Regionen exponierte Gelegenheiten zur Kontakt5 Schon dieses Beispiel zeigt, dass Täuschungen in Zweierbeziehungen eine „positive Bedeutung“ (Simmel 1983: 262) haben können. Ausführlicher zur Normalität von Täuschungen in Zweierbeziehungen vgl. Lenz: 2003b. 6 Auch Hilfesituationen können vorgetäuscht werden.
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aufnahme zwischen Fremden. Die Anwesenheit in einer offenen Region signalisiert immer schon eine Offenheit für neue Kontakte, Offenheit ist hier nicht personengebunden, sondern bereits situativ vorgegeben. Filme zeigen schließlich auch Beispiele für eine einseitige Kontaktanbahnung, bei denen der rituelle Verstoß nicht vermieden bzw. nicht erfolgreich geheilt wird. Das nachfolgende Beispiel stammt aus dem Film „Endstation Liebe“ (BRD 1957). Mecky und Christa arbeiten beide in einer Glasfabrik, Mecky in der Produktion, Christa seit kurzem im Büro. Kurz vorher hatte er Christa zum ersten Mal gesehen, als sie Unterlagen aus dem Büro zum Vorarbeiter bringen musste. Mit einigen Arbeitskollegen schließt er eine Wette ab, dass es ihm gelingen werde, die ‚Neue‘ an diesem Wochenende zu verführen. In dieser Szene, aus der der folgende Dialog entnommen ist, sind sie nach Betriebsschluss am Samstagmittag auf dem Heimweg, Christa zu Fuß und Mecky mit einem Fahrrad. Endstation Liebe (BRD 1957), Sequenz 4 Mecky
Christa Mecky:
((ruft)): hey Christa; (1.25) tach; wie geht’s denn? (1.0) kennen sie mich denn nicht mehr? ich bin doch der freund von ihrem bruder; (--) vom Uli; ja? (1.0) ach, nun tun sie doch nicht so. (-) wir waren doch zusammen bei Woit, beim kontrollingenieur. ((leichtes Lachen (3.0))) was haben sen heut noch vor, hm? soll ich se nach haus fahren? komm se. (e)s geht prima; (-) oder woll’n se n kissen?
Christa: nein danke (-) ich fahr mit’m bus; Mecky: ach nu sein se doch nich kOmisch wenn ich ihnen anbiete dass ich sie nach hause fahre dann können ses ruhig annehmen. (2.75)
Sichtbar wird aus diesem Ausschnitt, dass Mecky stark bemüht ist, Gründe für sein direktes Ansprechen zu finden, um damit einen Verstoß gegen die rituelle Ordnung zu heilen. Neben der zur Standardformel gewordenen Frage nach der Befindlichkeit („Tach; wie geht’s denn?“), versucht er sich als Bekannter einzuführen. Er sei der Freund ihres Bruders und sie haben sich heute beim Kontrollingenieur gesehen. Würde er von ihr als Bekannter akzeptiert werden, wäre es kein ritueller Verstoß mehr. Ein weiterer Versuch, einen Grund zu finden, ist sein Angebot, sie nach Hause zu fahren und ihr damit einen Gefallen zu erweisen. Wenngleich Christa Blicke für Mecky hat – was dem Zuschauer andeuten soll, dass die Distanz im Laufe des Films verschwinden wird – ignoriert sie seine Annäherungsversuche und schweigt fast durchgehend. Am Ende der Szene – hier nicht ausgeführt – weist sie ihn dann mit einer großen Entschiedenheit zurecht. Ihre Reaktion macht den Regelverstoß explizit. Mecky hat sich etwas herausgenommen, was situativ nicht angemessen war.
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3. Online-Dating als neue Form des Kennenlernens Das Internet hat neue Möglichkeiten der Kontaktaufnahme geschaffen. Als Sammelbegriff für alle Formen der Kontaktsuche via Internet hat sich Online-Dating eingebürgert (vgl. auch Bühler-Ilieva 2006). Die traditionsreichen Zeitungsinserate haben inzwischen durch die Kontaktanzeigen-Portale Konkurrenz bekommen. Zu den bekanntesten gehören FriendScout24, meetic und neu.de. FriendScout 24 wirbt damit, dass es „die größte deutschsprachige Singlebörse“ mit ca. 3,3 Millionen registrierten Mitgliedern ist. Bei den Kontaktanzeigen-Portalen werden die Kontaktanzeigen von den Interessierten selbst ins Netz gestellt, gelesen und bei Interesse wird der Kontakt auch selbst direkt aufgenommen. Um sich in dieser Datenmenge zurechtzufinden, haben die Online-Kontaktbörsen Suchfunktionen (in aller Regel nach Geschlecht, Alter und Raum). Davon lassen sich Internet-Partnervermittlungen unterscheiden, die eine Weiterentwicklung der Dienste von Partnervermittlungsinstituten und auch eine starke Konkurrenz dazu darstellen. Im Unterschied zur klassischen Partnervermittlung erfolgt der gesamte Vermittlungsprozess online. Der Suchende hat Angaben zu seiner Person zu machen und zum Wunschpartner; zudem ist ein Persönlichkeitstest auszufüllen. Durch Matching-Verfahren werden dann passende Personen ausgewählt und vorgeschlagen. Zu den bekanntesten Angeboten zählen in Deutschland Parship, ElitePartner und Lovepoint. Nach eigenen Angaben hat Parship, das zur Holtzbrinck Mediengruppe gehört, in seiner Datei europaweit 1,6 Millionen Suchende. Zum Online-Dating lassen sich schließlich auch noch Single-Chats rechnen, wie sie z.B. von FriendScout24 oder Chatlovers angeboten werden7. Ein besonderer Vorteil des Online-Dating ist die große Anzeigenmenge. Hinzu kommt als weiterer Vorteil ein schneller und anonymisierter Rückkanal, z.T. durch E-Mail oder SMS (vgl. Döring 2003). Neben der gezielten Online-Partnersuche (Online-Dating) gibt es noch das beiläufige Kennenlernen im medialen Kontext, z.B. in Mailinglists, hobbybezogenen Newsgroups oder in geselligen Online-Umgebungen (in Form von Online-Chat-Rooms). Das Kennenlernen via Internet schafft die Möglichkeit, dass Paare mit großer räumlicher und auch sozialer Distanz zustande kommen können. Nicole Döring (2003) weist darauf hin, dass im Netz der erste Eindruck vom Körper abgekoppelt ist. Das erste, was man über eine Person erfährt, ist meist ihr Schreibstil, die Originalität und die Korrektheit ihres schriftlichen Ausdrucks. Wörter wie „Fußball“ oder „angeln“ gelten als Flirtkiller, ungleich mehr Zuspruch finden Männer, wenn sie von Kunst, Kultur oder Geborgenheit schreiben. Die schriftsprachliche Kompetenz wird im Netz zur „wichtigsten Attraktivitätsressource“ (Döring: 2003). Die hohe Anonymität erleichtert es, persönliche Informationen preiszugeben oder offen zu flirten. Sie schafft auch die Wahrscheinlichkeit, dass auf Kontaktangebote nur als Spaß und ohne ernsthaftes Interesse eingegangen wird. Dadurch erhöhen sich zwar die Kontaktchancen erheblich, aber für die ernsthaft Suchenden wird es auch wahrscheinlicher, dass sie enttäuscht werden. Verbreitet scheint auch die Suche nach dem kurzen sexuellen Abenteuer zu sein. Überhaupt ist das Risiko von Täuschung und Enttäuschung groß, da es im Netz ohne weiteres möglich ist, sogar das Geschlecht zu wechseln oder das Alter zu korrigie7 Nicht eigens aufgeführt werden sollen in diesem Zusammenhang die Formen des Adult Datings und Alternative Datings, da es bei diesen Online-Angeboten um die Vermittlung von Sexkontakten und Seitensprüngen bzw. besonderer sexueller Praktiken geht.
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ren. Allerdings wird offensichtlich ein Geschlechterwechsel eher selten praktiziert, zahlreich sind jedoch in Online-Selbstdarstellungen „attraktivitätssteigernde Korrekturen“ (Döring: 2003), z.B. im Alter oder auch im Einkommen und Beruf.
4. Selbstdarstellung als Idealisierung Bislang wurde unterstellt, dass jede Aufbauphase einer Zweierbeziehung mit einer ersten Begegnung einander bislang fremder Personen beginnt. Auch dies ist allerdings zu korrigieren! Möglich ist eine Paarbildung ebenso zwischen zwei Personen, die vorher schon über einen längeren Zeitraum miteinander bekannt oder gar befreundet waren. Eine Bekanntschaft kann dabei im Freizeitbereich oder in gemeinsame Arbeits- oder Ausbildungszusammenhänge eingebettet sein. Von einer Freundschaft kann dagegen nur dann gesprochen werden, wenn diese – auch wenn sie im Beruf oder in der Ausbildung entstanden ist – in die gemeinsame Freizeit hineinreicht. Für Bekannte – und noch mehr im Falle einer Freundschaft – stellt sich nicht die Frage, wie sie in Kontakt kommen, im Gegenteil, sie sind – wie Goffman (1971) gezeigt hat – sogar verpflichtet, immer dann, wenn sie sich begegnen, zumindest einen kurzen Kontakt herzustellen. Nicht die Kontaktaufnahme ist hier das Problem, sondern wie die Transformation aus dem Bekanntschafts- oder Freundschaftsmodus bewerkstelligt und durch welches Ereignis (Wendepunkt) diese angestoßen wird. Im Unterschied zu zwei Fremden besitzen Bekannte und Freunde bereits reichlich persönliches Wissen und verfügen über ein Bild voneinander. Sie müssen auch nicht erst Ausschau halten, ob der andere über erwünschte Eigenschaften verfügt und sie können bereits auf ein breiteres Fundament als die physische Attraktivität und situative Verhaltensweisen aufbauen. Aber sie müssen sich darüber verständigen, dass ihre Beziehungsqualität verändert werden soll. Das Anzeigen des Interesses an einer Vertiefung der Beziehung und das Ausschau-Halten danach, ob der andere ebenfalls ein Interesse daran hat, sind hier die zentralen interaktiv zu bewerkstelligenden Herausforderungen. Wie im Falle eines Kennenlernens zwischen Fremden braucht es im Weiteren ein Setzen eines ersten Beziehungszeichens, durch das angezeigt wird, dass man sich näher gekommen ist und damit körperliche Nähe und Berührungen möglich werden, die unter Freunden oder gar Bekannten eine rituelle Verletzung wären. Ein behutsames Vorgehen ist hier nicht nur erforderlich, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden, sondern eine Abweisung und ein Verstoß gegen die rituelle Ordnung haben immer auch Auswirkungen auf die Bekanntschaft bzw. Freundschaft bis hin zum Kontaktabbruch. Zugleich macht diese Ausgangskonstellation darauf aufmerksam, dass die Theatralität nicht auf die erste Begegnung beschränkt ist. Auch wenn eine Zweierbeziehung aus einer vorangegangenen Freundschafts- bzw. Bekanntschaftsbeziehung hervorgeht, können sich die Beteiligten nicht dem Zwang der Theatralität entziehen. Sie müssen zwar nicht das rituelle Problem der Kontaktaufnahme zu einem Fremden meistern, aber auch sie müssen Überzeugungsarbeit leisten, dass es sich lohnt, mehr als bloße Freunde oder Bekannte zu sein. Auch diejenigen, die sich über eine Bekanntschaftsannonce in der Zeitung oder über ein OnlineDating zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht treffen, entgehen dieser Aufgabe nicht.
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Bis es zu der Paarbildung kommt, müssen eine Reihe von Begegnungen arrangiert werden, die als Möglichkeitsraum dafür dienen, Interesse an einer Beziehung anzuzeigen und die Ernsthaftigkeit dieses Interesses unter Beweis zu stellen. Durch die Teilhabe an gemeinsamen Aktivitäten und durch gemeinsame Gespräche gewinnen die beiden in wachsendem Maße Informationen voneinander und sind so zunehmend in der Lage, sich wechselseitig zu identifizieren. Bestimmt werden muss das Fremdbild (Wer ist der andere?) einerseits, aber andererseits ebenso das Selbstbild, also wer man in der Beziehung zu dieser anderen Person ist bzw. sein kann. Die in Aufbauprozesse eingelagerte Identitätsarbeit umfasst nicht nur die Wahrnehmung der Identität, sondern es geht zugleich immer auch um eine Definition und Aushandlung der Identitätsentwürfe. Um vom anderen ein Bild zu gewinnen, sind die beiden Beteiligten wechselseitig auf die Selbstdarstellungen des anderen als Informationsquelle angewiesen. Das Bild, das Person A von Person B entwickelt, stützt sich auf das Bild, das B von sich entwirft. Was aber nicht heißt – und nicht heißen kann –, dass das entworfene Selbstbild als Fremdbild einfach übernommen wird. ‚Stützen‘ heißt lediglich, dass die Selbstdarstellung die primäre Informationsquelle ist. Für den Aufbau einer Zweierbeziehung besteht ein hoher personenbezogener Wissensbedarf, der zwar nicht ausschließlich, aber doch zu großen Teilen aus der Selbstdarstellung gespeist wird. Informationen über die andere Person sind auch unerlässlich, um in den Handlungsprojekten fortfahren und diese aufeinander ausrichten zu können. Die Selbstdarstellung ist jedoch nicht nur eine gegenseitige Serviceleistung, die für einander erbracht wird. Sie erwächst auch aus dem Eigeninteresse, auf die Verhaltensweisen des anderen Einfluss auszuüben. Dies geschieht, indem sich A in einer Art und Weise zu erkennen gibt, die geeignet erscheint, B‘s Definition der Situation – die Antwort auf die Frage, was geht hier vor? – zu modellieren und dadurch B zu bestimmten Handlungen zu veranlassen. Indem sich A als hilfsbedürftig darstellt, versucht sie auf die andere Person einzuwirken, sie in der Situation als jemand wahrzunehmen, die Unterstützung braucht. Dadurch ‚bescheinigt‘ sie dieser Person zugleich die Kompetenz zur Hilfeleistung und eröffnet ihr die Chance, sich selbst als jemand darzustellen, der hilfsbereit ist, mit dem Ziel, ihr in der gewünschten Weise unter die Arme zu greifen (vgl. auch Metts: 1997). Sicherlich hat ein solcher Versuch keine Erfolgsgarantie; dennoch stellt die Selbstdarstellung ein wichtiges Instrument dar, das Handeln anderer zu beeinflussen. Eine Selbstdarstellung ist auch notwendig, da soziale Akteure immer schon von der Möglichkeit der Täuschungen wissen. Für den sozialen Verkehr hat dies weitreichende Konsequenzen: Sie sind gezwungen, darauf zu achten, was ihr Tun in den Augen der anderen implizieren könnte. Es reicht nicht aus aufrichtig zu sein, sondern sie müssen immer auch Sorge tragen, dass sie gegenseitig auch aufrichtig wirken. Soll eine Darstellung erfolgreich sein, so ist es notwendig, die andere Person von der eigenen Aufrichtigkeit zu überzeugen. Diese zu leistende Überzeugungsarbeit ist ein integraler Bestandteil der Selbstdarstellung (vgl. Goffman: 1969). Die Selbstdarstellung ist in allen sozialen Situationen relevant. Allerdings sind die Akteure nicht immer im gleichen Ausmaß besorgt um den Eindruck, den sie auf andere machen. Eine besondere Aufmerksamkeit wird der Selbstdarstellung dann zuteil, wenn eine hohe Motivation und auch eine positive Erfolgserwartung vorhanden sind. Vor allem dann, wenn ein Individuum das Ziel hat, einen gewünschten Eindruck zu erwecken oder eine gewünschte Reaktion bei der anderen Person hervorzurufen, und zugleich annimmt, dass sie dies auch
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erreichen kann, wird die Selbstdarstellung zu einer zentralen Aufgabe in einer Situation. Im Ablauf von Zweierbeziehungen ist dies besonders ausgeprägt in der Aufbauphase der Fall und zwar, wenn A nicht nur Interesse an B hat, sondern entweder glaubt, Anzeichen für eine Erwiderung auf der anderen Seite bemerkt zu haben, oder aufgrund der eigenen Selbsteinschätzung fest vom Erfolg überzeugt ist. Eine Selbstdarstellung besitzt stets eine Tendenz zur eigenen Idealisierung und steht damit immer schon an der Grenze zur Täuschung, die leicht überschritten werden kann (vgl. Goffman: 1969). Bei jeder Form der Idealisierung müssen diejenigen Handlungen, Sachverhalte und Motive, die mit dem dargestellten Selbst unvereinbar sind, verborgen oder zumindest abgeschwächt werden. Für eine Idealisierung ist immer auch ein zumindest partielles Verheimlichen oder gar ein Fälschen notwendig. Besonders verbreitet ist die positive Idealisierung. Es geht also nicht um irgendein Bild, das von sich selbst entworfen werden soll, sondern die Person ist bestrebt, sich in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen. Für die Aufbauphase gilt dies umso mehr, als die Personen gezwungen sind, sich als einzigartig darzustellen und als solche auch akzeptiert zu werden. Für die (angehenden) Beziehungspersonen ist es offensichtlich von hoher Relevanz, ihre Biografien kennen zu lernen. Biografische Erzählungen nehmen in den Anfängen einer Beziehung einen breiten Raum ein (vgl. Bochner/Ellis/Tillman-Healy 1997; Allert 1998). Diese biografischen Erzählungen werden nicht als sachliche Berichte präsentiert, sondern stets zu einer Idealisierung der eigenen Person genutzt. Gezeigt wird, dass man eine einzigartige Person ist und dass diese Einzigartigkeit geeignet ist, ein besonderes, personengebundenes Interesse zu generieren. Dies schließt nicht aus, dass auch negative Vorfälle in der eigenen Lebensgeschichte erwähnt werden können. Aber auch diese können zu einer positiven Stilisierung genutzt werden, etwa dadurch, dass man sich als jemand zu erkennen gibt, der auch die größten Schwierigkeiten meistert. Schließlich kann eine Idealisierung auch – was allerdings seltener der Fall ist – in einer negativen Konnotation auftreten, aber auch dann bleibt es eine ‚Besonderung‘ der Person. Generell kann eine Person aber erwarten, dass das von ihr dargestellte Selbst einschließlich der Idealisierungen von anderen ernst genommen wird. In der Aufbauphase scheint dabei diese Bereitschaft besonders groß zu sein. Dies hängt damit zusammen, dass die Idealisierung in der Aufbauphase eine Praxis ist, die von beiden Seiten ausgeübt wird. Da beide bestrebt sind, sich positiv darzustellen und Punkte für ihre dargestellte Einzigartigkeit zu machen, scheint die Chance, Täuschungen zu erkennen und diese aufzudecken, erheblich abgesenkt zu sein. Es stellt sich ein hohes Ausmaß an Kooperation ein, die Glaubwürdigkeit der beiderseitigen Selbstdarstellungen mit zu tragen, was für die angestrebte Bindung durchaus funktional ist. Allerdings eröffnet dies die besondere Gefahr, unrealistische Vorstellungen voneinander zu entwickeln bzw. diesen aufzusitzen. Diese Wahrnehmungsverzerrung dürfte auch der zentrale Kern der in den Ehe- und Beziehungsratgebern über die Dekaden hinweg wiederkehrenden Warnung vor der Verliebtheit sein. Gesprochen wird davon, dass die Verliebtheit „blind“ mache, von der „rosaroten Brille der Verliebtheit“ (Oheim: 1959: 49), von dem „rauschhaften Zustand der Verliebtheit“, in dem beide „ihr Bild vom Partner lieben“ (Thiel: 1999: 186) oder Verliebtheit wird gar als Verrücktsein (Pritchard: 1997: 60) aufgefasst. Gemeinsam ist diesen Beispielen, dass sie mehr Realismus in der Wahrnehmung des Partners bzw. Partnerin einfordern, um dem idealisierten Eindruck nicht zu viel an Glauben zu schenken.
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5. Tendenzen einer Theatralisierung im Beziehungsaufbau? Mein zentrales Argument ist, dass aufgrund bestimmbarer kultureller Rahmenbedingungen die Theatralität zur gängigen sozialen Praxis im Beziehungsaufbau wurde. Egal in welcher Konstellation es zur Paarbildung kommt, die Beteiligten sind wechselseitig gezwungen, sich möglichst im positiven Licht darzustellen und ihre Einzigartigkeit unter Beweis zu stellen. Abschließend soll noch gefragt werden, ob sich dieser Zwang durch die mediale Durchdringung der sozialen Wirklichkeit noch gesteigert hat (vgl. Keppler: 2005; Willems: 2005). So haben Nathalie Iványi und Jo Reichertz (2002) in ihrer empirischen Studie, die unter dem Titel „Liebe (wie) im Fernsehen“ erschienen ist, gezeigt, dass die Heiratsanträge aus der Fernsehshow „Traumhochzeit“ inzwischen auch im Alltag von Paaren nachgespielt werden (vgl. auch Iványi 2003). Unbestreitbar kommt den Medien eine hohe Bedeutung für die Bereitstellung von kulturellen Modellen für Paare zu. Der Beziehungsdiskurs speist sich ganz wesentlich aus der medialen Darstellung von Paarbeziehungen. An medialen Beziehungsmustern und Figuren kann die Gestaltung der eigenen Beziehung und das eigene Handeln ausgerichtet werden. Allerdings greifen die Medien dabei auf vorhandene Alltagspraktiken zurück, die in den Medien lediglich gattungs- und formatspezifisch aufbereitet werden (vgl. Keppler 2005). Für die Sendung Traumhochzeit wurden Heiratsanträge nicht erst ‚erfunden‘. Zu vermuten ist auch, dass die von Iványi/Reichertz beschriebene kommunikative Prozessstruktur der Heiratsanträge8 aus dem Alltag stammt. Die in diesen Sendungen vor der Kamera agierenden Personen greifen die vorhandenen kulturellen Praktiken lediglich auf und setzen diese in Szene9. Was diese Sendung hinzugefügt hat, ist die spektakuläre Inszenierung der Heiratsanträge (z.B. vor einem vollbesetzten Universitätshörsaal). Für die Verbreitung und Popularisierung von Handlungsmodellen kommt der medialen Aufbereitung eine exponierte Stellung zu. So ist durchaus zu vermuten, dass die Sendung Traumhochzeit zu einer Re-Romantisierung des Übergangs zur Ehe beigetragen hat. Dabei hat diese Sendung allerdings die lebensweltlich vollzogene Änderung des Heiratsantrages im Beziehungsablauf bloß nachvollzogen. Der Heiratsantrag ist nicht mehr der erste Schritt zur Herstellung von Verbindlichkeit, sondern im Heiratsantrag wird – wie es Nathalie Iványi (2002: 62) formuliert – „in der Regel der Wunsch (zum Ausdruck), eine bereits (...) bestehende Beziehung zu einem sozial relevanten Anderen auf Dauer zu stellen.“
8 Iványi (2002) zeigt, dass die inszenierten Heiratsanträge eine vierphasige Struktur aufweisen: Der Antragsteller bzw. die Antragstellerin eröffnet die Interaktion mit einer Anrede bzw. Grußformel (z.B. „Hör mal Spatz“). Es folgt dann der sog. Vorbau des Antrages, der in die Bitte mündet und schließlich durch die Reaktion der zweiten Person abgeschlossen wird. Ein fester Bestandteil des Vorbaus ist eine Liebeserklärung (z.B. „Es gibt nichts auf der Welt, was ich so liebe wie dich“), die vielfach durch metakommunikative Hinweise auf die aktuelle Tätigkeit der anderen Person, mit gemeinsamen Zukunftswünschen oder durch eine Referenz auf die Vergangenheit des Paares ergänzt wird. Die Zukunfts- und Vergangenheitsverweise scheinen der Legitimation des Heiratswunsches zu dienen und sollen die Überzeugungskraft der dargestellten Liebe gleichsam unter Beweis stellen. 9 Für die Paarforschung werden diese Medienprodukte aus diesem Grunde zu einer wichtigen Materialgrundlage. Diese Fernsehshows ermöglichen es – wie es Iványi/Reichertz (2002: 10) formuliert haben – „die Praktiken der Liebesdarstellung und des Vollzuges von Beziehungspassagen, wie sie von Alltagsakteuren gebraucht werden, unproblematisch in ihrem Vollzug (zu) beobachten und (zu) untersuchen“ (vgl. auch Lenz 2006b).
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Diese hohe soziale Relevanz der Medien für Paarbeziehungen ist allerdings nichts prinzipiell Neues. Auch die romantische Liebesemantik ist ohne die literarischen Vorgaben der englischen Briefromane und vor allem der deutschen Romantik (z.B. Lucinde von Friedrich Schegel) nicht denkbar. Mit Ausbreitung der audiovisuellen Medien als Transporteur kultureller Beziehungsleitvorstellungen geht allerdings ein dichter Wirklichkeitseindruck einher, der nicht mehr an das Nadelöhr der Rezeption von Texten als komplexe Kulturtechniken gebunden ist. So besitzen Jugendliche heute – um diesen Aspekt der Paarbildung hier herauszustellen – aus dem Fernsehen und verstärkt auch aus dem Internet, lange bevor sie eigene sexuelle Erfahrungen machen, bereits ein umfangreiches Wissen über sexuelle Praktiken. Sexuelle Handlungen, wenn auch mit festen Konventionen, welche Körperteile und Abläufe ins Bild gebracht werden dürfen, sind in der Medienwelt von Kindern und Jugendlichen verankert. Das Thema Sex nimmt – implizit oder explizit – in den TV-Serien, Talkshows, Spielfilmen, Videoclips und den Jugendzeitschriften einen breiten Raum ein. Kinder und Jugendliche erwerben dadurch – vermeintlich – realistische Anschauungen über sexuelle Aktivitäten. Anders als für frühere Generationen ist „der sexuelle Akt“ für die heutige junge Generation – „zumindest hinsichtlich seines äußeren Ablaufes – für sie beim ‚ersten Mal‘ keine Terra incognita mehr“ (Dannenbeck/Stich 2002: 163). Schon vor der oder um die Pubertät haben sich Jugendliche intrapsychische Skripts angeeignet. Diese medial generierten „Drehbücher“ in ihren Köpfen werden in ihren Phantasien, in ihrem Umgang mit einer stark sexualisierten Umwelt und in den Begegnungen mit dem anderen Geschlecht aktualisiert und fortgeschrieben. Während frühere Generationen in diesem Alter kaum Bilder über sexuelle Interaktionen und Handlungen hatten, und daher – wie es Gunter Schmidt (2004: 117) nennt – in dieser Hinsicht „underscripted“ waren, sind die Kinder und Jugendlichen heute „heterosexuell overscripted“. Sexualität ist für sie nicht mehr ein „dunkler Kontinent“, zu dem sie keinen Zugang haben und der ihnen fremd bleibt, bis sie dort – was zumindest noch aus Erzählungen von Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts sichtbar wird – plötzlich erwachen (vgl. Sydow 1991). Aber die Dominanz dieser Bilder macht es „möglicherweise schwer, die medial vorfabrizierten medialen Schablonen abzuschütteln“ (Schmidt 2004: 117). Die Ergebnisse der Studie von Dannenbeck/Stich (2002) lassen erkennen, dass die medial erzeugten Vorstellungen auf Jugendliche einen enormen normativen Druck ausüben. Die im Gedächtnis gespeicherten Filmbilder werden als „selbstverständlicher Maßstab“ an das erste Mal herangetragen, und die Jugendlichen sind daran orientiert und bestrebt, „es richtig“ zu machen. Die medial vermittelten Bilder „stehen (...) nicht selten im Wege, unbekümmert miteinander eigene Erfahrungen zu machen. Gerade bei sexuellen unerfahrenen Jugendlichen trägt es insbesondere zur Verarmung der Fantasie bei, wenn sie ihre Vorstellungen überwiegend aus Filmen gewinnen, die den sexuellen Akt vorzugsweise in genormten, sterilen Bildern darstellen“ (Dannenbeck/Stich: 2002: 164). Dieser Einfluss ist keineswegs auf die Jüngeren begrenzt, auch sexuell erfahrene Erwachsene werden permanent über die mediale Darbietung damit konfrontiert, ihre eigene Sexualität mit dem zu vergleichen, wie sie – den medialen Prototypen folgend – in Umfang, Intensität und Variationsvielfalt eigentlich sein sollte oder zumindest sein könnte. So hat ein Feuilletonist der Süddeutschen Zeitung anlässlich der Ausstrahlung der letzten Folge der TV-Serie „Sex and the City“ (04.12.2004) davon gesprochen, dass diese Serie „als naturalistische Lebensanleitung“ gedient habe. „Vielleicht täuscht der Eindruck, aber es scheint, als
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hätte das Stakkato der Reflexionen und Zweifel, der unerfüllten Wünsche und überhöhten Ansprüche, tatsächlich einen spürbaren Einfluss auf viele Frauen zwischen 28 und 38 gehabt“ (Bernhard 2004: 15). Sicherlich mag dazu auch die breite Resonanz der Serie in den Frauen- und Lifestyle-Magazinen mit beigetragen haben. „Carrie Bradshaws Abenteuer und ihre Art darüber zu sprechen, ergeben jene erotische Normalbiografie, zu der sich die eigenen Erlebnisse zu verhalten haben“ (Bernhard: 2004: 15). Der Autor vermutet zudem, dass diese Serie einige bestehende Paarbeziehungen erschwerte, einige sich anbahnende gar verhinderte und zu einer Entdramatisierung des Single-Daseins beigetragen habe. Resultiert aus dieser medialen Durchdringung der sozialen Wirklichkeit eine Steigerung des in der Aufbauphase moderner Paarbeziehungen strukturell angelegten Darstellungszwanges? Kommt es zu einer Inszenierung einer Inszenierung, zu einer Theatralisierung der Liebesdarstellung? Ist es inzwischen soweit gekommen, dass es nicht mehr nur auf die gute Darstellung ankommt, sondern vor allem auf die „gekonnte Darstellung der Darstellungshandlung“ (Reichertz 1998: 393)? Dies mag in Einzelfällen durchaus der Fall sein. Aber im Regelfall bleibt die Qualität der Darstellung des inszenierten Heiratsantrags in der Nachahmung im Alltag weit hinter dem zurück, was im Fernsehen geboten wird (vgl. auch Iványi: 2003). Auch ist zu berücksichtigen, dass längst die Unterscheidung zwischen Original und Kopie verschwunden ist. Die visuellen Medien ahmen Alltagspraktiken nach, die selbst nichts anderes als Kopien von Kopien sind, in denen in vielfältiger Weise vorfindbare kulturelle Modelle verarbeitet werden. Das Kopieren der Fernseh-Kopien vervielfältigt nur die Kopierebenen. Zu vermuten ist, dass das Original nicht erst im Fernsehzeitalter abhanden gekommen ist. Trotz Zwang zur Theatralität dürfen im Beziehungsaufbau zudem die Grenzen der Theatralität nicht außer Acht gelassen werden. Normativ werden diese durch das Authentizitätsgebot eingefordert: Gegenüber dem bzw. der (angehenden) Beziehungspartner/in soll man sich so geben, wie man ‚wirklich‘ ist. Es existieren Grenzen, wie weit Idealisierungen in der Selbstdarstellung gehen können. Wer bestrebt ist, ein möglichst positives Bild von sich selbst zu entwerfen, der kommt nicht umhin zu beachten, was für den anderen ‚noch‘ als glaubwürdig präsentiert werden kann. In einer auf Kontinuität angelegten Beziehung darf die Glaubwürdigkeit nicht auf den Moment begrenzt sein, sondern muss – bildlich gesprochen – auch am ‚nächsten Morgen‘ noch Bestand haben. Mit dem Fortschreiten im Beziehungsaufbau nehmen die Informationen voneinander zu und die Unsicherheit im Verhältnis zueinander reduziert sich. Die ersten oberflächlichen Informationen werden zunehmend durch personengebundenes Wissen aufgefüllt und ersetzt. Mit der Fortdauer der Kontakte werden die Informationen immer dichter und die verschiedenen Bilder voneinander immer umfassender. Die Beziehungspersonen werden mit dem identitätsrelevanten Verhaltensrepertoire der anderen Person vertraut. Dass man bei fortgesetztem Kontakt miteinander vertraut wird, ist unvermeidbar. Bei fortgesetzten Kontakten ist es möglich zu vergleichen, wie sich die betreffende Person in dieser und einer anderen Situation verhalten hat. Es ist auch möglich, über einen Zeitraum hinweg das, was sie erzählt, mit dem, wie sie sich verhält, zu vergleichen. Ein längerer Zeitraum bringt es auch mit sich, dass – spätestens dann – Dritte als Informationslieferanten hinzukommen, und sei es auch nur dadurch, indem sie ihren ersten Eindruck von dieser Person schildern. Alles zusammen bewirkt, dass bei fortgesetztem Kontakt die Bilder voneinander sehr viel strengeren Prüfkri-
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terien unterworfen werden können, als dies in einer ersten Begegnung möglich ist. Mit zunehmender Dauer erwächst in einer Zweierbeziehung eine subjektive Gewissheit, wie die andere Person und man selbst in Relation zu ihr ist. Die verschiedenen Bilder voneinander gewinnen eine relativ feste Gestalt. Es verdichtet sich die Vorstellung, dass die Beziehungsperson so ist, wie man ihn bzw. sie sieht, und auch, dass man selbst so gesehen wird, wie man eben ist. Es entsteht also – wie es in Anlehnung an Barney G. Glaser und Anselm Strauss (1974) genannt werden soll – ein dichter Bewusstseinskontext der Fremd- und Selbstbilder. Kurz gefasst: Ohne großes Theater keine Beziehung, aber wir lassen uns von der Person, die mit dem Status der Höchstrelevanz ausgestattet werden soll, auch nicht alles vormachen. Um die eigene Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren und die angehende Zweierbeziehung zu riskieren, wird sie es meistens auch gar nicht probieren.
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Zeigen und Verbergen Intimität zwischen Theatralisierung und Enttheatralisierung Thomas Schwietring
Stellen wir uns einen Menschen, eine Frau oder einen Mann, des 19. Jahrhunderts vor, der sich unversehens in unsere Gegenwart versetzt findet. Stellen wir uns weiter vor, er würde nach und nach die öffentlichen Räume, die Schauplätze und Bühnen besuchen, die unsere Zeit kennzeichnen, auf denen sie sich darstellt und selbst erkennt. Er würde durch die Fußgängerzone einer großen Stadt laufen, er würde Plakatwände und Schaufenster betrachten, er würde Zeitungen und Illustrierte durchblättern; am Abend würde er einige Stunden von Fernsehsender zu Fernsehsender springen und schließlich die Nacht vor einem Computerbildschirm verbringen, um sich im Internet umzusehen und Foren, Chaträume, Weblogs und Community-Plattformen zu besuchen. Was würde ihm auffallen? Neben der ungeheuren Technisierung des Alltags und der Schnelligkeit der wechselnden Bilder und Bewegungen wäre es vielleicht vor allem die allgegenwärtige öffentliche Darstellung und Erörterung von intimen Themen und die Obsession für die Inszenierung von (entblößten) Körpern, die ihm als Kennzeichen unserer Zeit erschiene. Über die Inszenierung von Intimität zu reden, wenn es um Tendenzen der Theatralisierung von Gesellschaft geht, bedarf keiner Rechtfertigung. Intimes ist öffentlich und allgegenwärtig geworden. Intime Darstellungen auf Plakatwänden gehören zum Alltagsbild unserer Städte. Nacktheit, sexuelle Andeutungen und Explikationen ebenso wie ausgiebige Diskussionen verschiedenster Details aus der Privatsphäre und dem Liebesleben realer und fiktiver Personen spielen als Tabubrüche, ‚Enthüllungen‘ oder ‚Geständnisse‘, aber auch als Aufklärung, Emanzipation oder Lebensberatung eine zentrale Rolle in der Ökonomie medialer Inszenierungen. Sie schreien nach Aufmerksamkeit in Zeitschriften, Werbebotschaften, Spielfilmen, Musikvideos, Talkshows, Casting- und Container-Shows, in Vorabendserien und im Nachtprogramm erst recht. Es ist unendlich viel schwerer, intimen Details aus dem Weg zu gehen, als mit ihnen konfrontiert zu werden. Leicht ist die Diagnose zur Hand, die profitgetriebene Maschinerie der Medien, die Ökonomie des knappen Gutes Aufmerksamkeit sei es, die die Enttabuisierung und öffentliche Ausbreitung des Intimen vorantreibe: Sex sells. Und die mediale Omnipräsenz des Intimen zerstöre letztlich das, was sie ausstellt: Intimität. Wie soll auch authentische Intimität mög-
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lich sein, wenn es für alles und jedes öffentliche Vorbilder und Beispiele gibt, wenn alles schon gesagt, gestanden und gezeigt worden ist? Denn gemeinhin verbindet sich mit dem Begriff des Intimen die Vorstellung von zutiefst Persönlichem und von Authentizität, also dem genauen Gegenteil von Inszenierung und Zurschaustellung. Angesichts der öffentlichen Inflation des Intimen stellt sich somit die Frage, in welchem Verhältnis diese Inszenierungen zur gelebten Intimität stehen und ob reale Intimität damit nicht unmöglich wird und als Kategorie zum Verschwinden verurteilt ist. Als zweite Frage drängt sich auf, wie es um das soziale Miteinander insgesamt bestellt ist in einer Gesellschaft, die so sehr mit dem Intimen in zwischenmenschlichen Beziehungen befasst ist. Bevor sich diese Fragen erörtern lassen, gelangt man von diesen einleitenden Überlegungen zu dem Problem, was das Intime eigentlich genau ist.
Intimität und Individualisierung Soziologische Theorien beantworten diese Frage gerne indirekt. Sie sehen Intimität vor allem in Zusammenhang mit und als Ausdruck von Individualisierung. Das moderne individualisierte Subjekt ist demnach aus der Sorge um seine Intimität, aus einer „Wendung nach innen“, wie Peter Gay (1997[1995]) es nennt, entstanden und durch „Innerlichkeit“ (Charles Taylor 1994[1989]) gekennzeichnet. Michel Foucault (1977[1976]) hat von der ständigen Reflexion, dem „Geständniszwang“ und dem geradezu zwanghaften Diskurs über den „Sex“ gesprochen, die konstitutiv für das moderne Subjekt gewesen sind. Dieses (individualisierte) Subjekt bringt sich hervor, indem es sein Selbst, die Wahrheit seines Ichs, in seinem Inneren, eben bei seinem Sex sucht. Unter „Sex“ versteht Foucault allerdings nicht nur reine Sexualität, sondern der Begriff bleibt bei ihm relativ unbestimmt, so wie sein Gegenstand ja gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass er in der Tiefe offen und letztlich unergründlich ist. Gerade deshalb kann sich ein Diskurs an ihm abarbeiten ohne je zum Ziel zu gelangen. Eine Voraussetzung für diese Innenschau ist die Verlagerung von äußerer Fremd- zur inneren Selbstkontrolle, wie sie Norbert Elias (1976[1936]) als soziogenetischen und psychogenetischen Zivilisationsprozess beschrieben hat, in dem sich die Wir-Ich-Balance wandelt und schließlich Individualität als Eigenwert hervortritt (Elias 1987). Individualisierung meint dabei nicht die Vereinzelung oder Bindungslosigkeit des Individuums, sondern seine Lösung aus vorgegebenen Gemeinschaften, die fortschreitende (Wahl-)Freiheit, Zugehörigkeit selbst zu definieren – und den damit verbundenen Zwang, sie definieren zu müssen. Konkret findet der Zusammenhang zwischen Individualität und Intimität Ausdruck in der modernen Liebessemantik, deren Code und historische Entwicklung Niklas Luhmann eingehend untersucht hat (Luhmann 1982; vgl. auch Fuchs 1999). Die ‚romantische‘ Vorstellung von Liebe, in der zwei Individuen ihre Einmaligkeit in der Besonderheit ihrer wechselseitigen Gefühle bestätigt finden, kommt auch in Georg Simmels „Fragment über die Liebe“ (1985[1921]) zum Ausdruck, in dem er (mit geringer kritischer Distanzierung) den aufgeladenen Individualitätsbegriff seiner späten Schriften mit einer Analyse der Intimbeziehung unter dem Zeichen des Liebesbegriff verknüpft.
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Neuere soziologische Studien betonen die latente Brüchigkeit von Intimbeziehungen, die im emphatischen Begriff von Intimität und Liebe bereits angelegt ist. Die Kopplung der intimen Beziehung mit der individuellen Selbstverwirklichung und die Ansprüche an uneingeschränktes Verständnis und gegenseitige Erfüllung führen dazu, dass die Trennung und die Suche nach einer neuen Beziehung als alternative Möglichkeiten immer präsent sind (Luhmann 1982, Beck/Beck-Gernsheim 1990, Giddens 1993[1992], Hondrich 1997). Die Individualisierung erfasst die Intimbeziehung und verwandelt die letzte Bastion unumstößlicher Bindungen in ein Feld offener Möglichkeiten. Selbst Ehe und Familie können heute als Option gewählt – und wieder abgewählt werden. Die Liebessemantik und der Begriff der Intimität bleiben in ihrem Gehalt davon aber unberührt, wenn man von der Kritik im Umfeld der 68er-Bewergung und einiger Zweige der feministischen Kritik absieht. Aufs Ganze gesehen, tritt sowohl in der historischen Genealogie als auch in der soziologischen Gegenwartsanalyse ein mit normativen Erwartungen an Selbstverwirklichung, Persönlichkeit und Subjektivität aufgeladener und in seiner Verknüpfung mit dem modernen individualisierten Subjektbegriff deutlich positiv besetzter Begriff von Intimität zu Tage. Dieser Begriff deckt sich, ungeachtet aller kritischen und historischen Dekonstruktion, mit der alltagsweltlichen Auffassung von Intimität. Das Intime als das besondere und kostbare Eigene ist ein positiver und schützenswerter Aspekt des Lebens, den es anzustreben, zu verwirklichen und zu wahren gilt. Ein erfülltes Intimleben gilt als eines der obersten Lebensziele, und zwar losgelöst von allen sekundären Rechtfertigungen und Zwecksetzungen, die früher einmal für diesen Lebensbereich bereitgehalten wurden, wie häusliche Arbeitsteilung, Familiengründung, Ehe oder Moral (Schmidt et al. 2006; kritischer: Burkart 1997). Und diese positive Wertschätzung gilt heute auch weitgehend losgelöst von den Formen des Intimlebens, die man für legitim und moralisch akzeptabel hält. Intimität hat Teil an einem zentralen Wert moderner Gesellschaften, dem der Selbstverwirklichung. Damit wird Intimität in die Nähe von Subjektivität und Authentizität gerückt und erscheint als Gegenpol von öffentlicher Darbietung, Inszenierung, Schein und Theatralität. Auf dieser Auffassung von Intimität fußen die kulturkritisch gestimmten Beobachtungen der medialen Ausbreitung und Inszenierung von Intimem: die Kritik an der „Entblößung“ und „Schamlosigkeit“ (als Überblick zur soziologischen Literatur: Ernst 1997; als exemplarische kulturkritische Positionen: Greiner 2000, Hansen 2006, Spiegel 2006). Als Konsequenz dieser Diagnosen wird wahlweise eine Zerstörung von Intimität oder ein Verlust eines genuinen Begriffs von Öffentlichkeit und politisch Allgemeinem befürchtet. Diese Theorien und Diagnosen bilden den Hintergrund, vor dem ich zunächst etwas genauer erörtern möchte, was genau das Intime an Intimität ist. Darauf aufbauend möchte ich zwei Fragen beantworten: Erstens, wie verhält sich Intimität als das Eigene zur Inszenierung als einem nach außen gerichteten Handeln? Und zweitens, welche Konsequenzen ergeben sich aus der heute allgegenwärtigen Inszenierung von Intimität für die sozialen Beziehungen, für die Art der Vergesellschaftung und die Sozialität von Individuen im Allgemeinen?
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Das Intime an der Intimität Die im vorangegangenen Abschnitt angeführten soziologischen Theorien beantworten die Frage, woher die Idee der Intimität stammt und woraus sich das Bedürfnis des modernen Subjekts danach speist. Aber wie sieht dieses Bedürfnis genau aus? Was ist das Intime an Intimität? Nur wenn man das beantwortet, läuft man nicht Gefahr, vorschnelle kulturkritische Schlüsse zu ziehen. Zunächst ist eine Einschränkung nötig. Die Intimität, von der hier die Rede ist, ist immer schon eine begriffliche Zurichtung. Wenn Intimität etwas ist, das eine Person sich selbst zuschreibt, in seinem Inneren erlebt und es gegen ein Allgemeines oder Äußeres abgrenzen und abschirmen möchte, dann beschreibt Intimität einen Aspekt des Daseins, der mindestens rudimentär bereits mit dem Selbstbewusstsein eines Lebewesens in die Welt kommt, also etwas, was untrennbar mit dem Status eines Menschen als Person verbunden ist. Selbstbewusstsein bedeutet, zwischen sich und anderen auf eine Weise zu unterscheiden, die es möglich (und nötig) macht, eine Differenz zu etablieren zwischen dem, was man für sich behält, und dem, was man mitteilen möchte. Hieraus entwickelt sich notwendig auch eine Art Gewohnheit und Geschicklichkeit, das Eigene zu pflegen und zu schützen, wie unterschiedlich oder reduziert dieser Bereich geschichtlich auch jeweils aussehen mag. In diesem Sinn gehört die Kennzeichnung von Erfahrungen oder Handlungen als intim, worauf auch immer sie sich konkret bezieht und welche Formen sie annimmt, schon vor aller Individualisierung und jenseits von allem historischen Wandel und aller soziologischen Dekonstruktion zum Menschsein. Außerdem treffen im Begriff der Intimität sozial geprägte Verhaltensmuster, Wertvorstellungen und Institutionen einerseits und existentielle Lebenstatsachen und -erfahrungen aufeinander. Sexualität ebenso wie das Zeugen, Gebären und Aufziehen von Kindern gehören zum menschlichen Dasein. Sie sind einerseits stark von Sehnsüchten, Wünschen und Phantasien geformte und somit kommunizierbare Erfahrungen; sie sind aber andererseits auch existentielle Tatsachen, die vor allen Ausdrucksformen und Sinngebungen gegeben sind. Intimität steht somit einerseits in Beziehung zu existentiellen Daseinsaspekten, bezeichnet aber andererseits auch einen Typus von Erfahrungen, der sich in historischer Sicht wandelt und der auf der einen Seite mit der psychischen Struktur von Subjekten und auf der anderen Seite mit der je gesellschaftsspezifischen Art von sozialen Beziehungen, Werten und öffentlichem Handeln korreliert, die ein Individuum prägen. Vor allem der Stellenwert, den ein Subjekt diesem Erfahrungsbereich zumisst, unterliegt Veränderungen. Mit der zivilisationsgeschichtlichen Zunahme von Affektkontrolle und Introspektion steigen geradezu notwendig auch das Bewusstsein von und das Bedürfnis nach Intimität als dem dicht um das eigene Ich gelagerten Erfahrungsbereich. Hierbei gilt es, sich vor der Vorstellung zu hüten, das Subjekt sei mit seiner Intimität als etwas Gegebenem konfrontiert oder ihr gar ausgeliefert. Dies mag (scheinbar) auf die Erfahrung von Menschen in repressiven Situationen zutreffen, in denen ihnen, aus welchen Gründen auch immer, die Fähigkeit oder der Spielraum zu eigenem Handeln fehlt. Aber gerade das ist für unsere Gegenwart ganz offenkundig nicht kennzeichnend. Der Irrtum ist, das Intime zu sehr in (zwanghaften) Trieben oder (vermeintlich natürlichen) Bedürfnissen begründet zu sehen. Die Rede von Trieb oder Natur hat auch nichts mit dem gerade eben erörterten existentiellen Status bestimmter Erfahrungen zu tun, sondern sie ist selbst eher
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eine geschichtlich oder kulturell entstandene Deutung, die existentielle Erfahrungen in empirisch sezierbare und strategisch kontrollierbare Kategorien übersetzt. Hierher rühren zwar die Energien und Kräfte, aber die Formen schafft sich das Subjekt selbst. Und je weiter die Individualisierung voranschreitet, je stärker also die Subjekte dazu neigen, überlieferten Regeln und Mustern zu misstrauen, desto intensiver begeben sie sich auf die Suche. Weil es aber für die Suche kein vorgegebenes Ziel gibt, ist sie vielmehr eine Bewegung des Hervorbringens, Entwerfens und Erweiterns. Selbstfindung in diesem Sinn ist ein unablässiges Probieren und spielerisches Erfinden, mit dessen Ergebnissen man sich nachträglich (und für eine gewisse Zeit) identifizieren kann. Dieser Vorgang ähnelt eher einem Spiel mit einem nicht genau bekannten Ziel als dem blinden Folgen einer Notwendigkeit. Die Konsequenz aus dieser Überlegung ist, dass der eingangs vermutete Widerspruch zwischen authentischer Intimität und öffentlicher Inszenierung intimer Inhalte von einem falschen oder zumindest einem zu einfachen Gegensatz ausgeht. Es stehen sich nicht authentische Intimität und öffentliche Inszenierung gegenüber, sondern die forcierte Introspektion, die Suche nach dem Selbst im eigenen Inneren und das Streben nach Intimität einerseits und die öffentliche Debatte, die Allgegenwart der Bilder und Diskurse andererseits sind zwei Seiten der gleichen Bewegung. Widersprüchlich ist hingegen, dass die Vermehrung der Angebote und Alternativen nicht zu einer Erleichterung, sondern offenbar zu einer immer schärferen und manchmal wohl auch hektischeren und ratloseren Suche führt. Aber die medialen Angebote sind nicht die Ursache hierfür, sondern allenfalls ein Katalysator. Für das Verständnis von Intimität ist es also entscheidend, Intimes nicht als fixe Gegebenheit, sondern als Ergebnis geschichtlicher Gewordenheit und aktueller sinnstiftender Praxis zu verstehen. Sicherlich haben die öffentliche Thematisierung von tabuisierten Praktiken in Talkshows, die Dauerbeziehungskrisen als gelebte Normalität in Vorabend-Fernsehserien und die Schamlosigkeit der Container-Shows eine neue Quantität hervorgebracht. Aber sie bauen auf einem allgemeineren und sehr viel älteren Mechanismus auf. Foucault beschreibt den modernen Umgang mit Sexualität als einen solch widersprüchlichen Mechanismus. Es geht nicht einfach um eine Unterdrückung von Sexualität – er lehnt die von ihm so genannte Repressionshypothese ab –, sondern um eine permanente Beschäftigung mit Sexualität, einerlei ob diese im konkreten Fall auf die Einhegung, Erklärung und rationale Beherrschung von Sexualität oder ihre Befreiung und Deutung zielt. Er siedelt den Beginn dieser Tendenz im 17. und 18. Jahrhundert an. Sie baut ihrerseits auf der Tradition von Geständnis und Beichte auf, die im 17. Jahrhundert neue Regeln erhält. An die Stelle des realistischen und detaillierten Geständnisses tritt die ‚diskrete‘ Umschreibung. Sexuelle Handlungen werden nicht mehr direkt benannt und derbe Begriffe werden mit Bann belegt. An ihre Stelle tritt eine immer feiner ausgearbeitete indirekte Terminologie des Wissens. Parallel entstehen soziale Ordnungen der Kontrolle von Sexualität, polizeiliche Verordnungen und ‚fürsorgliche‘ Kontrolle in Erziehungsanstalten. Das Entscheidende hieran ist, dass alle diese Bemühungen um Wissen und Praxis die Sexualität nicht einfach verdrängen oder unterdrücken, sondern sie durch ihre permanente Bemühung präsent halten. Dem Einzelnen wird die Pflicht zu einer andauernden Selbstkontrolle und Reflexion seiner eigenen Sexualität auferlegt. Und je größer das Wissen über und die Bemühungen um Kontrolle von Sexualität werden, desto größer wird auch das Geheimnis, das sie umgibt: „Die modernen Gesellschaften zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern
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dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen.“ (Foucault 1977[1976]: 49). Je stärker Sexualität von regulierendem und erklärendem Wissen umhegt wird, umso stärker formt sie sich zu einer unkontrollierten Macht, die weiterer Bearbeitung bedarf. Eine unendliche Spirale. Rückt man die heutigen geständnishaften Selbstentblößungen in den historischen Zusammenhang des von Foucault beschriebenen Reflexions- und Geständniszwangs, unter dem das moderne Subjekt hinsichtlich seiner Subjektivität steht, erscheint die Inflation der medialen Inszenierungen als Radikalisierung und Steigerung und als visuelle Wendung einer die gesamte Moderne kennzeichnenden Tendenz, nicht aber als verstörender Bruch oder Neuerung. Eher schon lassen sich viele mediale Inszenierungen als eine ins Praktische gewendete Umsetzung des Foucaultschen Denkens betrachten. Als Untermauerung der Thesen Foucaults und als ein Bindeglied zwischen den historischen Arbeiten Foucaults und der gegenwartsbezogenen Analyse der Inszenierung von Intimität lässt sich die Studie zur „Politisierung der Lust“ im 20. Jahrhundert von Dagmar Herzog lesen (Herzog 2005), die am Beispiel des Nationalsozialismus zeigt, wie die politischen Ideologien im 20. Jahrhundert besessen sind von der Regulierung (durchaus auch im Sinne von Steigerung) der Körperlichkeit, Sexualität und Fortpflanzung der Menschen. Die heutige Behandlung von Themen auf öffentlichen Bühnen, die zu Foucaults Zeit, also in den 60er und 70er Jahren, noch hinter verschlossenen Türen von therapeutischen Sitzungen angesiedelt waren, markiert eine Verschiebung und Deregulierung, aber nicht unbedingt eine Intensivierung des Diskurses über Sexualität (im weiten Sinn von Foucault). Wenn man in Foucaults Sinn davon ausgeht, dass auch die Mechanismen der Beherrschung, Verdrängung und Einhegung schon immer als Teil eines Diskurses verstanden werden müssen, dann haben die Energien und der Aufwand, mit dem dieses Feld bearbeitet wird, möglicherweise gar nicht zugenommen, sondern nur andere Formen gefunden. Was sich geändert hat, ist, dass die Dinge deutlicher beim Namen genannt und vor allem gezeigt werden.
Intimität und Inszenierung Wenn es um eine Analyse des Verhältnisses von öffentlicher Inszenierung und Intimität des Intimen geht, muss noch einmal ganz praktisch gefragt werden, was genau inszeniert wird und wie die Grenzen dessen gezogen werden, was unter Intimität verstanden werden soll. Geht es um Sexualität, um Paarbeziehungen oder um Privatheit? Was sind die Themen, Handlungen und Erfahrungen, die unter dem Begriff Intimität gefasst werden sollen? Und was genau ist das Intime an ihnen? Mit dieser Frage gelangen wir ins Zentrum des vorliegenden Themas, der „Theatralisierung von Intimität“, weil die Antwort lautet, dass mit Intimität keine festgelegten Inhalte, kein vorab bestimmbarer Bereich von Handeln oder Erleben gemeint ist. Was ein Individuum als intim erfährt und schützt, kann sehr stark differieren, gerade auch in modernen Gesellschaften. Jemand mag im Wartezimmer einer Ärztin seine Krankengeschichte mit allen körperlichen Details gegenüber einem Fremden ausbreiten, mit dem er durch Zufall ins Gespräch kommt. Aber zugleich kann er sich über die Sitten und die zu enge Kleidung
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seiner Tochter empören, oder es mag ihm schwer gefallen sein, seine eigenen Kinder sexuell aufzuklären. Jemand anders mag die Grenze des Intimen genau andersherum ziehen. Ebenso mag eine Generation, die mit erotischen bis pornografischen Angeboten im Fernsehen und Internet aufgewachsen ist, solche Darstellungen kaum mehr als intim empfinden, was nichts daran ändert, dass sich das erste Händchenhalten als ein aufwühlendes Erlebnis ins Gedächtnis prägt. Es geht nicht bloß darum, dass die medialen Inszenierungen strikt von ihrer Rezeption zu unterscheiden sind. Es geht auch nicht um Aufmerksamkeit oder Abstumpfung, obwohl die öffentliche Darstellung und Thematisierung von Intimem es in Wirklichkeit oft gar nicht auf Intimität, sondern auf Sensation, auf die Überbietung von Enthüllung in jeder Form, abgesehen hat (Türcke 2002). Sondern es geht darum, dass keine Handlung und kein visueller Reiz, und sei es auch eine noch so explizite Darstellung, an sich als intim empfunden werden muss. Intimität ist keine Eigenschaft bestimmter Sachverhalte und auch keine klar umrissene Klasse von Verhaltensweisen, sondern Intimität bedeutet die Markierung einer Grenze; die Unterscheidung einer Innensicht von einer Außensicht und die Wahrung und Pflege dieser Grenze von der Innenseite her. Dabei bezeichnet Intimität allerdings nicht einfach das Subjektive, die eigene Sicht auf die Dinge, sondern Intimität ist immer ein soziales Verhältnis. Intimität hat man nicht für sich allein, sondern Intimität ist etwas, das Menschen entweder in Beziehung zu anderen Menschen oder in Abgrenzung von ihnen empfinden und definieren. Weder für sich allein noch im Verhältnis zu einer Dingwelt ohne eigenes Bewusstsein macht der Begriff der Intimität Sinn. Die Grenze des Intimen ist darauf angewiesen, dass sie wahrgenommen, respektiert oder überschritten wird. Der Bereich der eigenen Intimität wird in Abgrenzung zu öffentlichen Räumen und sozialen Beziehungen geschaffen. Unabhängig davon, ob es sich um real anwesende oder bloß gedachte und potentielle Andere oder um eine gegebene oder bloß mögliche Öffentlichkeit handelt. Ohne die Vorstellung des Öffentlichen, ohne die nicht-intimen Beziehungen macht der Begriff des Intimen keinen Sinn. Geschichtlich gesehen sind die Entstehung der Kategorie der Öffentlichkeit, die Ablösung von Vergemeinschaftung durch Vergesellschaftung, die Entstehung anonymer Funktionsbeziehungen und die Aufspaltung der Person in eine Vielzahl von Rollen der spiegelbildliche Prozess zur Ausbildung eines Bereiches der Intimität, in dem sich ein Subjekt als Ganzes und seinem Innersten nach sucht und erkennt. Die umfängliche Diskussion zwischen Norbert Elias und Hans Peter Duerr (1990) um die Frage, ob und worin sich die neuzeitliche Affektkontrolle und Intimität von universellen Phänomenen der Scham unterscheidet, also die Frage, ob es so etwas wie einen Zivilisationsprozess überhaupt gegeben habe, lässt sich auf diese Weise zwar nicht beantworten, aber umgehen: Intimität ist eine besondere Art sozialer Beziehung bzw. eine Form der Vergesellschaftung, die auf eine spezifische Weise Individualität, exklusive Nähe, Distanz und Grenzziehung verbindet. Wo und wie sie ihre Grenze zieht, ist allerdings offen, flexibel und historisch bzw. kulturell wandelbar. Gerade auch im Bereich der intimen (Paar-)Beziehung spielt Inszenierung eine große Rolle. Vom Kennenlernen, der Präsentation des Selbst über die vielen kleinen symbolischen Schritte, Gesten und Geschenke, mit denen sich eine intime Beziehung verfestigt, Form und Dauer gewinnt und schließlich über lange Zeit behalten kann. Insbesondere beim Übergang von der Verliebtheit zu einer dauerhaften Beziehung spielen Formen der Inszenierung eine
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wichtige Rolle (vgl. Kaufmann 1994): nach außen gegen andere, aber auch nach innen, im intimen Verhältnis selbst. Eva Illouz (2003[1997]) hat beispielsweise beschrieben, wie die Ausgestaltung intimer Beziehungen mit Hilfe von gemeinsamem Konsum inszeniert wird. Natürlich kann durch die anhaltende öffentliche Inszenierung intimer Details der Spielraum, in dem die Grenze der Intimität jeweils gezogen wird, verschoben werden. Aber der Mechanismus der Grenzziehung wird nicht aufgehoben – es sei denn um den Preis, auch das moderne individualisierte Subjekt aufzuheben. Zur Möglichkeit der Wahrung einer je eigenen Sphäre der Intimität verhält sich die abstrakte Öffentlichkeit der medialen Inszenierungen letztlich neutral. Sie kann es dem je einzelnen Subjekt nicht abnehmen, mit seinem eigenen Selbst, mit der Ausgestaltung seiner eigenen Intimität zurechtzukommen. Unter dem Aspekt der Theatralisierung ist zudem entscheidend, dass es typischerweise nicht nur darum geht, etwas für sich zu behalten und es vor konkreten Anderen oder einer anonymen Öffentlichkeit zu verbergen oder zu verschweigen. Sondern es geht darum zu zeigen, dass man etwas verbirgt; also die Grenze zum Intimen sichtbar nach außen zu markieren. Als eine Balance zwischen Zeigen und Verbergen ist Intimität eine soziale Grenze und zugleich eine soziale Form (um einen Begriff von Georg Simmel zu entlehnen). Die Grenze ist keine objektive und unverrückbare Unterscheidung zwischen Intimem und nicht Intimem, sondern sie ist flexibel und darauf angewiesen, markiert und inszeniert zu werden. An dieser Grenzziehung sind beide Seiten beteiligt: von innen derjenige, der eine Grenze markiert und dadurch ein bestimmtes Verhältnis von Zeigen und Verbergen vorgibt, und von außen diejenigen, die auf diese Markierung mit Respekt, Ablehnung und (moralischer) Kritik oder mit Voyeurismus oder gar Überschreitung reagieren. Ebenso werden Enthüllungen inszeniert und schaffen damit die Bühne für neue Inszenierungen, neue Grenzziehungen von Intimität. Intimität ist konstitutiv für das moderne Selbst, und so wie sich das moderne Subjekt aus der Reflexion auf sein eigenes Inneres konstituiert, muss und wird das je individuelle Subjekt für sich klären, wie es den Bereich seiner Intimität bestimmt, abgrenzt und beschützt. Wenn sich Menschen dabei unter Umständen Schablonen oder stereotype Rollenmuster aus medialen Inszenierungen zu Hilfe holen, kann man das auch als Lösung von Zwängen, als Umgang mit Optionen und Spiel mit Alternativen betrachten. Die eingangs zitierte alltagsweltliche Vorstellung vom Gegensatz zwischen Inszenierung und Authentizität greift somit im Bereich des Intimen zu kurz (vgl. auch Fischer-Lichte/Pflug 2000). Einerseits ist Intimität immer auch auf Inszenierung angewiesen, und andererseits macht der Begriff der Intimität nur Sinn, wenn auf der anderen Seite ein sozial kontrolliertes, durch Interaktion, Präsentation, Rollenerwartungen und Identitätsmanagement strukturiertes soziales Leben steht. Intimität hängt also nicht nur von Inszenierung, sondern auch von einer abstrakten und allgemeinen Öffentlichkeit ab, an die die Inszenierungen von Intimität adressiert sind. Nur dann ist die Vorstellung verständlich, dass es hinter, vor oder jenseits dieses „nach außen“ präsentierten Ichs auch ein inneres, verborgenes, eventuell gar unterdrücktes oder verheimlichtes Ich geben muss, das nur in Räumen der Intimität zum Vorschein kommen darf (aber auch: kommen muss). Wer ganz und gar allein ist, für den ergibt die Frage nach Intimität keinen Sinn. Intimität ist ein feines Wechselspiel von öffentlich und privat, von Zeigen und Verbergen – und im Verborgenen beobachtet werden. Dieses Wechselspiel lässt sich gut an bildlichen Repräsentationen von Intimität erörtern. Und es wäre interessant, aktuelle mediale Inhalte und Formate daraufhin zu untersuchen.
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Als Beispiel habe ich aber ein Gemälde des 16. Jahrhunderts ausgewählt, das zu Beginn der Neuzeit vielleicht eine avantgardistische Position dargestellt hat, an dem sich das Geflecht von Zeigen und Verbergen aber gerade deshalb prototypisch beobachten lässt.
Tintoretto: Susanna im Bade (Susanna und die Ältesten), um 1555-56, 146,6 x 193,6 cm, Wien, Kunsthistorisches Museum, Gemäldegalerie
Die dargestellte Szene beruht auf einer Geschichte aus dem Alten Testament (Daniel 13), die seit der Renaissance von Künstlern gerne als Anlass zur Darstellung eines Frauenaktes genutzt wurde. Zwei Älteste, die zudem als Richter amtieren, haben sich in die „schöne und gottesfürchtige“ Susanna verliebt. Sie lauern ihr auf, als sie im Garten Ihres Ehemannes ein Bad nehmen will. Sie drohen ihr, sie des Ehebruchs mit einem Jüngling zu beschuldigen, wenn sie ihnen nicht zu Willen ist. Susanna lässt sich nicht darauf ein, bleibt standhaft und wird daraufhin von den beiden Ältesten angeklagt und in einem öffentlichen Prozess zum Tode verurteilt. Dann jedoch greift der Prophet Daniel ein, verhört die beiden Ältesten getrennt und überführt sie anhand von Widersprüchen als Lügner, woraufhin sie zum Tode verurteilt werden, Susanna hingegen rehabilitiert wird. Auch in der Bibel ist die Geschichte mit erotischen Anklängen, dem Lob auf die Schönheit Susannas und der Beschreibung der Begierde und des Voyeurismus der Ältesten, durchsetzt. Im Kern ist es eine moralische Geschichte, die die Standhaftigkeit und das Gottvertrauen Susannas preist und die Verlogenheit der Ältesten geißelt. Die sichtbare Schönheit Susannas
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und ihre zwischen den Zeilen anklingende narzisstische Sinnlichkeit – sie will sich von ihren Dienerinnen baden und salben lassen – ziehen jedoch in keiner Weise eine moralische Kritik auf sich. Und in genau dieser Konstellation bot sie in der Kunstgeschichte die Möglichkeit, unter dem Deckmantel einer moralischen Ermahnung körperliche Schönheit darzustellen, in der sich zugleich die Tugend verkörpert. Das Bild ist ein idealtypisches Beispiel für das Verhältnis von Inszenierung und Intimität. Der Ort des Bades ist links durch eine Hecke und im Hintergrund durch eine Mauer abgeschirmt und wird dadurch als intim gekennzeichnet. Hecke und Mauer verwehren den Einblick und symbolisieren dabei zugleich den Gestus des anzeigenden Verbergens nach außen. Innen ist der Ort durch allerlei Insignien der Intimität ausgestattet, die ihrerseits aber wieder nach außen verweisen und auf ein Gesehenwerden angelegt sind: der Schmuck, die aufwändige Frisur, der Spiegel und der selbstvergessene Blick der Susanne auf ihr Spiegelbild, das den Blick der Ältesten – einer von ihnen hat sich genau hinter dem Spiegel versteckt – ebenso wie den des Betrachters vorwegnimmt und bis zu einem gewissen Grade legitimiert. Es geht um Sehen, Zeigen und Verbergen, um verborgenes Zeigen und um sichtbares Verbergen. Auch der Blick des Betrachters ist in die Inszenierung (die Komposition) einbezogen, denn sein Standpunkt befindet sich ähnlich nah an der Szene wie der des Ältesten am linken Bildrand, nimmt also eine ähnlich voyeuristische Position ein. Allein ein nackter Körper oder eine Person, die ganz für sich allein ist, würde nichts von der Intimität ausdrücken, die sich in diesem Bild findet. Ein Einsiedler in der Wüste, der ebenfalls ein häufiges Bildthema des Spätmittelalters und der Renaissance ist, mag für Einsamkeit, Kontemplation oder Glaubensfestigkeit stehen. Aber seine Situation hat nichts Intimes, er ist tatsächlich ausschließlich ‚für sich‘. Zur Intimität hingegen gehört, selbst in der Abgeschiedenheit des Bades den möglichen Blick der anderen zu imaginieren und sich selbst in diesem Blick zu spiegeln. Intimität ist darauf angewiesen, verborgen zu werden. Aber gerade das Verbergen ist immer auch eine nach außen gerichtete Inszenierung. Die geschlossenen Vorhänge, das abgedunkelte Séparée, die verschlossene Schatulle, das bedeutungsvolle Schweigen und die verstohlenen Blicke. Nicht eine einfache Wand symbolisiert eine solche Grenze, sondern eine Wand mit einem Fenster, dessen Vorhänge geschlossen sind. Und nicht der Blick durch die weit geöffnete Tür, sondern der durch das Schlüsselloch überwindet die Grenze zum intimen Raum, weil nur er das demonstrative Verbergen durchbricht. Gleiches gilt auch für die Kleidung, die inszeniert, indem sie verbirgt und damit zugleich hinweist. Verbergen und Zeigen sind zwei Seiten derselben Handlung und Anordnung. Es gibt persönliche Angelegenheiten, für die sich niemand anderes interessiert, die beiläufig oder uninteressant sind, und die deshalb nicht eigens als intim markiert und abgegrenzt werden müssen. Intime Handlungen und Bereiche hingegen sind solche, die in einem geschützten, privaten Bereich stattfinden, zu dem der Einblick demonstrativ verwehrt wird. Und gerade die Schranke, die nach außen markiert und dargestellt wird, hat Anteil an der Intimität auch in Augenblicken des Für-sich-Seins. Nur vermeintlich bezeichnet Intimität jene Sphäre, die dem öffentlichen Blick entzogen ist, den Raum des rein Privaten, und somit das genaue Gegenteil von Inszenierung und Darstellung, die immer ein Publikum und somit Öffentlichkeit voraussetzen. In Wahrheit ist der Blick eines Gegenübers und ist die potentielle Sichtbarkeit durch andere stets gegenwärtig. Das moderne Subjekt hat sie so in sein
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eigenes Selbstbild übernommen, dass es sich selbst auch dann, wenn es für sich ist, mit einem allgemeinen Blick betrachtet.
Intimer Raum Eine Inszenierung ist immer auch an den Ort der Darstellung gebunden (Fischer-Lichte 2004). Das bedeutet, dass zur Inszenierung von Intimität auch die Frage nach den Orten und Räumen gehört, in denen sie geschieht. Und diese Räume wiederum müssen mit Mitteln der Inszenierung symbolisch geschaffen und begrenzt werden (Fischer-Lichte et al. 2003). Unsere Auffassung von Intimität und Intimsphäre ist überhaupt stark an Räume gekoppelt. Die eigenen vier Wände, das eigene Zimmer, darin eine versperrte Schublade oder ein Kästchen. Die klassische Aufteilung einer modernen Familienwohnung kennt das elterliche Schlafzimmer. Zur Adoleszenz gehört es, den Zugang selbst (und gerade) der Eltern zum eigenen Zimmer zu reglementieren. Und als erwachsen gilt, wer zuhause auszieht. Auch in der geschichtlichen Genese von Intimitätsvorstellungen besteht ein Zusammenhang zu realen Räumen und räumlichen Metaphern. Die Entwicklung unserer Vorstellungen von Intimität waren und sind an die Verfügbarkeit von privaten Räumen gebunden. In einem ganz trivialen Sinn hängen sie ab von der Größe von Wohnungen, der Zahl ihrer Bewohner, der Verfügbarkeit eines eigenen Zimmers. Die Geschichte der Intimität ließe sich daher auch entlang einer Geschichte des Wohnens schreiben, der Architektur, der Familien, der sozialen Lagen. Intimität benötigt Raum zur Entfaltung, Distanz und Grenzen gegenüber anderen Personen und eine allgemeine Öffentlichkeit. Richard Sennett hat experimentell das sich wandelnde Verhältnis von Körper und Stadt in der europäischen Geschichte beschrieben, sich dabei aber auf den öffentlichen Raum konzentriert (Sennett 1995 [1994]). Analog könnte man auch das Verhältnis der Körper zu den intimen Räumen betrachten und so die Entfaltung, Begrenzung und Entgrenzung von Intimität beobachten. Aber vielleicht liegt hier auch eine der Schwierigkeiten begründet, heutige Entwicklungen von Intimität zu verstehen. Denn die Skepsis gegenüber der Darbietung von Intimität in öffentlichen Räumen speist sich unter anderem aus diesem überkommenen Raumbegriff. Dabei wird es, besonders, aber nicht nur, in den virtuellen Räumen und Foren des Internet, immer schwieriger, die Unterscheidung von privat und intim einerseits und öffentlich andererseits mit Hilfe von Raumkategorien zu treffen. Nehmen wir als Beispiel keinen virtuellen, sondern einen öffentlichen Raum im herkömmlichen Sinn, beispielsweise eine Straßenbahn oder ein Zugabteil, in dem die Menschen schon allein aufgrund der durch die Enge bedingten körperlichen Nähe darauf achten, ein möglichst hohes Maß an symbolischer Distanz zu wahren: etwa das Aufeinandertreffen der Blicke vermeiden, die Arme am Körper halten und die Stimme senken oder schweigen. In dieser Situation nun greift seit einigen Jahren typischerweise ein nicht geringer Teil der Fahrgäste zum Handy und führt mit einer vertrauten Person ein ebenso vertrautes Gespräch. Natürlich kommen in der Gesprächsführung allerlei Strategien der Zurückhaltung und Anpassung an den Kontext zum Tragen. Aber dennoch treten die räumliche Anwesenheit der Kommunizierenden einerseits und die kommunikative Beziehung andererseits völlig auseinander. Dank der Technik ist ein Sprung aus der Öffentlichkeit der anonymen Gruppe in eine
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intime Zweierbeziehung möglich, es entsteht ein virtuell intimer Raum innerhalb des realen öffentlichen, dessen Status dadurch seine Eindeutigkeit verliert. Diese Entkopplung von Raum und potentieller Intimität findet sich auch bei anderen Formen der Kommunikation, vor allem im Internet, wo zusätzliche Faktoren hinzukommen, etwa die Kommunikation über Pseudonyme oder mittels erfundener Identitäten. Hier tritt ein umgekehrter Effekt ein. Die Kommunikation aus dem scheinbar privaten Raum heraus, der eigenen Wohnung, in der sich der Rechner und der Bildschirm befinden, findet in Wirklichkeit in einer anonymen Öffentlichkeit statt, die weit über das Ausmaß der Öffentlichkeit in der Straßenbahn hinausgeht. Der räumliche Gegensatz von Privat und Öffentlich wird aufgebrochen und damit ist auch die Zuordnung des Intimen zu den privaten Räumen nicht mehr eindeutig. Für das Verständnis der öffentlichen Inszenierung von Intimität ist diese Verschiebung folgenreich, denn was öffentlich und was privat ist, lässt sich nicht mehr entlang herkömmlicher Raumvorstellungen entscheiden.
Virtuelle Intimsphäre An die Stelle der räumlichen Abgrenzung und der Balance von Zeigen und Verbergen als Strategien zur Wahrung der eigenen Intimität im öffentlichen Raum sind im Internet neue Strategien getreten: Pseudonyme, erfundene Profile und Identitäten. Vor allem ist keine körperliche Anwesenheit mehr erforderlich, und damit werden selbst intime Inhalte und Kommunikationen in ‚Echtzeit‘ von der eigenen Person entkoppelt. Während eingangs Intimität und intime Beziehungen als zentraler Mechanismus des neuzeitlichen Selbst beschrieben wurden, ist dieses Verhältnis im Netz möglicherweise in Auflösung oder zumindest im Wandel begriffen. Es ist möglich, sich hinter Pseudonymen und erfundenen Identitäten zu verstecken. Man kann sich jederzeit einen neuen „Benutzernamen“ oder für ein paar Stunden eine temporäre E-Mail-Adresse zulegen. Aus einem Chat kann man sich jederzeit zurückziehen, das eigene „Profil“ lässt sich jederzeit ändern oder aus einer Datenbank löschen. Anders als in der Realität ist es möglich, zu flanieren und einem Voyeurismus zu frönen, ohne dabei Gefahr zu laufen, selbst gesehen zu werden. Man kann sehen ohne selbst anwesend zu sein. Und zugleich kann man sich leicht als derjenige präsentieren, der man sein möchte. Wenn dies misslingt oder langweilig wird, ist jederzeit ein Rückzug möglich. Die oft als Virtualität bezeichnete Sphäre des Internet beruht auf verschiedenen Abstufungen von Fiktionalität, und damit bietet sie bewusst oder unbewusst einen Schutzmechanismus. Man kann sich jederzeit darauf zurückziehen, dass es nur ein Spiel gewesen sei, man etwas probieren wollte. Aufs Ganze gesehen, lockert sich die Verbindung von Intimität und Selbst. Es wird möglich, über Intimes zu sprechen oder Intimes zu zeigen, ohne es unmittelbar und mit aller Konsequenz auf die eigene Person zuzurechnen.
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Sichtbarkeit des Körpers Ein zentraler Aspekt bei der Inszenierung von Intimität, der in den vorangehenden Erörterungen durchgehend angeklungen ist, ist die Sichtbarkeit. Bei den meisten der schon eingangs zitierten Bühnen und Schauplätze unserer Gesellschaft geht es zwar nicht zwangsläufig um persönliche Anwesenheit, aber es geht um Sichtbarkeit. Das Zeigen und das Sehen spielen bei der Inszenierung von Intimität eine zentrale Rolle. Gerade auch im Internet, das gleichermaßen Text, Ton und Bild transportieren kann, geht es in einem ganz besonderen Maß um Sichtbarkeit. Auf den seit einigen wenigen Jahren populären sozialen Plattformen im Internet (Communities oder Social Networks), auf denen Nutzerinnen und Nutzer ihr „Profil“ präsentieren können, geht es zu ganz wesentlichen Teilen nicht um ausführliche Selbstbeschreibungen oder schriftliche Äußerungen irgendeiner Art, sondern um die Präsentation visuellen Materials, um Fotos und Videos (die bekannteste ist MySpace.com, das 2003 gegründet wurde und nach eigenen Angaben im März 2007 ca. 160 Millionen registrierte Nutzer hatte). Relevant für das Thema der Inszenierung von Intimität sind die dort gezeigten Schnappschüsse mit Kamera-Handys und die einfachen Filmsequenzen, weil es teils private Situationen sind, in denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer darstellen. Während man sich als Jugendlicher genau überlegt, wen man in sein Zimmer lässt, ist es offenbar unproblematisch, Fotos und Filme zu veröffentlichen, die in diesem Raum entstanden sind. Es geht um die sichtbare Präsentation privater Orte, Eigenschaften und Vorlieben, wobei die Unterscheidung von privat und öffentlich oft aufgehoben zu sein scheint. Eine andere Form sind Internet-Rollenspiele mit einer größeren Zahl von Teilnehmern, die es seit vielen Jahren gibt. Eine neue Qualität haben sie jedoch gewonnen seit es nicht mehr nur darum geht, Texte und Dialoge weiterzuspinnen, sondern seit es die technische Möglichkeit gibt, sichtbare und bewegliche Avatare zu animieren. Anders als bei den textbasierten Spielen werden die Grenzen jetzt zwar nicht mehr durch die Phantasie gesetzt, sondern durch die technischen Möglichkeiten der Animation, aber die Faszination der Sichtbarkeit, der Bildhaftigkeit einer virtuellen Welt stellt dennoch eine andere Qualität dar und zieht eine wesentlich größere Zahl von Menschen an (die derzeit bekannteste Plattform ist das 2003 gegründete secondlife.com). Bei der Faszination für das visuelle Material spielt der Körper eine zentrale Rolle. Selbst im Internet sichtbar zu sein und andere zu sehen, scheint eine zentrale Funktion der sozialen Plattformen zu sein. Die Betonung des Körperlichen, die Projektion des Selbst auf die Körperoberfläche steht in einem Spannungsverhältnis zu den im Vorangehenden beschriebenen Tendenzen: der Suche nach dem Selbst in einer Wendung nach innen und der Fiktionalisierung der intimen Selbstdarstellung im Internet. Denn die Darstellung des Körpers lässt sich viel weniger fiktionalisieren als andere Formen der Selbstbeschreibung. Er ist eher der Träger einer verbürgten Authentizität. Aber hier liegt kein Widerspruch vor. Der Körper ist das Thema und der Ort, an dem die Selbstbefragung in äußere Sichtbarkeit umschlägt. Je wichtiger visuelle Medien werden und je mehr Aufmerksamkeit für das Sichtbare aufgebracht wird, desto wichtiger wird auch die Sichtbarkeit des eigenen Selbst. Die Selbstbefragung muss präsentiert werden, und damit wandert der Ort des Selbst vom Inneren auf die Körperoberfläche.
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In dieser Ausrichtung auf den Körper ist die Präsentation des nackten Körpers gewissermaßen nur eine weitere Drehung der Schraube. Auf privaten Internetseiten und Nutzer(innen)profilen ist sie viel seltener als eine populäre Kritik annimmt, deren Blick durch kommerzielle pornographische Angebote geprägt ist. Diese Kritik an der Inszenierung entblößter Körper ist meines Erachtens auch viel weniger interessant als die Frage, woher die Obsession für den Körper, seine Inszenierung, seine Umgestaltung und seine Entblößung stammt. Die Besetzung des Körpers ist die Voraussetzung für seine Inszenierung. Hans Blumenberg (2006) spricht vom „Kult des entblößten Körpers“ und sieht die Faszination für die Körperlichkeit in Zusammenhang mit der Sichtbarkeit, dem „Gesehenwerdenkönnen, Sichsehenlassen und Sichdarstellen“, das kennzeichnend für den Menschen und besonders für unsere durch Bildmedien geprägte Gegenwart ist. Wenn die Präsenz von entblößten Körpern eine Relevanz für das Thema der Inszenierung von Intimität hat, dann vielleicht deshalb, weil sie die Kriterien für Intimität verschiebt. Zugespitzt könnte man sagen: Nicht mehr Nacktheit verbergen, sondern die eigene Nacktheit (jederzeit) präsentierbar zu machen, ist das Anliegen der Zeit. Nicht das Intime, sondern das Hässliche ist mit Scham besetzt und wird unterdrückt und geleugnet. Interessant ist als nächster Schritt die Frage, ob die Betonung des Körperlichen und der Sichtbarkeit eine neue Dimension der Sozialität begründet oder ob nicht die Inszenierung des Körpers wieder an überkommene soziale Kategorisierungen wie Statuts und Habitus gekoppelt wird (vgl. Koppetsch 2000).
Intime Gesellschaft Die zweite Frage, die sich im Anschluss an diese Überlegungen mit Blick auf die Inszenierung von Intimität auftut, ist die nach den Konsequenzen für die Ausformung sozialer Beziehungen in einer kulturellen Atmosphäre, die das Intime im Sinn von persönlichen Eigenschaften zum Anker der öffentlichen Selbstpräsentation macht und in der intime Beziehungen zum Modell zwischenmenschlicher Beziehung schlechthin werden. Viele einzelne kulturelle Phänomene tragen zu diesem Eindruck bei, auch wenn sie untereinander heterogen sind: die bereits eingangs beschriebene visuelle Präsenz von Intimität und Körperlichkeit auf öffentlichen Bühnen, die Thematisierung von Liebe, Sexualität und dem Wechsel intimer Beziehungen in der fiktionalen Literatur und im Film, von der Vorabendserie bis zum großen Kinofilm, die mediale Inszenierung des privaten Lebens von Prominenten jeder Art, die Lust auf vermeintlich sensationelle Geständnisse in Talkshows u.s.w. Kulturkritische Betrachtungen hierzu finden sich reichhaltig. Genau besehen, vermischt die Kritik an den allgegenwärtigen Ausdrucksformen und öffentlichen Inszenierungen von Intimität allerdings die Sorge um die Authentizität des Individuums mit moralischen Vorbehalten gegenüber intimen Inhalten als solchen. Es ist letztlich die (geradezu klassische) Befürchtung, die moralischen Grundlagen einer Gesellschaft könnten durch ein zu hohes Maß an öffentlicher Intimität ausgehöhlt werden. Richard Sennett (1982[1974]) befürchtet, dass sogar die Kategorie des Öffentlichen selbst im Gegensatz zu dem, was privat ist, in Gefahr gerate. Die Fragerichtung im zweiten
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Teil dieses Aufsatze ist also nicht, wie sich die Intimität durch die Angebote an medialen Inszenierungen verändert, sondern wie sich die nicht-intimen sozialen Beziehungen verändern angesichts der immer wichtiger und präsenter werdenden Modelle intimer Beziehungen. Wie verändert sich Sozialität unter dem Druck der Intimität? Die Berechtigung einer Frage oder Kritik von so globaler Tragweite ist schwer zu prüfen. Es ist aber nützlich, einige Unterscheidungen zu beachten. Die Bedeutung des Intimen ist an den langfristigen historischen Prozess der Individualisierung gekoppelt; die öffentliche Darbietung und mediale Inszenierung von Intimität, die durch die Bildmedien eine neue Quantität und Qualität erhalten hat, baut zwar darauf auf, ist aber auch davon zu unterscheiden. Für die Kritik sind die neuen Phänomene häufig der Anlass, nicht zu unterscheiden, sondern ihre Ablehnung tendenziell gegen die Individualisierung und moralische Freiheit des Individuums als solche zu richten, und zwar gerade unter dem Deckmantel einer Sorge um die Authentizität des Individuums. Aber nicht die Authentizität der Intimität des Individuums steht nach dem, was im vorangegangenen Abschnitt erörtert wurde, durch die Zunahme medialer Inszenierungen in Gefahr, sondern die Unterscheidung von Privat und Öffentlich verschwimmt. Dies bedeutet auch, dass sich soziale Beziehungen umorientieren. In der öffentlichen Sphäre bildeten entweder arbeitsteilige Funktionsbeziehungen oder soziale Typisierungen, wie Status, Milieu oder Schichtzugehörigkeit, einen wichtigen Mechanismus, der soziale Beziehungen strukturiert, Rollenerwartungen vorgibt und Verhaltensmuster nahelegt. Mit der medialen Präsenz intimer Beziehungen gewinnen diese einen Leitbildcharakter. Soziale Kategorien werden durch persönliche Eigenschaften und Aspekte des privaten Lebens abgelöst. Ob es sich um Vorabendserien und die personalisierten PR-Strategien im politischen Wahlkampf (Homestories) handelt, es geht um den menschlichen Faktor, die persönlichen Anliegen, das Privatleben, die intimen Beziehungen. Man kann darin geradezu eine gegenläufige oder sogar paradoxe Bewegung sehen: Je weniger gesellschaftliche Prozesse von individuellen Entscheidungen gesteuert werden können, desto stärker werden die persönlichen Eigenschaften der Akteure in den Mittelpunkt gerückt. Diese Tendenz ist durch die vielfältigen Medienkanäle und ihre Konkurrenz um Aufmerksamkeit und Überbietung zu einem prägenden Merkmal öffentlicher Debatten geworden. Aber auch sie setzt auf einen älteren Prozess auf. David Riesmann beschrieb schon in der Mitte des 20. Jahrhunderts in seiner Studie zum „amerikanischen Charakter“ den aktuellen Typus des sozialen Charakters als „außengeleitet“ (Riesman et al. 1958[1950]). Riesman sah diesen Charaktertypus als Avantgarde einer sich ausbreitenden Form der Vergesellschaftung. Je stärker sich das Individuum aus seinen traditionalen Bindungen löst, desto stärker öffnet es sich in seinen Interessen und Antrieben den Anregungen der weiteren Kreise der Gesellschaft, besonders den Gleichaltrigen seiner Generation und den Angeboten der Massenmedien. Riesman sah diese Tendenz kritisch; als Gegenbild hatte er vor allem die klassische Familie im Blick, die selbst ein modernes Phänomen ist und die nach seiner Auffassung einen durch „Innenlenkung“ gekennzeichneten Charaktertypus hervorgebracht hatte. Aus dieser Bindungsform lösen sich, so befand er in den 1950er Jahren, die Individuen immer stärker und früher. Auch wenn das nicht das Thema seines Buches ist, ging mit dieser Entwicklung natürlich auch ein Wandel von Intimbeziehungen einher. Ihn interessierte der Wandel allgemeiner sozialer Beziehungen und gesellschaftlicher Strukturen, der diesem Charakterwandel entspricht. Er fand für den Wandel in der Arbeitswelt unter anderem die Formel, dass an die
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Stelle des „Arbeitsgeschicks“ das „Organisationsgeschick“ trete. Damit ist gemeint, dass die Beherrschung von Produktionstechniken immer weniger wichtig werde gegenüber der Fähigkeit, soziale Beziehungen zu gestalten und in komplexen Bezügen zu kommunizieren, um bestimmte Ziele zu erreichen. Dieser Wandel lässt sich natürlich auch außerhalb der Arbeitswelt beobachten. Demnach nimmt die Bedeutung materieller Güter gegenüber der Ausgestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen tendenziell ab. Die Aufmerksamkeit und die Anstrengungen gelten mehr und mehr sozialen Beziehungen als solchen, den kommunikativen und auch den inszenierten und zu inszenierenden Seiten des sozialen Zusammenlebens. Zwanzig Jahre nach Riesmann hat Ronald Inglehart (1977) einen Wertewandel hin zu postmaterialistischen Einstellungen beobachtet, der sich innerhalb dieser Entwicklungslinie interpretieren lässt: nicht nur als Verlagerung hin zu postmaterialistischen Werten, sondern als Ausrichtung an immateriellen Formen der Selbstverwirklichung, an Erlebnissen und eben auch an der Intensivierung und Ausgestaltung von sozialen Beziehungen. Kontakt, Kommunikation und Beziehungsarbeit gewinnen gegenüber materieller Absicherung an Bedeutung, werden zum Selbstzweck. Natürlich gibt es auch entgegengesetzte Tendenzen: neue Armut und eine Verschärfung sozialer Ungleichheit, die mit einer Betonung materieller Faktoren einhergeht. Aber selbst hier ist zu bedenken, ob nicht die symbolischen Aspekte gegenüber den materiellen Aspekten von Ungleichheit an Bedeutung gewinnen. Mit Blick auf das vorliegende Thema ist jedenfalls wichtig, dass die Präsenz persönlicher und intimer Themen und Darstellungen vor dem Hintergrund der skizzierten längerfristigen Tendenz nicht als Bruch, sondern eher als Fortschreibung und Beschleunigung einer Tendenz erscheint, in der zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikationsfähigkeit einen Bedeutungszuwachs erlangen. Die skizzierte historische Perspektive kann helfen, das kurzfristige und vermeintlich spektakuläre Neue zu entdramatisieren und damit den Blick für das eigentlich Neue am Neuen freizumachen. Worum es letztlich geht, ist, dass sich die Veränderungen im Verhältnis von Intimität und Sozialität nicht in Begriffen der Auflösung und nicht im Vergleich mit überkommenen sozialen Formen, Institutionen und Werten beobachten lassen. Wechselnde Intimbeziehungen im Lauf des Lebens, hohe Scheidungsraten, Auflösungserscheinungen der Familie, Alleinerziehende und Patchworkfamilien – alle diese Phänomene werden viel zu leicht an einer (teils idealisierten) Vergangenheit gemessen und mehr oder minder explizit zu sozialen Problemen erklärt. Gleiches gilt, wenn man den offenen Umgang mit Sexualität oder Körperlichkeit unter Aspekten von Entblößung oder Schamlosigkeit diskutiert. Auch David Riesman gibt seiner Studie eine kulturkritische Wendung; er sieht Gefahren für Freiheit und Autonomie der Individuen heraufziehen. Wenn man jedoch von dieser Bewertung absieht, arbeitet er einen interessanten Mechanismus heraus, den man auch völlig anders interpretieren kann, als er es tut. Die Freistellung und Beeinflussbarkeit des Einzelnen, die er mit dem Begriff der „Außenlenkung“ fasst, könnte man auch positiv als eine Chance auf eine intensivierte Interaktion, erhöhte Flexibilität, offene Aushandlungsprozesse, einen erweiterten Horizont für Identitätsentwürfe, Zugehörigkeit und Gruppenbildung und neuartige soziale Bindungen verstehen. Alles dies erkennt man nicht, wenn man nur nach der Fortschreibung überkommener Formen sucht. Ab einem gewissen Punkt wandelt sich dabei möglicherweise das Verständnis des Öffentlichen und des Sozialen auf eine Weise, die noch schwer einzuschätzen ist. Oder besser
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andersherum: Es zeigt sich, wie viele normative Vorannahmen in den alltagsweltlichen, aber auch in den soziologischen Begriffen von Gesellschaften enthalten sind, die nun von der Realität selbst dekonstruiert werden. Möglicherweise entstehen neue Kriterien und Kategorisierungen für soziale Zuordnungen und Zugehörigkeitsgefühle. Und je stärker sich die sozialen Beziehungen und Identifikationen im sozialen Raum an persönlichen Eigenschaften und Darstellungen orientieren, desto näher liegt es, Mühe und Aufmerksamkeit auf die Inszenierung persönlicher Eigenschaften zu verwenden. Damit ist aber eben gerade nicht gesagt, dass es zu einem Verlust von Vergesellschaftung kommt.
Intimität versus Gemeinschaft Der wahre Gegenpol zur Intimität ist nicht eine von abstrakten Funktionsbeziehungen geprägte Gesellschaft und auch nicht die öffentliche Sichtbarkeit des Intimen, sondern die Vergemeinschaftung, ein Typus sozialer Beziehungen, der das Individuum ganz umschließen und sich auf alle Aspekte seines Selbst erstrecken will. Gemeinschaft in diesem Sinn duldet keine Intimität, weil sie keine Individualität duldet. Daher rührt auch die latente Feindschaft zwischen totalitären Herrschaftsansprüchen einerseits und der romantischen Intimbeziehung und der Wahrung der Intimsphäre andererseits. Totalitäre Herrschaftsformen können besessen sein von der Kontrolle über Körper, Sexualität und Fortpflanzung (vgl. Herzog 2005). Aber sie dulden keinen emphatischen Begriff der Intimität. Bedeutet das umgekehrt, dass eine Gesellschaft, die von der Vorstellung einer erfüllten intimen Beziehung umgetrieben wird, auch eine liberale und gegen ideologische Gleichschaltung gefeite Gesellschaft ist? Gegen die überkommene Angst davor, eine zu große sexuelle Freizügigkeit würde die moralische Basis einer Gesellschaft unterhöhlen, könnte man durchaus einwenden, dass das, was unterhöhlt wird, die gemeinschaftlichen Anteile von Vergesellschaftung sind, nicht die gesellschaftlichen.
Fazit In historischer Sicht ist die Idee der Intimität stets ein Spiegelbild der Vorstellungen von Öffentlichkeit und Sozialität. An den Versuchen, die intimen Aspekte des sozialen Lebens zu reglementieren oder deren Inszenierung zu kritisieren, lassen sich immer auch bestimmte Konzeptionen von Vergesellschaftung ablesen. Und umgekehrt implizieren Inszenierungen von Intimität immer auch ein soziales Gegenüber und drücken Wünsche und Entwürfe sozialer Beziehungen aus. Die Idee der Intimität selbst ist ein Spiegel des Selbstverständnisses des modernen Individuums als soziales Wesen. Eine Forcierung des Intimen als Teil der menschlichen Subjektivität wird also gewiss auch mit einem Wandel von Sozialität einhergehen. Aber beide Formen der Kritik, sowohl die an einer schamlosen, entblößten Gesellschaft, die das Intime der Intimität zerstöre, als auch die Angst davor, zu viel Intimität könne das
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Thomas Schwietring
Öffentliche, Gemeinsame oder genuin Politische aushöhlen, greifen zu kurz. Zum einen ist im Begriff der Intimität die Dialektik von Inszenierung und Authentizität, Zeigen und Verbergen, Theatralisierung und Enttheatralisierung bereits angelegt: Intimität braucht Inszenierung und Inszenierung schafft Intimität. Und zum anderen darf Sozialität nicht allein in überkommenen Institutionen und moralischen Kategorien gesucht werden, sondern es muss eine Sensibilität für neue Formen des Sozialen gepflegt werden. Wie so oft in der Geschichte, darf das Aufbrechen überkommener Ordnungen nicht mit dem Verlust von Ordnung schlechthin verwechselt werden.
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Zeigen und Verbergen
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Tod, Opferritual, Theatralisierung. Spaltungen am Ursprung der Gesellschaft Gallina Tasheva
Als unbezügliche Möglichkeit vereinzelt der Tod aber nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen der Anderen. M. Heidegger, Sein und Zeit, 264
... denn so etwas wie einen Menschen, der einzig von sich aus nur Mensch ist, gibt es nicht. M. Heidegger, Die Technik und die Kehre, 32
Systeme sterben nicht: Sie entstehen und vergehen nicht. Ihre Selbstorganisation besteht in einer immer währenden autopoietischen Reproduktion. Nur äußere Gewalt kann diesen Prozess zum Stillstand bringen. Das beständige Existieren des Systems in der Gleichzeitigkeit von Ereignisfolgen ist keine endliche Zeitlichkeit und der Tod als ein zukunftsloser Zustand ist für das System inakzeptabel. Die „Zeit“ des Systems ist eine temporale Beobachtungsprojektion der Vorher/Nachher–Unterscheidung zu der permanenten Gleichzeitigkeit und „zwingt nicht zur Irreversibilität“ (Luhmann 1988: 71). Die endliche menschliche Existenz fällt aus dem sozialen System heraus. In einem autopoietischen System „kann kein zukunftsloses Element, kein Ende der Gesamtserie produziert werden“ (ebd. 374-375), weil ein solches Element nicht bestimmbar sein kann. Außerdem ist der Mensch eine zu komplexe, gegensätzliche „innere Größe“, als es möglich wäre, ihn innerhalb des Systems der Gesellschaft aufzufassen (Luhmann 1995: 269, 1988: 289). Dem Menschen wird erst einmal in einem ganz stringenten Sinne die Umwelt des Systems zugeordnet bis sich soweit herausstellt, dass „der Gesellschaftsbegriff analog zum Weltbegriff gebildet wird: sich selbst und alle anderen Sozialsysteme enthaltend“ „keine soziale Umwelt kennt“ (Luhmann 1988: 554-555). Letzten Endes führen die Überlegungen über den „Menschen“ N. Luhmann zu dem Schluss, dass man „vom Menschen“ im Kontext einer systemtheoretischen Arbeit „lieber schweigen sollte“, wenn wir uns „nicht mit dem Gedanken befreunden können, dass die Gesellschaft sozusagen autopoietische Menschen konstruiert, herstellt und reproduziert“ (Luhmann 1995: 274, 271-272). „Der Mensch ist kein System“ (Luhmann 1988: 67-68) und seine Beziehung zum Tod ist keine Systemreferenz. Die menschliche Beziehung zum Tod ist überhaupt nicht selbstreferenziell. Es ist eine „Beziehung ohne Beziehung“ nach der paradoxen Formulierung von M. Blanchot, die uns auf die Aporie des Todes und die indirekten Wege sich daran anzunähern aufmerksam macht (Blanchot 1991: 198).
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Gallina Tasheva
Unterlegt man jedoch den universalistischen Anspruch einer allgemeinen Theorie wie die der sozialen Systeme und glaubt man mit ihrem Gedankengut sich existenzialer Phänomene bemächtigen zu können, dann scheint der „Tod“ nach einer „Domestizierung im sozialen Raum“ durch eine „systemtheoretische Thanatologie“ damit sogar „anschlussfähig thematisierbar“ gemacht worden zu sein (Nassehi/Saake 2005: 32). Der Tod aus soziologischer Perspektive, wird so einfach behauptet, ist „stets >>Tod in Kontexturen<<“, nicht mehr und nicht weniger als eine ‚kommunikative Konstruktion‘ (ebd.). Das ‚merkwürdige epistemologische Problem‘ für Nassehi/Saake, dass sich der Tod jeglicher Erfahrung entzieht, löst sich auf, sobald man begriffen hat, dass es keine „Sprachlosigkeit“ gibt (ebd.). Das allumfassende Gesellschaftssystem mit seiner totalen kommunikativen Vermittlung bringt mit sich die Erlösung vom Tod. Der Tod zerfällt in kommunikative Bilder, Texturen und Semantiken, die den Umgang ‚kommunizierbar machen‘ mit der „Erfahrung, dass Welt und Gesellschaft ziemlich gelassen kontinuieren, obwohl ihr Personal in regelmäßigen Abständen vernichtet und erneuert wird“ (ebd., 33). Der Tod verlangt, so die besagten Autoren, „Kommunikation und noch mehr Kommunikation“ (ebd.). Bestünde alles nur aus Kommunikation?! Und äußert sich der Sinn nicht erst durch eine Dissemination des Sinnes, in der sich die Körperlichkeit der Sprache und die unlösliche Materialität des Zeichens manifestieren – eine leibliche Materialität, die ihren Ursprung in einer Alterität hat, die die Möglichkeit der Unmöglichkeit von Sinn verrät? „Der Tod ist die Bewegung der differance“ schlechthin (Derrida 1967: 205; 1974: 247)1, ohne die „das Verlangen nach der Präsenz als solcher nicht zum Leben erweckt werden“ kann (ebd. 206; 248). Das soziologische Vokabular eines solchen >Intellektualismus<, der nichts außerhalb der Kommunikation und der Gesellschaft zu denken übrig lässt, bleibt in der virtuellen Macht seiner Konstruktion und aus lauter „Geschwätzigkeit des Todes“ (Nahessi/Saake 2005: 39) vor dem Tod dennoch sprachlos. Er kann ihn nicht einmal (ge)denken. Der Tod ist für ihn einfach eine ‚Kontextur‘ – ‚kommunikative Konstruktion‘ ohne Ekstase, Bruch und Verdichtung der Zeit, von der Simmel, Heidegger, Bergson und Levinas sprechen; ohne Verzweiflung und Besetzung der Sinne bis zu Todestrieben und Ich-Aggression, die Kierkegaard, Freud und Bataille zum Ausdruck bringen; ohne die Katharsis des Leidens und des Mitleids, von dem her die antike Tragödie ihren Ursprung nimmt; ohne die ursprüngliche Erfahrung des Sakralen und Heiligen, die sich für jede Kultur und für die Sozialität überhaupt als mit konstitutiv erweist, wie Durkheim aufgrund der ethnologischen Forschungen von W.R. Smith, E. Tylor, M. Mauss und H. Hubert zeigt, die sich durch spätere ethnologische Arbeiten wie von B. Malinowski, A. R. Radcliffe-Brown, A. van Gennep und V. Turner immer wieder bestätigt haben. Die Kultur ist, wie Derrida sagt „a priori Kultur des Todes.(...) Es gibt keine Kultur ohne den Kult der Vorfahren, ohne die Ritualisierung der Trauer und des Opfers (...)“ (Derrida 1998: 77). Viel mehr zieht J. Derrida „eine Art ursprünglicher Trauer“ heran für die Bezeichnung der Erfahrung des Todes (ebd. 69), über die uns schon Augustinus’ Bekenntnisse erzählen und zu der wir zurückkommen werden. Soziologisch zugespitzt fragen wir uns: Welcher Tod ist ‚kommunikative Konstruktion‘ – der Tod des Opfers; der Tod des zum Tode Verurteilten, der sich in den ihm verbleibenden 1 Übersetzung leicht verändert, da in der deutschen Übersetzung missverständlicher Weise „Differenz“ statt differance steht.
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Monaten, Wochen, Tagen, Stunden und Minuten der Bestimmungen des Todes nähert; der Freitod; der Tod einer obdachlosen Frau, die erfroren auf dem Bürgersteig liegt und mit ihren sinnlosen Augen als ob Gott direkt „mich“ ansieht2 oder der Tod des missbrauchten Kindes?
1. Der Tod des Anderen als principium individuationis Das Dasein „ist in der Weise, sein Da zu sein“ – nach der berühmten Heideggerschen Formel von „Sein und Zeit“ (Heidegger 1986: 133)3. Unsere Weise zu sein ist nichts Vorhandenes als etwas beständig Vorliegendes, sondern „Lebensbewegtheit“ – Zeitlichkeit, Endlichkeit, Jeweiligkeit. Die Zeitlichkeit des Daseins als der Sinn der Sorge ist die Suche nach einer Zeit, die nicht verrinnt, die schlechterdings die Verdichtung der Zeit ist jenseits der wachsenden Beschleunigung der Geschehnisse in der Zeit. In der hektischen Umtriebigkeit der Geschäftigkeit verliert sich das Dasein in der Zerstreuung einer unendlich zirkulären Zeit in der Zeit – ohne Geduld, Austrag und Wachen. Das Dasein lässt sich aber nicht wie ein Ding von einem abtragen. Dieses „Zu-sein-Haben“, das man übernimmt, ist so auferlegt, dass es auszutragen ist. Deshalb geht es dem Dasein „in seinem Sein um dieses selbst“ als ein „Inder-Welt-sein“ (ebd. 191). In seiner endlichen Zeitlichkeit versteht sich das Dasein aus seiner Geworfenheit in die Welt auf sein Zu-sein-Haben als ein ständiges Fragen, in dem „das Befragte“ der/die Fragende selbst ist. Das Dasein ist in eins der zeitliche Vollzug des In-der-Welt-seins und der Bezug zu diesem Vollzug. Das Sich-Fragen als Ursprung der Existenz ist eine Beziehung zu sich ohne Selbstbezüglichkeit, da das Dasein selbst in der Frage steht. Sogar mit der Steigerung der Fraglichkeit bezieht sich das Dasein immer wieder auf die „Offenheit“, die es selbst ist. Dasein bedeutet eigentlich jene Öffnung des „In-der-Welt-seins“, in der sich das Mögliche erschließt. Ausgerichtet auf die offenen Möglichkeiten der Zukunft ist das Dasein „ohne Grund“ (Heidegger 1957: 188). „Das Dasein, begriffen in seiner äußersten Seinsmöglichkeit“, wie Heidegger zeigt „ist die Zeit selbst, nicht in der Zeit“ (Heidegger 1989a: 19). Die zeitliche Ekstase ist die Übernahme und das Geschehen der Existenz selbst. Das endliche Dasein ist „immer noch unterwegs. Es ist immer noch etwas, was nicht zuende ist. Am Ende, wenn es soweit ist, ist es gerade nicht mehr“ (ebd. 15-16). Die Endlichkeit des Daseins, sein Tod erweist sich jedoch nicht als das bloß bevorstehende unbestimmte Ende. Vielmehr erschließt sich dem Dasein in der faktischen Ausgerichtetheit seiner Existenz auf das Sein-zum-Tode sein primäres endliches Möglichsein. In diesem Sich-voraus-sein der gelebten Zeitlichkeit, im Entwurf der eigensten Möglichkeiten, kommt das Dasein mit seiner ganzen Vergangenheit auf sich aus der Zukunft zurück. Die ekstatische Zeitlichkeit ist gerade das gründende „ursprüngliche >>Außer-sich<<“ (Heidegger
2 Szene aus „American Beauty“, 1999. 3 Es sei verwiesen auf neuere soziologische Interpretationen der Heideggerschen Daseinsanalytik in J. Weiß (Hrsg.), Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz 2001.
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1986: 329). Die sich bei aller seiner Freiheit offenbarende Endlichkeit des Menschen führt im Bezug zu ihm selbst zu einem transitiven Charakter des Existierens. Der existenzialen Logik gemäß wird so eine Verwandlung des erfahrungstheoretischen Ansatzes möglich: der Mensch in seiner faktischen Existenz als „Sich-voraus-sein“ im „Vorlaufen-zum-Tode“ ist immer schon „außer sich“ und über sich hinaus, dem Anderen ausgesetzt, bei jenem absoluten Anderen, der sich nicht auf die gegenseitige Reziprozität eines „Du“ (G. H. Mead), auf die intentionale Konstitution des Alter Ego (A. Schütz) und noch weniger auf einen vermittelnden Dritten (G. Simmel) reduzieren lässt. Der Andere ist keine mir gegenüberstehende Entität. Der andere Mensch in seiner Einzigartigkeit ist bereits „da“ vor jeder Erfahrung und Konstitution. Der Andere ist das Ereignis des „Da“. Heideggers Entdeckung, die ihn entschieden von Kant und der ganzen Tradition unterscheidet, dass die Zeitlichkeit das Geschehen der Existenz selbst ist, manifestiert sich in der Offenbarung der Grundbefindlichkeit des endlichen Existierens, die der Mensch freilich durch alle Formen des Wissens, der Erkenntnis, der Objektivierung und Vergegenständlichung der alltäglichen Erfahrung überspielt – so, als erlange er dadurch die ihm konstitutiv fehlende Bestimmtheit und Vollendung. Kommunikation, Handeln, mediale Vermittlung und deren Netze symbolischer und sozialer Strukturen, die durch Sprache, Schrift und Technik gesponnen werden, verleihen dem menschlichen Leben jene von allen geteilte Bestimmtheit der Positivität des „Man“. Die Sicherheit der Bestimmtheit „im Untereinandersein“ inmitten des „Man“ verhilft und bestärkt das Dasein auf der Flucht vor seinem eigenen Selbstsein. Dazu noch klären die Erkenntnisse der positiven Wissenschaften mit ihren Beobachtungen, Beschreibungen und stringenten Analysen das naive Dasein auf über die Macht der Strukturen, Systeme und über seine letztlich mangelhafte, verfängliche Natur, die im leistenden und moralisch begründeten Handeln ihren wahren Sinn erfährt. Wie ist es dann in Frage zu stellen, dass das Dasein gerade als sprachliches Wesen nicht durch das System und soziale Strukturen seine eigenste Bestimmung erfährt?! Das „existenziale Offensein des Daseins“ „für den Anderen“ erwacht allerdings nicht aus der Kommunikation. Die Kommunikation nötigt zur Einbeziehung des Anderen durch Neutralisierung und Normierung, die auf natürliche Widerstände der Alterität stößt. Das Dasein exponiert sich in und durch die Sprache. Die lebendige Sprache ist De-Finition der Dissemination der Bedeutungen der Sprache – Dissemination und schöpferischer Ausdruck, wie uns M. Merleau-Ponty bis J. Derrida lehren. Sogar wenn das „Sagen“ dem „Gesagten“ im Sinne nicht widerspricht, entzieht sich dem Gesagten unweigerlich die Spur des lebendigen Sagens. Die Spur, die der Entzug als Manifestation der Alterität im Versuch ihrer Aneignung unumgänglich hinterlassen wird, ist die Existenz des Symbolischen selbst. Das Zeichen, das Symbol, das Wort lebt von der Erfahrung der Alterität. Das Sagen muss stets neu gesagt werden und das „Gesagte“ immer wieder zu neuem Sagen führen. Die lebendige Spur der Rede ist wie ein „Supplement“, das kein weiteres Element in der Serie bildet. Gerade dieses ganz sinnlose, unaussprechbare „Supplement“ bringt, indem es über die Polysemie hinausgeht, den Sinn des Sprechens hervor. Sprechen ist nicht allein Kommunikation oder Austausch von Information. Vielmehr ist die Rede eine Beziehung zum Anderen, zur Singularität des Anderen bis zu einem „Sprechen, um nichts zu sagen“ (Derrida 1989: 13). Das „Mit“ des Mitseins ohne aufzuhören die Sprache heimzusuchen, bleibt in der Sprache unsagbar. Das „Mit“ als solches muss immer wieder neu erschlossen und gesagt werden.
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Das „Mitsein“, das als Beziehung zum Anderen nicht einfach ein „Mitdasein“ oder ein „Miteinandersein“ ist, entsteht nicht als Kollektivität um etwas Gemeinsames, sei es durch Prozesse der Vergemeinschaftung (Zugehörigkeit) oder der Vergesellschaftung (Vermittlung), oder durch operationell normierende systemische Geschlossenheit. Das „Mitsein“ als Existenzial des Daseins entgeht >aus Prinzip< der Geschlossenheit der Selbstbezüglichkeit, die die differentia spezifica jedes einzelnen Subjekts oder eines Gesamtsubjekts ist. Ein solcher Begriff der Gemeinschaft/Gesellschaft als Identität in der Differenz – des Kollektiven im Unterschied zum Individuellen oder des Integrativen zum Nichtzugehörigen ist im Heideggerschen Sinne nur „ein anderer Name (...) oder eine Erweiterung der Subjektivität“ (Heidegger 1977: 97)4. Wenn Heidegger „das existentiale Offensein“ als „Mitsein für den Anderen“ (Heidegger 1986: 163) „wesentlich“ für die Konstitution des „je eigenen Daseins“ bestimmt (ebd. 121), hat er jene paradoxe phänomenale ‚Dialektik‘ menschlichen Lebens im Blick, wie im Ausgang vom „In-der-Welt-sein“, wo der Mensch in seinem „Mitdasein“ mit den vielen konkreten anderen Menschen ein „Miteinandersein“ bildet (ebd. 117ff.), aber auch ein „Man“ (ebd. 126ff.), das nicht er selbst ist. Erst in der existentialen Bewegung zum „Außer-sich“ angesichts des Anderen konstituiert sich das „Mitsein“. Das Dasein als Fragendes und Befragtes verhält sich zu sich selbst, zu seiner „Jemeinigkeit“ durch eine Umwendung über den „Umweg“ einer Beziehung, die streng genommen keine Beziehung ist, da sie eine Beziehung zum „Differenten“ und erkenntnistheoretisch „Unfassbaren“ bedeutet. Die ekstatische Zeitlichkeit des Daseins, die faktische Unmöglichkeit des Ganzseinkönnens des Daseins (bis zur äußersten „Möglichkeit aller Unmöglichkeiten“ nach Heidegger), dieser „Mangel“ oder die Verletzlichkeit des Daseins – der Unsinn des Todes – ist die Öffnung auf die eigentliche aporetische Struktur der Existenz: der Nichtsinn ist keine Negation des Sinnes; das Unmögliche ist nichts Negatives, kein Nihilum – es ist die Positivität einer Alterität, die angesichts des „Todes des Anderen“ Nähe, Unruhe und Dringlichkeit einer Verpflichtung wird, der ich ausgesetzt bin und nicht von mir wie ein Ding abgetragen werden kann, sondern die ich auszutragen habe. In der „Bitte“ des Anderen bin ich unersetzbar: Diese Verpflichtung ohne Pflicht ist als solche, mit Levinas und Derrida gesprochen, eine „Bejahung“ der Einzigartigkeit des Anderen. Durch die unmögliche Erfahrung des Todes, in der „Bewegung der differance“ zwischen dem Leben und dem Tod, zwischen dem Sinn und dem Unsinn (dem Nichtsinn) bekundet sich das Unmögliche als „die Figur des Wirklichen selbst“ (Derrida 2007: 332; 2006: 42). In seiner Endlichkeit und Sterblichkeit, in seiner Verletzlichkeit geht mich der Andere an. Sogar der Dritte als „Anderer des Anderen“ (Levinas 1998: 342) ist kein Jedermann und keine anonyme Instanz des Gesetzes, die das Getane und das Gesagte nach guten Gründen zu beurteilen und zu rechtfertigen weiß, um das „gute Gewissen“ zu beruhigen. Das Dasein im Sinne Heideggers ist sich faktisch erschlossen in der Befindlichkeit, der „Affektivität“, und gerade als solches bedeutet es nach Levinas „Nicht-Indifferenz“ – Iteration eines Erwachens durch den unausweichlichen „Appell des Anderen“. 4 Freilich findet es N. Luhmann für die Ausarbeitung einer allgemeinen soziologischen Theorie vorteilhaft, wie er selbst schreibt, wenn der Begriff „Subjekt“ durch „System“ und der Begriff „Objekt“ durch „Welt“ ersetzt wird. Siehe Luhmann 1970: 116, Anm. 11; auch 1988: 111ff.
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Die Begegnung des anderen Menschen äußert sich nicht als ein Akt des Selbstunterscheidens, ist keine duale Opposition und kein Ereignis der Kontingenz in einer Polykontexturalität, sondern das Ereignen des „Da“, das Ereignen einer Differenz als Nicht-Indifferenz, einer Differenz-in-mir, die meine „Jemeinigkeit“ als Differenz zu sich selbst ausmacht „ohne den Hintergrund einer Gemeinschaft“ oder eines Systems (Levinas 1998: 360; Derrida 2004: 43ff.). Und wenn die Zeit als unumkehrbare Sukzession und die Zeitlichkeit als „Vorlaufenzum-Tode“ das „Individuationsprinzip“ jedes lebendigen Daseins ist, vereinzelt mich der Tod des Anderen, der Andere in seiner Sterblichkeit: Dem Anderen begegnen, bedeutet von ihm verpflichtet zu werden. Sobald ich verpflichtet bin, entschwindet die Welt als Boden, Stütze, Vermittlung in die Ferne. Angesichts des Anderen, angesichts seiner Bitte, seinem Appell, seiner Aufforderung, seiner Frage bin ich der Einzige „da“, der Einzige dem Anderen gegenüber – ihm verpflichtet, ihm in mir, außerhalb von mir. Die Individuation hat ihren Grund in der Unmöglichkeit sich dem Ruf, der Sorge, der Verpflichtung zum Anderen zu entziehen5. Das Dasein ist „der Rufer“ und „der Angerufene“ zugleich vor jedem Geltungsbereich moralischer und juridischer Normen (Heidegger 1986: §54-§58, insb. 277, auch §34). Aber ich habe einmal eine obdachlose Frau gesehen, die erfroren war, lag einfach auf dem Bürgersteig. Wenn man so etwas sieht, dann ist es als ob dich Gott direkt ansieht – nur für eine Sekunde und wenn man aufpasst, kann man den Blick erwidern.6
Der Tod ist die Sichtbarkeit des Anderen. Die Unbestimmtheit des Todes, das Noch-nicht des Todes des Anderen gehört zum eigenen Dasein und macht die unbestimmte eigenste Möglichkeit im trauernden Verlust des Anderen evident, die jedem Moment des Lebens innewohnt als Gabe der Zeit, einer Zeit ohne Rückkehr zu sich. Die Beziehung zum Anderen „außerhalb von mir in mir“ wird sich nie von dieser „ursprünglichen Trauer“ unterscheiden, die „die Jemeinigkeit (...) in ihrer Selbstheit konstituiert“ (Derrida 1998: 102-103). Die Vorwegnahme des Todes ist wie ein Erwachen oder Wachsamkeit der ursprünglichen Trauer, den Anderen nicht alleine sterben zu lassen, den Anderen nicht alleine zu lassen, dem Anderen als Sterblichen nie gerecht werden zu können. Was wir sind und wie wir sind, ist bestimmt von diesem Ort der Erwiderung auf den „Widerhall des Anderen, des sterblichen Anderen“, des Anderen in mir (Derrida 2007: 154). Der Tod als solcher geschieht im „Da“, in und durch das „Mitsein“ bis zur Verpflichtung der Lebenden zu den Toten, der Erben zu den nicht mehr Anwesenden. Hier kündigt sich eine Beziehung zur Alterität an, die an die Ursprünge des Lebens und an die elementaren Formen der Sozialität rührt.
5 Zur Unausweichlichkeit der Selbstverpflichtung siehe Levinas, 1987: 65ff., 1998: 48ff., 189ff., 311ff. und Derrida, 1998: 103-109, 2000b: 41ff., 2004: 43-47. 6 Fortsetzung der Szene aus „American Beauty“ 1999.
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2. Sokrates’ Tod gegen den Tod Das menschliche Denken, Kultur und Wissen, zurück verfolgt bis zu den Riten und Mythen, von der antiken Tragödie bis zum modernen Drama zeugt stets vom Tod des Anderen als „Erfahrung“ der Überlebenden: eine paradoxe Erfahrung von etwas Nichterfahrbarem oder erfahrbar als Bruch der Erfahrung, der die Intelligibilität des Todes selber ist. Die Erfahrung des Todes ist jene Erfahrung, die etwas manifestiert, indem es sich uns entzieht; eine Ambiguität, die zu verstehen seit Platons Zeiten ein andauernder Versuch der freien Aneignung des Todes geworden ist – ars moriendi. Die Vernunft ist stärker als der Tod: Das ist die Verkündigung der platonischen Tradition, die über die Stoa, die Patristik bis hin zu Hegel zum Prinzip des abendländischen Denkens erhoben worden ist. Die Lehre des Sokrates aus dem Phaidon – der ersten überlieferten sozialen Erfahrung des Todes – ist, dass wahres Denken heißt: lebenslang auf den Tod bedacht zu sein durch μελετη θανατον, „ein Sich-Einüben auf den Tod“ (Platon 1978: 80e-81a), das Cicero als „commentatio mortis“ wiedergibt (Cicero 1997: I, 74) und Seneca in „Kürze des Lebens“ als „sterben lernen“ – „tota vita discendum est mori“ formuliert (Seneca 1977: 7, 3). Freilich verschiebt sich der Sinn des „Sterben-Lernens“ mit Aufklärern wie F. Bacon, B. Spinoza und J.-J. Rousseau stärker auf die seelische Vorbereitung für das nahekommende Sterben, die dann von einer ärztlichen Kunst der Euthanasie immer mehr abgelöst wird, die sich zu Beginn des 19. Jh. zur eigenständigen medizinischen Disziplin entwickelt, getragen von der Idee, dass der „freie Mensch“, der „nur nach dem Gebot der Vernunft lebt“ und seinen „eigenen Nutzen sucht“, ohne vom Gedanken an den Tod geleitet zu werden, sein Leben lange zu erhalten pflegt (Spinoza 1977: IV, prop. 67). Es ist sicherlich sehr interessant, nur diese eine Linie alleine zu verfolgen, sogar die Geschichte des Abendlandes und der Metaphysik aus dieser Idee, dass die Vernunft stärker sei als der Tod, erneut aufzurollen bis zu den Exzessen einer Biopolitik, die das 20. Jh. erschütterte. Diese Perspektive würde aber momentan unseren Blick von der Urszene des Wetteiferns der Vernunft mit dem Tod abwenden, der Szene vom Tod des Sokrates, der wir uns nun zuwenden wollen. Beim Verlassen der Gerichtsstätte, wo Sokrates mit seiner „Apologie“ die Freunde überzeugen wollte, dass es für den mit den Tugenden der Vernunft begabten Menschen kein Übel gibt „weder im Leben noch im Tode“ (Platon 1980: 41d), endet er mit den Worten: „Jedoch, es ist nun Zeit, dass wir gehen, ich, um zu sterben, und ihr, um zu leben. Wer aber von uns beiden zu dem besseren Geschäft hingehe, das ist allen verborgen außer nur Gott“ (ebd. 42a). Nach Sokrates, so Platon im Phaidon, stirbt im Tod das Sterbliche im Menschen, „das Unsterbliche zieht wohlbehalten ab, dem Tode aus dem Wege“ (Platon 1978: 106e). Das Unsterbliche (ψνχης) – die Seele – wandert ohne Laster zwischen Himmel und Erde in vollkommener Freiheit (ebd. 67c-68c). Der Tod ist nichts anderes als ein χωρισμος ψνχης απο σωματος (ebd. 64c, 67d) – eine Trennung und ein Übergang zweifachen Werdens in der Entgegensetzung von Leben und Tod. Mit dem Tod treten wir eigentlich ins Leben und das, was wir Leben nennen, kommt aus dem Tod (ebd. 71d), wie wenn es zu neuem Leben erwacht. Die Freunde glauben Sokrates, dass die richtig Philosophierenden nur danach trachten, die Freiheit zum Tode zu erlangen. Als Sokrates aber den Schierlingsbecher zu sich nimmt, brechen sie nach einander in Tränen aus – nicht über sein Schicksal, etwa aus Furcht oder Mitleid, sondern über ihr eigenes: was für eines Freundes sie nun sollten beraubt werden (ebd. 117c-d).
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Die Anstrengungen von Sokrates, dem Tod jedes Geheimnis zu entreißen und durch den Akt des eigenen Todes die Überlegenheit des Wissens und die Stärke der Vernunft zu beweisen, blieben vergeblich und sind bis heute beispiellos. Der Exzess an Emotion gibt nicht nur die Freundschaft wie in einem Spiegel zu erkennen. Vielmehr wird in der Beziehung zum Tod des Anderen jene Passion offenkundig, die die Beziehung zum Anderen auszeichnet. Affektivität, die sich nicht in einem Streben nach etwas Bewusstem erschöpft und die nicht durch das Verfolgen eines gemeinsamen Zwecks wie bei massenpsychologischen Dynamiken typisch in einer Institution (Diskurs) erstarrt, ebenfalls keine Selbstaffektion als strukturelle Kopplung an einer autopoietischen Organisation. Es handelt sich hier um eine Affektivität ohne Intentionalität und ohne Selbstbezüglichkeit, doch Selbstaffektion als „Unruhe der Emotion“ angesichts des Anderen, „Emotion als sich Beugen vor dem Tod“ – Frage ohne Antwort7. Es ist eine Affektivität oder Passion, die Alterität und Umkehrung des Ereignisses bedeutet – die Exteriorität wird zur Innerlichkeit: „Das unendlich Äußere wird zum unendlich Inneren als meine Stimme, die von der Spaltung des inneren Geheimnisses zeugt, von der Spaltung der Zeichen-Gabe selbst“ (Levinas 1996: 209). Während Sokrates mit allen zusammen den Dialog weiter führt und die Argumente darüber ausgetauscht werden, dass es nichts Sehnlicheres für die richtig Philosophierenden gibt als die Freiheit zum Tode, findet sich jeder von seinen Freunden vor dem Ereignis des Todes des geliebten Freundes alleine auf sich zurückgeworfen (Platon 1978: 117d). Das Ereignis trifft jeden anders und jeder verhält sich dazu auf eigene Weise. Eines ist aber gemeinsam und damit allgemein für alle, dass keiner von ihnen unbeteiligt bleiben konnte ohne davon mitgenommen zu sein. Ein Sich-Einüben auf den Tod des geliebten Menschen, des Freundes, eines jeden anderen, mit dem uns das Leben verbindet, ist die reine Unmöglichkeit, die keine Modalitäten übrig lässt. Die aporetische Möglichkeit dieser Unmöglichkeit, die das menschliche Leben ausmacht, höhlt die lebendige Gegenwart aus. Die Aporie des Todes ist die Aporie der Zeit selbst, da er nicht so etwas ist, das in der Zeit geschieht, wie auch die Aporie der Zeit die des Todes ist, da er in „Un-Zeit“ gleitend ein „Raum-Werden“ der Zeit und „Zeit-Werden“ des Raumes ist. Es deutet sich darin eine universale Singularität an: eine universale und doch innerhalb der Ordnung der Vernunft inkommensurable Singularität – „differance“ als „ein Bezug auf die Alterität“. (Derrida 2006: 42). Die „Einstellung neutralisierender Indifferenz“ (Derrida 1995: 14) ist die Beziehung zum Nicht-Identischen innerhalb der Identität, eine bejahende Beziehung zum Anderen innerhalb des Selben und Eigenen, der man sich nicht entziehen kann. Vom Tod her offenbart sich die Dauer der Zeit als eine „Gleich-Ursprünglichkeit“ des „Mitseins“ und der Jemeinigkeit des Daseins. Die „Jemeinigkeit“ ist keine Substanz, kein Kern des wahren Selbst, keine Identität, sondern die Lebensbewegtheit der Selbstfindung. Deshalb widerspricht nicht die Gleichursprünglichkeit des Mitseins dem „Sein zum Tode“. Sie setzt vielmehr, wie Derrida zeigt, „eine Jemeinigkeit des Sterbens“ voraus, „die nicht diejenige eines Ich oder einer egologischen Selbstheit ist“ (Derrida 1998: 69). Der Tod als solcher geschieht im „Da“, in und durch das Mitsein.
7 Unser Verständnis der Affektivität leitet sich ab von M. Henrys Konzeption, die er in Auseinandersetzung mit Heideggers Existenzialanalytik der Ekstasen der Zeitlichkeit in L’essence de la manifestation (1963) entwickelt und mit der sowohl Levinas’ als auch Derridas Begriffe der Affektivität und der Emotion verwandte Züge zeigen – siehe Levinas 1996: 27ff.; Derrida 2000a: § 7, § 8.
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„Er ist die Signatur des >>Mit<< selbst: Tod ist das, was nicht mehr >>Mit<< ist, und was gleichzeitig nach genauem Maß, nach rechtem Maß den Platz des inkommensurablen >Mit< einnimmt“ (Nancy 2004: 137). Der Tod des Anderen ist die Evidenz jener Verpflichtung ohne Pflicht, die die Beziehung zum Anderen trägt und wie eine Gabe ohne Tausch das Verhältnis zum Anderen öffnet – Mitsein oder Sozialität in statu nascendi. Der Tod des Sokrates, wie ihn uns Platon darstellt ist aber nur ein χωρισμος (chorismos) – Trennung und Übergang, jedoch kein Abgrund; Trennung des Sterblichen vom Unsterblichen, Befreiung der Seele vom Leib, allmähliche Absonderung von den Lust- und Unlustgefühlen, mit denen der Leib die Seele fesselt, eine Reinigung von den Leidenschaften mit dem Ziel der Selbstgewinnung, der Erhöhung der Souveränität, der Autonomie und der Selbstvervollkommnung dank der Vernünftigkeit und des Erkenntnisgewinns. Denken, Philosophieren, Erkennen heißt für Platon „Angleichung an Gott“ (Platon 1977: 176b). In der Idee der Unsterblichkeit der Seele, der Versöhnung und der Rückkehr der Seele zu sich gründet die ‚ideale Gemeinschaft‘ der Vernunft. Diese Linie der Rationalisierung des Todes und aller Erfahrung, die sich der Erkenntnis und der Rationalität entzieht, ist gerade der Versuch des mit der Tugend der Vernunft begabten Menschen um der Selbsterhaltung willen dem Erleiden des Todes entgegenzuwirken, aber auch jedem Bruch, mit dem das Erleben von Alterität einhergeht. Der sokratische Dialog über den Tod und der Sokratismus überhaupt gibt der Moderne die paradigmatische Form des Denkens und des Umgangs mit dem Tod. Er erreicht auch eine besondere ästhetische Vollkommenheit in der Steigerung der Vernünftigkeit, die schon in der griechischen Tragödie angelegt ist8. Die alte griechische Tragödie (τραγωδια)9 als die erste Bühnendarstellung (Athen im 5. Jh. v. Chr.) dient dem „Lernen“, dem Leben-und-SterbenLernen „durch Leiden“ (Aischylos 1977: 129-149). Die Tragödie, die noch das Opferritual in sich enthält, aus dem sie entstand und das sie ursprünglich sogar noch abhielt, ist angestrebt es zu überwinden, indem sie schon den Anspruch auf eine leiden machende Kraft des Logos stellt, die ihr doch vom sokratischen Dialog abgesprochen wird, da sie nach Platon affektbefangen und ohne Bedeutung für die Bildung der Wahrheit, der Seele und der Vernunft bleibt. Bekanntlich tritt die Tragödie in ihrer öffentlichen Präsentation auf der Bühne in der historischen Zeit des Übergangs von einer archaischen zu einer immer mehr staatlich und rechtlich-gerichtlich organisierten gesellschaftlichen Ordnung an die Stelle der zur Selbstvergessenheit führenden Ekstasen der Ritualspiele. Die Tragödie als eine durch Katharsis (KA*ARSI6) auslösende Anteilnahme an fremdem Glück und Unglück, so Aristoteles gegen Platon, bewirkt durch Erregung, durch Furcht (JOBO6) und Mitleid (ELEO6), eine Reinigung der Leidenschaften, die letztlich zu einer vernünftigen Versöhnung führen soll (Aristoteles 1982: 1449b).
8 Nach Nietzsche ist der Sokratismus, der „jene apollinische Klarheit, ohne jede fremdartige Beimischung verkörpert“ der „Verfall der Tragödie, wie ihn Euripides zu sehen glaubte“ und zugleich „Vorbote und Herold der Wissenschaft“ (Herv. v. Nietzsche 1980: 533-549, hier 544, 542). 9 Zusammensetzung von τραγοζ (Bock) und ωδη (Gesang) – Lied beim Opfer eines Bockes am Dionysosfest. Zur Deutung des griechischen Begriffs siehe Latacz 2003: 53-56.
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Wenn man den sokratischen Dialog als eine Ablösung der griechischen Tragödie und „Vorbote der Wissenschaft“, und die Tragödie aus ihrer Verwurzelung im Opferritual betrachtet, überrascht doch in bezug auf das Verhältnis zum Tod eine für alle diese verschiedenen kulturellen Formen charakteristische Bedeutung des Pathos für den Logos. Der sokratische Dialog mündet in der Evidenz der konstitutiven Affektivität des Lebens – konstitutiv, wie man zurückverfolgen kann, schon für die ursprünglichen elementaren Formen der sozialen Organisation menschlichen Zusammenlebens. Das strukturale Paradox menschlicher Existenz, das Platons „Phaidon“ aufweist und das, wie wir sehen werden die Grenzen der Natur in die Kultur und die der Kultur in die Natur dauernd verschiebt, enthüllt den ‚Sieg über den Tod‘ in der Unsterblichkeit der Seele, die ‚Bemächtigung des Todes‘, den rationalen Umgang mit dem Tod als einen erst durch den Tod hindurch errungenen: mit dem Tod gegen den Tod, gegen den Tod um den Preis eines anderen, ‚vernünftigen Todes‘. Der Zugang zum Tod, wie zu jeder Alterität überhaupt sowie Fremdheit, Leiblichkeit, Generativität, Singularität, Gabe, Freundschaft, Gastlichkeit, Opfer, Vergebung10 zeigt sich als ein indirekter und kein sukzessiv linearer, hingegen als ein inversiver Zugang zum originär Unzugänglichen an der Schwelle der Umkehrung des Ereignisses, wo aus der Homogenität der linearen Zeit eine Diachronie der Zeit und aus dem homogenen Raum eine Diastase wird11. In der Erfahrung der Alterität, die die menschliche Existenz ausmacht, in dem immer wieder von neuem gestifteten und doch sich entziehenden und im Kommen verbleibenden Zugang zum originär Unzugänglichen setzt sich seit Anfängen menschlicher Kultur das Sakrale und Heilige an der Schwelle des Profanen ins Werk. So richten sich die letzten Worte des Sokrates an Kriton, dass ein Dankopfer dem Gott der Heilkunst für die Gabe des Giftes, für den Trank, der die Seele zu sich schickt und versammelt, vollbracht wird: „versäumt es ja nicht“ die Dankesgabe für Asklepios zu entrichten (Platon 1978: 118a). Indem Durkheim die sakralen Wurzeln des Gemeinschaftlichen, seine Konstitution aus der Ritualität des Religiösen enthüllt, geht er über eine objektivierende Konstitution des Anderen hinaus und lässt dadurch eine Alterität durchblicken, die von der Alterität als Andersheit und Vielfalt des Selben radikal verschieden ist. Doch der Andere lässt sich nicht als Teil eines Ganzen fassen. Der Glaube, der sich nach Derrida in Bürgschaft, Vertrauen und Zuversicht gegenüber dem ganz Anderen bezeugt12 und die Achtung, die Wachsamkeit, die geduldige Verhaltenheit und der Zuspruch, die Heidegger zufolge die Beziehung zum absolut Anderen eröffnen13, lösen sich in der Intentionalität kollektiver Repräsentationen auf. Es stellt sich die Frage, ob die Erfahrung des Glaubens, des Vertrauens, des Zuspruchs, der Bürgschaft und der Zuversichtlichkeit, die man dem guten Glauben des ganz Anderen gewährt, abgeleitet ist von einer Erfahrung des Sakralen oder vor dem Gegensatz sakral/profan liegt. Und wie bezieht sich die sakrale Ritualität als gemeinschaftliche Legitimation zur singulären Erfahrung des Heiligen? Welche ist dann die Bezeugung und das Glaubenszeugnis? Lässt sich ferner das Ritual, seine
10 Dass es sich hier um verschiedene Typiken der Alterität – von der anonymen Andersheit bis hin zur Andersheit des anderen Menschen – handelt, versteht sich von selbst. 11 Zu den Begriffen „Diachronie“ und „Diastase“ vgl. Levinas 1998: 87, 136f., 369ff. 12 Siehe J. Derrida 2001: 24, 34-39, 55-59, 97-98, 101-106; 1988: 109ff., 148ff. 13 Siehe M. Heidegger 1986: 267-301; 1989b: 14-20, 23-27, 33-36.
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erfinderisch inszenierende Kraft und die Liminalität auf kollektive Regeln, Pflichten und Normen reduzieren, die den Einzelnen so an die Gemeinschaft binden? Ist überhaupt Durkheims „moralische Religion“ das Charakteristikum der Gesellschaft oder spaltet sich die Quelle der Religion, des Rituals und des „gesellschaftlichen Bandes“ schon an ihrem Ursprung?
3. Liminalität Von allen Ursprüngen sozialen Lebens ist das unbestimmte Ereignis des Todes das bestimmendste und prägendste, wenn nicht überhaupt jede religiöse Inspiration, wie Malinowski feststellt, auf den Tod zurückzuführen ist (Malinowski 1983: 32-33). „Der Tote“ ist „ein sakrales Wesen“, konstatiert Durkheim in seinen minuziösen Analysen der elementaren Formen religiösen und sozialen Lebens (Durkheim 1998: 523; 1985: 557)14. Die Toten, wie die Geister der Ahnen und die Götter beseelen das Reich des Sakralen, zu dem kein Zugang dem Menschen gewährt ist und das zugleich verboten und begehrt, erhaben, verehrungswürdig, „Respekt einflößend“ und verflucht, „Schrecken verbreitend“ ist (Durkheim 1996: 86, Benveniste 1993: 441). Der Abgrund, der die profane, alltägliche Welt vom sakralen Reich der Ahnen und der Götter trennt, öffnet einzig in der Schwellenerfahrung des Rituals einen Zugang zum originär Unzugänglichen15, das sich nur in einer „Beziehung ohne Beziehung“, in einer asymmetrischen Beziehung ohne Erwiderung gibt: man „bittet“ sie, betet sie an, aber man zeugt ihnen Acht und Respekt, „spendet“ ihnen in einer absoluten Selbstlosigkeit „Weihgaben und Opfer“ (Durkheim 1998: 94). Und da „der Tod an dieser Apotheose schuld“ ist, so sind „die ersten Riten Totenriten gewesen“, die ersten Opfer die Gaben, „die ersten Altäre also die Gräber“ (ebd. 82-83). In der schlechthinnigen Abwesenheit des Anderen, in der faktischen Evidenz seiner Unbezüglichkeit lässt sich der Glaube an den guten Glauben des absolut Anderen durch diejenige Verpflichtung ohne Pflicht bezeugen, die bis zum Äußersten die Gabe des Selbst wird. Die (Opfer-)Gaben, begleitet vom kultischen Mahl, erweisen sich nicht nur als ursprüngliche Formen des Totenrituals, sondern des Rituals überhaupt, das schließlich ein Opferritual16 ist, dessen Zeugnisse bis auf die Zeiten des Totemismus 14 Übersetzung leicht verändert, da im Original „un être sacré“ steht. Obwohl Durkheim sacré, saint und divin im Text streng unterscheidet, gibt die deutsche Übersetzung alle drei mit heilig wieder. 15 Die klassische phänomenologische Bestimmung der „Zugänglichkeit des original Unzugänglichen“ ist nach Husserl durch die Appräsentation des Anderen und Fremden gewährleistet (Husserl 1973: 144), über die unsere Betrachtung im Anschluss an Heidegger und Levinas hinauszugehen versucht. 16 Ob der Mythos dem Ritual oder das Ritual dem Mythos vorausgeht wie auch ob das kultische Mahl und die Essgemeinschaft oder das Opferritual ursprünglicher ist, ist eine Frage, die nur rekonstruktiv gestellt werden kann und deshalb bis heute keine eindeutige Antwort in der Ethnologie bekommen hat und auch nicht bekommen kann. Ritual und Mythos, Opferritual und kultisches Mahl tauchen in den Anfängen der Kultur in der Verschränkung von bildlichen Darstellungen, symbolischen Handlungen und performativen Inszenierungen auf. Die „Essgemeinschaft“, der Robertson Smith eine vorrangige Rolle zumisst, ist ohne die Opfergabe und die die Gemeinschaft versöhnende Zeremonie des Opferrituals, dem H. Hubert und M. Mauss, und auch R. Girard eine größere Bedeutung zuerkennen, nicht zu denken. In diesem Sinne ist jede „Abstammungstheorie“, wie LeviStrauss schreibt, „nutzlos“ (Levi-Strauss 1977: 19). Der Ursprung der Kultur erweist sich eher als rhizomartig in den Verflechtungen von Mythos, Opferritual und Essgemeinschaft.
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zurückreichen und heute noch in Ritualen der Gastfreundschaft erhalten geblieben sind, die von einer ursprünglichen Freundschaft oder von einer Ur-Spur der Freundschaft in jeder mitmenschlichen Beziehung zeugen. Das Ritual als elementare Form sozialen Lebens bekundet sich als ein durch Wiederholung bewährter Bezug zur originären Unbezüglichkeit des absolut Anderen – „Raumwerden der Zeit“ und „Zeitwerden des Raumes“ eines Ereignisses des „Mitseins“ vor jeglicher geteilten Gemeinschaft. Ausgehend von den Prämissen, dass das Ritual ausschließlich von der Gemeinschaft für das Fortbestehen der Gemeinschaft erzeugt wird, die Durkheim mit Robertson Smith, M. Mauss und H. Hubert teilt, findet er in seiner strengen Klassifikation – in der Polarität von positiven, verbindenden und negativen, trennenden Riten – für die Todesrituale nicht wirklich eine eindeutige funktionale Position. Die Todesrituale enthalten weder nur positive, noch nur negative Riten und die negativen Riten sind im Unterschied zu den meisten anderen Ritualen nicht von den positiven Riten säuberlich getrennt. Die Todesrituale, die aus Trauerriten, Gebeten und Opfergaben bestehen, scheinen ein absolut heterogenes Phänomen zu sein. Durkheim entscheidet sich dafür, die negativen Riten, die die unüberwindbare Trennung zwischen der alltäglichen, profanen Welt und dem sakralen Reich der toten Seelen, Geister, Ahnen und Götter darstellen, für die Analyse der Trauerzeremonien nicht zu berücksichtigen. Sie brauchen, sagt Durkheim, „uns nicht zu beschäftigen“ (Durkheim 1998: 523). Er richtet seinen Blick vor allem auf die Trauerzeremonien, die das Bedürfnis der Menschen ausdrücken, sich in der Trauer „einander zu nähern und enger miteinander zu kommunizieren“ (ebd. 525), ähnlich wie die anderen positiven Riten, die aber statt sich durch „freudige Tänze, Gesänge, dramatische Vorführungen“ eben durch „Weinen und Klagen“, „Niedergeschlagenheit“ und dramatische Schreie, „die Kollektivregung“, äußern (ebd. 530-531, 535). Und wenn Durkheim die positiven, bindenden Rituale als die allgemeinste Form des Rituals insgesamt annimmt und die negativen Riten durch die positiven zu überlagern sucht, sogar in der Form der Trauerzeremonien, deren Kern die negativen Riten bilden, stößt er dann immer wieder auf ihre „Wirkkräfte“ (ebd. 419), die er erneut zu überspielen versucht. Welche sind diese „Wirkkräfte“, die im Unterschied zu den positiven Riten keine solche einer „Obligation“, einer Pflicht oder Norm sind? Diese „Wirkkräfte“, die wie Durkheim zeigt, vom Kollektiv nicht herkommen und auf das Kollektiv nicht hinführen, sind doch die Bedingung der Möglichkeit für jeden „Zugang zum positiven Kult“ (ebd. 419). Durch die negativen Riten der Rücksichtnahme kommt der Bereich des Unzugänglichen, des Sakralen und Heiligen, zur Geltung, der der Alltagswelt Grenzen setzt, deren Übertretung nicht ohne maßgebliche Folgen bleibt. Die Trauerrituale, die eine solche heterogene Vermischung von positiven und negativen Riten bilden, beginnen mit einer Serie von reinen Enthaltungen. Zuallererst müssen alle „gewöhnlichen Beschäftigungen des täglichen Lebens“ „aufhören“ (ebd. 523). Der Tote als sakrales Wesen spiegelt die absolute Geduld der Zeit wider, einer Zeit außerhalb der Zeit, die nicht in der „Innerzeitlichkeit“ der Welt geschieht, wie Heidegger sagen würde. Die umtriebige Geschäftigkeit der Welt wird unterbrochen und man nimmt sich Zeit, eine Auszeit zum Trauern, was nach Durkheim nur ein Ausdruck „kollektiver“ und „familiärer Regung“ ist und zugleich eine „Haltung“, die „an das Kollektiv bindet“. Das Trauerritual beginnt, schreibt Durkheim, „sehr oft schon in dem Augenblick, in dem der Tod bevorzustehen scheint“ (ebd. 523). Aber die „Trauer ist keine natürliche Bewegung der per-
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sönlichen Sensibilität“ fügt Durkheim nach reiflicher Beweisführung hinzu (ebd. 532). Die positiven Riten der Trauer als verbindend sind „eine Pflicht, die von der Gruppe auferlegt wird. Man klagt nicht, weil man traurig ist, sondern weil man die Pflicht hat, zu klagen. Es handelt sich – fährt Durkheim fort – um eine rituelle Haltung, die man aus Respekt für den Brauch anzunehmen verpflichtet ist, die aber in starkem Maß unabhängig ist vom Gefühlszustand des Individuums“ (ebd.). „Woher kommt diese Verpflichtung?“ – fragt sich Durkheim selbst und kommt zu der Überzeugung, dass „die Gesellschaft auf ihre Mitglieder einen moralischen Druck“ ausübt, „damit diese ihre Gefühle mit der Lage in Einklang bringen (...). Das Individuum seinerseits, das fest in der Gesellschaft verankert ist, an der es teilnimmt, fühlt sich moralisch verpflichtet, an deren Leiden und Freuden teilzuhaben. Sich hierum nicht zu kümmern hieße, dass der Mensch die Bande, die ihn an das Kollektiv bindet, zerreißt. Das hieße, dieses Kollektiv nicht zu wollen und sich damit selbst zu widersprechen“ (ebd. 536). Wiewohl Durkheim seiner Argumentationslogik, die zuletzt in die Zirkularität einer sich selbst stiftenden gesellschaftlichen Totalität hineingerät, entschieden folgt, fallen seine eigenen phänomenologischen Analysen aus diesem theoretischen Zirkel heraus, und so verschiebt sich in ihnen Sakralität zu Heiligkeit, Normativität zu Affektivität, Vertrag und Tausch zu Gabe, Gesellschaft zu Mitsein. Lesen wir uns ein und beobachten wir die einzelnen Sequenzen der ethnographischen Beschreibungen, die Durkheim selbst als Ausgang seiner Analysen nimmt:
Eine Totemzeremonie war gerade gefeiert worden und die Gruppe der Darsteller und der Zuschauer wollte eben den heiligen Ort verlassen, als plötzlich ein Schrei aus dem Lager erklang: ein Mann lag im Sterben. Die ganze Gruppe fing sofort ganz rasch zu laufen an; die meisten begannen im Laufen Schreie auszustoßen. „Zwischen uns und dem Lager gab es einen tiefen Bach, an dessen Ufer verstreut einige Männer saßen, weinend und klagend und den Kopf zwischen den Knien. Nachdem wir den Bach überschritten hatten, fanden wir, nach dem Brauch, das Lager zerstört. Frauen aus allen Richtungen herbeigeeilt, lagen auf dem Körper des Sterbenden, während andere, rundumher stehend oder kniend, sich mit ihren Grabsticheln, mit denen sie gewöhnlich Jamswurzeln ausgruben, in den Scheitel bohrten und sich auf diese Weise Wunden beibrachten, aus denen das Blut in Strömen über die Gesichter lief. Zur gleichen Zeit stießen sie ununterbrochene Klageschreie aus. Dann kamen die Männer hinzu. Sie warfen sich ebenfalls über den Körper, sobald die Frauen sich wieder erhoben. Nach einiger Zeit sah man nur eine Masse von ineinander verschlungenen Leibern (...). Nach ein oder zwei Minuten stürzte ein Mann der gleichen Klasse hinzu, schrie vor Schmerz und schwang ein Steinmesser. Sobald er das Lager erreicht hatte, schnitt er sich tief in die beiden Schenkel, in die Muskeln, so dass er sich nicht aufrecht halten konnte und schließlich inmitten einer Gruppe zu Boden stürzte. Zwei oder drei verwandte Frauen zogen ihn weg und pressten ihre Lippen auf seine klaffenden Wunden, während er bewusstlos auf dem Boden lag... Überall endlich auch die gleiche Raserei mit der Neigung, sich zu schlagen, zu verwunden, zu verbrennen... Die Verwandten des Verstorbenen bringen sich in Rage Wunden bei (...). Der Vater schlägt sich mit einem tomahawk auf den Kopf und stößt bitteres Stöhnen aus. Die Mutter sitzt am Feuer und verbrennt sich mit glühenden Stäben die Brüste und den Bauch (...). Manchmal sind die Verbrennungen so stark, dass der Tod eintritt (ebd. 523-526).
Es offenbart sich ein Leiden bis zum Tode – Ausgesetztheit dem Tod des Anderen, ein Aussich-Heraustreten im Leiden, dem es unmöglich ist auszuweichen oder „eine Art ursprünglicher Trauer“ im Sinne Derridas, die jedem Mitsein vorausgeht und es durchdringt (Derrida 1998: 69; 2007: 160, 184, 200). In dieser unhintergehbaren „Erfahrung des Nichts“ oder des radikalen In-Frage-Stehens bin ich dem Anderen überantwortet wie in einer Selbstverpflich-
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tung ohne Pflicht, die jedes Mitsein in sich trägt und die der Unmöglichkeit wegen, die eigenen endlichen Möglichkeiten zu überschreiten, um dem sterblichen Anderen und sich selbst gerecht zu werden, „in dem Maße“ sich erweitert, „in dem sie übernommen wird“ (Levinas 1987: 360). Die Verinnerlichung dieser Verpflichtung ohne Pflicht ist die Vorwegnahme des Todes des Anderen oder die „ursprüngliche Trauer“, die nicht den Tod bloß folgt, eher „darauf gefaßt“ ist wie ein Rückwärtsschauen in die Zukunft und die, wie Derrida zeigt, „gewisse Affinitäten“ mit Gastlichkeit und Freundschaft aufweist (Derrida 2007: 184). Das Mitsein ist letztlich dieses Ausgesetztsein. Die Gabe der Zeit, die sich in ihrem Geben „zurückhält und entzieht“, da sie im Sinne Heideggers nichts identisch Gegebenes gibt, öffnet das singuläre Dasein in den „Ekstasen der Zeitlichkeit“ einer konstitutiven Alterität und es als „Mitsein für den Anderen“ stets offen hält (Heidegger 1986: 163, 350f., 408)17. Wie in Platons Phaidon die Freunde von Sokrates ihrer Trauer nicht Herr werden können und entgegen der Erwartung und der tiefsten Überzeugung von Sokrates, dass er den Tod überwunden haben wird, alle in Weinen ausbrechen und Apollodor noch stärker „weinend und unwillentlich sich gebärdend... durch sein Weinen alle erschüttert“ (Platon 1978: 66), so drückt sich ebenfalls im Todesritual nicht alleine die Unmöglichkeit des Nichts des Todes des Anderen aus, sondern wie diese Unmöglichkeit der Indifferenz gegenüber dem Tod des Anderen, gegenüber der Verwundbarkeit und der Verletzlichkeit des sterblichen Anderen ein Mitsein stiftet. Der Tod des Anderen ist zugleich Tod des Mitseins als unmögliches Teilen des radikalen In-Frage-Stehens des Da-seins – Einschreibung der Wunde des Verlustes in das eigene Fleisch, als kehre in der Verwundung die Unzugänglichkeit des Anderen in das Selbe zurück, „datiert den Ring und versetzt ihn in Drehung“ (Derrida 1996: 116-117, auch 131). Die Verwundbarkeit und die Verletzlichkeit, in der sich die Finalität zeigt, ist, folgte man Levinas und Derrida, gerade der Überschuss über die Finalität in der Passion der Verpflichtung ohne Pflicht. Und wenn es die Gabe gibt, ist sie nur angesichts des Todes möglich18. Allein der Tod lässt keine Reziprozität zu. Das Widerfahrnis des Todes des Anderen ist stärker als jede Affektivität in der Reaktion auf etwas Erwartetes, stärker als die ansteckenden Kräfte der kollektiven Regungen und Aufwallungen. In der Furcht und Trauer um den Tod des Anderen vergisst man seine eigene Verwundbarkeit und Sterblichkeit, oder wie Levinas sagen würde, man überwindet sie (Levinas, 1987: 131). Während des Trauerrituals fügt man sich selbst Wunden zu, als ob alle diese zugefügten Wunden auf eine wundersame Weise die Wunden des Todes heilen würden. Wie Durkheim, den ethnologischen Beschreibungen folgend, schreibt, sind manchmal diese Wunden so tief, „dass der Tod eintritt“ (Durkheim 1998: 526). „Das Bedürfnis, den Tod durch irgendein Mittel zu rächen“ ist so überwältigend, dass die Clanmitglieder „sich aufeinander stürzen und sich gegenseitig zu verletzen suchen“ (ebd. 527). Und gleich danach fügt Durkheim einen bemerkenswerten Passus hinzu, dass manchmal dieser „Angriff echt“ ist, aber „manchmal ist er nur gespielt“ (ebd.). Er betont sogar, dass „diese sonderbaren Kämpfe richtiggehend organisiert sind“ (ebd. 528) und eine strenge hierarchische Folge der Durchführung haben.
17 „Zeitlichkeit ist das ursprüngliche >>Außer-sich<< an und für sich selbst.“ (Hervorh. v. Heidegger 1986: 329). Siehe auch Heidegger 1969: 8ff.; 1978: 321ff. Zum Verständnis von Zeit, Differenz und Alterität siehe Tasheva 2001: 149ff. 18 Siehe das profunde Essay von J. Derrida, Den Tod geben (Derrida 1994a).
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Bei den Kaitisch gehört das Haar des Toten von Rechts wegen dem Schwiegersohn. Der muß, begleitet von einer Gruppe von Verwandten, einen seiner Stammesbrüder herausfordern, d.h. einen Mann, der derselben Heiratsklasse angehört wie er und der deshalb die Tochter des Toten hätte heiraten können. Die Herausforderung kann nicht zurückgewiesen werden. Die beiden Kämpfenden bringen sich schwere Wunden an den Schulter und an den Schenkeln bei. Ist der Kampf beendet, übergibt der Herausforderer seinem Gegner die Haare, die er vorübergehend geerbt hatte. Nun geht wiederum der letztere hin und fordert seinerseits einen anderen seiner Stammesbrüder heraus, dem dann die kostbare Reliquie, wenn auch immer nur vorübergehend übergeben wird. So geht sie von Hand zu Hand und zirkuliert von Gruppe zu Gruppe. Bei dieser Raserei, mit der sich jeder schlägt, verbrennt oder Wunden zufügt, kommen im übrigen bereits ähnliche solcher Gefühle auf: ein Schmerz, der ein solches Ausmaß erreicht, ist notwendigerweise von Wut begleitet. Man braucht von den Ähnlichkeiten nicht überrascht zu sein, die diese Praktiken mit der Vendetta haben. Beide beruhen darauf, dass der Tod Blutvergießen erfordert. Der einzige Unterschied liegt darin, daß in dem einen Fall die Opfer Verwandte sind, und im anderen Fall Fremde (ebd.).
An dieser Stelle erreichen wir eine ziemlich hermetische, wohl aber sehr interessante Stelle von Durkheims Beobachtungen und Analysen des Todesrituals, die Durkheim einfach zitiert und fast ohne Kommentar lässt – „Blutvergießen“, „starke Verbrennungen“ bis zum in „Ohnmacht fallen“ durch „die selbst zugefügten Wunden“ ist oft nur ein „Spiel“ und durchorganisierter „Wettkampf“. Wenn wir geradezu annehmen, dass das rituelle Spiel nicht weniger realer Ausdruck und wirkliche Darstellung echter Gefühle und Erlebnisse ist, stellt sich doch die Frage, wie aus dem zum Ritual gewordenen Gebet für den Anderen ein rituelles Wettkampfspiel entsteht. Durkheims zirkuläre Erklärung durch die Voraussetzung der „moralischen Autorität der Gemeinschaft“, die wir kennen, wiederholt nur bekräftigend dieselbe Frage: Wie entwickelt sich aus dem Opferritual als Ausdruck der absoluten Treue zum Anderen eine Moralität, die die hierarchisch organisierten gesellschaftlichen Spiele der Zugehörigkeit und Anerkennung zu steuern vermag? Wir sollten doch, bevor wir zu den rivalisierenden Anerkennungskämpfen als Urszene der Gemeinschaft übergehen, einen Schritt zurück gehen, um uns das Opferritual und die Ambivalenzen des Sakralen näher anzusehen, deren phänomenologische und ethnologische Struktur keiner wie Bataille durchdrungen hat, obwohl auch er letztlich der Herrschaftslogik der glorreichen Souveränität zum Opfer gefallen ist. Das Opfer, so die These von Bataille, ist „der verfemte Teil“ des Lebens, das von der ganzen Bewegung des Todes zeugt – Tod um des Lebens willen, Tod als absolute Bejahung der Existenz (Bataille 2001: 33-234, insb. 64ff., 90ff.). Diese heterogene Duplizität des Verfemten ist dem Opfer eigen. Aus selbstloser Gabe ohne Reziprozität verwandelt sich das Opfer durch eine „Ökonomie des Todes“ in ein Tauschobjekt. Die Toten sind wie alle sakralen Wesen – Götter, Ahnen und Geister – erhaben und verflucht, verehrungswürdig und Angst verbreitend, eine Allmacht, deren Gunst unendlich begehrt und durch Verbote, Enthaltungen und Reinigungszeremonien von den Lebenden unendlich getrennt ist. Mit ihnen in Berührung zu treten heißt, sich selbst oder andere zu opfern. „Sacrificare“ heißt „töten“, opfern und im selben Akt weihen, sakral machen (Hubert/Mauss 1968: 213ff.; Benveniste 1993: 441). Die „Tötung“ und das „Blutvergießen“ im Opferritual ist zugleich Trennung – Ausschließung aus der Welt der Lebenden und Einbindung in die Welt des Sakralen. Die Darbietung der Opfergabe wird begleitet von der Bitte und der Erwartung um eine Gegenleistung – Gewährung von Sicherheit und Schutz gegen Todesgefahren und vor Schicksalsschlägen oder um Gelingen, Glück und Prosperität. Auch Sokrates, der die eigenen Grenzen ausschließlich
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aus sich heraus zu setzen und durch sein Wissen über den Tod gebieten zu können glaubte, verwickelt sich in dieselbe Ökonomie des Todes, um die Gunst der Götter für sich zu erbitten: „Beten aber darf man doch zu den Göttern und muß es, daß die Wanderung von hier dorthin glücklich sein möge, worum denn auch ich hier bete, und so möge es geschehen“ (Platon 1978: 117c). Die Opfergabe und die Zuwendung zum absolut Anderen verwandeln sich in der Welt durch die sie bestimmende Ökonomie des Todes in Gabenkalkül und Tausch. Inmitten der Gemeinschaft, an öffentlichen Schauplätzen der gesellschaftlichen Geschehnisse erfährt der Gabentausch noch eine rivalisierende Form von Tauschkämpfen. Und es geschieht gerade da und in desto größerem Ausmaß, desto mehr der Gabentausch seine ökonomische Bedeutung für die Bedürfnisbefriedigung verliert und durch ein Begehren nach dem Begehren des Anderen, durch ein Begehren nach Anerkennung, überlagert wird. Die Ökonomie des Todes ist letztlich eine politische Ökonomie des Todes. Für die Gemeinschaft gibt es kein Leben, das nicht von diesem verfemten Ort des Liminalen seine Ursprünge nähme. Die Gemeinschaft entsteht aus dieser natürlichen Fragilität, derentwegen Opfergaben gefordert sind, um eigentliche Opfer auszuschließen – eine gute Gewalt der bösen Gewalt entgegenzusetzen. Das einfache Gesetz der Zirkulation und Anhäufung von Reichtümern, in noch viel stärkerer Weise von „symbolischem Kapital“ – wenn es hier erlaubt ist diesen Ausdruck Bourdieus zu entlehnen –, ist die Herausforderung und die Überbietung des Anderen im bejahenden Spiel des Lebens. Das Gesetz des Anderen, das diesen Ort der Liminalität bestimmt, ist ein geteiltes Gesetz: Indem die Bejahung vom Anderen kommt, schließt sie einen Anderen aus, gleichwohl die Ausschließung das Begehren nach Bejahung nur noch mehr und bis zum Äußersten den Tod herauszufordern antreibt. Nachdem das Opfer erwählt und geweiht ist, tritt es in die Intimität des Sakralen ein und es wird ihm göttliche Ehre zuteil. In der unterschiedslosen Intimität der Opfergabe identifizieren sich die Mitglieder der Gemeinschaft mit dem sakralen Wesen und wetteifern im rituellen Spiel jeden Rivalen zu übertreffen, um Ruhm, Prestige und Rang innerhalb der Gemeinschaft zu erlangen. „Der Ruhm“, der schlechthin „unproduktive Wert“, wie ihn Bataille nennt, erweist sich begehrter als das Leben selbst. Bataille zieht lange Passagen aus Frazers ethnologischen Studien „Der goldene Zweig“ heran, um zu zeigen, dass Anerkennung, Prestige, Autorität „höher steht als das Leben“ (Bataille 2001: 331, Anm.31). Die Wettkampfspiele als Teil jedes Rituals sind gut bekannt seit dem berühmten „Essai sur le don“ von Marcel Mauss, das der Ausgangspunkt nicht nur für die Arbeiten von Durkheim, sondern auch für die Abhandlungen von Lévi-Strauss über das Inzestverbot und für Batailles Traktate zu einer allgemeinen Ökonomie bildet. Der Potlatsch als Gabentausch oder eine Serie von gegebenen und wiedergegebenen Potlatschs besteht in der spielerischen und feierlichen Herausforderung des Rivalen inmitten der Gemeinschaft durch Überbietung mit Gaben, durch die man ihn zur Erwiderung verpflichtet und ihn solange zum Schuldner macht, bis er nicht in der Lage ist, die Überbietung zu übertreffen. Es handelt sich nicht darum, sich zu bereichern, sondern durch unüberbietbare Freigebigkeit seinen Rivalen „zu demütigen und erdrücken, da er sich außerstande sieht, Geschenke von unschätzbarem Wert zu erwidern“ und sich geschlagen gibt, so dass man sein Prestige, Aufsehen und Autorität sich aneignen kann, die einem mit übermächtigen Kräften sakralen Wesen eigen sind, das mana bei den Melanesiern, wakan bei den Sioux und orenda bei den Irokesen heißt (Durkheim 1998: 267ff.; Bataille 2001: 310ff.).
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„Noch im 19. Jahrhundert kam es vor, dass ein Tlingithäuptling sich irgendeinem Rivalen zeigte und vor seinen Augen einige Sklaven niedermetzelte. Zur gegebenen Zeit revanchierte sich dieser für eine solche Vernichtung mit der Tötung einer noch größeren Anzahl von Sklaven“ (Bataille 2001: 98). Die rivalisierenden Tauschkämpfe, von denen Bataille erzählt, dienen der Festlegung und Setzung der hierarchischen Rangfolge der Clanführer. „Das Eigenste im Dienste des Eigensten“ in den rivalisierenden Kämpfen um Identifikation und Setzung der Autorität zu opfern, ist die Urszene der Gemeinschaft, die immer mit einem „Zugehörigkeitsschmerz“ verbunden ist, den Derrida metonymisch „Beschneidung“ nennt (Derrida 2001: 86; 1994b)19. Das Opfer ist der Gewalt überantwortet, die die Gemeinschaft zu zerstören bedroht20. Und es „muß nach dem Tode jeder bedeutenden Persönlichkeit irgend jemand getötet werden“ (Hervorh. v. Levy-Bruhl 1966: 236). Indem die Gabe inmitten der Gemeinschaft gegeben wird, gerät sie in die reziproken Bahnen des Tausches und der Ökonomie materieller, symbolischer und sozialer Werte. Selbst wenn der Gebende aus Ehrfurcht und Achtung vor der Macht des Sakralen eine maßlose Hingabe vorspielt, ist es nur die aggressive Verausgabung, die zählt, denn er wird den Sieg davon tragen und als Sieger anerkannt. Das Begehren zu geben und das Begehren nach dem Begehren des Anderen oder das Begehren nach Anerkennung wären demnach dasselbe. Durkheim hat gesehen, dass der Ort der Symbolbildung der Ort der Liminalität ist. Indem er aber das Sakrale und das Heilige mit dem Symbolischen gleichgesetzt und es als Stifter der Identität (der Gemeinschaft) einfach vorausgesetzt und postuliert hat, ließ er die Genesis dieses eigentümlichen Ortes der Spaltung außer Acht. Wäre das Sakrale und Heilige als ausschließlich kollektive Vorstellung dem Symbolischen gleich, dann wären das Reale und das Imaginäre nur bloße Wirkungen des Symbolischen. Die Liminalität als ein Nicht-Ort – differance – wo die Differenzen entspringen, vervielfältigt die Ursprünge durch die Spaltungen und Kontaminationen von Gabe und Tausch, Ökonomie und Anökonomie, Drama und Spiel, Opfer und Zeremoniell, Mitsein, Gemeinschaft und Gesellschaft.
4. Werk – Anerkennung – Theatralisierung Dass das Ritual nicht lediglich eine symbolische Handlung – normierte und normierende Konvention – bedeutet, ist bereits seit Van Genneps Les rites de passage bekannt21. Das Ritual als Zugang zum originär Unzugänglichen ist ein „Übergangsphänomen“, dem selbst eine Erfahrung des Liminalen anhaftet. Das Ritual erwächst aus der Grundlosigkeit menschlicher Existenz und bahnt sich genau an der Schwelle der Umkehrung vom Tod ins Leben an, wo 19 Siehe noch zur Dekonstruktion der Maussschen Theorie der Gabe J. Derrida 1993: 37ff. 20 Zum Thema des „versöhnenden Opfers“ siehe die Studien von Girard 1998, auch 2006. 21 1909 erscheinen Les rites de passage von Arnold van Gennep, drei Jahre vor Durkheims Les formes élémentaires, in denen Durkheim vor allem die Linie von E. Tylor, W. R. Smith und J. Frazer über das Ritual als eine ausschließliche Regelstruktur vertritt und die große Entdeckung von Van Gennep über das Ritual als „Übergangsphänomen“ nicht zur Kenntnis nimmt, die schließlich die nachfolgenden ethnologischen und kulturanthropologischen Arbeiten von B. Malinowski bis V. Turner maßgeblich bestimmt.
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die Zerstörung in eine Bejahung der Existenz gewendet wird, der Verlust von Sinn in eine neue Sinnbildung umschlägt und die entschwundene Welt eine Transformation und Entstehung neuer Lebensarrangements, Existenzweisen und zeremonieller Ordnungen hervorruft. Dem Ritual sind geradezu bewusste rituelle Brüche oder eine „rituelle Unordnung“ eigen, die die Auflösung der normativen Struktur bewirkt und eine Spontaneität der Mußehandlungen im gegenseitigen Erleben – eine „Anti-Stuktur“ oder „Communitas“, wie der Ethnologe Viktor Turner sie nennt, ermöglicht und damit eine Stärkung der natürlichen Bindung der Gemeinschaft (Turner 2005: 128-158). Mit der Steigerung der Individualisierung und der Subjektivierung in der Moderne sondern sich immer mehr die im Ritual ursprünglich verwobenen strukturalen Elemente Arbeit, Spiel und Muße ab22; Faktizität und Normativität, Freiheit und Pflicht klaffen immer mehr auseinander. Das individualisierende freie Spiel ist zwecklos. Es dient dem Leben selbst, der Bejahung der Existenz als Lebenskunst. Die Austragung der identifizierenden Rivalitäten verlagert sich immer mehr auf den öffentlichen Schauplatz – auf das Theatron,wo durch Darstellung von Ereignissen und die damit ausgelöste Anteilnahme eine Reinigung der konfliktbeladenen Leidenschaften, ein Befrieden und die Bewältigung des sozialen Dramas bewirkt wird. Das Theater ist die erste öffentlich organisierte kulturelle Darstellungsform, in der der Einzelne sich nicht mehr verschmolzen mit der unterschiedslosen orgiastischen Intimität der Gemeinschaft erlebt, sondern als Darsteller und Zuschauer seine Singularität in der Distanz zum Anderen und zu jedem Anderen, einschließlich zum eigenen Selbst in einer Vielfalt von Spiegelbildern, erfährt. In einer ursprünglichen und für das Selbst konstitutiven Spaltung zwischen Imaginärem, Symbolischem und Realem spielen sich wechselseitige Bezüge ab zwischen der Dramatik des Erlebten und den kulturellen Darstellungsformen des Erlebens. Mit dem Theater als Mimesis und Leben-und-Sterben-Lernen durch Einfühlung entfaltet sich das Leben immer mehr als eine „Nachahmung der Kunst“23. Selbst das Theater der Avantgarde als eine „totale Repräsentation“ (Artaud) oder wie wir sagen würden, eine fundamentale Repräsentation, ist „keine Repräsentation“ mehr, sondern „das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist“ (Hervorh. v. Derrida 1976: 353). Gewinner und Verlierer sozialer Dramen bringen ihre eigenen „symbolischen Typen hervor“: Märtyrer, Helden, Verräter, Abtrünnige, Schurken, Betrüger, Sündenböcke24. In der Gesellschaft zeigt sich der Andere nie „von Angesicht“, „seine Stimme, seine Gesten (...) sind (...) eine Art In-Szene-Setzen, ein Zeremoniell. Der Leib des Anderen steht vor mir – aber was ihn betrifft, so führt er ein einzigartiges Dasein: zwischen mir, der denkt, und jenem Leib oder eher neben mir, an meiner Seite taucht er auf wie eine Verdopplung meiner selbst, ein umherirrender Doppelgänger, als dass er in ihr erschiene (...).Der Andere bewegt sich in meinen Augen also immer am Rande dessen, was ich sehe und höre, er ist auf meiner Seite, er steht neben oder hinter mir, aber er ist nicht an dem Ort, den mein Blick zermalmt und alles Innere entleert“ (Hervorh. v. Merleau-Ponty 1984: 149)25. Mit diesen Worten aus 22 Zu der Ausdifferenzierung von Arbeit und Spiel aus dem Ritual siehe Turner 1995: 47-67. 23 Die wechselseitigen Beziehungen und Einflüsse zwischen sozialen Dramen und kulturellen Darstellungsformen hat V. Turner aus kulturhistorischer und ethnographisch-soziologischer Sicht untersucht (Turner 1995: 114ff.). 24 Über soziale Inkonsistenzen und „symbolische Typen“ siehe Grathoff (1970: 117ff.) und an ihn anknüpfend V. Turner (1995: 118). 25 Übersetzung an bestimmten Stellen geändert
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„Die Prosa der Welt“ beendet Goffman die letzte sechste Schlussfolgerung seiner RahmenAnalysen mit der Bemerkung, dass diese selben Aussagen über den Anderen genauso bei der Analyse des „Ich“ anzuwenden seien (Goffman 1980: 619-620). Für Goffman ist der Andere vor allem ein anderes Ich, eine austauschbare Position, ein „Index“26 in der gesellschaftlichen Interaktion. Merleau-Ponty würde Goffman insoweit zustimmen, dass es für das Ich keine Anderen gäbe, „hätte ich nicht einen Leib und hätten sie nicht einen Leib, durch den sie in mein Gesichtsfeld gleiten, es von innen vervielfältigen und mir als Beute für dieselbe Welt und als Zugriff auf dieselbe Welt erscheinen können wie ich selbst“ (ebd.152-153). Ich und der Andere sind in ihrem gesellschaftlichen Zeremoniell „wie zwei fast konzentrische Kreise“ (Hervorh. v. Merleau-Ponty 1984: 150), die ihre Positionen von Darsteller und Zuschauer stets vertauschen und umkehren, so dass jeder von ihnen einen zweiten „Betrachter“ in sich tragen kann, wenn er seine „eigenen Paradoxien in Betracht“ zieht (ebd. 151). Die Gesellschaft lebt aus diesem Spiel gegenseitiger Spontaneität, deren Erfahrung jeden Einzelnen dazu befähigt, „eine andere Erfahrung dieser Art anzuerkennen und ein anderes Ich-selbst wahrzunehmen (ebd. 152). Wiewohl der Andere innerhalb der gesellschaftlichen Totalität mir nur als Spiegelung meiner selbst, als ein Bild für mich wie in einer Szene erscheinen kann, ist er jedoch keine bloße Spiegelung meiner selbst. Sogar mein eigenes Selbstbild als appräsentiertes trägt in sich ein anderes Ich, das ich nicht selbst bin27. Und die Ambiguität der Koexistenz enthüllt sich in dem Moment, wenn der Andere sich meiner Welt bemächtigt und meine Existenz in Frage stellt. Die irreduzible Andersheit ist der Fluchtpunkt, wo sich das Reale, das Imaginäre und das Symbolische kreuzen und die Ordnungen der Jemeinigkeit, des Mitseins und des gesellschaftlichen Seins durchqueren. Das Dasein ist das schlichtweg Undarstellbare, da es nicht in der Zeit geschieht, sondern selbst die Zeit ist. Das Dasein entzieht sich jeglicher Symbolisierung und gerade als ein dem Anderen Ausgesetztsein drängt das Dasein in seiner Exponiertheit und mit seiner ganzen Anwesenheit zur Darstellung. Es ist eine doppelte Geste oder doppelte Haltung der Trennung, der Separation, der Distanz zu sich selbst, durch die das Selbst sich in der Welt zu behaupten sucht und zugleich ist sie eine Eröffnung der Beziehung zum Anderen. In diesem doppelten Sinne kann man Max Webers berühmte Handlungsdefinition verallgemeinern: Jede soziale Handlung ist auf den intentionalen Sinn der Handlung Anderer bezogen. Während in der archaischen Gesellschaft das Ritual mit Arbeit und die vollbrachte Opfergabe mit dem Werk eins ist, trennt sich das dargebotene Werk in der arbeitsteiligen Gesellschaft von seinem Schöpfer.28 Reißt mich der Appell, die Bitte, der Ruf des Anderen aus der Gesellschaft und meiner Welt heraus, als ob mich in seinen Augen Gott ansieht, so setzen mich meine Taten innerhalb der Gesellschaft dem fremden Willen des Anderen aus. Mein eigenes Werk liefert mich dem „guten Willen“ eines jeden Anderen aus. Der leibliche Wille, der Wollen und Begehren zugleich bedeutet – ein Begehren des Anderen und Begehren des Begehrens des Anderen – ist Quelle der Empfindung und der Sensibilität gegenüber dem
26 „Die Person ist ein Index“, so Goffman in einem Gespräch mit Richard Grathoff bei seinem Besuch in Bielefeld, wie mir R. Grathoff berichtete. 27 Zur Intentionalität der leiblichen Erfahrung als Appräsentation siehe Husserl (1973: 125, ferner 145f.). 28 Diese semantische Nähe zeigt sich am stärksten im Vedischen, dem Vorgänger des Sanskrits, in dem „Werk“ „Opfergabe“ heißt (Turner 1995: 45).
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Anderen und gleichzeitig geht das Ich damit in die Berechnungen des Anderen ein. In der Interaktion zwischen Willenssubjekten, in der sich jedes als ein „Für-sich“ behauptet, lebt der Willen zwischen Treue und Verrat zu sich selbst29. Der Selbstbezug ist schon ein Fremdbezug und das Sich-Erkennen von einem „konstitutiven Verkennen“ begleitet, da das Begehren seine Wahrheit nie offen preisgibt, wie die Analysen von Lacan zeigen. Im Universum des Diskurses einen „Sinn zu zeugen“ und von sich Rechenschaft abzulegen, heißt dann die Sprache und die Repräsentation zu verdoppeln, „sich der Gefahr auszusetzen“ zu „Listen, Kunstgriffen und Simulacra“ zu greifen“ (Derrida 1976: 398-399), um das Nicht-Repräsentierbare im symbolischen Tausch präsentierbar, sich selbst erkennbar und anerkennungswürdig auf dem Wege der eigenen Selbstfindung zu machen. Diese Verdopplungen der Repräsentation sind eigentlich Iterationen derselben Repräsentation – Einschreibungen und Eintragungen – des Nicht-Darstellbaren durch die ganze Leiblichkeit der Sprache hindurch in darstellende Repräsentationen; keine Konstruktionen oder Kontexturen, sondern eine Art Selbstfindung und -erfindung in den eigenen Selbstdarstellungen durch die Findung und Erfindung des Anderen30. Das Imaginäre durchquert das Symbolische und beseelt die Sprache mit unbewussten Verschiebungen, Verdichtungen und metonymischen Substitutionen wie auch die Selbstdarstellungen mit einer Theatralität, die aus einer unbewussten Ökonomie des Lebens, die immer „Ökonomie des Todes“ ist, geradezu als Bejahung der Existenz entspringt. Die Fähigkeit, so zu erscheinen, dass man souverän selbst zu sein vom Anderen „gelassen werden kann“ und „ein akzeptables Image des eigenen Selbst“, das Anerkennung bekommt, aufrecht zu erhalten bestrebt ist, ist „tief im Menschen verwurzelt“, wie Goffman immer wieder bemüht ist zu zeigen (Goffman 1982: 367f.). Diese Fähigkeit, die wir unbewusste Theatralität nennen können, entfaltet sich augenblicklich, wenn sich Interaktionsmuster als unhaltbar erweisen oder als unhaltbar aufgeführt werden. Meistens durch Übertragung zitierbarer Darstellungen wird eine Umkehrung der Erwartungen und damit eine entgegengesetzte Wirkung erzeugt. Da diese unbewusste Theatralisierung einem Ort entstammt, der vom Anderen her seine Bedeutung erfährt, ist sie durch eine besondere Zeitform vergangener Zukunft geprägt. Deshalb sind unbewusste Theatralisierungen an sich zeichenlos und dennoch verweisend. Der eigentliche Signifikant der Handlung ist nicht beobachtbar, jedoch nicht unsichtbar und kommt in der Aufspaltung des Imaginären durch das Symbolische zum Vorschein. Die Erscheinungsformen unbewusster Theatralisierungen überraschen uns selbst, so dass, wie wiederum die Analysen Goffmans zeigen, was oft „wie eine Gefahr für unsere Welt-Sinngebung aussieht“, „sich als äußerst geschickt gewählte Verteidigung derselben“ entpuppt (Goffman 1980: 24f.; 1986: 52ff.). Zwischen den Heimsuchungen des Anderen, dem Anerkennungsdrang der Gemeinschaft und den offiziellen Bedeutungs- und Interakti-
29 Diese Bestimmung des eigenen Könnens und des Werkes einer anderen Sinngebung und anderem Verstehen überantwortet zu sein, macht sein Wesen und die Dialektik der Anerkennung aus, deren Ursprünge sich im Begehren des Anderen verlieren. Da wir hier nicht weiter darauf eingehen können, begnügen wir uns damit, auf einige ihrer wichtigen Denkentwicklungen zu verweisen: Hegels Phänomenologie des Geistes (Hegel 1952: 141-157), Lacans Subversion des Subjekts (Lacan 1975: 165-204) und Levinas Phänomenologie der Affektivität (Levinas 1987: 150-168, 313-365). 30 Sich mit den Augen des/der Anderen zu betrachten, wäre ein soziologischer Kurzschluss, wenn nicht bedacht wird, dass ich mich nur über das Bild des Anderen von mir, das ich durch dessen Betrachtung aus meinem privilegierten Selbstbild heraus gewinne, mich vermittels eben dieses doppelten Imago betrachte.
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onssystemen, fungieren solche unbewussten Theatralisierungen durch ihre ganze performative Kraft selbstregulierend, um konfliktgeladene Situationen von Spannungen zu entlasten, neue Verhaltensarrangements zu kreieren und möglichst Versöhnung anzubahnen, auch dann, wenn ihre Strebungen zum Scheitern verurteilt sind. Die Wiederholung dieses ergreifenden Spiels führt zur Bildung von Habitualisierungen31, aus deren Arsenal sich Theatralisierungen als strategische Handlungen speisen und sich bis zur Unkenntlichkeit von ihrem Ursprung verselbständigen, zur Pose und Karikatur werden können. Um diesen Preis befreit sich das Symbolische vom Register des Imaginären und Realen im Ringen um Anerkennung, Prestige und Aufmerksamkeit. Eine gewisse Möglichkeit des Verrats muss über die Passion der Verantwortung wachen.
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31 Siehe zum Prozess der Habitualisierung in den Rahmen der Interaktion Willems (1997, auch 2007: 53-71).
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3. Spezielle (Gruppen-)Kulturen
Das Turmspringen der Sa in Vanuatu: Ritual, Spiel oder Spektakel? Eine dramatologische Perspektive Thorolf Lipp
1. Einleitung Dieser Beitrag rückt ein bemerkenswertes „soziales Drama“1 ins Blickfeld: das Turmspringen auf der Insel Pentecost im melanesischen Vanuatu-Archipel. Im Südosten dieser Pazifikinsel leben die Sa, eine kleine „urproduktive“ Gesellschaft von ca. 3500 Menschen.2 Etwa ein Drittel der Sa-Dörfer bekennt sich zu „kastom“ (von engl. „custom“). Hier hat man sich – ganz bewusst – dazu entschieden, auch weiterhin nach den Regeln der Vorfahren zu leben, und lehnt Kirchen, Schulen, westliche Kleidung und Technologie ab (vgl. Lipp 2007). Stattdessen haben die kastom Sa die Eckpfeiler ihrer eigenen Kultur – Polygynie, Brautpreis, Schwesterntausch und Kreuzcousinenheirat, Beschneidungs-, Initiations- und Fruchtbarkeitsrituale – bewahrt. Auch das Turmspringen, das die Sa selbst gol (Spiel) nennen, zählt zu den bewahrten Traditionen. Zwischen März und Juni, allerdings nicht notwendig jedes Jahr, baut ein Teil der männlichen Bevölkerung einen bis zu dreißig Meter hohen Turm aus Holz. Wenn der Turm fertig ist, wird an einem vorher festgelegten Tag ein großes Fest gefeiert, in dessen Mittelpunkt das Turmspringen steht: zwischen zehn und fünfzig Jungen, Burschen und Männer springen kopfüber von verschiedenen Höhen des Turmes herunter. Dabei werden sie lediglich von zwei um die Fußknöchel gebundenen Lianen vor dem Aufschlagen auf dem Erdboden bewahrt. Die Lianen müssen exakt die richtige Länge besitzen, damit die 1 Ich vertrete hier eine dramatologische Kulturtheorie. Dabei sehe ich mich – anders als z.B. den Soziologen E. Goffman, der (primär an Selbstdarstellung, Rollenspiel und sozialen Individualisierungsprozessen interessiert) einen „dramaturgischen“ Ansatz vertritt – in einer Theorielinie mit Kulturanthropologen wie Victor Turner oder Clifford Geertz stehen, die den Blick auf die Phänomene symbol- und kulturwissenschaftlich neu formiert und interdisziplinär erheblich erweitert haben. Ein dramatologischer Blick auf Kultur erschließt zweifelsohne anthropologische Dimensionen und der Blick über die Grenzen der Fächer hinweg, zur Philosophie oder Soziologie, liegt schon deshalb nahe. Wenn ich mit der vorliegenden Untersuchung am Werk besonders auch meines Vaters, Wolfgang Lipp (s.v.a. dens. 1985; 1994), anknüpfe, darf dies kaum verwundern. Wolfgang Lipp hat an Fragen, wie sie inzwischen auch mich beschäftigen, bald mehr als 40 Jahre schon vor- und vorausgearbeitet, und ich beehre und freue mich sehr, ihm meine Studie heute widmen zu können. 2 Zur „urproduktiven Gesellschaft“ vgl. Bargatzky 1997; 2006.
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Springenden nicht zu Schaden kommen. Nach dem Sprung werden sie von ausgewählten Männern in Empfang genommen und von ihren Lianen losgeschnitten. Je nachdem wie elegant ihr Sprung ausgefallen ist, bzw. von welcher Höhe sie gesprungen sind, werden sie von Männern, Frauen und Kindern, die aus verschiedenen Dörfern der ganzen Region zum Zuschauen gekommen sind, mehr oder weniger stark bejubelt. Der letzte Springer hat sich die höchste Plattform reserviert, sein Sprung markiert den Höhepunkt der Veranstaltung. Ihm gilt die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden und sein Sprung wird, wenn er erfolgreich geglückt ist, minutenlang stürmisch gefeiert. Mitunter gibt es bei ungeschickten Springern und zu schwach dimensionierten Sprungbrettern oder Lianen auch Verletzungen, die sogar tödlich sein können. In den Wochen nach dem Turmspringen wird das hölzerne Bauwerk dann Stück für Stück abgetragen. Betrachtet man den Mut, dessen es zweifellos bedarf, um kopfüber von einem viele Meter hohen Turm zu springen, wird man wohl sagen dürfen, dass es sich dabei um eine ziemlich schwierige „Prüfung“ handelt. Der Gedanke liegt also nahe, und ist auch schon oft formuliert worden, es handle sich beim Turmspringen um eine Art Initiationsritual (vgl. Johnson & Johnson 1955; Garve 1997; Segur 2004). Meine eigenen Forschungen, die ich zwischen den Jahren 1997 und 2004 bei den Sa durchführte, haben jedoch ergeben, dass diese Vermutung nicht zutrifft, ja dass es sogar fragwürdig erscheint, das Turmspringen überhaupt als „Ritual“ zu bezeichnen (vgl. Lipp 2007). Da diese Einschätzung auf den ersten Blick verwundert, will ich hier am Fallbeispiel „Turmspringen“ genauer erörtern, um welche „Art“ des „sozialen Dramas“ es sich dabei eigentlich handelt. Wo verläuft die Grenze zwischen Formen kulturellen HanAbb. 1: Turmspringen im Dorf Bunlap.Vanuatu, delns, die man als Ritual begreifen kann und April 2002. (Photo: Martina Kleinert) solchen, die man als eine irgendwie anders gelagerte Form der „Flussunterbrechung“ (vgl. Csikszentmihalyi 1974) zu verstehen hat, also etwa als „Spiel“ oder „Spektakel“. Dazu ist es notwendig, sich zuerst einen allgemeinen Überblick über die relevanten Begriffe zu verschaffen. Als Matrix dient mir dabei vor allem die von Victor Turner vorgeschlagene liminal – liminoid Dichotomie, die hier kritisch überprüft und hinterfragt wird (Turner 1982; 1989). Anschließend werfe ich einen genaueren Blick auf das Ensemble an Initiationsritualen der Sa, um festzustellen, dass sich diese kategorial vom Turmspringen unterscheiden. Schließlich plädiere ich abschließend für ein Verständnis des Turmspringens als „riskantes Spektakel“.
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2. Grundlegendes zur Ritualtheorie Der vorliegende Sammelband betrachtet Theatralisierungs- bzw. Enttheatralisierungstendenzen der Gegenwartsgesellschaft und soll hier um eine ethnologische Perspektive bereichert werden. Ethnologie, so wie ich sie verstehe, ist „Fremdheitswissenschaft“ (vgl. Bargatzky 1997), fragt also nach kulturell geprägten Unterschieden menschlichen Handelns. Und doch ist der Blick auf „die Fremden“, hier konkret auf das Turmspringen der Sa, stets auch ein Blick auf uns selbst, denn gerade wenn man Kultur aus einer dramatologischen Perspektive betrachtet, stößt man auf anthropologische Universalien: soziale Dramen, das darf als basaler Befund der vergleichenden „Symbologie“3 gelten, finden sich als „Flussunterbrechungen“ in allen Gesellschaften und scheinen sich überdies immer an strukturell ähnlichen Situationen zu entzünden. Man bedarf ihrer, sehr allgemein gesprochen, um Brüche und Krisen überhaupt zu thematisieren, zu kanalisieren, um Schuld abzubauen und Sinn zu generieren (vgl. W. Lipp 1994: 207-235). Das „Ritual“ stellt dabei die wohl radikalste und funktional wirkungsvollste „Flussunterbrechung“ dar, weshalb ihm hier auch besonderes Augenmerk geschenkt werden soll. Wenn der Ethnologe Roy Rappaport sagt: „I take ritual to be the basic social act“ (1979:174) wird deutlich, dass die Ritualtheorie ein „weites Feld“ ist. Einigkeit besteht unter Ritualtheoretikern heute bestenfalls noch darüber, dass Gesellschaft ohne Ritual nicht denkbar ist, dass es überall rituelle Formalisierungen von Zeit und Raum, rituelle Werkzeuge, Ritualsprachen und Ritualspezialisten gibt. Eine Mehrheit der Mitglieder einer Gesellschaft muss die wichtigsten rituellen Idiome beherrschen, damit Kollektivrituale überhaupt funktionieren können: der Einzelne kann davon ausgehen, dass sein alter ego im Vollzug des Rituals genauso handelt wie er selbst (vgl. Goffman 1969), der rituellen Performanz muss also eine Pre-formance zugrunde liegen, damit Ordnung überhaupt entstehen kann.4 Weitgehende Zustimmung dürfte ebenfalls noch bestehen, wenn man, etwa mit HansGeorg Soeffner, zum Schluss kommt, dass das Entscheidende beim Ritual letzten Endes sei, ob es wirkt oder nicht.5 Rituale „funktionieren“ demnach dann, wenn sie auf das Verständnis der betroffenen Akteure und Zuschauer stoßen, wenn diese darauf „reagieren“. Spätestens hier beginnen die Kontroversen. So hat die Frage nach der Entstehung von Ritualen die ethnologische, soziologische und religionswissenschaftliche Forschung von Anfang an vor grundsätzliche erkenntnistheoretische Probleme gestellt, eine „Lösung“ ist keineswegs in Sicht, die Lager scheinen sich vielmehr unversöhnlich gegenüberzustehen. Man kann einerseits, z.B. mit Mircea Eliade, davon ausgehen, dass die im Ritual entfalteten Bilder keineswegs beliebig sind, sondern dass durch das Ritual „mythische Urgeschichten“ zelebriert werden, die aus illo tempore, der Zeit der Götter, stammen. Das Ritual ist dann die mit dem Mythos untrennbar verbundene „ewige Wiederholung“ eines „tatsächlich gewesenen Urzeitgeschehens“. Durch das Ritual stellt der Mensch demnach ein tatsächliches Verhältnis zu den Göttern her. Zu 3 Vgl. zum Begriff der „Symbologie“ Turner 1989: 28-94. 4 Vgl. zum Konzept der „Appräsentation“ bzw. „Mitvergegenwärtigung“ bei Husserl 1981; 1983; 1986; vgl. auch MacAloon 2006. 5 Ich verdanke einige wichtige Anregungen zur Einordnung neuerer Ritualtheorien der Teilnahme an der Tagung „Ritual als provoziertes Risiko“ des SFB 447 – Kulturen des Performativen, die vom 26. – 28. Oktober 2006 an der FU Berlin abgehalten wurde. Dies kann als Fazit des Vortrages von Soeffner vom 26.10.06 gelten (vgl. a. Soeffner 2004).
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dieser Vorstellung gehört auch der Gedanke, dass es eine wirkliche Unterscheidung von „Heilig“ und „Profan“ letzten Endes nicht geben kann, da jeder möglichen Handlung der Menschen eine Ur-Handlung der Götter vorausgegangen ist (Eliade 1966). Arbeit stellt in der urproduktiven Gesellschaft somit stets auch „Liturgie“, also „Arbeit für die Götter“ dar (vgl. Bargatzky 1997; 2006). Die unverbrüchliche Einheit zwischen Mythos und Kultus wurde sowohl in der Ethnologie (vgl. Thiel 1992; Ad. E. Jensen 1960; W. Müller 1956; Preuss 1933) wie in der Religionswissenschaft (vgl. Eliade 1966; Otto 1960; van der Leeuw 1950) immer wieder behauptet. Im Ritual zeigt sich dementsprechend der Versuch des Menschen, sich in das „wirklich Reale“, „Heilige“ einzufügen und daran teilzuhaben; man könnte auch sagen, der Mythos „entfaltet sich“ im Ritus. Das Ritual ist also der deutlichste Versuch einer Reintegration in „jene uranfängliche Zeit“ und besteht vornehmlich in der genauen Wiederholung und Nachahmung der in den Mythen gegebenen Uroffenbarungen und Vorbilder. Auf der anderen Seite wird die Durchführung von Ritualen als kulturell geprägte und daher unendlich wandelbare soziale Strategie begriffen, die letztlich funktional ist, der Bestätigung von Ordnung und damit der Weltdeutung dient, aber mit dem Mythos nicht zwingend in Zusammenhang steht. Über die Frage, welches die wichtigsten Motive bei der „Erfindung“ bzw. „Entstehung“ von Ritualen und Mythen sind, herrscht keine Einigkeit. Hier reicht die Bandbreite der Überlegungen von psychologischen (Durkheim 1912, Freud 1968ff.) über intellektualistische (Frazer 1924), funktionalistische bzw. kulturmaterialistische (Malinowski 1925; 1926; 1985; Harris 1988) bis hin zu strukturalistischen Thesen (Lévi-Strauss 1958; 1976ff). Gegen die These der unbedingten Bezogenheit von Mythos und Kultus aufeinander plädiert u.a. der Ägyptologe Jan Assmann. In Ägypten seien priesterliche Kulthandlungen das für den Fortbestand des Staates ausschlaggebende Moment gewesen; Mythen sind oft wohl erst später zur Erklärung der Kulthandlungen gleichsam nachgereicht worden. Nach Assmann wird das Ritual durch einen Text konstituiert, der vom Mythos durchaus als losgelöst betrachtet werden kann (Assmann 1991). In gewisser Weise nimmt Claude Lévi-Strauss hier eine Sonderstellung ein, hat er doch die These vertreten, dass das Ritual nicht immer eine genau parallele Darstellung des mythischen Urzeitgeschehens bei ein und derselben Ethnie sein muss, sondern dass sich beide Elemente oft erst in größeren regionalen Zusammenhängen ergänzen (Lévi-Strauss 1976). Dass es diese Zusammenhänge gibt, steht für ihn allerdings außer Frage und war letztlich für die Entstehung des Strukturalismus konstituierend (vgl. Oppitz 1975, 1992). Trotz ihrer Verschiedenheit liegt allen oben geschilderten Theorien die Annahme zugrunde, dass Rituale stets soziale Wirklichkeit konstituieren und die bestehende Ordnung, vielleicht unter Hereinnahme von partiellen Veränderungen, letzten Endes aktiv sichern helfen.6 Das Ritual ist, so verstanden, immer die „Handlungsform eines Symbols“ (vgl. Luckmann 1963; 1991). Rituale präsentieren die ihnen zugrundeliegenden Symbole, indem sie entsprechende Bilder entfalten, die, so meint etwa Edmund Leach, wie Zeichen7 gelesen werden können (Leach 1966, 1976). In diesen Bildern wird nicht selten Alltägliches und Außer-Alltägliches aufeinan-
6 Viele Beispiele zeigen, dass vermeintlich letztgültige Normen bei der Durchführung von Ritualen keineswegs starr und unveränderlich, sondern stetigen Wandlungen unterworfen sind und an veränderte Gegebenheiten, ohne dass man viel Aufhebens darum machen würde, angeglichen werden (vgl. Köpping & Rao 2000). 7 Gerade über die angebliche Zeichenhaftigkeit von Ritualen besteht in der Forschung inzwischen keine Übereinstimmung mehr (vgl. Staal 1979; 1989).
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der bezogen, fallen die Gegensätze ineinander (vgl. Langer 1956; Douglas 1985; Eliade 1966). Rituale, so kann man abschießend mit den Worten von Helmuth Plessner sagen, zeichnen sich durch ihre „vermittelte Unmittelbarkeit“ aus (Plessner 1965; vgl. a. Hauke 2000). Ritualen steht man nicht gleichgültig gegenüber, sondern man vollzieht sie, um aktiv etwas zu erreichen. Aus diesem Grund werden sie auch stets von der betroffenen Gruppe, Ausführenden wie Zuschauern, evaluiert, ihr Gelingen oder Scheitern wird diskutiert und kommentiert.
3. Ritual dramatologisch Der vorangegangene Überblick lässt erahnen, wie vielfältig die Vorstellungen einer Theorie des Rituals sind. Gleichzeitig wird deutlich, wie notwendig es für das Gelingen einer Untersuchung ist, Erkenntnisinteresse und theoretischen Rahmen genau abzustecken. Im Mittelpunkt meiner Betrachtung steht die dramatologische Ritualtheorie Victor Turners, die ich daher im Folgenden einer etwas genaueren Betrachtung unterziehen will. Turner baut zunächst auf den in der Ethnologie, aber auch in den Religionswissenschaften als „klassisch“ geltenden Überlegungen Arnold van Genneps auf. Dieser bezeichnet Initiationen als individuelle „Lebenskrisen“, als „rites de passage“ (van Gennep 1906; 1986). Unter „rites de passage“ ist die Aufeinanderfolge von bestimmten Zuständen zu verstehen, die ein Individuum während seines Lebens durchläuft; Rituale symbolisieren dabei die Übergänge und haben während der Übergangsphase die Aufgabe, das Individuum vor feindlichen Mächten zu schützen. Drei Hauptphasen können bei allen Übergangsriten unterschieden werden: 1. die Trennung bzw. die „prä-liminale Phase“, 2. der Übergang in einen anderen sozialen Zustand bzw. die „liminale Phase“ und 3. die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft bzw. die „post-liminale Phase“. Turner hat diese Gedanken aufgegriffen und beschäftigt sich an verschiedenen Stellen mit den von van Gennep beschriebenen Formen der Übergänge, den Riten, die einen Orts-, Zustands-, Positions- oder Altersgruppenwechsel begleiten. Während der Trennungsphase setzt die Loslösung eines Individuums oder einer Gruppe von einem früheren fixierten Punkt einer Sozialstruktur und/oder gesellschaftlichen Bindung ein. In der anschließenden Schwellenphase ist das rituelle Subjekt, der „Passierende“, grundsätzlich von Ambiguität gekennzeichnet. Es wird ein Bereich durchschritten, der weder mehr mit dem früheren noch schon mit dem zukünftigen in Verbindung steht. Mit der Angliederungs- oder Wiedereingliederungsphase hat das rituelle Subjekt den Übergang vollzogen und befindet sich wieder in einem neuen, stabilen Zustand. Laut Turner entsteht während der Vorbereitung bzw. dem Vollzug eines Rituals eine „Antistruktur“ (Turner 1989). Er meint damit, vereinfacht ausgedrückt, eine soziale Situation, in der normative Muster, Rollen, Ränge, Rechte und Pflichten etc. temporär aufgelöst werden. Insofern sind die Teilnehmer des Rituals „Grenzgänger“. Das Ritual ist „liminal“, es gerät zur (riskanten) „Grenzerfahrung“. Die innere Verfassung der am Ritual Teilnehmenden kommt durch ein besonderes, nicht-alltägliches Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck, dem Turner den Begriff „communitas“ zugeordnet hat. Im Vollzug des Rituals, diesem gemeinschaftlich intensiv erlebten Grenzzustand, entsteht eine Art gewollter, ja sogar streng geplanter „Unordnung“, die Turner für eine Art „Samenbeet kultureller Kreativität“ hält (Turner 1989:41). Der Teilnehmer soll in der „Unordnung“ einer-
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seits den Sinn und die Notwendigkeit der althergebrachten „Ordnung“ erkennen, aber auch eventuell neue, jenseits dieser alten Ordnung liegende Möglichkeiten entdecken.8 Die Partizipation am Ritual geschieht, so Turner, nicht freiwillig, sondern wird von den gesellschaftlichen Autoritäten erzwungen. Insofern dient es weniger dem „Erkenntnisgewinn“ des Einzelnen als vielmehr der Bestätigung bzw. Fortentwicklung der Gruppenstrukturen. Liminale Phänomene haben also, auch wenn sie „inversiv“ zu sein scheinen, die Tendenz, für die Sozialstruktur letztendlich funktional zu sein, da sie für ihr möglichst reibungsfreies Funktionieren sorgen (vgl. Turner 1989: 86). Für Turner stand fest, dass die von ihm untersuchten Ethnien das Ritual als die Handlungsform eines auf das Göttliche bezogenen bzw. verweisenden Symbols betrachten: „[…] a stereotyped sequence of activities involving gestures, words and objects, performed in a sequestered place, and designed to influence prenatural entities or forces on behalf of the actors’ goals and interests“ (Turner 1977:183). Da ich das Ritual soeben die „Handlungsform des Symbols“ genannt habe, will ich in aller Kürze umreißen, welchen Symbolbegriff ich hier heranziehe. Mit Clifford Geertz meine ich, dass Symbole aus der Erfahrung abgeleitete Abstraktionen sind, die uns als in wahrnehmbare Formen geronnene Vorstellungen gegenübertreten. Als solches können sie konkrete Verkörperungen von Ideen, Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen sein. Kulturelle Handlungen – das Bilden, Auffassen und Verwenden symbolischer Formen – sind zumeist öffentliche, und daher beobachtbare, soziale Ereignisse, die als solche auch dem Ethnologen zugänglich sind, der sie um so besser beschreiben und verstehen kann, je breiter seine Kenntnis „lokalen Wissens“ ausfällt. Die Kenntnis der Symbole einer Gesellschaft ist für den Ethnologen schon deshalb unerlässlich, weil die Symbole bei den von ihm untersuchten Menschen kulturell verankerte Dispositionen auslösen und Ordnungsvorstellungen formulieren. Die Abhängigkeit des Menschen von Symbolen und Symbolsystemen ist derart groß, dass sie über seine Lebensfähigkeit maßgeblich entscheidet. Schon der geringste Anlass zu der Befürchtung, das vorhandene Instrumentarium an Symbolen könne mit irgendeinem Aspekt der Erfahrung nicht fertig werden, löst schwerwiegende Ängste im Menschen aus. Symbole sind letztlich dazu da, „starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen in den Menschen zu schaffen“ (Geertz 1987:54). Es liegt auf der Hand, dass der Ethnologe, der sich mit Symbolen beschäftigt, auf vielfältige Probleme stößt. Über die Ungewissheit der Entstehung von Ritualen habe ich bereits gesprochen, für Symbole gilt dasselbe. Darüber hinaus muss sich der Ethnologe mit der Frage beschäftigen, inwieweit er überhaupt wissen kann, welche Mitglieder der von ihm untersuchten Gesellschaft eigentlich über eine Kenntnis bestimmter Symbole verfügen. Oder anders gefragt, wenn viele Mitglieder einer Gesellschaft viele Symbole nicht kennen, sondern vielleicht nur ein paar besonders Kundige, die der Forscher aber gerade deshalb zu seinen Informanten gemacht hat, wie wirksam bzw. gültig können diese Symbole, nach denen er ja sucht, weil er sie für wichtig hält, dann tatsächlich sein? Können sie in so einem Fall überhaupt noch als wirksame Symbole begriffen werden? Hier möch-
8 Wolfgang Lipp hat diesem Phänomen mit seiner Arbeit über „Stigma und Charisma“ (1985) besondere Tiefenschärfe verliehen. Gerade im Vermögen, das Denken in binären Oppositionen zu überwinden und das Zusammenfallen vermeintlicher Gegensätze zu beschreiben, offenbart sich die eigentliche Qualität einer dramatologischen Kulturtheorie.
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te ich folgende Antwort versuchen: Wir finden Symbole in vielfach übereinandergelegter Form. Längst nicht alle davon sind jedermann zugänglich, im Gegenteil ist der Zugang zur Kenntnis bestimmter Symbole vielfach von (verschiedenen) gesellschaftlichen Autoritäten blockiert und wird nicht selten erst nach aufwendigen Initiationen eröffnet. Andererseits muss es, folgt man der Argumentation etwa von Turner (1985), Geertz (1987) oder Soeffner (2004) eine zwar vielfach unreflektierte, aber doch vorhandene Grundkenntnis über die wichtigsten Symbole in einer Gesellschaft geben, da diese sonst nicht funktionieren kann.9 Vielfach bedienen sich die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft bestimmter Symbole, ohne sie explizit formulieren zu können. Auf der anderen Seite stellt sich die Frage, wie der Ethnologe eigentlich verhindern will, dass er das Symbolsystem einer anderen Kultur anhand der – auch wiederum von Symbolen durchwirkten – Kategorien seiner eigenen Kultur deutet. Aus diesem Dilemma gibt es nicht nur keinen sicheren Ausweg, es kommt sogar noch eine weitere Schwierigkeit hinzu: da sich kulturelle Systeme beständig ändern, sind Symbole in ihrer Bedeutung nach verschiedenen Seiten hin offen, weisen quasi einen „Bedeutungsüberschuss“ auf, der eindeutige Zuordnungen selbst für die Mitglieder der beschriebenen Kultur schwierig macht, obwohl ein Symbol dort möglicherweise ständige Anwendung findet.10 Um jedoch nicht allzu viel Verwirrung zu stiften und meine Vorgehensweise so transparent wie möglich zu gestalten, versuche ich in diesem Beitrag, mich auf diejenigen Symbole der Sa zu beschränken, die in aller Öffentlichkeit entfaltet werden und die ich hier deswegen auch ausführlich darstellen kann. Selbst wenn sie nicht von allen Mitgliedern gleichermaßen gelesen werden können, so sind sie doch als Bilder im Bewusstsein nicht nur vorhanden, sondern haben dieses sogar in entscheidender Weise mitgeprägt. Symbole, so lässt sich schlussfolgern, treten dem Forscher sowohl im Handeln des Einzelnen, wie in den Ritualen der Gesellschaft, ständig gegenüber. Ich komme, nach dieser kurzen, aber notwendigen Abhandlung über das Problem des Symbols, zu Victor Turners Ritualtheorie zurück. Turner hat seinem Begriff der Liminalität einen zweiten hinzugefügt, den der „Liminoidität“. Damit bezeichnet er Phänomene, die den liminalen zwar ähnlich sind, jedoch unter anderen Vorzeichen ablaufen. Liminoide Phänomene gedeihen demnach in „modernen“ bzw. „säkularen“ Gesellschaften, für die vertragliche Bindungen charakteristisch sind, die sich als Folge der Entstehung des bürgerlichen Gesellschaftstypus ab ca. 1750 entwickelten. Liminoide Phänomene können kollektiv sein, sind es aber meistens nicht. Es handelt sich charakteristischerweise eher um individuelle Hervorbringungen und nicht mehr ausschließlich um die Handlungsform des Symbols. Außerdem sind sie nicht in den gesamtgesellschaftlichen Kontext eingebettet, sondern entstehen abseits der zentralen ökonomischen und politischen Prozesse. Liminoide Phänomene gehören daher nicht zum unverzichtbaren kulturellen Instrumentarium einer Gesellschaft, sondern werden in erster Linie von solchen Gruppen, Zirkeln, Schulen oder Cliquen hervorgebracht, die mehr am Rande der Gesellschaft stehen. Insofern sind sie eher Teil der sozialen Kritik, als
9 Das Gleiche würden auch Eliade (z.B. 1966; 1990) oder Lévi-Strauss (1958; 1976ff) behaupten, allerdings mit der wichtigen Unterscheidung, dass der Mensch diese nicht lernen müsste, sondern sie „wiedererkennt“ (Eliade) bzw. gar nicht anders kann, als sich ihrer zu bedienen (Lévi-Strauss). 10 Denken wir an des Kreuz, das für die katholische Nonne, für den Atheisten, den Satanisten oder die kesse 17jährige, die es sich als modisches Accessoire um den Hals hängt, eine gänzlich andere Bedeutung hat.
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dass sie zum Funktionieren der Gesellschaft wesentlich beitragen würden (vgl. Turner 1989: 83ff). Beide, liminale und liminoide Phänomene, schaffen eine Art Freiraum, in dem ein besonderes Gemeinschaftsgefühl möglich wird. Das ist die wohl wichtigste Gemeinsamkeit beider Modelle. Im „stammesgesellschaftlichen“ Kontext muss dieser Freiraum, so Turner, als liminal betrachtet werden und ist letztlich der Gesellschaft insgesamt von Nutzen. Im modernen Kontext hingegen haben diese Phänomene liminoide Züge und sind vor allem für den Einzelnen relevant, wie die moderne Gesellschaft überhaupt durch eine starke Betonung von Individualität und Freiwilligkeit gekennzeichnet ist. Abschließend meine ich, dass Turners Überlegungen zur Liminalität des Rituals bis heute nichts von ihrem Wert verloren haben. Seiner These von der Liminoidität jedoch, die einen wesenhaften Unterschied von modernen und urproduktiven Gesellschaften impliziert, ist zu verwerfen, wie ich etwas später noch genauer ausführen werde.
4. Performative und ludische Aspekte des Rituals Wie auch immer man zu den oben geschilderten Ritualkonzepten stehen mag, unterm Strich bleibt in ihnen die Sinnhaftigkeit rituellen Tuns bestehen. Seit etwa zwei Jahrzehnten stellen sich den oben geschilderten Auffassungen nun zunehmend Lektüren der Vielstimmigkeit von „Partituren des Rituals“ entgegen. Der Indologe Frits Staal (1979; 1989) etwa behauptet, entgegen der langen Tradition der Interpretation von Ritualen als symbolische Verweisungssysteme, dass diese nicht selten bedeutungslos seien. Stattdessen rückt er die Regelhaftigkeit rituellen Handelns in den Vordergrund und versteht das Ritual als Reproduktion einer „Syntax ohne Semantik“ (Staal 1989: 108). Knapp zusammengefasst lautet seine These: „Ritual is pure activity, without meaning or goal“ (Staal 1975: 9). Auch Humphrey und Laidlaw (1994) betrachten nicht die Kommunikation von Bedeutungen als wesentliches Element des Rituals, sondern sehen seine Funktion vielmehr im Akt der spirituellen Hingabe an das rituelle Geschehen. Die weitere Dynamisierung der Diskussion verdankt sich vor allem der Einsicht in das „ludische Potential“ des (wie ich allerdings fragen würde: dann noch rituellen?) Vollzuges, in die konstitutive Rolle des, häufig riskanten, Spiels für das Liminale und für die je spezifische Präsenzerfahrung der involvierten Akteure. In vielen Fällen ebenso wichtig wie der (wie auch immer geartete) zugrunde liegende Text, scheint also der (ludische) Vollzug zu sein. Das Ritual besteht, so verstanden, nicht mehr in der Re-Präsentation von etwas, sondern stellt selbst die Präsentation von etwas dar. Der Sammelband von Klaus Peter Köpping und Ursula Rao (2000) etwa versucht unter Bezugnahme auf die Spieltheorie von Roger Caillois (1982) den Beweis zu führen, wie bedeutsam performative und ludische Aspekte für das Gelingen von Ritualen tatsächlich sind. Dabei drängt sich mitunter der Eindruck auf, dass die Performanz als solche zum „Eigentlichen“ des Rituals wird. Sieht man das Ritual nicht mehr als lesbares Zeichen, sondern stellt seine performativen bzw. ludischen Aspekte in den Vordergrund, verliert es in der Konsequenz auch an Bedeutung bezüglich seiner Handlungslegitimation. Hier besteht die Gefahr, so meine ich, dass die Grenzen zwischen dem Ritual und anderen Formen des sozialen Dramas, etwa dem Spiel, so stark verwischen, dass man am Ende begriffliches Terrain verliert
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anstatt neues hinzuzugewinnen. Ich behaupte, etwa mit John Mac Aloon (1984, 2006), dass es sehr wohl kategoriale Unterschiede zwischen Ritual und Spiel gibt, und dass diese sich auch benennen lassen. Dazu ist es sinnvoll, kurz auf den Begriff des Spiels einzugehen. Nach Roger Caillois bestimmen sechs Definitionsmerkmale das Spiel (1982). Das Spiel ist: – frei, d.h. keiner kann zu einem Spiel gezwungen werden. Das notwendige Überwinden eines existentiellen Risikos fehlt – abgetrennt, d.h. es findet in einem von anderen Lebensbereichen abgesonderten Raum und zu einer bestimmten Zeit statt – ungewiss, d.h. sein Ausgang ist von vornherein nicht genau vorhersagbar – unproduktiv, d.h. es dient weder der Güterproduktion noch dem Erwerb des Lebensunterhaltes (der professionelle Sport gehört demnach nicht zum Spiel) – (entweder) geregelt, d.h. die Spielregeln schaffen eine künstliche Gesetzeswelt, welche die allgemeine Gesetzgebung aufhebt, – (oder) fiktiv, d.h. bestimmte Spiele erfordern kein klar festgelegtes Regelwerk, sondern lassen Platz für freie Improvisationen, durch die eine neue Wirklichkeit entsteht, die im Gegensatz zu der des gewöhnlichen Lebens steht. Caillois unterscheidet für das Spiel zwischen âgon (griech. für „Wettkampf“), alea (lat. für „Würfel“), mimicry (engl. [aus d. Griech. mimesis] für „Nachahmung“, „Wandlung“, „Anpassung“) sowie ilinx (griech. für „Wasserstrudel“). Die letzte Kategorie könnte für die Betrachtung des Turmspringens von besonderer Bedeutung sein, denn in dieser Spielkategorie wird versucht, die nüchterne Wahrnehmung für einen Moment zu stören und durch eine Art „wollüstige Panik“ zu ersetzen (Caillois 1982:32). Ziel ist die Überwindung der alltäglichen Balance und der Übergang in einen trance- oder rauschartigen Zustand, der die Wirklichkeit negiert. Spiele mit hoher Rotations- oder Fallgeschwindigkeit sind prädestiniert, einen „organischen Zustand der Verwirrung und des Außersichseins“ hervorzurufen (Caillois 1982:19). Spiele des ilinx erfolgen durch Stürze und Schweben im Raum, durch schnelle Rotationen und extreme Beschleunigungen auf einer geraden Strecke. Da der ilinx durch den Einsatz moderner Technik, die Geschwindigkeiten und Rotationszahlen erhöht, begünstigt wird, verhalf das Industriezeitalter dieser Spielform zu einer rasanten Weiterentwicklung. Die Attraktionen der Jahrmärkte und Vergnügungsparks sowie modernste Erfindungen der Freizeitindustrie, nicht zuletzt das Bungee-Springen, weckten das Interesse eines breiten Publikums (vgl. Enser 2000). Andererseits, und das ist gerade auch für die vorliegende Untersuchung des Turmspringens entscheidend, gibt es zahllose ethnographische Bespiele für das Vorhandensein rauschhafter Spiele auch in urproduktiven Gesellschaften, etwa die Exerzitien der Derwische, die durch schnelle Drehungen um die eigene Achse bei schnellen Tambourschlägen in Ekstase geraten, oder das Gelede Ritual der Yoruba (Lawal 1996)11. Auch die Aufführungen der mexikanischen Voladores, die sich in schnellen, kreisenden Bewegungen von hohen Masten abseilen, gehören in diese Kategorie (vgl. Stresser Péan 1947). Hier wird deutlich, daß sowohl Aspekte des Ludischen als auch das bewusste Inkaufnehmen von Risiken keineswegs ein spezifisches „Wesensmerkmal“ von Menschen moderner Gesellschaften ist, sondern sich als Lust an der performativen Provokation
11 Tatsächlich bezeichnet Lawal schon im Titel seines Buches „Gelede“ als „Spektakel“.
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von Gefahr durchaus auch in urproduktiven Gesellschaften finden lassen.12 Daher halte ich den auch in Köpping & Rao (2000) oder von Rowe (1998) vorgetragenen Vorwurf an der These, urproduktive Gesellschaften unterschieden letztlich nicht zwischen Spiel und Ritual, sondern Spiele könnten hier nur vor der Folie des Rituals verstanden werden, für sehr berechtigt. Turners Trennung zwischen liminalen („ganz Ritual“) und liminoiden („ein bisschen Ritual, ein bisschen Spiel“) Phänomenen geht daher m.E. sowohl zu weit, wenn sie von wesenhaften Unterschieden zwischen modernen und urproduktiven Gesellschaften ausgeht, als auch nicht weit genug, wenn sie versucht, „ein bisschen Ritual“ und „ein bisschen Spiel“ mit der Formel der Liminoidität in eins zu setzen. Zweifellos könnte man hier den Begriff des Spiels noch erweitern (vgl. Huizinga 1939, Gadamer 1965, Popitz 1994 oder Enser 2000), mir reicht es jedoch aufzuzeigen, dass sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zwischen (älteren) Definitionen des Rituals und der hier vorgetragenen Definition des Spiels deutlich werden. Ich meine also, dass Unterschiede zwischen Ritual und Spiel durchaus benennbar sind. Köpping und Rao (2000) geben zwar an, es sei nicht ihr Anliegen, „eine abgrenzbare Ritualdefinition vorzulegen“. Vielmehr wollten sie zeigen, dass Rituale nicht als „der sozialen Wirklichkeit enthobene eindeutig fassbare transzendente Kategorien“ erscheinen, sondern als „diskursiv verankerte Praxisorientierungen“ (2000:3). Letztlich verbirgt sich dahinter aber doch der Versuch einer Neufassung und Erweiterung des Ritualbegriffs unter dem Oberbegriff der Performanz. Ich meine demgegenüber, dass es nicht sinnvoll ist, kategoriale Unterschiede zwischen Ritual und Spiel aufzulösen. Ich schließe mich grundsätzlich John MacAloon an, der meint, dass „Rituale keine Spiele und Spiele keine Rituale“ seien (MacAloon 2006 & persönliche Kommunikation). Wenn nicht wenigen beobachteten Phänomenen, die man mit einer unscharfen, weil zu offenen Terminologie in jüngster Zeit als Ritual begreift, keine universale Ritualgrammatik zugrunde liegt, ihnen also die oben beschriebene Eigenschaft des Rituals als Handlungsform des Symbols fehlt, ist es besser, sie nicht mit dem Begriff des Rituals zu befrachten. Man tut vielmehr gut daher daran, das Ritual von anderen Formen des sozialen Dramas, hier konkret dem Spiel, zu trennen. Um meine Behauptung zu präzisieren möchte ich versuchen, eine kategoriale Unterscheidung zwischen Ritual und Spiel hier wie folgt zu treffen: Rituale erscheinen als krisenhafte Zeit im Jahreszyklus, die durch eine risikobehaftete Infragestellung und Reorganisation der Ordnung der Gemeinschaft durch eine gemeinsam erlebte Grenzerfahrung ausgezeichnet ist, bedeutungsvoll. So ließe sich resümieren, dass Rituale, anders als Spiele, auf drei Ebenen wirksam sind: – auf der symbolischen Ebene: Rituale sind als Handlungsform von Symbolen zu betrachten, die das Ethos einer Gesellschaft reflektieren, transportieren und letztlich festigen n die Regeln in Spielen hingegen schaffen eine künstliche Gesetzeswelt, welche die allgemeine Gesetzgebung nicht selten vollständig aufhebt – auf der funktionalen Ebene: Rituale sind auf einer operationalen Ebene für die Gesellschaft wirksam. Dazu gehört auch, dass die Teilnahme am Ritual für die, innerhalb des jeweiligen Kontextes Betroffenen, verpflichtend ist. Außerdem erfolgt in aller Regel eine Statusänderung der am Ritual Teilnehmenden
12 Vgl. f.a.: Beck 2003; Enser 2000; Köpping & Rao 2000; Michaels 2003; 2002; 2000.
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sowohl die verpflichtende Teilnahme, als auch der funktionale Rückbezug, zumindest für die Zuschauer, fehlen beim Spiel – auf der ästhetisch-performativen Ebene: in Ritualen werden, vielfach mit größter organisatorisch-technischer Perfektion, komplexe Bilder entfaltet, die im Moment der Aufführung für Teilnehmer wie Zuschauer nicht selten zum Eigentlichen des Rituals werden13 n wirkungskräftige Riten können überdauern, auch ohne dass deren Sinngehalt allen Teilnehmenden immer vor Augen steht. Für Spiele gilt dies höchstwahrscheinlich nicht: wenn der Sinn eines Spiels sich den Spielern nicht erschließt, kann es nicht gespielt werden Man könnte diese Matrix sicher noch wesentlich präzisieren, aber für den hier angestrebten Rahmen und die hier zu treffende Unterscheidung muss sie zunächst ausreichen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es grundsätzlich richtig ist, wenn die im Sammelband „Im Rausch des Rituals“ von Köpping & Rao (2000) vorgelegten Studien „ritualisiertes Handeln“ als dynamische, vieldeutige und ambivalente Größe beschreiben, die überdies den Prozessen in modernen Gesellschaften viel ähnlicher ist, als etwa Turners dichotomes liminal/liminoid Konzept vermuten ließe. Wenn die neuere Diskussion also erbracht hat, dass performative Aspekte für das „Gelingen“ von Ritualen überdies bedeutsam sind, ist dem nichts entgegenzusetzen. Ich meine jedoch, dass man zwischen „ritualisiertem Handeln“ und „Ritual“ unterscheiden sollte und plädiere also dafür, dem Ritual seine Bedeutung als „Handlungsform des Symbols“ belassen. Ich will nun versuchen, den hier entwickelten theoretischen Rahmen in Hinblick auf die Frage anzuwenden, die uns eigentlich beschäftigt: um welche Kategorie des sozialen Dramas handelt es sich beim Turmspringen der Sa von Pentecost? n
5. Das Turmspringen im Vergleich mit Initiations- und Fruchtbarkeitsritualen der Sa Bevor ich abschließend genauer auf das Turmspringen eingehe, sollen hier in aller Kürze die Initiationsrituale der Sa vorgestellt werden, die, anders als das Turmspringen, einen „typischen“ Ritualkomplex darstellen. Der direkte Vergleich beider Veranstaltungen wird ergeben, wie sehr sich die beiden Veranstaltungen tatsächlich kategorial voneinander unterscheiden.14 Zunächst ist da die Beschneidung zu nennen, der sich ausnahmslos alle Jungen einer Altersklasse unterziehen müssen, wenn sie das fünfte oder sechste Lebensjahr erreicht haben. Das Ritual, bei der den etwa sechsjährigen Knaben die Vorhaut des Penis mit einem scharfen Messer aus Bambus abgetrennt wird, vollzieht sich in einer formlosen Zeremonie vor den Männerhäusern, jedoch außerhalb des Blickfeldes der Frauen. Diese warten am Rand des
13 Wenn zumindest den Eingeweihten die Sinn- und Symbolhaftigkeit ihres Handelns bewusst bleibt, ist es dennoch berechtigt, von Ritual und nicht bloß von „ritualisiertem Handeln“ zu sprechen. 14 Ich verzichte an dieser Stelle darauf, hier stets alle relevanten Sa Begriffe einzuführen und zu erläutern und verweise dazu auf Lipp 2007.
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Tanzplatzes und brechen in lautes Weinen aus, wenn sie die Schreie ihrer Kinder vernehmen. Alle Anwesenden Männer, Frauen und Kinder sind als Mütter und Väter, Onkel und Tanten, Brüder und Schwester von der Beschneidung unmittelbar betroffen, Zuschauer gibt es keine. Ein Scheitern der Initiation hätte schwerwiegende Konsequenzen für die Dorfgemeinschaft zur Folge.15 So lange die Wunden heilen, dürfen die Neophyten das schützende Männerhaus nur bei Nacht verlassen, wenn ihre Mütter schlafen. Die heranwachsende männliche Kraft darf nämlich keinesfalls durch weiblichen Einfluss gefährdet werden. Die Zeit im Männerhaus ist dazu gedacht, die Jungen von ihren Müttern zu trennen und langsam an ihre eigentliche Welt, das Männerhaus, das man in diesem Zusammenhang als eine Art künstlicher Gebärmutter betrachten kann, heranzuführen. Hier im Männerhaus sollen die Knaben möglichst viel männliche Energie in sich aufnehmen. Zwei bis vier Wochen nach der Beschneidung, wenn die Wunden abgeheilt sind, findet dann das taltabwean Fest statt. Neben verschiedenen Tänzen besteht es vor allem aus einer großen Umverteilung von Gütern, vor allem Taro und Yams, Schweinen, Rindern und Geld. Die Geber sind die Väter der Jungen, die Empfänger zunächst die für die Fruchtbarkeit zuständigen Priester, denen man für ihre gelungene Arbeit dankt, sowie die Familie der Mutter des Initianden, die dadurch für ihre Reproduktionskraft belohnt wird. Deutlich wird, dass die Beschneidung ein soziales Drama darstellt, das man zu Recht mit Turner als liminales Ritual bezeichnen kann. Auf die Trennung von den Müttern folgt eine Zeit des Überganges, die durch eine typische communitas im Männerhaus gekennzeichnet ist. Schließlich folgt die feierliche Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Die Beschneidung ist jedoch nur eine von vielen Initiationen. Sie steht innerhalb eines komplexen Systems von zu erwerbenden Titeln, das jedem Mann und jeder Frau einen unverwechselbaren Platz innerhalb des sozialen Gefüges zuweist. Dieses warsangul16 genannte System hat sich, seit es schriftliche Quellen gibt, in seinen Grundzügen nicht wesentlich verändert (vgl. Tattevin 1917; 1928; Lane 1956; Jolly 1979; 1994). Es betrifft Männer und Frauen gleichermaßen, wobei es für Männer maximal siebenundzwanzig, für Frauen hingegen nur sechs Titel zu erwerben gibt.17 Die verschiedenen Titel bauen nach einem festgelegten Schema sukzessive aufeinander auf. Das System besteht, vereinfacht gesagt, im „Sammeln“ (Züchten, Tauschen, Kaufen) von Schweinen, die dann zu einem vom Titelanwärter festgelegten Zeitpunkt im Rahmen eines Rituals auf dem Tanzplatz teils öffentlich gekeult, teils lebend verschenkt werden. Die Schweine bzw. ihr Fleisch dienen, zusammen mit anderen wertvollen Dingen wie Taro und Yams, eigens geflochtenen Matten und Geld, als Bezahlung für den Titel und die damit verbundenen Privilegien. Die getöteten Schweine bedeuten eine Anerkennung der weiblichen Fertilität und Arbeitskraft, daher muss sie der Initiand, analog zur Beschneidung, an einen Vertreter aus der Familie seiner Mutter und/oder seiner Frau entrichten, denn ohne seine Mutter wäre er nicht geboren worden und ohne die Hilfe seiner eigenen Frau könnte er nicht über ihre bzw. über die Arbeitskraft seiner Kinder 15 Das Ritual könnte scheitern etwa durch mangelnde materielle Ressourcen der Eltern des Initianden oder durch mangelnde Beachtung der streng festgelegten Regeln und Etikette. 16 Umgangssprachlich ist warsangul eine Form der Anrede und besagt zunächst nichts anderes als „geachteter Mann“ oder „geehrter Herr“, wobei sich die „Achtung“ oder „Ehrung“ auf die Erfolge im allseits anerkannten und daher legitimen Titelsystem bezieht. 17 Da die weiblichen Titel eine Art Verlängerung der männlichen Titel darstellen, eine Frau also in der Regel nur zusammen mit ihrem Mann einen Titel erwerben kann, gehe ich hier nicht weiter darauf ein.
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verfügen, die ihn wiederum zum Erwerb von Titeln befähigen. Die lebenden Schweine gehen an den Mentor, von dem er den Titel erwirbt. Innerhalb des Titelsystems wird also durch den Erwerb der Titel stets dem männlichen Kulturträger und der weiblichen Reproduktionskraft Tribut gezollt. Der Neophyt erhält im Gegenzug einen neuen Namen, der in der Regel mit bestimmten, permanenten oder temporären Privilegien verknüpft ist. Im Grunde ermöglicht das Titelsystem zweierlei: einmal formalisiert es individuelle Machtbestrebungen und zum anderen ist es, aufgrund seiner allgemeinen Akzeptanz, ein wichtiger Garant für den sozialen Frieden.18 Der Titelanwärter muss seine Fähigkeiten als Diplomat, Politiker, Händler, Gärtner, Schweinezüchter, Ehemann und Familienvater unter Beweis stellen, um die jeweils nächste Stufe zu erreichen.19 Analog zur Bescheidung, bei der das Männerhaus als eine Art überdimensionale Gebärmutter betrachtet werden kann, in der die männliche Kraft der Jungen heranreifen soll, findet sich auch bei den warsangul Ritualen die Symbolik einer „zweiten Geburt“. Der Initiand opfert das Blut des Schweins nämlich entweder auf einem runden, an eine Gebärmutter erinnernden Stein, und geht so mit seinen Mentoren eine symbolische Bruderschaft ein. Oder aber er zwängt sich durch einen schmalen Durchgang in einen durch Äste und Blumen symbolisch abgetrennten Raum, in dem er dann die Opferschweine tötet. Wenn er diese zeremonielle Konstruktion durch den engen „Geburtskanal“ wieder verlässt, ruft er seinen neuen Namen aus und wird symbolisch neu geboren. Die warsangul Rituale sind, genau wie die Beschneidung, typische Initiationen, die aus Trennung, Übergang und Wiedereingliederung bestehen und für die Mitglieder einer Altersklasse, zumindest bis zu einer gewissen Zahl an Titeln, obligatorisch sind. Entscheidend ist die symbolische Bedeutung dieser Rituale, die den Akteuren explizit, mindestens aber implizit bewusst ist. Ihnen liegt die in entsprechenden Mythen formulierte Vorstellung zugrunde, dass Frauen zwar eigentlich von den Männern abstammen, heute jedoch unrein sind, weshalb die soziale Sphäre von Männern und Frauen weitgehend getrennt sein sollen. Nur Männer können aus Knaben, mit der Hilfe von stets zu wiederholenden künstlichen Geburten, ebenfalls wieder Männer machen. Die rein physischen Reproduktionskräfte der Frauen werden zwar gewürdigt (s.o.), letztlich aber eher gering eingeschätzt. Die Durchführung der Titelrituale stellt auch auf der ästhetischperformativen Ebene eine überaus komplexe Angelegenheit dar. Jedes der siebenundzwanzig Rituale für die Männer männlichen und der sechs für die Frauen besteht jeweils aus einer ganz bestimmten Abfolge von Gesängen, Tänzen und genau festgelegten Handlungen und unterscheidet sich damit deutlich von den jeweils anderen (vgl. Lipp 2007). Sie alle finden im Zentrum des Dorfes, auf dem Dorfplatz, statt und werden von der Errichtung spezieller Zeremonialkonstruktionen aus Blumen, Pflanzenteilen, Ästen oder Bäumen begleitet. Wenn man die hier geschilderten sozialen Dramen betrachtet, so wird man sagen müssen, dass es sich dabei nicht um simple Aufführungen des Geschehens in der Art eines insze-
18 Dem Berliner Ethnosoziologen Richard Thurnwald (1927; 1965) schreibt man zu, bei seinen melanesischen Feldstudien als Erster auf das Prinzip der „regulierten Reziprozität“ gestoßen zu sein, das dann später von einer langen Reihe anderer Ethnologen aufgegriffen, weitergedacht und ins Zentrum ihrer ökonomischen Analysen gestellt wurde, darunter Marcel Mauss (1984), Bronislaw Malinowski (1985), Radcliffe Brown (1952). 19 Das Titelsystem, soviel muss hier noch hinzugefügt werden, stellt in der Kultur der Sa ein wichtiges, aber keineswegs das einzige soziale Regulativ dar. Darüber hinaus kann sich ein Mann mit der Hilfe zusätzlicher, erblicher Titel, durch seine magischen Fähigkeiten, sein wirtschaftliches Geschick im intra- oder interinsulären Handel, seine rhetorische Potenz sowie seine körperliche Kraft und seinen Mut, Einfluss und Geltung verschaffen.
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nierten Passionsspiels handelt. Vielmehr müssen wir diese Phänomene tatsächlich als die wirkungsmächtige Wiederholung von Schöpfungsmythen betrachten, die die Ordnung der Welt bestätigt und sie gleichzeitig erneuert bzw. ihrem Bestand garantiert. Ich halte daher an einem Verständnis des Rituals als Handlungsform des Symbols fest. Allerdings beschränken sich die Sa dabei oft auf Chiffren und Andeutungen, die nicht selten nur den Eingeweihten vertraut waren und sind. Der Sinn vieler Handlungen liegt im Verborgenen, manches ist verlorengegangen, wenngleich er bei sorgfältiger Analyse durch den Beobachter, etwa den Ethnologen, vielfach (re-) konstruiert werden kann.20
6. Das Turmspringen als „riskantes Spektakel“ Kehren wir nun zum Turmspringen zurück. Man kann die Veranstaltung mit den Worten von Marcel Mauss als „totales soziales Phänomen“ bezeichnen. Es handelt sich um ein multifaktorielles Geschehen, das überdies durch historische Veränderungen in seiner ursprünglichen Bedeutung vielfach gebrochen und mehrfach überlagert erscheint, was jeden Exegeseversuch ungemein erschwert. Grundsätzlich meine ich, dass am ehesten das auf dem alten Gedanken das Palimpsestestext basierenden „Transdifferenz“ Konzept einen adäquaten Zugang zum Verständnis des Phänomens eröffnet.21 Transdifferenz zielt auf jene Momente der Ungewissheit, der Unentscheidbarkeit und des Widerspruchs, die in Differenzkonzeptionen auf der Basis binärer Oppositionen (Tradition hier – Moderne dort) ausgeblendet werden. Daher ist das Konzept offen für die vielfältigen Formen der Nichtlinearität, der Mehrfachzugehörigkeiten und Überlagerungen sowie der Zwischenbefindlichkeiten, welche die Komplexi20 Der Frage, was man überhaupt über die „Fremden“ wissen könne, kann man nur erwidern, dass Ethnologie mit Begriffen beginnt und endet. Ein Umstand, der dem Ethnologen, der immer um die Beschränktheit seiner Forschung weiß, jederzeit schmerzhaft vor Augen steht. James Clifford meinte, das Problem auflösen wollend, im Hinblick auf die Dogon Forschungen von Marcel Griaule, es sei nicht möglich, einem Ethnologen „falsche Ergebnisse“ nachzuweisen. Schließlich, so Clifford, beruht jede Begegnung zwischen dem Ethnologen und den Mitgliedern der Kultur, die er untersucht, auf einem wechselseitigen kommunikativen Prozess, der auch schöpferische Züge trägt und letztlich auch in so etwas wie „Erfindung von Kultur“ mündet (Clifford 1983:121; Wagner 1981). Ich stimme dem zwar grundsätzlich zu, meine aber einschränkend doch, dass die Deutung bzw. „Exegese“ des Ethnologen auf der Grundlage von sorgfältig zusammengetragenem Material und einer möglichst transparent gemachten Methode, vielleicht nicht immer ganz „richtig“, sicher aber auch nicht ganz „falsch“ sein wird. Sie stellt auf der Grundlager der in ihr angestrebten Transparenz, einen besseren Näherungswert an die soziale Wirklichkeit, oder, wenn man so will, eine „authentischere Inszenierung“ dar, als viele andere Formen der Kulturvermittlung und –interpretation, wobei ich vor allem an manche Formen des Journalismus, v.a. des schnellen Fernsehjournalismus (nicht jedoch an das dem Ethos des Dokumentarischen verpflichtete Filmschaffen) denke. 21 Kulturelle Analyse auf kollektiver wie auf individueller Ebene geht in der Regel von Differenzdiskursen, Differenzbeziehungen und Phänomenen der Abgrenzung aus. Neuere Ansätze in den Kulturstudien haben sich bemüht, das damit einhergehende Denken in binären Oppositionen zu überwinden und Orte des ‚Dritten‘ auszumachen, oft in Verbindung mit dem Postulat einer intrinsischen Subversivität des Hybriden. Transdifferenz betont demgegenüber die Unvermeidbarkeit des Denkens von Differenz bei gleichzeitigem Bewusstsein für die vielfältigen Überlagerungen, Mehrfachzugehörigkeiten und Zwischenbefindlichkeiten, die die Komplexität der Lebenswelt ausmachen. Es gilt daher, Transdifferenzphänomene im synchronen und diachronen Kontext kultureller Kommunikation und als Phänomen der Bildung und Ausübung von Macht zu reflektieren (vgl. dazu: http://www.kulturhermeneutik.uni-erlangen.de, Stand: 20. Oktober 2006)
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tät der Lebenswelten in menschlichen Symbioseformen ausmachen (vgl. Bargatzky 2006). Angesichts dieser Komplexität der Veranstaltung darf hier daher keineswegs der Anschein erweckt werden, man könne in wenigen Worten das Phänomen in seiner Ganzheit darstellen oder gar verstehen. Da das Turmspringen immer wieder als Initiationsritual bezeichnet worden ist, kann ich an dieser Stelle lediglich diese spezielle Behauptung überprüfen. Über die vielfältigen anderen Implikationen des Phänomens sei im Rahmen dieses Beitrages hingegen nichts ausgesagt.22
Abb. 2: Der letzte Springer springt vom „Kopf“ des Turmes. (Photo: Thorolf Lipp)
Um es gleich vorwegzunehmen: Das Turmspringen ist kein „Initiationsritual“. Ich meine sogar, dass die Veranstaltung sich generell nicht als „Ritual“ begreifen lässt und schlage vielmehr vor, sie als „riskantes Spektakel“ zu bezeichnen. Betrachten wir dazu einige Aspekte des Turmspringens detaillierter. Im Unterschied zu allen anderen bedeutenden Ritualen der Sa findet das Turmspringen außerhalb des Dorfes, also in der Sphäre der Natur statt, dort, wo man pflanzt und die Toten beerdigt, wo man jagt, bestimmte Spiele spielt oder Krieg führt. Zwar ist der etwa zehn bis vierzehn Tage währende Bau des Turmes eine durchaus staunenswerte Angelegenheit, die nicht wenig Spezialwissen voraussetzt und bei der einige besondere Vorschriften und Tabus beachtet werden müssen. So dürfen sich Frauen dem Turm während der Bauphase nicht nähern und sollen auch während des Rituals einigen Abstand zu ihm halten, um seine besondere, männliche Kraft nicht zu verunreinigen. Im Vergleich mit den oben geschilderten siebenundzwanzig männlichen und sechs weiblichen Initiationsritualen jedoch, nimmt sich die ästhetisch-performative
22 Für eine ausführliche Darstellung vgl. Lipp 2007
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Komplexität der Vorbereitungen sowie der eigentlichen Durchführung eher bescheiden aus und ist keineswegs, wie es für das Ritual kennzeichnend wäre, von großer formaler Strenge gekennzeichnet. Weder ist eine ausgeprägte Trennung der Bauleute von der Gemeinschaft, noch eine besondere communitas oder Wiederangliederungsphase festzustellen. Überhaupt ist die Teilnahme, im Gegensatz zu den oben beschriebenen Initiationsritualen, gänzlich freiwillig. Abgesehen vielleicht von einem sanften Druck, den Freunde oder Verwandte hin und wieder einmal ausüben können, der aber unverbindlich bleibt, kann niemand gezwungen werden, sich als Springer hervorzutun.23 Auch die Durchführung selbst unterliegt keinen besonders streng festgelegten Regeln. Die Veranstaltung beginnt vielmehr erstaunlich formlos, niemand gibt dazu ein spezielles Kommando. Am vorher angekündigten Tag des Turmspringens erscheinen Teilnehmer wie Zuschauer nach und nach am Fuße des Sprungturmes. Wenn alle Vorbereitungen getroffen sind, springt der erste Junge von einer der untersten Ebenen. Dabei wird ihm ein älterer Bruder, sein Vater oder ein anderer Verwandter oder guter Freund behilflich sein; genaue Regeln gibt es hier, im Gegensatz zu den Initiationsritualen, nicht. Vielleicht sind die Vorbereitungen für diesen ersten Sprung gar nicht recht bemerkt worden, weil viele Teilnehmer noch im Kommen begriffen oder in einen Schwatz mit dem Nachbar oder Freunden aus anderen Dörfern vertieft sind. Auch die Tänzer haben sich wahrscheinlich noch nicht recht formiert. Erst wenn das unverwechselbare Knacken der Sollbruchstelle des Sprungbrettes, die die Wucht des Aufpralls abfedert, den ersten Sprung angezeigt hat, kommt langsam Leben in die unter dem Turm versammelte Menge und das Turmspringen beginnt. Etwas seitlich vom Turm, oder auch dahinter, beginnen Männer und Frauen getrennt voneinander zu tanzen, die Männer vorne, näher beim Turm, die Frauen dahinter. Einige Männer halten dabei ihren Kriegsstab in der rechten Hand. Die Frauen und Mädchen schwenken rote Kroton Blätter über ihren Köpfen oder wiegen diese, wie einen Säugling, theatralisch in den Armen hin und her. Die Lieder, die sie singen, handeln von allen möglichen Alltagsdingen und nehmen nur selten direkten Bezug auf das Turmspringen. Der Ablauf der einzelnen Lieder und Tänze ergibt sich spontan und ist nicht klar festgelegt. Das Publikum hat im Abstand von etwa zwanzig Metern unter oder neben dem Turm Stellung bezogen, von wo aus man den besten Blick auf die Springer und Tänzer hat. Hier von Publikum zu sprechen, ist voll und ganz berechtigt, denn der größte Teil der Anwesenden ist lediglich gekommen, um als unbeteiligter Zuschauer am Geschehen eben nicht teilzunehmen, sondern dem Spektakel lediglich zuzusehen. Keiner der Akteure wird die Zuseher zum Mitmachen, also zum Tanzen oder gar zum Springen auffordern, niemand erwartet von ihnen irgendein bestimmtes Verhalten, Geschenke oder gar Geld. Die Zuschauer können zwar emotionalen Anteil nehmen, greifen jedoch ins aktuelle Geschehen nicht ein, auf der Bühne der Turmsprung-Performanz ist für sie kein Platz. Die Abfolge der einzelnen Sprünge ergibt sich viel eher aus zufälligen Gegebenheiten, als dass sie einer bestimmten, rituellen Systematik folgen würde.
23 Es kann gelten, dass weder eine hohe Anzahl an Sprüngen die gesellschaftliche Stellung eines Mannes notwendig nachhaltig positiv beeinflusst, noch, dass eine niedrige Anzahl etwa zu sozialer Marginalisierung führen würde. Viele Männer, die häufig oder sehr häufig am gol teilgenommen haben, konnten trotzdem keine besonders einflussreiche Position innerhalb des sozialen Gefüges erreichen. Andererseits gibt es einige bedeutende Männer, die nicht ein einziges Mal gesprungen sind. Sie alle sind trotzdem respektierte Mitglieder der Gesellschaft, haben Frauen und Kinder, sind stolze Gärtner und nehmen, unterschiedlich erfolgreich, an den warsangul Ritualen teil (vgl. Lipp 2007).
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Abb. 3: Bong Aya aus Bunlap.nach seinem Sprung vom Kopf des gol. Niemand in Südpentecost ist jemals häufiger gesprungen als er. Bunlap im April 2002. (Photo: Thorolf Lipp)
Es kann also, im Unterschied zur sonst üblichen Ordnung durchaus vorkommen, dass ein älterer Mann mit vielen Titeln weit unterhalb eines Jüngeren vom Turm springt. Noch entscheidender ist der Umstand, dass, anders als bei typischen Initiationsritualen, nach dem Sprung kein Statuswechsel zu verzeichnen ist. Tritt ein Springer gar vom Sprung zurück, was nicht selten vorkommt, hat er mit keinerlei gravierenden Konsequenzen zu rechnen und das „Scheitern“ seines Sprunges bleibt – völlig anders als das Scheitern eines warsangul Titelrituals, etwa durch ein ungenaues Befolgen der Regeln – auch für die Gemeinschaft vollkommen folgenlos. Dies alles steht in Gegensatz zu den warsangul Ritualen. Deren funktionale Bezüge werden unmittelbar wirksam und deren Ablauf und Choreographie sind um ein Vielfaches genauer überliefert und werden auch eingehalten. Beim Turnspringen hingegen kann ein Mann sich bestenfalls profilieren, wenn er als erfolgreicher Organisator aufgefallen ist. Er muss über Persönlichkeit, Ausdauer, politisches Geschick, ein gewisses Maß an materiellen Ressourcen und Rednergabe verfügen, um seine schwierige Aufgabe zu bewältigen. Er muss genügend Arbeitskräfte mobilisieren und diese evtl. verköstigen, unter seinen Leuten für Ordnung sorgen und insgesamt für das Gelingen der Veranstaltung die Verantwortung übernehmen. All diese Fähigkeiten werden letztlich höher geschätzt als die „heiße Kraft“, die der Akt des Turmspringens selbst voraussetzt. Als Fazit kann gelten, dass Turmspringen und warsangul Rituale vollkommen voneinander entkoppelte Veranstaltungen sind.24 Auch wenn das Turmspringen für den Einzelnen manche 24 Ich verdanke die Anregung, das Turmspringen als von anderen Institutionen der Sa „entkoppelte Veranstaltung“ zu betrachten, einem Gespräch mit dem Bielefelder Soziologen Hartmann Tyrell.
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Risiken birgt, so halten die Sa das Turmspringen doch eher für eine Art harmloses Spiel. „Beim Turmspringen stirbt ja nichts“ so sagen sie, und meinen damit die während der warsangul Rituale zu tötenden Schweine, ihren kostbarsten Besitz. Zwar kommt es mitunter zu Verletzungen der Springer, diese sind aber, anders als der Tod der Schweine beim warsangul Ritual, keineswegs notwendiger Bestandteil der Veranstaltung, im Gegenteil. Zuletzt muss erwähnt werden, dass das Turmspringen, anders als Initiationen, keineswegs regelmäßig veranstaltet wird, vielmehr vergehen in manchen Dörfern mitunter einige Jahre, ohne dass das Spektakel „über die Bühne“ geht. Betrachtet man zusammenfassend funktionale und ästhetisch-performative Aspekte von Initiationsritualen und Turmspringen im Vergleich so wird überdeutlich, dass das Turmspringen kein Initiationsritual ist und dass ihm überdies zentrale Elemente des Rituals generell fehlen, so dass die Veranstaltung eher an eine Art Spiel erinnert. Ein Befund, der sich auch im Namen gol (Spiel) widerspiegelt und überdies der emischen Perspektive der Sa auf das Turmspringen am nächsten kommt, die die Veranstaltung durchweg für „ein Spiel“ halten (vgl. Lipp 2007). Andererseits meine ich aber, dass es sich um eine in so hohem Maße ausdifferenzierte Veranstaltung handelt, die so deutlich symbolische Bezüge transportiert, dass es ebenfalls zu ungenau erschiene, das Turmspringen einfach nur als „Spiel“ zu bezeichnen, zumal es sich mit den für das Spiel zur Verfügung stehenden Gattungen auch nicht beschreiben lässt. Stellen wir uns daher abschließend die grundlegende Frage, in welche Kategorie kultureller Performanz sich die Veranstaltung am ehesten einfügt. Wenn man alle Aspekte des Turmspringens in der Zusammenschau betrachtet dann ergibt sich, dass der Begriff des Spektakels am ehesten geeignet ist, seine verschiedenen Dimensionen zu erfassen. Von allen Arten der kulturellen Performanz stellt das Spektakel wohl die am wenigsten untersuchte Kategorie dar, eine „Ethnographie des Spektakels“ ist nach wie vor noch kaum entwickelt.25 Ich beziehe mich bei meiner Betrachtung des gol auf John MacAloon, der den Begriff in Hinblick auf seine Untersuchung der Olympischen Spiele erfolgreich anzuwenden und zu präzisieren verstanden hat, wodurch er nach und nach auch in der Ethnologie entdeckt worden ist. MacAloon bezieht sich in seinem Aufsatz „Olympic Games and the Theory of Spectacle in Modern Societies“ zunächst explizit auf das Spektakel als Erscheinung in modernen Gesellschaften (Mac Aloon 1984). Da er inzwischen jedoch selbst der von Turner vorgeschlagenen Trennung zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften mehr und mehr skeptisch gegenübersteht (vgl. MacAloon 2006 & persönliche Kommunikation), halte ich den Versuch für berechtigt, den Begriff auf eine Veranstaltung in einer urproduktiven Gesellschaft, hier das Turmspringen, anzuwenden. Das Wort Spektakel ist etymologisch mit dem lat. specere (zusehen) bzw. dem indoeuropäischen spek (beobachten) verwandt. Bereits hier deutet sich an, dass es ohne Zuschauer kein Spektakel geben kann. Dass man sowohl zur Realisierung eines Spiels wie auch eines Rituals Akteure benötigt, leuchtet sofort ein. Allerdings können sowohl Spiele als auch Rituale ohne Zuschauer auskommen, und meist ist dies auch tatsächlich der Fall. Denken wir nur an ein einsames Computerspiel, das Schachspiel zweier Freunde, das Federballspiel eines verliebten Pärchens, das Fußballspiel der Dorfjugend oder den Bungee-Springer, der irgend-
25 Eigentlich verwunderlich, da der französische Kulturkritiker Guy Debord zumindest den Begriff als solchen mit seinem Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“ (Debord 1996 [zuerst 1967] tief in die Köpfen der Apologeten der 1968er Bewegung eingebrannt hat. Debord betrachtete das Spektakel als eine auf die Spitze getriebene Form der „entfremdeten Gesellschaft“ und als Versuch der Herrschenden, von Strukturen der Ungleichheit abzulenken.
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wo in Neuseeland von einer Brücke springt: Zuschauer bilden kein notwendiges Element der Veranstaltung. Noch weniger Platz für Zuschauer bieten Rituale (vgl. MacAloon 1984: 243). Bei Ritualen, so meint MacAloon, sind Zuschauer in aller Regel unerwünscht. Sind ausnahmsweise doch einmal distanzierte Beobachter dabei, ruft deren oft als Voyeurismus empfundenes Interesse bei ihnen selbst so etwas wie ein „schlechtes Gewissen“ hervor, während die eigentlichen Ritualteilnehmer das „Gelingen“ des Rituals durch die Zuschauer gefährdet sehen, oder gar einen „Schaden“ für das Ritual befürchten. Denken wir nur an das ungute Gefühl das uns beschleicht, wenn wir eine Kirche besichtigen, in der gerade ein Gottesdienst abgehalten wird.26 Ganz anders beim Spektakel: hier ist der Zuschauer unverzichtbarer Bestandteil der Veranstaltung, ein Spektakel ohne Zuschauer ist undenkbar. Insofern, so meint MacAloon, geht auch Max und Mary Gluckmanns These, wonach die meisten Zeremonien und Rituale auch Spektakel seien, in die Irre (Gluckmann 1977: 227). Mac Aloon bringt den wesenhaften Unterschied zwischen Ritual und Spektakel auf den Punkt, wenn er sagt: „Ritual is a duty, spectacle a choice“ (Mac Aloon 1984:243).
Abb.4: Jungen spielen Turmspringen. Bunlap im April 2002. (Photo: Thorolf Lipp)
Eine Veranstaltung kann dann als Spektakel begriffen werden, wenn sie – nebst den Zuschauern – über einige besondere Eigenschaften verfügt. Zunächst zeichnet sich das Geschehen durch seine bloße Größe aus: Spektakeln liegt, so könnte man sagen, die Maxime zugrunde „je größer, desto besser“. Das Spektakel stellt generell eine sehr dynamische Form der kulturellen Performanz dar, es beinhaltet eine lebhafte „action“ in Form von Bewegungen und Wandlungen der Akteure. Durch diese „action“, gepaart mit der schieren Größe und Dramatik des Dargebotenen, wird der Zuschauer in ein spezielles Erstaunen versetzt, was das Spektakel mehr als alle anderen Formen der kulturellen Performanz auszeichnet.27 Das Tun der Akteure stellt das Zentrum des Spektakels dar, die Zuschauer befinden sich an der Peripherie, 26 Bei einer Besichtigung des Domes zu Hildesheim stieß ich am Eingang zur Krypta auf den Hinweis: „Zugang nur für Betende. Besichtigungen unstatthaft“. Obwohl Krypta und Dom menschenleer waren, ich also keine Betenden stören konnte, wagte ich es nicht, das Gewölbe zu betreten. Die mahnende Bitte um Respekt vor der „außeralltäglichen“, „numinosen“ Sphäre des dem Ritual gewidmeten Raumes verfehlte bei mir, obwohl ich mich als Agnostiker bezeichnen würde, seine Wirkung nicht. Das Ritual, ja sogar der bloße Raum seines Geschehens, soviel wird hier sehr deutlich, duldet keine Zuschauer. 27 Hier findet sich übrigens eine grundsätzliche Übereinkunft zwischen MacAloons Begriff vom Spektakel und dem Urheber der Theorie von der modernen Gesellschaft als der „Gesellschaft des Spektakels“ Guy Debord (1996), der das Überhandnehmen einer Ideologie des „Immer mehr“, der er überaus skeptisch gegenübersteht, als konstituierend betrachtet.
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allerdings kann, ja soll sich der besondere „Funke“ der Performanz von den Akteuren auf die Zuschauer übertragen.28 Anders als beim Ritual oder Spiel, werden beim Spektakel keine besonderen Kenntnisse von den Zuschauern erwartet, das Spektakel soll lediglich ein unmittelbares Gefühl von Spannung und Erstaunen evozieren.29 Die Teilnahme am Spektakel ist für den Zuschauer gänzlich freiwillig. Mit den Worten von John MacAloon könnte man seine Rolle mit den Worten beschreiben: „All you have to do is to watch“ (MacAloon 1984:269). Aber auch den Akteuren ist völlig freigestellt, ob sie mitmachen wollen oder nicht. Natürlich können auch Rituale visuell sehr beeindruckend sein und große Aufmerksamkeit erregen, es ist aber etwas ganz anderes, ob eine Veranstaltung in erster Linie für den Zuschauer ausgerichtet wird (ein visuell spektakuläres Ritual wäre dann möglicherweise zum Spektakel degeneriert), oder aber, ob Zuschauer eine eher zufällige Erscheinung bleiben, während die Ritualteilnehmer die Mehrheit der Anwesenden darstellen. Ein weiteres Charakteristikum des Spektakels ist, dass dieses in der Regel weder an bestimmte Zeiten gebunden ist, noch notwendigerweise regelmäßig veranstaltet wird. Dieser Umstand korrespondiert auch mit der Beobachtung, dass die sonst in einer Gesellschaft gültigen zeitlichen Abläufe und grundlegenden Vorstellungen von Harmonie, Rhythmus und Balance im Spektakel, damit es seine besondere Wirkung überhaupt entfalten kann, eher außer Kraft gesetzt als bestätigt werden.30 In modernen Gesellschaften stellt das Spektakel zweifellos eine bedeutende und häufige Form der kulturellen Performanz dar, was Victor Turner zu der Aussage veranlasste, das Spektakel müsse als geradezu typisch für liminoide Phänomene in modernen Gesellschaften betrachtet werden. Der Versuch hingegen, den Begriff auf ein Phänomen in einer urproduktiven Gesellschaft anzuwenden, mag eher überraschen. Betrachtet man jedoch das soeben Gesagte, werden unmissverständlich wesentliche Übereinstimmungen zum Turmspringen deutlich: Wir haben gesehen, dass eine große Anzahl Zuschauer nicht „zufälliger“ Nebeneffekt, sondern von vornherein angelegter, für das Gelingen notwendiger Bestandteil der Veranstaltung ist. Ohne Zuschauer, die tatsächlich in keiner Weise an der Vorbereitung oder Durchführung beteiligt sind, über keinerlei Spezialwissen verfügen müssen und auch sonst in jeder Hinsicht vollkommen unbeteiligt bleiben können, ist das Turmspringen nicht denkbar. Zuschauer können Einheimische, Touristen oder TV-Teams sein, im Grunde spielt es aber praktisch keine Rolle wer zusieht, entscheidend für die Durchführung des Turmspringens ist allein, dass Zuschauer anwesend sind.31 Auch die Art und Weise der Performanz des gol deckt sich mit MacAloons Beschreibung des Spektakels. Eine dynamischere, beeindruckendere und staunenswertere Veranstaltung als das Turmspringen ist kaum denkbar, schon gar 28 Im Gegensatz dazu, meint MacAloon, sind bestimmte andere Formen der kulturellen Performanz zwar visuell spektakulär, stellen aber kein Spektakel im eigentlichen Sinne dar, weil ihnen die gerade genannten Elemente fehlen. Zu denken ist hierbei etwa an Cristos Verpackungskunst. 29 An sich kommt das Ritual ohne Zuschauer aus, allerdings können Zuschauer zu Teilnehmern werden (eben wenn sie es können), in dem sie sich ins Ritual integrieren. Wenn sich also z.B. der Kunstgenuss suchende Kirchentourist entschließt, an der Messe teilzunehmen, kann er das nur, wenn er die Regeln kennt, die dort zur Anwendung kommen. 30 Hierin ist vielleicht der entscheidende Unterschied zum Fest, Festival oder Volksfest zu sehen, das der bestehenden Ordnung in viel größerem Umfang direkt verpflichtet ist. 31 Allerdings muss man den Sonderfall berücksichtigen, dass die Sa Frauen, obwohl viele von ihnen selbst als Tänzer zu den Akteuren zählen, in gewisser Hinsicht gleichzeitig die wichtigste Zuschauergruppe darstellen.
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nicht, wenn man die geringe Anzahl der in den Sa Dörfern zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte und den verhältnismäßig niedrigen Stand der Technologie ins Verhältnis zu dem geradezu berauschenden, performativen Ergebnis setzt.
7. Schluss Die Analyse des Turmspringens hat ergeben, dass es sich dabei nicht um ein „Ritual“, schon gar nicht um ein „Initiationsritual“, sondern um ein „riskantes Spektakel“ handelt. Es unterscheidet sich sowohl auf der ästhetisch-performativen als auch auf der funktionalen Ebene deutlich von dem hier zu Vergleichszwecken beschriebenen Ensemble an Initiationsritualen der Sa. Was bedeutet dieser Befund in Hinblick auf die hier zur Überprüfung herangezogene theoretische Matrix? Victor Turner hatte mit seiner liminal – limonoid Dichotomie in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts noch eine wesenhafte Verschiedenheit moderner und urproduktiver Gesellschaften behauptet. Diese Überlegung ist jüngst jedoch vielfach in die Kritik geraten. Die amerikanische Soziologin Sharon Rowe hat mit Erfolg gezeigt, dass der moderne Sport, von Turner als liminoides Phänomen bezeichnet, viele liminale Züge aufweist. Insofern, so Rowe, ist die Dichotomie zwischen liminalen und liminoiden Phänomenen fragwürdig, wenn nicht sogar überflüssig (Rowe 1998). Ich habe in diesem Beitrag gezeigt, dass das Turmspringen, obwohl es in einer urproduktiven Gesellschaft stattfindet, viele Züge aufweist, die Turner als „liminoid“ bezeichnet hätte. Mit Rowe meine ich daher, dass der Begriff der Liminoidität letztlich nicht greift. Eine Trennung zwischen liminalen und liminoiden Phänomenen lässt sich nicht analog zur Trennung in „moderne“ und „vormoderne“ (urproduktive) Gesellschaften vollziehen. Allerdings würde ich eben gerade nicht soweit gehen, den modernen Sport als „Ritual“ zu bezeichnen. Vielmehr meine ich mit John MacAloon, dass „Spiele keine Rituale und Rituale keine Spiele“ sind und dass ein „a little bit of ritual“, wie es Turners Modell des „Liminoiden“ vorsieht, nicht gedacht werden kann. Entweder betrachtet man ein Phänomen als Spiel und hält es also für eine spezifische Art der kulturellen Performanz, der bestimmte Elemente des Rituals fehlen, etwa die verpflichtende Teilnahme oder die funktionelle Ebene für den Zuschauer, oder man klassifiziert es als Ritual, das dann aber doch letztlich als Handlungsform des Symbols zu begreifen ist (vgl. MacAloon 2006). Der Befund, das Turmspringen solle nicht als „Ritual“, sondern als „Spektakel“ bezeichnet werden, mag überraschen. Er bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass das „Spektakel“, welches oft als eine vorherrschende Form der Theatralisierung in modernen Gesellschaften betrachtet wird (vgl.f.a. Debord 1996; Kellner 2003), auch in einer urproduktiven Gesellschaft angetroffen werden kann. Bei der Frage nach Theatralisierungs- und Enttheatralisierungstendenzen in der Gegenwartsgesellschaft muss daher berücksichtigt werden, dass man es hier offenbar mit einer universellen Form des sozialen Dramas zu tun hat. Eine dramatologische Kulturtheorie trägt dieser anthropologischen Dimension Rechnung, ohne die notwendigen ethnologischen Differenzierungen außer Acht zu lassen. Sie erscheint daher als ein brauchbares und universelles Modell für die Untersuchung von Kultur generell.
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Dennoch bleiben auch Fragen offen, denn wenn ich das gol hier als riskantes Spektakel bezeichne, so wird man dies mit der notwendigen Skepsis bzw. als typisches Modell betrachten müssen. Auch wenn MacAloon meint, „Games are not rituals and rituals are not games“. (MacAloon 2006), darf man nicht verkennen, dass das Turmspringen einerseits mit der ihm untrennbar verbundenen Dimension des Risikos für den Einzelnen (nicht jedoch für die Gemeinschaft!) eine liminale Erfahrung darstellt, und dass ihm andererseits bestimmte symbolische Bedeutungen deutlich erkennbar zugrunde liegen.32 Man könnte daher die Vermutung äußern, dass das Turmspringen dem Ritual einstmals nähergestanden hat als dies heute noch der Fall ist. Die Frage, ob wir es beim Spektakel möglicherweise „immer“ mit einem irgendwie „degenerierten“ Ritual zu tun haben, also einer Veranstaltung, die sich von ihrem „eigentlichen Geschlecht“, ihrer eigentlichen „Bestimmung“ entfernt hat (lat: de-gens) oder nicht, kann hier nicht abschließend beantwortet werden, sondern verlangt nach einer anderen, ausführlicheren Untersuchung.
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32 Ich kann an dieser Stelle nicht genauer auf die Symbologie der Veranstaltung eingehen und muß dazu auf die entsprechende Untersuchung verweisen (Lipp 2007).
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Rituelle und symbolische Inszenierung von Zugehörigkeit. Das sorbische Osterreiten in der Oberlausitz Marén Schorch
Prozession aus Ostro beim Verlassen des Dorfes. Foto: Matthias Bulang, Serbske Nowiny, 2006.
Religionssoziologische Studien der letzten Jahre (etwa Pollack 2003) bescheinigen den ostdeutschen Bundesländern zumeist einen deutlich niedrigeren Grad an Religiosität und Kirchlichkeit als Westdeutschland. Im Vergleich mit südlichen Bundesländern wie Bayern erscheint Ostdeutschland geradezu areligiös. Wirklich der ganze Osten? Alljährlich am Ostersonntag bietet sich Besuchern der sächsischen Oberlausitz ein anderes Bild: An diesem höchsten christlichen Festtag des Kirchenjahres versammeln sich vormittags neun Prozessionen mit insgesamt knapp 1.700 festlich gekleideten Reitern1 in ihren Kirchen, um den Segen zu erbitten und die Osterbotschaft, die Nachricht der Auferstehung Jesu Christi von den Toten, durch das Land und in ihre Partnergemeinde zu tragen. Die mit elegantem Gehrock, Zylinder und weißen Handschuhen ausgestatteten Reiter sitzen auf prächtig geschmückten Pferden. Sie führen auf ihrer Prozession Kirchenfahnen, das Kreuz und die Statue des Auferstandenen mit sich, welche ihnen zuvor vom Pfarrer übergeben wurden. Dabei reiten sie zunächst unter vollem Glockengeläut dreimal um die Pfarrkirche der
1 Nach Angaben der betreffenden Pfarrämter waren es im Jahr 2007 1.697 Reiter, ein Jahr zuvor 1.722 Teilnehmer.
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Heimatgemeinde, beten auf dem Friedhof für die Verstorbenen und reiten anschließend in das benachbarte Kirchspiel.2 Auf ihrem Weg singen die Reiter sorbische Kirchenlieder und beten gemeinsam. In der Partnergemeinde werden sie von den Familien der Reiter dieses Ortes oder anderen Mitgliedern der Kirchgemeinde empfangen, bewirtet und treten nachmittags den Rückweg an. Bemerkenswert ist, dass die Prozession, die streng auf Funktion und Würde eines ganztägigen Gottesdienstes ausgerichtet ist, nicht von der katholischen Kirche, sondern ausschließlich von Laien organisiert wird. Was hat es nun mit diesem religiösen Ritual der Reiterprozession (welche nicht mit dem im süddeutschen Raum bekannten „Blutritt“ nach Christi Himmelfahrt verwechselt werden sollte), im eher für seine atheistische bzw. evangelische Prägung bekannten Sachsen auf sich? Und was verbirgt sich hinter der „Oberlausitz“? Bei genauerer Betrachtung des östlichen Sachsens fällt auf, dass die mit der Osterweiterung der Europäischen Union weitgehend invisibilisierte ehemalige Grenze zwischen West und Ost nicht die vermeintliche Trennschärfe besaß, welche man ihr allgemein attribuiert. Eine Verbindung zwischen West- bzw. Mitteleuropa und dem osteuropäisch-slawischen Kulturraum, gleichsam als Türchen, wird in der öffentlichen Debatte um kulturelle Vielfalt und Osterweiterung häufig übersehen: die sorbische (und damit westslawische) Minderheit im südöstlichen Sachsen und Brandenburg. Die zweisprachige öffentliche Beschilderung in diesem Gebiet, der Lausitz, ist für Ortsfremde nur das oftmals erste und offensichtlichste Symbol des bikulturellen Miteinanders zwischen westslawischer Minderheit und deutscher Bevölkerungsmehrheit. Im folgenden Beitrag soll die eingangs kurz geschilderte religiöse Brauchform der Sorben, das Osterreiten (sorbisch: Křižerjo), näher beleuchtet werden.3 Das für das Jahr 1541 erstmals dokumentierte und in zumindest zwei Orten nachweislich seither ununterbrochen durchgeführte Ritual des Osterreitens erweist sich in mehrfacher Hinsicht als analytisch reizvoll: Zum einen ist es in seiner Funktion als rituelles Bekenntnis religiös-ethnischer Zugehörigkeit sorbischer Katholiken in der Oberlausitz zu sehen (auf die Verzahnung der beiden Identitätsfacetten sowie den Charakter einer zweifachen Enklave wird genauer einzugehen sein). Zum anderen könnte es als traditionaler Anker in der immer stärker funktional ausdifferenzierten Moderne interpretiert werden. Aufgrund variierender Rahmenbedingungen war die Geschichte der einzelnen Prozessionen trotz der generellen Kontinuität nicht frei von Brüchen, temporären Unterbrechungen in einigen Orten und abnehmender Teilnehmerzahl. Dennoch ist seit den 1980er und verstärkt den 1990er Jahren eine Renaissance des Brauches, besonders in Bezug auf wieder zunehmende Teilnehmerzahlen und vermehrt jüngere Reiter zu beobachten. Wird man bei dieser Entwicklung Zeuge einer Reethnisierung, einer Rückbesinnung auf ethnische Zugehörigkeit angesichts der Kontingenz und Komplexität der Moderne? Womit sich natürlich ganz generell die Frage nach den Trägerschichten dieses Rituals, 2 Aus der Anzahl der Prozessionen (neun) und der grundsätzlichen Reziprozität der Besuche der Partnergemeinden ergibt sich für den aufmerksamen Leser freilich eine Diskrepanz. Eine Prozession (die der Bautzener Sorben) hat keine Partnergemeinde, worauf später noch eingegangen werden wird. 3 Die vorliegende Analyse stützt sich dabei auch auf qualitative Interviews mit Osterreitern der verschiedenen Prozessionen, Expertengespräche mit Organisatoren und Pfarrern, Mitarbeitern des Sorbischen Instituts e.V. (Serbski institut z.t.) und des Sorbischen Museums in Bautzen. Allen Gesprächspartnern sowie Elka Tschernokoshewa und Tobias Bulang sei für ihre Unterstützung und die konstruktiven Diskussionen hiermit sehr herzlich gedankt.
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der Motivation der Teilnehmer und der Bedeutung des Brauches als öffentliches Bekenntnis religiös-ethnischer Zugehörigkeit stellt. Ein kurzer ethnografischer Abriss über die Sorben4 sei dabei als Auftakt vorangestellt, um im zweiten Kapitel eine detaillierte (oder mit Clifford Geertz: „dichte“) Beschreibung des Brauches und anschließend eine Analyse des Osterreitens als religiöses Ritual (und Event?) innerhalb eines spezifischen sorbisch-katholischen Milieus vornehmen zu können.
1. „Serbski Lud“ – Volk der Sorben! Wer sind nun eigentlich die Sorben? Die Eigenbezeichnung „Serbja“ bzw. „Serby“ mag Assoziationen mit der südslawischen Gruppe der Serben auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien erwecken. Indes zählen die Sorben neben den Dänen, Friesen, Sinti und Roma zu den offiziell anerkannten und gesetzlich geschützten autochthonen Minderheiten5 in Deutschland. Von Minderheitengruppen wie türkischen Migranten oder Aussiedlern unterscheiden sie sich dahingehend, dass sie nicht aus einem anderen Staat nach Deutschland eingewandert, sondern „angestammte“ Einwohner sind, welche seit Beginn des 7. Jahrhunderts in dem heutigen Gebiet leben. Als staatenloses Volk6 können sie nicht auf ein Ursprungsland, das Gebiet eines heutigen Nationalstaates (wie die Dänen) zurückgreifen und leben ausschließlich in ihrem angestammten, im Laufe der Jahrhunderte immer weiter eingeschränkten Siedlungsgebiet (vgl. Karte 1).7 Heute bildet dies kein zusammen hängendes Territorium mehr; vielmehr leben die Sorben auf die beiden Bundesländer Sachsen (mit der Oberlausitz und deren Zentrum Bautzen) sowie Brandenburg (mit der Niederlausitz um Cottbus) verteilt.8 Gerade in der Niederlausitz findet sich auch der Gebrauch des Begriffes „Wenden“ als Synonym für 4 Eine umfangreichere Einführung zur sorbischen Minderheit findet sich in: Elle 1995, eine Abhandlung sorbischer Geschichte bei Šołta (Hrsg.) 1974-1979. Die im Kontext des Osterreitens relevanten „historischen Rahmungen“ werden in Kapitel 2.2 skizziert. Da sich der hier vorgestellte Brauch des Osterreitens lokal auf das Gebiet der katholischen Dörfer der Oberlausitz und Bautzen (also das östliche Sachsen) beschränkt, erlaubt sich der vorliegende Aufsatz, diese Eingrenzung zu übernehmen und die Niederlausitz auszublenden (auch wenn seit 1998 vereinzelt Versuche unternommen werden, den Brauch dort zu etablieren). Vgl. zur Situation der Niedersorben in Brandenburg, besonders vor dem Hintergrund des Einflusses der Braunkohleindustrie: Tschernokoshewa/Becker 1997. 5 „autochthon“ (griech.-lat.) im Sinne von „alteingesessen, eingeboren“. Konkrete Umsetzung findet dieser Schutz auf Landesebene in den Verfassungen des Freistaates Sachsen bzw. des Landes Brandenburg (1992) sowie auf Bundesebene im „Gesetz zu dem Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz nationaler Minderheiten“ (1997). Vgl. hierzu Pastor 1997. 6 Während der Nationalstaatenbildung im 19. Jahrhundert und der Neuordnung Europas nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert war es den Sorben nicht gelungen, einen eigenen Staat zu etablieren oder Anschluss an die Tschechoslowakei zu erwirken, vgl. Šołta (Hrsg.) 1974-1979 (Bd. 2-4). Eingedenk des Konzeptes der Staatsnation (Meinecke) erscheint es sinnvoller, die Sorben nicht als nationale, sondern vielmehr als ethnische Minderheit zu bezeichnen. Zur Differenz zwischen nationaler und ethnischer Minderheit vgl. Polm 1995: 340. 7 Dies natürlich mit der Einschränkung, dass auch Sorben außerhalb der Lausitz leben (z.B. während der Wirtschaftskrisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts nach Australien und Texas auswanderten) oder auch heute ihre Ausbildungs- oder Arbeitsorte jenseits der Lausitz wählen (bzw. suchen müssen). 8 Prinzipiell besteht seit 1999 eine gesetzliche Festlegung des sorbischen Siedlungsgebietes (vgl. Elle 1999: 7790). Dennoch erkennen einige Gemeinden ungern die Fremdzuschreibung als sorbische Gemeinde an, weil diese entsprechend der Minderheitenförderung mit höheren finanziellen Ausgaben verbunden ist.
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die Sorben.9 Lange wurden die Namen „Sorben“ und „Wenden“ parallel benutzt, nach 1945 setzte sich aber schließlich in der Oberlausitz die Bezeichnung „Sorben“ durch, während sich die Niedersorben heute verstärkt als „Sorben/Wenden“ (in deutscher Sprache) bezeichnen, um sich von den Obersorben abzugrenzen.10 Verlässliche Angaben über die aktuelle Zahl der Sorben sind schwer zu eruieren. Da das Bekenntnis zur Minderheit frei Karte 1: Quelle: Sorbisches Museum Bautzen. Die Sorben. 1989. ist11 und es deshalb keine statistische Erfassung der sorbischen Zugehörigkeit gibt, ist man weitgehend auf Schätzungen angewiesen. Vielfach und seit Jahren unverändert zitiert wird die Zahl von insgesamt 60.000 Sorben (davon ca. 40.000 in der Oberlausitz und 20.000 in der Niederlausitz), wobei fraglich ist, inwieweit diese eine verlässliche Bezugsgröße darstellt.12 Zur Orientierung mag diese hier zunächst genügen. Die sorbische Sprache ist eng mit dem Tschechischen, Slowakischen und Polnischen verwandt und gehört damit zur Gruppe der westslawischen Sprachen. Auch der Sprachraum ist heute in das Obersorbische und Niedersorbische (mit einigen Übergangsdialekten) getrennt. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts kann man eine fast durchgängige Zweisprachigkeit bei den Sorben feststellen, d.h. selbst wenn innerhalb der Familien ausschließlich Sorbisch gesprochen wurde (und zum Teil noch immer wird), beherrschen alle Sorben ebenso die 9 Dies resultiert aus differenten ersten Fremdbezeichnungen für dieselben westslawischen Stämme: Die Bezeichnung „Sorben“ geht auf die fränkische Chronik des Fredegar von 631 zurück (Ersterwähnung der Sorben), der sie als „surbi“ bezeichnete (vgl. Brankaèk/Mìtšk 1977: 16), während die Bezeichnung „Wenden“ ihren Ursprung in dem Namen „Venedi“ (Veneti) hat, mit welchem römische Geschichtsschreiber jene slawischen Stämme bezeichneten, die in den ersten Jahrhunderten nach Christus zwischen den Karpaten und der Ostsee lebten. 10 Wilking und Kroll vertreten die Ansicht, dass der Begriff „Sorbe“ den Niedersorben/Wenden „als kommunistische Erfindung gilt“ und aus diesem Grund abgelehnt wird (vgl. Wilking/Kroll 1993: 11). Die interne Abgrenzung zwischen den beiden Lausitzen basiert nicht nur auf historisch gewachsenen Differenzen (z.B. in religiöser Hinsicht), sondern auch auf der von vielen Niedersorben wahrgenommenen Dominanz der Oberlausitz (welche durch die Konzentration der wichtigsten sorbischen Institutionen in Bautzen nicht unbedingt einer Grundlage entbehrt). 11 Rechtlich verankert u. a. im Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR (1990) und dem „Rahmenübereinkommen des Europarates zum Schutz Nationaler Minderheiten“ von 1995/1999. 12 Vgl. zur Bedeutung dieser Zahlenangabe als Referenzpunkt, Mysterium und Diskursgenerator hinsichtlich der Definitionskriterien ethnischer Zugehörigkeit („Wer ist eigentlich Sorbe/Sorbin?“) in der deutschsprachigen Presse: Tschernokoshewa 2000a: 34-40.
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deutsche Sprache. Infolge der Dominanz des Deutschen im Alltag, in Politik und Medien ist das Sorbische als Primärsprache hingegen gefährdet. Da Sprache aber als zentraler Baustein ethnischer Identität anzusehen ist, konzentriert sich die Minderheitenförderung (getragen vorrangig durch die „Stiftung für das sorbische Volk“13) auf sprachliche Früherziehung in Kindergärten, das sorbische Schulwesen14, die Sicherung wissenschaftlicher Ausbildung und Erforschung sorbischer Sprache und Kultur15 sowie die sorbische Medienlandschaft16. Auch über die Zahl der aktiv Sorbisch Sprechenden, welche nicht deckungsgleich mit der ebenfalls nicht eindeutig bestimmbaren Anzahl der sorbischen Bevölkerung ist, gibt es sehr widersprüchliche und kaum statistisch fundierte Angaben. Erhalten konnte sich das Sorbische als Primärsprache in Familie und Schule, in Geschäften und als Liturgiesprache in der Kirche vor allem in den ländlichen Gebieten der Oberlausitz, und hier besonders in den katholischen Dörfern, welchen wir uns nun zur genaueren Analyse des Sprache und Religion verknüpfenden Rituals des Osterreitens mit einigen Betrachtungen zum „religiösen Feld“ nähern wollen.
2. „Ein ganztägiger Gottesdienst“ 17 – Osterreiten in der Oberlausitz 2.1 Religiöse Botschaft und Bekenntnis einer Laienbewegung Für die Sorben in der Lausitz stellte die Reformation eine entscheidende Zäsur dar, welche sich auch auf die Praxis bestimmter religiöser Riten (wie das Osterreiten) auswirkte. Entsprechend dem Grundsatz cuius regio, eius religio (lat., „wessen das Land, dessen die Religion“) nahmen nach der Reformation die Niederlausitz und ein Großteil der Oberlausitz den evangelischen Glauben an. In einer Enklave von einigen sorbischen Gemeinden in der Oberlausitz konnte die katholische Kirche aber – nicht zuletzt durch die politische Sonderstellung der sächsischen Lausitz18 – ihren
13 Seit 1998 rechtsfähige Stiftung, finanziert aus Mitteln des Bundes sowie der beiden Länder Sachsen und Brandenburg, kämpft sie gegenwärtig v. a. gegen die Reduzierung der Zuwendung und die Schließung von Schulen. 14 Konkret gibt es in der Oberlausitz zwei ausschließlich sorbischsprachige und vier zweisprachige Grund- bzw. Mittelschulen, 23 Grund- und 4 Mittelschulen mit sorbischem Sprachunterricht (Sorbisch als Fremdsprache) und ein sorbisches Gymnasium (in Bautzen). 15 Am „Institut für Sorabistik“ („Institut za sorabistiku“) der Universität Leipzig und dem „Sorbischen Institut e.V.“ („Serbski institut z.t.“) in Bautzen. 16 Hierbei wären der Domowina Verlag, die tägliche Abendzeitung „Serbske Nowiny“ und die katholische Wochenzeitung „Katolski Posoł“ zu erwähnen. Des Weiteren gibt es täglich ein dreistündiges sorbisches Hörfunk- und ein kurzes wöchentliches Fernsehprogramm. Von der Eigeninitiative sorbischer Jugendlicher werden außerdem ein spezielles Jugendprogramm („Radio Satkula“) und die sorbische Internetplattform „Internecy“ (http://www. internecy.de), eine Art virtuelle Gemeinde und Kommunikationsplattform, getragen. 17 Zitat aus dem Interview mit dem Küster der sorbischen Liebfrauenkirche und Osterreiter aus Bautzen, 2007: „Das ist ja keine Folklore, das ist rein religiös, (…) faktisch ein ganztägiger Gottesdienst. In der Stadt oder in den Dörfern wird gesungen, wenn wir auf der Flur sind, dann wird gebetet.“ 18 Die Sonderstellung der Oberlausitz begründete sich etwa darin, dass sie zwar bis 1635 der Oberhoheit der böhmischen Krone unterstanden hatte, aber nie Teil Böhmens geworden war und so als relativ selbständiges territoriales Gebilde angesehen werden konnte. Auch hatte es in der Oberlausitz keinen eigenen Landesherren gegeben. Selbst die adlige Oberschicht nahm kaum eine gewichtige politische Rolle ein, da sie sich der Führungsrolle der sechs königlichen Städte (Lausitzer „Sechsstädtebund“, 1346 gegründet) beugen musste (vgl. Blaschke 1991:
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Einfluss behaupten. Man geht heute von ungefähr 15.000 katholischen Sorben aus, welche in neun Pfarrgemeinden leben und sich gleichsam in einer doppelten Minderheitensituation befinden: Als ethnische Minderheit in einem weitgehend deutschen Umfeld und als religiöse Minderheit (Katholiken) in einem eher protestantisch bzw. atheistisch geprägten Umfeld. Rückhalt erfahren die katholischen Sorben traditionell durch das Domstift zu Bautzen19 und das 1248 gegründete Zisterzienserinnenkloster St. Marienstern in PanschwitzKuckau, welches sich auch der Reformation und den Karte 2: Quelle: Frenzel 2005: 73. totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts erfolgreich widersetzt hatte. Die angesprochenen Pfarrgemeinden im Landkreis Bautzen (mit den Dörfern Crostwitz, Radibor, Storcha, Ostro, Nebelschütz, Panschwitz-Kuckau, Wittichenau und Ralbitz) sowie die Gemeinde des Simultandomes St. Petri Bautzen stellen die Reiter der Osterprozession. Über die Jahrhunderte bildeten sich vier Partnerschaften heraus (vgl. Karte 2): Ralbitz – Wittichenau, Crostwitz – Panschwitz, Radibor – Storcha sowie Nebelschütz – Ostro. Die Bautzener Prozession stellt hierbei eine Ausnahme dar, da sie im strengen Sinne keine Partnergemeinde hat, traditionell zwar nach Radibor reitet, aber keinen Gegenbesuch von dort erhält.20
302-306). Diese außergewöhnliche Autonomie ging erst mit der administrativen Eingliederung der Oberlausitz in Sachsen (1831) verloren, infolgedessen es für dieses Gebiet erstmals zentrale Leitlinien und hoheitliche Regelungen gab, die auch für die Sorben verbindlich waren (vgl. Schmidt 1977: 53-83). 19 Mit dem Dom St. Petri, welcher seit 1543 als Simultaneum mit katholischem und evangelischem Kirchenteil sozusagen steinernes Symbol für den religiösen Dualismus in der Oberlausitz ist. 20 Die Frage, weshalb Bautzen keine Partnergemeinde hat, ist aufgrund der dürftigen Quellenlage nicht befriedigend zu beantworten. Möglicherweise gab es vor dem Bruch Ende des 18. Jahrhunderts einen Partner, vielleicht wurde der Brauch in der Stadt aber auch erst vergleichsweise spät etabliert und es ließen sich aufgrund dessen keine geeigneten Dörfer finden, in denen eine entsprechende Anzahl von katholischen Sorben zur Prozession bereit gewesen wäre. Gesichert ist hingegen, dass in den Jahren, in welchen die Stadt keine eigene Prozession stellte (zwischen dem Ende des 18. Jahrhunderts und 1928 sowie zwischen 1970 und 1993), Bautzener Sorben in den Zügen umliegender Gemeinden vertreten gewesen waren. Seit der Renaissance des Brauches 1993 verzeichnet die städtische Prozession aber wieder kontinuierlich ansteigende Teilnehmerzahlen (vgl. unten).
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Von diesen eher allgemein-rahmenden Informationen zur eigentlichen Brauchbeschreibung: Die Vorbereitungen zum Osterreiten beginnen bereits weit vor dem Osterwochenende: Erste Treffen der zentralen Akteure, der Reiter, Kantoren oder Küster, finden mindestens sechs Wochen zuvor statt. Eingeladen wird über die jeweilige Kirchgemeinde. Generell gilt, dass es zwar allgemeine, also für alle Prozessionen verbindliche (Verhaltens)Regelungen21 gibt, die einzelnen Gemeinden aber autonom in ihren Zusammenkünften die genaue Umsetzung, die Auswahl der Lieder und Gebete, etc. aushandeln.22 Gegenstand der ersten Treffen sind neben diesen Absprachen die Aufstellung der Teilnehmer, Koordination der Prozession, die Sicherung der Ausrüstung sowie die keineswegs unproblematische Organisation der Pferde. In manchen Orten werden mit den Neulingen auch noch einmal die Lieder eingeübt. Eine Woche Reiter mit goldenem Kranz im Kloster St. Marienstern, Panvor Ostersonntag findet dann das letzte schwitz-Kuckau. Foto: Matthias Bulang, Serbske Nowiny, 2006. Treffen statt, welches für alle Teilnehmer obligatorisch ist. Laien (Kantoren, Küster und erfahrene Reiter), nicht Vertreter der Kirche, wirken entscheidend auf die Durchführung des Rituals ein. Sie sorgen auch während der gesamten Prozession für einen geordneten Ablauf, geben beim Singen und Beten im wahrsten Sinne den Ton an und bieten den weniger Erfahrenen Orientierung und Halt (gerade in kritischen, keineswegs ungefährlichen Situationen, etwa wenn ein Pferd durch die ungewohnte paarweise Prozession, vor Zuschauern oder unvorhergesehenen Hindernissen scheut). 21 Bei Salowski findet sich eine Aufstellung zwölf solcher „Empfehlungen für die sorbischen Osterreiter“, welche 1984 zusammengetragen wurden: „1. Das Osterreiten – Kreuzreiten – ist ein sorbischer katholischer Brauch. 2. Es bedeutet eine Ehre für jeden Osterreiter, sich aktiv am kirchlichen Leben zu beteiligen. 3. Das Osterreiten ist eine kirchliche Prozession. Deshalb wird erwartet, daß jeder Reiter mitsingt und mitbetet. 4. Alles, was den festlichen Charakter der Prozession stört (Alkohol, Tütenwerfen, u.s.w.) ist zu unterlassen. 5. Es ist von jedem Reiter eine würdige Kleidung erwünscht (Zylinder, Frack, Stiefel). 6. Am Osterreiten darf sich beteiligen, wer das 14. Lebensjahr erreicht hat. 7. Alte Sitten des Osterreitens sind zu pflegen (z.B. Aussegnung aus dem Hof mit Weihwasser, das abendliche gemeinsame Gebet, Willkommen heißen daheim). 8. Kein Osterreiter spannt einem anderen das Pferd aus. 9. Was die Höhe des Leihpreises angeht, so soll dies auf den Reiterversammlungen der einzelnen Gemeinden ausgemacht werden. 10. Jeder Osterreiter hat nach Möglichkeit an den Reiterversammlungen teilzunehmen. 11. Die Pfarrgeistlichen werden gebeten, die Osterreiterprozession zu unterstützen. 12. Es gehört zur Ehre eines jeden Osterreiters, daß er sich am Dankgottesdienst in Rosenthal beteiligt.“ (Salowski 1992: 54f.). 22 An dieser Stelle werden die universellen Charakteristika des Brauches beschrieben. In den einzelnen Orten finden sich auch Variationen, auf welche hier aber nur am Rande eingegangen werden kann, vgl. Frenzel 2005.
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Die Rahmenbedingungen und Anforderungen an die Reiter (sowohl finanzieller als auch physischer Art) sind keinesfalls zu unterschätzen und veränderten sich nachhaltig vor dem Hintergrund sozioökonomischer Transformationen, vor allem der Landwirtschaft: Rekrutierte sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Trägerschicht des Osterreitens vorrangig aus Bauern und ihren Söhnen (mit eigenen Pferden), früher noch Gutsbesitzern und deren Knechten, so ist seither die Zusammensetzung der Teilnehmer schichtübergreifend: neben (wenigen) Bauern finden sich Akademiker, Handwerker, Arbeiter, Studenten, etc. Die meisten der Reiter besitzen inzwischen keine eigenen Pferde mehr, sondern mieten diese aus dem gesamten Bundesgebiet für das Osterwochenende oder schon einige Tage vorher zur Eingewöhnung an (was selbstredend entsprechende finanzielle Ressourcen erfordert). Viele Teilnehmer sind folglich auch nicht die physischen Strapazen gewohnt, welche das mehrstündige Reiten23 bei durchaus wechselhaften, mitunter recht unfreundlichen Wetterverhältnissen und das gleichzeitige Singen und Beten mit sich bringen. Nicht wenige mach(t)en ihre ersten Reiterfahrungen kurz vor Ostern. Trotz dieser scheinbar kaum verlockenden Anforderungen steigen die Teilnehmerzahlen seit den 1990er Jahren kontinuierlich an: von insgesamt 1021 (1986) bis zu 1697 Pferden (2007) (vgl. Salowski 1992: 61; Frenzel 2005 und aktuelle Angaben der Pfarrämter). Kostspielig sind indes nicht nur die Pferde, sondern auch deren Ausstattung, also das wertvolle Zaumzeug, welches oft aufwendig mit weißen Kaurischnecken24 oder feinen Metallbeschlägen verziert ist und auf denen häufig das Symbol des Osterlammes mit Fahne zu finden ist.25 Auch die Kleidung der Männer (schwarzer Gehrock, Stiefel, Zylinder, in einigen Orten weiße Handschuhe) gehört keineswegs zur Standardausstattung des zeitgenössischen Kleiderschrankes. Oftmals werden daher Teile der Ausrüstung und Kleidung, ähnlich wie die kostbaren Trachten der sorbischen Mädchen und Frauen, an die nächste Generation vererbt.26 Nimmt ein junger Sorbe erstmals am Osterreiten teil (das Minderalter liegt bei ca. 14 Jahren), ist er in diesem Jahr an einem kleinen grünen Kranz am Revers zu erkennen, während die Treue älterer Reiter nach 25 Jahren an einem silbernen, nach 50 Jahren an einem goldenen Kranz erkennbar ist. In einigen Prozessionen kann man zwei, mitunter gar drei Generationen einer Familie finden. Am Ostersamstag gibt es in vielen Gemeinden Auferstehungsmessen, zu welchen das Osterlicht als Zeichen der Auferstehung entzündet wird. Der Beginn der Prozessionen am Ostersonntag selbst variiert von Ort zu Ort; manche reiten direkt nach der Morgenmesse bereits 23 Die Routen der Prozessionen sind unterschiedlich lang (z.B. Wittichenau-Ralbitz: insgesamt ca. 30 km; Crostwitz- St. Marienstern: „nur“ 15 km), weshalb die Zeiten im Sattel variieren, im Durchschnitt aber pro Weg zwischen zwei und drei Stunden betragen. 24 Gerade die Verwendung von Kaurischnecken als Schmuckelemente regte vielfältige Mutmaßungen über deren ursprüngliche Herkunft an, zum Beispiel könnte man hiermit Vermutungen stützen, welche die Ursprünge des Osterreitens in Ausläufern der Kreuzzüge sehen (infolge derer die Schnecken als Zahlungsmittel in die Lausitz gelangt worden sein könnten). 25 Als Schmuck werden häufig auch Blüten eingeflochten oder aufwendig bestickte Schleifen. 26 Sollte ein Sorbe Interesse an der Teilnahme bekunden, aber weder auf eine derartige Ausrüstung noch auf die entsprechenden finanziellen Ressourcen zurück greifen können, findet er Unterstützung: „Die Sorben haben eine Tradition und zwar die Patenschaft. Da bekommen die Kinder jedes Jahr in der Fastenzeit ein Geschenk. Viele wünschen sich dann, wenn sie in die achte Klasse, in die Jugend kommen, etwas für die Ausrüstung zum Osterreiten. Und das ist natürlich für die Paten eine Ehrensache. Wir haben auch Leute gehabt, die sich das nicht leisten konnten, die arbeitslos sind, da haben wir alle was dazu gegeben. Die Solidarität bei solchen Sachen ist hier immer sehr groß.“ Vgl. Experteninterview mit dem Küster der sorbischen Liebfrauenkirche in Bautzen (Organisator und Reiter), 2007.
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um neun Uhr ab, andere erst mittags. Die Reiter haben vorab mit Unterstützung der Familienmitglieder die Pferde geputzt und geschmückt, noch einmal vor Verlassen des Hofes/Hauses miteinander gebetet und sich dann vor ihrer Heimatkirche gesammelt und aufgestellt. Dort nehmen sie mit dem Segen des Pfarrers Kirchenfahnen, Kreuz und Statue des Auferstandenen entgegen. Nach dem Umreiten der Pfarrkirche wird explizit der Friedhof einbezogen, um auch den Verstorbenen die Botschaft der Auferstehung zu verkünden. Die Osterreiter treten dann ihren Weg über das Land in ihre Partnergemeinde an, singen und beten unterwegs und verbreiten mit dem häufig erklingenden „Halleluja“ die Osterbotschaft. In ihrem Zielort werden sie vom dortigen Pfarrer empfangen und gesegnet, übergeben das Kreuz und die Statue für die Pause und erholen sich einige Zeit von den ersten Anstrengungen. Die Bewirtung der Reiter durch eigene Verwandte im Ort oder andere Mitglieder dieser Kirchgemeinde ist traditionell und beispielhaft für die Gastfreundschaft der Sorben. Selbst kleine Dörfer haben dann eine stattliche Anzahl von Reitern und Pferden zu betreuen. Die Paarung Wittichenau (475 Reiter) und Ralbitz (336 Reiter) ist freilich die größte Herausforderung: Dort haben einige Familien mitunter 40 Reiter und Pferde auf ihrem Hof zu versorgen.27 Am Nachmittag begeben sich die Reiter wieder auf einem anderen Weg als am Morgen28 zurück in ihre Heimatgemeinde und werden dort von ihren Familien und Mitgliedern der Kirchgemeinde empfangen. Sie umreiten nochmals die Pfarrkirche und schließen damit die Prozession ab. Am Abend gibt es in einigen Orten direkt Zusammenkünfte um den Tag „auszuwerten“, die meisten Prozessionen versammeln sich aber eine Woche nach Ostersonntag um im Detail die Umsetzung und auch Probleme zu besprechen. Die Selbstkontrolle bzw. -disziplinierung der Reiter hinsichtlich der Einhaltung der aufgestellten Verhaltensregeln ist unerlässlich, die soziale Kontrolle während der gesamten Prozession omnipräsent: Nicht nur, dass das Ritual keineswegs hinter verschlossenen Türen, sondern auf offener Flur stattfindet und die Reiter demzufolge während des gesamten Weges den Blicken von Zuschauern (Ortsfremden ebenso wie eigenen Freunden und Nachbarn) ausgesetzt sind; die Teilnehmer achten auch wechselseitig aufeinander.29 Als Handlungsmaxime der Osterreiter dient hierbei die ernsthafte und würdevolle Umsetzung der Verkündigung der Botschaft der Auferstehung. Jede Abweichung wird offen gelegt, zum Beispiel die zeitweise praktizierte „Unart“, kleine Tütchen mit Süßigkeiten an Freundinnen oder Patenkinder zu verteilen oder der Genuss von Alkohol während des Reitens. Seinen Abschluss findet das Ritual seit 1983 im gemeinsamen Dankgottesdienst der Osterreiter am Osterdienstag in der Wallfahrtskirche in Rosenthal, nahe dem Kloster St. Marienstern.
27 Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2007 (vgl. Pfarrämter der betreffenden Gemeinden). Vgl. generell zu den Teilnehmerzahlen und deren Wandel im Laufe der letzten 150 Jahre: Salowski 1992: 60f. 28 Vielfach wurde (und wird) dieser Umstand dahingehend interpretiert, dass die Begegnung zweier Prozessionen als unheilvolles Zeichen, die beiden verschiedenen Routen einer Prozession generell als Überreste des heidnischmagischen Kreises gedeutet werden können. Worin auch immer sich der Ursprung dieser Regelung begründen mag, gegenwärtig sind es sicher weniger spirituelle denn schlicht pragmatische bzw. sicherheitstechnische Gründe: Die Koordination und Disziplinierung der Pferde angesichts der zunehmenden Größe einer Prozessionen ist bereits ein schwieriges Unterfangen, zwei Prozessionen störungsfrei aneinander vorbeizuführen, wäre ein erhebliches Risiko. 29 Mittlerweile werden von den Organisatoren oder Angehörigen der Reiter Videoaufnahmen angefertigt, welche dann zur detaillierten Auswertung der Prozession herangezogen werden.
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2.2 Historische Rahmungen und Renaissance des Brauches Die meisten Abhandlungen über das Osterreiten verorten den Ursprung dieses Rituals in den weit verbreiteten heidnischen Flurumritten (auch als „Saatreiten“ bekannt), welche mit der Christianisierung des Gebietes (ab dem 10. Jahrhundert) in das christliche Einsegnen der ersten Saat umgewandelt worden sein sollen (vgl. Sartori 1910: 164; Frenzel 2005: 53; Salowski 1992: 17).30 In einem der Prozessionsdörfer, Ostro, hat sich noch ein Residuum dieses vorchristlichen Brauches erhalten, welches in aller Herrgottsfrühe von den Reitern zelebriert wird: Die Männer des Dorfes reiten mit Kirchenfahnen (allerdings ohne die Statue des Auferstandenen, festliche Kleidung und Schmuck) um die Felder der Gemeinde um die erste Saat einzusegnen. Über die Ausübung des Brauches vor der Reformation kann man nur mutmaßen. Die erste urkundliche Erwähnung des Rituals ist datiert auf das Jahr 1541 für die Orte Wittichenau und Ralbitz, deren wechselseitige Partnerschaft beim Osterreiten seither ununterbrochen besteht (vgl. Salowski 1992: 18). Die Eintragung in der Kirchenchronik ist nicht zufällig, sondern vermerkt vielmehr die Neuausrichtung der Wittichenauer Prozession31, welche bis zu diesem Zeitpunkt ein anderes Ziel hatte: Hoyerswerda (sic!). Dort hatten allerdings (wie in vielen anderen Orten der Lausitz) die Auswirkungen der Reformation zum Erliegen dieses religiösen Brauches geführt, wurde es doch als „papistische Unsitte“ von den Protestanten geschmäht. Nicht nur die Reformation stellte einen spürbaren Einschnitt bei der Ausübung des Osterreitens dar, gleichermaßen mangelte es gerade in Kriegszeiten (im Dreißigjährigen Krieg ebenso wie in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts) massiv an Pferden und Reitern. Hinzu kamen institutionelle Verbote seitens der katholischen Kirche (wie Ende des 18. Jahrhunderts in Bautzen und seitens der Äbtissinnen des Klosters St. Marienstern) aufgrund der bisweilen zu lockeren Art und Weise der Brauchumsetzung, zunehmendem Alkoholgenuss
30 Auch bei Tetzner findet sich eine entsprechende Vermutung (verlässliche Quellen zur Stützung der These des heidnischen Ursprungs sind rar): „Das Osterreiten hatte ursprünglich sicher den Zweck, die Grenze jedes Jahr auf’s neue in Augenschein zu nehmen und anzuerkennen. Schon im 11. Jahrhundert waren aber eigene Gebräuche mit dem Osterreiten verbunden. Die alte Sitte des Umzugs hat sich besonders im Klosterbezirk Marienstern erhalten. Die Bauern und Bauernsöhne kommen im Reitkostüm und mit Cylinder hoch zu Ross. Das Sattelzeug ist mit Muscheln und Metallzierat, Bändern und Blumen geschmückt“ (Tetzner 1902: 332) Die Bezeichnung „Reitkostüm“ könnte sich dabei auf den modischen Vorläufer des Gehrocks, den „Redingote“ (englischer Reitmantel um 1860) beziehen (vgl. Loschek 1988: 210). 31 Aus diesem Grund ist anzunehmen, dass es das Osterreiten bereits wesentlich früher gab. Bei Musiat (o. J.: 19) findet sich etwa die nicht belegte Jahreszahl von 1490 (vgl. ebd.). Datenmaterial wurde allerdings bislang nur ab Ende des 19. Jahrhunderts aufgearbeitet. Wittichenau, welches gegenwärtig die größte der Osterprozessionen mit 475 Reitern (2007) stellt, hatte infolge der Neuordnung Sachsens und Preußens nach 1815 mit sehr restriktiven politischen Maßnahmen und einer damit einhergehenden „verstärkte[n] ‚Germanisierung‘“ zu kämpfen (Walde 2006: 19). Nun zu Schlesien gehörend, wurde die Pfarrgemeinde der kirchlichen Administration des Bautzener Dekans entzogen und dem Erzbistum Breslau zugewiesen. Walde geht davon aus, dass sich die Einwohner zunehmend von ihrem sorbisch-sächsischen Umfeld distanzierten und allmählich zur deutschen Sprache übergingen. Für die Teilnahme am Osterreiten wurde (wie so häufig in der Oberlausitz) eine Sonderlösung etabliert: Bis heute besteht die Prozession aus einem sorbischen Teil (aus den umliegenden Dörfern) und einem deutschen Teil (aus der Stadt), welche in beiden Sprachen singen und beten. Dabei sind die „Deutschen in Wittichenau (…) germanisierte Sorben“ (Walde 2006: 20), definieren sich selbst also bezüglich ihrer ethnischen Zugehörigkeit als Sorben, ohne allerdings das Sorbische als Mutter- oder Alltagssprache zu verwenden. Von Jahr zu Jahr wechselt die Aufstellung und damit die Trägergruppe der Fahnen und religiösen Insignien. Hier wird die Verzahnung zwischen Sprache, Religion und ethnischer Zugehörigkeit aufgebrochen. Gleichwohl eint die beiden Teilprozessionen das Bekenntnis zur katholischen Religion. Ein nicht-christlicher Reiter würde in keiner der Prozessionen akzeptiert.
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u.ä. (die heute so zentrale Würde und Ernsthaftigkeit der Prozession war keineswegs historisch tradiert, sondern ist eine vergleichsweise junge Erscheinung). Trotz dieser Hindernisse konnte die Ausübung des Brauches langfristig nicht verhindert werden. Neuen Nährboden fand das Osterreiten im national beseelten und von den Idealen der Aufklärung getragenen 19. Jahrhundert, stützten diese doch das neue Selbstbewusstsein der Sorben.32 Als symbolische Repräsentation dieses Bewusstseins wurde auf dem Slawenkongress von 1848 die sorbische Nationalfahne in den slawischen Farben blau-rot-weiß erschaffen. Eine ideale, überregional wirksame Bühne zur Demonstration religiös-ethnischer Zugehörigkeit bot sich auch im Rahmen des historischen Festumzuges anlässlich des 800jährigen Wettin-Jubiläums in Dresden (1889), an welchem sich 110 Reiter aus der Oberlausitz beteiligten (Salowski 1992: 23). Deren Präsenz blieb nicht ohne Aufmerksamkeit bzw. langfristige Folgen: Seither säumen den Weg der Osterreiter nicht mehr nur Familie, Freunde, Bekannte der Reiter und andere Bewohner der Lausitz, sondern zunehmend auch Touristen. Trotz der äußerst schwierigen Bedingungen während (und kurz nach) den zwei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts fanden auch in dieser Zeit Prozessionen, freilich in sehr kleinem Umfang, statt. Unter der DDR-Regierung wurde der katholische Ritus gerade aufgrund seines genuin religiösen Charakters keineswegs gefördert, allenfalls geduldet. Seine Etikettierung als ländlichreligiöse, scheinbar wenig einflussreiche „Nischenerscheinung“ bewahrte Brauch und Teilnehmer wahrscheinlich vor massiveren Repressionen.33 Gleichzeitig wirkten Maßnahmen wie die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in Form der LPGs34 Anfang der 1960er Jahre ganz massiv auf die Ausübung des Osterreitens ein: Durch die Zusammenlegung der bäuerlichen Betriebe und die Technisierung der Landwirtschaft gab es schlichtweg einen Mangel an geeigneten Pferden für den Brauch (konkret sichtbar in den Teilnehmerzahlen der Jahre 1961: insgesamt 630 und 1974: 487 Reiter, vgl. Salowski 1992: 61), womit ein spürbarer Rückgang in der Brauchausübung verbunden war; in einigen Orten mussten die Prozessionen gar aussetzen. Aber bereits in den frühen 1980er Jahren konnte dieser Schwund durch das Engagement der Reiter und ihrer Familien aufgefangen und teilweise umgekehrt werden.35 Die Reiter organisierten erstmals (und diese Praxis hat sich bis heute erhalten) die Pferde nicht mehr nur aus den wenigen noch bestehenden Bauernhöfen der Umgebung, sondern auch aus Gestüten, Reitsportvereinen bzw. von privaten Besitzern, mitunter hunderte Kilometer von der Lausitz entfernt. Mit diesen organisatorischen Veränderungen stiegen zwar sowohl Kosten (für Beschaffung, Versicherung, etc.) als auch Risiken (durch die unvertrauten Tiere) für die Reiter, gleichzeitig
32 Im sogenannten „Slawenkapitel“ seiner „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791) etwa hatte Johann Gottfried Herder das Recht der „so tief versunkenen, einst fleißigen und glücklichen Völker“ (Herder 1914: 225) auf ihre Selbstbestimmung hervorgehoben und sie dazu aufgefordert, sich nach leidvoller Erfahrung der Eroberung und Unterdrückung „von euren Sklavenketten“ (ebd.) zu befreien. In der Lausitz blieben dergleichen aufklärerische Appelle gerade unter Intellektuellen nicht ungehört (erkennbar zum Beispiel in den Arbeiten des Publizisten Jan Arnošt Smoler (1816-1884) oder des Dichters Handrij Zejler (1804-1872)). Vgl. generell zur Rolle der Intellektuellen als entscheidende Konstrukteure nationalen Bewusstseins: Giesen 1999. 33 Vgl. zum recht ambivalenten Verhältnis der Sorben zum sozialistischen Staat: Elle 1995: 459-462. 34 „Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ (staatlich organisierte Großbetriebe in der DDR). 35 Gerade das Ende der Prozessionen in Bautzen (1969) und in Storcha (1972, seit 1978 wieder aufgenommen) hatte rege öffentliche Debatten innerhalb der sorbisch-katholischen Gemeinschaft (z.B. in der katholischen Wochenzeitung „Katolski Posoł“ 1974, vgl. Salowski 1992: 28) darüber ausgelöst, wie man unter den vorhandenen Bedingungen die Reiterprozessionen erhalten und weiterführen könnte.
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konnte aber durch diese Eigeninitiative das Osterreiten langfristig abgesichert werden: Nach dem Tiefstand von 1974 mit 487 Reitern wurden für das Jahr 1984 bereits 935 und 1986 gar 1021 Reiter verzeichnet, mit steigender Tendenz (vgl. Salowski 1992: 61). Darüber hinaus kann man von einer verstärkten Renaissance des Brauches in den 1990er Jahren, also nach dem Ende des kommunistischen Regimes und der Wiedervereinigung, sprechen. So erfolgte etwa nach über zwanzig Jahren Zwangspause 1993 eine Wiederbelebung des Brauches in der Stadt Bautzen. Wesentlich getragen wurde diese von der Initiative der Trägerschichten des Osterreitens selbst, dem Küster der sorbischen Liebfrauenkirche und ehemaligen Reitern der Stadt, unterstützt auch durch den damaligen Bautzener Dompfarrer.36 Eine derartige Situation bot ein gewisses Gestaltungspotential hinsichtlich der Regeln für die „neue“/„alte“ Prozession (stärker als in den ländlichen, kontinuierlichen Reitergruppen). Im Wesentlichen wollte man tradierten Routen und Grundsätzen folgen, allerdings berichteten einige Interviewpartner auch von heftigen Debatten, etwa um die Frage der Zulassung der deutschen Sprache, welche schließlich mit einem klaren Votum für die ausschließliche Verwendung des Sorbischen bei der Prozession geklärt wurde. Im ersten Jahr (1993) fanden sich 38 Reiter am Ostersonntag ein, 2007 waren es bereits 69.37 Was begründet nun diese Renaissance, anhaltende Begeisterung und wachsende Teilnehmerzahlen, gerade auch für jüngere Sorben? Eine genauere Betrachtung des Osterreitens als religiöses Ritual innerhalb des spezifisch sorbisch-katholischen Milieus kann hier aufschlussreich sein.
2.3 Doppelter Minderheitenstatus: das sorbisch-katholische Milieu Die Trägerschicht des Osterreitens rekrutiert sich, wie bereits ausgeführt, primär aus den katholischen Sorben der Oberlausitz, evangelische Reiter sind eher eine Ausnahme. Im Folgenden soll die doppelte Minderheitenkonstellation dieser Gruppe analytisch aufgefächert werden (einerseits bezogen auf die religiöse, andererseits die ethnische Zugehörigkeit), um im anschließenden Kapitel beide Aspekte in den Betrachtungen über den rituellen Charakter des Osterreitens wieder zusammen führen zu können. Zunächst einige Vorbemerkungen zur Stellung und Organisation von Religion bzw. Kirche in der Oberlausitz: Der enorme Assimilationsdruck, welcher auf den katholischen Sorben seit Reformation und Gründung des Deutschen Reiches 1871 lastete, führte nach Walde (2006) zur Herausbildung eines ganz spezifischen sorbisch-katholischen Milieus38 in der Oberlausitz. Die auf innere Homogenität
36 Diese Renaissance kann an eine gewisse Tradition anknüpfen: Nach dem Verbot des Rituals Ende des 18. Jahrhunderts hatte es bis 1928 eine Unterbrechung der Prozession gegeben, welche aber auf Bestreben des damaligen sorbischen Kaplans beendet wurde (vgl. Frenzel 2005: 57). Aktuell waren die Bedingungen für die Unterstützung der Initiative seitens der katholischen Kirche die Gewährleistung der würdevollen Ausübung des Rituals, eine Mindestzahl von 12 Paaren und die Garantie, dass die Reiter einander nicht die verfügbaren Pferde „ausspannen“, d.h. eine Sicherung der Organisation der Pferde für alle interessierten Reiter, vgl. Experteninterview mit dem damaligen Dompfarrer von St. Petri, Bautzen, 2007. 37 Vgl. Experteninterviews mit dem ehemaligen Dompfarrer von St. Petri, Bautzen und dem Küster der sorbischen Liebfrauenkirche (Organisator und Reiter), 2007. 38 Der Begriff des „katholischen Milieus“ wurde vor allem durch Rainer M. Lepsius’ Arbeiten zur historischen Wahlforschung (konkret der Herausbildung von vier soziokulturellen Milieus im Kontext eben von Reichseinigung und früher Weimarer Republik) geprägt (vgl. Lepsius 1966/1993).
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abzielende Politik des Deutschen Reiches forderte ein starkes deutsches Nationalgefühl, welches bei den ultramontan organisierten katholischen Sorben39 auf wenig Gegenliebe stieß, zu verstärkten Auseinandersetzungen und schließlich auch hier zum Kulturkampf führte: „Dieser schmiedete allerdings die Katholiken noch enger zusammen, es entstand ein eigenes, kirchlich-organisatorisch gefasstes katholisches Milieu, das sich der Vormachtstellung des protestantischen Staates widersetzte.“ (Walde 2006: 16f.) Vor allem in sorbischen Vereinen suchte man die religiöse und ethnische Identität40 zu stärken und sich gleichzeitig nach außen abzugrenzen, zu behaupten. Dabei trat bereits die enge Verzahnung zwischen katholischer und sorbischer Zugehörigkeit hervor, welche in der Folgezeit weiter intensiviert wurde. So setz(t)en die katholischen Sorben jeglichen Bestrebungen der Angleichung an die evangelische und/oder deutsche Mehrheitsgesellschaft neben einer regen Vereinstätigkeit auch ein ausgeprägtes Traditionsbewusstsein (in Form von Bräuchen, der Verwendung der sorbischen Sprache in der Alltagskommunikation, etc., vgl. Toivanen 2001: 46) entgegen. Die Kopplung sorbischer Tradition an die katholische Religionszugehörigkeit forcierte wiederum die anhaltende Konsolidierung des katholischen Milieus. Dieses bindet seine Mitglieder bis heute stark institutionell ein (bzw. stellt zumindest vielfältige Möglichkeiten hierzu bereit): Bereits die Kinder und Jugendlichen sind in Kinderchören oder als Messdiener engagiert, nehmen am sorbischen Religionsunterricht teil und werden in der katholischen Jugend durch die regionale Jugendseelsorge betreut, welche speziell für die sorbischen Jugendlichen eingerichtet wurde. Auch alljährliche Wallfahrten nach Rosenthal oder Rituale wie das Osterreiten sind wichtige, die Gemeinschaft festigende Ereignisse im religiösen Kalender. Nicht nur die generelle Ablehnung der religiösen Praxis von Wallfahrten und Prozessionen seitens der evangelischen Kirche, sondern auch die Organisation der evangelischen Sorben in den (deutschen) Landeskirchen und der damit verbundenen Orientierung an staatlichen Strukturen verhinderte nach Walde die Ausbildung eines eigenen sorbisch-evangelischen Milieus: „Es fehlten dazu wichtige öffentliche Institutionen wie Schule, Kirche und Vereine, die sie hätten unterstützen können. Im Gegenteil (…) erwiesen sich die genannten Institutionen allesamt als (pro)deutsche Einrichtungen, die zum Teil gegen ihre sorbische Identität gerichtet waren“ (Walde 2006: 23).41 Kommen wir nun von den Ausführungen über das „religiöse Feld“ der Oberlausitz zum zweiten Aspekt des doppelten Minderheitenstatus, der bisher nur marginal angerissenen Frage der Selbstbeschreibung, der ethnischen Identität der Sorben: Generell versteht man unter kollektiver Identität42 sowohl das Bewusstsein der Verankerung der eigenen Zugehörigkeit 39 „ultra montes“ (lat. „jenseits der Berge“, d.h. in Rom), Anspielung auf das eigentliche Zentrum katholischer Christen. 40 Walde spricht, wie die meisten Publikationen in diesem Zusammenhang vom „nationalen Wir-Gefühl“, Nationalismus der Sorben. Wenngleich sich viele Parallelen zwischen den Prozessen der Konstruktion von Nation bzw. nationaler Identität im Allgemeinen und sorbischer Identität im Speziellen finden lassen, möchte diese Arbeit an der bereits vorgeschlagenen Definition der Sorben als ethnische Gruppe festhalten. 41 Dies schlägt sich auch heute noch in den sorbisch-evangelischen Gemeinden nieder, welche keine vergleichbare Einbindung organisieren kann. Gegenwärtig ist zum Beispiel die Anzahl der sorbisch-evangelischen Jugendlichen zu gering, um einen rein sorbischen Konfirmandenunterricht anzubieten, weshalb diese den deutschen besuchen. Sorbisch-evangelische Gottesdienste im Raum Bautzen finden nur einmal im Monat, in anderen evangelischen Gemeinden noch seltener statt, während in den katholischen Gemeinden wöchentlich Messen gefeiert werden, wobei Sorbisch als anerkannte Liturgiesprache verwendet wird. Gerade mit der Verwendung der sorbischen Sprache im Gottesdienst und zu religiösen Festen wird aber zum Erhalt der Sprache beigetragen und die angesprochene Kopplung von katholischer Religionszugehörigkeit, Sprache und ethnischer Identität verstärkt. 42 In ihren jeweiligen Facetten auch thematisiert als nationale, kulturelle, ethnische oder religiöse Identität (vgl. Giesen 1999: 9).
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in einer sozialen Gruppe (hier: der sorbischen Minderheit) als auch die intersubjektive Anerkennung dieser Selbstbeschreibung des Individuums durch die Gruppe. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass man ethnische Zugehörigkeit nur als soziale Konstruktion angemessen erfassen (kann). Kollektive Identität ist weder natural gegeben noch transhistorisch gültig. Sie ist vielmehr geschichtlich wandelbar, situativ konstruiert und kulturell codiert. Diese Konstruiertheit kollektiver Identität bleibt denjenigen, die sie für sich in Anspruch nehmen, fast immer verborgen: Wer eine kollektive Identität für sich behauptet und für sie Anerkennung bei Anderen sucht, geht davon aus, dass diese Identität stärker und unbedingter gelte als kontingente Entscheidungen und wechselnde Koalitionen. (Giesen 2001: 91f.)43
Die hier angesprochenen Selbst- und Fremdzuschreibungen, welche letztlich kollektive Identität darstellen, werden ergo über Zugehörigkeit und Ausschluss konstruiert. Alois Hahn betonte in einer Vielzahl von Arbeiten, vor allem im Konzept der partizipativen Identität44, dass die Behauptung einer Identität eben gleichzeitig die Definition eines Anderen, Fremden impliziere, welchen man von der eigenen Person abgrenzt. Damit wird eine Unterscheidung, Identifikation durch ein Merkmal (oder eine ganze Klasse von Merkmalen) aktiviert, welche andere nicht haben: „Man könnte von Inklusion und Exklusion als Instrumenten der Selbstbeschreibung (sprechen)“ (Hahn 1999b: 13). Dabei ist zu beachten, dass „Fremdheit (...) keine Eigenschaft (ist), auch kein objektives Verhältnis zweier Personen oder Gruppen, sondern die Definition einer Beziehung. Wenn man so will, handelt es sich bei der Entscheidung, andere als Fremde einzustufen, stets um eine Zuschreibung, die oft auch anders hätte ausfallen können“ (Ebd.: 78, eigene Hervorhebung). Identität ist demnach vor allem als situativ konstruiert, prozesshaft zu verstehen – auch die hier thematisierten Identitätsskizzen, welche sich in einem anderen Kontext durchaus anders gestalten, ausrichten können. Die Konstruktion sorbischer Identität stellt nun aber trotz des Minderheitenstatus der Gruppe keinen exotischen Einzelfall dar, sondern könnte vielmehr Beispiel für moderne Identitätskonstruktion generell sein: Häufig nicht eindeutig oder klar in einer Dichotomie von Eigenem (Sorbisch) und Fremdem (Deutsch) verortbar, vielmehr hybrid, sich je nach Kontext und biografischer Phase ggf. neu verhandelnd, schwankend zwischen der Zugehörigkeit zur deutschen Mehrheitsgesellschaft und der autochthonen Minderheit, welche durch ihre eigene Sprache (und im Fall der katholischen Sorben auch noch religiös) stark zu der deutschen Umgebung kontrastiert, gleichzeitig aber auch kulturhistorisch eng mit ihr verwoben ist. Ein Leben „im Spagat“, ein nicht „entweder-oder“ von kollektiver Identität, sondern „entweder-oder-und“, wie Elka Tschernokoshewa (2000a) die Situation der sorbischen Minderheit beschreibt.45 Wie vielgestaltig auch immer dieses „Leben im 43 Vgl. zur Theorie kollektiver Identität auch: Giesen 1999. 44 Diese versteht sich als „das Moment einer auf sie gründbaren kollektiven Identifikation und gegebenenfalls Solidarität“, während die Bezeichnung „soziale Identität“ (wie etwa bei Erving Goffman) insofern nicht eindeutig ist als dass es keine Identität gibt, welche nicht „sozial“ ist (vgl. Hahn 1999b: 74, eigene Hervorhebung). 45 Hier ließen sich noch andere, weitgehend synonyme Denkfiguren anfügen, auf welche Elka Tschernokoshewa verweist: eben das Konzept der hybriden Identität, Transkulturalität (Welsch 1997), Synkretismus (Siller 1991) oder der dritte Raum von Identität (Homi K. Bhabha 2000), vgl. Tschernokoshewa 2005: 25). Entscheidend ist dabei, dass hierin eine Verschiebung der „Aufmerksamkeit von den Objekten zu den Prozessen und deren Bedingungen hin [erfolgt]. Es ist das Prozesshafte von Kultur, das Dynamische, somit auch Handlungs- und Kontextbezogene, was hier herausgearbeitet wird. (…) Kultur [kann] nicht mehr als feste Substanz imaginiert werden“
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Spagat“, diese im positiven Sinne verschiedene Facetten „(aus)balancierende Identität“ (in Anlehnung an Lothar Krappmann) sich im individuellen Fall darstellen mag46, in bestimmten Situationen wird eine eindeutige kollektive Identität vorausgesetzt. Mögliche Ausprägungen hybrider Identität verlieren vorübergehend – so die These – an Bedeutung bzw. bündeln sich weitgehend in einer Inszenierung ethnischer Zugehörigkeit, bei der Ausübung kultureller Praktiken. Die Annahme der Gleichartigkeit der Mitglieder einer Gemeinschaft, welche sich besonders dann als kollektive Identität präsentiert, wenn sich die betreffende Gruppe „nach außen“ präsentiert, gegen Andere abgrenzen will, wird auch gerade in Ritualen (wie dem Osterreiten) eingefordert. Gemeinschaftlichkeit beruht dabei nicht auf dem Handeln einzelner Individuen, sondern auf der „symbolisch vermittelte(n) Verständigung, die von allen geteilt werden muß“ (Giesen 1999: 18). Wie genau kollektive Identität inszeniert („in Szene gesetzt“) und bekräftigt wird, lässt sich anhand der Analyse ritueller Praktiken und symbolischer Repräsentationen exemplarisch aufzeigen (vgl. Giesen 2001: 102ff.), womit wir uns nun dem Ritus selbst zuwenden wollen.
2.4 Religiöses Ritual oder religiöses Event? In rituellen Praktiken wird kollektive Identität „als Erfahrung der Gleichartigkeit zwischen verschiedenen Individuen institutionell und gelegentlich auch absichtsvoll erzeugt. (...) Gemeinsamer Gesang, Tanz oder Gebet, gemeinsame Mahlzeiten und Gedenkformen, das Tragen von gleichförmiger Kleidung und Haartracht, alles dies schafft eine Gemeinschaftlichkeit, die sich dem Zweifel und dem reflexiven Vorbehalt entzieht“ (Giesen 2001: 104f.). Mit den kollektiven Bewegungen und Gesten werden diese auch für jedes der Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft verstehbar und gleichzeitig werden sie nicht hinterfragt oder gar kritisiert. Sie gelten als selbstverständlich: „Die Teilnahme am Ritual verbürgt damit eine Verständigung, die nicht mehr übersteigbar ist. Sie gilt auch zwischen denen, die einander nicht persönlich kennen und die durch keine gemeinsame Interaktionsgeschichte verbunden sind. Sie werden durch die gemeinsame rituelle Praktik von Fremden zu Verwandten in einem weiteren Sinne“ (ebd. 2001: 105).47
(Tschernokoshewa 2005: 20, eigene Heraushebung). Vgl. zur Bedeutung des Prozesshaften, Nicht-Statischen von Kultur auch: Soeffner 2000 und Wimmer 2005. 46 Die Ausprägungen variieren u. a. von „Sorbisch“, „Sorbisch-Deutsch“ (im Sinne eines thematisierten „Doppellebens“ oder eines „Halb-Sorbisch“), bis zu „Staatsbürgerschaft Deutsch, Nationalität Sorbisch“, mitunter auch der völligen Ablehnung der sorbischen Zugehörigkeit und der Beschreibung als „Deutsch“. 47 Wobei hier in Bezug auf unser Beispiel zu bedenken ist, dass bei den meisten Reitern recht reelle Verwandtschaftsbeziehungen untereinander bestehen, die gemeinsame Ausübung des Rituals diese Bindung aber zeitweilig intensiviert.
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Osterreiter im Kloster St. Marienstern in Panschwitz-Kuckau. Foto: Matthias Bulang, Serbske Nowiny, 2006.
Betrachten wir die eingangs zitierten Charakteristika ritueller Praktiken genauer, so verweist uns das „Tragen von gleichförmiger Kleidung“ auf den spezifischen dress-code der Osterreiter, einer selbst für einen religiösen Festtag eher ungewöhnlichen Aufmachung. Gehrock, Zylinder, Stiefel, etc. heben die Träger noch stärker als Gruppe heraus, da dies einer Steigerung der zeitgenössischen Festtagskleidung wie einem dunklen mehrteiligen Anzug o. ä. gleichkommt. Die wenigen vorhandenen Quellen48 gehen davon aus, dass dieser vestimentäre Code (Bohn 2000: 114ff.) seit mindestens den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts belegt49 und seither streng tradiert worden ist. Eingedenk der Akteure des Ritus zu dieser Zeit (Bauern und deren Knechte) sei ein wenig Spekulation über die Etablierung dieser Kleidungsordnung erlaubt: Gesichert scheint, dass Mitte des 19. Jahrhunderts von wohlhabenden Bauern in der Oberlausitz durchaus die städtisch-bürgerliche Festkleidung (Gehrock und Zylinder) für den Kirchgang am Sonntag übernommen wurde (u. a. Tetzner 1902: 305f.).50 Da zu dieser Zeit keine sorbische Tracht für Männer mehr existierte, ist anzunehmen, dass diese Mode auch auf die religiöse Festtagsprozession der Osterreiter übertragen wurde. In Anlehnung an Georg Simmel kommt hierin der
48 Unter Anderem ist diese Kleiderordnung bereits auf der bislang ältesten bekannten Bildquelle des Brauches, einer historischen Darstellung der Prozession von Wittichenau 1867, dokumentiert (vgl. Salowski 1992: Abb. 2). 49 Die Handschuhe (insgesamt ebenso wie Gehrock und Zylinder eine Erscheinung des 19. Jahrhunderts) sind nicht für alle Prozessionen belegt, werden aber in den letzten Jahren von immer mehr Orten übernommen um den festlichen Charakter noch zu unterstreichen. 50 Dies bestätigt auch Cornelia Bohns Ausführungen über den Beginn der weitgehenden Annullierung der Differenzen zwischen Oberschicht/Volk und Stadt/Land durch die moderne Mode seit dem 19. Jahrhundert (vgl. Bohn 2000: 126f.)
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zentrale Dualismus von Mode zur Geltung: Nachahmung (oberer Schichten durch die unteren) und Distinktion (der Schichten voneinander) (Simmel (1895/1998): 57ff.), wobei die oberen Schichten infolge der Adaption ihrer Mode wiederum zu einer Verfeinerung der eigenen oder Etablierung neuer Moden gezwungen wurden (wie auch Norbert Elias’ Arbeiten zum Zivilisationsprozess (1939) zeigen). Man könnte auch von einem trickle-down-effect von Mode sprechen. Der spezielle vestimentäre Code der sorbischen Osterreiter erfüllt bis heute (temporär) eine wichtige Funktion, wird „in einer Welt der wechselnden Identitäten zu einem Identitätsund boundary-maker. Sie (die Kleidung) symbolisiert weltgesellschaftliche, ethnische und nationale Inklusions- und Exklusionsbewegungen“ (Bohn 2000: 115, eigene Hervorhebung). Des Weiteren ist die aktive Teilnahme am Ritual für die Sicherung der Gemeinschaftlichkeit wichtiger als die bloße Anwesenheit, werden doch diejenigen, welche nicht teilnehmen, entweder weitgehend ausgeschlossen oder auf die Rolle des distanzierten Zuschauers reduziert.51 Der aktiv Involvierte erfährt sich als Teil einer Einheit, welche sich auch nach außen als solche präsentiert und mittels ihrer Verhaltensregeln eine Art „erlernte Distanzierung“ gegenüber den Zuschauern für die Dauer der Prozession aufrecht erhält. Daher können sich viele der aktiv am Osterreiten beteiligten Sorben das Osterfest nicht außerhalb der Lausitz vorstellen und falls sie einmal dazu gezwungen waren, dann konnte es mitunter als „echt katastrophal“ erlebt werden, wie ein Reiter kommentierte.52 Oder ein anderer: „Dann ist man irgendwie da drin. Das gehört einfach mit dazu. Droge ist es nicht (lacht), aber fast. Also Osterreiter, die zuhause sitzen, weil die Pferde krank sind oder weil sie selbst krank sind, sind geknickte Menschen, die haben ein Problem.“53 Das Osterreiten fungiert auch als starker „Magnet“ für die Sorben, welche außerhalb der Lausitz leben und während der Ostertage immer wieder in die Lausitz zurück kehren.54 In dieser Verbundenheit wird auch das emotionale Element von Zugehörigkeit, welches für das Bewusstsein einer ethnischen Gemeinschaft so zentral ist, spürbar: „[G]rundsätzlich ist es so, dass das irgendwie dazu gehört, du brauchst Osterreiten und wenn du zum fünfundzwanzigtausendsten Mal die Pferde an dir vorbei rennen sehen hast, (...) das sind ganz einfach so gefühlsmäßig bestimmte Sachen, wo du einfach da sein musst, was du einfach brauchst“55. Nicht nur die männlichen, direkten Akteure, berichten von dieser emotionalen Bindung, sondern gleichfalls die Frauen und Mädchen: Zwar ist die Teilnahme strikt auf Männer beschränkt, dennoch sind sie eng in die Vorbereitungen involviert, versorgen z. T. auch die eintreffenden Reiter der Partnergemeinde oder begleiten die Reiter als Helfer. In traditionellen ländlichen Familien segnen außerdem die Mütter oder Großmütter die Reiter und Pferde der Familie vor Verlassen des Hofes mit Weihwasser aus. 51 „Körperlichkeit und Anwesenheit sind außerordentlich wichtig für eine rituelle Konstruktion von Gemeinschaftlichkeit und kollektiver Identität, aber sie reichen allein nicht aus; die Handelnden müssen im Augenblick des Rituals auch wissen, daß sie gleichförmig mit anderen handeln, sie müssen ein Bewußtsein der Gleichförmigkeit ausbilden“ (Giesen 1999: 16). 52 Interview 1, Zeile 995 (mit einem katholischen Sorben, 26 Jahre alt, Stadt Bautzen). 53 Experteninterviews mit einem Reiter der Bautzener Prozession, 2007. 54 Inwieweit darin auch ein „traditionaler Anker“ zu sehen sein kann, wird im abschließenden Kapitel diskutiert werden. 55 Interview mit einem jungen sorbischen Katholiken, der seit einigen Jahren aktiv am Reiten teilnimmt, in der zitierten Passage aber auch auf seine Erfahrungen in der Zuschauerrolle (vor dem Erreichen des Mindestalters von 14 Jahren) anspielt, vgl. Interview 1, Zeilen 995-1000 (eigene Hervorhebungen).
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Auch symbolische Repräsentationen erfüllen eine rituellen Praktiken vergleichbare Funktion: In der „Begründung der fragwürdig gewordenen Gemeinschaftlichkeit durch Bilder, Symbole und Erzählungen, die jenseits von Anwesenheit und fraglosem Verstehen in der Umwelt, sozusagen losgekoppelt von lokalen und zeitlichen Bindungen“ (Giesen 2001: 106f.) geschaffen werden, können sich Menschen ihrer kollektiven Identität vergewissern.56 Beispiele für derartige symbolische Repräsentationen der Sorben sind neben Erzählungen über vergangene Ereignisse57, Märchen und Mythen auch materielle Objekte wie das Denkmal der Slawenapostel Cyrill und Methodius nahe Schmochtitz (an welchen zwei der Prozessionszüge zur Erinnerung kurz verweilen), die sorbische Fahne an einigen Pferden und die Nationalhymne (Text von Handrij Zejler, 1827).58 Neben den bisher aufgeführten Charakteristika des Osterreitens als religiösen Ritus finden sich aber in den Interviewpassagen wiederholt auch Äußerungen der Reiter und Organisatoren, welche ein (religiöses) Event thematisieren könnten: „Osterreiten, mache ich, weil man da auch singen kann, das ist cool. Und außerdem einmal im Jahr Pferd reiten, ist ja nichts Falsches. (…) Also finde ich cool, weil es guckt natürlich auch jeder auf einen, es ist eine Attraktion in der Gegend hier und das macht mir natürlich Spaß.“59 Oder: „(I)ch bin dieses Jahr das zweite Mal mitgeritten. Und dann habe ich mich übelst gefreut, endlich Osterreiten mitreiten, aber es ist anstrengend, also wenn man die ganze Zeit auf’n Sattel sitzt. (...) Ansonsten macht’s auch Spaß.“60 Eine etwas andere Perspektive findet sich freilich in den Äußerungen der Organisatoren, welche gerade auf die ernsthafte und würdevolle Ausübung der Prozession wert legen, den „Spaßfaktor“ nicht mittragen wollen. Die Disziplinierung ist dabei nicht nur intern zu leisten, sondern auch nach außen zu verteidigen: 56 Dabei erfordert die Komplexität bzw. potentielle Vieldeutigkeit von Zeichen und Symbolen eine Art „Auslegungslehre“ in der Sozialisation mit Hilfe derer eine „lernende Aneignung der Tradition, des bereits Ausgelegten und (…) das Erlernen des Auslegens selbst“ ermöglicht wird (Soeffner 2000: 187). 57 Dass aber auch Erinnerung (und Vergessen) von bestimmten Ereignissen und Traditionen einer Gemeinschaft sozial konstruiert bzw. kollektiv geprägt sind, findet sich ausführlich behandelt in den Arbeiten zum kollektiven (Maurice Halbwachs 1941) bzw. kulturellen Gedächtnis (Jan Assmann 1992), Alois Hahns Ausführungen zur Inszenierung von Erinnerung (2000a), aber auch bereits in Ernest Renans Rede zum Wesen einer Nation, in welcher er das Vergessen traumatischer Erfahrungen als essentiell beschrieb (und dabei im übrigen auch explizit Sachsen und das Gebiet der Lausitz erwähnte, vgl. 1882/1996: 26). 58 Eingedenk der bisher aufgeführten Kriterien sind also auch Gemeinschaften nicht natürlich gegeben, sondern sozial konstruiert: als „solche Menschengruppen, welche aufgrund von Aehnlichkeiten des äußeren Habitus oder der Sitten oder beider oder von Erinnerungen an Kolonisation und Wanderung einen subjektiven Glauben an eine Abstammungsgemeinsamkeit hegen, derart, daß dieser für die Propagierung von Vergemeinschaftungen wichtig wird, (…) ganz einerlei, ob eine Blutsgemeinsamkeit objektiv vorliegt oder nicht“ (Weber 1920/1972: 237). Dieses Zusammengehörigkeitsgefühl ist gerade für eine ethnische Minderheit entscheidend. So werden in der primären Sozialisation (innerhalb der Familie) grundlegende kulturelle Orientierungen vermittelt, welche wichtig für die Konstitution bzw. Konstruktion der Identität des Einzelnen werden. Auch in der Schule, als weitere Sozialisationsinstanz, werden die Jugendlichen durch die Primärsprache in der Schule, ihre Mitschüler (und deren Sprachwahl) beeinflusst. Die Schule trägt kulturelle Angebote an die Jugendlichen heran, fördert diese und gibt institutionalisierte kollektive Erinnerung (z.B. im Geschichtsunterricht) weiter. Letzteres kann auch u. U. zum „Generator kollektiver Identität“ avancieren, die Auseinandersetzung mit der eigenen kollektiven Identität anregen. 59 Interview 2, Zeilen 449-453 (mit einem Reiter, 18 Jahre alt). Das gemeinsame Singen wird von diesem jungen Sorben nicht zufällig herausgestellt, ist er doch auch Mitglied in mehreren sorbischen Chören. Im Interview betont er allerdings auch, dass er von der Osterbotschaft und deren Verkündigung zutiefst überzeugt sei und ihm die Teilnahme aus diesem Grund ein Bedürfnis wäre. 60 Interview 8, Zeilen 44-171 (mit einem Reiter, 15 Jahre alt).
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Gerade wachsende Aufmerksamkeit und Zuschauerzahlen entlang der Routen verführen zur Vermarktung, Eventisierung der sorbischen Bräuche durch den Tourismus, welchem sich die Reiter vehement widersetzen (Jahrmarktstände, laute Musik o. ä. sind während der Prozessionen auch in Bautzen unterbunden).61 Die Außeralltäglichkeit scheint aber für viele, gerade jüngere Teilnehmer, eine nicht zu unterschätzende Rolle zu spielen. Gleichwohl ist diese auch dem religiösen Ritus immanent: „Einerseits sind Riten Handlungsfolgen, die als Antworten auf Außeralltägliches, Bedrohliches fungieren.62 Andererseits sind die Riten selber außergewöhnlich. Sie sind – wie festgelegt sie auch immer sein mögen – Formen des Handelns, die die alltäglichen Routinisierungen durchbrechen. (…) Sie entlasten den Handelnden von den Regeln, die sein normales Leben bestimmen“ (Hahn 1974: 74). Beispiele für religiöse Events, welche ganz vergleichbare Eigenschaften aufweisen, sind etwa Kirchen- und Katholikentage, Feiern des Heiligen Jahres oder der XX. Katholische Weltjugendtag (vgl. Ebertz 2000 und den Beitrag von Vogelgesang/Hepp in diesem Band). Greift man zurück auf die Gebhardtsche Definition von Events als „planmäßig erzeugte Ereignisse, (…) einzigartige Erlebnisse, auf [die] man mit Freude und Spannung wartet, auf [die] man hinlebt, (…) [welche] das Gefühl von exklusiver Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit [vermitteln und welche] identitätsstiftend [wirken]“ (Gebhardt 2000: 19-22, Hervorhebungen im Original), dann wird rasch deutlich, dass die Grenze zwischen Ritual und Event nicht leicht zu ziehen ist. Von populären Medien- und Spaßevents differieren religiöse Rituale klar durch die Art von Alltagsunterbrechung, welche bei ersteren eben nicht-transzendent ist (vgl. Hepp/Vogelgesang 2003). Das sorbische Osterreiten in der Oberlausitz ist in erster Linie als solche transzendente Unterbrechung des Alltags, als religiöses Ritual und damit „bestimmte Form hochgradig formalen, ausdruckskontrollierten zeremonialen Verhaltens“ (Hahn 1977: 51) anzusehen, welches sich aber gleichzeitig bestimmten Einflüssen einer Eventkultur nicht vollständig entziehen kann. Der Balanceakt bleibt schwierig. Letztlich erfährt das Osterreiten als genuin religiöser Brauch aber seit Jahren immer mehr an Zuspruch, gerade unter den jüngeren Sorben, womit wir zum abschließenden Kapitel und der Diskussion der Frage, inwieweit hier eine Reethnisierung vorliegt, kommen.
61 Die Fremdwahrnehmung dieses Rituals als scheinbar vom religiösen Kalendarium losgelöste folkloristische Inszenierung führt mitunter auch zu gelegentlichen Anfragen an den Tourismusverband der Region, den Brauch öfter „anzubieten“, „aufzuführen“, wie die Bitte einer japanischen Touristengruppe etwa, das Osterreiten (und damit die Verkündigung der Auferstehung) auf den Karfreitag vorzuverlegen. 62 Hierfür ließen sich unzählige Beispiele der Ritualforschung anführen, u. a. sei auf die Arbeiten von Emile Durkheim (1912), Bronisław Malinowski (1922, 1929, etc.) und Mary Douglas (1970) verwiesen.
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3. Das Osterreiten als Zeugnis von Reethnisierung Die in unserem Kontext vielfach angesprochenen traditionellen Bindungen lockern sich in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft – theoretisch. Nicht mehr die Einordnung in eine Familie, Sippe, etc., also die Verortung in einem speziellen Segment oder innerhalb eines bestimmten Standes wie in vormodernen, segmentär bzw. stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften steht nun im Vordergrund. Das Individuum avanciert stattdessen im Sinne Georg Simmels (1908) zum „Kreuzungspunkt sozialer Kreise“63, muss sich in mehreren Subsystemen (Recht, Religion, Wirtschaft, Politik, etc.) orientieren und innerhalb dieser kompetent agieren64: Es wird zum „Rollenträger“65, da jedes Subsystem ihm eine bestimmte Rolle abverlangt. Durch die Vervielfältigung der möglichen Rollen, Mitgliedschaften, Lebensentwürfe, etc. innerhalb der Gesellschaft kann es unter Umständen aber auch zu einer Identitätsverunsicherung kommen und infolgedessen zu einer erneuten und verstärkten Hinwendung zu bestimmten Gruppen oder Gemeinschaften (z.B. Religion, Nation bzw. ethnische Minderheit).66 Damit würde kollektive, hier: die ethnische Identität als Sorbe, positiv aufgewertet, man könnte in Anlehnung an viele neuere Arbeiten der Migrationsforschung von Reethnisierung sprechen. Alois Hahn hatte in seinem Konzept der partizipativen Identität sehr einleuchtend die mitunter temporären Zugehörigkeiten, wechselnden Bezüge von Identität herausgestellt. Danach definiert sich ein Individuum in gewissen Situationen selektiv über bestimmte Zugehörigkeiten (religiöser, ethnische, professioneller Art, etc.), welche andere Mitgliedschaften zunächst in den Hintergrund treten, aber nur zeitweise verblassen lassen. So muss generell die Selbstbeschreibung einer Person über die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Minderheit keineswegs immer primär oder überhaupt relevant sein, da diese ggf. etwa hinter der Identifizierung mit einem Beruf o. ä. zurück tritt (vgl. Hahn 1997/2000b: 13). Unter gewissen Vorzeichen (und die Komplexität bzw. Kontingenz moderner, erst recht postsozialistischer Identifikationsangebote lassen sich durchaus als solche lesen), kann aber ein 63 Hierin vollzog sich ein Wandel von der Inklusions- zur Exklusionsindividualität, vgl. Bohn 2001: 159-176. 64 Cornelia Bohn und Alois Hahn sehen ein Hauptproblem darin, „dass personale Identitäten entstehen müssen, die sich selbst permanent daraufhin befragen müssen, welche Facette ihrer selbst in Interaktionen oder nichtinteraktiven Kommunikationen eingebracht werden kann“ (Bohn/Hahn 1999: 34). Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen Gesellschaftsstruktur und Identität, gerade ethnischer Zugehörigkeit auch Nassehi/Weber 1990. 65 Mit Alois Hahn kann man von einer „Pluralität von in Anspruch genommenen Selbsten“ sprechen, vgl. Hahn 1999b: 13. Folglich kann sich das moderne Individuum in natürlichen Situationen auch nicht mehr in seiner Ganzheit bzw. Einheit thematisieren und benötigt hierfür spezielle institutionelle Selbstthematisierungsmöglichkeiten (Alois Hahn hatte hierfür die Konzeption der Biographiegeneratoren wie Beichte, Psychoanalyse, etc. etabliert, vgl. Hahn 1987: 11f.). 66 In der Niederlausitz kommt es seit einigen Jahren tatsächlich zu einer Art Invention of Tradition (im Sinne von Hobsbawm und Ranger 1983), da in einem Ort, Lübbenau, seit 1998 das Osterreiten von evangelischen Sorben eingeführt wurde. Mit deutlichen, bewusst gesetzten Unterschieden zur Oberlausitz („als eigene Prägung, nicht Kopie“): Viele der Teilnehmer sind Frauen, welche nicht im angesprochenen dress-code, sondern vielmehr wirklich im „Reitkostüm“ gekleidet sind und nicht während, sondern nach dem Reiten gemeinsam beten und singen. Angeregt von zwei Laien des Ortes, resultiert diese Einführung laut einem der Organisatoren, dem evangelischen Pfarrer, mit aus dem Bedürfnis, „in Zeiten der Säkularisierung den Menschen (politisch) unbelastete Bräuche anzubieten, welche auch einen religiösen Inhalt hätten. (…) Die Frage der Identität [sei] gerade in der Niederlausitz ‚am Kochen‘“. Vgl. Expertengespräch mit dem evangelischen Pfarrer der Gemeinde Lübbenau, 2007. Inwieweit diese Praxis tatsächlich auf historische Vorläufer zurück greifen kann, welche Entwicklung sie in Zukunft nehmen wird und ob dies Einfluss auf die „kochende“ Identitätskonstruktion der Sorben in Lübbenau haben wird, muss vorerst offen bleiben.
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Rückgriff auf die sorbische Identität im Sinne einer Reethnisierung erfolgen. In Anlehnung an Hans-Georg Soeffner könnte man sagen, dass Vielfalt und Konkurrenz der Identitätsangebote der sorbischen Identität hier keineswegs hinderlich, sondern vielmehr förderlich sind67 (Soeffner 2000: 17f.). Obgleich die Kirchlichkeit68 (im Sinne institutionalisierter Religiosität) auch unter sorbischen Jugendlichen nicht mehr so stark ausgeprägt zu sein scheint69, vermag der Brauch zeitweilig als „Magnet“ zu wirken: „Und ich denke, es hat zwar abgenommen, aber viele sind noch so, dass sie eben regelmäßig zur Kirche gehen und ich würde zwar nie sagen, das Katholische in vollen Maßen pflegen, aber irgendwie, Ostern zum Beispiel: Das Osterreiten ist ein katholischer Brauch, da sind die Jungs eben eine Woche vor Ostern sind die auf einmal alle katholisch, gehen zur Messe.“70 So sehr sich das Band zur Kirche also auch lockern mag, es wird nicht zwangsläufig gekappt: Den Gläubigen geht es nicht so sehr um eine theologisch reflektierte, kirchenamtlich approbierte Glaubenslehre, sondern um eine populäre religiöse Praxis, in der eine Art religiöser Geselligkeit erfahren wird. Deshalb werden kirchliche Prozessionen, Wallfahrten nach Rosenthal, gemeinsame religiöse Bräuche – besonders Osterreiten oder Fronleichnam – oder auch einfach die sonntäglichen Gottesdienste, bei denen eine pathetische, feierliche Gemeinschaft erfahren wird, in der viel gesungen und gemeinsam laut gebetet wird, als dasjenige bezeichnet, was die Sorben zusammenhält. Bei solchem zeremoniellen Handeln entsteht dann das starke und feierliche Gefühl einer großen Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit (vgl. Walde 1993: 41, eigene Hervorhebung).
Der Ritus fungiert damit nicht nur als „Magnet“, sondern auch als „Anker“ 71 (Walde spricht in diesem Zusammenhang auch von der „gesuchten Kollektivität“ der Reiter, gerade unter den Jüngeren72), was angesichts des Nachwuchsmangels der 1980er Jahren die Beobachtung der Renaissance des Brauches in den 1990er Jahren und die beständige Anziehungskraft für Akteure und Zuschauer stützt – trotz des bereits diskutierten Balanceaktes zwischen reli-
67 Bei diesem freilich bezogen auf die pluralen religiösen Sinnangebote und die Genese des christlichen Monotheismus. 68 Welche von Religiosität zu differenzieren ist: „Nahezu alle neueren empirischen Untersuchungen, die der Frage nachgehen, wie stark sich Menschen an Religion und Kirche gebunden fühlen, ergeben (...) sehr niedrige Werte. Immer weniger Menschen entnehmen die Sinngebung ihres Lebens den Botschaften der etablierten christlichen Kirchen. Tiefe Religiosität, zumal lebenslange, erscheint gegenwärtig als ein Minderheitenphänomen. Selbst auf dem Lande hat sie in den letzten zwei Jahrzehnten drastisch abgenommen.“ (Hahn 1997: 25f.). Vgl. generell zur Kulturbedeutung von Religion in der Gegenwart: Bergmann/Hahn/Luckmann (Hrsg.) 1993. 69 Empirisch erfasst z.B. in der Häufigkeit von Gottesdienstbesuchen, dem Engagement als Messdiener o. ä. Das Phänomen der Entkirchlichung (welches auch von einigen Interviewpartnern angesprochen wurde) begründet sich dabei neben Säkularisierung und den mit der Moderne einhergehenden Individualisierungsprozessen auch auf den „Pluralismus – das heißt, der Verlust auch jedes restlichen Monopols der Kirche auf dem Gebiet der Werte und der geistigen Orientierung. (…) Pluralismus heißt hier einfach die gesellschaftliche Koexistenz und Interaktion verschiedener Weltanschauungen und Wertsysteme.“ (Berger, zitiert nach Vogelgesang et al. 1999: 152). 70 Interview 5, Zeilen 677-682 (mit einer katholischen Sorbin, 25 Jahre alt). 71 Christoph Wulf bezeichnete Riten auch als „lebensweltliche Scharniere, die durch ihren ethischen und ästhetischen Gehalt eine unhintergehbare Sicherheit in den Zeiten der Unübersichtlichkeit gewähren sollen. Mit einem Wort: Rituale versprechen eine Kompensation für die mit der Moderne verbundenen Verlusterfahrungen von Gemeinschaftlichkeit und Kommunikationsmöglichkeiten, von Identität und Authentischem, von Ordnung und Stabilität, oder auch von Langsamkeit und Präsenz“ (Wulf 2004: 7). 72 Vgl. Experteninterview mit Martin Walde, Serbski institut z.t., Bautzen 2007.
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giösem Ritual und religiösem Event. Wie bereits ausgeführt: Ohne Zuschauer, rahmendes Publikum wäre auch das Ritual des sorbischen Osterreitens nicht zu denken. Das öffentliche Bekenntnis zur Minderheit, in welchem sich die wesentlichen Elemente sorbischer Identität Sprache, (katholische) Religiosität und eben die Selbstbeschreibung als Sorbe bündeln, „gelingt nur dann, wenn sie von anderen anerkannt wird. (…) Die Außenstehenden müssen nicht nur die Identitätsbehauptung eines einzelnen Subjekts anerkennen, sondern auch die Gleichheit der Gemeinschaftsangehörigen im Hinblick auf die behauptete Identität“ (Giesen 1999: 18f.). Mit dieser Übereinstimmung verblassen eben auch zeitweise die durchaus vorhandenen individuellen Variationen sorbischer Identität, wird die Zugehörigkeit zur ethnischen Minderheit der Sorben rituell und symbolisch inszeniert. So bedeutsam die Gemeindebindung der katholischen Kirche „als Verstärker der (…) Identität der Gruppe“ (Toivanen 2001: 46, eigene Hervorhebung)73 und als tragender Pfeiler des sorbisch-katholischen Milieus generell sein mag, bei der Organisation und Durchführung der Osterreiterprozession tritt die Institution zugunsten von Laien in den Hintergrund, übt keinen Einfluss auf die konkrete Gestaltung der Prozession aus.74 Auch wenn das Ritenmonopol (Hahn 1974: 71-77) der katholischen Kirche hinsichtlich der Rites de Passages, rituell begleiteten Statusübergänge in neue Lebensphasen wie Taufe, Kommunion oder Eheschließung (vgl. Hahn 1977) in der Oberlausitz unangefochten zu bestehen scheint, im Ritual des sorbischen Osterreitens wird es temporär gebrochen.
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73 Dies wurde vor allem in der Zeit totalitärer Regime wie dem Nationalsozialismus und der DDR deutlich. 74 Dennoch nimmt der Pfarrer der Gemeinde eine wichtige, unverzichtbare Rolle bei der Prozession ein: Er hält die rahmenden Gottesdienste in der Osternacht und am Ostersonntag ab, spendet die Sakramente (die Reiter sind zur Beichte vor der Prozession angehalten), segnet Reiter und Pferde vor der Heimatkirche aus und im Nachmittag wieder ein. In einigen der Dörfer reiten die Pfarrer selbst mit, dies ist aber keinesfalls die Regel.
Rituelle und symbolische Inszenierung von Zugehörigkeit
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„Tangowelt Berlin“ – Strukturierung, Performanz und Reflexivität eines kulturellen Feldes Rainer Diaz-Bone
Es war ein großer, hoher, irgendwie trapezförmiger Raum in einem verlassenen Industriegebiet, beheizt von einem großen Kanonenofen und den Menschen, die sich in diesem Raum aufs intensivste bewegten. (…) Ich kannte und liebte den Tango bis zu diesem Zeitpunkt nur als Hörmusik und das vor allem in der Form des Tango-Nuevo eines Piazzolla, Matteo oder Mosalini. An diesem Abend wurde auch das gespielt, aber nur sehr wenig und erst ganz zum Schluss, denn danach können sich wirklich nur sehr weit fortgeschrittene TänzerInnen adäquat bewegen. Es war der Volkstango, der rhythmische Straßentango der 30er und 40er Jahre, der hier im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angab. Und natürlich diese Frau, von der ich den ganzen Abend kein Auge lassen konnte. Es war eigentlich nicht diese bestimmte Frau, sondern die Tatsache, daß ich zum ersten Mal eine Frau so wahrgenommen habe: als hingebungsvolle, ausdrucksstarke und zugleich selbstbewußte Tänzerin. Erst sah ich sie nur allein, dann zusammen mit ihrem jeweiligen Tänzer und später auch die anderen Paare. Die vielen Bilder dieser aneinander gelehnten oder geschmiegten Menschen in ihren immer wieder überraschenden Tanzfiguren wurden eins mit der Musik. Mit einem Mal verloren die Melodien ihre kitschige Süße, ihren für den nicht beteiligten Zuschauer oft so schrammeligen und leiernden Sound und gingen mir nicht nur ins Ohr, sondern auch unter die Haut. Ich vergaß die Zeit. Als ich das Lokal verließ, war es weit nach Mitternacht und ich wußte, daß ich diesen Tanz nicht nur von außen, sondern auch von innen erleben wollte. (Kraemer/Voß 1999: 6)
1. Eintritt in die Tangowelt Das Schauspiel wiederholt sich Nacht für Nacht, wenn die Dunkelheit von der Hauptstadt Besitz ergriffen hat. Dann streben in Kreuzberg, Mitte oder Prenzlauer Berg einzeln oder paarweise zumeist dunkel gekleidete Gestalten, mit Stoffsäckchen oder kleinen Rucksäcken ausgestattet, zielstrebig Toreinfahrten an, um Hinterhöfe zu durchqueren und um in Hinterhäusern Treppenaufgänge zu ersteigen – vorbei an den Etagen mit kleinen Ateliers und kleinen Handwerksbetrieben – um dann eine schwere Tür zu öffnen. Durch diese treten sie in zumeist überraschend große und hohe Tanzsäle ein, die mit Parkettfussboden, einer Bar und Tischgruppen ausgestattet sind – manchmal sogar mit Kronleuchtern, Spiegeln und roten Samtvorhängen an den Wänden.
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Hierbei handelt es sich um umgebaute Fabriketagen, ehemalige S-Bahn- und Brauereigebäude oder betagte Hinterhaus-Ballsäle. In vielen Fällen werden die Räumlichkeiten nur ein oder wenige Male in der Woche für den Tango genutzt. Dann aber erfüllen die rhythmischen Tangostücke der klassischen Tangoorchester, der modernen Tangokomponisten oder der neuen Elektrotango-Formationen mit dem charakteristischen Bandoneonsound den Raum, in dem Dutzende und am Wochenende Hunderte von Tänzerinnen und Tänzern die Nacht hindurch tanzen. Frau oder Mann bezahlt an der Kasse den Eintritt, begibt sich in die Garderobe, hängt Jacke oder Mantel auf und zieht die Straßenschuhe aus, um die in den Stoffsäcken oder Rucksäcken mitgebrachten Tangoschuhe anzuziehen. Dann betritt man die Welt des Tango Argentino.
2. Ein Skript für die Milonga Für einen solchen Tangoabend gibt es ein Skript. Zwischen neun und zehn Uhr abends kommen nach und nach die ersten „Tangueras“ und „Tangueros“ in die „Milonga“ – so werden sowohl das Tanzetablissement (die Tangotanzstätte, der Tangosalon) als auch die Tanzveranstaltung (das Tangoevent) als auch ein (zudem der älteste) Tangotanzstil bezeichnet. Die Veranstalter, die häufig zugleich Mieter des Etablissements sind, kümmern sich um den Ablauf des Tanzabends und – wenn sie dazu kommen – begrüßen die bekannten Gesichter. Wer in die Milonga eintritt, blickt umher, um zu sehen, wen man kennt, welche Freunde man mit einem Nicken oder einer Umarmung begrüßt, um die Situation daraufhin in den Blick zu nehmen, was los ist, wie die Stimmung ist, wie viele Leute da sind und wo man sich gut platzieren kann. Die Räume, in denen die Milongas stattfinden, weisen um die Tanzfläche herum Sitzgelegenheiten mit Tischen und Stühlen auf. Man versorgt sich mit einem Glas Wein (stilecht ist argentinischer Rotwein und zudem ein Glas Wasser) oder einem Glas Bier, an dem man nippen und „sich festhalten“ kann, dann platziert man sich und beobachtet das Geschehen oder redet ein wenig mit dem Tischnachbarn. Das Kommen weiterer Tänzerinnen und Tänzer erstreckt sich über Stunden. Erst in der Zeit vor Mitternacht sind die Milongas voll besucht – Tango ist eine Nachtkultur, wie dies auch für andere urbane Tanzclubszenen gilt. Den ganzen Abend und weit in die Nacht hinein drehen die Paare gegen den Uhrzeigersinn ihre Runden und um die Tanzfläche herum stehen dann auch Zuschauer und beobachten zusammen mit den Sitzenden das Tangogeschehen. Die Beobachter sind in diesem Moment das Publikum. Hier findet sich das erste Rollenset der Beobachtenden. Aber auch das beobachtende Publikum „spielt“ eine Rolle mit, es ist Teil der Bühne, weil die Aufmerksamkeit nicht nur auf das Tanzgeschehen auf dem Parkett gerichtet ist, sondern sich die Beobachtenden auch untereinander beobachten: wen hat man bereits tanzen sehen, wen kennt man und wer käme als nächste Tanzpartnerin oder als nächster Tanzpartner in Frage, mit wem möchte man tanzen, von wem möchte man aufgefordert werden, vom wem nicht? Steht ein Tänzer auf, schreitet zu einer Tänzerin an den Tisch und fordert sie zum Tango auf, wechseln sie die Rollen und schreiten zusammen auf die Tanzfläche, die in dieser Szene der andere Teil der Bühne ist, auf der die Tänzerinnen und Tänzer für andere, aber eben auch füreinander und für sich selbst nun Rollen einnehmen und ihre Vorführungen beginnen: Sie bilden ein Rollen-Ensemble (Goffman 1983).
„Tangowelt Berlin“
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Anders als in den Salsatecas und den Salsaveranstaltungen der Hauptstadt finden sich in der Tangowelt Berlin kaum Südamerikanerinnen und Südamerikaner. Die Tangoszene rekrutiert sich aus den urbanen Milieus mit höherer Bildung. Hier kommen die Berlinerinnen und Berliner sowie die Tangotouristen aus anderen Städten zusammen, um gemeinsam Geselligkeit, aber auch die Momente körperlicher Nähe zu suchen, die der Tango in reglementierter Form ermöglicht. Ein weiterer Unterschied zu anderen Clubkulturen der Stadt (Salsa, der Techno) ist die Altersheterogenität. Die Tangoszene wird aufgesucht von Frauen und Männern im Altersspektrum, das von Anfang zwanzig bis Anfang sechzig reicht, dabei ist die Mehrheit der Tänzerinnen und Tänzer in ihren 30er und 40er Jahren. Sie sind (wie die Großstadtbevölkerung insgesamt auch) häufig Singles und kinderlos.1 (Die Altersgruppen verteilen sich aber auf die Milongas der Stadt unterschiedlich.) Auch der Kleidungsstil zeigt Variationen. Die Frauen tragen Tanzkleider bevorzugt in Schwarz oder Rot, schulterfrei mit dünnen Trägern. Selten tragen die Tänzerinnen Hosen. Einige der Kleider weisen Stilelemente der 1920er Jahre auf: sie sind an den Seiten geschlitzt, so dass sie Bewegungsfreiheit und Sicht auf die Beine (und häufig auf die Netzstrümpfe) gewähren oder sind schräg geschnitten. Charakteristisch sind die schwarzen und schwarz-roten Tangoschuhe der Frauen mit hohen Absätzen und über dem Spann elegant gekreuzten Lederriemen (auch in TForm). Die Männer tragen Hemden und mehrheitlich dunkle Hosen oder Jeans. Dazu dann dunkle Tanzschuhe mit niedrigem Absatz. Das Spiel mit dem imaginären Kleidungsstil des Tangos, seine stilistische Überhöhung sind möglich, und finden insbesondere bei den Tangobällen statt, die besondere Tanzevents sind (anlässlich von Feiertagen wie Silvester, Tanz in den Mai oder zu Tangofestivals). Hier treten vermehrt Tangueros in Anzügen auf und mit schwarz-weiß lackierten Tangoschuhen, die Tangueras tragen mehr Strass, die Kleider sind festlicher (dann wallend und länger) oder aufreizender (dann eng und kürzer). Aber die Tangowelt hat multiple Kodes. Gerade jüngere Tangueros und Tangueras treten auch mit Sportschuhen und in sportiver Kleidung auf das Parkett, wo sie dann gekonnt den Tanz als Clubevent inszenieren. Die Tangowelt eröffnet vielfältige Optionen für Bricolage, für das spielerische Basteln am Kleidungsstil (Hebdige 1983), um die Semiotisierung des Femininen oder Maskulinen zu probieren, um seine Haltung zur Ernsthaftigkeit und zur Aura des Tanzevents mit der eigenen Kleidung zum Ausdruck zu bringen. Zum Skript gehört das Aufforderungsspiel. Männer fordern auf, Frauen werden aufgefordert. Beide suchen dabei die Blicke des Anderen, bleiben diese aneinander hängen, nickt er ihr zu, sie erwidert und der Mann schreitet zu ihr hin und bittet um den Tanz. Seltener ist, dass Frauen aufstehen, um Männer aufzufordern. Die Körpersprache und der Gesichtsausdruck der Frau sollen anzeigen, ob sie aufgefordert werden kann. Die Haltung zur Tanzfläche, der Blick auf die Tanzfläche, das gelassene und doch aufmerksame Umherschweifen des Blicks signalisieren eine Bereitschaft dafür. Wenn man zusammen sitzt, reicht eine Gesprächspause und ein Einschub: „Wollen wir?“, um zusammen aufzustehen und auf das Parkett zu schreiten. 1 Eine Soziodemografie der Tangowelt ist schwerlich möglich, da bereits die Bestimmung der tanzenden „Population“ und dann insbesondere eine Datenerhebung schwierig sind. Dennoch gibt es Versuche, anhand von kleineren Umfragen (mit Selbstrekrutierung bzw. bewusster Auswahl) „Eckdaten“ zu erhalten. Das Durchschnittsalter der Tänzerinnen liegt demnach bei ca. 38 Jahren, das der Tänzer bei ca. 41 Jahren (Vödisch 2003). Die von Vödisch per Internet (und mit Ankündigung in der Zeitschrift „Tangodanza“) durchgeführte Befragung ergab, dass die Befragten im Durchschnitt an 6 Milongas im Monat teilnehmen. Die Erhebung per Internet dürfte aber einen Bias zugunsten der Jüngeren aufweisen.
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Man tanzt dann mindestens drei Tänze zusammen. (Weniger käme einem nachträglichen Korb gleich.) Zumeist werden es dann fünf und mehr Stücke, die man zusammen tanzt. „Tango Argentino“ differenziert sich in drei Tanzformen: Tango, Tango-Vals und Milonga. Der Tango wird zu den rhythmisch akzentuierten Tangostücken getanzt, von denen viele durch ihre melancholische und manchmal melodramatische Stimmung das Genre als klassische Musikform markiert haben. Hier sind es einmal die alten Aufnahmen der klassischen Tangoorchester und die Tangochansons, dann aber auch die raffinierten und treibenden Kompositionen des Tango Nuevo (insbesondere von Piazzolla), zu denen getanzt wird. Der Tanzstil Tango-Vals ist die beschwingtere Walzeradaption der Tangowelt, zu dem aber Tangoschritte getanzt werden. Der Tanzstil Milonga wird schneller und enger als die beiden anderen Tanzstile getanzt. Die fröhlichen Milongastücke sprühen für Tangoverhältnisse geradezu vor Lebensfreude. Die Abwechslung der Tanzstile zu moderieren ist Aufgabe des Tango-DJs. Die Tangos bilden den Anfang und sie überwiegen. Die Regel ist, dass im Laufe des Abends immer wieder Serien von Tango-Vals- und Milongastücken aufgelegt werden. Dann intensiviert sich das Tempo. Auf der Tanzfläche findet – insbesondere wenn der Tanzstil wechselt – ein reges Kommen und Gehen statt. Mit fortschreitender Stunde leert sich das Tangoetablissement nach und nach, allmählich experimentieren die Tango-DJs mit anderen tangotanzbaren Genres (wie Musikstilen der so genannten „World-Music“ oder französischen Chansons). Einige Milongas gehen bis in die frühen Morgenstunden. Auch wenn sich dann die Reihen allmählich lichten, den Tanzenden mehr und mehr Platz auf dem Parkett zur Verfügung steht und sich allmählich einzelne aufmachen, bricht das Tanzgeschehen und die Aufmerksamkeit dafür nicht ab. Bis zum Ende ist die Stimmung zwar entspannt, zuweilen fröhlich (und gerade nicht: melancholisch), aber auch konzentriert, der Tango erfordert neben dem Sich-Einlassen auf die Nähe des anderen auch die Konzentration für die koordinierte Bewegung und sinnliche Präsenz für die beiden Körper. Bemerkenswert ist, dass keine „Ausschweifungen“ stattfinden. Das Verhalten in der Milonga ist nicht ekstatisch, sondern durch Selbstkontrolle und die Beachtung der sozialen Umgangsformen des Salons gekennzeichnet. Der Alkoholkonsum ist maßvoll, denn angetrunken würden die Tangueras und Tangueros ihre Konzentrationsfähigkeit und damit die Fähigkeit verlieren, improvisierend zu führen bzw. der Führung unmittelbar und sofort zu folgen. Auch Wasser, weniger Kaffee, Cappuccino und Milchkaffee werden den Abend und die Nacht hindurch getrunken – Ersteres insbesondere, um den Flüssigkeitsverlust, der während des Tanzens entsteht, auszugleichen. Tango lässt nach den Stunden des intensiven Tanzens das Schwitzen als leibliches Zeichen von körperlicher Intensität erkennen. Trotz der körperlichen Nähe im Tanz, die sich durch die enge Tanzhaltung und das intensive Tanzerleben einstellt, ist diese zugleich eng reglementiert. Das gilt zumindest für die Haltung des Oberkörpers, der Arme und Hände. (Die Armhaltung ist der des Walzers ähnlich.) Nach einigen Tänzen gehen die Paare auseinander, viele verlassen dann in unterschiedlicher Richtung das Parkett, setzen sich wieder und beginnen die Suche nach neuen Tanzpartnern für weitere Tänze. Die körperliche Nähe beim Tanz dauert nur so lange an, wie die Musik, zu der man tanzt. Zwischen den Stücken steht man sich gegenüber, gibt die Tanzhaltung zwischenzeitlich auf und wechselt ein paar Worte. Diese dienen auch der Verständigung, ob man weiter zusammen tanzt oder sich wieder an seinen Platz begibt. Danach ist die körperliche Nähe des anderen nur eine gesuchte und gemachte Erfahrung und nicht der Beginn einer Liebesbeziehung oder das Vorspiel eines intimeren Kontaktes.
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Das ist zwar das immer wieder besungene Klischee des Tangos seit seiner argentinischen Entstehungszeit, aber es gehört zum Reglement der europäischen Tangowelt, dass über eine eventuell weitergehende Kontaktaufnahme Stillschweigen bewahrt wird und die Idee des Tangos hier diejenige eines Spiels zwischen den Geschlechtern ist, zu dem gehört, dass man aus ihm besser nicht „Ernst“ werden lässt (in Form einer sexuellen Liaison) – nicht nur um das Spiel weiter ungebunden spielen zu können, um nicht von Eifersucht angefressen zu werden, sondern um mit dieser Haltung immer wieder neu die Nähe zu unbekannten Partnern auf dem Parkett eingehen zu können, die sich dann folgenlos, d.h. hier: ohne aufkommende Erwartungen auf ein Sich-näher-Kennenlernen, auflösen kann. So erscheinen das Eingehen von inniger Tanzleidenschaft häufig mit Unbekannten und das Sich-der-Leidenschaftlichkeit-überlassen emotional überhaupt erst möglich zu werden. Nur mit Fremden, mit denen man auf dem Parkett allein das Tanzgefühl und die Situation teilt, kann man das reine Tanzgefühl teilen, unbeeinträchtigt von anderen Gefühlslagen, Erwartungen und Narrationen – so tritt die Gefühlsstruktur des Tangos, die zwar nur individuell erlebt werden kann, als durch den Salon auch reglementierte, so vergesellschaftete und keineswegs private Gefühlsstruktur (Williams 1977, Diaz-Bone 2002) den in die Tangowelt Eintretenden entgegen. Die Situation ist anders bei Paaren, die als Paar zusammen kommen und als Beziehungspaar wahrgenommen werden. Diese tanzen häufig den Abend ausschließlich miteinander und sitzen dann auch von anderen getrennt zusammen. Sie werden dann als Paar wahrgenommen, das die Milonga besucht, um einen gemeinsamen Abend zu verbringen. Die Partnerin wird dann nicht aufgefordert, zumindest nicht solange beide zusammensitzen und nicht erkennbar ist, dass die beiden Partner auch mit Dritten tanzen. Eine Aufforderung könnte als Intervention erscheinen, das Paar bildet um sich eine unsichtbare Grenze, die viele Tänzer davon abhält, an den Tisch heranzutreten und die Partnerin aufzufordern. Die Situation ist eine andere, wenn ein Paar eine Milonga besucht, in der es mit anderen bekannt ist. Hier wird die Interaktion mit anderen beobachtbar, das Paar wird als eingebettete Beziehung in einem Netzwerk wahrgenommen, in dem dann Dritte die Partner zum Tanzen auffordern. Die Situation ist auch dann anders, wenn wahrgenommen wird, dass die beiden Partner selber Dritte auffordern und damit die Definition des Paars sich in der Milonga für Dritte öffnet.
3. Der Tanz als Rollen-Ensemble Diese Welt realisiert sich jeden Abend in ihren Inszenierungen mit eigenen Bewegungsformen, Körpervisionen und Interaktionsordnungen (vgl. zu den Konzepten Willems 1997, Willems 1998). Der Tango Argentino ist zunächst nur ein Paartanz wie viele andere. Auch hier geht es um einen am Tanzpartner und der Musik ausgerichteten, koordinierten Bewegungsablauf mit Rollendifferenzierung. Aber dieses Genre ist als Tanzgenre spezifisch, weil hier nicht nur Grundschritte und viele Dutzend Schrittvariationen existieren, sondern die Perspektive diejenige einer mit der „Könnerschaft“ zunehmend freien Improvisation ist. Dieser Tanz ermöglicht, dass seine Schrittelemente passend zur Dramaturgie eines Tangostücks in immer neuen Kombinationen getanzt werden. Dazu zählt abruptes Halten oder Richtungs-
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wechsel, Drehkombinationen in beide Drehrichtungen. Dabei fällt die Rollendifferenzierung in der Tanzbewegung sofort ins Auge, da die Tanzpartner viele Bewegungen nicht spiegelbildlich ausführen. Der Tänzer führt die Partnerin mit seinem Oberkörper immer wieder so, dass er selbst nicht dieselbe Tanzbewegung ausführt. Zudem stehen Schrittelemente zur Verfügung, die den Bewegungsfluss wechselseitig unterbrechen, dramatisieren und im Tanz eine Rollendifferenzierung hervortreten lassen. Schritte des Tänzers zwischen die Beine der Partnerin (Saccada), das Umklammern des Oberschenkels des Partners mit einem Bein oder das Einhaken zwischen die Beine des Partners (Gancho) sind Elemente, die eine Beibehaltung der Kontrolle des eigenen Stands, der so genannten „Achse“ (die die Kontrolle sowohl des Gleichgewichts als auch der aufrechten Haltung in gemeinsamen Drehungen und Gehbewegungen bezeichnet), erfordern und die in der Außenwahrnehmung als „übergriffig“ erscheinen können. Zudem wird Tango Argentino (insbesondere der Tanzstil Milonga, weniger der Tanzstil Tango-Vals) immer wieder sehr eng getanzt, die Oberkörper berühren sich, die Beine scheinen ineinander zu laufen. Tango erscheint wie die Unterwerfung der Tänzerin unter die Führung des Tänzers. Er führt und dominiert den Bewegungsablauf, sie folgt und führt aus. Er geht meist vorwärts auf sie zu, sie schreitet zurück. Der Tango wird in der Außenwahrnehmung entweder mit einer Atmosphäre der Erotik und Promiskuität oder mit melancholischen Stimmungen assoziiert. Das sind die Klischees der Literatur, des Films und der Werbung. Die empirische Realität der Milongas hat nicht nur ihr eigenes Reglement, wie Distanz und Nähe gehandhabt werden, in welchen Spielräumen die Geschlechterrollen ihr Spiel entfalten, in dem sie experimentieren, sondern auch ganz andere Haltungen und Stimmungen. Einige der tanzenden Paare verfügen über ein eingeschränktes Repertoire an Schrittelementen. Paare, die mit dem Tango erst als Paar zu lernen begonnen haben und die stets zusammen tanzen, lassen häufig erkennen, dass sie „verabredete“ und als Paar eingespielte, schnell erkennbare Schrittfolgen tanzen, die manchmal noch unsicher ausgeführt werden und bei denen die Tänzerin dann die fehlende Führung des Partners verrät, wenn sie ihre Schritte setzt, bevor der Tänzer diese erkennbar geführt hat. Der Ausdruck in den Gesichtern ist dann ernst und konzentriert, Mann und Frau „arbeiten“ noch an ihrer Koordination und gemeinsamen Darstellung der Tanzrollen. Dennoch sieht man die Momente der Irritationen über fehlende Koordination oder einfach des kurzen Lachens über das Missglücken in den Gesichtern, wenn die Koordination (noch) nicht gelingt. Hier ist der Tanzausdruck durch die Arbeit an sich selber geprägt, Tango zu tanzen, d.h. den Tanz zu erlernen, ist anfangs ein langes Probieren und Üben. Besondere Aufmerksamkeit erheischen die Paare, die virtuos immer neue Schrittfolgen kombinieren. Hier kann ein Ausdruck des entspannten Vergnügens oder ein detachierter (mitunter blasiert wirkender) Ausdruck die Ausführungen und das spielerische oder gekünstelte Gelingen einer – für die Beobachtung wie insgeheim erfolgten und kontinuierlich gelingenden – Koordination begleiten. Tango scheint dann nicht mehr Arbeit zu sein, das „Reich der körperlichen Anstrengungen“ erscheint hier wie transzendiert. Zwischen diesen Formen gibt es vielfache Spielarten. Dazu zählen „Anfängerpaare“, die noch etwas unbeholfen, dennoch unbekümmert die ersten Schritte probieren und dabei doch auch ihr Vergnügen bei ihrem Eintritt in die Tangowelt erkennen lassen. Das Vertrauen in die Führung äußert sich manchmal darin, dass die Geführte zeitweise die Augen schließt und sich entspannt der Führung überlässt – obwohl sie rückwärts schreitet und nicht sehen kann, wohin sie geführt wird – darauf vertrauend, dass der Führende den Raum hinter ihr auf der Tanzfläche im Blick hat. Für die
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Geführte zeigen sich die Momente, in denen sie über Feiräume im Tanz verfügt, anhand der Verzögerungen, die sie sich einrichtet, der verzierenden Fußbewegungen, die sie ausführt. Im europäischen Tango Argentino entstehen Freiräume auch durch den Rollenwechsel und das Spiel mit den Rollen. Immer wieder kann man Frauen tanzen sehen, die selber die Führungsrolle übernehmen und eine Partnerin führen. Nur sehr selten tanzen (zumindest in Berlin) zwei Männer miteinander oder lassen sich Männer von Frauen führen.
4. Das Phänomen Tango Argentino Der „Ursprung“, die „Authentizität“, das „Wesen“ des Tangos sind nicht zu ergründen, was viele Möglichkeiten für die Essays und Narrationen zum Tango einrichtet. Das Phänomen ist entstanden und immer wieder transformiert worden als Gemengelage aus Importen und Adaptionen einerseits, Erfindungen und Stilisierungen andererseits. Die Geschichten von der Geschichte des Tangos berichten, dass Ende des 19. Jahrhunderts in den Hafenvierteln und Vorstädten von Buenos Aires der Tango im Milieu der Unterwelt und der Bordells entstanden ist.2 Die Ursprünge des Tangos sind zwar nur ungefähr bekannt, man weiß aber, dass der Tango vielfältige Einflüsse der Einwandererkulturen verschmolzen hat, darunter die Aufnahme des Bandoneons (eine Art Akkordeon und Weiterentwicklung des Krefelder Herstellers Heinrich Band). Die internationale Erfolgsgeschichte des Tangos beginnt als Phänomen mit seinem Export nach Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Erst hier wird die in Argentinien von den Mittel- und Oberschichten abgelehnte Unterschichtenkultur von der französischen Bourgeoisie begeistert aufgenommen und es kommt zu mehreren Tangowellen in Paris – zeitverzögert auch in New York, London und Berlin, die bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs andauert. Der Tango wird hier adaptiert, gezähmt und salonfähig gemacht – damals unter Protest des argentinischen Botschafters (Salas 2002; Zalko 2004), denn die Oberschicht Argentiniens erachtet den Tango als deprivierte und deviante Kultur. Die französische Adaption führt eine Kleidermode für den Tango ein, in Paris entstehen Tanzschulen und die Tangobegeisterung ermöglicht eingereisten Musikern in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht nur Auftritte in Europa, sondern auch die gesellschaftliche Anerkennung in Argentinien. Denn die kleine Oberschicht Argentiniens orientiert sich an dem Lebensstil der französischen Bourgeoisie. Was in Paris Mode ist, ist kurze Zeit später auch in Buenos Aires Mode. Es folgen erste Schallplattenaufnahmen und Tangopartituren erreichen nun hohe Verkaufszahlen. Zu dieser Zeit entstehen die ersten Tonfilme. Der aus Frankreich nach Argentinien eingewanderte Sänger Carlos Gardel singt in frühen Hollywood-Filmen Tangochansons, die von da an weltweit bekannt werden und mit denen er zum ersten internationalen Tangostar wird. Diese sind in einem standardisierten Spanisch gesungen, das in allen spanischsprachigen Nationen verstanden werden soll und weitestgehend von Idiomen aus dem argentinischen Unterweltjargon (dem Lunfardo) bereinigt wurde. Gardel ist zwar ein Tangostar, in Argentinien nimmt zu seinen Lebzeiten aber der Erfolg 2 Siehe für die Geschichte des Tangos Reichardt (1981), Künstlerhaus Bethanien (Hrsg.) (1982), Janke (1984), Birkenstock/Rüegg (1999), Salas (2002).
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allmählich ab, erst mit seinem Tod wird er zur nationalen Kultfigur und zur internationalen Ikone des Tangos, zur Verkörperung des melancholischen Sentiments des enttäuschten und sehnsüchtigen Einwanderers, des verlassenen oder betrogenen Liebhabers (Aravena 1989; Salas 2002). Die Tangowelt ist nur begreiflich, wenn man sieht, dass sie von Beginn nicht nur die Diskursivierung und Produktion von „Authentizität“ und „Traditionen“ leisten muss, sondern dass sie durch transatlantische „Transplantationen“ (und zwar in beiden Richtungen) entsteht, durch die ein importiertes kulturelles Phänomen in einen anderen sozio-kulturellen Kontext gestellt wird. Hier verändert sich seine sozio-kulturelle Bedeutung oder anders ausgedrückt: hier erst entsteht das, was „Tango“ in diesem Kontext bedeutet. Diese neue sozio-kulturelle Bedeutung bricht mit einer „authentischen“ Bedeutung, die Tango vorher und woanders gehabt haben mag. Nachdem der Tango in Paris seit Anfang des 20. Jahrhunderts seine Legitimation erhalten hatte, wird er dann auch in Argentinien zu einer Populärkultur – nun aller sozialen Schichten. Mit dem zweiten Weltkrieg ebbt die Tangomania in den europäischen Metropolen ab und in den 1950er Jahren verliert er auch in Argentinien an Popularität, er wird zur Kultur der Eltern bzw. der Großeltern, die deren Kinder nicht mehr als zeitgemäß auffassen. Diese tanzen lieber Rock‘n‘Roll später dann (in den Discotheken) zu Rock- und Popmusik, anstatt in den alten Salons und Cafés Tango zu tanzen. Aber in dieser Zeit revolutioniert ein in New York und Paris ausgebildeter Musiker – Astor Piazzolla – den Tango, indem er ihn mit Elementen der zeitgenössischen klassischen Musik verbindet. Piazzollas Kompositionen sind lange in Argentinien verpönt, sie gelten nicht als traditioneller Tango. 1973 übernimmt das Militär die politische Macht in Uruguay und Chile, dann 1976 auch in Argentinien und viele politisch Verfolgte finden Exil in Paris, darunter auch Tangomusiker. Tango wird hier für die Exilanten zu einer Gegenkultur zu den rechtskonservativen herrschenden Klassen und den Diktaturen in ihren Ländern. Wieder ist es die französische Metropole, die nun die internationale Tangorenaissance einleitet. Anfang der 1980er Jahre werden neue Tangoetablissements in Paris eröffnet (wie das „Trottoir de Buenos Aires“), der Tanz wird erneut unterrichtet und getanzt. Die konzertante Tangomusik experimentiert mit Klassik- und Jazzelementen. Und wieder geht die Tangomusik in andere Medien ein, nun insbesondere als Filmmusik, und es entstehen die ersten Tangofilme, die sich nur diesem Genre widmen und den Tango in den europäischen Metropolen zu einer kleinen, aber wachsenden Szene werden lassen.3 1982 findet in Berlin das Horizonte-Festival statt, das der lateinamerikanischen Kultur gewidmet ist und in dessen Rahmen der Tango in den Berliner Kulturszenen zum Thema wird. In den europäischen Metropolen werden Tangoworkshops veranstaltet, die in den Tanz einführen, es erscheinen die ersten Publikationen (Reichardt 1981, Janke 1984), mit dem Plattenladen (und Versand) „Canzone“ in der Nähe des Savignyplatzes in Berlin (Charlottenburg) werden auch Tangoschallplatten zugänglich. In Berlin werden die ersten Tangotanzschulen gegründet, Berliner Filmfestivals zeigen Tangofilmreihen. Erfolgreiche Tangoshows („Tango Argentino“ und „Tango-Passion“) touren durch die europäischen Metropolen. Seit den 1980er Jahren werden in den europäischen Metropolen (seit den 1990er Jahren dann auch in vielen kleineren Großstädten) immer neue Tangoetablissements (für Unterricht und Tanzabende) gegründet und es finden verschiedene 3
Die einflussreichsten Tangofilme, in denen die Musik und der Tanz im Mittelpunkt stehen, sind in den 1980er Jahren „El Exilio del Gardel“ (1985) und „Sur“ (1988) von Fernando E. Solanas, in den 1990er Jahren „Tango Lesson“ von Sally Potter (1997) und „Tango“ von Carlos Saura (1998).
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internationale Tangofestivals wie die in Hamburg und Berlin statt. International entsteht ein „Tangobusiness“ für Tanzlehrer und neue Tangomusiker, die durch die westliche Welt touren und eine zweite internationale Tangomania nun in den neuen europäischen Kulturmilieus und unter neuen Voraussetzungen ermöglichen, wie denen der massenmedialen Repräsentation des Tangos und reflexiv gewordener Geschlechterrollen. Nachdem der Tango international diese Renaissance erfahren hat, erlebt er auch seit Mitte der 1980er Jahre in Argentinien eine erneute Popularität, die auch durch einen einsetzenden internationalen Tangotourismus nach Buenos Aires genährt wird, wo man versucht, die Tradition wieder aufzugreifen und zugleich einige der jungen Argentinierinnen und Argentinier neue Formen und Synthesen (wie etwa Fusionen aus Tango mit Rockmusik, vor allem elektronischer Musik) entwickeln. Die traditionellen Tangolokale werden zu touristischen Attraktionen, man fährt nach Buenos Aires, um dort Unterricht bei berühmten Tanzlehrern zu nehmen. Die Wegbereiter des zeitgenössischen Tangos (Osvaldo Pugliese) und die heutigen Aushängeschilder des Tango Nuevo (Astor Piazzolla) treten in den 1980er Jahren im Theatro Colon auf, das die Kultstätte der europäischen Hochkultur (Oper, Theater) in Argentinien ist, und ihre Konzerte werden im argentinischen Staatsfernsehen übertragen. Tango wird – wie der Fußball – nun zur staatlich geförderten Nationalkultur. Nach fast einem halben Jahrhundert tritt das Phänomen Tango ein zweites Mal und als ein anderes aus einer transatlantischen Beziehung hervor.
5. Strukturen der Tangowelt Heute kann man davon sprechen, dass sich in Deutschland eine Tangowelt als eigenständige (wenn auch kleine) Kulturwelt (Crane 1992) oder als ein eigenständiges Feld der Kulturproduktion (Bourdieu 1999) ausdifferenziert hat. Dies lässt sich an der Ausbildung einer eigenen kleinen Kulturindustrie mit zugehörigen Institutionen, Praxisformen und Standards erkennen. Die Tangowelt verfügt über ihre eigenen Medien, wie Zeitschriften, Internetseiten (mit Veranstaltungsankündigungen und Adressen), Email-Listen, Radiosendungen. Diese berichten von den Veranstaltungen wie den regelmäßigen Tanzveranstaltungen (den Milongas), den eigenen mehrtätigen Festivals sowie dem sich verstetigenden Strom von Medienproduktionen, wie CDs, DVDs (mit Konzertaufnahmen, Tanzlektionen) und Büchern. Hinzu kommt ein Einzelhandels- und Dienstleistungsbereich, der mit den Angeboten für Tangoschuhe und Tangobekleidung beginnt, sich auf das Angebot an Tangokursen ausdehnt und sich mit in einem Sektor für Tangoreisen (mit Unterricht) fortsetzt. In den Institutionen der Tangowelt findet sich ein zugehöriges Set von ausdifferenzierten professionellen Rollen. Neben den auf den Tango spezialisierten Tanzlehrerinnen und Tanzlehrern finden sich Tango-DJs, Tangomusikerinnen und -musiker, Instrumentenbauer und Restauratoren (insbesondere für Bandoneons), Designerinnen für Tangokleidung, Fotografen und Malerinnen, die Tangobilder aufnehmen bzw. malen, Veranstalter von Tango-Events und Tango-Journalisten. Die Tangowelt verfügt über weitere Expertenrollen wie Rezensenten, Archivare und Historiker sowie eigene Theoretiker. Diese verfassen Lexika, „Geschichten des Tangos“, Diskografien, Bücher zur „Logik“ des Tangos und zu Systemen der Tangotanz-
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lehre. Zudem existiert in Deutschland auch eine Infrastruktur für Tangotourismus (nicht nur nach Buenos Aires, sondern auch für Workshops in europäische Regionen, für die Festivals und die Milongas in den verschiedenen Großstädten), es werden Veranstaltungspläne, Tango-Stadtpläne (für Berlin) erstellt und Tango-Reiseführer (für deutsche Tangotouristen, die nach Buenos Aires „pilgern“) geschrieben. Von der Tangowelt als Kulturwelt oder als Feld zu sprechen, heißt aber auch die symbolische Kulturproduktion einzubeziehen. Die Tangoszene wird damit als eine soziale Sphäre betrachtet, in der verschiedene Akteure, Institutionen und Praxisformen an der nun im Wortsinn kulturellen Produktion des „Tango“ zusammenwirken. Das, was „Tango“ bedeutet, was sein „Versprechen“, seine „Standards“, „Konventionen“ und seine „Qualität“ sind, auf welche Weise er als Tanzform gelehrt und gelernt, aufgeführt, veranstaltet und distribuiert werden kann, was ihn gefährdet, unterminiert, infrage stellt – all das wird in Kulturwelten bzw. Feldern „problematisiert“, „interpretiert“, „legitimiert“ und so diskursiviert (Foucault). Die soziale Realität des Phänomens Tango selbst wird so sowohl materiell als auch symbolisch als kollektive soziale Konstruktion hervorgebracht und reproduziert. Hierbei kommen nicht-diskursive Praktiken (organisatorische, technische Praktiken) mit diskursiven Praktiken in der Kulturproduktion zusammen. In der kultursoziologischen Analyse von Kulturwelten bzw. Feldern gelten Denkschemata als zentrale Elemente für die Kulturproduktion. Kulturwelten sind damit nicht nur Sets von Akteuren und Institutionen, sondern auch zugehörige Denk- und Wahrnehmungswelten, sie sind Interpretationswelten, die für ihre Angehörigen zur zweiten (kulturellen) Natur werden, in die sie lebensweltlich verstrickt sind und die sie doch durch ihre – zum Teil vorreflexiven – Beiträge erst erschaffen. An dem Aufweis der materiellen und symbolischen Kulturproduktion und dem darin involvierten Set von Institutionen und Rollen zeigt sich, dass es sich bei der Tangowelt nicht um eine immer wieder „spontan“ entstehende Tanzszene handelt, die als „Performance“ von den Tanzenden (re)produziert wird. Damit die Performanz von Tangotanzenden möglich wird, muss sich eine Kulturwelt auf Dauer stellen, um kontinuierlich nicht nur die materiellen und symbolischen Voraussetzungen für die Performanz aufzubringen, sondern um die kontinuierlichen Investitionen in die Performanz zu ermöglichen. Das tanzende Kollektiv muss nicht nur organisiert, das heißt „über den Tango Argentino“ informiert und mit „Tanzveranstaltungen“ versorgt werden, die tanzenden Körper müssen in dieser Welt formiert werden, das heißt, mit körperlicher Kompetenz zur Bewegung und davon untrennbar mit intuitiver Kompetenz zur Interpretation, zur Symbolisierung und zum Erleben (Fühlen) des Tangos ausgestattet werden. Die Tangowelt macht den Eintretenden Angebote für die Einverleibung dieser Kompetenzen, die – wenn sie diese aufgreifen – praktisch inkorporiert werden, wobei hier konkrete Übungen (Tanz) genauso zur Verfügung stehen wie Diskurse, durch die die Akteure nicht nur als Bezieher von Positionen und Rollen „angerufen“ (Appellation) werden, sondern die ihnen auch vorreflexive Schemata antragen. Weil der Eintritt in die Tangowelt ein Erwerbs- und Aneignungsprozess (von Angeboten, von Praktiken) ist, der selber mit Praktiken wie Aushandlungen, Umdeutungen, Vervollständigungen einhergeht, kann man davon sprechen, dass sich die Akteure dieser Welt durch diese Prozesse erst formieren.
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Diese Formierung besteht weiter in der Vernetzung von Individuen mit Praktiken, Dingen, Symbolen, kollektiven Denkschemata und im Feld anerkannten Prinzipien, in der sie (durch Rollen) hervortreten, auf die sie bezogen sind, „Wertigkeit“ und „Identität“ erhalten. Hier tritt nun die Kulturwelt selber (als Feld) hinzu, die nicht erklärlich wird aus der Summe von Individuen, sondern die als überindividuelle Realität eine eigene Objektivität hat. Einmal weil sie als Denk- und Wahrnehmungsraum die Rahmungen und Narrationen zum Tango zur Verfügung stellt. Hierin ist der soziale Sinn des Tangos semantisch organisiert und von hierher werden semantische (diskursive) Vorlagen nicht nur für Bewegung, sondern auch für das Erleben und Fühlen angeboten, ohne die dieses amorph bliebe und womit es sich wiederum symbolisieren kann. Zum anderen zeigt sich die überindividuelle Realität der Tangowelt in dem System von Positionen, die man in ihr einnehmen kann. Die unterschiedlichen Ausstattungen mit Ressourcen und Anerkennung (den spezifischen, weil in der Tangowelt wertvollen Kapitalformen) führen zu einer Differenzierung der Tangowelt, die nicht einfach aus verschiedenen möglichen Rollen (die durch obige Aufzählung ausreichend benannt wären) besteht, die man hier einnehmen kann, sondern auch aus den ihnen unterliegenden Ressourcen und Kompetenzen (Kapitalformen), den sozio-kognitiven Kategorien (anhand derer die Akteure im Feld dieses als bereits eingeteilt und als durch diese geordnet wahrnehmen) und in dem eigentlichen sozio-kulturellen Produkt, der „croyance“ (Bourdieu 1999; Bohn/Hahn 1999), dem Glauben an den „Sinn“, an die „Versprechen“ und die Wertigkeiten des Tangos.
6. „Tangometropole Berlin“ Zu den europäischen Tangometropolen gehört seit einigen Jahren auch (wieder) Berlin. Was die Zahl der Etablissements (nicht was die Häufigkeit der Tanzveranstaltungen) angeht, steht die deutsche Hauptstadt der argentinischen Metropole kaum nach: in Berlin gibt es Anfang 2008 fast 30 verschiedene Etablissements, die mindestens einmal in der Woche eine Milonga veranstalten. Man kann jede Nacht in Berlin mindestens drei Milongas besuchen, an den Samstagen vier und an den Sonntagen finden sechs bis acht Milongas statt, von denen einige schon am späten Nachmittag beginnen. In dieser Stadt leben einige Tausend aktive Tangotänzerinnen und Tangotänzer. Tangobegeisterte besuchen Berlin, nicht nur um in einzelnen Salons zu tanzen, sondern auch, um hier an Kursen (den Practica), Workshops oder Tangofestivals teilzunehmen. Die Tangowelt in Berlin, die „Berliner Tangoszene“ ist in sich stilistisch und sozial differenziert. Obwohl viele der Berliner Tangueras und Tangueros verschiedene Milongas besuchen, dafür längere Anfahrten durch das große Stadtgebiet auf sich nehmen, so dass durch die intensiven Tänzerinnen und Tänzer die Milongas untereinander vernetzt sind und die Tanzszene so integriert wird, lässt die Zahl der Veranstaltungen und Etablissements eine solche Differenzierung zu. Mitte der 1980er Jahre hat die Tango-Szene in Westberlin als eine OffKultur begonnen, die die importierten kulturellen Formen für die neu entstehenden urbanen alternativen Kulturmilieus adaptierte, die im Tangotanz eine intensive Körpererfahrung und
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in der Tangowelt eine kollektive Erlebniskultur suchte. Nachdem in umgebauten Lofts und Fabriketagen die ersten Tangotanzschulen und Milongas erfolgreich ihren Betrieb aufgenommen hatten, haben auch einige der alternativen Berliner Tanzschulen Tangolehrer engagiert. Heute finden sich einmal die Milongas, die sich eher an den Tangotraditionen (der 1930er und 1940er Jahre) orientieren und die das Forum für das heute gesellschaftlich und beruflich arrivierte Tangopublikum sind. Dazu zählen im bürgerlichen Teil von Kreuzberg (dem ehemaligen Kreuzberg 61) die „alternativen Tanzschulen“, die sich in den 1990er Jahren auch dem Tango Argentino geöffnet haben. Seit den späten 1990er Jahren sind zudem Milongas entstanden, die sich von den älteren Tangoschulen und Milongas dadurch unterscheiden, dass hier nicht die traditionelle Tangomusik überwiegt, sondern Tango Nuevo oder Elektrotango genauso zum Tanzen aufgelegt werden wie Tango aus europäischen Ländern (insbesondere Finnland), französische Chansons oder Worldmusiken. Hier ist das Tangopublikum im Durchschnitt jünger als in den älteren Tangoschulen und Milongas. In dieser (wenn auch unscharf) vorhandenen Feldopposition kann man die Opposition zwischen verschiedenen „Tangogenerationen“ sich abzeichnen sehen. Es sind die Jüngeren, für die das „DJen“ nicht nur eine Frage des Auflegens klassischer Tangomusik ist, sondern die das Produzieren neuer Tangomusiken mit Hilfe der Möglichkeiten des Samplings (Elektrotango) anerkennen, die die Tangokultur mit Elementen der Clubkultur (wie sie im Technogenre entstanden ist) kombinieren, die Tango Argentino zu Musiken tanzen, die das Tangogenre aus Sicht der formkonservativen, älteren Tangogeneration überschreiten und auf diese Weise auch beginnen, es als Genre aufzubrechen (negativ: in Frage zu stellen). Man könnte mit Bourdieu (1999) von dem älteren und „legitimen Pol“ und dem jüngeren Pol der „Erneuerer“ (der Avantgarde) sprechen. Es sind die älteren und traditioneller orientierten Tangoschulen und Milongas, die größer sind und mehr Publikum haben, die stärker von Tangotouristen besucht werden und die umfassendere und in aufbauenden Kurseinheiten differenzierte Unterrichtsangebote haben. Die Milongas „jüngeren Typs“ liegen in den Stadtteilen, in denen heute die neuen Kulturmilieus wohnen. Hier gibt es dann die „Practica“, die man vor der Milonga besucht, um gleich mit dem Tango loszulegen. Das Feld weist weitere Unteroppositionen auf. Denn der „legitime Pol“ differenziert diejenigen „Tangoproduzenten“, die als Tanzlehrer, Veranstalter von Milongas und Festivals den traditionellen Tango repräsentieren von denjenigen, die als Tanzlehrer, Choreografen und Tanzkünstler den Bühnentango und das Experiment mit den Tanzformen repräsentieren. Beide Gruppen genießen ein hohes Maß an Anerkennung, wenn es auch auf unterschiedlichen Formen symbolischen Kapitals beruht. Erstere als Formbewahrer, als Vertreter der authentischen Tradition und Vermittler der klassischen Tangoformen (Musik und Tanz), letztere als Forminnovatoren des Tangos als künstlerisches Tanzgenre (mit Nähe zum Modern Dance). Die Tangowelt Berlin besteht nicht nur als praktische Tanzszene, die organisiert, informiert, unterrichtet und zum Tanzen gebracht wird. Die Tangowelt existiert auch als kulturelle Vision, die in Bühnenshows und Theaterstücken als artistisch-künstlerische Projektion vorgeführt wird – davon, was der Tanz hinsichtlich seiner Tanzformen und seiner kultureller Identität sein könnte. Bühnenshows und Tangochoreografien werden auch von den europäischen Vertretern der Tangotradition anerkannt, aber nicht so in Argentinien, wo man Tangoshows verächtlich als „Exporttango“ brandmarkt. (Der „Bühnentango“ gilt aber nicht als in der Milonga tanzbar. Denn der Tango, der auf der Bühne vorgeführt wird, ist eine einstudierte Choreografie, er beinhaltet eingeübte und artistische,
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raumgreifende Tanzelemente.) Tanzlehrerpaare erwerben damit einen „Künstlerstatus“. Hier zählt die Tanzkunst als Körperkunst, die erarbeitet und einstudiert werden muss. Gute Tänzerinnen, aber insbesondere gute Tänzer – die zumeist dann Tangolehrerinnen bzw. Tangolehrer sind – werden in der Milonga aufmerksam beobachtet, wie sie tanzen und improvisieren, denn sie aktualisieren, artikulieren und verändern die Körpervisionen, das Rollen- und Geschlechtersystem so wirkmächtig, dass sie im Wortsinn stilprägend werden können.4
7. Tangounterricht: Arbeit am Habitus Aber diese Performanz hat viele Investitionen als Voraussetzung wie den Erwerb von performativen Kompetenzen. Als Tanz ist Tango Argentino irreduzibel auf eine Schrittfolge, er ist kein Tanz für die herkömmliche Tanzschule, zu der sich die Tangoszene auf Distanz setzt. Der dort unterrichtete „Tango“ gilt hier als eine verkümmerte Version (die englische Tanzlehrer „entwickelt“ haben), wo er dann eingereiht wird in die lateinamerikanischen Standards. Die Unterweisung in den Tango Argentino findet – mit wenigen Ausnahmen – in besonderen Schulen statt, die von Tangolehrern gegründet und unterhalten werden. Der Konsens über die Grundbegriffe und Grundlagen des Tanzes Tango Argentino gilt als weitgehend geteilt. Bereits in Buenos Aires gibt es aber in verschiedenen Stadtteilen Ausdifferenzierungen des Tangotanzstils in den Milongas. Auch in Europa findet man Differenzierungen der Tangounterrichtsstile und der vermittelten Tangotanzhaltungen. Dass das Tanzgenre Tango solche Differenzierungen zulässt, liegt auch daran, dass immer wieder neue Formen (Schrittelemente) aufkommen, von denen dann einige den Eingang in den Tangounterricht finden. Diese Formendynamik bringen professionelle Tangotänzerinnen und Tangotänzer ein, die ihr besonderes symbolisches Kapital durch den Nachweis ihrer Schülerschaft bei argentinischen Tanzlehrern erwerben. Ihre „Schülerinnen“ und „Schüler“ entstammen den sozialen Milieus mit anteilig hohem kulturellem Kapital, sind Studierende, häufig aber Berufstätige in sozialen Berufen, in Bildungsinstitutionen, Selbstständige in Kulturberufen, die sich nun in die Unterweisung und Intervention in ihre Körperlichkeit, in ihren körperlichen Habitus begeben. Sie investieren Zeit und Geld in den Erwerb von Körperkompetenzen, die nicht nur in dem Erlernen von einzelnen Bewegungsabläufen besteht, sondern zuerst einmal in dem Erwerb einer spezifischen Haltung des Körpers in der Paarkonstellation. Sich auf die eigene Achse konzentrieren, in der Tangohaltung stehen und Tanzschritte angemessen gehen zu können, die gemeinsame Bewegung als System nun zweier Achsen zu beherrschen, die gemeinsamen Schrittfolgen und Drehungen zu durchlaufen, sind die ersten langwierigen Lehreinheiten. Die Paare ahmen die vorgeführten Haltungen und Schrittfolgen nach. Die 4
Zur Tangowelt Berlin gehört auch der Queer-Tango. Wenn die Tangoszene eine Off-Tanzszene (jenseits der herkömmlichen Tanzschulen) ist, dann ist Queer-Tango eine Art Off-Off-Tango. Hier haben insbesondere schwule und lesbische Tanzlehrer und Tanzkünstler zur Etablierung der Tangovision als gleichgeschlechtlichem Tanz mit Rollenteilung beigetragen. Aber dieser Teil des Feldes hat einen besonderen Status. Die schwulen und lesbischen Tänzer bzw. Tänzerinnen besuchen die Berliner Milongas, veranstalten aber eigene Veranstaltungen und Festivals, wo sie dann weitgehend unter sich bleiben.
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Mimesis ist aber nur ein Element der Aneignung. Die Vorführungen der Lehrerpaare sind das Bewegungsideal, an dem sich der Kurs jeweils orientiert. Im Unterricht werden sie durch die Interventionen der Lehrer praktisch korrigiert, die mit ihren Händen auf die Körper der Lernenden zugreifen und Haltungen korrigieren, die selber mit Schülern Bewegungsabfolgen einstudieren, so dass diese fühlen können, wie der Bewegungsablauf sein müsste, und die sich kritisch äußern, warum eine Bewegung nicht passt, gelingt, nicht stimmt. Tangokurse beinhalten oftmals Übungen, die nicht dem Erlernen einzelner Tanzschritte dienen, sondern dem Erwerb der richtigen Körperhaltung, dem „Gehen“ auf der Tanzfläche, der Sensibilisierung für das Führen bzw. das Folgen. Die Tangolehrer kommentieren im Unterricht die zu erwerbenden Haltungen und Bewegungen mit der zugehörigen Tangotheorie. Diese erläutert den Sinn des Tangotanzens, führt das richtige Verständnis, dafür, was hierin ausgedrückt wird ein. Gleichzeitig wird hier das evaluative Gerüst diskursiv entfaltet, das die Performanz bewertbar macht. Der hier vermittelte Sinn betrifft einmal die eigene Körperbeherrschung (das Halten der eigenen Achse) als Voraussetzung für die Paarbewegung. Hierzu zählen Aspekte der Selbstbeherrschung: wie man sicher stehen kann, wie das Gleichgewicht bei Drehung gewahrt werden kann. Dazu zählen Aspekte der Ästhetik: welche Haltungen oder Bewegungen akzeptabel und welche inakzeptabel sind, weil sie als unschöner Ausdruck gelten. Hier wird vorgeführt, was zu vermeiden ist und was ideal anzustreben ist. Eine Tanzästhetik wird so einerseits im Tanzunterricht diskursiv mit ihren ästhetischen Konzepten und Kategorien und vordiskursiv durch die Einübung und Einverleibung der Bewegungs- und Körperschemata praktisch vermittelt. Diskursiviert wird die Rollendifferenz des Führens und des Geführt-Werdens. Hierin artikuliert sich ein elaborierter Geschlechterdiskurs, der durch die europäische Adaption des Tangos und durch das Bewusstwerden von Geschlechterkategorien als Diskurs zunehmend kompliziert wird. Durch die Erläuterungen, Vorführungen und Korrekturen der Tanzlehrer (aber auch in Büchern zum Tangotanz) wird so die Physik (die gelingende Koordination der Bewegungsabläufe) und die Metaphysik (die „Vision“, „Theorie“) des Tangos vermittelt. Auf der äußeren Ebene besteht die Rolle des Mannes im Tango darin zu führen, und die Rolle der Frau darin zu folgen. Diese klare Rollenaufteilung in einen scheinbar aktiven und einen scheinbar passiven Part erhält jedoch auf der inneren Ebene ein umgekehrtes Vorzeichen. Denn um zu folgen, bedarf es bei der Frau eines höchst aktiven Zustandes, einer aktiven Empfänglichkeit. Sie darf im Tanz nicht spannungslos und passiv am Mann kleben. Das würde den Tod des Tanzes bedeuten. Vielmehr fordert er von der Frau einen hellwachen und fixierten Geist. Sie darf nichts vorwegnehmen, sondern wird ganz zur Antenne, bereit, sich fortwährend auf alle Unwägbarkeiten des Tanzes einzulassen, ohne aus dem Kontakt zu gehen, immer fähig mitzugehen und flexibel auf Impulse des Mannes zu reagieren. So wie eine passive Haltung der Frau den Tod des Tangos bedeuten würde, gilt dies gleichsam für eine Dominanzhaltung seitens des Mannes. Der Tango fordert von ihm ein Höchstmaß an Empfänglichkeit für die Königin seines Tanzes. Sie steht stets im Mittelpunkt seiner Aktivitäten. Er führt nicht nur sie, sondern er führt für sie. Ein Ziel ist die Hingabe seiner Partnerin, um mit ihr in einen gleichberechtigten Dialog zu treten. Seine Aufgabe ist es, sie in der permanenten Verbindung zu spüren, zu erfühlen und auf sie einzugehen. Dazu muß er sich auch ihr innerlich hingeben. Soweit trifft dies auf das Grundgerüst der Kommunikation zu. Der Tango erlaubt jedoch der Tänzerin auch ein gewisses Maß an choreographischer Einflußnahme durch Verzierungen und Vorschläge. Diese Einflußnahme sollte jedoch nie soweit gehen, daß sie die Musikalität und grundsätzliche Rollenaufteilung des Tangos in Frage stellt. (Satori 2000: 13; Herv. i. Orig.)
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In dieser Passage aus einem Unterrichtsbuch für den Tango sind die grundlegenden kulturellen Schemata formuliert, mit denen die Lernenden konfrontiert werden. Man findet hier nicht nur eine Semantik, die die Erotik domestiziert, sondern die auch die Vorgaben für die Machtbeziehung zwischen den Geschlechtern macht: als nur je innerliches „Sich-einanderHingeben“ in definierten Rollen, die die sexuellen Kontakte in einer – wenn auch immer noch körperbasierten – Kommunikationsordnung zwischen den ungleichen Geschlechtern kultivieren, die aus Führungs- und Folgeimpulsen besteht. Hinzu kommt die Außen/InnenUnterscheidung. Äußerlich dominiert der Mann den Tanz. Aber in der Führungshaltung soll er seine Partnerin romantisch erhöhen und in der Paarbeziehung soll sich durch die Rollendifferenzierung eine Gleichberechtigung zwischen Ungleichen artikulieren. „Nach außen“ soll das Rollen-Ensemble eine aktiv/passiv-Differenz symbolisieren, die Rollenaufteilung symbolisiert hier die Geschlechterbeziehung als Machtbeziehung, die die gelingende Koordination ermöglicht. „Nach innen“ sollen die Tanzenden Rollen einnehmen, die die gelingende Koordination nun als das Führungsspiel durch die gegenseitige Hingabe (konkret: Konzentration auf Führen und Folgen, Berücksichtigung und Respekt für die Achse und Bewegungsabläufe des Partners) ermöglichen. Im Unterricht sind die Tanzenden mit diesen Schemata konfrontiert und können sich die daraus ergebenden Rollenerwartungen gegenseitig legitim vorhalten. Er soll klar und sicher führen, aber in bestimmten Momenten auch warten, damit Verzierungen erfolgen können. Sie soll sich führen lassen und auf die Führungsimpulse reagieren. Im Tanzunterricht kritisieren und korrigieren sich die Tanzpartner untereinander mit Bezug auf diese durch die Rollenschemata legitim formulierbaren Erwartungen. Die Arbeit an sich ist hier auch die Arbeit am anderen. Diese Arbeit am anderen ist auch eine diskursive. Man beobachtet dann, wie Männer ihren Führungsanspruch gegenüber ihrer Partnerin einfordern, wenn die Führung nicht gelingt, weil sie nicht folgt – so sein Vorhalt. Das Wort „Führungsanspruch“ erhält eine Wendung, wenn sie seine Führung einfordert. als klare Körperkommunikation, die er nicht leistet – so ihr Vorhalt. Tanzpaare arbeiten hier diskursiv und körperpraktisch an dem Sichin-die-Rolle-Einführen, wobei sie hier im Sinne der Ästhetik der Existenz Michel Foucaults (1986a, 1986b) versuchen, sich zu transformieren, das heißt praktisch, aus sich eine andere oder einen anderen zu machen (eine andere ästhetischen Haltung zu erwerben, den eigenen Körper als Medium für einen angestrebten ästhetischen Ausdruck zu formen). Zu dieser Arbeit am Selbst gehört auch die Widerständigkeit, wie sie von Judith Butler in ihrer Theorie der Performativität der Geschlechterrollen herausgearbeitet worden ist (1991, 1997). Performativität bedeutet im Tangounterricht praktisch, sich den diskursiven „Anrufungen“ widersetzen zu können. Für Frauen kann dies heißen, das Geführt-Werden nicht als Unterwerfung oder als „Wahl“ einer traditionellen Frauenrolle anzuerkennen, sondern sich widerständig eine andere Haltung zu erarbeiten und dieser mit dem Tango dann Ausdruck zu verleihen. Genauso gilt dies für Männer als Führende, die hier eine ihnen genauso problematisierte Rolle einnehmen sollen und die hier ihre Praxis finden müssen, wie sie das tun: eine Frau führen, ohne sie zu unterwerfen, als Führender führen, ohne zu dominieren. Im Tangokurs werden die Bewegungselemente durch Wiederholungen zu inkorporierten Schemata. In den fortgeschrittenen Kursen werden dann die Schemata für die Kombination von Bewegungsabläufen diskursiviert und ebenso inkorporiert. Die Inkorporierung der kulturellen Schemata zu Bewegungs- und Wahrnehmungsschemata erfolgt als Habitualisierung
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im Zuge von Nachahmung (Mimesis), Diskursivierung und Wiederholung (Repetition). Die Habitualisierung führt zu Bewegungsmustern, die in der Kompetenz zu immer neuen und bisher so nicht getanzten Abfolgen von Tangoelementen führen. Der inkorporierte Habitus wird so zum generativen Prinzip auch für die Improvisation, die das eigentliche Ziel der Tanzperformanz ist: sich frei und passend zur Musik des Repertoires der Tangoelemente in der koordinierten Paarbewegung bedienen zu können. Der Habitus umfasst damit auch Schemata zweiter Ordnung: Muster des Kombinierens und Variierens von Tanzelementen. Die kulturellen Schemata realisieren sich so in einer Tanzästhetik, die als Körper, Geschlechterund Rollenethos in den Bewegungen „lesbar“ werden. Der Tangounterricht ist einmal als Setting damit auch ein „Körperlabor“ oder eine „Körperwerkstatt“. Hier werden geschlechterspezifische Körperbilder entworfen, eingeübt und hier wird ihre Performanz in der Milonga vorentworfen. Man betritt tanzbiografisch die Tangowelt durch dieses Körperlabor, das heißt, man sucht über die Jahre verschiedene solcher „Laboratorien“ auf, indem man auf Festivals Workshops bei prominenten Tanzlehrern besucht oder indem man die aufeinander aufbauende Serie der Tangokurse in einer Tangoschule absolviert. Dem Judo nicht unähnlich sucht man Grade der Könnerschaft zu erreichen und die Metaphysik des Tangos in der eigenen Haltung und Tanzdynamik auszudrücken.5 Aber im Tango Argentino gibt es keinen Abschluss der Ausbildung, der Horizont des Erlernbaren öffnet sich mit dem Erwerb der Tanzkompetenz. Der Tangounterricht ist weiter so etwas wie die Goffmansche Hinterbühne (Goffman 1983). Hier präpariert man sich für den Tanzabend. Hier wird über die Tanzfiguren gesprochen, darüber, wie man sich auf der Bühne, die die Milonga ist, benehmen soll, hier wird gestolpert, geschimpft, geschwitzt und geprobt, kritisiert und gelobt. Viele Tangotänzer tanzen nur Tango Argentino und haben vorher keine anderen Paartanzformen erlernt. Gerade für die Männer wird der Beginn des Tangotanzens in der Führungsrolle als die Erfahrung des Verlustes von Souveränität erlebt, wenn sie ihre ersten Tanzschritte im Unterricht machen müssen und dabei zeitgleich sowohl für sich selbst eine akzeptable Tanzhaltung finden müssen als auch sicher eine Partnerin führen sollen. Aber schon nach wenigen Wochen – mit dem Erwerb kleiner Sicherheiten in der Tangokoordination – berichten viele Tänzerinnen und Tänzer von einer aufkommenden „Tangosucht“, davon dass sie fast jeden Abend losziehen wollen, um zu tanzen und nicht genug an Unterricht bekommen können.6 Die Funktion des Unterrichts ist, die Lernenden auf das Parkett zu „entlassen“, hier treffen sie dann – anfangs noch unsicher – auf Tanzpartner, um dann die Erfahrung zu machen, dass Mann und Frau sich habituell und vorbegrifflich im Tanz „verstehen“. Ich kannte sie nicht und hatte sie auch nie zuvor gesehen. Es kostete mich einigen Mut, sie aufzufordern, denn ich fühlte mich noch keineswegs als souveräner Tänzer. Sie gestand mir, daß sie auch noch nicht so lange Unterricht hatte. Das beruhigte mich etwas. Was danach geschah, hatte ich noch nie in meinem Leben erlebt: Totale körperliche und seelische Nähe zu einem wildfremden Menschen innerhalb von nicht einmal 60 Sekunden. Als hätte jemand diese Musik für uns beide geschrieben und mit der Veröffentlichung so lange gewartet, bis wir uns zum ersten Mal gegenüberstanden. Als hätte der Baumeister unserer Körper den jeweils anderen von vornherein mit
5 Einige Tangoschulen verwenden tatsächlich Farben, um die Hierarchie der Kurse zu kennzeichnen, andere Kategorien wie „Anfänger“, „Mittelstufe“, „Fortgeschrittene“ u.s.w. 6 Siehe für Materialien solcher Schilderungen Birkenstock/Rüegg (1999) und Voß/Kramer (1999).
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berücksichtigt. Sie war sichtlich darüber genauso verstört wie ich. Erst nach dem vielleicht zehnten Tanz trauten wir uns, diesen Rausch durch ein paar unbeholfene Sätze zu stören. (…) Sie hatte keine Angst vor dieser Nähe und diese Selbstverständlichkeit übertrug sich auch auf mich. Ich traute mich figurenmäßig mehr als sonst. (…) Unser Tanz war im handwerklichen Sinne auch keineswegs perfekt. Im Gegenteil, es gab kleine Hakeleien und Holperer. Aber wir flogen in unserer grundsätzlichen Harmonie darüber hinweg oder lachten sie einfach aus und uns an. In unserem Glück standen wir auch zwischen den Tänzen Hand in Hand da und fanden das ganz normal. Bis zum Ende des Abends haben wir uns nicht viel mehr gesagt als unsere Namen, und mehr hat mich zum ersten Mal in meinem Leben auch nicht interessiert. (Kraemer/Voß 1999: 16f)
Die Erfahrung, die hier beschrieben wird, ist die einer erfolgten Transformation des Körpers in die eines Tänzers, die Formierung eines Habitus. Diese Transformation ist eine Investition von Zeit, Interesse und Geld in die Körper, die im Unterricht zu den feldspezifischen Kapitalformen, der Kompetenz zum Tanzen umgewandelt wird.
8. Strukturierung und Statusordnung in der Milonga In Bourdieuschen Kategorien ausgedrückt, kann kulturelles Kapital in inkorporierter Form im Tangounterricht akkumuliert werden als Kompetenz, Tango weitgehend improvisierend zu tanzen. Als symbolisches Kapital fungiert diese dann in der Milonga, wenn sie von anderen als Kompetenz wahrgenommen wird. Hier kommt die Attraktivität als körperliches Kapital (Bourdieu 1982), der Kleidungsstil, aber auch das Informiertsein (über Termine, Events der Tangowelt) als mehr oder weniger feldspezifische Kapitalformen, die im sozialen Milieu der Milonga wahrgenommen werden, hinzu. (Weniger zählt ein Genrewissen über Geschichte und Musik des Tangos.) Die Milongas sind Orte, an denen Geschlechterkollektive aufeinandertreffen, die sich wechselseitig in Paarkontakten erfahren. Durch das Wechseln der Tanzpartner machen Frauen Tanzerfahrungen mit vielen Tänzern. Umgekehrt machen die Tänzer so Erfahrungen mit vielen Tänzerinnen. Die Milonga ist eine Art Markt, auf dem „Nachfrage und Angebot“ nicht nur über das quantitative Verhältnis der Geschlechtergruppen reglementiert wird, sondern auch über die vom anderen Geschlechterkollektiv wahrgenommene Attraktivität und die im Salon beobachtete Tanzkompetenz. Diese wird hier „nachgefragt“. Frauen und Männer wollen „gut tanzen können“. Das betrifft die Erwartungen an den Raum und das Ambiente (Größe der Tanzfläche, Musik, Art des Parketts). Beides soll den Eintritt in diese Parallelwelt möglich machen. Das betrifft aber auch die Erwartung an das Angebot an Tanzpartnern. So zeichnet sich das auch in einer Umfrage ab: Die Milonga ist der vornehmliche Ort zum Tanzen. Für die Befragten ist es wichtig, Entspannung vom Alltag zu finden, am Besten in einer kommunikativen Atmosphäre. Auch wird das generelle Tanzniveau noch einigermaßen wichtig eingestuft wie auch der Wunsch, dass es möglichst viele gut tanzende Milongueros/ Milongueras gibt. (…) Besucher, die nur zuschauen, aber selbst nicht tanzen, sind für eine schöne Milonga eher unwichtig. (…) Die Besucher/innen wollen tanzen – auf guter Tanzfläche, zu abwechslungsreichen Musikstilen und alles bei guter Sound- und Luftqualität. Die Atmosphäre soll dabei kommunikativ sein und eine Entspannung vom Alltag bieten. Das Gut-Tanzen-Können steht also im Vordergrund. (Vödisch 2002: 68f)
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Auf dem Parkett spiegeln sich die Geschlechterkollektive auf dem Parkett wechselseitig durch die Paarungen (White 2002). „Gespiegelt“ wird in dem Kontakt mit dem anderen Geschlechterkollektiv die Statusordnung des eigenen Geschlechterkollektivs. Die Attraktivität der Tangueras als Tanzpartnerinnen erweist sich in der Häufigkeit der Aufforderungen, den Körben, die eine Tänzerin geben kann. Dann aber auch in der Anerkennung als Tänzerin durch die Tänzer. Diese kann verbal als Kompliment erfolgen oder durch die Blicke, die auf ihr ruhen, gezollt werden. Damit entsteht eine unscharfe und vielleicht nur vorreflexiv bewusste Statusordnung in den Geschlechterkollektiven (Podolny 1993). Soziologisch gesehen ist diese Statusordnung ein objektives Strukturelement, das die Tänzerinnen und Tänzer vorreflexiv erfahren und dem insbesondere diejenigen in unerbittlicher Form ausgesetzt sind, die Milongas allein aufsuchen, gar aus einer anderen Stadt kommen, um die Berliner Tangoszene zu inspizieren, und die nicht auf befreundete Tänzerinnen und Tänzer ausweichen können, wenn sie niemand auffordert. Diese Statusordnung weist jeder und jedem einen Platz in dieser Ordnung zu. Anfänger machen gelegentlich die Erfahrung, nach wenigen Tangos auf dem Parkett stehen gelassen zu werden, sie spüren in einer Milonga ihr fehlendes tangospezifisches Kapital als Unsicherheit, jemanden aus dem anderen Geschlechterkollektiv aufzufordern, bzw. als Verlegenheit, einer Aufforderung nachzukommen. Die Milonga ist dann ein Ort, um die eigene Bewertung der Attraktivität als Tanzpartner zu suchen, dafür machen Tangueras und Tangueros sich schick. Das kann aber auch bedeuten, dass man dieser Bewertung nicht ausweichen kann: Frauen machen diese Erfahrung häufig in der Form des Warten-Müssens auf die Aufforderung. Die Tangoszene der Milonga verliert damit ihre Harmlosigkeit als Ort für eine Inszenierung des Tanzens. Denn die einzelne „Aufführung“ eines Paares ist eingebettet in ein Netzwerk von Aufführungen, das die Wahlen der Tanzpartner und deren Ordnung als Statusordnung beobachtbar macht. Dabei sind herausragende Tänzer und Tänzerinnen darauf angewiesen, Tanzpartner zu finden, die ihnen ermöglichen, ihr tänzerisches Niveau im Salon zur Entfaltung zu bringen, was insbesondere für die Geführten gilt. Eine „Tangodiva“ (Voß/ Kramer 1999), die nicht von adäquaten Tänzern aufgefordert wird, kann darunter geradezu so leiden, als ob sie gar nicht aufgefordert würde. Denn sie ist – anders als Tänzer – auf eine ebenbürtige Führung angewiesen, um ihr Können zu inszenieren und so ihr Körperkapital als symbolisches Kapital fungieren zu lassen. Beobachtbar sind aber auch die sozialen Beziehungen, die sich herausgebildet haben und die das soziale Netzwerk aus befreundeten, bekannten oder wechselseitig anerkannten Tanzpartnern bilden. Diese kennt man aus dem Unterricht oder man hat bereits zusammen getanzt, kennt dessen oder deren Vornamen und verbindet mit der Tanguera oder dem Tanguero geteilte Tanzerfahrungen. Die Netzwerke aus sozialen Beziehungen vereinfachen nicht nur das Spiel der Aufforderung, sie betten die Akteure in „ihre“ Welt auch ein und sie erfordern den Unterhalt der sozialen Kontakte, der in kurzen Gesprächen und den erneuten Aufforderungen besteht.
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9. Resümee: Reflexivität, Medialität und Theorieeffekt Die Tangowelt Berlin ist als Feld durch verschiedene Adaptionen der argentinischen Tangokultur in Paris möglich geworden, aber auch durch die Herausbildung professioneller Rollen für kulturelle Dienstleistungen in dieser Kulturwelt, durch das Entstehen urbaner Milieus, deren Lebensstile und Freizeitverhalten mit der Tangokultur korrespondieren. Tango wurde zu Beginn des Jahrhunderts zum bürgerlichen Salontanz kultiviert. Seit den 1980er Jahren findet Tango als konzertante Musik und als Filmmusik Eingang in die europäische Hochkultur und als Tanzgenre wird er zur alternativen Salon- und Tanzkultur für die neuen Kulturmilieus, die in eben dieser Zeit entstehen. Diese Transformationen des argentinischen Tangos zum europäischen Tango Argentino sind mit Umschematisierungen oder neuen Rahmungen verbunden, die sich auch in dem Bruch mit den Geschlechterrollen und deren Reflexivität im Tango artikulieren. Die diskursive Energie gilt der Einrichtung der ästhetischen Souveränität der geführten Frau. Die Geschlechterrollen erfahren in den spätmodernen westeuropäischen Gesellschaften seit den 1970er Jahren eine sich intensivierende Reflexivität. Die Rollenentwürfe für das „Frau-Sein“ und das „Mann-Sein“ werden in Frage gestellt, pluralisieren sich und geraten als sozio-kulturelle Lebensstilformen in kontinuierliche Bewegung. Wie ist es möglich, dass zu Beginn des 21. Jahrhundert zumeist hochgebildete Frauen und Männer einer kulturellen Praxis nachgehen, die auf den ersten Blick die Einnahme von traditionellen Geschlechterrollen verlangt, die (gerade von den Tänzerinnen) eigentlich nicht mehr als akzeptable Vorlagen für ihren Lebensstil gelten können? Die Tangowelt als urbane Tanzszene zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich in besonderem Maß selber auf Geschlechterrollen, auf Verhaltensweisen, auf ihre Erwartungen hin beobachtet und ihre kulturellen Schemata in ihren Medien selbst thematisiert. Dazu finden sich in der „Tangodanza“, der wichtigsten Zeitschrift der Tangowelt, Essays – und darauf bezogenen Leserbriefe – zu den Rollen, zu Haltungen und Erwartungen, dazu, wie sich Frauen und Männer verhalten sollten, welche Erfahrungen gemacht wurden, aber auch was eine „Etikette“ im Salon für den Umgang miteinander sein könnte. Hier wird auch auf die Tangoklischees, „Typologien“ von Tango-Typen und Motiven, Tango zu tanzen, reflektiert. Damit werden diese einfachen Sinngeneratoren (Hahn 2000) raffiniert und wird ermöglicht, diese in anderer Weise zu handhaben, sich spielerisch dazu zu distanzieren, diese neu zu rahmen (Goffman 1977, Willems 1997). Die Sinngeneratoren, auf die man sich kommunikativ beziehen kann, multiplizieren sich. Es entstehen Klischees zweiter Ordnung, Angebote für nun unterschiedliche Motive, die man in der Milonga unterstellen kann. Eine sich als emanzipiert verstehende Frau kann hier nun für die Minuten eines Tangotanzes sich der Frauenrolle hingeben und versuchen, die romantischen Gefühlssemantiken tanzend nachzuerleben, um sich dann wieder davon loszulösen. Sie weiß, dass sie ein Rollenspiel tanzt, und diese Souveränität des „Switchens“ wird als Kompetenz für die eigene Rollenkontrolle und als Rollenperformanz reflektiert und so reflexiv. Genauso findet sich die andere Diskursivierung der ästhetischen Souveränität der Frauenrolle, in der sie nicht dominiert ist, sondern souverän in einem kulturellen Schema Feminität artikuliert. Diese Akteure wissen aber auch, dass diese performative Praxis in der Tangowelt insgesamt problematisiert wird. Die Beobachtung des Diskurses in den Medien der Tangowelt über diese (insbesondere über die Geschlechterrollen) macht in dieser möglich, zu unterstel-
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len, „was man wissen kann“, „worüber geredet wird“. Medien repräsentieren Öffentlichkeit, zugleich geben sie vor, was man als Zu-Wissendes unterstellen kann (Luhmann 1996). Die kulturweltlichen Medien (wie die Zeitschrift Tangodanza und die verbreiteten Tangobücher) repräsentieren die Szene für sich selbst als „Tangoöffentlichkeit“. Die Medialität ist ein fundierender Mechanismus der Tangowelt, das teilt sie mit anderen kulturellen und sozialen Bewegungen (Eckert 1999) und Kulturwelten (Diaz-Bone 2002).7 In diesen Medien der Tangowelt werden die Formen für (partizipative) Identitäten (Hahn 2000) angeboten, die man hier kommunikativ annehmen kann und über die, mit denen und als diese man kommunikativ auftreten kann, die Sinngeneratoren (wie Geschlechterrollen) werden vor allem über diesen Mechanismus reflexiv. Hinzu kommt, dass in den Tangomedien unter anderem auch Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler über Rollendefinitionen, Geschlechtlichkeit, Geschlechterverhältnisse, aber auch über andere Themen, wie die politische Situation in Argentinien oder die Geschichte des Tangos berichten. Man kann hier erfahren, dass es Subszenen in der Tangowelt gibt, wie die des Queer-Tangos, in der Schwule und Lesben Tango sowohl in eigenen Veranstaltungen (Milongas und Festivals), aber auch in den „normalen“ Milongas tanzen. Geschlechterrollen werden hier nun als soziologische Kategorien vorgeführt, ihre Kontingenz, Veränderlichkeit und Performativität wird als kulturwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Kategorie thematisiert. Die Tangowelt erlebt, was Bourdieu (1985) als Theorieeffekt bezeichnet hat: die Aufnahme von soziologischen Kategorien in diese medialisierte Kulturwelt und die dort dann eintretenden Auswirkungen des Einbringens soziologischer Konzepte. (Die Theorie der Feministin Judith Butler ist für einige Tangueras durchaus eine Aufforderung zur Reflexion und zum Experiment mit der eigenen Geschlechteridentität im Tango Argentino [Villa 2003].) Es gibt keine „naiven Rollen“, wie sie durch die Außenwahrnehmung vielleicht noch unterstellt werden. Das verlagert die tatsächlichen Performanzen von Rollen und Beobachtungen in der Tangowelt auf je andere Ebenen. Nur die Außenwahrnehmung der Tangowelt „tappt“ noch in die Authentizitätsfalle (Soeffner 2004) der Tangoklischees. Nach dem „reflexiven Sündenfall“ (durch den Theorieeffekt und dessen Medialisierung) kann man nicht mehr damit rechnen, dass die Analyse von Kulturwelten (wie der Tangowelt) eine klare Trennlinie zwischen dem Diskurs der soziologischen Analysen und dem ihres Gegenstandes so einfach einrichten und durchhalten kann, denn sie kommt in ihrer Beschreibung als Objekt wieder vor. Tango ist nicht reduzierbar auf einen Text oder ein Skript – auch wenn Skripts eine strukturierende Realität für den Tangotanz und das Tangoevent haben, wie aufgezeigt wurde. Zwar hat der Tanz seine volle Realität nur als leibliche Performanz. Soziologisch gesehen ist diese aber eine vorstrukturierte soziale Praxis, in die das ganze Feld investieren muss, um die kulturellen Schemata zur Verfügung zu stellen und in die das Feld und die Tänzerinnen und Tänzer investieren, um die körperbasierten vorreflexiven Kompetenzen als habitualisierte
7 Dass die Repräsentation durch die eigenen Medien ein wichtiger Mechanismus der Tangowelt ist, zeigt sich auch daran, dass in den Tangosalons und in den Räumen des Tangounterrichts häufig Tangobücher und Tangozeitschriften ausliegen, wo sie durchgesehen und begutachtet werden als Referenzen und als Repräsentationen der Tangowelt.
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Schemata in einem Kollektiv zu generieren, das in Paarinteraktionen diese Schemata für sich und andere vorführt. Die Investition besteht auch in der Konstruktion der „croyance“, den Gefühlssemantiken, die hier vorgegeben werden, und der Ordnung der ästhetischen Wertigkeiten („Qualitäten“) des Tangos, dem, worum es in dieser Kulturwelt „geht“. Aus dieser Sicht ist eine Kritik an dem sich entleerenden Konzept der Performanz notwendig, das in den Kulturwissenschaften zu einem „umbrella term“ – insbesondere in der Theorie der Theatralisierung – geworden ist (Wirth 2002, Fischer-Lichte 2004). Denn diese Verwendungsweise blendet die vorlaufenden Strukturierungen (Investitionen) des Feldes aus und hebt die Situativität und die kreative Praxis vereinseitigend hervor. Die kulturellen Rahmen und Schemata des Tango Argentino sind aber ihrerseits bereits reflexive Ressourcen (insbesondere durch die kulturweltlichen Medien und den Theorieeffekt „reflexiviert“), so dass diskursive Ressourcen für performative Praxisformen hier bereits zur „Ausstattung“ der Tangowelt gehören.
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„Vergesst die Party nicht!“ Das Techno-Publikum aus der Sicht der Szene-Macher Ronald Hitzler und Michaela Pfadenhauer
1. Das Publikum der Party der Szene Niemand in der Techno-Szene redet vom ‚Publikum‘ – die Raver ohnehin nicht, die Macher aber ebenso wenig. Im Kontext elektronischer Tanzmusik ist dann, wenn es darum geht, woraufhin etwas veranstaltet wird, vielmehr immer von ‚den Leuten‘ oder ‚von der ‚Szene‘ die Rede – auch wenn von den Machern gelegentlich bezweifelt wird, dass ihre Klientele tatsächlich immer ‚die Szene‘ im ‚eigentlichen‘ Sinne sei.1 Gleichwohl: Als Publikum, soweit es überhaupt am Wahrnehmungshorizont der Szene-Macher auftaucht, gelten vor allem solche Leute, die Techno-Musik am Radio hören oder sich Clips auf MTV/VIVA anschauen. Allenfalls wird noch das als Publikum betrachtet, was man auch als Zweitverwertungskundschaft bezeichnen könnte. Was mit ‚Zweitverwertungskundschaft‘ gemeint ist, lässt sich vielleicht ganz gut am Beispiel der Firma „Partysan Media & Events“ verdeutlichen (vgl. Hitzler 2007; vgl. dazu auch Euteneuer/Niederbacher 2007): Die Protagonisten dieses zur Techno-Party-Szene gehörenden Berliner Unternehmens verfolgen aus einer besonderen Werthaltung heraus eine 1 Szenen nennen wir solche Gesellungsgebilde, in denen sich symptomatischerweise hochindividualisierte Menschen in einer prinzipiell labilen Form vergemeinschaften. Szenen weisen einen signifikant geringen Verbindlichkeitsgrad und Verpflichtungscharakter auf und sind nicht prinzipiell selektiv und exkludierend strukturiert. Wesentlich für die Bestimmung von Szenen ist darüber hinaus, dass sie Gesellungsgebilde von Akteuren sind, welche – und das unterscheidet Szenen von den meisten Lebensstilformationen – sich selber als zugehörig zu einer oder verschiedenen Szenen begreifen. In Szenen suchen insbesondere Jugendliche das, was sie in der Nachbarschaft, im Betrieb, in der Gemeinde, in Kirchen, Verbänden oder Vereinen immer seltener und was sie auch in ihren Familien und Verwandtschaften, und immer öfter noch nicht einmal mehr in ihren Intim-Partnern finden: Verbündete für ihre Interessen, Kumpane für ihre Neigungen, Partner ihrer Projekte, Komplementäre ihrer Leidenschaften, kurz gesagt: Freunde, Gleichgesinnte, Gesinnungsfreunde. Die Chancen solche Gesinnungsfreunde gerade in Szenen zu finden sind signifikant hoch, denn Szenen sind thematisch fokussierte soziale Gebilde: Jede Szene hat ein zentrales ‚issue‘, ein ‚Thema‘, auf das hin die Aktivitäten der Szenegänger ausgerichtet sind. Dieses kann z.B. eine Sportart sein, eine bestimmte Weltanschauung, ein spezieller Konsumgegenstand (etwa ein bestimmtes Auto, ein ganzes Konsum-Stil-Paket (verallgemeinert gesprochen: die je (für wen auch immer) ‚angesagten‘ Dinge) und natürlich kann es eben auch ein bestimmter Musikstil bzw. eine bestimmte Musikrichtung sein (vgl. z.B. Hitzler/Bucher/Niederbacher 2005; Hitzler/Pfadenhauer 2001a und 2005, Pfadenhauer 2005, sowie ‚www.jugendszenen.com‘; dazu, dass Szenen prinzipiell aber durchaus nicht nur jugendkulturelle Phänomene sind vgl. Gebhardt 2001).
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Produktinnovationslogik, die auf der Gewissheit basiert, die idealen Kunden von „Partysan Media & Events“ seien eigentlich deren Inhaber und Mitarbeiter selber. Sie und ihr wohlvernetzter, erweiterter Freundeskreis (Freunde von Freunden von Freunden), die von den Partysanen als „Sympartysanten“ bezeichnet werden, stoßen mit immer neuen Ideen dazu, was ihnen selber Spaß machen könnte, gleichsam experimentell in immer neue, durch ihre Neigungen und Interessen inspirierte Erlebniswelten vor. Die unternehmerische Motivation der Partysanen zielt dabei tatsächlich vor allem darauf ab, auch selber ‚eine gute Party‘ zu haben, ohne dabei finanzielle Verluste zu erleiden. Und eben erst in einer zweiten ProduktVerwertungsphase wird das dergestalt persönlich erprobte Konzept, nunmehr mit dezidierten Gewinnabsichten, dann auf einen wesentlich breiteren Kundenkreis bzw. eben auf ein (relativ) anonymes Publikum hin vermarktet. Ansonsten ist, von der Szene aus betrachtet, das Publikum das, was mehr oder weniger kopfschüttelnd die Straßen säumt, durch die die Techno-Paraden ziehen, oder das, was sich über die Titten-und-Arsch-Bilder amüsiert, die die privaten Fernsehanstalten davon ins Haus liefern. Vereinfacht gesagt: im Techno-Relevanzsystem ist das Publikum ‚außen vor‘, denn in der Szene selber wird nach wie vor der Mythos gepflegt von jener als beinahe ‚organisch‘ geltenden Einheit all derer, die tanzen, mit denen, die sie zum Tanzen bringen (siehe dazu Kapitel 3.2 dieses Textes).
2. Party-Dialektik Praktisch vom Beginn an unserer inzwischen rund 13 Jahre andauernden Erkundungen in der Party-Szene ist uns aufgefallen, wie viel Wert die Technoiden darauf legen, ‚irgendwie‘ alle zusammenzugehören, sozusagen eine Quasi-Familie und zugleich ‚anders‘, d.h. etwas Besonderes zu sein (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 1999). Famoserweise ergänzen sich diese beiden Facetten ihres kollektiven Selbstverständnisses nicht nur, sondern bestätigen und stabilisieren sich sozusagen wechselseitig: „Wir gehören zusammen, weil wir anders sind“, und: „Wir sind anders, weil wir uns als zusammengehörig, als Gemeinschaft betrachten“.2 Ebenso scheinen solche tradierten Gegensätze wie Spaß und Widerstand, Kommerz und Individualität, Konsum und Ideologie sowie Technik und Körper im – idealen – Konzept der Techno-Party miteinander vermittelt, ja in einem fast hegelianischen Sinne ‚aufgehoben‘ zu sein: Die typische Techno-Party ist eine vororganisierte Veranstaltung, bei der diverse Verlustierungsangebote nach szenetypischen ästhetischen Kriterien kompiliert oder synthetisiert werden, wodurch idealerweise ein interaktives Spektakel zustande kommt, das in der Regel mit dem Anspruch einhergeht, den Teilnehmern ein ‚echtes‘ Erlebnis, d.h. ein ebenso erlebenswertes wie erinnerungswürdiges, außergewöhnliches Ereignis zu bieten (zu den Prinzipien solcher Erlebniswelten vgl. Hitzler 2000). 2 Für einen Überblick über verschiedene Facetten von Techno vgl. die Beiträge in Hitzler/Pfadenhauer (2001b); zur mehrdimensionalen ‚Ästhetik‘ der Szene vgl. speziell den Beitrag von Vogelgesang (2001), zu einer vermutlich unerwarteten Lesart vgl. Liebl (2001).
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Nun werden aufgrund der (großteils) spezifischen Rahmenbedingungen, Ereignis- und Prozessstrukturen solcher Veranstaltungen – von der Logistik der Ver- und Entsorgung, über Sicherheitsvorkehrungen bis zu vielfältigen gesundheitlichen Risiken aufgrund von Beschallungs- und Beleuchtungsintensität, Raumbelüftung, allgemeiner physischer Belastung und diversen Hygieneproblemen – ja bekanntermaßen (jedenfalls von außen betrachtet) nachgerade alle existenziellen Grundbedürfnisse nach physischem Wohlbefinden gegenüber unseren kulturellen Normalerwartungen massiv frustriert. Die Frage ist also, was bei solchen Events ‚trotz alledem‘ so viel Vergnügen bereitet, dass sich die zivilisatorisch ‚normalen‘ Relevanzen im Hinblick auf physisches Wohlbefinden von so vielen Menschen dermaßen entschieden verschieben. Konkreter: Warum kommen die Party-People gerade dann ‚gut drauf‘, wenn die gegebenen Umstände dem so völlig entgegenzustehen scheinen?
2.1 Ver-rücktes Erleben Um auf diese Fragen Antworten zu finden, müssen wir uns zuvörderst einmal vorbehaltlos hineinbegeben in jene spezifische Sinnwelt, zu der die Party der Weg zu sein verspricht: Einschlägige Experten bezeichnen das Genre ‚Techno‘ als jene musikalische Form, die wieder zu den Ursprüngen der Musik zurückkehre und das Bewusstsein auch ‚in tieferen Bereichen‘ anspreche (Koch 1995). Für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Techno-Szene lässt sich dementsprechend konstatieren, dass die hier übliche ‚Feier-Laune‘ sozusagen unterlegt ist mit einem – für Jugendszenen schlechthin nicht ganz unüblichen – spirituellen Hang zur Transzendenz, zur Bewusstseinserweiterung, zur Grenzüberschreitung: „Das Erleben veränderter Bewusstseinszustände ist für ungefähr die Hälfte der Techno-Freaks ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Grund dafür, Partys zu besuchen“, schreibt etwa Ferdinand Mitterlehner (1996). Jedenfalls berichten die meisten Technoiden, beim Raven das Gefühl zu haben, herumzufliegen oder wenigstens zu schweben, bzw. entmystifiziert und mithin banaler ausgedrückt: Rauschzustände erlebt zu haben; Rauschzustände, die von einschlägigen Experten wie Patrick Walder (1995) wiederum als „legitimes Austreten aus der Maschine“ euphemisiert werden, da es dabei eben um die Suche nach persönlicher Befreiung und nach neuem Lebenssinn gehe. Die Vorlagen für diesen ‚Weg nach innen‘ werden – jedenfalls semantisch – gerne bei sogenannten Naturvölkern vermutet: bei deren Stammesförmigkeit und vor allem bei deren Ritualismus.3 Schon Ulf Poschardt hat sich seinerzeit (1995) durch Technomusik an die rituellen Rhythmen von unzivilisierten, wilden Völkern und Stämmen erinnert gefühlt. TechnoMusik wird assoziiert mit Trommel-Musik und stampfendem Tanzen. Auch die Tanz-Expertin Gabriele Klein (2004) hört bei Techno auf frühe Kulturen verweisende Grundrhythmen: Angesichts der Monotonie des ‚four-to-the-floor‘-Rhythmus liege es nahe, von einer zu 3 So sind z.B. häufig Selbstetikettierungen als „Tribe“ bzw. unter Verwendung des Begriffs ‚Tribe‘ zu finden. Zum spiritualisierten semantischen Repertoire der Techno-Szene gehören aber zweifellos auch die Reden von DJs als ‚Göttern‘ und ‚Gurus‘, vom ‚Spirit‘, von ‚Ghosts‘ und ‚Demons‘, vom ‚Astralen‘ und nicht zuletzt von den ‚Tempeln‘ (Tanz-Tempel, Techno-Tempel, Tempel der Nacht, Dome u.s.w.), also von ver-rückten, sakralisierten Zeit-Räumen (vgl. dazu Dumke 2001), in denen die Masse der Tanzenden wie ein Meer von Leibern erscheint, hin- und hergepeitscht von einer orkanartig über sie hereinbrechenden Musik.
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ekstatischen Zuständen bei den Tanzenden führenden schamanischen Ritualmusik in einem sozusagen maschinengenerierten Gewand zu sprechen bzw. von der computergesteuerten Inszenierung einer ‚Hyperrealität‘. Ganz wesentlich für das Gelingen dieser Hyperrealitätsinszenierung scheint – neben ihrem zumeist mehrere Stunden langen Andauern – die Lautstärke der akustischen Emanationen zu sein, die durchaus bis zu 120 Dezibel erreichen (vgl. Jerrentrup 2001). Frequenzen unter 800 Hertz sind bei dieser Schallenergie so intensiv, dass sie nicht nur mit dem Hörsinn, sondern tatsächlich mit dem Tastsinn (v.a. über das Zwerchfell) erfasst werden: Man tanzt idealerweise nicht zur, man tanzt vielmehr sozusagen in der Techno-Musik, die den Körper zu überfluten und zu durchströmen und die Welt ringsumher vergessen zu machen scheint. Um diesen Effekt hervorzurufen, scheint die Beschallung sozusagen ‚von allen Seiten‘, also die Erzeugung tatsächlich eines Klang-Raumes, in dem und durch den man sich überall gleich gut bewegen kann, essentiell notwendig zu sein. Die Musik betäubt und putscht auf zugleich. Wesentlich unterstützt bzw. verstärkt wird diese Wirkung noch durch oft gigantische Light-Shows, die mit Begriffen wie Videoanimation, Laseroptik, Kunstnebel und Stroboskop-Bestrahlung allenfalls technisch, hinsichtlich ihrer Erlebnisqualität jedoch gänzlich unzureichend identifiziert sind. Es geht dabei um oft sehr rasch wechselnde Hell-Dunkel-Effekte, um kaleidoskopartige Eindrücke, um stehende, zerfließende, repetitive Bilder, um schöne Bilder, um grausame Bilder, um sich überlagernde, einander aufzehrende Bilder in gänzlich unerwarteten Aufeinanderfolgen. Es geht um die Kombination vor allem von Diffusität – exemplarisch realisiert in den alles umhüllenden Kunstnebelschwaden – und von Präzision, mit der die bunten, rasiermesserscharfen Laserstrahlen das Diffuse durchzucken und durchschneiden. In diesem durch die technischen Anlagen ausgelösten quasi kosmischen Gewitter entsteht ein virtueller Raum – ein außeralltäglicher Raum in irgendeinem ‚beliebigen‘ Alltags-Raum, dessen Wirkung nicht selten nochmals intensiviert wird von einem in ‚Treibhaustemperaturen‘ eingehüllten, fast kollektivkörperlichen Miteinander: „Ein Club muss heiß, feucht und dunkel sein, so, dass der Schweiß von der Decke auf die Platten tropft“, meinte jedenfalls der DJ-Weltstar Sven Väth in einem Interview im ‚Spiegel‘ 1993. Nicht der jenseits der Szene gern und viel beschworene Drogenkonsum (vgl. dazu Hitzler 1997; vgl. auch Schroers 2001), der lediglich die gegebenen bzw. tanzend ‚erarbeitete‘ emotionale Grundstimmung verstärke, sondern zunächst einmal und vor allem Musik und Tanzen in jenem ver-rückten Zeitraum, welches beim Raver typischerweise starke körperliche Empfindungen auslöst und außergewöhnliches bzw. außeralltägliches physisch-psychisches Wohlbefinden evoziert, werden von den Experten dementsprechend als hauptsächliche Faktoren des ravetypischen Ekstase- und Enthusiasmus-Erlebens benannt. Denn erst das Zusammenspiel von „Musik und Tanz, körpereigenen Morphinen und konsumierten Drogen, Massenphänomenen, Lichtinszenierungen und Einzelstimuli wie Dehydration (ergibt) eine individuell erlebte Reizüberflutung, die tranceauslösend wirken kann“ (Mitterlehner 1996).4 4 Im Kunstmagazin „Arte“ (1996) hat ein gewisser Steve von einer Kooperation mit der Bezeichnung „System 7“ gar eine „Bio-Feedback“-Theorie über die tranceinduzierende Wirkung elektronischer Tanzmusik skizziert: Das Tempo von Technomusik erzeugt diesem Steve zufolge eine „Alphawelle“ im Gehirn, „die genau die Frequenz zwischen 8 und 11 Schwingungen pro Sekunde hat“. Dadurch werde das „Alphaband“ angesprochen, welches
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Anscheinend sorgt die beim Tanzen auftretende Morphin-Ausschüttung also für etwas, das als psycho-physische Grenzerfahrung wahrgenommen wird. Die Rede ist von Einbrüchen des Außeralltäglichen in den Alltag, von einer trivialen, fast kindlichen Verzauberung des Alltags, von einer gewissen Zeitlosigkeit. Und diese Absenz alltäglichen Zeitempfindens wiederum evoziert – durch die Irrelevanzierung von Vergangenheit und Zukunft in der Situation des Hier-und-Jetzt – eben jene subjektiv ‚tiefen‘ Glücksgefühle, von denen stets und allenthalben die Rede ist, wenn die Techno-Kultur-Idee einigermaßen sinnadäquat zur Sprache gebracht wird (vgl. dazu die Beiträge in Rabes/Harm 1997).
2.2 Party-Varianten Dergestalt erweist sich als wesentliches Kennzeichen der Techno-Party-Szene, dass hier eben tatsächlich die Party den Kulminationspunkt des Szenegeschehens bildet (vgl. Hitzler 2001). Diejenige Art von Party, die das Bild von Techno in der öffentlichen Wahrnehmung nun am nachhaltigsten geprägt hat, sind Paraden, d.h. Straßenumzüge mit Techno-Musik, die als aufsehenerregende Spektakel inszeniert werden und die Existenz der einen ‚Raving Community‘ zumindest nach ‚außen‘ hin vorführen. Daneben lassen sich noch wenigstens zwei weitere signifikante Arten von Partys unterscheiden: Techno-Club-Nächte zum einen und – besonders szene-spezifisch – die sogenannten Raves zum anderen. Bei letzteren handelt es sich um Veranstaltungen, die in, an oder auf ‚locations‘ (z.B. Großhallen bzw. Hallenkomplexe oder auch Open Air-Gelände) stattfinden, welche groß genug sind, dass etliche hundert bis zigtausende Liebhaber von Techno-Musik zusammenkommen, sich tanzvergnüglich austoben und dabei ihren Spaß haben können (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 1998). Die typische Partynacht im Techno-Club unterscheidet sich nicht nur quantitativ und logistisch, sondern auch sozusagen ‚atmosphärisch‘ vom Rave: Während der Rave ein besonderes, aus dem Alltag auch der Techno-Szene herausgehobenes Ereignis zum dezidierten ‚Abfeiern‘ ist, ist die Club-Nacht in der Regel die institutionalisierte Form einer z.B. wöchentlich oder monatlich sich wiederholenden, typischerweise thematisch bzw. stilistisch fokussierten Veranstaltung mit der Option zum Tanzen – oder Abhängen. Während die Grundstimmung beim Rave prinzipiell durch Ausgelassenheit, Sensationslust, Exhibitionismus geprägt wird, ist die habituelle Grundstimmung bei der Club-Nacht dagegen Coolness und Vertrautheit mit der Situation.
„zwischen 7 Hz und 12 Hz“ liege und „am engsten mit Traum, Trance, Kreativität und Meditation verknüpft“ sei. Dies wiederum erkläre, so Steve, „warum diese sehr aggressive, mechanische Musik auch eine beruhigende, in Trance versetzende Wirkung“ habe.
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3. Die Party als Produktionsproblem 3.1 Organisations-Arbeit Ob die Party nun aber im Club, in der Großraum-Disco, als Rave oder auch als Mega-Event stattfindet, jedenfalls entsteht sie selbstredend nicht beiläufig oder gar ‚von selber‘, sondern sie muss erzeugt, sie muss produziert werden. D.h. sie setzt vor allem – mehr oder weniger aufwändige – Leistungen voraus: Planungs-, Vorbereitungs-, Durchführungs-, Abwicklungsund Nachbereitungsleistungen (vgl. Pfadenhauer 2000; vgl. auch nochmals Hitzler 2007 und Euteneuer/Niederbacher 2007).5 Solcherlei Leistungen werden zum überwiegenden Teil von Leuten aus der Szene erbracht, von Leuten, die in der Regel seit vielen Jahren in der Szene unterwegs sind, infolgedessen über Insiderwissen verfügen und damit auch das notwendige Know-how zur Organisation von Partys mitbringen, denn diese sind typischerweise hochkomplexe, risikoreiche, zeit-, kosten- und personalintensive Unterfangen. Hinzu kommt, dass, auch wenn – entgegen dem medial verbreiteten Oberflächen-Augenschein – die Lust der Party-People auf gut gemachte Veranstaltungen keineswegs nachzulassen scheint, einerseits deren Erwartungen und Ansprüche an die Location, an die Logistik, an die technische Anlage und vor allem an die Performance-Qualitäten der Künstler ständig steigen, dass vor allem in jüngerer Zeit andererseits aber zugleich auch ihre Sensibilität gegenüber den Preisen für Eintrittskarten und Getränke zunimmt. Infolgedessen stellt die Party ohne zusätzliche Resourcenausstattung zwischenzeitlich nicht selten ein ‚Nullsummenspiel‘ von Einnahmen und Ausgaben dar. Deshalb ist ohne externe Sponsoren heutzutage zumindest kein anspruchsvolles Event mehr zu machen. Infolgedessen sind die Party-Organisatoren durchaus bemüht, den Ansprüchen der Geldgeber, zumindest im Hinblick auf deren Präsentationsmöglichkeiten, so gut wie möglich zu genügen. Gleichwohl wird es für die Szene-Macher grundsätzlich immer schwieriger, Wirtschaftsunternehmen dazu zu bewegen, Techno-Partys im weitesten Sinne zu sponsern. Letzteres resultiert zum einen natürlich aus den an-dauernden Kürzungen der Werbe-Etats, zum anderen aber auch daraus, dass (anders als zur ‚Hoch-Zeit‘ von Techno) die mediale Aufmerksamkeit weitergewandert ist zu anderen juvenilen – und zunehmend eben auch senioralen – Exotika.
3.2 DJ-Arbeit Besonders sichtbar bzw. genauer: hörbar und fraglos als ‚conditio sine qua non‘ eingeschätzt und am stärksten nachgefragt sind in der Party-Szene (natürlich) Leistungen der (technischen
5 Der Begriff „Leistung“ kann prinzipiell sowohl das implizieren, was man tut, d.h. die Handlung selber, als auch das, was aus der Handlung resultiert, d.h. das Ergebnis der Handlung. Eine Handlung bzw. ein Handlungsergebnis bezeichnen wir dann als Leistung, wenn das, was getan wird, absichtsvoll und im Hinblick auf eine bestimmte Art der Hervorbringung getan wird. Damit gerät auch Leistung in die Nähe dessen, was in der Tradition von Schütz/Luckmann (2003) als ‚Arbeit‘ bezeichnet wird – nämlich: absichtsvoll eine bestimmte Veränderung der Welt herbeizuführen. Und Arbeit bzw. das Erarbeitete bezeichnen wir dann als Leistung, wenn das, was dabei in Erscheinung tritt, sich gegenüber warum auch immer vorgängig gegebenen Zuständen – evtl. auch gegenüber vorgängigen Erwartungen – abhebt (vgl. dazu Hitzler 2003).
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und künstlerischen) Produktion (d.h. der Herstellung, der Erzeugung, Erschaffung und Mischung) der techno-spezifischen Musik im Studio, bei Live-Acts und – partytechnisch gesehen – vor allem natürlich an den Plattentellern und am Mischpult (ausführlicher hierzu Pfadenhauer 2008)6: Der hier tätige DJ ist kein Discjokey, denn anders als in einer herkömmlichen Diskothek werden bei einer Party mit elektronischer Musik bekanntlich nicht nacheinander einzelne Hits gespielt, vielmehr wird die Musik zum Tanzen vom DJ tatsächlich in der Partysituation selber kreiert – nur eben nicht mit herkömmlichen Instrumenten, sondern mittels Plattenspielern, Mischpult und eventuell anderen elektronischen Geräten. Der DJ führt dabei die wesentlich elektronisch erzeugten bzw. per Computer gesampelten Tracks sozusagen zusammen, lagert sie aufeinander, schiebt sie ineinander und achtet dabei darauf, interessante bzw. technisch anspruchsvolle, verblüffende und von virtuoser Fingerfertigkeit zeugende ‚Mixe‘ und ‚Übergänge‘ zu schaffen. Je nach Charakter und ‚Tagesform‘ des DJs zeigt sich dieser in der Interaktion mit den Tanzenden eher extrovertiert oder eher introvertiert, eher priesterlich oder eher kumpulös, auf die gesamte ‚party crowd‘ oder auf einzelne Tanzende hin orientiert, kommuniziert er eher non-verbal (indem er z.B. ‚Hands ups‘ provoziert) oder verbal (indem er beispielsweise die Lautstärke zurückfährt und die Tanzenden durch lautes Zurufen ermuntert, anheizt, lobt oder auch beschimpft. – Eher selten ist hierfür auch ein Mikrophon am DJ-Pult installiert). In der Regel versucht er allerdings – abhängig davon, in welcher Phase sich die Gesamt-Party befindet (im Auftakt-Stadium, in der Hoch-Zeit oder in einer fortgeschrittenen oder gar in der ‚finalen‘ Stunde) und welche Akzente (Anwärmen, ‚peak experiences‘ evozieren oder Herunterkühlen) er in bzw. mit seinem Set setzen möchte – die Stimmung auf der Tanzfläche über die Musikauswahl und Soundmischung zu beeinflussen. Exkurs zum Jazzmusiker Techno-DJs, die in der Party-Szene Anerkennung finden wollen, müssen folglich eine Form der Selbstinszenierung beherrschen, die sich deutlich von jenem selbstgefälligen Außenseitertum abhebt, das Musiker anderer Szenen gern pflegen: Howard S. Becker etwa hat (1951) solches ‚splendid isolation‘-Gehabe bei Jazzmusikern in den 1940er Jahren beobachtet. Ihm zufolge begreifen sich Jazzmusiker als Menschen mit einer geheimnisvollen künstlerischen Gabe, die sie von allen anderen Menschen unterscheidet – ganz besonders von ihrer „spießigen“ Zuhörerschaft. Die Selbsteinschätzung der Musiker, ‚anders‘ zu sein, bezieht sich nicht nur auf ihr Künstler-Sein, sondern auf ihr gesamtes Leben. Anders ausgedrückt: Sie gehen davon aus, dass jemand ein um so größerer Künstler sei, je verrückter er ist. Der „Spießer“ auf der anderen Seite ist ein Außenstehender, dem nicht nur diese spezielle Gabe, sondern nachgerade jegliches Verständnis für Musik und für die Lebensart derer abgeht, die diese Gabe besitzen. Seine Spießigkeit kennzeichnet ihn ‚durch und durch‘ – und zwar als Negation dessen, was „hip“ ist, weil es der Musiker tut. Der spießige Zuhörer ist ebenso intolerant wie ignorant, muss aber – und das ist das eigentliche Elend des Künstlerdaseins – gefürchtet werden, weil er in der Position ist, dem Musiker unkünstlerisches Spiel abzuverlangen. Denn wenn
6 Erbracht werden diese Produktionsleistungen während der Party selber von DJs an den turn tables bzw. ‚live‘ am Computer, im Studio dagegen in aller Regel von bzw. in Zusammenarbeit mit ‚Kompositeuren‘ (im weiten Sinne), die sich auf die Bedienung der komplizierten elektronischen Gerätschaften und technisch anspruchsvollen Sound-Anlagen spezialisiert haben (vgl. auch nochmals Poschardt 1995 und Jerrentrup 2001).
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der Künstler nicht spielt, was der Zuhörer hören will, dann wird dieser kein zweites Mal dafür bezahlen, ihn spielen zu hören. Das Publikum – und zu diesem wird auch der enthusiastische JazzFan gezählt – ist also deshalb so unbeliebt beim Jazzmusiker, weil es als Verursacher angesehen wird für den Kommerz-Druck, dem sich wiederum der Künstler ausgesetzt sieht. Um nun wenigstens symbolisch anzuzeigen, dass sie sich vom Publikum nicht unter Druck setzen lassen, bauen Jazzer gern räumliche Barrieren zwischen sich und ihren Zuhörern auf. Die Unzugänglichkeit der Bühne, die sie ungern und wenn unbedingt nötig, dann nur möglichst kurz verlassen, kommt ihnen hierbei nicht ungelegen. Ist ihr Standort nicht deutlich abgegrenzt, weil sie, wie zum Beispiel bei einer Hochzeit, einfach neben der Tanzfläche positioniert sind, dann bauen sie mit Stühlen und Mikrophonen eine Schutzmauer vor sich auf. Denn jeder unmittelbare Kontakt, ja selbst ein Augenkontakt mit Zuhörern, birgt die Gefahr, mit Musikwünschen belästigt oder sonst wie zu unkünstlerischem Tun genötigt zu werden. Der Techno-DJ unterscheidet sich, wenn er seinen Job so macht, wie er ihn nach den in der Szene geltenden Kriterien machen sollte, also sowohl vom herkömmlichen Discjockey, der sich den Launen seines Publikums ausliefert, als auch vom herkömmlichen Künstler-Genie, das sein Publikum verachtet. Dem Techno-DJ geht es aber auch nicht so sehr um solche – auch für Nicht-Hiphopper höchst beeindruckenden – ‚l’art-pour-l’art‘-Virtuositäten, wie sie speziell Hiphop-DJs in ihren ja bekanntlich bereits in Sparten und ‚Ligen‘ geordneten Wettbewerben demonstrieren (vgl. dazu Klein/Friedrich 2004). Der kompetente Techno-DJ ist eben vielmehr vor allem anderen an der Party, d.h. an der sich selber als Gemeinschaft ertanzenden ‚raving community‘ orientiert. Genauer gesagt: an deren diffusem, kaum kalkulierbarem Kollektiv-Bedarf nach eben der Musik, die ‚jetzt‘ ihre Stimmung (paradoxerweise) zugleich aufnimmt, ausdrückt, befördert, transformiert und evoziert: Dies zu vermögen, also eben nicht nur Musik zu mischen, sondern, wie DJ Westbam empfiehlt, eben „Musik mit Leuten“ zu mischen, das macht den Techno-DJ zum Künstler einer besonderen Art: zum Sozial-Künstler. Oder, mit Sarah Thornton (1995: 65) formuliert: „What authenticates club culture is (...) the interaction of DJ and crowd in space.“
3.3 Repräsentations-, Reflektions- und Freundesarbeit Weniger objektivierbar und in der Szene manifest, aber relevant und als relevant auch prinzipiell anerkannt sind Leistungen der Repräsentation (d.h. der stellvertretenden Vergegenwärtigung, der Verkörperung, des personifizierten Verweises) der Szene als einem in der Regel diffusen, gleichwohl unterscheidbaren Gesellungsgebilde bzw. des ‚allgemeinen Wollens‘ dieses Gesellungsgebildes. Ihrer Musikzentrierung entsprechend wird die Szene vor allem von national und international bekannten DJs (ungleich seltener auch von Initiatoren und Organisatoren aufsehenerregender Veranstaltungen) repräsentiert, die gleichsam als Techno-Gallionsfiguren fungieren und auch außerhalb der Szene über einen gewissen (mit ganz wenigen Ausnahmen7 doch sehr beschränkten) Bekanntheitsgrad verfügen. 7 Ein Name, den man auch in breiteren Bevölkerungskreisen kennt, dürfte vor allem „DJ Dr. Motte“ sein, dem als „Vater der Loveparade“ immer wieder Preise, Auszeichnungen und ehrenvolle Einladungen zuteil wurden – z.B. Comet (1997), BZ-Kulturpreis (1998), Bambi (1999), Einladung des Goethe-Instituts nach Mexiko-City (2000).
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Einen letzten analytisch abgrenzbaren Bereich von Leistungen, die auch (aber oft eher beiläufig) in und von der Szene wahrgenommen und nachgefragt werden, bilden schließlich Leistungen der Reflektion (d.h. der Selbstbeschreibung, der Selbstdeutung, der Selbstkommentierung, der Selbstlegitimation und auch der Selbstkritik) dieses Gesellungsgebildes und seines ‚allgemeinen Wollens‘. Solcherlei Reflektionsleistungen werden von – selber eher weniger denn mehr prominenten – Akteuren erbracht, die von Kolumnenschreibern in einschlägigen Magazinen über intensiv mit der Erforschung der Szene befasste Kulturwissenschaftler bis hin zu Schriftstellern – zweifellos am prominentesten: Rainald Goetz (vgl. z.B. Goetz 1998 sowie Westbam 1997) – reichen, welche eben das Szene-Leben und Techno-Erleben zum Gegenstand ihrer Textabsonderungen machen. Unterschiedliche ‚Niveaus‘ der Erbringung von Leistungen, die in der Szene anerkannt bzw. relevant (d.h. nachgefragt) sind – insbesondere eben solcher Leistungen wie die der Organisation (d.h. der Planung, der Vorbereitung, der Durchführung, der Abwicklung und der Nachbereitung) von Events oder des Betreibens von bedarfsentsprechenden Lokalitäten – haben mit der Zeit nachgerade ‚naturwüchsig‘ zu vertikalen Ausdifferenzierungen der Szene geführt. D.h., Personen, die aufgrund ihrer Aktivitäten bzw. des Niveaus ihrer Leistungen in Organisation, Produktion, Repräsentation und/oder Reflektion (mehr oder weniger nachhaltig) involviert sind in szene-entwicklungsrelevante Entscheidungschancen, die also sozusagen teilhaben (können) an solcherlei relativer Definitionsmacht und infolgedessen auch (mehr oder weniger große) Privilegien wie z.B. den freien Eintritt bei Techno-Veranstaltungen und in Clubs, Freigetränke und -speisen während Veranstaltungen, aber auch den Zutritt zu Räumen und Orten der Party-‚Hinterbühne‘ – wie z.B. sogenannten VIP-Lounges, Backstage-Bereichen und der DJ-Bühne – genießen, bezeichnen wir dementsprechend als „Szene-Macher“ (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2004). Diese Macher sind sozusagen die ‚Motoren‘ der Techno-Party-Szene. An sie angelagert und mit ihr verwoben sind Akteure, die zwar nicht notwendig eine Funktion im Sinne erkennbarer Leistungserbringungen haben, die aber aus mannigfaltigen Gründen ebenfalls wichtig sind (z.B. aufgrund mehr oder weniger enger Freundschaft und/oder intimer Beziehung zu ‚eigentlichen‘ Leistungsträgern, aufgrund andersgearteter, nicht immer durchschaubarer Nützlichkeit, aufgrund besonders guten Aussehens und/oder besonders hohen Unterhaltungswertes, mitunter sogar einfach aufgrund hinlänglich langer Präsenz in der Szene, u.s.w.). Zusammen mit den Machern bildet dieser Anhang den Kern der Szene, um den herum sich vielgestaltige Aspiranten und ‚Adabeis‘ anlagern. Hinter diesen diffundiert die Raver- bzw. Technoiden-Szene dann allmählich im weiten Umfeld der ‚Newcomer‘, Gelegenheitsteilnehmer, Randgänger und Sympathisanten.
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4. Diversifizierungen 4.1 Party-Zirkel So wie die Szene schlechthin sich personell in vielerlei Akteurstypen unterschiedlicher Funktion und Wichtigkeit ausdifferenziert, so differenziert sich auch die Party aus in Areale unterschiedlicher Zugänglichkeit und Privilegiertheit. Sozusagen im ‚Inneren‘ der Veranstaltung stellt sich dem Teilnehmer zunächst einmal die Frage, bei welcher Party er nun eigentlich und überhaupt dabei ist. Üblicherweise gibt es nämlich eben nicht nur die Party, sondern ebenso Partys in der Party, nicht selten gibt es auch noch Partys zur Party. Offizielle Partys in der Party sind jene ‚aparten‘ Geselligkeiten in den sogenannten VIP-Lounges. Die VIP-Lounge ist ein besonderer Raum oder ein sonst wie abgetrennter Bereich innerhalb der Location, in dem normalerweise ein gewisses Kontingent an Freigetränken (selten auch etwas zum Essen) bereitsteht und der eben ‚wichtigen‘ Menschen vorbehalten ist. Wichtige Menschen sind im wesentlichen solche Personen, die für die Veranstaltung keinen Eintritt bezahlen, sondern Gästestatus haben (weil sie für den jeweiligen Veranstalter eben aus irgendeinem Grunde – direkt oder indirekt – wichtig genug sind, dass er ihnen diese Privilegien zukommen lässt). VIPs sind in der Regel Personen aus dem Szene-Kern und – in begrenztem Umfang – wiederum Freunde von diesen bzw. Freunde der je relativ ‚wichtigeren‘ von diesen. Menschen in den VIP-Lounges sind sozusagen prototypisch für das, was man in der Techno-Szene ‚Freunde‘ nennt. Nicht selten besteht deshalb der größte Reiz an VIP-Lounges auch darin, Zutritt zu ihnen zu erlangen. Die Fragwürdigkeit und Fraglosigkeit dieses Zutritts nämlich ist wiederum ein wichtiger, sichtbarer, ja im Hinblick auf Selbstverortung im relevanten Sozialraum unverzichtbarer Gradmesser für das Maß der je eigenen Zugehörigkeit zu denen, die eben ‚dazugehören‘. Inoffizielle Partys in der Party allerdings beginnen eigentlich erst sozusagen jenseits der VIP-Lounge: im sogenannten backstage-Bereich. Als ‚backstage‘ bezeichnet werden eigentlich Funktionsräume: Umkleide- und Ruheräume für die ‚artists‘, Büros der Veranstalter, Lagerräume für Equipment, Material, Getränke u.s.w. Backstage ist folglich nochmals wenigstens ebenso hermetisch gegen die VIP-Lounge abgeriegelt, wie diese gegen die für den gemeinen Raver zugänglichen Verkehrsflächen abgegrenzt ist. Backstage bewegen sich Personen, die tatsächlich Entscheidungen treffen, Aufgaben verteilen, organisatorische Probleme lösen, kurz: Personen, die arbeiten müssen, und Personen, die z.B. vor oder nach ihrem Auftritt wirklich Ruhe brauchen – und dazu noch ein paar wenige Personen, die die Personen bei sich, um sich haben wollen, für die backstage eigentlich gedacht und gemacht ist. Inoffizielle Partys zur Party finden in Hotelzimmern, gelegentlich auch in Privatwohnungen von Personen statt, deren Freundesstatus außer Zweifel steht. Die Kriterien für Inklusion und Exklusion bei dieser Art von Geselligkeit orientieren sich zwar grob an denen für VIP-Lounge und Backstage, werden allerdings naheliegender Weise nochmals stark spezifiziert durch situative Opportunismen hie und durch idiosynkratische Vorlieben und Abneigungen, Hoffnungen und Befürchtungen da. Den Erfahrungshorizont des gemeinen Ravers jedenfalls dürfte das Hotelleben des Szenekerns bei Großveranstaltungen ganz entschieden transzendieren. Aber auch der gemeine Raver pflegt durchaus seine kleinen, sozusagen situativen Partys in der und auch zur Gesamtparty: Situative Partys in der Party veranstalten typischerweise
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Cliquen und Pozzes, die sich auf irgendeine Weise (mental oder auch faktisch) im Rahmen des Events absentieren und ‚nach innen‘ wenden, also vorwiegend intern interagieren. Situative Partys zur Party entstehen demgegenüber z.B. aus vorübergehenden oder auch dauerhaften Rückzügen aus der ‚Location‘ (etwa daraus, dass ein paar Raver in Ruhe einen Joint rauchen und dabei nicht gestört werden wollen).
4.2 Stilrichtungen Ausdifferenziert ist die Techno-Party-Szene aber nicht nur vertikal im Hinblick auf die Erbringung szenerelevanter Leistungen und auf damit mehr oder weniger korrelierende Zugangschancen zu diversen ‚closed circles‘ und Spezialpartys. Ausdifferenziert ist die Szene auch horizontal im Hinblick zum einen auf clubspezifische, labelspezifische bzw. DJ-spezifische Teilszenen (wie z.B. die um das Tribehouse, den Club der Visionäre, dem (an anderer Stelle wieder eröffneten) Tresor u.s.w.; um die Partysanen, um I-Motion, um Dancefield u.s.w. – und selbstverständlich auch um die Redaktionen von Raveline und von Radio Sunshine Live; um Sven Väth, Chris Liebing, DJ Hell, Moguai, ATB, Felix Kröcher u.s.w.), zum anderen auf regional- bzw. lokalspezifische Teilszenen (wie z.B. Rhein-Ruhr-Szene, wie Münchner, Frankfurter, und Berliner Szene u.s.w.), und schließlich und vor allem im Hinblick auf stilspezifische Teilszenen. Unter den letzteren gelten – im Großen und Ganzen und ‚über die Jahre gesehen‘ – die Dance&Trance-Szene, die House-Szene und die Rave- bzw. Techno-Szene im engeren Sinne veranstaltungstechnisch betrachtet – also nicht fragend nach möglicherweise von Experten als ästhetisch-technisch wichtig angesehenen Weiter- und Neuentwicklungen – als die wesentlichsten. (Daneben lassen sich, insgesamt gesehen jedoch ohne sonderliche Relevanz, Stil-Richtungen unterscheiden wie Gabber, Hardhouse, Tech-House, Drum’n’Bass, Elektro, Technolektro, Two Step, Minimal, New Rave u.s.w. die in der Party-Szene als mehr oder weniger ausgeprägte Subkategorien mitlaufen – vgl. dazu auch Hitzler/Pfadenhauer 2003). Diese Ausdifferenzierungen gehen wiederum einher mit mehr oder weniger ‚naturwüchsigen‘ und auch mehr oder weniger rigiden Schließungsprozeduren – z.B. im Zusammenhang mit Authentizitäts- bzw. Echtheitsansprüchen und/oder mit Kommerzialisierungsverdikten –, denn um jede Stilrichtung schart sich sozusagen ein fester Stamm, der eben seine Musik hören, seine DJs sehen und nach seinem Beat tanzen will. Oder wie uns Werner Griese von der Firma Dancefield im Interview sagte: „Wer Techno haben will, der geht eben nicht auf den Tröten-Floor!“8 Die Stilrichtung ‚Techno‘ (früher in der Regel als ‚Rave-Musik‘ bezeichnet) ist deutlich geprägt von einem durchlaufenden 4/4-taktigen Grundbeat, durch relativ hohe Beatfrequenz und durch ihre Lautstärke. Die harten Ausprägungen bzw. Ausfächerungen von Techno firmieren auch als Hardcore, Gabber, Schranz. Wegen der starken Betonung des 4/4-Taktes und den stark reduzierten Harmoniebögen wirkt Techno auf den nicht-sensibilisierten Hörer 8 ‚Tröten-Floor‘ ist die abfällige Bezeichnung der ‚harten‘ Techno-Fans für die als besonders massenkompatibel geltenden Dance&Trance-Areas. Auf diesen bei Events normalerweise größten Floors finden sich neben den euphoriesierungsbedürftigen Dauer-Trancern zumeist auch die sogenannten Wochenend-Raver ein.
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oft so monoton, dass er zunächst durchaus den Eindruck bekommen kann, die ganze Party hindurch laufe immer dieselbe Platte. Die in diesem Sinne verstandene Techno-Szene im engeren Sinne ist vermutlich nach wie vor relativ groß, altert aber auch zusehends, denn es fehlt hier an markanten musikalischen Weiterentwicklungen, weshalb sowohl jüngere DJs als auch und vor allem jüngere Raver sich eher für andere Stilrichtungen interessieren. Wer bei der Party auf dem Techno-Floor bleibt, der will, so Werner Griese, eindeutig „eins ‚auf die Fresse‘ bzw. ‚auf die Glocke‘ kriegen.“ D.h. diese Hardcore-Raver wollen die Bass-Drum sozusagen in den Eingeweiden spüren, wollen schwitzen, schreien, die Arme hochreißen, stampfen, springen, herumrasen, ausrasten; kurz: sie wollen sich auspowern bis zum Umfallen. Für Technoide heißt ‚raven‘ also tatsächlich im Wortsinne „sich austoben“. Ihr höchstes Lob für einen DJ ist sozusagen die Bekundung, er habe es ihnen gegeben, bis zum ‚Gehtnicht-mehr‘. Die Stilrichtung ‚House‘ transportiert afro- und lateinamerikanische Einflüsse und weist einen eigenen, kaum verkennbar ‚groovigen‘ Sound auf, der typischerweise mit einer mittleren Beatzahl (ca. 120-130 bpm) vorangetrieben wird. House-Musik hat sich ursprünglich in den USA entwickelt aus funkiger und souliger Discomusik und wird in der Party-Szene vorzugsweise von einer etwas älteren, relativ finanzkräftigen und an Selbstdarstellungschancen interessierten Teilszene geschätzt. D.h. sowohl im Styling, also in Kleidung (nicht selten von Marken wie Dolce & Gabbana, Gucci, Prada u.s.w.), Frisur und Accessoire-Ausstattung, als auch im – gegenüber den anderen Stilrichtungen deutlicher erotisierten – Umgang miteinander, wird üblicherweise eine gewisse Distinguiertheit angezeigt. Augenscheinlich haben House-Leute mehr Geld, fahren bessere Autos, leisten sich hochwertigere Getränke, fühlen sich schicker und markieren sich dergestalt sozusagen als ‚Upper Class‘ der elektronischen Tanzmusik. Die House-Szene zeigt zudem ein relativ stabiles Ausgehverhalten und stellt folglich für Party-Veranstalter prinzipiell eine wichtige Einnahmequelle dar. Wer bei der Party auf den House-Floor strebt, der empfindet diese Musik typischerweise als sehr frisch, fröhlich, locker und unaufdringlich. House scheint der ideale Sound zu sein für solche Leute, die sich nicht übermäßig verausgaben oder von der DJ-Kunst vereinnehmen lassen, sondern eher die ganze Party sanft durchwippen und sich – zumeist flirtend – miteinander beschäftigen wollen. Zwischen den Stilrichtungen ‚Trance‘ und ‚Dance‘ gibt es so fließende Übergänge, dass eine Differenzierung eher entlang je individueller Vorlieben und Abneigungen möglich ist als aufgrund objektivierbarer Charakteristika. Obwohl dem Trance genuin natürlich ein anderes Konzept zugrunde liegt als der Dancefloor-Musik – symptomatisch für Trance sind ein relativ monotoner, mittelschneller Beat mit kurzläufigen Zwischenbeats und viele ‚breite‘, an- und abschwellende Soundflächen, die den Tänzer zum ‚Schweben‘ einzuladen scheinen; symptomatisch für Dance hingegen sind eine von vornherein schnellere Taktfrequenz (ca. 150-170 bpm) und das ‚Hochziehen‘ von Tönen, das sogenannte ‚Rave-Signal‘ sowie zumeist leicht wiedererkennbare Melodien –, trotz dieser Unterschiede in den Grundkonzepten geht Trance vor allem im Hinblick auf seine harmonischen Elemente nahezu bruchlos in Dance über. Und kommerziellere Dance-Music nutzt ohnehin oft Trance-Elemente. TranceDancer sind deutlich weniger ‚schicki-micki‘ als House-Leute, oft sogar dezidiert unmodisch und ‚hippiesk‘ im Auftreten und Erscheinungsbild. Allerdings vermischt sich diese Teilszene bei Partys oft mit jenen Wochenendravern, die eben nicht ‚wirklich‘ als zur Szene gehörig
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betrachtet werden. Wer auf dem Trance-Dance-Floor ‚feiert‘, der sucht eine unkomplizierte und ausgesprochen ‚gefühlige‘ Musik, die ihn umfängt, und einen DJ, der ihn gleichsam mitnimmt auf eine emotionsgeladene ‚Zeit-Reise‘. Anders als beim Techno kann man beim Trance-Dance für sich selber immer wieder ‚Gas wegnehmen‘, ‚herumschweben‘ und ‚grenzenlose Liebe spüren‘. Und wer sich nach einer langen Partynacht dann Technos, Trancers und Housers einmal vergleichend anschaut, sieht in aller Regel auch deutliche Unterschiede im Hinblick auf deren jeweilige Verfassung: der typische Houser sieht in aller Regel eindeutig am adrettesten aus; der Trancer sieht aus, als hätte er eben ein schönes, beglückendes Erlebnis hinter sich, sei aber noch nicht so ganz wieder ‚von dieser Welt‘; und der Techno schließlich sieht meist aus, als müsste er dringend notversorgt werden, um wieder zu Kräften, zur Ruhe und überhaupt zu sich zu kommen.
5. Party-Realität(en) Unbeschadet solcher typologischen Überpointierungen führen diese divergenten Relevanzsysteme und die damit einhergehenden habituellen Differenzen in der Party-Szene kaum einmal zu intensiveren Zwistigkeiten als zu wechselseitigen Frotzeleien über die Stilrichtung, die man selber eben nicht goutiert. Denn nach wie vor gilt das implizite moralische Gebot, dass es wichtig ist, nicht nur selber Spaß zu haben, sondern auch den anderen ihren Spaß zu lassen bzw. zu ermöglichen (vgl. dazu auch Gebhardt 1999). Und mithin gibt es sie auch tatsächlich immer noch, die ‚guten alten‘ Gemeinschaftserlebnis-Tanzvergnügen mit ihrer stark repetitiven, elektronisch produzierten Musik, bei der vom DJ einzelne Versatzstücke (‚tracks‘) so kunstvoll ineinander gemischt werden, dass jener durchgängige Sound-Teppich entsteht, der aus riesigen Lautsprechern wummert, deren Anordnung einen Klang-Raum ‚von allen Seiten‘ erzeugt; mit ihren mitunter gigantischen Laseranlagen und Light-Shows, die diesen Raum in einer Mixtur aus Lichtern und Farben gleißend hell erstrahlen lassen und dann wieder in ein geheimnisvoll nebelumwobenes Dunkel hüllen; noch immer gibt es das Schreien und Jubeln der schweißglänzenden Tänzer, die den Takt der Musik in den Boden stampfen und ihre Arme mit den Ausschlägen der Musik in die Luft reißen; und noch immer gibt es das Feiern bis zum Umfallen und das gemütliche Chillen im Kreise der Freunde, die gemeinsam ihre Freude am Spaß und ihren Spaß an der Freude zelebrieren. Oder etwas zynischer gesagt: Es gibt sie noch, jene Technopartys, die geprägt sind von einer Atmosphäre der ‚Kuhstallwärme‘, vom ‚Jeder liebt jeden‘-Gefühl, vom subjektiven Erleben des ‚Angenommenseins‘, von Aggressionsarmut, von Harmoniebedürfnissen, von Nähe-Erleben, von Zusammengehörigkeitsverzückungen u.s.w. Dass es solcherlei nach wie vor gibt, heißt allerdings keineswegs, dass in der Szene selber jene aus der seinerzeitigen Aufbruchsstimmung der frühen Neunziger Jahre stammende Bekundung „We are one family“ nach wie vor die symptomatischerweise erlebbare Realität beschreiben würde (falls sie es denn je getan hat). Es impliziert auch keineswegs, dass der aus einem expliziten kollektiven ‚Anderssein‘ („We are different“) entsprungene Gemein-
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schaftsgedanke den Szene-Alltag atmosphärisch prägen würde, dass also womöglich ‚alle gleich‘ bzw. auf eine Idee hin vereint wären. Im Gegenteil: Zweifelsohne hat diese ‚Bewegung‘ – wie die erweiterte Techno-Szene unter Einschluss ihrer Mitläufer ebenso häufig wie ungenau bezeichnet worden ist – schon seit einigen Jahren – jedenfalls hierzulande – augenscheinlich ihren Wahrnehmungs- und auch ihren Anziehungszenit überschritten: Im Unterschied zur ‚Hoch-Zeit‘ von Techno finden Partys längst nicht mehr an jedem Wochenende und längst nicht mehr in jedem Provinzstädtchen unseres Landes statt. Und wo lassen sich noch jene Techno-Enthusiasten finden, die sich öffentlich und medial in Szene setzen, die sich offenkundig lustvoll zur Schau stellen, die Kreativität und Phantasie in der ‚Plünderung‘ von Mode-Stilen zeigen, ihre Körper exhibitionieren, Bewegungslust und Lebensfreude demonstrieren – wo, außer eben noch bei den großen Paraden, den als „unpolitisch“ abqualifizierten Demonstrationen kollektiver Lebenslust (vgl. Meyer 2001 sowie Hitzler/Pfadenhauer 2006)? All das sind deutliche Hinweise, dass Techno die pop-typischen Entwicklungen (etwa interne Diversifizierung und Hierarchisierung, Subszenenbildung, Kommerzialisierung, Standardisierung etc.) durchlaufen hat und einerseits längst im etablierten Pop-Kanon angekommen ist, andererseits sich in den (vor allem von seinen Liebhabern) so genannten „Underground“ zurückgezogen hat (vgl. dazu Eichler 2007). Der Nimbus des Frischen ist verblasst, die Aufbruchstimmung hat sich verflüchtigt, die Szene ist vielfach differenziert, segmentiert, hierarchisiert. Das von vielen Szenegängern ersehnte Revival lässt – vielleicht ‚zum Glück‘ – auf sich warten. Und vor dem Hintergrund retardierender Märkte kämpfen die Macher nicht nur mit abnehmendem Masseninteresse und geben zum Teil (ihre) Markenrechte an bekannten Großveranstaltungen ab9, sondern stehen, soweit sie ‚im Geschäft‘ bleiben, untereinander zunehmend unter starkem Konkurrenzdruck und agieren mithin auch mit immer brüchiger werdenden wechselseitigen Loyalitäten. Unbeschadet dessen: Was die szeneinterne Wahrnehmung anhaltend prägt, das hat zwar sicher zu tun mit jener stilistischen ‚Wir hier – Ihr da‘-Verortung, mit nach dem Prinzip von ‚Wir hier drinnen – Ihr da draußen‘ verteilten Zugangschancen und partiell wohl auch mit etwelchen mehr oder weniger leistungsbezogenen ‚Wir da oben – Ihr da unten‘-Privilegien – und jeweils vice versa. Aber weder versteht sich der gemeine Raver einfach als Zuhörer und Zuschauer, also als Teil eines Publikums, noch betrachten und begreifen die Macher die Raver als Publikum, also als eine Öffentlichkeit, vor der sie etwas ‚aufführen‘ (lassen). Dies ist noch nicht einmal so bei Massenveranstaltungen wie den Straßenumzügen. Die ‚Raver‘, die ‚Kids‘, die ‚Leute‘ in der Szene, das ist bzw. sie sind vielmehr die Party. Und nach wie 9 Um hierzu nur zwei besonders spektakuläre Beispiele zu nennen: Nach zweijähriger Pause wurden die Anteile der früheren Loveparade GmbH Ende 2005 von der Firma McFit übernommen. Im wesentlichen aus deren Werbeetat finanzierte der geschäftsführende Inhaber, Rainer Schaller, die Berliner Loveparade 2006. 2007 konnte (wieder einmal) auch in der neuen Konstellation keine (hinlängliche) Planungssicherheit mit der Berliner Stadtverwaltung erreicht werden, so dass diese Parade – zumindest bis auf weiteres – nicht mehr in Berlin, sondern in verschiedenen Städten des Ruhrgebiets durchgeführt wird (sozusagen „das revier“ auf dem Weg zur „Kulturhauptstadt 2010“ und möglicherweise sogar zur „Metropole Ruhr“ begleitend durchgeführt wird. – Die in der Szene bereits legendäre Produktions- und Veranstaltungsfirma Low Spirit hat 2007 zunächst die Rechte und die Durchführung des traditionsreichsten und größten Indoor-Raves, der in der Nacht zum 1. Mai in den Dortmunder Westfalenhallen stattfindenden ‚Mayday‘ an die Firma I-Motion verkauft und wurde bald darauf dann insgesamt aufgelöst.
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vor gilt es zuvörderst, diese zu verstehen, um zu begreifen, dass das, was DJ Westbam einmal mit seiner Mahnung „Vergesst die Party nicht!“ in Erinnerung gerufen hat, tatsächlich und trotz aller Veränderungen so etwas wie ein grosso modo anhaltend unbezweifeltes ‚Credo‘ der Szene-Macher ist, in dem sich ein Verständnis derer, mit denen sie es zu tun haben, manifestiert, das mit dem Etikett ‚Publikum‘ doch gänzlich unbegriffen bliebe.
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Karaoke, eine Tautologie des Populären. Befragungen zu Motivation und Fremdwahrnehmung von Karaokesängern1 Claudia Bullerjahn und Stefanie Heipcke
1. Einleitung und Fragestellung Unter Karaoke versteht man das amateurhafte, mikrofongestützte Singen von populären Songs zu einem vorproduzierten Halb-Playback vor Publikum. Karaoke ist somit abzugrenzen von dem häufig Übungszwecken dienenden Singen zu ‚sing-along‘-Bändern im privaten Bereich. Ebenfalls ist es abzugrenzen von dem Singen in derzeit populären Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar, das zwar in den Endausscheidungsrunden auch mikrofongestützt vor Publikum und zu vorproduziertem Halb-Playback erfolgt, jedoch dort in aller Regel professionelle Ansprüche an den Gesang stellt wie treffsichere Intonation, dem jeweiligen populären Musikstil adäquater Stimmklang sowie emotionale Textausdeutung. Ferner wird bei den so genannten Motto-Shows ein zu dem jeweiligen Song passendes Outfit und Styling erwartet sowie gegebenenfalls eine auf den Song abgestimmte Tanz- oder Bewegungschoreographie (vgl. Appen 2005). Der entscheidende Unterschied zum Karaoke ist jedoch als konstitutiver Bestandteil der Castingshows der Wettbewerb zwischen singenden Kandidaten vor einer Expertenjury, einem Saal- und einem Fernsehpublikum, die sich nicht selbst dem Wettbewerb stellen. Für Karaoke ist dagegen gerade der Wechsel zwischen der Rolle als Sänger und Publikumsmitglied kennzeichnend, was im fortlaufenden Text noch weiter zu erläutern sein wird. Seit Beginn der 1980er Jahre hat dieses populäre Phänomen asiatischer Herkunft auch in Europa massenhafte Verbreitung gefunden. Trotz geringerer Bedeutung in Deutschland ist Karaoke mittlerweile fester Bestandteil der deutschen Unterhaltungskultur und erfreut sich laut Insidern wachsender Beliebtheit. Nicht zuletzt durch den Mangel an Perfektion besitzen die für den Augenblick entstehenden Songs eine ureigene Qualität. Erst vermehrt in jüngerer Vergangenheit gibt es außerhalb Asiens wissenschaftliche Erörterungen zum Phänomen Karaoke (z. B. Xun/Tarocco 2007, Drew 2005, 2001 u. 1987, Krämer 2004, Pfeiffer-Egawa 2004, Heipcke 1 Dies ist die erheblich erweiterte und überarbeitete Fassung eines Vortrags, gehalten auf der 17. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie am 22. September 2001 in Hildesheim. Eingeflossen sind auch Teilergebnisse einer Diplomarbeit (Heipcke 2002).
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Claudia Bullerjahn und Stefanie Heipcke
2002, Mitsui/Hosokawa 1998, Lum 1998 u. 1996, Brandstetter 1996, Yano 1996, Wienker-Piepho 1996 u. 1995, Wallbott/Breidenbach/Genilke 1993, Murao 1988 u. Walker 1988). Durch die vorliegende Studie sollen vor allem folgende zwei Fragen beantwortet werden: (1) Was denken Unbeteiligte über Karaokesingen und -sänger? Hier geht es um Alltagstheorien zum Karaoke singen und Fremdbilder von Karaokesängern allgemein. (2) Aus welcher Motivation heraus tritt jemand als Karaokesänger auf? Hier soll herausgearbeitet werden, was die besondere Faszination von Karaoke ausmacht und welche Bedürfnisse möglicherweise durch diese musikalische Alltagspraxis erfüllt werden können.
2. Theoretische Grundlagen Bevor wir uns konkreten Befragungen zuwenden, soll zunächst in knapper Form ein theoretischer Unterbau geschaffen werden. Hierbei erweist es sich als zweckmäßig, das komplexe Phänomen Karaoke in die drei Dimensionen ‚Singen‘, ‚Selbstdarstellung‘ und ‚Gruppe‘ zu zerlegen und diese zunächst getrennt zu betrachten.
2.1 Singen als Alltagsverhalten und beim Karaoke Vokale Äußerungen gehören zu den elementaren Bedürfnissen und Handlungen des Menschen, denn schon die erste Äußerung des Neugeborenen – das Schreien – ist vokaler Natur. Die als Reaktionen auf diese ersten vokalen Äußerungen erlebten emotionalen Zuwendungen sorgen dafür, dass auch spätere Lautäußerungen als lustvoll und befreiend erlebt werden können (vgl. Klausmeier 1978). Zwar ist Singen in der Entwicklung vokaler Äußerungen gewissermaßen noch vor dem Sprechen angesiedelt (vgl. Gembris 1998: 307-336), verliert jedoch durch das in der zwischenmenschlichen Kommunikation dominierende Sprechen an Bedeutung. Allerdings ist auch letzteres nie frei von nonverbalen vokalen, musikähnlichen Anteilen, mit denen der Sprechende zumeist unwillkürlich seine Emotionen ausdrückt und mitteilt (vgl. Scherer 1982). Während Sprache allein nur eine Übersetzungsfunktion in Bezug auf die Mitteilung von Emotionen einnehmen kann, kann jede nicht sprachliche vokale Äußerung und auch Singen als Spiegel persönlicher emotionaler Zustände wahrgenommen werden. Einige Autoren (z. B. Klausmeier 1978 u. Klusen 1989) beklagen die zunehmend geringere Bedeutung des Singens in Familie, Schule und geselliger Runde und sehen hierin eine Ursache für die häufigen Singhemmungen. Neben dem schulisch „verordneten Singen“ (Adamek 1996: 205) lieferten angeblich die stimmlich perfekt erscheinenden Medienprodukte Entschuldigungen dafür, das Singen gar nicht erst zu versuchen2. Jedoch kann das
2 Allerdings lässt sich die von Adamek konstatierte rückläufige Tendenz der Singkultur in Deutschland durch statistische Zahlen beispielsweise aus dem Musik-Almanach nicht erhärten: Sie belegen eher eine deutliche und stetige Zunahme der Anzahl von Chören und Chorsängern seit 1965, worauf beispielsweise Reinhard Kopiez in einer Rezension des Buches von Adamek hinweist.
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Karaoke, eine Tautologie des Populären
Singen, wie Adamek in seiner Studie Singen als Selbsthilfe (1996) belegt, auch heutzutage in alltäglichen Kontexten eine Bedeutung erlangen, nämlich als Bewältigungs- bzw. CopingStrategie. Adamek (1996: 55) bezieht sich in seiner Untersuchung allerdings nur auf die Bewältigung von (zumeist negativen) Emotionen, der ersten der von Laux und Weber (1993) bestimmten vier ‚Zieldimensionen‘ in Hinsicht auf Bewältigungsstrategien (vgl. Tab. 1). Es ist jedoch fraglich, ob nicht Singen allgemein und insbesondere Karaoke die Regulation von (2) Problemen bzw. Situationen, (3) des Selbst und (4) von Interaktionen und Beziehungen ermöglichen könnte. Adameks Beschränkung auf die erste Zieldimension mag damit zusammenhängen, dass er durchweg die Liedtexte ignoriert, obwohl diese schon bei in der Kindheit gesungenen Liedern, aber auch bei der Wahl eines Karaokesongs eine erhebliche situative Bedeutung haben können3. Anscheinend wird die elektronisch verstärkte Stimme vom Karaokesänger selbst als angenehm empfundene Selbst-Verstärkung und Selbst-Spiegelung wahrgenommen, was das narzisstische Vergnügen am mikrofongestützten Singen erklären könnte (s. auch Behne 1997: 24 f.). 1. Emotionsregulation
2. Problem- bzw. Situationsregulation
3. Regulation des Selbst
4. Regulation von Interaktion und Beziehungen
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Gefühle, subjektives Empfinden regulieren Gefühlsausdruck regulieren physiologische Erregung und Symptome regulieren kognitive Bewertung einer Situation ändern Handlungsimpulse kontrollieren Situation aktiv verändern sich selbst an die Situation anpassen ‚status quo ante‘ bewahren Auseinandersetzung mit der Situation vermeiden verletztes Selbstwertgefühl und angegriffenes Selbstkonzept wiederherstellen Selbstwertgefühl und Selbstkonzept schützen und bewahren Selbstwertgefühl steigern und Selbstkonzept erweitern Feedback geben/Befinden und Gefühle rückmelden interaktionsbezogene Selbstbilder kommunizieren Andere zu einem gewünschten Verhalten bringen Interaktion/Beziehung in Frage stellen, demontieren Interaktion/Beziehung schützen, fördern
Tab. 1: Funktionen von Bewältigungsstrategien, die Laux & Weber (1993: 25 f.) vier Zieldimensionen zuordnen
3 Welche Bedeutung die Liedtexte haben, beweist auch der Umstand, dass in Karaokelokalen technische Hilfsmittel wie Karaokevideoclips mit Laufschrift gewährleisten, dass Songs trotz geringer Textkenntnisse gesungen werden können. Auf kontextuelle und situative Bezüge bei der Songauswahl weist ebenfalls Drew (1987: 461) hin.
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Claudia Bullerjahn und Stefanie Heipcke
2.2 Selbstdarstellung im Alltag und beim Karaokeauftritt Bereits 1969 wies Goffman darauf hin, dass Menschen ausnahmslos in jeder sozialen Situation Rollen spielen, sich also de facto im alltäglichen Leben ständig selbst darstellen. Gemäß der Impression-Management-Theorie (vgl. Mummendey 1995: 18) wenden Individuen bestimmte Selbstdarstellungstaktiken bzw. -strategien an, um die Urteile anderer Individuen gegenüber der eigenen Person zu kontrollieren. Insbesondere gibt es ein Bestreben, sich positiv darzustellen, wofür zumeist die Eigenwerbung (Self-Promotion) als Selbstdarstellungsstrategie eingesetzt wird. Ein Unteraspekt der Eigenwerbung ist das so genannte BIRGing, die Abkürzung einer Englischen Redewendung4, die soviel bedeutet wie „das sich Sonnen im Ansehen anderer“ (ebd.: 92). Gerade hier tut sich eine Verbindung zum Phänomen Karaoke auf: Permanent wird der Bezug zum prominenten Vorbild gesucht, sei es nun über die Imitation des Stimmklangs oder sogar zusätzlich des Aussehens populärer Stars, mit denen man sich zugleich vergleicht und gleichsetzt. Durch Karaoke wird etwas bereits Populäres auf Amateurebene vervielfältigt und somit erneut popularisiert. Dieser Doppelungscharakter macht Karaoke zu einer ‚Tautologie des Populären‘5. Zugleich kann dieses öffentliche Assoziieren bzw. In-Zusammenhang-Bringen eines Individuums mit einer berühmten Persönlichkeit und deren positiven Eigenschaften (womit solche wie Ruhm oder Profitum gemeint sein können) als symbolische Selbstergänzung einer Person gewertet werden (vgl. ebd.: 96 f.). Eine weitere für Karaoke wichtige Selbstdarstellungstaktik ist das Self-Disclosure, zu übersetzen mit „Offenheit hervorkehren“ (ebd.: 153). Gemeint ist hiermit die Gewährung eines mehr oder weniger intimen Einblicks in das ‚Innere‘ der eigenen Person. Ein solcher ‚Exhibitionismus‘ geschieht meist selektiv, wobei verschiedene Personen unterschiedlich stark dazu tendieren, sich vor anderen zu öffnen. In jedem Fall ist ein Sich-Öffnen ein Vertrauensbeweis, der durch die Sichtbarmachung der eigenen Verletzbarkeit die Glaubwürdigkeit erhöht, was dazu beitragen kann, dass man als attraktiver und sympathischer wahrgenommen wird. Bewusstes, aber auch unbewusstes Ziel von Self-Disclosure ist es ebenso, reziprok ein Gegenüber dazu zu animieren, sich selbst zu öffnen. Jedoch ist auch ein Bumerang-Effekt möglich, wenn zu viel Intimität als aufdringlich empfunden wird und den Rückzug in die Anmutung von Peinlichkeit bewirkt. Charakteristisch für Karaoke ist ferner das Self-Handicapping, nämlich wenn sich eine Person bewusst als „unvollkommen darstellt“ (ebd.: 163). Diese Impression-Management-Technik kann angewendet werden, wenn ein Individuum signalisieren will, dass es momentan (oder auch langfristig) nicht hundertprozentig ‚funktioniert‘, Schwächen bzw. Fehler hat oder auch krank oder behindert ist. Unter den Begriff des Self-
4 ‚Basking In Reflected Glory‘ 5 Diese Tautologie des Populären wird auch in anderer Hinsicht deutlich: So bedient sich Karaoke einerseits der bestehenden Hits und ist gleichsam auf deren Popularität angewiesen. Andererseits ist Karaoke als Medium mit gewisser Eigendynamik teilweise auch verantwortlich für die Popularisierung von Songs, denn Eingang in das Karaokesongrepertoire finden vor allem Titel mit nicht zu hohem sängerisch-technischen Anspruch. Eine Repertoirekanonisierung lässt sich ebenfalls bei Castingshows beobachten, jedoch ist diese stärker vom Recycling aktueller Chart-Hits und weniger vom sängerischen Können der eher professionellen Sänger geprägt (vgl. Pendzich 2005).
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Handicapping fällt auch die so genannte Immunisierung (vgl. ebd.). Diese soll bewirken, dass sich jemand vor einer Druck-Situation durch das Andeuten eines wie auch immer gearteten ‚Defekts‘ aus der Verantwortung für das Gelingen des Bevorstehenden zieht. Gelingt eine Darstellung trotzdem, ist umso größere Anerkennung zu erwarten. Beispielsweise durch Räuspern, Klopfen auf das Mikrophon oder offensichtliche Probleme beim Ablesen des Textes vom Bildschirm könnte ein Karaokesänger signalisieren, dass er mit der Technik der Karaokeanlage nicht vertraut ist, und sich somit gegen einen eventuellen Misserfolg immunisieren.
Abb. 1: Karaokeduo beim Blick auf den Monitor zum Verfolgen des Songtextes im Karaokevideoclip6
Es ergibt sich die Frage, inwiefern sich die eher situative Selbstdarstellung auch umgekehrt auf konstant bestehende Selbstbilder bzw. das Selbstkonzept einer Person auswirken kann, was der in der psychologischen Forschung bekannte Carry-Over-Effekt (vgl. ebd.: 191) nahelegt. Außerdem ist es unklar, inwiefern das Dargestellte Eindrücke nach außen hin lenken und damit andere Menschen manipulieren soll (vgl. Laux/Weber 1993: 37) und was am Dargestellten ‚echt‘ und ‚wahrhaftig‘ ist. Gerade aber Glaubwürdigkeit scheint eine Qualität in der Darstellung zu sein, und hierbei sind Körper und Körperlichkeit offensichtlich entscheidend, denn der Körper ist ‚live‘ (und vor allem ‚alive‘) sowie „eine kulturelle Ressource, über die auch diejenigen relativ souverän verfügen können, die 6 Sämtliche Fotografien des vorliegenden Beitrags erstellte Stefanie Heipcke mit Erlaubnis der fotografierten Personen.
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von anderen Ressourcen ausgeschlossen bleiben“ (Wicke 2001: 81). Da Fehler Anzeichen einer ‚echten‘ Amateurdarstellung sind, die auch ihren Reiz ausmachen, kann es unter Umständen regelrecht enttäuschend sein, wenn ein Amateur eine fehlerfreie Performance ‚hinlegt‘, Zusätzlich sind auch bei Profi-Sängern weniger Schönheit oder Attraktivität für die positive Bewertung ihres Gesangs entscheidend als vielmehr ihr engagiertes, beteiligt und selbstbewusst wirkendes Auftreten (vgl. Behne 1997: 19, s. auch Bullerjahn/Lehmann 1989).
Abb. 2: Karaokesänger beim expressiven Vortrag eines Songs
2.3 Das Karaokepublikum als soziale Gruppe Die Individuen eines Karaokepublikums, die gewöhnlich im Wechsel die Rolle des Zuschauers und des Sängers einnehmen, bilden eine soziale Gruppe, die weitestgehend dem begrifflich von Goffman (1969: 73 ff.) eingeführten Ensemble entspricht. Goffmans Definition des Ensembles lautet wie folgt: Ein Ensemble kann (...) definiert werden (...) als eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muß, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll. Ein Ensemble ist zwar eine Gruppe, aber nicht in bezug auf eine soziale Struktur oder eine soziale Organisation, sondern eher in bezug auf eine Interaktion oder eine Reihe von Interaktionen, in denen es um die relevante Definition der Situation geht. (ebd.: 96)
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Ensembles sind gemeinsam darum bemüht, die Bestimmung und Aufgabe des Einzelnen in einer speziellen Situation aufrecht zu erhalten. Man ist also auf „die dramaturgische Mitarbeit“ (ebd.: 78) des Ensemblemitgliedes in einer bestimmten ‚Inszenierung‘ angewiesen. Eine Situation, in der ein Ensemble entsteht, muss laut Goffman (ebd.) nicht gewachsen sein, sie kann künstlich entstanden, als solche wahrgenommen und gleichermaßen so akzeptiert sein: Unter Ensemblemitgliedern braucht das Privileg der Vertrautheit – eine Art von Intimität ohne Wärme – nicht organischer Natur zu sein und muß sich nicht allmählich während gemeinsam verbrachter Zeit entwickeln; es kann sich um eine formalisierte Beziehung handeln, die automatisch angeboten und angenommen wird, sobald der Einzelne in das Ensemble eintritt.
Ein Ensemble kann sein eigenes Publikum sein, sich an ein reales Publikum wenden oder auch an eins, „das körperlich gar nicht anwesend ist“ (ebd.: 77). Die gemeinsame Darstellung des Ensembles besteht entweder aus analogen Einzeldarstellungen oder sich unterscheidenden Darstellungen seiner Mitglieder. Der Vorteil des Ensemble-Begriffs liegt gerade darin, dass man entweder Einzeldarstellungen oder auch Gruppendarstellungen gleichwertig betrachten und analysieren kann, denn letztlich ist die Summe der einzelnen Darbietungen die Darstellung der Gruppe und somit als ein Ganzes zu sehen. Gleich welcher Art diese Darstellungen sind, das „gesamte Ensemble lässt einen bestimmten Eindruck entstehen, der für sich allein als drittes Phänomen zwischen der Einzeldarstellung einerseits und der Gesamtinteraktion der Gruppe andererseits betrachtet werden kann“ (ebd.: 75 f.). Dieses so genannte dritte Phänomen kann also verstanden werden als Gesamteindruck der Darstellung bzw. als gleichsam ‚sichtbare Dynamik‘ der Konstellation von Darstellung und Rezeption. Jedes Ensemble besitzt ferner einen Regisseur, den Goffman (1969: 90 ff.) als jemanden beschreibt, dem „das Recht übertragen wird, die dramatische Handlung zu regeln und zu dirigieren“ (ebd.: 90). Zwar besitzt der Regisseur das Recht auf Einmischung, jedoch besteht in einem gut funktionierenden Ensemble die vornehmliche Aufgabe des Regisseurs darin, andere zu „stimulieren“ (ebd.: 91). Diese Stimulation kann sehr unterschiedlich ausfallen: Sie kann einerseits in klaren Anweisungen bestehen, wie das Ensemble sich in bestimmten Situationen zu verhalten habe, um bessere Leistungen zu erzielen. Andererseits ist es möglich, dass ein Ensemble kaum merkt, dass es unter dem Einfluss eines Regisseurs zu herausragenden Leistungen und Handlungen angeregt wird. Im Karaokepublikum übernimmt gewöhnlich ein Moderator, der Wirt der Karaokebar oder ein Karaokejockey diese Aufgabe, indem er die häufig ungeprobten und spontanen Darstellungen Einzelner mehr oder weniger geschickt in den richtigen Rahmen einbettet. Das besondere Recht des Regisseurs, „Erscheinungen [zu korrigieren] und größere und kleinere Vorrechte [zuzuteilen]“ (ebd.: 92), kann jedoch zur Entwicklung eines übertriebenen Anspruchs und damit zu einer Entfremdung vom Ensemble und letztlich einem Rollenkonflikt führen.
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Abb. 3: Karaokejockey an seinem Pult
Auf welchen sozialen Strukturen der Zusammenhalt eines Ensembles basiert, ist für Außenstehende nicht unbedingt nachvollziehbar. Oft gibt es informelle Regeln oder ‚ungeschriebene Gesetze‘, die selbstverständlich auch für Karaokesänger existieren, wie z. B. die folgenden bei Mitsui & Hosokawa (1998: 18) zitierten: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Do not sing when you are drunk. Do not sing too loudly. Do not abuse the echo effect too much. Do not monopolize the microphone. Do not sing songs written for the opposite sex unless you want to surprise the audience. Do not sing songs composed by very gifted writers (because they are usually too difficult for lay persons). 7. Do not be too narcissistic.
Offensichtlich existiert eine klare Vorstellung davon, welches Verhalten für Karaokesänger als angemessen gilt und welches nicht. So wird insgesamt das zu starke Herausstellen aus der Gruppe vermieden. Auch wenn das informelle Regelwerk einer deutschen Karaokebar von dem oben zitierten japanischen abweichen mag, ist jedoch die Frage nach dem Grund für diese Gesetze interessanter. Nach Lum (1998: 174) ermöglicht erst dieses Regelwerk das Ausbrechen aus einem gesellschaftlichen Kollektiv (hier: die asiatische Gesellschaft), denn das Heraustreten aus der nach Anpassung strebenden Gruppe ist dann kein ‚Verrat‘ durch Abgrenzung, sondern gemeinsamer Regelentwurf und somit erlaubt. Das Ausmaß an ‚erwünschter‘ Individualität ist mit der Interpretation eines Liedes nach kollektiven Regeln
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erfüllt, denen man sich ebenso wenig entziehen kann wie dem eigenen Auftritt in der Rolle des Karaokesängers. Zugleich schützt dieser Wechsel der Rolle vor unfair negativen Beurteilungen der Anderen und ermöglicht das ‚Mitbangen‘: The dual role that people are expected to play in the karaoke space helps to facilitate an obligatory bonding among the participants. As members in the audience may later be called upon to perform on the stage, it is only reasonable that they would choose to be supportive of or at least to be polite to the present performer, who would later become a member in the audience and can pass judgement of them. Therefore, the act of booing a performer, if it is indeed meant to be derogatory, or any such similarly uncomplementary gesture, must therefore be viewed as an anomaly in the karaoke space. (ebd.: 173)
Abb. 4: Karaokepublikum
Drew (1987: 457 f.) hat beobachtet, dass regelmäßige Karaokesänger weitgehend unabhängig sind von ihrem sonstigen Freundeskreis. Zunächst werde eine Unterstützung des intimen Freundeskreises zwar als angenehm empfunden, mit der Zeit wachse jedoch ein Rollenkonflikt zwischen der Darstellung vor Freunden und vor Fremden, welcher dazu führe, dass ein ‚Karaokeenthusiast‘ sich vermutlich eher anderen Karaokefans anschließe und somit möglicherweise ein ‚privates Doppelleben‘ beginne.
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3.
Die Befragungen
3.1
Befragung 1: Fragebogen mit Polaritätsprofilen
3.1.1 Methode Der Beantwortung der Frage nach Alltagstheorien zum Karaokesingen und Fremdbildern von Karaokesängern diente eine explorative fragebogengestützte Erhebung im Dezember 1999. Befragt wurden Passanten in der Hildesheimer Fußgängerzone, die zufällig, aber möglichst in Hinblick auf Alter und Geschlecht ausgewogen angesprochen wurden7. Der zweiseitige Fragebogen wurde von zu einer Befragung Bereitwilligen selbst ausgefüllt und beinhaltete neben Angaben zur Demografie (Alter, Geschlecht, Beruf, Erlernen von Musikinstrumenten) auch solche zum Singen im allgemeinen (Bewertung der eigenen Singpraxis, situative Zusammenhänge) und zu Karaoke im speziellen (Zeitpunkt des Kennenlernens von Karaoke, eigene Karaokepraxis, Polaritätsprofil zur Beurteilung des Karaokesingens mit elf Adjektivgegensatzpaaren, Polaritätsprofil zur Einschätzung eines ‚typischen‘ Karaokesängers mit 13 Adjektivgegensatzpaaren). Die Analyse der erhobenen Daten erfolgte unter Verwendung der Statistik-Software SPSS (Version 9.0). Neben Korrelationsanalysen (Spearman Rho) und Mittelwertvergleichen (t-Tests) wurde auch eine Hauptkomponentenanalyse mit anschließender Varimax-Rotation und Kaiser-Normalisierung durchgeführt.
3.1.2 Ergebnisse Von den insgesamt 65 befragten Personen waren 35 weiblich und 30 männlich sowie zwischen 14 und 65 Jahren alt bei einem Altersdurchschnitt von 31 Jahren (Md = 28, s = 14,01). 51 % der Befragten haben ein Musikinstrument erlernt. 40 % singen gern bzw. sehr gern, 26 % stehen dem Singen neutral gegenüber und 34 % singen ungern oder sogar sehr ungern. Etwas mehr als die Hälfte (57 %) haben noch nie in einem Chor gesungen, schätzen sich aber mehrheitlich als durchschnittlich musikalisch ein. Gesungen wird mehrheitlich in privaten Bereichen und dies zumeist in der privatesten Räumlichkeit innerhalb der eigenen Wohnung, nämlich im Badezimmer, was 23 % der Befragten angeben. Körperpflege, Partys und das Hören von Musik werden als häufigste Anlässe für das Singen genannt, wobei auch die momentane Stimmung eine Rolle spielt, denn gesungen wird nach Angaben der Befragten nur „bei guter Laune“. 79 % kennen Karaoke und dies im Durchschnitt seit acht Jahren (s = 4,31), also Anfang der 90er Jahre8. Jedoch haben die wenigsten einer Karaokeveranstaltung je beigewohnt: 61 % kennen Karaoke aus den Medien, nur 14 % haben Karaoke schon auf Partys, je 10 % in Kneipen/Bars/Discos und auf größeren Veranstaltungen erlebt. Noch geringer ist die Anzahl derer, die angibt, schon
7 Die Befragung wurde in der Hauptsache von Stefanie Heipcke durchgeführt, jedoch wurde diese teilweise von Carolin Bausum und Bettina Grahs unterstützt, denen hiermit für ihre engagierte Mitarbeit bei klirrender Kälte gedankt sei. 8 Hierbei muss berücksichtigt werden, dass letztere Frage von 43 % der Befragten nicht beantwortet wurde, da diese sich vermutlich nicht erinnern konnten.
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selbst einmal Karaoke gesungen zu haben, nämlich lediglich 17 %. Dies wird sich wohl so bald auch nicht ändern, denn über die Hälfte der Befragten ohne Karaokepraxis (51 %) kann sich auch gar nicht vorstellen, es je zu versuchen. Hierfür wird von den meisten die mögliche Peinlichkeit (44 %) und fehlendes Können (Musikalität/Singen/Selbstdarstellung: 36 %) ins Feld geführt. Bei der spontanen Beurteilung von Karaoke mit Hilfe eines aus 11 fünffach gestuften Adjektivgegensatzpaaren bestehenden semantischen Differentials empfinden Personen über 39 Jahren diese kulturelle Praxis als signifikant langweiliger, lächerlicher, witzloser und kitschiger als Personen unter 20 Jahren, die Karaoke deutliche Bewunderung zollen. Signifikante Unterschiede in der Beurteilung lassen sich auch zwischen Personengruppen mit unterschiedlicher Vorliebe für das Singen aufzeigen: So beurteilen Personen, die angeben, gerne bzw. sehr gerne zu singen, Karaoke als wesentlich interessanter, fröhlicher, positiver, bewundernswerter, amüsanter und freier als Personen, die ungern bzw. sehr ungern singen (vgl. Abb. 5). Ähnliches gilt für das aus 13 Adjektivgegensatzpaaren bestehende Polaritätsprofil zur spontanen Beurteilung eines ‚typischen‘ Karaokesängers bzw. einer ‚typischen‘ Karaokesängerin9: Auch hier empfinden Personen, die sehr gerne singen, diesen als signifikant fröhlicher, offener und freier. Ältere Befragte halten einen typischen Karaokesänger bzw. eine typische -sängerin dagegen für signifikant gebildeter als jüngere Personen – vermutlich aus ihrem Allgemeinwissen um die ursprünglichen Kontexte im asiatischen Kulturkreis heraus. 5 * = p < 0,05 ** = p < 0,01 4 ** *
3 **
*
* *
Personen, die gerne/sehr gerne singen Personen, die ungern/sehr ungern singen
2
in
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d
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es - l sant an sc gw hö eil ig ein n hä fa ss ch - s lich c frö hwi er hl m i od ch ig er e n - u rns be nm t wu nd gu ode er rn ns t - s ch we lec rt h am läch t er üs li a ku nt - ch ns wi tv t z ol l - los kit s fre chig iun fre i
1
Abb. 5: Beurteilung von Karaoke durch Personengruppen mit generell unterschiedlicher Vorliebe für Singen: Mittelwerte im Vergleich
9 Folgende 13 Adjektivgegensatzpaare fanden Verwendung: fröhlich – ernst, offen – verschlossen, jung – alt, musikalisch – unmusikalisch, begabt – unbegabt, eitel – uneitel, gebildet – ungebildet, sympathisch – unsympatisch, interessant – uninteressant, schön – hässlich, frei – unfrei, anziehend – abstoßend sowie intelligent – dumm.
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Um die Gesamtstreuung bei den 24 Ausgangsvariablen der beiden semantischen Differentiale mit einer deutlich geringeren Anzahl von Faktoren möglichst gut abbilden zu können, wurde eine Faktorenanalyse als eine Methode zur Reduktion von Variablen auf verschiedene Bewertungsdimensionen durchgeführt. Das Kriterium für die Auswahl der Faktoren war ein Eigenwert größer 1 bei den unrotierten Hauptkomponenten, weshalb sechs Faktoren extrahiert wurden, die für die rotierten Hauptkomponenten mit 76,3 % einen hohen Anteil der Gesamtvarianz der ursprünglichen 24 Ausgangsvariablen erklären. Tab. 2 zeigt die rotierte Hauptkomponentenmatrix sowie die Bezeichnung der sechs Faktoren: Faktoren (interpretierte Hauptkomponenten) mit Eigenwert sowie erklärter Varianz in Prozent Adjektivgegensatzpaare der beiden semantischen Differentiale fröhlich – ernst offen – verschlossen bewundernswert – lächerlich jung – alt gut – schlecht amüsant – witzlos aufregend – langweilig interessant – uninteressant schön – hässlich kunstvoll – kitschig sympathisch – unsympathisch gebildet – ungebildet intelligent – dumm schön – hässlich interessant – uninteressant anziehend – abstoßend modern – altmodisch musikalisch – unmusikalisch begabt – unbegabt frei – unfrei einfach – schwierig frei – unfrei eitel – uneitel fröhlich – ernst
Unterhaltungswert
Exotik
4,216 17,6 % ,905 ,897 ,688 ,624 ,565 ,545
3,584 14,9 %
,464
,471 ,486
Darstellungsqualität 3,393 14,1 %
,548 ,541 ,872 ,724 ,671 ,605 ,475
,410
Kulturelle Einordnung 3,373 14,1 %
Anspruch
Situation
1,984 8,3 %
1,771 7,4 %
,582 ,422 ,838 ,723 ,639 ,590 ,585 ,523
,517 ,447 ,932 ,853 -,491
,430
,699 ,639 ,637 -,833 ,753
Tab. 2: Rotierte Hauptkomponentenmatrix10
10 Die Rotation ist in 7 Iterationen konvergiert. Um die Ausgabe kleiner Faktorladungen zu unterdrücken, wurde ein Grenzwert von 0,4 eingegeben. Der Übersichtlichkeit halber wurde eine automatische Sortierung vorge-
Karaoke, eine Tautologie des Populären
407
Der erste Faktor sammelt offensichtlich Begriffspaare, die mit dem Unterhaltungswert von Karaoke zu tun haben. So finden sich hier Paare wie ‚fröhlich – ernst‘, ‚amüsant – witzlos‘ und ‚offen – verschlossen‘. Weiterhin integriert dieser Faktor aber auch Begriffspaare zur Beurteilung der Aktualität von Karaoke, wie z. B. ‚jung – alt‘ oder ‚modern – unmodern‘. Auch diese können im weitesten Sinne zur Bewertung der Unterhaltungsqualität gerechnet werden, wobei ‚jung‘ bzw. ‚modern‘ höchstwahrscheinlich (im Sinne von ‚junger‘ oder ‚moderner‘ Unterhaltung) positiv konnotiert sind. Offensichtlich spiegelt sich das Wissen um den exotischen Ursprung des Karaoke im zweiten Faktor wider, der vor allem Begriffspaare enthält, die mehr oder weniger beschreiben, wie vertraut und interessant das relativ fremde Phänomen Karaoke ist. Das Paar ‚interessant – uninteressant‘ lädt hier zweimal hoch. Auch ist etwas Fremdes, Exotisches eher ‚aufregend‘ als ‚langweilig‘. Zusätzlich zu diesen meist unter dem Begriff ‚Erregung‘ subsummierten Skalen laden auch Paare hoch, die man gewöhnlich mit dem Begriff ‚Valenz‘ umschreibt, wie ‚schön – hässlich‘ oder ‚gut – schlecht‘. Der ‚Reiz des Exotischen‘ erfährt hier vermutlich eine positive Bewertung. Faktor drei beinhaltet die Bewertung der Darstellungsqualität eines Karaokesängers mit Adjektivgegensatzpaaren wie ‚gebildet – ungebildet‘, ‚intelligent – ‚dumm‘, ‚schön – hässlich‘ und ‚anziehend – abstoßend‘. Zwar zählt man Karaoke einerseits zur Unterhaltung, andererseits zollt man denen, die sich trauen, Karaoke zu singen, großen Respekt; Karaoke wird also nicht als ‚einfache‘ (im Sinne von leicht auszuführende) Tätigkeit gesehen. Diese Ambivalenz führt möglicherweise dazu, dass in der Beurteilung von Karaoke ein Bedürfnis nach kultureller Einordnung besteht, was sich im vierten Faktor widerspiegelt: Ist Karaoke ‚kunstvoll‘ (Hochkultur) oder ‚kitschig‘ (Unterhaltungskultur)? Sind Karaokesänger ‚musikalisch‘ (Profis) oder ‚unmusikalisch‘ (Amateure)? Ebenso lässt sich die Frage nach der musikalischen Herkunft und Begabung hier einordnen, denn mit musikalischer Begabung wird weitläufig Virtuosität und damit wiederum Professionalität assoziiert. Letztere gilt als Voraussetzung für eine Einordnung in die Hochkultur. Beim Faktor fünf geht es um die Frage nach dem Anspruch, genauer gesagt um den Schwierigkeitsgrad der Ausführung von Karaoke. Ob das Singen zu vorproduzierten Playbacks für eine Person als ‚einfach‘ oder ‚schwierig‘ empfunden wird, hängt möglicherweise davon ab, wie ‚frei‘ bzw. ‚unfrei‘ diese Person ist bzw. sich dabei fühlt. Der letzte Faktor bezieht sich auf den Umgang des Karaokesängers mit der Situation, in die er sich begibt. Während das Adjektivgegensatzpaar ‚eitel – uneitel‘ stark negativ lädt, findet sich eine stark positive Ladung für das Gegensatzpaar ‚fröhlich – ernst‘. Möglicherweise wird eine fehlende Eitelkeit als Voraussetzung für den Mut zur eventuellen Peinlichkeit angesehen, was sicherlich auch mit einem gewissen Maß an Fröhlichkeit besser zu bewältigen ist. Zusammenfassend lassen sich grob zwei Gruppen von Faktoren finden: Zum einen jene, die Karaoke als Element kultureller Praxis abbilden (Faktoren 1, 2 und 4), zum anderen jene, die die Karaokedarstellung an sich umfassen (Faktoren 3, 5 und 6).
nommen. Zu berücksichtigen ist, dass es in beiden semantischen Differentialen vier gleiche Begriffspaare gibt. Dadurch kommt es teilweise zu mehrfach hohen Ladungen und zu doppeltem Vorkommen des Begriffspaares.
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Befragung 2: Experteninterviews
3.2.1 Methode Der Beantwortung der Frage nach den Motivationen von Karaokesängern dienten leitfadengestützte Experteninterviews mit sieben Insidern der Karaokeszene im Alter von 22 bis 45 Jahren, davon drei Frauen. Die Interviews fanden telefonisch im Verlauf des Jahres 2000 statt und wurden alle auf Tonträgern mitgeschnitten und danach transkribiert. Die Transkripte wurden theoriegeleitet einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring (1990) unterworfen. Folgende zentrale Fragestellungen standen für die Analyse im Vordergrund: (1) Inwiefern kann Karaoke als Form alltäglichen Singens die Funktion einer umfassenden Coping-Strategie übernehmen und somit zur Selbstkonzeptergänzung dienen? (2) Wie erreicht es der Karaokesänger, in seiner Selbstdarstellung trotz aller Imitation ‚authentisch‘ und glaubwürdig zu bleiben? (3) In welcher Weise lässt sich der Goffmansche-Ensemble-Begriff auf das Karaokepublikum übertragen?
3.2.2
Ergebnisse
3.2.2.1 Karaoke als Coping-Strategie Berlint S., der 45jährige Betreiber einer Karaokebar, schildert im Interview folgende Beobachtungen zum Verhalten von Karaokesängern: [Karaokesingen] ist auch ein Ventil. Also ich hab’ auch den Willi, der kommt ’rein und sagt ‚Ich hatte ’nen Scheißtag, jetzt singe ich erst ’mal zwei ab, dann geht’s mir besser.‘ Ja, und dann singt der auf Teufel komm ’raus Golden Eye und so was. Wo du richtig ’rausschreien musst, also ein Frauenlied eigentlich. Und das schreit der dann richtig ’raus und dann sagt er ‚Jetzt geht’s mir besser!‘. Es ist schon Kompensation im positiven Sinn. Es ist im gewissen Sinne eine Art Musiktherapie, wenn du es so willst. (Z. 210-215)
Berlint S. beschreibt, wie ein Gast das Karaokesingen in Form einer besonders expressiven Darstellung als Coping-Strategie einsetzt. Diese erregt vermutlich die gesonderte Aufmerksamkeit des Publikums. Sicherlich kann in dieser Coping-Strategie abgesehen von der Emotionsregulation auch eine Regulation des Selbst gesehen werden: Ein möglicherweise angegriffenes Selbstkonzept wird durch das aufmerksam gewordene und applaudierende Publikum wiederhergestellt. Auch im Sinne der Interaktionsregulation ist diese Handlung zu werten: Es werden interaktionsbezogene Selbstbilder kommuniziert, und Anderen wird ein erwünschtes Verhalten entlockt. Die expressive Stimmtechnik, welche hier als „Schreien“ bezeichnet wird, führt zusätzlich vermutlich zum physischen Ausgleich innerer Spannungen. Auch der 34jährige Informatiker Bernd O. setzt Karaokesingen gezielt ein: Es kann schon sein, dass ich dann ’mal ein härteres Lied singe am Anfang, wenn ich ein bisschen schlecht ’drauf bin, einfach, um erst ’mal den Frust ’raus zu lassen, dann geht’s mir wieder gut oder wenn’s mir schon gut geht, dann singe ich dann meistens ein bisschen weichere Lieder. (Z. 553-556)
Karaoke, eine Tautologie des Populären
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Hier wird beschrieben, dass Bernd O. Singen auch zur Regulation negativer Stimmungslagen bewusst einsetzt. Dies wird vornehmlich durch die Interpretation aggressiverer Songs erzielt. Die Unterstützung positiver Stimmungslagen geschieht durch „weichere Lieder“. Singen wird von Bernd O. nicht nur im Sinne der Emotionsregulation sondern auch zur Regulation von Problemen und möglicherweise zur Unterstützung des angegriffenen Selbstkonzeptes eingesetzt. Aber auch die Erhaltung von Stimmungen und Gefühlslagen wird von Bernd O. durch das Singen angestrebt. Ihm ist zusätzlich sehr bewusst, wie er Gefühlslagen beeinflussen kann. Eine zumeist stimmungsbedingte Liedauswahl findet sich ebenfalls bei der 24jährigen kaufmännischen Angestellten Andrea G.: [Das ist] teilweise auch situationsbedingt, teilweise stimmungsbedingt, wie ich meine Lieder ’raussuche, wenn ich ’mal so richtig schöne Wut habe, dann knall ich da so’n Bon Jovi rein, so’n richtig schönes Schreilied und dann geht’s mir wieder besser. (Z. 275-277)
Die 32jährige Verwaltungsangestellte Birgit K. führt an (vgl. Z. 111-118), dass es ihr gelinge, während eines Karaokevortrags für kurze Zeit ihre persönlichen Probleme zu vergessen, da Gedanken rund um das Gelingen des musikalischen Vortrags diese verdrängten. Zwar spricht Birgit K. von Verdrängung, umgekehrt kann aber auch eine Möglichkeit darin gesehen werden, den Prozess der Problembewältigung durch das Heben der Stimmungslage überhaupt erst in Gang zu setzen. Berlint S. wiederum betont, dass Karaoke „ein internes Erlebnis“ sei, da es in einem selbst stattfinde und nichts Äußerliches sei (Z. 68-71). Diese Aussage ist ambivalent: Karaoke, dessen konstituierendes Element die entäußernde Präsentation vor Publikum ist, wird von Berlint S. dem Innenleben des Menschen zugeordnet. Diese Zuordnung kann vielseitig interpretiert werden: Meint Berlint S., dass zum Karaoke auch eine innere Überzeugung gehört? Oder gibt Karaoke seines Erachtens verstärkt Anstoß zur Selbstreflexion? Lernen Karaokesänger eventuell durch Karaoke etwas über sich, was sie sonst nicht erfahren könnten, nämlich den Umgang mit Lampenfieber, mit dem Publikum, aber auch die bewusste Steuerung von Bewältigungsstrategien? Die Motivation, Karaoke zu singen, kann u. a. darin liegen, sich selbst durch die Herausforderung des Präsentierens vor Publikum besser kennen zu lernen und u. U. neue Wege zu finden, die eigene Stimmungslage positiv zu beeinflussen. Aus-sich-Herausgehen ist erlaubt, jedoch anscheinend nur dann, wenn die Bedürfnisse der Anderen dabei nicht verletzt werden. Die These, dass mittels Karaoke eine Selbstkonzeptergänzung durch einen Carry-OverEffekt von Darstellung zu Selbstbild ermöglicht wird, erfährt durch die Interviewaussage des 31-jährigen Versicherungskaufmanns Frank L. eine Bestätigung: (...) das muss man schon zu Karaoke zählen (...), man wird (...) sicherer, vor einer großen Menge zu sprechen, auch nicht nur zu singen, sondern auch zu sprechen. Weil man doch regelmäßig dorthin geht und sind halt doch immer wieder Gäste da, man singt ja auch auf der Bühne und das macht schon selbstsicherer. Das muss man schon zugeben, ja. (Z. 119-123)
410
Claudia Bullerjahn und Stefanie Heipcke
Auch Bernd O.s Aussage geht in eine ähnliche Richtung: Als ich ’mal so einen Vortrag halten musste, so eine Art Referat oder so, da bin ich natürlich abends auch auf die Bühne gegangen und habe irgend etwas gesungen halt, einfach, um mich noch ’mal einzustimmen. Das war eigentlich zur Übung gedacht. Jetzt kann mir nichts mehr passieren, weil ich weiß, vom Gefühl her ist es das gleiche, ob du zwei Minuten vor deinem Vortrag stehst und wenn du auf der Bühne stehst. (Z. 439-443)
Bernd O. ist sich darüber im Klaren, dass ein positiver Effekt des Karaokesingens die sich steigernde Routine im Umgang mit Stress-Situationen ist. Er setzt Karaoke bewusst ein, versetzt sich durch den Auftritt im Lokal praktisch in ‚künstlichen‘ Stress und bewältigt ihn anschließend. Zeitlich richtig eingesetzt kann dies als konkrete Vorübung für eine Stresssituation im Beruf dienen. Offensichtlich sind seines Erachtens Erfolgserlebnisse beim Karaoke nicht nur das Resultat von Zufällen, sondern werden aktiv herbeigeführt, mit dem Ziel, sie danach auf andere Alltagssituationen übertragen und zur Selbstkonzeptergänzung einsetzen zu können.
3.2.2.2 Karaoke als ‚authentische‘ und glaubwürdige Darstellung Die 22jährige Susanne L. macht in folgender Interviewaussage auf Besonderheiten der kulturellen Praxis Karaoke aufmerksam: Karaoke ist, dass jeder singen darf und jeder singen kann. Also diese Abspaltung (...), entweder du (...) singst nur unter der Dusche und zu Hause im stillen Kämmerlein, wo du dich auch meistens nicht richtig traust, oder du singst, weil du es professionell machst, auf der Bühne. Und das ist halt die richtige Mischung (...), dass einer, der das Singen irgendwie liebt – und das tun ja wirklich eine Menge Leute –, dass der sich auch ’mal vor Publikum stellen darf und jemand sein darf, das tun darf, worauf er eigentlich Lust hat. (Z. 167-173)
Susanne L. arbeitet hier recht deutlich den Unterschied zwischen dem privaten, verschämten Singen des Laien und dem professionellen Auftritt des Experten auf der Bühne heraus und rekurriert hiermit sehr deutlich auf die in Mitteleuropa gewachsene deutliche Spaltung zwischen passiven Publikum und aktivem Künstler auf dem Podium. Diese Spaltung kann durch Karaoke aufgehoben werden: Man darf seine Singvorliebe ausleben und sich darüber hinaus in der Weise darstellen, wie es einem gefällt. Die Bedürfnisse nach Singen und Selbstdarstellung werden gleichermaßen erfüllt und respektiert. Dass es bei Karaoke nicht ausschließlich um das Singen geht, wird ebenfalls deutlich in Berlint S.s nachfolgend zitierter Behauptung: Also beim Singen ist eigentlich Grundvoraussetzung, dass man die Töne trifft. Bei Karaoke nicht. (Z. 122123)
Ein weiteres Bedürfnis, nämlich das nach ‚authentischer‘ Darstellung, artikuliert sich in der folgenden Aussage von Andrea G.:
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[Imitieren] ist mir zu gekünstelt, zu ernsthaft, (...) Immer dieses: ‚Ist jemand da, der mich entdeckt?‘. Und da denke ich einfach: ‚Nee, gefällt mir nicht, das kann noch so’ne tolle Stimme sein, gefällt mir nicht!‘. Solange es noch natürlich ist, ist es in Ordnung (Z. 149-152)
Andrea G. erläutert hier, dass Sänger, die sich besondere Mühe geben, nicht nur rein stimmtechnisch, sondern auch in Bewegung und Show an das Original heranzukommen, ihr nicht gefallen. Sie empfindet diese als unnatürlich. Der Wunsch nach Natürlichkeit kann in diesem Kontext als Wunsch nach Authentizität in der Darstellung gesehen werden. In den Ausführungen von Berlint S. findet sich hierfür der Begriff des ‚Eigenen‘: Das Imitieren halte ich nicht für so wichtig. Es kommt mehr darauf an, dass da ’was ’rüberkommt vom Sänger, etwas Eigenes − das kann eine Superstimme sein, das kann ’ne Imitation sein, das kann ’ne Show sein, irgendwas muss ’rüberkommen. Also Imitieren steht nicht im Vordergrund. (Z. 611-614)
Berlint S. betont, dass dieses eigene Element vielseitig produzierbar ist, sich sowohl stimmlich als auch in der Darbietung zeigen kann. Selbst die Imitation eines Künstlers kann seiner Ansicht nach unter Umständen ‚authentisch‘ sein, steckt doch hinter einer Imitation auch immer eine individuelle Vorstellung von einer gut getroffenen Reproduktion. Bei Frank L. findet sich diesbezüglich noch eine stärkere Differenzierung: Imitieren tu’ ich nicht. Auf jeden Fall nicht mit dem Körper. Mit der Stimme vielleicht, aber mit dem Körper nicht. (Z. 207-221)
Frank L. scheint dem Körper als Darstellungsmedium eine besondere Qualität zuzuschreiben, möglicherweise die des ‚Authentischen‘. So lässt sich erklären, warum er zwar das Imitieren von Stimmen bejaht, selbst aber, obwohl er (an anderer Stelle) zugibt, gerne auf der Bühne zu stehen, das körperliche Sich-Darstellen nicht mit Vorbildern abgleicht. Vielleicht verlässt er sich hier eher auf die Intuition und den Willen des Körpers, um so die eigene Note der Darbietung hervorzukehren.
3.2.2.3 Das Karaokepublikum als Ensemble Zentraler Bestandteil von Karaoke ist die garantierte Anerkennung, signalisiert durch den Applaus. Berlint S. (Z. 196-206) hält es für möglich, dass diese Grundregel für einige Teilnehmer die Basismotivation sein kann, Karaoke zu singen. Der Applaus verschaffe Karaokesängern eine Bestätigung, die sie auf andere Weise vielleicht nicht erlangen würden. Dabei seien seine Gäste unterschiedlich gut in der Lage, ihr eigenes gesangliches Können einzuschätzen: Die einen beurteilten ihre Defizite sehr realistisch, andere könnten sich aber oft auffallend schlecht selbst einschätzen. Sie werteten den ‚gut gemeinten‘ Applaus als echte Anerkennung ihres gesanglichen Könnens. Das Resultat, die Selbstbestätigung, bleibe jedoch das Gleiche. Somit ist nicht immer das gesangliche Können das Anerkennenswürdige, es kann auch die Performance oder allein die Selbstüberwindung gewürdigt werden. Das informelle Karaokeregelwerk sorgt somit dafür, dass Ängste vor Negativwertungen von vorneherein abgebaut
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werden können. Bernd O. betont zusätzlich das Erkennen und Ausleben der gemeinsamen Passion als wesentliche soziale und kommunikative Aspekte von Karaoke: Also selbst wenn ich nur da hingehen würde, also praktisch als Einzelkünstler, würde niemanden kennen und würde praktisch nur zum Singen auflaufen, auf die Bühne, Applaus und zurück, das würde mir auch keinen Spaß machen. Es ist also doch alles, was dazu gehört. Eben sich unter die Leute zu mischen und zu sehen, wie auch dein Nachbar, mit dem du dich gerade unterhalten hast, plötzlich auch singt. (Z. 426-431)
Die offene, eher unverbindliche Gruppenstruktur eines Karaokepublikums wird durch eine weitere Äußerung Bernd O.s gut verdeutlicht: Es ist einfach angenehm, (…) von der Atmosphäre her, in einer Karaoke-Bar sich aufzuhalten und man kommt gleich in Kontakt mit anderen Leuten. Man muss ja nicht reden, man kann einfach nur singen und das sagt eigentlich schon viel über den Charakter aus von den Leuten. Oder (…) es bietet zumindest ’mal eine Fläche an, (…) wo man Gemeinsamkeiten austauschen kann sozusagen. (Z. 170-175)
Bernd O. empfindet es als Vorteil einer Karaokebar gegenüber anderen Bars, dass das Medium Karaoke den Kennenlernprozess beschleunigt. Er sieht den Grund darin, dass Karaoke per se eine Gemeinsamkeit darstellt, also gewissermaßen verbindet. Weiterhin bezeichnet er Karaokesingen als eine Art (Ersatz für) Kommunikation. Die Tatsache, dass man nicht miteinander reden muss, weil man ja singen kann, lässt auf eine ganz spezielle Struktur der Gruppe von Karaokesängern schließen: Einerseits muss man keine gemeinsame Vorgeschichte haben, um miteinander den Abend zu verbringen, andererseits wird es als angenehm empfunden, dass man nicht (sprechend) zu kommunizieren braucht. Bernd O. scheint insofern einen gewissen Gefallen an der Unverbindlichkeit der Beziehung der Gäste untereinander zu haben. Dies spricht für die These, dass ein Karaokepublikum eher situationsbedingte Gemeinsamkeiten hat und seiner Struktur nach einem Goffmanschen Ensemble vergleichbar ist. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Bernd O. zudem anmerkt: Von meiner Seite geht es natürlich nicht soweit, dass man irgendwelche noch anderen Sachen macht, ich wüsste gar nicht, was ich mit den Leuten, ob ich mit den Leuten irgendwo anders hingehen wollte, (...) sondern die trifft man ja beim Karaoke. (Z. 276-281)
Abgesehen davon, dass sich die Frage per se nicht stellt, da Bernd O. relativ häufig in die Karaokebar geht, hat er auch gar kein gesteigertes Interesse daran, sich mit seinen Karaokekollegen außerhalb der Bar zu treffen. Die Bindung eines Karaokepublikums scheint meist nicht über den Karaokerahmen hinauszugehen. Auf die Frage, ob es Freunde oder Bekannte gäbe, die durch sie zum Karaoke gekommen seien, antwortet Andrea G.: Ja, einige. Ja, ich habe eigentlich viele von meinen Freunden zumindest einmal mit ’rein genommen und die waren auch eigentlich immer öfter ’drin. Auch heute noch, ja. Leute, die ich jahrelang nicht mehr gesehen habe, geh’ ich ins Singesong ’rein so: ‚Ach hallo..., sieht man dich auch mal wieder.’, einige, ja. (Z. 320-325)
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Die Frage, ob Andrea G. Freunde oder Bekannte zum Karaokesingen gebracht habe, beantwortet sie ausdrücklich mit ja, auch jene, die sie sonst jahrelang nicht gesehen habe, träfe sie beim Karaoke wieder. Es kann sich hierbei jedoch nicht um wirklich feste Bindungen handeln. Was sie beschreibt, ist eher der unverbindliche Umgang mit weitläufigen Bekannten. Entsprechend kann vermutet werden, dass es auch für Andrea G. schwierig sein könnte, den engeren Freundeskreis mit dem Karaokekreis in Verbindung zu bringen. Sollten dies in der Tat Andrea G.s Freunde sein, so lässt sich wiederum rückwirkend schließen, dass es sich bei der Gruppe des Karaokepublikums um unverbindliche oder auch ‚unorganische‘ Bindungen im Sinne des Goffmanschen Ensemble-Begriffs handelt. Ein längeres Zitat aus dem Interview mit Bernd O. verdeutlicht, wie Karaokesänger u. U. mit diesem Rollenkonflikt umgehen: Die [gemeint sind die nicht von Karaoke begeisterten Freunde] kommen dann vielleicht ’mal mit so alle drei-vier Monate, aber eben nur als passive Zuschauer, so nach dem Motto ‚So, du bist doch Karaokefan, jetzt zeig uns ’mal ’was!‘ und vergessen eigentlich ganz, dass das eigentlich eine aktive Geschichte ist, wo jeder sich einbringen kann. Und ja, dann warten sie eben, bis ich, eben für Leute, die jetzt nicht Karaokefans sind, bis ich gesungen habe, und sagen: ‚Ja, das war ein schöner Abend.‘ Und selber haben sie nicht gesungen und haben auch gar keine Lust mehr. Mit der Zeit sagen sie dann ‚Wann gehen wir wieder hin und wann singst du wieder?‘. Aber das kommt dann erst wieder nach einem halben Jahr und für mich ist das eigentlich blöd, denn dann habe ich den Eindruck, die ganze Chose hängt an mir sozusagen. Und deshalb habe ich mich interessanterweise von diesen Freunden distanziert. (Z. 207-221)
Die ungewohnte Rolle Bernd O.s als Karaokesänger bewegt die außenstehenden Freunde dazu, in besonderer Weise auf ihn zu reagieren, möglicherweise aus einem Konkurrenz- oder Peinlichkeitsgefühl heraus. Das möglichst konkurrenzfreie Agieren, was sich das Karaokepublikum zum Prinzip gemacht hat, wird durch die Passivität der Freunde, die keine Angriffsfläche bieten wollen, gefährdet. Somit zieht Bernd O. die Konsequenz und distanziert sich von jenen Personen, was mit Drews oben referierten Beobachtungen sehr gut zusammenpasst. Verschiedene Aussagen des Karaokebarbetreibers Berlint S. belegen, dass er zwar persönliche Wertungen der Karaokedarbietungen in der Regel vermeidet, jedoch vielfach bewusst die Rolle des Regisseurs übernimmt, um eine gute Atmosphäre in seinem Lokal aufrechtzuerhalten: „Ich mache die Atmosphäre, also sprich: die Musik.“ (Z. 558-559). „(…) bei der Runde für alle steigere ich die Songs, höre immer mit dem stimmungsvollsten auf. Ab und zu, das muss sich nach der Stimmung im Raum richten, muss ich es bremsen, dann kommt ein langsames Lied dazwischen. Ich lasse das ganz langsam nach oben fahren, also ich fange mit den langsamsten Liedern an und fahre dann nach oben, bis ich dann bei Old Mc Donald Had A Farm bin.“ (Z. 786-790) „(…) ich sage mir, lieber zwei zuviel rausgeschmissen als zwei den ganzen Abend durchgezogen, die die Stimmung der anderen kaputt machen.“ (Z. 804-807) „Ja, ich greife entschieden ein.“ (Z. 826-827)
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4. Diskussion und Ausblick Singen in der Freizeit ist zumeist auf die Privatsphäre begrenzt. Die Fragebogenuntersuchung hat ergeben, dass sich über die Hälfte der Befragten beim Singen in ‚privateste‘ Räume zurückzieht, selbst in den eigenen vier Wänden erfährt das Singen eine ‚Privatisierung‘. Adameks (1996: 45) kulturpessimistische These, Singen sei eine kulturelle Praxis, die vom Untergang bedroht ist, findet in den Ergebnissen der quantitativen Erhebung in Teilen ihre Bestätigung, denn obwohl fast die Hälfte der befragten Passanten wenigstens gerne singt, traut sie es sich doch kaum in der Öffentlichkeit11. Jedoch zeigt das Beispiel Karaoke, dass das Singen von Profis und Laien eine friedliche Koexistenz führen kann. Das Karaokepublikum fängt anscheinend jeden auf, die Qualität des Vortrages macht sich nicht an der gesanglichen Qualität, sondern an seiner Glaubwürdigkeit fest. So können auch ‚Nicht-Sänger‘ zu Sängern werden. Beim Karaokesingen nähern sich Laien mit Profi-Equipment und mehr oder minder defizitärem Stimmgebrauch den Medienangeboten der Pop-Profis, was insbesondere bei älteren, nicht in die Szene involvierten Personen auf Unverständnis stößt. Jüngere Nicht-Involvierte sind dagegen weitaus eher bereit, diese Kulturpraxis zu akzeptieren und ihr sogar Respekt zu zollen. Generell weist Karaoke das Image einer durchaus amüsanten, fröhlichen und sehr offenen, wenn auch nicht anspruchsvollen Freizeitbeschäftigung auf und erscheint deutlich als ein Phänomen junger Unterhaltungskultur. In der Bewertung von Karaoke schwingt immer auch die Bewertung von Singen allgemein mit, was dadurch belegt wird, dass Karaoke von Personen, die generell Gefallen am Singen haben, erheblich besser bewertet wird, als von solchen, die eine mehr oder weniger starke Abneigung verspüren. Zusammenfassend kann jedoch festgestellt werden, dass es bei Karaoke nicht allein um das Singen geht: Ein ganz entscheidender Bestandteil ist das sich Darstellen vor einem Publikum. Jener Aspekt darf also nicht als Nebeneffekt gesehen werden, er ist gleichbedeutender Hauptbestandteil im Gerüst von Motivstrukturen bezüglich Karaokes. Als ebenfalls wichtig hat sich herausgestellt, dass das Karaokepublikum nicht dem festen sozialen Gefüge einer üblichen Gruppe entspricht. Unverbindlichkeit und zufällige Bekanntschaften von kurzer Dauer und geringer Intensität sind Hauptmerkmale. Deshalb ist der Vergleich mit der Struktur eines Ensembles im Sinne Goffmans berechtigt. Die Auswertung der Interviews zeigt aber auch, dass Anerkennung und Toleranz, gesichert durch ein differenziertes soziales Regelwerk, wichtige Grundlagen für das Funktionieren von Karaokeclubs bilden, denn erst sie ermöglichen es, dass Singen als wesentliche Coping-Strategie und zur symbolischen Selbstergänzung genutzt werden kann. Diese Arbeit kann insgesamt verstanden werden als explorative und kategorisierende Vorstufe zu einer repräsentativen Studie über Karaoke. Im Hinblick auf die Aspekte der Selbstdarstellung ist im Laufe der Arbeit deutlich geworden, dass manche der hier aufgestellten Thesen mit Hilfe der Interviews nicht zufriedenstellend erörtert werden konnten. Es stellte
11 Allerdings ist zumindest für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eine Trendwende erkennbar: Der Boom der Castingshows hat das Interesse am Singen und die Nachfrage von Gesangsunterricht im populären Idiom enorm erhöht, was sich in Wartelisten bei Musikschulen und vermehrt durchgeführten Gesangswettbewerben an allgemein bildenden Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen widerspiegelt.
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sich als schwierig heraus, ohne Suggestivfragen den Kern verschiedener Impression-Management-Strategien oder -taktiken im Interview zu erfahren. Somit erscheint das Interview als alleinige Erhebungsmethode zur Analyse von nonverbaler Selbstdarstellung nicht geeignet. In einem nächsten Schritt könnte man mittels einer standardisierten Beobachtung/Feldforschung tiefer in die Materie eindringen.
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4. Soziale Felder
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1. Die Unterhaltungsdimension des Sports und des Mediensports Die Verwendung der Theater-Analogie ist im Feld des Sports schon seit langen populär und wird im Zeitalter des Mediensports mitunter geradezu inflationär verwendet. Das Stadion erscheint so als Bühne oder gleich als Opernhaus, die Trainer geben Regieanweisungen, die Athletinnen und Athleten haben ihre Auftritte, werden ihrer Rolle gerecht (oder auch nicht), agieren für die Galerie, lassen sich gar zu Statisten degradieren oder schauspielern. Und am Ende stehen die Sieger im Rampenlicht und die notorischen Verlierer verschwinden in der Versenkung. Da überrascht es kaum, wenn Sportjournalisten beispielsweise Fußballspiele gleich als Dramen, Auto- und Radrennen als Epen, das Krisenmanagement von Vereinspräsidenten als (Schmieren-)Komödie, eine sportliche Niederlage als Tragödie und Olympische Spiele als Gesamtkunstwerk einordnen. Aber nicht nur die mediale Berichterstattung und die gesellige Konversation über den Spitzensport orientieren sich an diesem Modell, sondern der Sport selbst spielt schon seit den Zeiten der antiken Körperkultur immer auch Theater und liefert gerade in der Gegenwart unaufhörlich Beispiele mit denen sich die These von der „Inszenierungsgesellschaft“ (Willems/Jurga 1998) exemplarisch illustrieren lässt. Mitverantwortlich hierfür ist sicherlich der Umstand, dass für den Sport sowohl die Ästhetik des körperlichen Tuns, das leibhaftige Eingehen von Wagnissen und die Unmittelbarkeit der Situation als auch vielfältig miteinander verwobene Prozesse der Bedeutungsbildung und der Repräsentation konstitutiv sind. Sport kann als regelgeleitetes und kreatives Bewegungshandeln in jeweils einmaligen Situationen des Wettkampfs und/oder der Grenzüberschreitung charakterisiert werden, gleichzeitig kommen dabei jedoch die vier von Fischer-Lichte (1998: 86) genannten Aspekte von Theatralität – Performance, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung – in unterschiedlichen Konstellationen zum Tragen. Gerade weil der Sport Präsenzerfahrungen und ein Spiel ohne Maske verspricht, eignet er sich sowohl zur individuellen Selbstdarstellung als auch zum massenmedial konstruierten Spektakel, das nicht zuletzt um die Repräsentation des Sozialen und die Produktion von Mythen kreist (vgl. Barthes 2005; Tomlinson 2002). Die aktuelle Wertschätzung des Sports und seine Potentiale als „rituelles Gesellschaftstheater“ (Pornschlegel 2002: 106; vgl. Schwier/Leggewie 2006) sind des Weiteren ohne den Einfluss
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der Massenmedien kaum denkbar. Das Feld des Sports ist vielmehr erst unter deren Mitwirkung zu einem Bestandteil des Alltagslebens geworden und vor allem das Fernsehen hat frühzeitig Beziehungen zum Sport geknüpft, da dieser eine zwanglose Nähe zu den Feldern der Freizeit, der Lebensstile und des Konsums verspricht sowie einen Zeichencode aufweist, der anscheinend von Menschen rund um den Globus verstanden wird. In diesem Zusammenhang hat gerade das noch immer als Leitmedium fungierende Fernsehen den (Spitzen-)Sport transformiert und dabei dessen Unterhaltungsdimension akzentuiert. Dem Mediensport geht es also immer zugleich um Aktion und Präsentation, um Herstellung und Darstellung, wobei allerdings noch zu klären wäre, wie unter den Bedingungen des Multimediazeitalters in sportlichen Prozessen Wettbewerb, Identität, Körperlichkeit, Integrität oder Glaubwürdigkeit in Szene gesetzt werden. In diesem Zusammenhang lässt sich die von Dörner (2001: 235-245) vorgelegte Analyse der in der etablierten Medienkultur anzutreffenden Verwandlung von Politik in Politainment ohne weiteres auf den Fernsehsport anwenden: Welchen öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Sender wir auch wählen, die unterschiedlichen Formen des vorwiegend Unterhaltungszwecke verfolgenden und bei der Vermittlung von Sportereignissen vermehrt auf Emotionalisierung, Personalisierung, Feel-Good-Faktor sowie „melodramatisches Gefühlsmanagement“ (Dörner 2001: 234) setzenden Sportainments begegnen uns auf allen Kanälen. Die massenmedialen Formen des Sportainments bedienen sich im Übrigen unterschiedlicher theatraler Elemente. Gerade das Fernsehen ist bestrebt, den jeweiligen Wettkämpfen eine dramaturgische Gestalt zu geben und die Körper der Athleten in risikoreicher Aktion einzufangen, während Vereine, Verbände und Vermarkter unentwegt nach noch attraktiveren Präsentationsformen, neuen Wettbewerben sowie noch nie gesehenen Bildern suchen, um das Interesse der Medien an einer Berichterstattung über die jeweilige Sportart bzw. das konkrete Sportereignis zu wecken, aufrechtzuerhalten oder zu steigern (vgl. Boyle/Haynes 2000; Mikos 2006; Schauerte/Schwier 2004b; Stiehler 2003). Die Unterhaltungsorientierung des Mediensports und sein Bestreben, ein möglichst großes Publikumsinteresse zu gewährleisten, stimulieren quasi einen Dramatisierungs-Boom, der im folgenden mit Blickrichtung auf die Konstruktion der Sportereignisse, die Heldenfiguren im Sport, die Selbstdarstellungsstrategien von Sportzuschauern sowie die extra für das Fernsehen geschaffenen Sportspektakel nachgezeichnet werden soll.
2. Die Inszenierung von Sportereignissen Die Faszination des Sports liegt möglicherweise in seiner eigenartigen Doppelstruktur begründet: Sportereignisse signalisieren, dass hier etwas um seiner selbst willen getan wird, das authentische Körper in echten Situationen mit ungewissem Ausgang handeln. Gleichzeitig ist der sportliche Wettkampf trotz allen Engagements eben kein echter Kampf und sowohl Akteure als auch Publikum sind sich in der Regel des Als-Ob-Charakters der Betätigung bewusst. Beim Fußballspiel geht es einerseits nur darum den Ball zu erobern, zu passen und zu flanken, Zweikämpfe zu gewinnen, Tore zu schießen und zu verhindern. Andererseits
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erscheint dieses Spiel wie die gesamte Sonderwelt des Sports nahezu unausweichlich als ein „Schauplatz des Sinns“ (Bolz 2004: 137), der widersprüchliche Prozesse der Bedeutungsbildung integriert und verschiedenartige Lesarten hervorbringt. Die unaufhörlich produzierten Inszenierungen des Mediensports sowie die beständig reproduzierten Erzählungen über große Wettkämpfe und Sportler begünstigen offensichtlich die Erzeugung geteilter Bedeutungen und tragen damit zu jener Sinnstiftung bei, auf die der moderne Sport nun einmal in allen seinen Erscheinungsformen angewiesen ist. Menschen auf allen Kontinenten und in unterschiedlichsten Lebenslagen geben diesem Phänomen und seiner Medienrealität jedenfalls aktiv Sinn. Wo die Globalisierung ein diffuses Gefühl der Unübersichtlichkeit, Diskontinuität, Enttraditionalisierung und des Schwindens von Heimat entstehen lässt, bietet sich unter anderem der Sport als „Bedeutungsanker“ (Maguire 1999: 204), als – wenn auch beschränkte – Ressource des populären Vergnügens und der Selbstermächtigung an. Grundsätzlich spricht des Weiteren einiges dafür, das von Seel (2001: 56) skizzierte Verständnis des Inszenierens als „öffentliches Erscheinenlassen von Gegenwart“ auf den Sport anzuwenden. Die Prozesse der Inszenierung von Sportereignissen laufen dabei auf unterschiedlichen Ebenen ab, die aber in ständiger Wechselbeziehung zueinander stehen. Zunächst sind insbesondere die Sportarten selbst zu nennen. Diese zeichnen sich durch offizielle und international gültige Regelwerke aus, die einerseits bestimmte Bewegungsaufgaben und Körperbewegungen erst zu einem sinnvollen sportlichen Handeln machen und andererseits eine relativ scharfe Trennlinie zwischen den einzelnen Sportarten ziehen. Die Kodifizierung einiger weniger Regeln (u.a. Verbot des Handspiels und des Hacking) hat so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu geführt, dass sich aus den frühen Formen des modernen Fußballs die beiden Sportspiele Soccer und Rugby entwickelt haben. Die Regeln markieren zunächst sicherlich einen Rahmen (im Sinne von Goffman 1977: 19-25), begrenzen die Interpretationsspielräume und ermöglichen einen Vergleich erbrachter Leistungen, sie dienen aber vor allem dem Aufbau und der Aufrechterhaltung einer Spannungsbalance, wie Elias (1983: 12ff.) am Beispiel des Fußballs erläutert hat. Der Ball bleibt eben rund und das Spiel kann jederzeit eine unvorhersehbare Wendung nehmen. Auch die Weltstars des Fußballs sind sich beispielsweise des runden Leders niemals ganz sicher, es kann immer wegspringen oder in der Luft spontan die eingeschlagene Richtung ändern. Die vollständige Beherrschung des Spielgeräts bleibt unmöglich, vielmehr droht bei jeder Annahme, jedem Dribbling und jedem Pass latent schon der Ballverlust. Auf dieses für den gesamten Sport konstitutive Moment der Spannung – die Frage nach dem Gewinner, dem Tonus des Spiels, dem häufigen Wechsel der Führung, der Entscheidung in letzter Minute – vertraut ebenfalls die Produktion des Mediensports. Darüber hinaus existieren sowohl sportartübergreifende als auch sportartspezifische Codes und Normen, die es den Sportlern und den Zuschauern ermöglichen, abseits von Ergebnislisten das Handeln der Akteure zu bewerten. Im Unterschied zum Handball oder Fußball ist es beispielsweise beim Snooker üblich, vom Schiedsrichter nicht erkannte Regelverstöße selbst anzuzeigen. Und während der Tour de France halten sich die Fahrer fast ausnahmslos an das ungeschriebene Gebot der Fairness, dass man keine Tempoverschärfung einleitet, wenn ein Konkurrent unverschuldet aus dem Tritt geraten ist (z.B. durch Defekt oder Zuschauer). Kennzeichnend für die Produktion des Sports dürfte auf einer weiteren Ebene der Umstand sein, dass eine oder mehrere Sportarten in eine Wettkampfserie oder ein Meister-
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schaftsturnier eingepasst und entsprechend aufgeführt werden. In Abhängigkeit von der Art des Wettkampfs kommen wiederum spezifische Regeln und Werthaltungen zum Tragen, nach denen sich die sportliche Bedeutung der Handlungen sowie der Stellenwert und Charakter der Serien bzw. Turniere bemessen lassen. Der Gewinn eines Weltmeistertitels zählt so für alle Beteiligten mehr als eine nationale Meisterschaft. Darüber hinaus besitzen einige Disziplinen allerdings besondere Wettkämpfe, die alle Veranstaltungen an anderen Orten überstrahlen: Obwohl zum Beispiel eine olympische Goldmedaille im Triathlon nur alle vier Jahre errungen werden kann, genießt der Sieger des jährlich stattfindenden Ironman auf Hawaii eine ungleich höhere Reputation bei den sportlichen Mitbewerbern, den Zuschauern, den Medien und der werbetreibenden Wirtschaft. Mitverantwortlich hierfür ist sicherlich der Mythos des Ironman, mitsamt den Erzählungen über heroisches Athletentum im Kampf mit den Naturgewalten und den spektakulären Bildern der Insellandschaft. Unter Verwendung ähnlicher Argumentationsfiguren hat im Übrigen Barthes (2005: 93f.) die Tour de France als Ausdrucks- und Projektionsmythos analysiert. Demgegenüber gelten Olympiasiege in vielen anderen Sportarten schlicht als der Gipfel des Erreichbaren. Auf einer dritten Ebene werden schließlich die medialen Übertragungen und Berichte von Sportereignissen sowohl technisch als auch redaktionell inszeniert. Beide Aspekte ergänzen sich gegenseitig und sollen dem Rezipienten beim Konsum der medialen Sportangebote einen Mehrwert anbieten sowie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der Refinanzierung des eingesetzten Unternehmenskapitals dienen (vgl. Müller/Schwier 2006). Zu nennen wären unter anderem die Szenenauswahl, die Kameraführung und -perspektive, die Wiederholung, die (Super-)Zeitlupe und digitale Animationen, aber auch die zeitliche Streckung von Übertragungen und die Anreicherung mit sportfremden Elementen wie Gewinnspielen, Prominentenauftritten oder Showeinlagen. Die Verwandlung eines Sportwettkampfes in ein Medienereignis stellt sich dabei nach Whannel (1992: 94-98) als ein Transformationsprozess dar, dessen zwei zentrale Organisationsprinzipien – Realismus und Unterhaltung – zumeist miteinander in Konflikt stehen: Die Ästhetik des Realismus erfordert eine transparente Bildsprache, die das Sportereignis so zeigt, wie es wirklich ist. Demgegenüber favorisiert das Unterhaltungsprinzip eine visuelle Inszenierung, die das Geschehen unter dem Gesichtspunkt des Vergnügens aufbereitet und daher auf Action, Melodramatik und Spektakularisierung setzt, um die Zuschauergunst zu gewinnen. Insgesamt kann ferner unterstellt werden, dass das Fernsehen im Hinblick auf eine Sportübertragung umso weniger Inszenierungsaufwand leisten muss, je ausgeprägter der Sportwettkampf den Kriterien „Maximum an Aktion auf engstem Raum“ und „Maximum an Aktion in minimaler Zeitspanne“ entspricht (vgl. Whannel 1992: 112-115). Gerade der Fernsehsport zeichnet sich also durch seine doppelte Rahmung (Nachricht und Unterhaltung) aus, die unter anderem die Elemente der Hierarchisierung (Festlegung der Wertigkeit bestimmter Wettkämpfe und Sportarten), der Personalisierung (Konzentration auf die Perspektive einzelner Sportstars), der Narration (das Erzählen von Geschichten über den Sport) sowie bestimmte Identifikationsofferten zu integrieren vermag. Bedingt durch die massive Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Sportsektors sind nicht nur die Medien, die Vermarktungsagenturen und die werbetreibende Wirtschaft auf eine massenattraktive Aufführung des Sportgeschehens angewiesen, sondern auch die Veranstalter, Verbände und Sportler (vgl. Schauerte/Schwier 2004a). Daher versucht auch der
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Sport seine Wettkämpfe marktfähig zu gestalten und ist zunehmend bereit, deren Strukturiertheit den externen Bedürfnissen anzugleichen. Die Korrekturen erfolgen dann zumeist direkt auf der Ebene des Regelwerks und reichen von kleineren Modifizierungen (z.B. Änderung der Zählweise im Tischtennis und Volleyball) bis in Dimensionen, die eine Sportart oder einen Wettkampf grundlegend verändern. Einzelne Sportverbände erfinden des Weiteren gleich neue Wettbewerbe, die sich von vorneherein an den dramaturgischen Konventionen des Fernsehens orientieren (z.B. Massenstartrennen beim Biathlon oder Boadercross beim Snowboarding). Aus nachvollziehbaren Gründen agiert der medial allgegenwärtige Quotengarant Fußball bei telegenen Innovationen eher zurückhaltend, während mediale Randsportarten wie der (Frauen-)Volleyball die Athletinnen zum Beispiel durch die detaillierten Bekleidungsvorschriften der FIVB zwingen, bei internationalen Meisterschaften ihre Haut zu Markte zu tragen. Und Sportarten, die sich aktuell einer steigenden Beliebtheit erfreuen, sind sicherlich gut beraten, wenn sie über behutsame Neuerungen ihr offensichtlich televisionär erfolgreiches Profil kontinuierlich weiterentwickeln: Die meisten Regeländerungen im Basketball waren beispielsweise in den letzten Jahren darauf gerichtet, das Angriffsspiel zu beleben und das ohnehin schon hohe Tempo des Spiels weiter zu forcieren. Eine Steigerung der Rasanz des Spiels, ein noch rascherer Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung, mehr Zielhandlungen und damit wahrscheinlich auch mehr Körbe kommen sicherlich den gängigen Publikums- und Medieninteressen entgegen. Unabhängig von den Bemühungen um eine Steigerung der Telegenität scheinen aber jene Sportwettkämpfe in besonderem Maße der Logik der Medien zu entsprechen, bei denen die Dramatik des Handlungsverlaufs und die Spannung der Zuschauer vom Anfang bis zum Ende nicht nur gehalten, sondern fortlaufend gesteigert werden kann. In diesem Zusammenhang besitzen anscheinend Sportarten, die dem Gesetz der Serie folgen – wie beispielsweise die Fußballbundesliga mit ihren 34 Spieltagen – eindeutige Vorteile. Jeder Spieltag der Bundesliga oder der Champions League, jedes einzelne Rennen der Formel 1 oder der Tourenwagenserie DTM erzählen eine eigene Geschichte und beantworten für den Moment die Frage nach den Siegern, halten aber die übergeordnete Frage nach dem Ausgang der jeweiligen Meisterschaft offen. Der durchgehende rote Faden (Wer wird gewinnen?), die weitgehende Kontinuität der Hauptdarsteller und der Erzählstruktur begünstigen ferner die Bildung von Fangemeinschaften. Dieses Muster der Saisongestaltung und die traditionelle Konzentration des Fernsehsports auf ein vornehmlich männliches Publikum haben dazu geführt, dass die Sportberichterstattung als männliche Seifenoper, als „Dallas with balls“ (O`Conner/Boyle 1993) bezeichnet worden ist. Verschiedentlich wird ferner die Annahme vertreten, dass Sportarten wie Leichtathletik, Schwimmen oder Turnen möglicherweise auch deshalb in der Gunst der Fernsehzuschauer hinter den professionellen Sportspielligen rangieren, weil ihnen eine eindeutig wahrnehmbare Saison und eine Zuspitzung auf finale Wettkämpfe mit Playoff-Charakter fehlen (vgl. Kinkema/Harris 1998: 33). Im Bemühen um eine kommunikative Aufwertung gehen vor diesem Hintergrund inzwischen zahlreiche mediale Rand- und Schwellensportarten dazu über, mehrere – ursprünglich voneinander unabhängige – Einzelwettkämpfe als eine (Mini-) Serie zu präsentieren. In der Leichtathletik fasst man beispielsweise sechs der bedeutendsten europäischen Leichtathletikmeetings zur Golden League zusammen. Die hierbei angewendete Kombination aus Wettkampfstruktur und Preisgeldmodus soll dazu beitragen, die lose
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Verbindung von Ereignissen als ein Produkt mit Fortsetzungscharakter und Starbesetzung darzustellen. Dieses Inszenierungsprinzip findet sich inzwischen in nahezu allen Sportarten, die nicht ohne weiteres sinnvoll in einem Ligasystem zu organisieren sind und bringt fortlaufend neue sportliche Franchise-Wettkämpfe hervor (unter anderem die Riders Tour im Springreiten, die UCI Pro Tour im Straßenradsport oder den Mountainbike Rider Cup). Dem zwanglosen Zwang zur Serie kann sich anscheinend keine Sportart entziehen, die zumindest in begrenztem Umfang im Fernsehen präsent sein möchte. Als ein unter dem Gesichtspunkt der medialen Theatralisierung problematischer Aspekt ist demgegenüber die relative Ungewissheit des Ausgangs sportlicher Wettkämpfe zu nennen. Einerseits stellt sie ein konstitutives Element für den Aufbau einer Spannungsbalance auf dem Platz sowie für das Spannungserleben des Publikums dar, andererseits ist sie ein kaum kalkulierbares Risiko für die Inhaber der jeweiligen Übertragungsrechte. Da die fortdauernde Beteiligung einheimischer Athleten und Clubs an internationalen Wettkämpfen eine Voraussetzung für ein hohes Zuschauerinteresse ist, sollte der Turnier- oder Wettkampfmodus aus Sicht der Rechtehändler bzw. -inhaber so gestaltet sein, dass die Gefahr eines allzu frühzeitigen Ausscheidens der Publikumsmagneten reduziert wird. Eine derartige (Vor-) Strukturierung des Wettkampfes erhöht aber nicht nur die televisionäre Planungssicherheit, sondern festigt tendenziell ebenfalls bestehende sportliche Hierarchien und reduziert die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Überraschungen. Selbst wenn Goliath in der Vor- oder Zwischenrunde einmal gegen David verlieren sollte, bedeutet dies weder das unmittelbare Ausscheiden des Favoriten noch zwangsläufig das Weiterkommen des Außenseiters. Es handelt sich dann lediglich um eine Episode, die zunächst keine gravierenden Konsequenzen nach sich zieht und unter Umständen schnell wieder in Vergessenheit gerät. Durch den engen Zusammenhang zwischen der finanziellen und der sportlichen Leistungsfähigkeit von Fußballvereinen (vgl. Frick 2005) besteht zum Beispiel die Gefahr, dass langfristig eine gewisse Eintönigkeit im Wettkampfbetrieb Einzug halten könnte. Dies wäre dann wiederum der Effekt, den alle am Mediensport Beteiligten zu vermeiden suchen. Das bereits erwähnte Wechselspiel zwischen der Inszenierung des originären Sportereignisses und seiner medialen Repräsentation schlägt sich ebenfalls in der Gestaltung der Wettkampfkalender nieder. Hierzu ist zunächst festzustellen, dass der Kampf um Medienpräsenz und die knappe Ressource Aufmerksamkeit längst zu einem Verdrängungswettbewerb zwischen den Sportarten und Sportereignissen geführt hat. Diese Konkurrenz wird allerdings durch einige wenige Disziplinen derart beherrscht, dass sich den anderen Sportanbietern im Jahresverlauf nur wenige Zeitfenster bieten, um von Medien und Publikum überhaupt wahrgenommen zu werden. Daher richten viele mediale Randsportarten die Planung ihres Wettkampfkalenders nach den Terminen der dominierenden Disziplinen und Veranstaltungen aus. Es macht schließlich wenig Sinn, mit großem Aufwand eine spektakuläre Aufführung zu inszenieren, wenn zeitgleich ein Fußballgroßereignis stattfindet. Die Mehrzahl der Sportverbände platziert daher ihre wichtigsten Meisterschaften an den wenigen (fußball-)freien Stellen im transnationalen Medien-Sport-Jahreskalender. Doch diese weißen Flecken werden immer seltener, denn der Fußball als unangefochtener Primus des europäischen Mediensports belegt an immer mehr Tagen des Jahres potentielle Sportsendezeit. Da sich die verfügbare Menge an Spitzenfußball kaum ohne Qualitätsein-
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bußen vermehren lässt, erfordern die hohe Fernsehnachfrage und die enormen finanziellen Aufwendungen für die Übertragungsrechte nun einmal eine optimale Vermarktung des knappen Guts. Der hierzu gewählte Vorgehensweise gliedert sich letztlich in drei Schritte: Erstens wurden die Wettkampfmodi der europäischen Wettbewerbe modifiziert, wodurch die Anzahl der Spieltage pro Saison erhöht werden konnte. Zweitens verteilen sich die einzelnen Spieltage inzwischen auf mehrere Wochentage, so dass beispielsweise ein Spieltag in der Fußballbundesliga von Freitag bis Sonntag stattfindet. Die restlichen Wochentage sind zumindest temporär mit Spielen der Champions-League, des UEFA-Cups und der 2. Bundesliga belegt. Hinzu kommen noch die als Budenzauber etikettierten Hallenturniere in der Winterpause sowie der UI-Cup und der Ligapokal während der Sommerpause. Der dritte Aspekt betrifft gleichermaßen nahezu alle Arten von Sportübertragungen und dürfte primär in ökonomischen Handlungszielen begründet liegen: Der Anteil der eigentlichen Sportberichterstattung an den Sendezeiten über Sportereignisse ist in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken und liegt bei Fußballspielen inzwischen teilweise unterhalb der 50%-Marke: „Vor- und Nachberichterstattung werden immer dominanter, um dadurch die immensen Rechtekosten auf einen größeren Timeslot im Programm zu verteilen und diese besser refinanzieren zu können“ (Schierl 2004: 108; vgl. Friedrich/Stiehler 2005). Da eine direkte Refinanzierung der teuren Sportrechte durch Werbeeinnahmen aus den Übertragungszeiten nahezu unmöglich ist, liegen die medienökonomischen Handlungsmotive einerseits in der Konterkarierung der Konkurrenzangebote und andererseits in der Hoffnung auf eine insgesamt positive Imageprofilierung des Senders.
3. Die Helden des Mediensports Ein wesentliches Element der Theatralisierung des Mediensports stellt sicherlich die Inszenierung seiner herausragenden Protagonisten dar. Die facettenreichen Erzählungen über unvergessene Wettkämpfe, Sportler und Trainer gehören in gewisser Hinsicht ebenfalls zum Spiel, geben diesem eine epische Ordnung und wirken sogar in das aktuelle Sportgeschehen hinein. Sportlegenden und -stars sind für den aktuellen und zukünftigen Unterhaltungswert des Fernsehsport-Konsums überaus bedeutsam (vgl. Schauerte 2005: 270). Ohne solche Heldenfiguren würde es beim Publikum schlicht weniger Jubel, Identifikation, Enttäuschung, kurz gesagt, weniger emotionale Teilhabe am Geschehen geben. Daher ist es für die kulturelle Praxis und die soziale Akzeptanz des Sports keineswegs belanglos, in welche narrativen Settings er eingebettet wird oder welche Art von Geschichten über ihn und seine herausragenden Handlungsträger erzählt werden. Nach Gebauer und Lenk (1988) entfalten, begründen und veranschaulichen Geschichten „Interpretationskonstrukte sportlicher Handlungen. … Es gibt freilich im Sport keinen besonderen, eigenständigen Geschichtstypus; vielmehr trifft man hier Formen des Geschichtenerzählens an, die sehr oft nichts anderes als Versionen von Legenden und Mythen sind“ (ebd.: 147; vgl. Barthes 2005). Die Erzählungen über brillante Sportler korrespondieren so häufig mit den nationalen Werten bzw. den Mythen ihres Heimatlandes, wie unter anderem Müllner (2005) anhand der Biographien österreichischer
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Skirennläufer nachzeichnen konnte. Vor allem im Rahmen der genannten dramatischen Textsorten treten Sportlerinnen und Sportler als heroische Akteure auf, die nicht nur steile Aufstiege und Triumphe erlebt, sondern auch in den Abgrund geblickt, Opfer gebracht und Momente des Scheiterns bewältigt haben. Legenden machen Athletinnen und Athleten mehr oder weniger zu idealen Menschen, deren Tun unmittelbar glaubwürdig und deren Vorbildlichkeit oft anziehend wirken. Schon allein aufgrund des sportlichen Sieges-Codes und der damit verbundenen Verknappung der Rangplätze gelingt es generell aber nur einigen wenigen Sportlerinnen und Sportlern, dass ihre Person sich im Bewusstsein der Öffentlichkeit nachhaltig verankert und nicht relativ schnell wieder in Vergessenheit gerät. Dabei handelt es sich in der Regel um Akteure, die als symbolische Vertreter einer Sportart, eines Lebensstils, bestimmter Werthaltungen, einer besonderen (Leistungs-)Fähigkeit oder schlicht als Synonym für Erfolg wahrgenommen werden. Mit der moralischen Integrität, dramatischen Umständen, der persönlichen Attraktivität und der Sozialorientierung benennt Schlicht (2000: 214-217) weitere günstige Voraussetzungen für die Aufnahme in das Ensemble der Sporthelden. Michael Ballack, Hernan Crespo, Didier Drogba, Frank Lampard oder Andrei Shevchenko sind so gegenwärtig weltweit bekannte (Marken-)Namen, die als Sportikonen und Weltbürger sowohl für ihren Club Chelsea FC, für ihr Heimatland und für die Produkte ihrer Sponsoren als auch für international verbreitete Lifestyle-Muster und das globalisierte Fußballspiel stehen (vgl. Schwier 2006). Sie werden vom Publikum verehrt und von den Medien begehrt – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Die Helden des Sports senken für die Massenmedien zunächst einmal den Inszenierungsaufwand ihrer eigenen Berichterstattung und bieten eine Vielzahl von publizistischen Anknüpfungsmöglichkeiten jenseits des Sports (z.B. Unterhaltungssendungen, Talkshows oder sog. Homestories). Bekannte Athletinnen und Athleten gehören daher längst zur „Medienklasse Fernsehprominente. Folglich treten Sportler nicht nur im (spezial) diskursiven Feld des Sports auf, sondern zirkulieren im interdiskursiven Fernsehuniversum, z.B. als Gäste in Talkshows, als Meldungen in Nachrichten oder als Akteure in Spielshows“ (Adelmann/Stauff 2001: 155). Dem breiten Publikum wiederum eröffnen Sportstars ein hohes Identifikationspotenzial und daraus resultierend parasoziale Orientierungsmuster. Vor diesem Hintergrund bedienen sich die Massenmedien in ihrer Sportberichterstattung bevorzugt der beiden Faktoren Personalisierung und Prominenz- bzw. Eliteorientierung. Damit einhergehend werden am Beispiel der Heldenfiguren nicht selten gleichzeitig Aspekte wie Ethnizität, nationale Identität, Geschlechterrollendefinitionen, sportliche Leistungsfähigkeit oder abweichendes Verhalten thematisiert (vgl. Schwier 2002: 81-91). Die Karrieren des Fußballspielers Franz Beckenbauer, der Tennisspielerin Martina Navratilova und des Radsportlers Lance Armstrong können zum Beispiel den Rohstoff für Erzählungen von der Leichtigkeit des sozialen Aufstiegs, von der weiblichen Selbstermächtigung und dem heroischen Überwinden einer lebensbedrohlichen Krankheit liefern, während sich der Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1998 durch die Équipe tricolore von Medien und Politik als Sinnbild eines multiethnischen Frankreichs und als Beleg für die Integrationsleistungen des Sports aufbereiten ließ. Mit dem Siegeszug des Sportmarketings gewinnen aber ferner Kriterien, die allenfalls entfernt mit dem sportlichen Geschehen zu tun haben, eine wachsende Bedeutung. Einzelne
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Sportlerinnen und Sportler treten so als globale Popstars und „Lifestyle-Ikonen“ (Lessinger 2006: 279) auf, wobei unter anderem Extravaganz, Image, Look und Erotik als Vermarktungsinstrumente zum Einsatz kommen (vgl. Whannel 2002). Der englische Fußballprofi David Beckham ist so verschiedentlich nicht ganz zu Unrecht als erster Popballer bezeichnet worden, während Anna Kournikowa einige Jahre als bestverdienende und bekannteste Tennisspielerin auf der Damen-Tour galt, obwohl sie niemals ein bedeutendes Turnier gewinnen konnte. Bei derartigen Fällen steigen sicherlich die Ansprüche an die Außendarstellung und unter dem Gesichtspunkt der Theatralisierung interessiert dann vor allem, welche konkrete Ausgestaltung das Verhältnis von Maske und Maskenträger, von persona und Person erfährt. Doch auch für solche feldübergreifend populären Sportstars bleibt der eigene Körper noch immer unhintergehbar „Objekt und Ressource der (Selbst-)Gestaltung und (Selbst-)Ästhetisierung“ (Willems 1998: 44). Als Zenedine Zidane seine nahezu unvergleichliche Karriere im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006 mit einen Kopfstoß und anschließendem Platzverweis unrühmlich beendete, war ihm nicht nur in Frankreich eine große öffentliche Anteilnahme gewiss: Obwohl man dieses grobe Foul einerseits unisono verurteilte, ließ sich die – vom Gegenspieler durch wiederholte Beleidigungen provozierte – Tat andererseits zugleich als Indiz dafür heranziehen, dass auch im kosmopolitischen Superstar des Weltfußballs noch immer das wilde Herz und die männlichen Ehrvorstellungen der Straßenfußballer aus den Banlieus von Marseille lebendig sind. Die Tätlichkeit gegen den italienischen Spieler Materazzi verweist in dieser Perspektive auf den Menschen hinter der Kunstfigur Zizou. Die populäre Lesart einer unsportlichen Handlung kann also geradezu als Authentizitätsbeweis dienen, Identifikation begünstigen und die Zuneigung der Fans zum Sportler vertiefen. Die ungewöhnliche körperliche Attacke des Spielers Zidane gibt dem Publikum zunächst Rätsel auf, lässt sich allerdings letztlich ohne großen medialen Aufwand als ein Akt inszenieren, der vermeintlich jene Differenzen aufgreift, die nicht nur für einen Teil der männlichen Bevölkerung noch immer einen Unterschied machen.
Abb. 1: Zidane versus Materazzi (Quelle: Reuters)
Der Begriff der Personalisierung umfasst sowohl die zunehmende Fokussierung der Sportberichterstattung auf die Stars und das televisionäre Spiel mit den Images bekannter Sportler als auch jene bevorzugte Lesart des Sportfernsehens, die persönlichen Qualitäten der
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Individuen als ausschlaggebenden Faktor für die sportliche Leistung, für (auch moralische) Siege und Niederlagen zu präsentieren. Personalisierung lässt sich im Wesentlichen als ein Vorgang beschreiben, bei dem Strukturen, Prozesse und Inhalte symbolisch durch Personen dargestellt werden (vgl. u.a. Marcinkowski/Greger 2000). Durch die Fokussierung auf Personen soll sowohl eine Reduktion der Informationsfülle als auch eine Bedeutungszuschreibung erfolgen, so dass die jeweiligen Phänomene eingeordnet und bewertet werden können. Personalisierung dient somit einer symbolhaften Konstruktion von sozialen Bedeutungen und vermittelt dem Rezipienten ein Gefühl von Orientierung und Sicherheit (vgl. Edelmann 1976). Sportinformationen werden dabei durchgängig visualisiert und vermehrt auf ihre unterhaltsamen Aspekte reduziert. Zudem erleichtert eine personalisierte Darstellung die werbewirksame Vermarktung der Sportler und der Sportberichterstattung. Daher ist es nicht weiter verwunderlich, dass nach Loosen (1998: 118) rund 85 Prozent der Sportberichterstattung einen (sehr) starken Personenbezug aufweisen. Nur am Rande sei des Weiteren angemerkt, dass einzelne Formate des Fernsehsports (z.B. Wrestling) in besonderem Maße zur Produktion einer melodramatischen Weltsicht tendieren und daher einige Sportler durchgängig als personifizierte Verkörperung des Good Guy bzw. Bad Guy einsetzen. Die Beschäftigung mit den Faktoren Elite und Prominenz wirft nicht nur im Feld des Sports verschiedene theoretische und empirische Probleme auf, was unter anderem mit den Unterschieden hinsichtlich des Grades der Prominenz zusammenhängt. Während einige Sportlerinnen und Sportler beispielsweise nur für kurze Zeit im kollektiven Bewusstsein auftauchen, spielen andere wiederkehrend oder auch kontinuierlich in den Medien und damit in der Öffentlichkeit eine auffallende Rolle. Der Umstand, dass eine Person regelmäßig mediale Präsenz genießt, gilt jedoch noch lange nicht als hinreichender Beleg für die Zugehörigkeit zu einer Elite. Ohne entsprechenden Erfolg und überragende Leistungen bei renommierten Wettkämpfen kann man wohl kaum der Elite des Sports angehören. Des Weiteren scheint ebenfalls das Prinzip der „Seniorität“ (vgl. Bieber 2006) wirksam zu sein: Sportler oder Trainer, die über langjährige Erfahrungen – am besten in den unterschiedlichen Funktionsrollen – verfügen und auf eine nahezu einmalige Karriere zurückblicken, erhalten so gelegentlich den Status einer Sportlegende. Am Beispiel von Trainern wie Sepp Herberger, Vince Lombardi, Bill Shankly oder César Luis Menotti ließe sich ferner zeigen, dass diese nicht nur von Medien und Öffentlichkeit zu Legenden gemacht wurden, sondern sich selbst avant la lettre – zum Teil über Jahrzehnte – in Szene gesetzt und die Narrative des Sports zielstrebig bereichert haben. Oder wie der Football-Coach Vince Lombardi einmal für seine Spieler und die Nachwelt festgehalten hat: „They may not love you at the time, but they will later“ (http:// www.vincelombardi.com/quotes/character.html). Die scheinbar hohe Ausprägung des Faktors Prominenz erklärt sich für den überwiegenden Teil der Sportberichterstattung allerdings durch sich selbst: Schließlich konzentrieren sich die Massenmedien auf wenige nationale bzw. internationale Großereignisse (vgl. Loosen 1998; Schauerte 2004) und reduzieren so die Vielzahl der in Frage kommenden Athleten zwangsläufig auf einen elitären Ausschnitt. Obwohl es trotzdem eigentlich genug prominente Sportler geben müsste, sind auf der Medienbühne die wirklichen Helden rar – und das, obwohl die Medienschaffenden stetig bemüht sind, neue Sportidole zu kreieren und zu stilisieren.
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4. Selbstdarstellungsstrategien von Sportzuschauern Menschen besuchen unter anderem Sportveranstaltungen, um sich selbst öffentlich zu präsentieren und durch diverse Aktivitäten ihre Zugehörigkeit zu einer positiv bewerteten Gruppe vorzuführen. In Anlehnung an Goffmans (1983) Studien zur Selbstdarstellungspraxis im Alltagsleben kann also durchaus die These vertreten werden, dass theatralische Inszenierungen ein fester Bestandteil des Handlungsrepertoires von Sportzuschauern und vor allem des Fußballfantums sind. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist – neben den traditionellen Stadiongesängen, den Bekleidungsriten, den Formen des Anfeuerns und den Taktiken zur Abwertung der gegnerischen Partei – sicherlich die Verbreitung der so genannten La ola-Welle in den Sportstadien der Welt. Diese Welle erzeugt das Publikum durch kollektiv abgestimmte Körperbewegungen, wobei die Teilnehmer des improvisierten Interaktionsgeschehens das eigene Tun zumeist auf dem Videowürfel der Arena verfolgen. Nach Hildenbrandt (1994: 170) kommt es so im Stadion zu einem kollektiven Selbstgespräch der Zuschauer, die mittels dieser kommunikativen Praxis das berauschende „Ereignis, das sie erleben wollen“ unmittelbar erschaffen. Mit der La ola unterhält und feiert sich das Sportpublikum quasi selbst, was sicherlich dazu beiträgt, dass unter anderem auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des katholischen Weltjugendtages in Köln 2005 diese Ausdrucksform ganz selbstverständlich übernommen haben. Besonders auffällig zeigen sich Theatralisierungstendenzen gegenwärtig jedoch bei den Ultras, einer neuen Generation von Fußballfans, die sich in Deutschland als Avantgarde des Stadionpublikums entwirft. Ultras sind eine ausgeprägt öffentlichkeitsorientierte Jugendbewegung, die nicht nur in der Fankurve des Stadions den Ton angeben, sondern auch von Vereinen, Verbänden und Medien als Sprachrohr der Fußballfans wahrgenommen werden will. Ultras lassen sich als erste Fangeneration des Multimediazeitalters interpretieren, für die das wirkungsvolle zur Geltung kommen in der Öffentlichkeit ein durchaus relevantes Kriterium ist. Choreographien, Tanzeinlagen, das Hantieren mit Doppelhaltern, Schwenkfahnen und Transparenten oder die Verwendung von Megaphonen und Lautsprecheranlagen erhöhen so die Dynamik in den Fankurven, verändern dort die Maßstäbe und sichern Aufmerksamkeit. Der Entwurf eigener Bekleidungskollektionen, Posterserien, DVD- und Videoproduktionen sowie der Internetauftritt ergänzen und erweitern dabei die Praxis der Selbstdarstellung. Als Kern der Ultra-Philosophie erscheint die möglichst erlebnisintensive, gemeinschaftliche, den Wettbewerb mit anderen Anhängergruppen betonende und auf Unabhängigkeit von der Vereinsführung bedachte Inszenierung des Fantums. Nicht zuletzt mit ihren Choreographien, Spruchbändern und Aktionen zelebrieren sie einen Kult der Sichtbarkeit und feiern sich selbst. Die Ultra-Bewegung bleibt zugleich bemüht, den Zusammenhalt der Fanszene zu stärken und in diesem Prozess selbst die Führungsrolle zu übernehmen. Es kann daher nicht überraschen, dass etliche Ultra-Gruppierungen als informeller Dachverband für Fanclubs des jeweiligen Vereins agieren. Hinsichtlich des Widerstands gegen die Kommerzialisierung des Fußballsports, die sie als Bedrohung der jugendlichen Fankultur erleben, stimmen Ultras ferner mit anderen Fraktionen der Fanszene überein (vgl. Schwier/Fritsch 2003). Der Entwicklung des modernen Fußballs und der Geschäftspolitik der von ihnen unterstützten Vereine stehen sie im Übrigen weitestgehend desillusioniert gegenüber. Die für die deutsche Ultra-Bewegung typische Mischung aus fanatischer Unterstützung und gleichzeitiger Dis-
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tanz zum Verein stimuliert allerdings den Wunsch nach Partizipation, nach Vertretung von Faninteressen und damit ein aktives Engagement in den jeweiligen Vereinen. Die Ultra-Bewegung antwortet auf die Transformation des Fußballsports zum Medienspektakel mit ebenso erlebnisorientierter wie widerspenstiger Theatralisierung und Selbstmediatisierung des Fantums (vgl. Schwier 2005). Da in ihrer Wahrnehmung ohnehin längst alle am professionellen Fußballsport Beteiligten Theater spielen, setzen die Ultra-Gruppierungen alles daran, im Wettstreit um die beste Darstellungskunst und den höchsten Unterhaltungswert erfolgreich zu sein. Die bunten, kreativen, ironischen, stimmungsvollen und riskanten Aufführungen des Fan-Seins gehören also zur Botschaft. Und wenn es aus ihrer Sicht der Qualität der Aufführung dient, schrecken einige Gruppen noch immer nicht vor dem nicht nur illegalen, sondern auch gefährlichen Abbrennen bengalischer Fackeln zurück. Die Ultras begreifen das Stadion eben zunehmend als Bühne, auf der zeitgleich zwei Stücke aufgeführt werden: Das Fußballspiel der Mannschaften auf dem Spielfeld und ihre Supporter-Show in den Fankurven. Der Umstand, dass die verschiedenen Beteiligten unterschiedliche Auffassungen von der Situation haben bzw. anderen Loyalitäten und Drehbüchern folgen, kennzeichnet nun einmal die Lage in den Kurven und auf den Tribünen. Die altbekannte Behauptung, „die Anhänger der beiden Mannschaften erlebten nicht ‚dasselbe‘ Fußballspiel“ (Goffman 1977: 18), kann in diesem Sinne ebenfalls auf die diversen Fanfraktionen eines Vereins – und auf Funktionäre, Fanbetreuer, Polizei oder Ordnungsdienst – übertragen werden. Wenn Ultra-Gruppierungen beispielsweise mit dem Rücken zum Geschehen auf dem Spielfeld agieren, auf ihren Doppelhaltern, Spruchbändern und Fahnen ein eigenwillige Symbolik kultivieren oder Choreographie-Wettbewerbe austragen, fühlen sie sich der authentischen Fankultur und dem wahren Fußballsport verpflichtet. Vor allem wegen derartiger Aktions- und Präsentationsformen verfestigt sich jedoch bei anderen Teilen der Fanszene die Einschätzung, dass den Ultras die spektakuläre Selbstdarstellung wichtiger sei als die Anfeuerung der eigenen Mannschaft. Mit den Kurvenchoreographien wird im Folgenden ein Element eingehender thematisiert, das für die Außenwirkung der Ultra-Bewegung und deren inneren Zusammenhalt von erheblicher Bedeutung ist. Die Realisierung einer Choreographie erfordert eine Verteilung von Papptafeln unterschiedlicher Farbe auf die Sitzschalen eines Stadionbereichs. Durch das gleichzeitige Hochhalten dieser Tafeln beim Einlaufen der Mannschaften ergibt sich dann ein Gesamtbild. Das Gelingen einer solchen Choreographie setzt also die Beteiligung aller auf dieser Tribüne anwesenden Zuschauer voraus. Choreographieaktionen erfordern daher eine monatelange Planung und arbeitsintensive Vorbereitung. Einzelne Mitglieder bzw. spezielle Ressorts der Ultra-Gruppierungen übernehmen dabei die Verantwortung für das Design, die Kalkulation und die Herstellungsleitung. Wenn man sich auf eine Grundidee verständigt hat, kommen bei den nächsten Schritten relativ selbstverständlich Computer, Grafik- und Bildbearbeitungssoftware zum Einsatz. Im Anschluss an die Komposition der Choreographie per Computersimulation und der Klärung der Budgetfragen geht es darum, geeignete Räumlichkeiten für die Herstellung und Bearbeitung der notwendigen Papptafeln und Stoffbahnen zu finden. Neben Hallengebäuden, die die Eigentümer den Gruppen temporär zur Verfügung stellen, bieten zum Teil auch die Vereine und Fan-Projekte ihre Hilfe an. Gelegentlich werden Transparente und Pappschilder aber auch unter Autobahnbrücken bemalt. (vgl. Gabriel 2004: 197f.). Bei der Finanzierung der Choreographien, deren Materialkosten oft vier- bis
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sechstausend Euro betragen, spielen – neben Mitgliedsbeiträgen und Sponsoring – die mit dem Merchandising eigener Fanartikeln erwirtschafteten Gewinne eine wichtige Rolle. Als klassische By Products werden so zum Beispiel selbst bearbeitete Photos und Poster schon realisierter Choreographien zum Kauf angeboten. Die Choreographien geben dem Spiel einen feierlichen Rahmen, zeigen die Treue der Fans zu Heimatverein bzw. -stadt und stimmen das Stadionpublikum auf einen koordinierten Support ein. Diese telegene und für das Image des Fußballs positive Aktionsform findet daher die ausdrückliche Unterstützung von Massenmedien und Fußballbranche, sie scheint ohne weiteres optimal zur Unterhaltungsorientierung des professionellen Sports zu passen. Gleichzeitig tragen die Ultras mit den Choreographien ihren internen Wettstreit um Stil und um den Status der besten Fans aus. Wer im Rahmen von Choreographieaktionen ein Bühnenbild für das Stadion schafft und andere Zuschauer dazu bringt, mit ihrem Körper den eigenen Regieanweisungen zu folgen, kontrolliert ferner die Fankurve und setzt seinen Führungsanspruch symbolisch durch. Zur Vielschichtigkeit dieser Aktionsform gehört schließlich, dass die Choreographien aber ebenfalls um ihrer selbst willen realisiert werden und unter günstigen Umständen intensive Wirklichkeitsgefühle bzw. Gegenwartserfahrungen offerieren. Den flüchtigen Moment des Gelingens einer Kurvenchoreographie erleben die Beteiligten als subjektiv belohnend und mit gewissen Einschränkungen kann man sie sich durchaus im Sinne von Gumbrecht (2004: 134) als „Epiphanie einer komplexen, verkörperten Form“ vorstellen, für die ein eigentümliches Spannungsverhältnis von Präsenz und Sinn charakteristisch ist. Choreographien sind ein Phänomen, von dem Beteiligte und Zuschauer unmittelbar gefangen genommen werden können. Das ästhetische Erleben findet in diesem Fall seinen Ort in der Fankurve des Fußballstadions. Mit ihrer Ausdrucksproduktivität, ihrer Erlebnis- und Spaßorientierung inszenieren die Ultras ein vitales und subversiv-ironisches Gegenmodell zum Bedeutungsverlust der Fans im professionellen Fußballsport. Dessen Ökonomisierung trägt letztendlich – zusammen mit der Durchsetzung neuer Medientechnologien – zur Formierung neuartiger Formen des Fantums bei, die nun als Sprachohr jener Fußballanhänger auftreten, die der schleichenden Integration des Ballspiels in die Freizeitindustrie ablehnend gegenüberstehen (vgl. Boyle/Haynes 2004; Schwier 2005). Die soziale Tatsache, dass jugendliche Fans in der Regel am beherrschten Pol des (Fußball-)Feldes positioniert sind und der Umstand, dass sie als Protagonisten der Ultra-Bewegung auftreten, stehen dabei anscheinend in einer relationalen Beziehung. Als Aktions- und Interpretationsgemeinschaften setzen sich die Ultras ebenso listenreich wie lustbetont mit dem Heimatverein, der Liga, dem Einfluss von Fernsehen und Marketing auseinander, wobei vorhandene Spielräume und Möglichkeitspotentiale hartnäckig für Prozesse der Selbstermächtigung genutzt werden. Die Ultras wollen ebenso avantgardistische wie widerspenstige Alternativen zu konventionellen Zuschauer- und Konsumentenrollen aufzeigen sowie die Aufmerksamkeit der Fußballwelt auf sich ziehen. Sie verfolgen nicht mehr nur das Geschehen auf dem Spielfeld, sondern erzeugen ihr eigenes Ultra-Schauspiel, bei dem es vor allem darum geht, die Kurve zum Tanzen zu bringen und die selbst geschaffene Performance an jedem Spieltag unmittelbar zu erleben.
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5. Televisionäre Sportspektakel Die enge Verbindung des Fernsehens mit einzelnen Sportarten sowie die sukzessive Herausbildung eines Medien-Sport-Komplexes begünstigen in letzter Konsequenz die Entwicklung neuartiger Formen von Sportereignissen, die sich als Aufführung weniger an die Aktiven und Zuschauer vor Ort, sondern primär an das TV-Publikum wenden und vorgeben, jedes Mal ein noch nie zuvor gesehenes Spektakel zu erzeugen. Die Prozesse der Anpassung des Sports an mediale Bedingungen dienen dabei vor allem dem Ziel, neben den Sportfans auch einen möglichst großen Teil jenes Fernsehpublikums zum Einschalten zu bewegen, das sich eigentlich nicht oder nur schwach für sportliche Wettkämpfe interessiert. Die Massenmedien stehen in einer solchen Perspektive grundsätzlich vor der Aufgabe, das „Design ihrer Theatralität auf die habituellen Rahmen ihrer Publika abzustimmen“ (Willems 1998: 75). Zur Steigerung der Quoten erscheinen dabei vorwiegend zwei Vorgehensweisen erfolgversprechend zu sein. Medienunternehmen können entweder die Rechte an schon bestehenden Wettkampfserien bzw. -events erwerben und diese dann zielgruppengerecht umgestalten oder gleich eigene Sportereignisse und Bewegungspraktiken erfinden, deren Dramaturgie, Handlungsraum und -struktur von vorneherein dem Blick der Kamera entgegenkommen. Neben Rupert Murdoch und seiner News Corporation gilt vor allem dessen australischer Konkurrent Gerry Packer als einer der Pioniere bei der Umsetzung dieser Strategien. Nachdem das Australian Cricket Board vor rund dreißig Jahren eine Offerte des Medienindustriellen für die TV-Rechte an nationalen Wettkämpfen in dieser Sportart abgelehnt hatte, gründete Packer kurzentschlossen seine eigene Turnierserie, engagierte mehrere Dutzend der renommiertesten australischen Spieler und orientierte die Cricket-Übertragungen konsequent an den Bedürfnissen des Fernsehens. Dabei setzte sein Sender sowohl auf innovative Technologie als auch auf Neuerungen, die die Unterhaltungsdimension des Sports akzentuieren sollten: „Some of the innovations – aerial shots of field placing, split-screen comparisons of respective bowling actions – were valuable contributions to a better view and better understanding of the game. Others were little more than cheap production tricks which had little to do with explaining a complex game to the uninformed“ (Barnett 1990: 169). Durchaus kennzeichnend für die damit eingeschlagene Richtung ist die seinerzeitige Einführung einer Zeichentrick-Ente, die beim Ausscheiden eines batsman in Tränen ausbricht. Nach Barnett (1990: 170) verweist der Einsatz von Cartoon-Charakteren bei Sportübertragungen generell auf das Bemühen der Fernsehsender, auch minimal Sportinteressierte und vor allem Kinder vor dem Bildschirm zu halten. Vergleichbare Prozesse der Telegenisierung lassen sich im deutschen Fernsehen unter anderem beim Wechsel der Übertragungsrechte an der Fußballbundesliga von der ARD-Sportschau zur Sat 1-Fußballshow ran in den frühen 1990er Jahren oder der Neuinszenierung der Vier Schanzen-Tournee im Skispringen durch den Sender RTL feststellen. Beispiele für die Schaffung mediengerechter Sportereignisse durch das Fernsehen liefern unter anderem die Trendsportarten. Als weltweit erfolgreichstes TV-Format in diesem Bereich gelten die vom US-amerikanischen Kabelsender ESPN seit 1995 produzierten X Games, die jährlich in einer Sommer- und Winter-Variante mit Teilnehmern beiderlei Geschlechts ausgetragen werden. Bei dem jeweils viertägigen Event finden unter anderem Praktiken wie BMX, Freeclimbing, Iceclimbing, Inline-Skating, Kiteboarding, Moto X, Mountainbiking,
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Skateboarding, Snowcross, Snow- und Wakeboarding in verschiedenen Disziplinen Berücksichtigung. Nicht zuletzt wegen der extra für die X Games hergestellten Werbespots, dem umfassenden Sponsoring, Merchandising oder den als Download gehandelten Mobile Games betrachtet beispielsweise Rinehart (2000: 508-510) die fernsehgerechte Aufbereitung und globale (Selbst-)Vermarktung der Trendsportarten als eine Form der Vereinnahmung durch den Mainstream des Mediensports. Gleichzeitig haben Fernsehformate wie die X Games zahlreichen Trendsportlern erst die Möglichkeit gegeben, aus ihrer Leidenschaft zumindest temporär einen Beruf zu machen, eigene Produkte am jeweiligen Nischenmarkt zu platzieren und nahezu weltweit für heranwachsende BMXer, Skater, Surfer, Snow- oder Kiteboarder als Rollenmodelle zu fungieren.
Abb. 3: Boardercross bei den X Games (Quelle: www.expn.go.com)
Die televisionäre Inszenierung des Trendsports folgt dabei einer Medienlogik, die durch kontinuierliche Innovationen und grenzgängerische Aktionen ein möglichst großes Publikumsinteresse erzielen und erhalten will. Der häufige Wechsel und die Steigerung des Risikos sind in dieser Perspektive gewissermaßen konstitutive Merkmale der X Games und die Produzenten sind immer auf der Suche nach neuen Bewegungsformen, die für das TV-Publikum attraktiv sein könnten. Bei den H20 Winter Classics (ESPN) vergleichen so Snowboarder und Surfer in beiden Disziplinen ihre Fähigkeiten, wobei die Wettbewerbe an einem Tag im Meer und am nächsten Tag auf der Skipiste stattfinden. Ein weiterer Regieeinfall ist die Einführung des Boardercross, eines Wettbewerbs bei dem zeitgleich mehrere Snowboarder auf einer engen Piste gegeneinander antreten. Und die Erfindung von halsbrecherischen Sprungdisziplinen wie des Moto X Best Trick Contest oder des BMX Freestyle Dirt signalisieren des Weiteren, dass die Entwicklung in Richtung immer actiongeladener, riskanterer, spektakulärer und zugleich kamerafreundlicher Varianten verläuft. Manchmal scheint es, als ob sich die realen X Games inzwischen den Handlungsmustern der Computerspiele anzunähern beginnen, deren dramaturgisches Vorbild sie einst gewesen sind (vgl. Schauerte/Schwier 2004b). Aber nicht nur der Fernsehsport sucht immer wieder aufs Neue nach dem X-Moment – den noch nie gesehenen Sportbildern, dem überraschenden
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und nicht für möglich gehaltenen Bewegungskunststück, der zirzensischen Grenzüberschreitung zur Normalität des Körpers – sondern auch die jugendlichen Bewegungskulturen selbst sind durchgängig erlebnisorientiert und für fortlaufende Veränderungen ihrer Handlungspraxis offen. Letztlich setzen die X Games und die Trendsportszenen auf den „dramaturgischen Körper“ (Gugutzer 2004: 234) als Medium der Selbstdarstellung und akzentuieren offenkundig die ästhetische Dimension des Sports. Mit der Hervorbringung und Verbreitung der Themen, Codes und Mythen der X Games rekonstruiert der Sender ESPN nach Auffassung von Rinehart (2004) eine körper- und sportnahe Metasprache, die sowohl dominante als auch unterhandelnde und oppositionelle Lesarten unterstützt. „These readings are not discrete, but rather fluid, with the readers moving in and out of the positions as they and the producers co-produce the event. In this way a kind of reader identification – and a television viewing audience – is created“ (Rinehart 2004: 319). Die Polysemie der televisionären Inszenierung des Trendsports und seine uneindeutigen Lesarten beinhalten eben Spielräume für widerspenstige Interpretationen, haben aus der Sicht des Produzenten aber vor allem die Funktion, eine stabile Bindung der Zuschauer an die X Games zu fördern (vgl. Schwier 2004: 28ff.). Wenn sie der Visualisierungsstrategie des Fernsehens entgegenkommen, werden so Facetten bewegungskultureller Erneuerung mitsamt ihrem Underground-Image frühzeitig vom Mainstream des Mediensports aufgegriffen. Derartige TV-Formate geben den nach eigenem Selbstverständnis avantgardistischen und subversiven Sportszenen eine Bühne, auf der die „gleitende Generation“ (Loret 1995) mit unkonventionellen Formen des körperlichen Ausdrucks experimentiert und die sich gerade deshalb als Plattform des Jugendmarketing eignet. Radikale Anpassungen einer Sportart an medienökonomische Bedingungen findet man jedoch nicht nur im Feld der Trendsports. Zur besseren Vermarktung der Gelsenkirchener Veltins-Arena – der Spielstätte des Fußballbundesligisten FC Schalke 04 – haben die Betreiber mit der World Team Challenge einen neuartigen Biathlon-Wettbewerb erfunden, der jährlich im Bereich des Stadions als Sportevent einschließlich musikalischen Showprogramms, Aprés-Ski-Winterdorf sowie Prominentenrennen ausgetragen wird und konsequent auf das wirkungsvolle zur Geltung kommen des Biathlonsports im Fernsehens abzielt. Obwohl der sportliche Wert dieses nicht zum Weltcup zählenden Wettbewerbs durchaus strittig ist, hat er sich inzwischen zum zentralen Sponsorenereignis im Biathlon entwickelt und erfreut sich als Showspektakel auch beim Publikum großer Beliebtheit. Darüber hinaus gibt es Formen wie das Wrestling (Catchen), bei denen das Fernsehen sich unter Verwendung von Versatzstücken aus der echten Welt des Sports seine eigenen Wettkampfspektakel erzeugt, die jenseits der Genregrenzen von Sport und Unterhaltung angesiedelt sind. Als eine originär melodramatische Inszenierung scheint die „Welt, in der man catcht“ (Barthes 2005: 62-79) geradezu für das Fernsehen gemacht zu sein. Professionelles Wrestling bzw. Catchen ist für Barthes (2005) und Webley (1986) ein Prozess der Zeichenproduktion, der auf dem Zusammenwirken von Kämpfern und Zuschauern beruht. Die Wrestler agieren dabei – im Unterschied zu konventionellen Sportlern – als gute und böse Showfiguren, deren charakteristischen Merkmale ein Drehbuch festlegt. „Was auf diese Weise dem Publikum geliefert wird, ist das große Schauspiel des Schmerzes, der Niederlage und der Gerechtigkeit“ (Barthes 2005: 69). Das Spektakel des Catchens entsteht aus der Beziehung zwischen der Darstellungsleistung der Kämpfer und deren Aneignung durch
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die Zuschauermassen, wobei die von den verschiedenen Catchern eingesetzten moralischen Codes und Handlungsstile jeweils für einen bestimmten Teil des Publikums Identifikationsofferten bereithalten. Ein aufregend gestalteter Kampf ermöglicht den (Fernseh-)Zuschauern nach Webley (1986: 73ff.) also die Teilnahme an einer „rituellen Konfrontation zwischen Gut und Böse“, deren Intensität durch die Parteinahme für einen der Wrestler-Charaktere noch gesteigert wird. Noch einen Schritt weiter als beim Wrestling geht das Fernsehen, wenn es im Rahmen von Unterhaltungsshows vermeintlich neue Sportdisziplinen und -ereignisse erschafft. Ein Pionier dieses Sportainments im deutschsprachigen Raum ist sicherlich der Showmaster, Sänger und Produzent Stefan Raab, der das Wok-Fahren als sportliche Handlungsform propagiert, im Rahmen seiner Fernsehsendung TV Total einmal pro Jahr auf einer Bobbahn eine Wok-WM ausrichtet und sogar einen entsprechenden Verband gegründet hat. Von dem Publikumserfolg dieses Showevents sollen inzwischen offensichtlich weitere Formate wie das TV Total-Turmspringen, das TV Total-Championat (Springreiten) und die TV Total Stock Car Crash Challenge – ausgetragen in der schon erwähnten Veltins-ArenaV – profitieren. Ein gemeinsames Merkmal derartiger Inszenierungen besteht darin, dass sie Sportivität konsequent nach dem We love to entertain you-Motto des gastgebenden Senders auslegen und im Grunde sowohl das sportliche Leistungs- als auch das Wettkampfprinzip dekonstruieren. Die Rekrutierung der Teilnehmer erfolgt so nicht in Form einer sportlichen Qualifikation über offene Ausscheidungswettbewerbe und berücksichtigt allenfalls marginal deren sportliches Können oder Nichtkönnen, sondern orientiert sich vorwiegend an deren (Semi-)Prominenz bzw. ihrem Status als Mitarbeiter von Pro 7. Komplettiert wird das Teilnehmerfeld des Weiteren durch aktive und ehemalige Spitzensportler, deren Auftritt gewissermaßen den sportlichen Wert des Showspektakels verbürgen soll. Bei den von Zeremonienmeister Raab geprägten körperbetonten Schauspielen stehen allerdings nicht der Aufbau einer Spannungsbalance, nicht Sieg und Niederlage, sondern ausschließlich der massenwirksame Spaßfaktor und das Vergnügen an einer leicht konsumierbaren Sport-Comedy im Vordergrund, sie stellen darüber hinaus eine Spielwiese für die Selbstvermarktung aller Beteiligten und das Marketing des Fernsehsenders bereit. Im Unterschied zu den trivialen TV Total-Events kann demgegenüber vom Sport sowie in günstigen Momenten wohl auch vom Fernsehsport eine Faszination ausgehen, die beim Zuschauer ein Erstaunen über den Ausgang der Konkurrenz, die Lösung des Konflikts und/oder die Leistungsfähigkeit menschlicher Körper auslöst. Es spricht daher nur wenig für die Annahme, das sich eine vollständige Verschmelzung von Show- und Sportformaten auf Dauer als erfolgreiche Strategie im Ringen um die Aufmerksamkeit des Publikums erweisen wird.
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„Lost in Focused Intensity“. Spectator Sports and Strategies of Re-Enchantment Hans Ulrich Gumbrecht
Sometimes, reactions from practitioners become particularly inspiring moments in the lives of professional humanists. For only practitioners can confirm that our tentative conceptual constructions are on target and, at the same time, only they have an authority to justify the effort of pushing further certain thoughts that have begun to emerge in our minds as bold and therefore often vague intuitions. Such a decisive intellectual moment had arrived when, during a colloquium on „The Athlete’s Body“, organized by the Athletic Department and the Department of Comparative Literature at Stanford University in 1995, Pablo Morales, a three-time Olympic gold medalist in the butterfly swimming events and a Stanford alum, explained, as if in passing, how the addictive desire of „being lost in focused intensity“ had brought him back to competitive sports after a first retirement and at an age that simply seemed to exclude any world-class performance in his sport. Quite explicitly, Morales’ complex concept referred both to the spectator’s and the athlete’s experience. For what had brought the impression of „getting lost in focused intensity“ back to him as something he could not yet live without, was the TV-broadcast of a track and field-event at the 1988 Olympics: „I will never forget watching the great sprinter Evelyn Ashford run as, in the anchor leg, she came from behind to win the gold medal for the United States. The race was shown through to its conclusion, after which a replay was run, but this time with the camera focused on Ashford’s face before, during, and after her sprint. Her eyes first panned the oval, then focused on the baton, then on the curve ahead. Oblivious to the crowd, oblivious even to her competition, I saw her lost in focused intensity. The effect was immediate. I had to remove myself from the room. But when I thought about my reaction in the ensuing hours, I came to realize what I had lost; that special feeling of getting lost in focused intensity.“1 Pablo Morales’ narrative helped me distinguish three different dimensions in the experience of sports. Firstly, the words „being lost“ point to a peculiar isolation 1 Quoted from my book In Praise of Athletic Beauty, Boston 2006 (Harvard University Press), pp. 50f. -- This text is the source for several historical facts and, above all, the point of departure for some concepts and motifs that I will try to develop on the following pages.
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and distance of athletic events from the everyday world and its pursuits that is comparable to what Immanuel Kant called the „disinterestedness“ of aesthetic experience. What, secondly, athletes and spectators „focus“ upon – as something already present or something yet to come – belongs to the realm of epiphanies, that is to the events of appearance, more precisely, to events of appearance that show moving bodies as temporalized form. Finally, both the experience and the expectation of epiphanies are accompanied by – and then further enhance – halos of intensity, i.e. states of a quantitatively higher degree in the awareness of our emotions and of our bodies. To describe the experience of sports as „getting lost in focused intensity“ suggests that sports can become, both for athletes and spectators, a strategy of secular re-enchantment. For „being lost“ converges with the definition of the sacred as a realm whose fascination relies on being set apart from everyday worlds; epiphanies belong to the dimension of re-enchantment precisely because Modernity’s drive towards abstraction had always tended to replace them through „representations,“ i.e. through non-substantial modes of appearance; likewise, intensity marks a level in our reaction to the world and to ourselves that is normally bound to fade on the trajectory of disenchantment [which has become so strangely normative to us] – and that, by the same logic, thus turns into a predicate of re-enchantment. Even more so than in some other cases of secular re-enchantment, it seems evident that we can refer to practicing sports and to watching sports as social „strategies.“ For while it is not clear what exactly those practices may replace in contemporary culture, and while we do not associate a single purpose or a generalized function with them, there is an impression that the presence and the growing importance of sports today stand for something – and should indeed stand for something – that we have lost. In four brief reflections, I will try to retrieve some of those features from a formerly „enchanted“ world that, most of the times half-consciously, we recuperate when we watch and practice sports. At first, I will concentrate on the athlete’s performance as an event that allows for [the equivalent of] miracles, and I will then try to identify components of re-enchantment, above all effects of „epiphany,“ in the spectator’s experience. My third section will be about the stadium as a „sacred“ place, and I will conclude by describing a specific kind of „gratitude“ that ties many spectators to the presence and to the memory of their favorite athletes.
[1] Thanks to their complex theological content, reading only a few of Pindar’s Odes is enough to understand how victorious athletes were considered to be „heroes“ in Greek antiquity, „heroes“ without the distance or the irony that we normally imply today when we use this word – and how heroes were demi-gods. For there was no doubt that in the athletes’ great moments of performance the power of Gods -- and indeed the Gods themselves -- became present, present in the athletes’ flesh and present in space. Watching athletes compete gave their spectators the certainty to be close to the Gods. The expectation that Gods would be willing to engage in athletic competition was consistent with what he Greeks believed to know about most of them: think of Hermes and of Aphrodite, of Hephaistos, Poseidon, and
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above all of Zeus, and you will realize how the identities of those Gods were built on different types of physical prowess. Both the Iliad and the Odyssey made it clear that, based on their physical strengths, these Gods were constantly competing with each other, that agon, that is fight and competition, was their central life form -- and often indeed the only reason for them to become interested in humans at all. The closeness of the Gods whose actual presence the athletes’ agon was supposed to help conjure up and to embody became the reason why all Pan-Hellenic games, most visibly the games at Olympia and at Delphi, were organized around religious sanctuaries. For the appearance of the Gods was a type of event supposed to become real in space – and it may well be from this premise that Martin Heidegger took the inspiration to describe what he calls „the unconcealment of Being“ and the „event of Truth“ through a spatial topology – i.e. as „sway,“ as „coming forth,“ and through his etymologizing interpretation of „objectivity“ as getting closer in a horizontal movement.2 At the same time, a culture that, as Ancient Greek culture seems to have done, counts with the Gods’ presence as a permanent possibility will not be prone to use words like „miracle“ and to single out a specific dimension of the „miraculous.“ Once again, however, Pindar’s Odes make it clear to us that the great Olympic victories were seen as events of divine presence, i.e. events that exceeded the limits of the humanly possible. One might even go so far to speculate that the Greeks did not care about keeping records, i.e. about how far a discus had been thrown or by how much a runner had distanced his opponents, because divine powers will ridicule any kind of measurement. Obviously and for many good reasons, it is considered a symptom of bad intellectual taste in present-day culture to find an athlete’s performance „divine“ or to appreciate its potentially record-breaking dimension as „miraculous.“ For several decades now, different sports have triggered the development of scientifically based practicing methods – and in a number of countries this has lead to the emergence of an academic discipline well capable of explaining away, rationally, what the Greeks took to be divine inspiration in athletic performance. Successful athletes today are all too well aware of how much they depend on the progress of highly specialized research, and they have also learnt to draw a clear border between this necessary basis of their performance and what they consider to be remnants of personal superstition. How they personally live and remember their most inspired moments strongly converges with the tradition of thinking enchantment as divine presence. From this perspective, I find it telling that „being in the zone,“ a spatial metaphor has become a conventional way among athletes today to invoke particularly inspired moments, moments that defy all rational explanations. Here is a description of how it feels to be „in the zone“, written by J.R. Lemon, one of the better running backs in the history of Stanford Football: „When a player has entered the zone, a state of hypersensitivity and tension has taken place. This explains the apparent ease during my run toward the end zone. It is not that I am not working as hard as the other players on the field. It is just that in this state of hypersensitivity, things are moving so much slower than they are for the rest of the players on the field. My senses are much more aware of what is going on around me, and that enables all of the triggers inside of me to react a little faster than the other players, making me appear more fluent.“ Obviously 2 For more evidence regarding this thesis, and a list of Heidegger references, see Hans Ulrich Gumbrecht, Production of Presence: What Meaning Cannot Convey, Stanford [Stanford University Press] 2004, pp. 64-78.
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J.R.Lemon avoids religious language in these sentences, although he does certainly not imply that „being in the zone“ is a state completely under the control of his intentions. A player must be physically and mentally well prepared to be open for it – but this will not be enough. What also needs to happen for a player to be in the zone, will depend, as we would say today, on whether he is „on,“ whether a specific game is „his“ or not – it will depend on what the Greeks would have called divine inspiration.
[2] If, for an athlete, „being in the zone“ is a state whose arrival he is expecting „in focused intensity,“ the spectators’ focus, especially in team sports, is on the emergence of beautiful plays. Beautiful plays are the epiphany of form. Yes, ultimately most spectators do want „their“ teams to win – but if winning was all, it would be enough for them, every game day, to simply check the final scores. A beautiful play, for example J.R.Lemon receiving the ball from his quarterback and finding a hole in the other team’s defensive line through which he will run the ball for another first down, is an epiphany of form because it has its substance in the participating athletes’ bodies; because the form it produces is unlikely and thereby an event, achieved against the resistance of the other team’s defense; and finally and above all the beautiful play is an epiphany because it is a temporalized form, a form that begins to vanish in the very process of its emergence. For each individual spectator, such a beautiful play performed by his team produces an instant of happiness. We breathe deeply and for a moment we realize how the players’ achievement and confidence become contagious and seem to carry us. This at least is what most spectators hope will happen to them, most precisely – and unknowingly – all those spectators who have interiorized the game’s rules and its rhythms, and who do not have a professional stake in analyzing what is happening on the field, as coaches or journalists do. These spectators, we might call them „the common spectators,“ who can afford to let their emotions go, will soon feel how they are becoming part of a larger, communal [rather than collective] body. It is within this communal body that spectators who have never met before nor will ever meet again feel comfortable embracing each other, and it is this communal body that likes to become the movement of „the wave.“ Seeing itself perform such a movement and listening to the noise that it can produce at certain moments of the game provides a selfawareness that adds cohesion to the spectators’ body. The spectators’ communal body can become the basis for the fans to feel united with the players of their own team and may, at some rare and glorious occasions, even conquer the other team and its spectator. This was the mood when, for the opening night of Stadium Australia at Sidney, New Zealand’s rugby team snapped a sensational winning streak of its archrival Australia – in what the morning newspapers, even in Australia, would unanimously celebrate as „one of the greatest matches played in the history of rugby.“ There seems to be a level of participation where the enjoyment and appreciation of beautiful plays exceeds the desire for victory, where communal convergence overcomes the dy-
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namics of rivalry. The ambiguity inherent to such moments certainly appears in other types of communal bodies, above all in those shaped by religious experience. It must have been the promise to overcome individual reclusion that motivated one of the most canonical interpretations of the Christian church as „Christ’s mystical body.“ But history shows us how, in certain moments, the „bodies“ of different denominations took shape against each other, leading into devastating religious wars, whereas, at other moments, religious communities have enthusiastically opened up for ecumenical fusion and happiness. If today the divisions separating the different interpretations and forms of Islam seem to be more irreconcilable than ever, ours is a moment prone to co-celebration within Christianity. And it may not be random that stadiums built for team sport events are used as sites for contemporary religious mass-events. As long as religious communities continue to exist, it is banal – and simply inadequate – to say that sports have become „the religion of the 21st century.“ But it is obvious how sports and a renewed enthusiasm for religious experience are converging today as ways of re-enchanting the modern world.
[3] Before this background, it does not take great theoretical imagination to see that stadiums have a status of sacred spaces. For they gain an aura by being visibly dysfunctional, that is by being demonstratively different from spaces and buildings that fulfill predefined functions in our everyday. From an economic point of view, no more counterintuitive gesture exists in contemporary culture than that of building new stadiums in downtown areas where the real estate is extremely expensive. For not only do sports facilities not allow for high-rise construction as it normally maximizes the efficiency of the ground acquired; above all stadiums are empty during most of the week and often over even longer stretches of time. This does not only explain why empty stadiums, as sacred spaces, have an almost irresistible appeal for passionate sports fans. Above all, stadiums as sacred spaces are spaces that require and trigger layers of ritualized behavior during those comparatively short moments in which they are filled with action. Being in a stadium, both for athletes and spectators, is not primarily about inventing and showing individualized action. It is about inscribing oneself, physically, into a preexisting order that only allows for narrow spaces of variation. Every event, every country, every moment in the history of sports develop their own rituals, poses, and gestures that open up a dimension for endless individual interpretation. Think of the gradual historical transformations in the uniforms for different sports, of the changing objects of attention for halftime entertainment, or of the signs of tension or mutual respect between the players on rival teams [from archaically „sportsmanlike“ correctness via openly mean antagonism to the fake friendship smile of media-stars]. Through the multiplicity of such colorful developments, however, there is one structural pattern that imposes itself in any situation of spectator sports – and this form is clearly related to the nature of the stadium as sacred space. It is the contrast between moments of emptiness or inaction and moments filled with the most intense bodily activity, a contrast that, reiterated on many dif-
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ferent levels, mimics the relation between the mostly empty stadiums and the busy urban environments into which they are built. When the common spectator enters the stadium, half an hour or ten minutes before the kick-off for the game, he will see and be immediately attracted by the empty playing field, which is a promise for the imminent moment, in which the teams will „take the field.“ It is through the utterly unsurprising and yet explosively exciting moment when the teams take the field that the spectators are conjured into their communal identity and agency. After this inaugural scene, the central contrast shifts to the constantly repeated difference between slow movements [or stasis] and the speed and power typical of athletic performance. There is probably no other team sport that plays out more forcefully the potential of this structural element than American Football. Preceding each play, two times eleven players stand in front of each other, like freeze frames, drawing complicated forms on the field. What can follow, from the second that the center hands the ball to the quarterback to initiate a new play, is not completely covered by the contrast between the beautiful [offensive, negentropic] play or the destructive [entropic] powers of the defense. For American Football also provides a type of situation where, after the seconds of the double freeze frame, neither form nor chaos happen, the reasons for this „neither/nor“ being „delayed game“ or „offside.“ Following such a call, the players go back to the sidelines to talk to their coaches, before they line up again. Nothing relevant for the game has happened meanwhile. And it is this impression of „nothingness“ that matters. For one might well speculate that players and spectators in a stadium jointly produce, on different levels, an embodiment of what Martin Heidegger, in the opening movement of his „Introduction to Metaphysics,“ identified as the one primordial philosophical question, that is the question of why there is something as opposed to nothing.3 This question can well provoke existential vertigo to whoever dares to think through its possible consequences. But embodying a question is different from thinking it through and from exposing oneself to its existential impact. Most certainly players and spectators have no idea of what they may be embodying – and less an intention to do so. It is as if, in the sacred space of the stadium, they fulfilled a religious commandment for which neither words nor a theology is available.
[4] In speaking and writing about sports from a historical angle, there is a tendency to overemphasize moments of repetition that suggest continuity, a tendency that probably comes from the – doubtlessly adequate – intuition that our participation in sports, both as athletes and as spectators, resonates with very basic and therefore metahistorical layers of human existence. Against this trend of focusing on historical invariables, it is important to highlight that, on the other hand, the circumstances under which such basic layers of our existence are being activated by sports make up for a history of astonishing discontinuity.4 There were times, between Ancient Greek culture and today, where it would have been difficult to discover 3 Martin Heidegger, An Introduction to Metaphysics, tr. Ralph Manheim (Yale, 1986), p.1. 4 The second chapter of In Praise of Athletic Beauty presents more evidence for this view.
„Lost in Focused Intensity“. Spectator Sports and Strategies of Re-Enchantment
any phenomena resembling our present-day notion of „athletics.“ None of those team sports, for example, whose incomparable popularity in the early 21st century tempts us to identify them with sports at large, existed before the mid-19th century. The crowds that they attract, into stadiums and through the media, have been steadily growing over the past hundred years – and seem to continue to grow. Thus the idea becomes irrepressible [and perhaps even irrefutable] that the – at least quantitatively – triumphant history of team sports as spectator sports points to a new and important function of compensation, a function of compensation and secular re-enchantment that is – in a time when the western process of secularization and disenchantment of the world [in the sense of Max Weber] may have reached a stage of closeto-perfection within our globalizing public sphere. For are there any phenomena left today that are allowed to be publicly non-rational and non-pragmatic? We may also ask, in this context, why teams and their collectively produced epiphanies of form seem to fascinate us even more today than the most eminent players who are part of those teams, and why we are moving away, if slowly, from that type of almost exclusive concentration on individual athletes that characterized Ancient Greek sports or the astonishingly popular world of professional boxing in England during the late 18th and early 19th century [today players who endlessly cultivate individual stardom, like the British soccer star David Beckham, clearly diminish their status within the world of athletics]. A possible explanation might be that, in its present-day form, the re-enchantment provided by sports [and other phenomena] no longer appears to be a gift granted by the Gods to athletes who are demigods but, probably, as an effect of the well coordinated – perhaps even: sacramentally coordinated – behavior of the many. It is difficult to predict where this development will take us. At any rate, sport, with its re-enchanting effects, has conquered a large proportion of the contemporary leisure world. As such, it stands in harsh contrast to a public and professional world that could hardly be more disenchanted. Should one take the most recent conquests of fashion [you can wear baseball caps and Nike sportswear in your office] as an indication for a future where sports will spill over into the rational dimension of our collective existence? Today, many of us still feel this beneficial effect of sports as compensating for things that we seem to lose and may already have lost irreversibly in the process of modern disenchantment, among them the effect of keeping open a place for the body in our existence. This would explain why so many sports fans [and I am certainly one of them] experience a both intense and vague gratitude towards their most admired heroes. It is a „vague“ gratitude because we somehow know that former athletes or contemporary athletes „as private persons“ cannot really be its addressees. Of course there are rare occasions that offer the possibility [of trying] to say, personally: „thank you Mr. Jeter for having been such an outstanding shortstop for the New York Yankees over so many years,“ or „dear Mr. Montana, I will never forget the soft accuracy of your touch-down passes.“ But not only is it [statistically at least] unlikely that our heroes will ever be thankful for such gratitude, let alone engage in a conversation with us. Above all, we feel that ours is a gratitude whose referent, quite literally, „transcends“ the level of individuals and of individual conversations. In this sense, ours is a gratitude similar to the gratitude that made the Greeks believe in a spatial proximity to the Gods as a condition for great athletic achievements. However, as so many of us have lost, for their private existence, the traditional religious horizons of transcendence, this gratitude gets deflected, so to speak, towards the world that we have. Gratitude for great athletic moments
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turns into gratitude for those things that we approve of, like, enjoy, and appreciate in our everyday lives. Being thankful for what we have does not necessarily make us „uncritical“ and „affirmative.“ Although this exactly must be a fear that explains why so many intellectuals – even some intellectuals who love to watch or to practice sport – have such a hard time making their peace with it.
Alazon und Eiron Formen der Selbstdarstellung in der Wissenschaft1 Dietrich Schwanitz
Seitdem Niklas Luhmann das Konzept der Beobachtung zweiter Ordnung in Umlauf gebracht hat, sind auch die damit zusammenhängenden Paradoxien ins Blickfeld getreten. Beobachtet man die Wissenschaft kann man das selbst wieder im Medium der Wissenschaft tun; dann bleibt man aber an ihre Prämissen gebunden und reproduziert mit der eigenen Beobachtung das, was man beobachtet. Beobachtet man sie dagegen von außen, sieht man etwas anderes und mehr, als die Wissenschaft selbst sieht, verliert aber die mit ihr gegebene Überzeugungskraft. Diese Paradoxie kann nicht gelöst, sondern nur ertragen werden, wenn es um etwas geht, das in der Selbstwahrnehmung der Wissenschaft eigentlich nicht vorkommen darf: die in ihr verbreiteten Formen des ‚impression management‘, sozusagen ihre Code-spezifische Theatralität. Dabei steckt gerade hier ein latenter Widerspruch, der die soziale Funktion der Wissenschaft markiert: Einerseits ist Wissenschaft eine hoch unwahrscheinliche Form der Kommunikation und dazu geeignet, Staunen und Verwunderung hervorzurufen – also Mittel zur Verfügung zu haben, die sich der theatralischen Selbstinszenierung geradezu anbieten. Andererseits aber darf sie sich just dieser Mittel nicht bedienen, will sie nicht ein Vertrauen untergraben, das gerade auf der Neutralisierung aller Nebenmotive beruht. Es geht nicht um die Überzeugungskraft des ‚Appeal‘, sondern die Wahrheit der Information. Entsprechend wurde die Entwicklung der Wissenschaft von ihren Anfängen in der frühen Neuzeit bis heute von theatralischen Pyrotechniken auf der Grenze der Seriosität illuminiert, wie sie von Namen begnadeter Scharlatane, Nekromantiker und Protowissenschaftler von Paracelsus über Cagliostro und Mesmer bis zu heutigen Ufowissenschaftlern, PSI-Forschern, Parapsychologen und Alien-Experten illustriert werden. Sie bringen sozusagen die theatralischen und inszenatorischen Wirkungsmöglichkeiten rein zur Entfaltung, die in den seriösen Wissenschaften allenfalls als Nebenprodukte der wissenschaftlichen Hauptsache auftreten mögen, und machen sie zu ihrem eigentlichen Zweck. Insofern sind diese For1 Vgl. Willems, Herbert/Jurga, Martin (Hrsg.) (1998): Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch. Opladen: Westdeutscher Verlag. 273-290. Ich danke Frau Schwanitz für die Erlaubnis zum Wiederabdruck dieses Textes.
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men symptomatisch, und von ihnen fällt ein interessantes Licht auf die Wissenschaft selbst zurück. Aber nur in diesem eingeschränkten Sinne soll von ihnen hier die Rede sein. Unser eigentliches Thema ist die durch die Formen der normalen Wissenschaft gleichsam gefesselte Theatralik, die als sozialer Betriebsstoff wissenschaftlicher Kommunikation durch den Code der Wissenschaft selbst ‚invisibilisiert‘ werden muß. In der Zurechnung auf Personen gibt es deshalb für sie Zweitcodierungen, in denen Theatralik sedimentiert und unsichtbar gemacht wird. Dafür stehen Titel wie Ansehen, Berühmtheit, Charisma, Reputation, hochschuldidaktisches Geschick, Streitbarkeit, Interessantheit etc. Bei der Beschreibung der wissenschaftstypischen Formen des ‚impression management‘ geht es also um Beobachtungen von Latenz. Als Technik der Beobachtung von außen wird deshalb auch die Literatur herangezogen.2 Die Gesichtspunkte, unter denen die folgenden Beobachtungen geordnet werden, orientieren sich an den spezifischen Formen wissenschaftlicher Kommunikation und den zugehörigen Rollen. Sie halten lockeren Kontakt zu den Arbeiten von Goffman, Luhmann und Bourdieu, versuchen aber möglichst verschiedene Gesichtspunkte für die Problembeschreibung zu nutzen (Goffman 1959, 1974; Luhmann 1992; Bourdieu 1988). Für Wissenschaftler gibt es drei verschiedene Publikumsensembles: das Laienpublikum, die Studenten und die anderen Wissenschaftler. Die zugehörigen Darstellungsformen ermöglichen also verschieden akzentuierte Reputationen, die von der internen Bewertung her gesehen hierarchisiert sind: Am meisten gilt die Meinung der Peers. Dann kommt das Renommee bei den Studenten, das sehr viel stärker auf darstellungstechnische Virtuosität bei der Präsentation des Stoffs in Seminaren und Vorlesungen beruht. Und sehr wenig zählt die allgemeine Popularität beim Laienpublikum; da sie außerhalb des eigentlichen Sozialsystems Wissenschaft erworben wird, unterläuft sie gewissermaßen dessen Außengrenze und bietet deshalb geradezu einen Anlaß für Mißtrauen. An dieser Stelle interessieren zunächst nur die Darstellungsmöglichkeiten, die die wissenschaftliche Optik für die fachmännische Präsentation wissenschaftlicher Informationen im Kontext der Kommunikation zwischen Professoren und Studenten bietet, also etwa im Hörsaal. Als Beispiel nehmen wir einen Bericht über den Edinburgher Medizinprofessor Dr. Joseph Bell. Man brachte eine Frau mit einem kleinen Kind herein. Jo Bell wünschte ihr guten Morgen, und sie antwortete ebenfalls mit ‚Guten Morgen.‘ – ‚Wie war die Überfahrt von Burntisland?‘ – ‚Sie war gut.‘ -‘Und hatten Sie einen angenehmen Spaziergang durch die Inverleith Row?‘ – ‚Ja.‘ – ‚Und was haben Sie mit dem anderen Kind gemacht?‘ – ‚Ich habe es bei meiner Schwester in Leith gelassen.‘ – ‚Und arbeiten Sie wohl noch immer in der Linoleum-Fabrik?‘ – ‚Ja, das tue ich.‘ Jetzt wendet sich Bell seinen Zuhörern zu. ‚Sehen Sie, meine Herren, als sie ‚Guten Morgen‘ sagte, bemerkte ich ihren Fife Akzent! Und wie Sie wissen, ist die nächste Stadt in Fife Burntisland. Haben Sie die rote Tonerde an den Kanten der Sohlen ihrer Schuhe bemerkt? Die einzige Stelle, wo sich solcher Ton innerhalb von 20 Meilen im Umkreis von Edinburgh befindet, ist der Botanische Garten. Inverleith Row grenzt an den Botanischen Garten und ist der nächste Weg zwischen hier und Leith. Sie haben bemerkt, daß der Mantel, den sie über dem Arm tragt, zu groß ist für das Kind, das bei ihr ist, und deswegen ist sie mit zwei Kindern von zu Hause aufgebrochen. Und schließlich hat sie eine Dermatitis an den Fingern ihrer rechten Hand, was typisch für die Arbeiter in der Linoleum-Fabrik von Burntisland ist.‘ (Baring-Gould 1968: 7; meine Übersetzung)
2 Sofern es sich bei dieser Darstellung um Soziologie handeln sollte, ist auch der Verf. ein Außenseiter, der sich nicht nur auf die Beobachtungen der Soziologie, sondern auch auf seine eigenen verläßt.
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Zu den berühmtesten Schülern Dr. Bells gehörte Conan Doyle, der Autor der Sherlock Holmes-Geschichten. Zeitweilig war er sogar Beils Assistent für ambulante Patienten und hatte die Krankengeschichten zu protokollieren. Wenn Bell, umgeben von seinen Studenten, einen von Doyle vorgeführten Patienten begrüßt hatte, begann er nicht selten ein Gespräch, das eine für alle unheimliche Kenntnis über Herkunft und Vorgeschichte des Patienten zu verraten schien. Erst dann erläuterte er seinen erstaunten Zuhörern, durch welche Beobachtungen er zu seinen Erkenntnissen gekommen war. Das Verfahren beeindruckte so sehr, daß Doyle später Sherlock Holmes Züge von Dr. Bell verlieh und die Belehrungen des Meisterdenkers gegenüber Dr. Watson (und dem Publikum) nach der hochschuldidaktischen Dramaturgie seines Professors modellierte. Die Popularität der Sherlock Holmes-Romane zeigt, daß die wissenschaftliche Optik durchaus eine ästhetische Qualität hat, die in den Dienst der hochschuldidaktischen Dramaturgie gestellt werden kann. Sie ist gekennzeichnet durch die Dramatisierung von Beobachtungsdivergenzen (Ich sehe was, was Du nicht siehst), Kontrastierungen (winzige Spuren, weitreichende Schlüsse), hohe Auflösungskapazität der Beobachtung, eine Engführung der Divergenz zwischen Relevantem und Irrelevantem und Verfremdung des Alltäglichen. Daß die wissenschaftliche Optik mit ihrem zweiten Blick auf die Gegenstände den Alltag verfremdet, demonstriert auch ein anderer Klassiker, der seine Popularität nicht zuletzt der Tatsache verdankt, daß er zum wissenschaftsdidaktischen Kostümfundus geworden ist, aus dem sich vor allem Linguisten und Logiker für ihre Verkleidungen bedienen: Lewis Carrolls Alice in Wonderland. Aber die Anschlußgeschichte Beyond the Looking-Glass zeigt, daß der Eintritt in die Wissenschaft für den Neuling auch immer eine Initiation bedeutet, die wie alle rites de passage eine sehr dramatische Qualität haben kann: Als die Studentin Alice auf Professor Humpty Dumpty traf, sagte dieser plötzlich: ‚There is glory for you‘. ‚Ich weiß nicht, was Sie mit glory meinen,‘ sagte Alice. ‚Natürlich tun Sie das nicht,‘ antwortete Professor Humpty Dumpty verächtlich, ‚bis ich es Ihnen sage. Unter glory verstehe ich ein nettes unwiderlegliches Argument.‘ ‚Die Frage ist, ob man ein Wort mehrere Dinge bedeuten lassen kann,‘ entgegnete Alice. ‚Die Frage ist, wer die Macht hat,‘ sagte Professor Humpty Dumpty und stieß plötzlich das grandiose Wort ‚Impenetrability‘ aus. ‚Würden Sie mir bitte sagen, was das bedeutet?‘ fragte Alice. ‚Nun reden Sie wie ein vernünftiges Kind!‘ sagte Professor Humpty Dumpty und blickte sehr zufrieden drein (Carroll 1968: 214; meine Übersetzung). Dieser kleine Dialog ist eine Urszene. Jeder Student muß sie mindestens einmal in seinem Leben durchlaufen. Die Meisterdenker heißen nicht immer Humpty Dumpty, sondern (please fill in the name of your own favourite master thinker). Aber wie immer sie heißen, sie legen fest, was man den ‚wissenschaftlichen Diskurs‘ nennt. Dabei geht es um ein Netzwerk von Führungsbegriffen und Leitunterscheidungen, ein Sprachspiel, das man unbedingt beherrschen muß, um dazuzugehören. Mit einer ostentativen Benutzung zentraler Leitbegriffe kann ein Student deshalb demonstrieren, daß er zu den ‚Initiierten‘ gehört. In der Kommunikation zwischen Hochschullehrern und Studenten und unter Studenten spielt das eine erhebliche Rolle für Schnellerkennungen: Ein Professor erkennt daran, welche von seinen Studenten sich auf seine Prämissen einlassen können und wollen; und die Studenten können aneinander die Gradierungen der Initiation ablesen und daraus einen Maßstab für Selbsteinschätzungen gewinnen: Wer den Begriff ‚impenetrability‘ geläufig und glatt über die Lippen bringt, demonstriert damit, daß er es bei Professor Humpty Dumpty schon weit gebracht hat. Zugleich
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liegen hier die Möglichkeiten für Hochstapeleien und das, was unter dem Begriff ‚Seminarbluff‘ bekannt geworden ist; und daran können dann der akademische Inszenierungsverdacht und die Kritik an Imponiergehabe anschließen. Wie Humpty Dumptys Begriff ‚impenetrability‘ nahelegt, hat Unverständlichkeit durchaus einen eigenen, die Paranoia weckenden Darstellungswert, mit dem den Zuhörern suggeriert wird, daß sie eigentlich Außenseiter sind. Das ist besonders aufreizend, wenn sie Insider sein möchten. Wird dieser Aspekt betont, tritt der Mechanismus von René Girards mimetischem Wunsch in Kraft: Man sieht am beneideten Darsteller der Unverständlichkeit, was man selber sein möchte, nämlich ein Insider, und imitiert die Unverständlichkeit als Zugehörigkeits- und Abgrenzungssignal (Girard 1992). Deshalb bieten sich paradoxerweise gerade schwer verständliche Sprachspiele für Imitationsepidemien an und können – wie sich im Falle der Jargons von Heidegger, Adorno oder Derrida gezeigt hat – umso leichter akademische Karriere machen. Dabei dürfte es sich um denselben Mechanismus handeln wie bei der Verbreitung anderer Moden mit dem Unterschied, daß die am Kontrast zwischen Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit gewonnene Darstellungsqualität sich durch Schwerverständlichkeit als wissenschaftliches Qualitätskriterium tarnt. Hier liegt der Grund für die faszinierende Ausstrahlung jener Denker, die ihre Wirkung nicht allein durch ihre Schriften, sondern durch ihre Auftritte im Hörsaal als ‚Heroen der Mündlichkeit‘ entfalten: Neben Heidegger und Adorno wären etwa Wittgenstein, Lacan und Foucault zu nennen. Sie inszenieren das Denken als unwahrscheinliche Kommunikation und stilisieren es darüber zu einem Ereignis, das entweder mißlingen oder gelingen kann, und deshalb an sein ‚Kairos‘, an den entscheidenden Moment gebunden ist und sich als Epiphanie offenbart. Darüber umgeben sie ihre Wirkung mit der Aura geschichtlicher Einmaligkeit, in der die Verständigung die Höhe der Festesstimmung erreicht. Das ergibt für die Schüler das Zugehörigkeitskriterium des ‚Dabei-gewesen-Seins‘, das offenbar – wie sich an den heroischen Erzählungen der Meisterdenkerschüler ablesen läßt – besonders traditionsbildend ist. Seit den Zeiten von Sokrates und Christus eignet sich diese charismatische Wirkung als Bindemittel für die Stiftung von Gemeinden oder – im akademischen Kontext – für Schulenbildung. Die Erinnerung an die Unersetzbarkeit des Meisters ist dann die Form, in der die Tradition seine Abwesenheit ersetzt. Die Schüler der ersten Generation sind dann immer mehr als sie selbst: Sie repräsentieren auch den abwesenden Meister und beziehen von ihm ihre Aura. Insofern eignet auch akademischen Schulen häufig etwas von einer Kultgemeinde. Zu den Formen, die vor allen Dingen der Selbstdarstellung im Kreise der wissenschaftlichen Peers dienen, gehören der Vortrag, der Kongreß und die wichtigste Form der wissenschaftlichen Darstellung, die Publikation. Für die Wahrnehmung durch die wissenschaftlichen Kollegen am eigenen Seminar oder Institut dient die Einladung zu mehr oder weniger hochkarätigen Kongressen der Darstellung des eigenen wissenschaftlichen Rangs. Dem gegenüber können die mit dem Kongreß selbst gegebenen Darstellungsmöglichkeiten durchaus zum Mittel unfreiwilliger Selbstrelativierung werden. Wer durch seine Publikationen sich großen Respekt in der Scientific Community erworben hat, mag in seinen Darstellungskünsten von Angesicht zu Angesicht durchaus enttäuschen. Sein schauriger englischer Akzent, seine murmelnde und mißmutige Redeweise und seine grämliche Ausstrahlung können das glänzende Bild ernsthaft verdüstern. Im Umkehrschluß bietet der Kongreß für jeden Wissenschaftler die Möglichkeit,
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den mühseligen Weg, seine Reputation durch wissenschaftliche Publikationen zu begründen, abzukürzen, indem er seine Peers durch den unwiderstehlichen Charme seines gewinnenden Auftretens beeindruckt. Der Kongreß ist deshalb die Plattform für den geborenen Charismatiker, d.h. für den Wissenschaftler, der fachliches Niveau mit den Qualitäten eines talentierten Schauspielers zu verbinden weiß. Hier gibt es natürlich eine breite Palette von Wirkungsmöglichkeiten. Wollte man hier Unterscheidungen einfuhren, ließen sich drei Typen differenzieren; – Der Imponiertyp bekräftigt die ihm bereits konzedierte Reputation durch eine technisch virtuose Präsentation im Sinne einer gelungenen darstellerischen Zweitfassung. Er führt seine Berühmtheit nochmal in der Form der charismatischen Version vor und bringt sie damit zur Anschauung. Damit bestätigt er die Erwartung, die man sowieso schon mit ihm verbindet. Er macht sozusagen das Vorwissen, das die anderen Teilnehmer über ihn haben, zum Ereignis. Dabei braucht er nicht allzu viel Konzessionen an den Verständnishorizont des Publikums zu machen: Im Gegenteil, die Schwierigkeit des Dargebotenen verstärkt den Eindruck, etwas Anspruchsvolles zu hören. Zugleich wird der Imponiertyp dafür sorgen, daß Verständnisprobleme nicht auf Defizite in der Darstellung abgerechnet werden. Sein Stil vermittelt Klarheit und Strenge im Dienste des hohen Anspruchs der Wahrheit. Aus dieser Gruppe rekrutieren sich die Kongreß-Stars, deren Auftritte erwartete Höhepunkte sind. In der Kongreßplanung spielen diese darstellerischen Qualitäten für die Veranstalter eine entscheidende Rolle bei der Auswahl der Plenarvorträge. Wer nur wissenschaftlich qualifiziert ist, dabei aber unterdurchschnittlich in seinen Darstellungsqualitäten, kommt nicht in Frage. – Der Entertainer treibt die darstellerischen Möglichkeiten, die sich hinter den wissenschaftlichen Formen verstecken, sozusagen aus der Deckung und rührt an die sozialen Voraussetzungen, die das Wissenschaftssystem normalerweise verdrängt. Damit sabotiert er versteckt einige andere Wirkungsweisen: Er gibt zu verstehen, daß Wissenschaft nicht fade, anstrengend oder unverständlich sein muß. Der Imponiertyp wird daher der Attribution ausgesetzt, so daß das Publikum seine Wirkung nun nicht der Wissenschaft, sondern seiner Darstellung zurechnet. Insofern ist der Entertainer das Gegenteil des Imponiertyps: er wird zum Komplizen des Publikums und zieht es durch Charme auf seine Seite. Für ihn ist die Wissenschaft eine kokette Göttin, mit der man gewissermaßen flirtet. Wissenschaft zeigt sich von da aus als Interaktion mit dem Gegenstand, voller dramatischer Wendungen und dialektischer Überraschungen. An ihr läßt der Entertainer das Publikum teilhaben. Dabei vermeidet er jedes Imponiergehabe und stilisiert sich stattdessen selbst als überraschtes Kind. Wie Sokrates ist er ein Ironiker. Während der Imponiertyp den tragenden hohen Stil bevorzugt, ist das Genre des Entertainers die Komödie. Beide entsprechen in ihrer Komplementarität dem von Northrop Frye beschriebenen Gegensatzpaar von Alazon (Wichtigtuer) und Eiron (Tiefstapler) (Frye 1964: 44, 174). Bewundert das Publikum den Imponiertyp, liebt es den Entertainer. Dabei zeigt die darstellerische Virtuosität des Entertainers, die sich als eine eigene, vom Gegenstand getrennte Dimension zu erkennen gibt, ein sehr viel höheres Niveau als beim Imponiertyp. – Von beiden unterscheiden muß man den Polemiker, der sich vor allem in den Diskussionsrunden nach den Vorträgen profiliert. Will man die literarische Typisierung fortsetzen, ist er der Satiriker der Wissenschaft. Damit wird er gewissermaßen zum Parasiten: Wenn
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er keine eigenen wissenschaftlichen Leistungen aufzuweisen hat, findet er als Genie der Kritik auf dem Kongreß eine Möglichkeit, sich zu profilieren und eine Reputation als gefährlicher Waden-beißer zu begründen, auf den die anderen in der eigenen Eindrucksmanipulation zu achten haben. Er macht sich dadurch zwar nicht unbedingt beliebt, hat aber ein Mittel in der Hand, aus seiner Gefährlichkeit die Möglichkeit für pro-noncierte Schonungen und dadurch besonders wertvolle Zustimmungen und Übereinstimmungen zu gewinnen. Auch ist er für die Kongreßleitung eine wertvolle Figur, weil er die Gefahr mindert, daß der Diskussionsleiter nach dem Vortrag die Diskussion eröffnet und niemand eine Frage stellt (‚I’m sure you all have a lot of questions.‘ – minutenlanges Schweigen – ‚Well, then I have a question of my own‘). Die berechenbare Unberechenbarkeit des Polemikers macht die Debatte zum Ereignis und präpariert sie für die nachträgliche Erinnerung. Besonders geschickte Frager simulieren auch die Kritik und lassen sich dann von den Entgegnungen überzeugen oder, sollte die Debatte schärfer werden, sogar besiegen. Das sichert ihnen die Sympathie der Sieger, die die Kritik erfolgreich abgewehrt und damit die Debatte als wissenschaftliche Form der Auseinandersetzung wieder außerordentlich schätzen gelernt haben. Als ‚social event‘ ist der Kongreß bisher vor allem in der Literatur geschildert worden. Romane wie David Lodges Small World, Malcolm Bradburys Dr. Criminale und Arthur Koestlers Die Herren Callgirls haben diesen Typ wissenschaftlicher Veranstaltung weitgehend als soziale Komödie dargestellt, an der sie die Flüchtigkeit der Kontakte, die wissenschaftliche Monomanie der Teilnehmer, die Katastrophen der Verständigung und die Eitelkeit der Wissenschaftler herausgestellt haben. Zu den festen Formelementen des Genres der Campus Novel – dem die genannten Romane zuzurechnen sind – gehört auch der große Vortrag. Die mit ihm verbundenen Darstellungsprobleme (Vorbereitung, Kontrolle über die Darstellung, Hinterbühnengeheimnisse etc.) werden erwartungsgemäß anhand von Störungen illustriert (vgl. Kingsley Amis, Lucky Jim, David Lodge, Small World, Dietrich Schwanitz, Der Campus). Für den Diavortrag in den Naturwissenschaften gelten Sonderbedingungen, die S. Bär in Regeln zusammengefaßt hat: Die Dias müssen mit einem roten Punkt gekennzeichnet werden, damit sie nicht seitenverkehrt erscheinen; um die Aufregung am Anfang zu überdecken, kann man mit einem dunklen Dia beginnen; wenn einem nichts mehr einfallt, kann man ‚Can I have the next slide, please?‘ sagen; am Ende müssen die Ergebnisse in zwei bis drei Sätzen zusammengefaßt werden (take home message); wenn man eine Frage in der Diskussion nicht beantworten kann, ist es besser, eine andere Frage zu beantworten, die gar nicht gestellt wurde, als zu schweigen oder hilflos zu stammeln (vgl. Bär 1993: 77ff.). Die Publikation ist die wichtigste Darstellungsform des Wissenschaftlers. Seine Reputation bemißt sich nach der Zahl und dem Rang seiner Veröffentlichungen: Ein Aufsatz in ‚Nature‘ oder ‚Science‘ hat einen anderen Wert als ein Paper in ‚Naturwissenschaftliche Rundschau‘, und ein Artikel in der ‚PMLA‘ ist mehr wert als einer im ‚Argument‘. Die Form der Publikation bietet ein weites Spektrum von Darstellungsmöglichkeiten, die über die Fragen des sprachlichen Stils hinausgehen: Die Differenz zwischen dem, was vorausgesetzt, und dem, was explizit thematisiert wird, gibt Auskunft über das Ausgangsniveau; Forschungsreferat, Fußnoten und Leitunterscheidungen signalisieren, welcher Schule man sich zurechnet und von wem man sich absetzt. Auch bei den Publikationen besteht die Möglichkeit der pa-
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rasitären Ausbeutung der Publikationen anderer, aus deren Kritik dann die eigene Publikation ihr Material gewinnt. Während der Herrschaft der Kritischen Theorie und der zugehörigen Konjunktur der Ideologiekritik hat diese Form der Publikation sogar zeitweilig die anderen in den Hintergrund gedrängt. Häufig geht es dabei um Probleme der Zurechnung. So wie in den Theatern die Regisseure statt neuer Stücke lieber Klassiker inszenieren, um sich durch originelle Abweichungen von den bekannten Vorlagen zu profilieren (Hamlet in Strapsen), benutzen kritische Wissenschaftler gerne die Größen ihres Fachs als Hintergrund, von dem sie sich selbst durch Kritik als Vordergrund abheben, um zugleich von ihrer Aura zu profitieren. Robert Merton hatte für dieses Verhältnis das Bild vom ‚Zwerg auf den Schultern von Riesen‘ in Umlauf gebracht. Eine andere Variante desselben Phänomens liegt in der Literaturwissenschaft im Falle der ‚over-interpretation‘ vor. Die Willkürlichkeit einer forcierten Textinterpretation kann dann zum Maßstab für eine Ingeniosität werden, die selbst die größte Willkür noch plausibilisiert. Damit wird die Textauslegung selbst in die Nähe von Kunst gerückt, die ganz ähnlich verfährt. An dem Distinktionswert solcher Extreminterpretationen läßt sich dann ablesen, daß man es nicht mehr mit einem traditionsorientierten, sondern marktorientierten Wissenschaftssystem zu tun hat, in dem es auf ‚Sichtbarkeit‘ und ‚Auffälligkeit‘ ankommt. Hier haben dann Diskontinuitäten und Innovationen Vorteile gegenüber Kontinuitäten, zumal es leichter zu sein scheint, ein neues Spiel zu beginnen und damit ganze Bibliotheken zu entwerten, als in ein altes Spiel neue Züge einzuführen (vgl. Danneberg u.a. 1995: 56). Auf diese Weise setzt sich die Verwandlung von Qualitätsdifferenzen in Temporaldifferenzen, die man etwa mit der Distinktion progressiv/konservativ für die Sphäre der Politik beobachtet hat, auch im Bereich der Wissenschaft durch. Einen solchen Vorgang hat Ulrich Schulz-Buschhaus an einem Beitrag von Walther Erhart (Erhalt 1995: 305-328) beschrieben. ‚Dabei liegt das zentrale Verfahren solcher Reklame in der Kulpabilisierung von Verbrauchern, die ‚noch‘ ältere, einheimische Produkte benutzen, ohne in ihrer peripheren Lage zu ahnen, daß in den Zentren ‚schon‘ neuere Produkte auf dem Markt sind, welche die alten ‚längst‘ obsolet gemacht haben. Jacques Derrida über Lucien Goldmann oder Robert Escarpit triumphieren zu lassen, besagt ja ungefähr soviel, als wenn ein Gastronomiekritiker aus Stanford und Berkeley melden wollte, das Kiwi-Sorbet habe dort nunmehr die Wiener Schnitzel oder die Entre-côtes à la Bordelaise von den Speisekarten verdrängt‘ (vgl. Schulz-Buschhaus 1996: 330). Naturgemäß steht ein Großteil der idealisierenden Selbstdarstellungen in der Wissenschaft wie anderswo auch im Dienste der Karriere. Hier hatte das Patronatssystem der alten Ordinarienuniversität ein Maß an Liebedienerei, Schmeichelei und Unterwürfigkeit gezüchtet, das sicher der Vergangenheit angehört. Aber obwohl sie in den Prüfungsordnungen in der Regel nicht genannt werden, gibt es noch die Figuren des Doktorvaters/der Doktormutter und des Betreuers einer Habilitation, deren Gewicht in den Kommissionen darüber entscheidet, ob das Gelände für den Prüfling Minen-frei ist oder nicht. An ihnen muß sich also auch das ‚impression management‘ der Kandidaten orientieren. Entscheidend ändert sich diese Konstellation für die Selbstdarstellung erst mit dem Szenario der Berufung, denn hier tritt wieder die Dialektik zwischen der durch Publikationen begründeten Reputation und der face-to-face interaction in ihr Recht. Die Entscheidung fallt mit dem Probevortrag. Der naive Bewerber glaubt, er müsse die Kommission nochmal durch seine Forschungen beeindrucken, und zieht alle Register des wissenschaftlichen Imponiergehabes. Damit hat er schon verspielt, denn es
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macht ihn unsympathisch. Anders der Berechnende; natürlich hält auch er das erforderliche Niveau, aber in seinem Vortrag und der anschließenden Diskussion gibt er zu erkennen, daß er andere Wissenschaftler höher einschätzt als sich selbst und daß überhaupt die Wissenschaft nicht alles im Leben ist. Er flicht Bescheidenheitsgesten ein, relativiert die eigene Position, macht charmante Konzessionen, beruft sich auf die Arbeiten des einen oder anderen Kommissionsmitglieds, die ihn erst auf den entscheidenden Gedanken gebracht hätten, kurzum, er brennt solch ein Feuerwerk von humorvollen Relativierungen ab, daß er wissenschaftliche Genauigkeit und menschliche Wärme in einem Versöhnungsfest vereint. Damit gibt er allen Kommissionsmitgliedern das Gefühl, daß mit seiner Berufung ein neues Zeitalter anbrechen wird, in dem der Neid und die Mißgunst, die bisher für das Seminar typisch waren, ein für alle Mal überwunden sein werden. Bei der Berufung muß der erfolgreiche Kandidat also einen großen Widerspruch entschärfen; Einerseits muß er wissenschaftlich so gut sein, daß man auch offiziell seine Berufung begründen kann; andererseits muß er so mittelmäßig und harmlos wirken, daß er auch wirklich berufen wird. Thomas Kuhns Version der Wissenschaftsgeschichte als Serie von Paradigmenwechseln hat die Vorstellung abgelöst, die Entwicklung der Wissenschaft sei eine gradlinige Akkumulation von Wahrheiten: Kuhns Bezugsproblem war ja gerade gewesen, daß man die Produktion falscher und dann auch falsifizierter Theorien ebenso wenig aus dem Wissenschaftssystem ausschließen konnte wie die Verifikation der wahren. Definiert man Wissenschaft als Medium der Wahrheit, führt das zu der Paradoxie, daß die Wahrheit sozusagen zweimal, als sie selbst und als ihr Gegenteil, vorkommt. Und eben dieser Skandal normalisiert zugleich die wissenschaftliche Debatte und spitzt sie doch auf den Punkt zu, an dem beide Parteien sich ihre Wissenschaftlichkeit absprechen. Dieses Szenario bringt eigene Darstellungsmöglichkeiten mit sich. Z.B. bietet der Kampf der Paradigmen die Möglichkeit, sich durch eine strategisch gewählte Kontroverse für die eine der beiden Parteien als Verbündeter zu empfehlen. Das gelingt aber nur, wenn die Kontroverse so heftig und mit soviel Theaterdonner geführt wird, daß sie möglichst viel Aufmerksamkeil erregt. In diesem Falle kann man also die spektakulären Aspekte des Konflikts für die Selbstdarstellung nutzen. Die Initiatoren des neuen Paradigmas sind natürlich die Verräter und Ketzer der ersten Stunde, die von der Orthodoxie isoliert und verfolgt werden. In ihrem Interesse ist es deshalb, sich nach Verbündeten umzusehen, und dazu bedarf es wieder der spektakulären Selbstdarstellung. Deshalb neigen die Dissidenten dazu, ihr Publikum über die engen Grenzen des Fachs oder sogar der Wissenschaft hinaus zu erweitern. Dazu bedarf es aber wiederum populärer Darstellungsmittel mit einem generalisierten ‚Relevanz-Appeal‘. Aus diesem Grunde wird hier häufig die Grenze zur Rolle der Intellektuellen durchlöchert, die ein Publikum in der allgemeinen Öffentlichkeit haben. So hatten im französischen Universitätssystem Leute wie Michel Foucault, Louis Althusser oder Jacques Derrida nur eine marginale Position inne, kompensierten das aber durch gute Beziehungen zu avantgardistischen Zeitschriften (Tel Quel, Critique), zu den Intellektuellen und zur Presse im allgemeinen (vgl. Bourdieu 1998: 20). Mit dem von da aus begründeten Gestus der anti-institutionellen Rebellion erzielen diese Dissidenten in der Regel auch eine positive Resonanz unter den Studenten. Mit der Nähe zu den Intellektuellen und dem außerwissenschaftlichen Publikum verstärken sich auch natürlich die Möglichkeiten, die sich allein über die Beherrschung der Darstellungs-
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mittel ergeben. Wissenschaftliche Kontroversen lassen sich dann politisieren und gewinnen enorme Resonanz. Man denke an den Positivismus-Streit in der deutschen Soziologie, den Historikerstreit oder die Kontroverse über die sogenannte ‚Bell-Curve‘ in der Intelligenz- und Begabtenforschung. Hier wird dann im weiteren Sinne um die Deutungshoheit gekämpft, die die Intellektuellen als Nachfahren der Priester für sich beanspruchen, und dabei werden dann auch wieder die priesterlichen Darstellungsmittel herangezogen: Charisma, Untergangsprophetie, Verrätselung, Zukunftsdeutung, Angsterregung, Verdammung der Gegner und Ansprüche auf Deutungsmonopole. Zugleich sind die Intellektuellen anders als die beamteten Vertreter der Wissenschaft auf den Verkauf ihrer Bücher angewiesen und bedürfen deshalb der Reklame. Über diese interne Differenzierung schafft sich die Wissenschaft sozusagen au-topoietisch selbstgenerierte, eigene Darstellungsmotive, die jeden zwingen, sich auf diesem Terrain durch seine Selbstdarstellung zu plazieren. Gerade die Ablehnung populärer Wissenschaft als unseriös oder journalistisch mag dann für jemanden ein Motiv sein, in seinen eigenen Publikationen und Lehrveranstaltungen besonders ‚akademisch‘ zu wirken. Dafür gibt es dann Seriositätssignale: eine Publikation voller Statistiken, Tabellen, Graphiken und Kurven wird sich in den empirischen Wissenschaften eindeutiger als wissenschaftlich beglaubigen; eine Arbeit mit verdichtetem Fachchinesisch, hohem Fußnotenwasserstand und ausführlichen Forschungsberichten tut dasselbe in den Geisteswissenschaften. Das ist der Grund dafür, daß Dissertationen und Habilitationen für das weitere Publikum in der Regel eine ungenießbare Lektüre darstellen: Sie sind nur für Prüfungskommissionen mit dem Blick auf ihren wissenschaftlichen Imponiereffekt hin verfaßt worden; werden sie für ein weiteres Publikum publiziert, müssen sie umgearbeitet werden. Ein besonderes Darstellungsproblem ergibt sich in den Disziplinen der Literatur- und Kulturwissenschaften, die (etwa anders als die Linguistik) nur eine rudimentäre Fachsprache ausgebildet haben. Dieser Mangel lädt gerade dazu ein, durch Darstellungstechniken kompensiert zu werden. So kann man eine Fachsprache von außen importieren, man kann durch verschiedene Importe ein gemischtes Angebot machen oder im Extremfall eine eigene Fachsprache erfinden. Das sind relativ solide, weil in ihren Ergebnissen leicht kontrollierbare Verfahren, und deshalb sind sie vergleichsweise gefährlich. Wesentlich sicherer ist es, den Mangel an eigener Begrifflichkeit durch zwei Verfahren wettzumachen, die sich jeweils für Unbegabte und Begabte anbieten: – Beim ersten geht es um Selbstimmunisierung durch schlichte Unverständlichkeit. Wenn man so geschraubt, terminologisch aufgeblasen und verquollen schreibt, daß jeder Leser nach der Lektüre der ersten Abschnitte aufgibt, wird die Abwesenheit jeden wissenschaftlichen Gehalts einer Arbeit nie nachgewiesen werden. Das Verfahren gilt zwar als ziemlich erfolgreich, ist aber rein defensiv und deswegen für die Begründung einer Reputation nicht geeignet. Zugleich läßt sich aber dabei gefahrlos eine lange Publikationsliste akkumulieren, die einen in die engere Wahl einer Berufungskommission katapultieren kann, wo dann wiederum andere Auswahlkriterien gelten. – Bei dem anderen Verfahren geht es um ‚Opakisierungstechniken‘, d.h. man schafft faszinierende Intransparenz. So kann man die Abwesenheit jeglicher Aussagen, die man als wissenschaftlich (im Sinne von verifizierbar) bezeichnen könnte, durch Verrätselung des Gegenstands verschleiern. Dazu braucht man rhetorisches Geschick und intellektuelle Brillanz. Man verblüfft durch Paradoxierungen, man betreibt eine mise-en-abîme, man
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spielt mit Unterscheidungen, Differenzen und Unterscheidungen von Unterscheidungen. Das Verfahren eignet sich besonders in der Literaturwissenschaft, weil es selbst schon literarisch ist. Es überzeugt dann durch eine gewisse Nähe zum Gegenstand. Die Abwesenheit jeder Fachsprache in der Literaturwissenschaft forciert also die Entscheidung, besonders schlecht oder besonders gut zu schreiben. In beiden Fällen wird aber deshalb in den Literaturwissenschaften nicht verständlich geschrieben, was außenstehende Beobachter immer wieder verblüfft. Ein literaturwissenschaftliches Studium gilt deshalb als besonders schlechte Vorbereitung für eine Tätigkeit als Journalist oder Sachbuchautor. Wird eine Opakisierungsrhetorik stilbildend, übernimmt sie die Funktion, den Unterschied zwischen Insidern und Outsidern zu markieren, und löst dann die oben beschriebene Imitationsepidemie aus. Es ist also nicht verwunderlich, daß die Rhetorik von Heidegger, Adorno oder Derrida sich gerade in den Literaturwissenschaften ausgebreitet hat. Daß sie alle drei noch für Kritik und Polemik benutzt werden können, macht sie besonders geeignet für parasitäre Publikationsformen und hat zu ihrer Attraktivität beigetragen. Die auf diese Weise entstandenen ‚Schulsprachen‘ werden dann zu Soziolekten: Sie dienen der Gruppenabgrenzung nach innen und außen. Entstanden sind sie aber als rhetorische Opakisierungstechniken im Sinne von Darstellungsmitteln. Die große Hochschulreform in den siebziger Jahren hat noch eine andere Plattform für akademische Selbstdarstellungen geschaffen mit ganz eigenen Möglichkeiten, eine lokale Reputation zu begründen: Sie hat das alte Patronatssystem durch eine extensive Gremienwirtschaft ersetzt. Die Gremien bieten nun all denen, die im agonalen Wettstreit der Publikationen zurückbleiben, die Möglichkeit für kompensatorische Selbstprofilierung. Dabei unterscheiden sich diejenigen, denen es vor allem um Fragen des Einflusses und der Macht geht, von denen, die die Darstellungsmöglichkeiten der Gremien selbst für Prestigegewinne zu nutzen versuchen. Die Mitglieder der ersten Gruppe verhalten sich im Prinzip wie Politiker: Sie knüpfen Netze der Freundschaft und legen Gefälligkeitskonten an. Sie gehören zu informellen Zirkeln und politischen Seilschaften. Ihr Ziel ist die Sicherung von Mehrheiten in der unberechenbaren Gremiendramaturgie. Sie pflegen deshalb eine nichtssagende Konsensrhetorik, die niemanden vor den Kopf stößt. Anders reagieren diejenigen, die aus den Darstellungsmöglichkeiten der Gremiendramaturgie selbst ihr Prestige beziehen wollen und deshalb auf die Relevanz und die Folgeprobleme der Beschlüsse keine Rücksicht nehmen. Ihnen geht es also nicht, wie den Politikern, um Regiedominanz, sondern um Darstellungsdominanz. Versucht man sich auf eine Typologie verschiedener Rollenfiguren, die sich aus der Gremiendramaturgie ergeben, fällt die Häufigkeit parasitärer Strukturen auf: Man operiert mit Mitteln der Gremiendramaturgie gegen ihren normalen Ablauf. Man profiliert sich durch erlaubte Störungen. Dabei ist bei allen Typen der Darstellungsanteil verschieden dosiert:3 – Der Chaot. Bei ihm ist das Gremium eine Maschine zur Produktion von Turbulenzen. Sie dienen als Hintergrund, auf dem sich der Chaot selbst als Vertreter der Rationalität abheben kann. Deshalb ist er auf die heimliche Zerstörung von Sinn spezialisiert: Ein dunkler Einwurf des Chaoten, eine quer zur Tagesordnung liegende Frage, eine unklare Unterstel3 Die folgende Typologie ist mit einigen Änderungen bereits in Forschung und Lehre I, 1996 publiziert worden. Die ungemein große Resonanz ging von ihrem Wiedererkennungswert aus. Sie hat insofern eine gewisse empirische Bestätigung erfahren mit der Qualifikation: jeder erkannte andere, niemand sich selbst.
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lung – und schon breiten sich Wellen der Finsternis aus. Erst wenn alles in nachtschwarze Dunkelheit gehüllt ist und nur noch die Hilferufe der Umherirrenden zu hören sind, hat der Chaot sich die Kulisse erschaffen, vor der er mahnende Reden über mangelnde Disziplin und fehlende Klarheit halten kann. Der Soziale. Für ihn ist das Gremium das Äquivalent des Freundeskreises, den er nicht hat. Während der Ausschußsitzung lebt er auf. Er plaudert, er meldet sich, er erläutert, er erweitert die Fragestellung, er hinterfragt, er gibt zu bedenken, er macht darauf aufmerksam und er schließt sich dem Vorredner an. Seine größte Angst ist es, daß die Gremiensitzung je zu Ende gehen könnte. Deshalb behandelt er jeden Tagesordnungspunkt wie eine Zitrone, aus der man das Maximum an Problematik herauspressen muß. Der Betroffene. Für ihn ist das Gremium eine Plattform für Appelle, eine Gelegenheit, seine Wut und Trauer zu zeigen und seine Betroffenheit vorzuführen. Hier werden die Prinzipien formuliert, deren Verletzung beklagt wird, und die Resolutionen zur Bekräftigung anderer Prinzipien beschlossen. Hier wird der Schmerz der Welt beschworen und das Pathos des Allgemeinen gepflegt nach dem Prinzip: ‚Wie können wir über Seminare reden, wenn im Sudan Menschen sterben?‘ Der Inquisitor. Er lenkt die Wut und Trauer des Betroffenen in die prozeduralen Bahnen der heiligen Inquisition. Wo moralische Prinzipien sind, sieht er Ketzer. Und wo er Leiden spürt, sucht er nach Schuldigen. Er ist der Hohepriester der Political Correctness, der mit seinen Bannflüchen und Tribunalen eine wahre Anschuldigungsindustrie betreibt, um den Glauben mit dem Blut der Schlachtopfer zu nähren. Für ihn ist deshalb das Gremium eine Inquisitionsbehörde, deren Formalismus ihm die Gelegenheit bietet, sein Lieblingsdrama aufzuführen und darin die Hauptrolle zu spielen: das Polizeiverhör. Der Schlichter. Er ist der Moralist der Metaebene, der Parasit des Gremiengezänks. Während der Debatte hält er sich solange zurück, bis die Argumente sich wiederholen und die Beleidigungen zunehmen. Dann tritt er auf den Plan wie der Erzengel Gabriel nach dem Sündenfall. Er trauert über die betrübliche Tatsache, daß Hochschullehrer nicht besser miteinander umgehen können. Er ist entsetzt über die Abgründe an Bosheit, in die er hat blicken müssen (neuerdings mit der Variante: Frau ist über die Hahnenkämpfe der Männer entsetzt etc.). Er denkt an das betrübliche Bild, das sich den Vorbild suchenden Studenten bieten muß. Damit gewinnt er sowohl den Beifall des Publikums, dem sich beide demoralisierten Parteien mit der Implikation anschließen, der jeweils andere sei schuld, als auch den moralischen Vorteil, seine eigene Neuformulierung der Abstimmungsvorlage zugleich als friedensstiftende Maßnahme anbieten zu können. Der Pedant. Er ist der Virtuose der Anfrage und der Kontrolleur des Protokolls. Für ihn ist die Zügigkeit der Verhandlung gleichbedeutend mit Oberflächlichkeit. Deshalb hat er ein feines Ohr für Timing. Erst wenn der Zug sich in Bewegung gesetzt und Fahrt gewonnen hat, stellt sich der Genuß ein, der von einer Vollbremsung im Dienst der Genauigkeit ausgeht An den quietschenden Rädern spürt der Pedant die Macht, die ihm das Diktat des Tempus mit dem Pathos der Solidität zuspielt. Er ist im Sozialen, was die Gravitation im Bereich der Materie ist: Er sorgt dafür, daß niemand abhebt und daß, wer zu laufen versucht, auf jeden Fall stolpert. Der Erzähler. Er ist der Repräsentant des Lebensstoffs, der jeden Formalismus überwuchert wie der Dschungel die Mauern der Ruinenstadt. Deshalb wird jede Problemlage für
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ihn zum Exemplum, zum Kasus, ja zur Novelle. Darin sind alle Fragen durch das Leben selbst schon gelöst. Meistens ist es sein eigenes Leben, das er in Form der Erzählung als vorbildlich anbietet. Seine Dimension ist die Vergangenheit, für die es keine Probleme mehr gibt. Dadurch ist er zugleich allen anderen voraus, denen er seine Erzählung – so wie er mit der Sache fertiggeworden ist – als Tor zu ihrer Zukunft offerieren möchte. Zwischen ihm und dem Rest des Gremiums herrscht dieselbe Beziehung wie zwischen Troubadix und den Galliern: Entweder sie bringen ihn sofort zum Schweigen oder sie leiden. – Der Spieler. Er liebt Gremien wie andere den Fußball lieben. Er verfolgt die Dramaturgie einer Sitzung mit derselben fachlichen Hingabe, die ein Fußballanhänger dem Spiel seines Vereins widmet. So wie Fußballfans den Schwung eines Angriffs mitempfinden und die Eleganz einer Bananenflanke nachschmecken, können sich Gremienfans für die strategische Raffinesse eines Geschäftsordnungsantrages begeistern und die Subtililät eines Rückkommensantrags auskosten. Die Loyalität zur eigenen Gruppe ist dabei weniger eine Frage der Überzeugung als eine Bedingung des Spiels. Auch die verhandelte Sache bedarf keiner anderen Eigenschaften als der Fußball: Sie muß so makellos rund sein, daß sie sich dazu eignet, in jede Richtung getreten zu werden. Der Gremienfan führt zwar die Hochschulreform im Munde, trägt aber eine Geschäftsordnung im Herzen. Ihn treibt nicht die Überzeugung für die Sache, sondern die Funktionslust bei der Beherrschung der Spielregeln. – Der Theatraliker. Für ihn ist das Gremium eine Bühne, auf der er sich für seine Wählerschaft oder seine Fangemeinde sichtbar machen kann. Ihrer bedienen sich deshalb vor allem die Mitglieder, die sich als Delegierte von großen Interessengruppen empfehlen müssen: Studenten und Frauenbeauftragte. Sie brauchen den großen Auftritt, den spektakulären Prinzipienstreit, die demonstrative Geste, die außerordentliche Gelegenheit, das Go-In, die Sprengung, den Protest. Sie haben ein Bewußtsein von dem Show-Wert solcher Demonstrationen und erwarten deshalb von den anderen Mitgliedern ein augen-zwinkerndes Verständnis für das Inszenatorische ihrer Dramen einschließlich ihrer latenten Verachtung des Publikums, das auf eine Weise getäuscht werden will, die sie gleichwohl genießen. Sucht man nach Gründen für die Neigung zu solchen Formen der Selbstdarstellung, sieht man sich auf die Struktur der wissenschaftlichen Gemeinschaft verwiesen. Die Differenzierung zwischen lokaler Prominenz, für deren Entfaltung die Selbstverwaltung der Hochschulen eine Bühne bietet, und einer internationalen Reputation, die aufgrund wissenschaftlicher Leistung erworben wird, entspricht der gängigen Unterscheidung zwischen Kerngruppe und Peripherie in der Scientific Community (Breiger 1976, Mullins et al. 1977). Die Kerngruppen sind als „invisible colleges“ beschrieben worden, die die Forschungsfront markieren (Price 1986, Crane 1972). Es handelt sich dabei um weite kosmopolitische Netzwerke, deren Angehörige durch eine Vielzahl persönlicher und informeller Beziehungen verbunden sind. Ihre Mitglieder gelten als hochproduktiv, werden weithin wahrgenommen und häufig zitiert (Fuchs 1995). Sie legen fest, in welche Richtung die Forschung sich bewegt und was als kreativ und innovativ zu gelten hat. An ihnen ist ablesbar, welche Forschungsfelder, Theorien, Paradigmen und Leitunterscheidungen Konjunktur haben. Da die Arbeit in diesen Kerngruppen äußerst wettbewerbsorientiert ist und Prioritäten eine entscheidende Rolle spielen und
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dazu gleich die offiziellen Kommunikationskanäle der Publikationen für die entscheidenden Beobachtungen viel zu langsam sind, bieten sich die idealen Voraussetzungen für die Entstehung informeller Nachrichtenbörsen: Es geht um die Kombination von hohem Informationswert, großer Unsicherheit und Wettbewerbsprämien für ‚first moves‘. Die Bildung solcher informeller Informationsnetzwerke scheint charakteristisch zu sein für die Entstehung kreativer Milieus und erklärt, warum die Erschließung von wissenschaftlichem Neuland so oft mit der unwahrscheinlichen Häufung von Talenten und Entdeckungen verbunden ist. Zugehörigkeit zu informellen Informationsgruppen ist also selbst ein Zeichen wissenschaftlichen Prestiges und bietet sich darum als Bezugspunkt für Selbstdarstellungen an. Dabei geht es vielleicht weniger darum, den Insider zu spielen als unbedingt zu vermeiden, als Outsider zu gelten. Hier werden vor allem die sozialen Talente verlangt werden, die auch bei der Partizipation an anderen Formen inoffizieller Kommunikation – also Klatsch – eine Rolle spielen. Das führt zu dem bekannten Phänomen des ‚name dropping‘: Andeutungen über vertrauliche Mitteilungen durch die wissenschaftlichen Alpha-Tiere, Hinweise auf den Zugang zu privilegierten Informationen, beiläufige Erwähnungen privater Beziehungen – alles das kann die eigene Zugehörigkeit zur Spitzengruppe der Forschung signalisieren. Es dürfte sich dabei um soziale Erscheinungen handeln, die manche Parallele zu dem von Elias beschriebenen Prozeß der Verhöfischung in den alteuropäischen Adelsmilieus aufweisen. Dabei ist es gefährlich, den Anschluß an die Entwicklung und den Zugang zum Informationsfluß zu verlieren und nicht auf dem laufenden zu sein. Dem gegenüber bilden die Lokalberühmtheiten der Gremienwirtschaft die Peripherie der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Obwohl diese die Mitglieder der Spitzengruppe intensiv beobachten, werden sie von diesen nicht wahrgenommen – mit einer Ausnahme: Wenn sie in den Gremien auf sie treffen. Insofern bieten die Gremien die Möglichkeit, die dramaturgischen Bedingungen so zu ändern, daß ein gewisser Ausgleich für die Asymmetrie des Wissenschaftstheaters geboten wird: Hier können sich diejenigen, die wissenschaftlich weniger auffallen, auch für die Spitzenforscher sichtbar machen, indem sie ihnen die Instrumente zeigen: Instrumente der Moral, der Politik, der Organisation etc. Und hier dürfte einer der Hauptgründe für das Versagen der Gruppenuniversität als Form der Wissenschaftsorganisation liegen: Sie bietet die Möglichkeit, die Prestigeverteilung nach Maßgabe wissenschaftlicher Leistungen zu konterkarieren oder außer Kraft zu setzen. Mit Niklas Luhmann haben wir Reputation eine Zweitcodierung der Wissenschaft genannt. Sie ist also für die wechselseitige Beobachtung der Wissenschaftler das entscheidende Kriterium. Sozialpsychologisch gesehen dürfte ein so begründeter Sozialcharakter eine gewisse Nähe zur Mentalität in den Oberschichten ständischer Gesellschaften aufweisen: Über die Temperatur des Ich-Gefühls der Individuen entscheidet die Wertschätzung der Peers. Die damit zusammenhängenden Probleme darzustellen ist aus guten Gründen nicht immer einfach. Wer die Hinterbühneninformation einer Theatertruppe ausplaudert, wird ebenso als Verräter empfunden wie der, der die Stammesgeheimnisse preisgibt oder die Tricks einer Priesterkaste öffentlich macht. Aber darüber hinaus gibt es in Deutschland noch eine spezielle, historisch bedingte Sensibilität gegenüber diesem Thema: In der 68er Revolte sind die offiziellen Formen der akademischen Selbstdarstellung und die dazugehörigen Rollenfassaden ebenso entweitet worden wie alle akademischen Initiationsriten, Ehrungen und Rituale. Das hat zu einem Formverlust geführt, der zunächst durch die Revolte selbst noch über-
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deckt wurde: Denn die Zerstörung der alten Formen brachte zunächst neue Formen hervor – Demos, Kritik, Diskussionen, Proteste, Streiks, Sit-Ins, Go-Ins, Love-Ins etc. Aber das waren parasitäre Formen, die nur solange lebten, wie der Kompost der alten Universität als Ressource für den Formenverbrauch noch zur Verfügung stand. Danach verfielen sie dem Leerlauf oder wurden zur Beute von Fanatikern und Sektierern. Übrig blieb eine soziale und kulturelle Wüste. Es gab kaum noch Formen, in denen die Universität für die Studierenden als ganze oder in der Gestalt der Institute oder Fachbereiche erfahrbar wurde. Das Ergebnis war Anomie: das Gefühl von Beliebigkeit und Heimatlosigkeit, die Erfahrung von Amorphheit und Anonymität, und der generelle Eindruck von Normlosigkeit und Desorientierung, wofür sich der Sammelbegriff des ‚Unifrust‘ eingebürgert hatte. Als das alles sichtbar wurde, wurde es durch die Repräsentanten der Hochschulreform einem Wahrnehmungsverbot unterworfen. Dieses Wahrnehmungsverbot konnte davon profitieren, daß der Mißbrauch durch den Faschismus in Deutschland ein generelles Mißtrauen gegen alle Rituale, Formen und solche sozialen Praktiken verbreitet hatte, in denen die kollektive Verständigung über gemeinsame Ziele und Werte symbolisch vollzogen und bekräftigt wird. Daß aber keine Gesellschaft ohne solche Formen auskommt und daß es deshalb nicht um Rituale per se, sondern um die in ihnen bekräftigten Werte, Ziele und Einstellungen geht, konnte man dann nicht mehr wahrnehmen. Also hat man auf alle identitätsstiftenden Rituale verzichtet und einen weitgehenden Lebensweltverlust in der Universität in Kauf genommen. Welche Chancen man damit preisgegeben hat, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf amerikanische Universitäten mit ihren Zeremonien, in denen die ‚graduation‘ vollzogen wird, Diplome überreicht und eine Vielzahl von ‚degrees‘ und ‚honours‘ verliehen werden. Das alles sind Repräsentationsformen, mit denen ein Fach oder die Universität als ganze für ihre Angehörigen symbolisch faßbar und erlebbar werden. Umgekehrt hat die Verdrängung dieses Themas eine realistische Beurteilung der 68er Revolte bis heute verhindert. Die Studentenrevolution war eine Jugendrevolte, die mit der Expansion des Bildungswesens, der überfälligen Kulturrevolution gegen den restaurativen Stil der Adenauer-Republik, einer seit dem Dritten Reich überfällig gewordenen kulturellen Modernisierung, der Aufarbeitung des Faschismus und dem Protest gegen den Vietnam-Krieg zusammenfiel und von dieser Koinzidenz ihre Durchschlagskraft bezog. Deshalb verfiel sie einem Omnipotenzwahn. Man meinte wirklich Revolution zu machen. Ihre Internationalität, die weltumspannende Gleichzeitigkeit zwischen Berkeley, Paris und Berlin vermittelten das Gefühl, daß man dabei war, den Kapitalismus zu begraben. Tatsächlich wurden aber weder die Bahnhöfe gestürmt noch die Elektrizitätswerke besetzt, von den Regierungszentralen ganz zu schweigen. In Wirklichkeit war die 68er Revolte keine Revolution, sondern ein Karneval (vgl. Bakhtin 1968). Der Umsturz beschränkte sich auf die symbolische Subversion und die Entwertung der institutionellen Selbstdarstellung. Die Kampfeinheiten waren symbolische Stoßtrupps, die öffentliche Zeremonien wie Vorlesungen, Gottesdienste und Gerichtsverhandlungen störten und damit die dramaturgische Verletzlichkeit der Formen öffentlicher Repräsentation vor Augen führten. In den Go-Ins und Sit-Ins wurden diese Formen parodiert und lächerlich gemacht. Wie im Karneval wurden die symbolischen Grenzen in Frage gestellt, die eine Kultur organisieren. Das Stilprinzip der Revolte war deshalb die Übertretung, die Profanierung, die Debauche, der Stilmix. Dem entsprach eine polyphone exzentrische Strukturierung der
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eigenen Darstellungstechniken. Damit wurden symbolische Grenzen eingerissen. Durch die Zertrümmerung öffentlicher Rollen und ihrer Fassaden – vor allem bei den Professoren und anderen Autoritätsfiguren – kam es zu so manchem Zusammenbruch des persönlichen Sakralraums, in dessen Mitte das Heiligenstandbild der Person stand. Den rituell geschützten Hoheitsgebieten um die öffentliche Persona wurde der Respekt aufgekündigt. Das alles war als symbolische Subversion ungemein erfolgreich. Aber es war nur eine Zertrümmerung offizieller Repräsentationsformen und nicht ein Kampf um die Produktionsmittel. M.a.W., es war ein Karneval und nicht eine Revolution. Gerade daß das bis heute verkannt wird, unterstützt die Vermutung, daß die Thematisierung der Darstellungsanteile im Sozialsystem Wissenschaft schwerfällt. Es versteht sich von selbst, daß die hier formulierten Beobachtungen weder erschöpfend noch von der Goffmanschen Subtilität sind, die man eigentlich erwarten könnte. Vielmehr wurden sie so arrangiert, daß man mit ihrer Hilfe erst einmal das Terrain abstecken konnte, um das es geht. Daß es vermint ist, wird spätestens dann deutlich, wenn man bemerkt, daß man sich selbst darauf befindet und sich fragt: Welche Darstellungstechnik hat man selbst benutzt? Imponierstil, Entertainment, Verrätselung, Unverständlichkeit, keins von alledem? Das muß der Beobachter entscheiden. Allerdings ist er/sie wahrscheinlich auch ein Wissenschaftler, und man weiß, daß gerade für die Selbstbeobachtung Unterscheidungen so benutzt werden, daß man selbst auf der positiven Seite landet.
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Die Selbstbeschreibung von Hochschulen. Strategien für den Wettbewerbsvorsprung, die gesellschaftliche Legitimation und Beschäftigungsfähigkeit im Kontext globaler Herausforderungen Justine Suchanek
1. Problemstellung Die Globalisierung wird heute als größte Herausforderung der Hochschulen aufgefasst. Sie stellt in der Geschichte der Hochschule einen derart fundamentalen Wandel dar (Scott 1999), dass die Hochschule ihr Selbstverständnis bzw. ihre Rolle in einer globalisierten Gesellschaft neu überdenken und ihre Organisationsstrategien neu ausrichten muss, um dauerhaft zu überleben. Die Globalisierungsanstrengungen der Hochschulen sind dabei als enorm zu bezeichnen. Scott (2006: 4ff) schätzt, dass mehr als zwei Millionen Studierende mobil sind, es wird prognostiziert, dass diese Tendenz zukünftig noch enorm an Potential gewinnt. Die gestiegene Nachfrage nach transnationaler Hochschulbildung hat zu einem ansteigenden Wettbewerb der Bildungsanbieter in den Industrieländern geführt. Erwartet wird die Entstehung eines globalen Bildungsmarktes, innerhalb dessen der Kommerzialisierung von Hochschulbildung eine bedeutende Rolle zukommt. Hiermit ist der Wettbewerb um ausländische Studierende ebenso gemeint wie Hochschulbildung in Form eines Dienstleistungsexports2 (Hahn 2004: 30). Als global wird zudem die akademische Migration bezeichnet, hierbei handelt es sich im Speziellen um Doktoranden und Post-Docs, die einer langen europäischen Tradition folgend vor allem in die USA auswandern. Der Wettbewerb um Nachwuchswissenschaftler bzw. Hochschuldozenten hat sich mit der Zunahme an „potentiellen Importeuren“ 1 Hochschulen werden hier als Organisationen, d.h. als Sozialsysteme behandelt, welche die Funktionssysteme eigendynamisch durchsetzen. Ihre Evolution folgt eigenen Modi der kommunikativen Schließung und Reproduktion über Entscheidungen. Organisationen zeichnen sich durch eine formalisierte Erwartungsstruktur und eine besondere Programmierung ihres Entscheidungshandelns aus (Luhmann 1997: 826ff). Musselin (2007) fasst zusammen, dass sich hochschulische Strukturen und Prozesse allerdings historisch von anderen Organisationstypen in ihren „loosely coupled systems“ unterscheiden. Deshalb sei es schwierig, wirtschaftliche Modelle wie das New Public Management auf Hochschulen zu übertragen. 2 Das weltweite Marktvolumen für Bildungsprodukte wird auf ca. drei Trillionen US $ geschätzt, wobei neben den USA und Großbritannien als neue global player vor allem Australien, aber auch Kanada und Neuseeland aufstrebend sind (Hahn 2004: 28f).
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sogar noch verschärft. Neben den USA und Europa werben auch Südostasien und China um junge Wissenschaftler. Eine weitere Dimension der Globalisierung wird in internationalen Netzwerken, Allianzen und Partnerschaften gesehen. Diese beinhalten neue Formen der Lehre, die als Tendenz zur Deinstitutionalisierung (fluide, kontingente Netzwerke) und als virtuelle Kommunikation (transnationale netzbasierte Lehre) beschrieben werden (Scott 2006). Evidenzen für die stärkere globale Verankerung der Hochschule gibt es zudem beim Trend in Richtung auf globale Curricula, globale Prüfungspraktiken (Credit Point Systeme), globale Grade (MBA) und hinsichtlich der Diversifikation der Forschungsfinanzierung, die die Abhängigkeit der Hochschulen von der nationalen Steuerungsebene mindern (Stichweh 2001). Wurden internationale Kooperationen bislang von einzelnen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verfolgt und studentische Mobilitäten individuell organisiert, haben sich systematisch implementierte internationale Bildungsprogramme, regelmäßige internationale Aktivitäten und Kooperationen sowie ein internationaler Austausch von Wissenschaftlern zu einem „Massenphänomen“ (Hahn 2004) entwickelt. Dass Hochschulen auf den Internationalisierungsdruck bereits reagiert haben, ist insofern unzweifelhaft. Dennoch, die Forderungen nach weitergehender Internationalisierung sind enorm. Die internationale Ausrichtung im Wissenschaftssystem soll ausgebaut werden (Wissenschaftsrat 2000), damit Internationalität zu einem wesentlichen Merkmal von Hochschulen wird (Müller-Böling 2000: 206ff). Nur so könnten die Hochschulen den globalen Herausforderungen begegnen, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Vielfältiger werdende externe Forderungen nach der programmatischen Internationalisierung der Hochschulen, in dem Schlagwort Superkomplexität (Barnett 2000) wird die Ausdifferenzierung von Referenzbezügen der Hochschule zu ihrer Umwelt versinnbildlicht, forcieren diese Entwicklung. Da Hochschulen überwiegend vom Steuerzahler finanziert werden, stellt die Öffentlichkeit nicht nur Fragen nach dem Verbleib und der Effizienz der investierten Mittel, sondern auch nach dem Nutzen für die Gesellschaft. In einem rohstoffarmen Land wie Deutschland, in welchem Forschung und Bildung als wichtigste Ressourcen gelten und die Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital längst abgelöst haben (Stehr 2000), wächst das Interesse am Output der Hochschulen. Zum zentralen Problem der Gesellschaft wird die Versorgung mit ihren wichtigsten Ressourcen, dem in der Forschung generierten Wissen und dem an Hochschulen ausgebildeten Humankapital.3 Bell (1985) gibt mit der Differenzierung 3 Die Soziologie und noch intensiver die Ökonomie beschäftigen sich seit 20-30 Jahren mit dem Begriff des Humankapitals. Dieser Begriff bezeichnet Handlungsvermögen, welches durch Prozesse der Erziehung, Ausbildung, Weiterbildung und Erfahrung in Schulen und Universitäten erworben wird und gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt eingesetzt werden kann, um Einkommen zu erzielen. Gewinnbringend meint, dass die individuelle Bildungsrendite im Lebensverlauf höher ausfällt als wenn das in Bildung investierte Geld verzinst worden wäre (Belfield 2000). In diesem Sinne ist Humankapital an dem ökonomischen Kapitalbegriff angelehnt. Von der Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. zum Unwort des Jahres 2004 gewählt, geht allerdings die Begründung, dass der Begriff Menschen zu ökonomischen Größen degradiere, an der Tatsache vorbei, dass die Begriffe Wissen und Bildung als eine zentrale Ressource angesehen werden, die in Hinsicht auf die zukünftige Entwicklung des Unternehmens und den Unternehmenserfolg entscheidende Variablen darstellen. Würde dies in Unternehmen konsequent realisiert, hätte es die Förderung von Mitarbeitern im Sinne von einer innovativen Personalentwicklung zur Folge. Darüber hinaus weisen Forschungen zum Humankapital soziale und externe Effekte wie die Senkung der Kriminalitätsrate, besseres Gesundheitsverhalten, höheren Umweltschutz, die Reduzierung von sozialer Ungleichheit und Armut, die Stärkung der Zivilgesellschaft sowie ökonomisches Wachstum und Wohlstand nach (McMahon 2004).
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von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ein entscheidendes Deutungsmuster für diesen Strukturwandel vor: So sollte die Universität ähnlich der Bedeutung der Stanford University für die Silicon Valley eine Art Dienstleister und „Wissensfabrik“ (Weingart 2001: 172) für die Ökonomie darstellen. In diesem Sinne stellen Universitäten qualifiziertes Personal für die Wirtschaft bereit und versorgen sie gleichzeitig mit der Ware Wissen. Wie sich die Erwartungen an das Output von Hochschulen im Besonderen im Zuge von umfassenden Globalisierungsprozessen verändern, kann anhand der Kernfunktionen Forschung und Lehre verdeutlicht werden. Bezogen auf die Wissensproduktion beobachtet Weingart (2001), dass zwischen der Wissenschaft und den Funktionssystemen Ökonomie, Politik und Medien enge Kopplungen entstehen.4 Politik und Ökonomie wollen mitentscheiden, worüber geforscht wird, schließlich ist wissenschaftliches Wissen zu einer immer wichtigeren Voraussetzung für Innovation und Konkurrenzfähigkeit geworden, Forschung ist für die Industrie aber teuer und riskant. Die Wirtschaft erwartet deshalb eine öffentliche Finanzierung der Wissensproduktion und die private Aneignung des produzierten Wissens. Dieser Erwartungsdruck an Hochschulen, sich am Wissensbedarf ihrer Umwelt auszurichten, nimmt mit der Globalisierung der Märkte deutlich zu. Multinationale Unternehmen sind einem globalen Wettbewerb ausgesetzt und auf Vorsprungswissen angewiesen. Bezogen auf die Hochschulausbildung verändern sich ebenfalls die gesellschaftlichen Erwartungen. Ursprünglich für Professionen und Staatsbedienstete gedacht, muss diese nun den Erwartungen und Qualitätsanforderungen der zukünftigen Arbeitgeber in der Wirtschaft genügen. Die Globalisierung bringt es mit sich, dass Akademiker zunehmend für internationale Arbeitsmärkte ausgebildet werden wollen bzw. die Wirtschaft international konkurrenzfähiges Humankapital einfordert. Hierzu gehören ein hoher Formalisierungsgrad der Bildung, Kernkompetenzen wie eine forschende Handlungsweise, Interdisziplinarität5 und Medienkompetenzen ebenso wie Selbstmanagement und soziale Kompetenzen. Als Einstellungskriterium werden überdies interkulturelle Kompetenzen wie Sprachen, Auslandsaufenthalte und die fundierte Kenntnis anderer Kulturen vorausgesetzt (Suchanek 2006). Da mit der Einführung von Studiengebühren Bildung nicht mehr ein ausschließlich öffentliches Gut darstellt, sondern eine Investition, mit der eine möglichst hohe individuelle Bildungsrendite auf dem Arbeitsmarkt erzielt werden soll, sind Hochschulen gefordert, bedarfsgerecht auszubilden, wenn sie für die nun als „Kunden“ titulierten Studierenden attraktiv sein wollen. Vor diesem Hintergrund fragt der vorliegende Beitrag danach, mit welchen Strategien Hochschulen den globalen Herausforderungen begegnen, um sich in der Gesellschaft zu legitimieren. In einer explorativen Studie werden die Selbstbeschreibungen6 untersucht, die in
4 Die Qualitätskriterien der Forschung müssen sich zunehmend an den Anwendungskontexten orientieren, d.h. die Wissensproduktion wird reflexiv und gesellschaftlich legitimiert, sie orientiert sich an sozialen Werten, politischen Zielen und an den Medien (Weingart 2001: 15). Allerdings halte ich es für falsch, wie Willke (1998) von einer Auflösung der Wissenschaft in der Wissensökonomie zu sprechen, vielmehr handelt es sich um eine Pluralisierung der Orte der Wissensproduktion in der Art, dass sie neue Abgrenzungen der Wissenschaft zur Wissensökonomie erfordert. 5 Zu den differenzierten Formen der Interdisziplinarität siehe Weber (1997). 6 In der Wissenssoziologie Luhmanns sind Selbstbeschreibungen komplexe Theorien, die von den Funktionssystemen erzeugt werden. Mit der Semantiktheorie schafft die Systemstheorie einen eigenen Analyseapparat für den Themenbereich, der ehemals mit dem Konstrukt der Kultur besetzt war. In diesem Sinn spricht Stichweh (2000: 241) von Semantiken als ein „Vorrat an Unterscheidungen“. Theoretisch fällt zunächst die mangelnde Einbindung von organisationalen Selbstbeschreibungen in die Gesellschaftstheorie auf (vgl. Luhmann 1997).
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Hochschulleitbildern festgehalten werden. Auf dieser Ebene werden die globalen Mechanismen, welche Hochschulen durchdringen, reflexiv, indem sie in die Strategieformulierung der Hochschule überführt werden. Mit Hilfe eines Hochschulleitbildes definieren Hochschulen ihre Position in der Gesellschaft und stabilisieren ihr Auftreten nach außen. Die Leitfragen, die der vorliegenden Studie zu Grunde liegen, sind: – Welche Leitbilder wählen Hochschulen, um den globalen Herausforderungen zu begegnen? – Welches sind die globalen Mechanismen, die die Strategien der Hochschulen durchdringen? – Können in den hochschulischen Selbstthematisierungen überstilisierende Semantiken identifiziert werden, die die Hochschule einem „günstigen gesellschaftlichen Licht“ (Goffman 1997: 36) erscheinen lassen? Um diesen Fragen nachzugehen, werden deutsche Hochschulleitbilder empirisch untersucht. Bevor die Ergebnisse der Studie vorgestellt und reflektiert werden, wird zunächst auf die Funktion von Hochschulleitbildern näher eingegangen.
2. Die Funktion von Hochschulleitbildern In hochschulischen Leitbildern kulminiert sich die verdichtete und besonders prägnante Selbstbeschreibung der Organisation. Es handelt sich dabei um das Selbstverständnis, die Philosophie, die Mission bzw. die strategische Zielvorstellung. In Leitbildern schlagen sich die impliziten Wertvorstellungen der Hochschule nieder, die die Grundlage für Entscheidungs- und Handlungsstrukturen einer Hochschule bilden und den Erwartungsraum eingrenzen. Sie sind deshalb mehr als nur eine Werbestrategie oder ein Reklameslogan, sie bündeln zukünftige Zielvorstellungen und Entwicklungsrichtungen der Organisation, reflektieren ihre Tradition bzw. Geschichte und skizzieren die Selbstverortung der Hochschule in der Gesellschaft. Leitbilder sind in diesem Sinne der Kultur der Organisation zuzuordnen, als „root metaphor“ (Smircich 1983) bilden sie nicht nur die Komplexität der Hochschulen in der symbolischen Dimension ab, sondern konstruieren auch die Organisationsumwelt. Dennoch sind die organisationalen Selbstbeschreibungen von Hochschulen kaum erforscht. Dies liegt sicherlich daran, dass im Gegensatz zu den USA, wo bereits in den 50er60er Jahren das Hochschulmanagement eine wichtige Rolle spielte, Leitbilder in Deutschland ein relativ neues, wenn auch stark expandierendes Phänomen sind. Hochschulen sind vor allem im Zusammenhang mit neuen Steuerungsmodi wie z.B. Zielvereinbarungen gefordert, sich mit einem Leitbild zu profilieren.7 Dabei stellt Internationalität auf der Ebene Die klassische Semantiktheorie hat nicht im Blick, dass organisationale Semantiken ebenso einen Informationsund Orientierungswert haben. Dies ist insoweit verwunderlich, da Organisationen in der modernen Gesellschaft einen Bedeutungsgewinn verzeichnen. Ihre beobachtbare Zunahme reflektiert einen ansteigenden gesellschaftlichen Bedarf an Organisationen, alle Lebensbereiche werden von Organisationen durchdrungen. Zur Kritik und Erweiterung der Semantiktheorie um organisationale Selbstbeschreibungen siehe Suchanek (2006). 7 Leitbilder sind in Wirtschaftsunternehmen ein bekanntes und etabliertes Instrument für Strategieprozesse. Allerdings ist in der Managementliteratur eine wachsende Zahl von kritischen Stimmen auszumachen, die ihren Erfolg für Unternehmensstrategien bezweifeln (Hanft 2000: 124f). Bezogen auf hochschulische Leitbilder ist der Unterschied zwischen Bildungsinstitutionen und Wirtschaftsorganisationen zu bedenken. Die Übernahme von Leistungsstrukturen aus dem Wirtschaftsbereich wird kontrovers diskutiert (Mayntz 2002) und macht eine besonders reflektierte Anpassung des Managementinstruments an Hochschulen notwendig (Bülow-Schramm 2004).
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der Selbstbeschreibung die hochschulische Orientierung an veränderten Problemstellungen und Erwartungen einer globalisierten Welt dar. Als Innovation geht Internationalität zunächst in die strategische Ausrichtung der Hochschule, so z.B. in die Qualität von Forschung und Lehre über eine bestimmte Forschungs- und Lehrkultur ein.8 Gleichzeitig wird mit Internationalität ein bestimmtes Bild an die Öffentlichkeit suggeriert. Die Herausstellung der eigenen Leistungen wird zu einem immer wichtigeren Instrument der Werbung. Leitbilder haben insofern vor allem zwei Funktionen. Zum einen wenden sie sich als Führungsinstrument an die Organisationsmitglieder. Diese sollen das jeweilige Leitbild umsetzen, indem sie die Ziele und den Sinn der Organisation verstehen, sich mit diesen identifizierten und ihr Handeln danach ausrichten. Sie sind eine Art „Dauerauftrag“ an die Mitarbeiter und dienen der Durchsetzung von Strategien und Zielen sowie der Motivierung und Koordinierung von Mitarbeitern. Ausgehandelte Kontrakte zwischen der Leitung und den Mitgliedern machen den gewünschten Beitrag der Mitglieder zur Zielerfüllung der Organisation verbindlich. Vor allem für die Reformfreudigkeit der Hochschule stellen Leitbilder „eine zentrale Variable“ dar (Krücken 2004: 299). Weil Reformen im hohen Maße mit Instabilitäten behaftet sind, nehmen Leitbilder in organisationalen Reorganisationsprozessen eine Schlüsselstellung ein. Sie können die Erwartungen und Erwartungserwartungen von Akteuren bündeln und gemeinsame Wahrnehmungs-, Denk- und Entscheidungshorizonte eröffnen. Sie „motivieren zur Konkretisierung von Zukunftsvisionen und sie tragen zur Koordinierung des Handelns bei, indem sie Kooperations- und Kommunikationsbarrieren abbauen; (...) Sehr häufig ‚verkleiden‘ sich solche Leitbilder als (stilisierte) Geschichten. (...) Besonders beliebt sind solche Geschichten in der Form von Vorher-Nachher-Erzählungen. Das Engagement zur Bewältigung der aktuellen Herausforderungen speist sich aus einer Vision, die von einer dunklen Vergangenheit abhebt und damit allen Beteiligten signalisiert, auf dem richtigen Weg zu sein“ (Heidenreich/Töpsch 1998: 7f). Die Betroffenen sind im Rahmen von Reformen gefordert, das „So haben wir das immer gemacht“ zu verwerfen und neue Routinen zu erlernen. Da Umstrukturierungsprozesse auf Neuerungsängste und die Trägheit von Akteuren stoßen können, schaffen Leitbilder neue Verbindlichkeiten und stabilisieren Erwartungen. Sie tragen zur Reduktion von Unsicherheit und Komplexität (Drepper 2003) sowie zur Reduktion von Mehrdeutigkeiten (Weik 1985) bei, die mit allen Innovationen und Transformationen von Organisationen verbunden sind. Zum anderen haben Leitbilder eine wichtige Funktion für die Legitimierung von Organisationen nach außen bzw. für die Selbstdarstellung der Organisation. Sie beziehen sich in diesem Sinne vor allem auf die Dimension Image und sind ein zentrales Instrument der Werbung. Die Semantiken, mittels derer Hochschulen Selbstbeschreibungen erzeugen, nutzen wiederum symbolische Generalisierungen, die bereits vorhanden sind: „Die Selbstbeschreibung einer Organisation setzt demnach die Evolution einer Semantik für soziale Sachverhalte voraus, die dafür geeignete Generalisierungen immer schon zur Verfügung stellt. (...) Nur so 8 Hierfür sind Werte zentral, sie beeinflussen die Art und Weise der Erkenntnisproduktion, die Anerkennung von Wissen und die Anschauungen der Welt (Weingart 2003: 131). Werte beeinflussen ebenfalls die Lernkultur einer Hochschule, die Art der Veranstaltungen, Prüfungen und Wissensvermittlung. In diesem Sinne könnte man auch von bestimmten Praktiken der Wissensproduktion und Wissensvermittlung sprechen, die an Hochschulen in der jeweiligen Organisationskultur zu verorten sind und in die Internationalität als eine zentrale Orientierung eingeht.
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kann sie sich in der Gesellschaft verständlich machen. (...) Sie muss allgemeine Begriffe verwenden, die als solche eine eigene Geschichte haben. Das Besondere kann dann, versuchsweise, durch eine Kombination dieser Begriffe ausgedrückt werden“ (Kieserling 2005: 51). Für Hochschulen gilt, dass sie bei der Wahl ihres Leitbildes um Trivialisierung nicht herumkommen (Pasternack 2004: 44), wenn sie an die gesellschaftliche Kommunikation anknüpfen wollen. Denn die hochschulische Komplexität ist in einem Leitbild kaum abbildbar. Dieses soll kompakt und pointiert wesentliche Informationen transportieren. Um die Kommunikation klar und deutlich zu gestalten, bauen Leitbilder deshalb auf einigen wenigen prägnanten und einleuchtenden Ideen auf. Kieserling (2005: 75ff) hebt hervor, dass sich Organisationen zunehmend „in einer weichgespülten Sprache, in der gerade diejenigen Punkte wegretouchiert sind, in denen sie sich am deutlichsten von der Gesellschaft unterscheiden“. Es entsteht ein Bild, eine Art Zentralperspektive, in welchem einzelne Fachbereiche, Institute und andere Einrichtungen ihren Platz finden. Strategie und Symbolik des Hochschulleitbildes gehen Hand in Hand, denn ein Leitbild muss eine derart starke Ausstrahlungskraft haben, dass es als Handlungsanteilung den organisationalen Wandel stützt und den im Leitbild vorgezeichneten Weg bzw. die vorgenommene Positionierung in der Gesellschaft gegenüber anderen Optionen plausibel und Erfolg versprechend macht. Nur so kann in der Außenwahrnehmung die spezifische Kultur der Organisation sichtbar werden. Damit einigt man sich auf ein Image der Hochschule, das die Öffentlichkeit wahrnehmen soll. Prozesse der Imagebildung werden mit der zunehmenden öffentlichen Aufmerksamkeit bezüglich des Ertrags von Hochschulen immer wichtiger. Weingart (2003: 118) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass sich die Rolle der Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert grundlegend verändert hat: Der Gesellschaftsvertrag ist dahingehend neu gefasst, dass die Wissenschaft mit ihren zentralen Organisationen gegenüber der Öffentlichkeit Rechenschaft leisten muss. Zur geforderten Accountability treten Vertrauen und Glaubwürdigkeit der Organisationen. Die Inhalte der universitären Bemühungen um gesellschaftliche Akzeptanz können wiederum anders als in der medialen Berichterstattung in eigenständigen Werbemaßnahmen der Hochschulen selbst ausgewählt und gewichtet werden.9 Trotz der enormen Bedeutung von Leitbildern, ist bislang unerforscht, mit welchen Leitbildern sich deutsche Hochschulen profilieren, welche Muster sie zur Selbstbeschreibung verwenden bzw. und welche Strategien Hochschulen im Speziellen in Hinsicht auf die Herausforderungen der Globalisierung verfolgen, um im Wettbewerb „die Nase vorn zu haben“. Die folgende empirische Exploration soll hierfür Anhaltspunkte liefern.
9 Luhmann (1996) macht darauf aufmerksam, dass die Medienberichterstattung keine realitätsgetreue Abbildung der Welt liefert, sondern dass die Medien entlang eigener Kriterien zur Konstitution der Gesellschaft beitragen.
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3. Empirische Exploration von Hochschulleitbildern 3.1 Design der Studie Die vorliegende Studie basiert auf einer computergenerierten Zufallsauswahl von hochschulischen Homepages. Es handelt sich dabei um eine disproportionale Stichprobe von je 50 Universitäten und Fachhochschulen aller in Deutschland existierenden Hochschulen. Auf Grund der geringen Fallzahlen (n=100) hat die Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität, vielmehr handelt es sich um eine empirische Exploration. Die Analyseeinheit ist das jeweilige Hochschulleitbild, welches auf der Homepage vorgestellt wird. Untersucht werden insofern ausschließlich diejenigen Hochschulleitbilder, die sich auf den Homepages der Hochschulen befinden. Denn erst durch die Veröffentlichung des Hochschulleitbildes auf der eigenen Homepage wird über den hochschulinternen Diskussionsprozess hinaus ein Image nach außen getragen, welches für Jeden zugänglich ist. Die Leitbilder wurden mittels einer Inhaltsanalyse erfasst, auf der semantisch-semantischen Ebene wurde die Themenanalyse verfolgt. Die strukturierte Themenanalyse basiert auf einem abstrakten Klassifikationsschema, hierfür wurde ein Kodierbuch mit ergänzenden Kategorien entwickelt, das für jede Variable vorgegebene Kodes und Anweisungen enthält, nach denen verschlüsselt wird.10 Ergänzend wurden die Hochschulleitbilder einer interpretativ-sinnverstehenden Themenanalyse unterzogen, um wichtige Hinweise auf latente Strukturen zu erhalten. Durch das qualitative Vorgehen können Facetten von Leitbildern herausgefiltert werden, die im Kodierbuch möglicherweise nicht aufgenommen waren. So gebildete neue Merkmalsdimensionen konnten wiederum quantitativ ausgewertet werden.11 Zentral für die Analyse ist die Konstruktion von Idealtypen. Um das empirische Material zu verdichten, wurden im Sinne von Max Weber (1904) Idealtypen der kommunikativen Selbstreflexion der Gesamtorganisation gebildet. Bei den identifizierten Hochschulleitbildern handelt es sich somit um Abstraktionen der empirisch vorfindbaren organisationalen Semantiken. Die Abstrahierung des Datenmaterials zu Typen erfolgte zunächst intuitiv. Durch anschließende Substruktion wurde der ihnen zu Grunde liegende Merkmalsraum rekonstruiert (vgl. Kluge 1999: 104ff). Idealtypen ermöglichen es, kulturelle Schemen, die sehr komplex sind, zu veranschaulichen, sie sind verdichtete Ausdrucksmittel. Im Folgenden werden, mit Blick auf die einleitend formulierten Fragen, ausgewählte Befunde zu den Hochschulleitbildern vorgestellt.
10 Um ein möglichst valides Erhebungsinstruments zu entwickeln, wurden aus dem Datenmaterial sukzessiv Kategorien ergänzt. Ein Pretest, der mit Hilfe einer zweiten Stichprobe das Kategoriensystem auf Konsistenz und Vollständigkeit prüfte, diente zur Modifizierung und Optimierung des Erhebungsinstruments. Mittels der TestRetest-Methode konnte eine sehr hohe Übereinstimmung der Reliabilität festgestellt werden. 11 Zur Inhaltsanalyse vgl. Merten (1995).
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3.2 Hochschulleitbilder zwischen globalen Trends und regionalen Traditionen Insgesamt 46% der untersuchten Universitäten und 44% der Fachhochschulen stellen auf ihrer Homepage einen Link zum Leitbild der gesamten Hochschule vor. Dies deckt sich ungefähr mit den Befunden von HIS (Hochschul-Informations-System GmbH)12. Manche Hochschulen sind vorbildlich, indem sie mit ihrem Leitbild gleich auf der Hauptseite der Homepage werben. Bei anderen erfordert es wiederum einen längeren Suchprozess, um das Hochschulleitbild zu finden. Das heißt jedoch keineswegs, dass die anderen Hochschulen über kein Leitbild verfügen. Möglicherweise haben sie es nur versäumt, dieses nach außen transparent zu machen. Viele Hochschulen haben überdies kein einheitliches Leitbild, können aber auf die Leitbilder einzelner Institute, Fachbereiche oder der Verwaltung verweisen.13 Schon bei der ersten Durchsicht des empirischen Materials wird deutlich, dass Hochschulen nicht nur einen einzigen Themenvorrat wählen, vielmehr besteht ein Hochschulleitbild immer aus einem Bündel verschiedener Selbstthematisierungen, Ideen und Visionen. Dies ist auch nicht weiter verwunderlich, da Organisationen ganze Zielbündel verfolgen, die als Konkretisierungsformen von Sinn zu verstehen sind (Luhmann 2000). In einem ersten Zugriff zum Hochschulleitbild wird eine Entscheidung darüber getroffen, ob sich die Hochschule eher als eine Forschungsorganisation oder Bildungsstätte profilieren will, einige Wenige erachten beide Aufgaben als gleichwertig. Als Forschungsorganisation bezeichnen sich insgesamt 62,2% der Hochschulen, konkret 95,7% aller Universitäten und immerhin noch 27,3% aller Fachhochschulen, die mit einem Leitbild auf ihrer Homepage werben. Diese Hochschulen sehen sich nach wie vor als „einer der wichtigsten Orte der gesellschaftlichen Reflexion“, sie begreifen sich als „Ort und Institution wissenschaftlichen Austausches“ oder etwa als „Forum der Wissenschaft“. Es mangelt den Hochschulen kaum an Metaphern, um sich als Forschungsorganisation zu stilisieren, die Sprache ist vom „geistigen Kraftfeld“, „Forschung als Lebensnerv der Universität“ oder von Forschung „an der Grenze des Wissens“. Nicht selten ist von einer „Pionierrolle“ oder von einem „exzellenten Forschungsklima“ die Rede. Mit dieser Selbstthematisierung wird der Kernfunktion der Forschung eindeutig Vorrang eingeräumt. Die Ausbildungsfunktion wird im Rahmen eines forschungsbasierten Studiums wahrgenommen, was heißt, dass die „Übertragung aktueller Forschungsergebnisse in die Lehre“ oberste Priorität hat und die Studierenden „systematisch an den jeweiligen Stand der Wissenschaft herangeführt“ werden. Das forschungsnahe Studium wird als klarer Vorteil der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt gesehen, es sei der „Königsweg zur Qualifikation wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Eliten“. Dass Hochschulen dabei allerdings über ihr Ziel hinausschießen können, wird deutlich, wenn bereits für den Bachelor Forschungsorientierung reklamiert wird. Während Hochschulen, die sich als Forschungsorganisation verstehen, Lehre als etwas 12 Siehe www.his.de. 13 Einige wenige haben bereits einen Link zu ihrem Leitbild angelegt, welcher auf „work in progress“ hinweist. Eine Hochschule hat selbstkritisch eine rege Diskussion auf ihrer Homepage publiziert, in der es um die Frage geht, ob eine Hochschule ein Leitbild braucht. Sie stellt die Leitbildkonzepte einiger ausgewählter Hochschulen vor, beleuchtet die Funktion von Leitbildern und bewertet das Fehlen des eigenen Leitbildes bzw. einer Leitbilddiskussion als Defizit.
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„Zweitrangiges“ ansehen, stellt die Selbstbeschreibung der Hochschule als Bildungsstätte die Lehre in den Vordergrund. Insgesamt 60% der Hochschulen (30,4% der Universitäten und 90,9% der Fachhochschulen), die ein Leitbild auf ihrer Homepage vorstellen, heben primär ihren gesellschaftlichen Bildungsauftrag hervor. Das Ziel dieser Hochschulen ist „eine hohe Qualität“ der zumeist „praxisorientierten Lehre“ mit „vielseitigem und differenziertem Lehrangebot auf höchstmöglichem Niveau“, wobei diese an den „Grundsätzen einer wissensbasierten Gesellschaft“ ausgerichtet ist. Die „Exzellenz von Lehre und Studium“ bedarf wiederum der „ständigen Orientierung an den Erkenntnissen der Wissenschaft“. Dennoch stehen im Mittelpunkt der hochschulischen Arbeit nicht die Forschungsleistungen, sondern die Studierenden.14 Allerdings kann das Projekt „innovative Lehrmethoden“ nur gelingen, wenn „das Prestige der Lehre wächst“.15 Als Transfereinrichtung stellen sich 77,8% aller Hochschulen vor, die mit einem Leitbild auf ihrer Homepage werben. Bei Fachhochschulen ist diese Selbstthematisierung etwas öfter vorzufinden (86,4%) als bei Universitäten (69,6%). Herausgestellt wird vor allem die eigene Leistung für die Gesellschaft, die zunächst als „Wissenstransfer in Wirtschaft und Gesellschaft“16 näher spezifiziert wird: In der Forschung wird aktuelles, dynamisches Wissen gewonnen, welches die Hochschule der Gesellschaft „in Form von Nachwuchs, Publikationen, Patenten, Studien, Projekten oder auch Produkten“ zur Verfügung stellt. Während sich der Transfer von Wissen, Technologie und Innovation weitgehend auf die Diffusion von Forschung bezieht, legitimieren sich andere Hochschulen über die Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis. In diesem „gesellschaftlichen Auftrag“ verabschieden sich Hochschulen vom „Elfenbeinturm“ und zielen auf „konkrete Probleme der Gesellschaft und deren Zukunftssicherung“, um „am wirtschaftlichen, technischen, sozialen und kulturellen Fortschritt und an der Zukunft des Einzelnen und der Gesellschaft“ mitzuwirken. Teil eines solchen Wissenschaftsverständnisses sind „kontinuierliche Praxiskontakte und gesellschaftliche Integration“, deshalb seien „Lehraufträge für Praktiker, Forschungskooperationen mit Unternehmen, Berufspraktika und Praxissemester für Studierende“ besonders wichtig. Ihre weitere zentrale Leistung sehen Hochschulen in der Versorgung der Wirtschaft mit qualifiziertem Personal. Hierfür sei es notwendig, über die wissenschaftliche Befähigung hinaus Berufsbefähigung vermitteln. Mancherorts ist sogar nicht mehr vom Studium, sondern von einer „erstklassigen Berufsausbildung“ die Rede, es handelt sich dabei um die „Orientierung der studentischen Ausbildung an den Anforde-
14 Universitäten verstehen sich kaum als „Dienstleister, die sich vorrangig den Studierenden, Absolventinnen und Absolventen verpflichtet fühlen“. Lediglich an Fachhochschulen gibt es eine Tendenz zur persönlichen Betreuung. 15 Zu den innovativen Lehrmethoden zählen „Interdisziplinarität“, „Projektarbeit, Multimedia-Einsatz, computergestützte Lernprogramme, Online-Betreuung und breiter Zugang der Studierenden zu Fachliteratur und Internet“. 16 Ein Beispiel für eine ausgeprägte gesellschaftliche Verortung ist die TU Berlin: „Neben ihren Aufgaben in Bildung und Forschung fühlt sich die TU Berlin verpflichtet, ihr Wissen und ihre Kompetenz als Dienstleisterin für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zur Verfügung zu stellen. Dies erfolgt beispielsweise in Form von Publikationen, Patenten oder als systematisch aufbereitetes Bildungsangebot. Auf diese Weise etabliert sich die TU Berlin selbst als eine Agentur zur Technologie- und Politikberatung (…). Die TU Berlin ist mit ihren vielen Disziplinen und der daraus resultierenden Schichtenvielfalt hervorragend geeignet solche Beratungsangebote in neutraler und kompetenter Stellung durchzuführen“.
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rungen der Praxis“. Welche Kernkompetenzen vermittelt werden sollen, wird zumeist ausführlich aufgelistet17, die Studierenden sollen systematisch darauf vorbereitet werden, „die gesellschaftlich und wirtschaftlich relevanten Problemstellungen zu erkennen und zu analysieren, anderen zu vermitteln und zu ihrer Lösung beizutragen“. Allerdings müssten die hochschulischen Leistungen für die Öffentlichkeit transparent gemacht werden. Nicht nur die Medien spielen hierbei eine gewichtige Rolle, auch die Mitglieder der Hochschule sind aufgefordert, sich „ihrer Rolle als Repräsentanten ihres Faches, ihres Fachbereiches und der Hochschule als Institution“ bewusst zu sein und sich als „verantwortliche Botschafter ihrer Einrichtung in der Region und in der scientific community“ zu verstehen. Damit sind die Mitglieder der Hochschule aufgefordert, der Öffentlichkeit die soziale Fassade zu zeigen (Goffman 1997: 28), die im Leitbild aufgebaut wird. Auf das Modell der Unternehmerischen Hochschule berufen sich insgesamt 40,0% der Hochschulen (52,2% der Universitäten und 27,3% der Fachhochschulen), die auf ihrer Homepage ein Leitbild vorstellen. Als „Leitbild der Universitätskultur“ stellt die Unternehmerische Hochschule ein zentrales Element von Selbststeuerung dar und erfordert verstärkt „moderne Führungsstrukturen“ bzw. „unternehmerisches Handeln und Denken“. Wettbewerb erfordere eben „starke Wissenschaftsorganisationen mit ausgeprägter Fähigkeit zur Selbstorganisation“. Einige Hochschulen verstehen sich konkret als „lernende Institution, die ihre Arbeitsstrukturen kontinuierlich verbessert und neue Managementformen erprobt“, zeitgleich ihre „Leistungen ständig kritisch überprüfen und verbessern“ will. Viele Hochschulen haben erkannt, dass ein gutes Hochschulmanagement nicht durch Zufall entsteht, sondern die „fachliche Weiterqualifizierung in Form selbstständiger Forschungstätigkeiten (…) durch eine Professionalisierung auf den Gebieten der Didaktik und des Wissenschaftsmanagements ergänzt“ werden muss. Tenor ist, dass die „kontinuierliche Personalentwicklung“, die vor allem die „Selbstmotivation als Verhaltensregulativ“ stärkt, besonders leistungssteigernd ist. Als Global Player beschreiben sich fast alle Hochschulen (88,9%), die auf ihrer Homepage mit einem Leitbild werben. Davon sind 90,9% Fachhochschulen und 87,0% Universitäten. In der Internationalisierung sehen Hochschulen die Chance, eine „unverwechselbare Identität in allen Bereichen“ zu festigen und sich im globalen Wettbewerb zu positionieren. Das Ziel ist, „international zu den Besten“ zu gehören bzw. sich als ein „international attraktiver Forschungs- und Studienstandort“ auszuweisen, indem man die „internationalen Forschungsstrukturen und -programme in ihrer Vielfalt“ noch mehr nutzt und sich „am internationalen Standard der Ausbildungsangebote und -inhalte“ misst. Verschiedene Slogans dienen dabei der semantischen Unterstützung dieser 17 Zumeist handelt es sich dabei um „soziale Kompetenzen, Wertorientierungen, methodische Fähigkeiten und umfassende Informationskompetenz“. Das Lehrangebot fördert „Kommunikations- und Kritikfähigkeit“, „Team – und Führungsfähigkeit“. Auch „Gesprächsfähigkeit“, die Entwicklung von Persönlichkeiten und die Fähigkeit sowie Bereitschaft zum lebenslangen Lernen werden als Schlüsselkompetenzen erachtet. Vor allem „Interdisziplinarität“ sei eine wichtige „Orientierungskompetenz“, die „Einsichten und fachliche Kapazitäten“ schaffe. D.h. in den Erwartungen an die akademische Berufsbefähigung spielen immer mehr Kompetenzen eine Rolle, die „nicht allein auf disziplinärem Wissen, sondern auf interdisziplinärer Kommunikation, Team-arbeit, Management komplexer Aufgaben und die Fähigkeit zur Expertise beruhen. Durch Einrichtung von interdisziplinär angelegten Studiengängen und Zusatzqualifikationen sowie die Beteiligung von Studierenden an interdisziplinären Forschungsbereichen und Projekten können diese Qualifikationen erworben werden“ (Universität Bielefeld).
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Botschaft: Die Funktion der Hochschule wird in der „Mehrung des Wissens und der Vermittlung von Wissen weltweit“ beschrieben, andere sehen sich als „weltoffene Universität mit Raum zum Forschen, Denken, Gestalten“. Gesellschaftliche Veränderungen sind der Motor dieser Entwicklung: „Als Folge der Globalisierung wesentlicher gesellschaftlicher Systeme ist die Internationalisierung von Wissen, Wissenschaft und Ausbildung in jüngster Zeit erheblich erweitert worden. Universitäre Lehre und universitäre Nachwuchsförderung müssen in Zukunft stärker als bisher internationalisiert werden“. Hierzu sei es besonders wichtig, den internationalen Austausch von Studierenden und Wissenschaftlern zu fördern, aber auch, sich zur Erklärung von Bologna zu bekennen, die auf einen europäischen Hochschulraum zielt.18 Doch nicht nur globale Trends, auch regionale Traditionen spielen in Hochschulleitbildern eine Rolle. 44,4% der Hochschulen (56,5% der Universitäten und 31,8% der Fachhochschulen 31,8%), die ein Leitbild auf ihrer Homepage vorstellen, beschreiben sich als eine Traditionseinrichtung. Der einfachste Beleg hierfür ist die Berufung auf die eigene Geschichte, so z.B. die Selbstthematisierung als eine „der ältesten europäischen Stätten der Forschung und Lehre“.19 Geworben wird aber auch mit dem Renommee: Es wird ins positive Licht gestellt, „wichtige Impulse für die Entwicklung der Wissenschaften“ geliefert oder „zahlreiche Persönlichkeiten von Weltruf“ hervorgebracht zu haben. Werte spielen eine nicht geringere Rolle für die Stilisierung von Tradition. Genannt werden z.B. Werte wie das „Erbe der Aufklärung und selbstbewusstem Engagement (…) In dieser Tradition sind wir dem Leitbild eines freien, autonomen, durch Leistung legitimierten und gesellschaftlich verantwortlichen Individuums im demokratischen, sozialen Rechtstaat verpflichtet“. Auch die Berufung auf die Tradition des Namensgebers findet sich häufig. Hierauf können natürlich nicht diejenigen Hochschulen rekurrieren, die den Namen des Ortes oder der Region tragen.
18 In der Bologna-Deklaration im Jahr 1999 ist das zentrale Ziel die Schaffung eines europäischen Qualifikationsrahmens. Hierzu gehören die Schaffung eines Systems vergleichbarer, zweistufiger Abschlüsse, die Herstellung von Kompatibilität der Qualifikationen mit globalen Standards und die Einführung des European Credit Transfer Systems (ECTS), das die Anerkennung von Modulen innerhalb von Europa gewährleistet und internationale Mobilität fördert. Die Beseitigung von Mobilitätshemmnissen und die europäische Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung flankieren diese Zielvorstellungen. Zentral ist, dass mit dem Bologna-Prozess drei Ziele verfolgt werden: Die Förderung internationaler Mobilität, internationaler Wettbewerbsfähigkeit und (internationaler) Beschäftigungsfähigkeit (employability). 19 Eine Hochschule beleuchtet ihre Geschichte sehr kritisch im „Bewusstsein ihrer schuldhaften Verstrickung in die Politik. In ihrer Geschichte finden sich Obrigkeitshörigkeit, ständischer Dünkel, politischer Wahn sowie menschenverachtende Lehre und Forschung. Zu ihren dunkelsten Kapiteln gehören Bücherverbrennungen und die Beteiligung an der Verfolgung und Vertreibung ihrer Mitglieder (…)“. Vor diesem Hintergrund fiel die Entscheidung gegen politische und gesellschaftliche Macht, vor allem „gegen jede Form von Diskriminierung, Intoleranz und kultureller Selbstüberhöhung“ (Humboldt-Universität Berlin).
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Folgende Tabelle (Tab.1) enthält die Mehrfachnennungen der Selbstthematisierungen im Überblick. Selbstthematisierung der Hochschule als…. Forschungsorganisation Bildungsstätte Transfereinrichtung Unternehmen Global Player Traditionseinrichtung
Alle Hochschulen
Universitäten
Fachhochschulen
62,2 60 77,8 40,0 88,9 44,4
95,7 30,4 69,6 52,2 87,0 56,5
27,3 90,9 86,4 27,3 90,9 31,8
Tab 1.: Selbstthematisierungen in Prozent (%), Mehrfachnennungen
Zunächst mutet der hohe Anteil an Fachhochschulen, die sich als Forschungsorganisation stilisieren, etwas eigentümlich an. Schließlich sind sie im tertiären Bildungssystem primär als Ausbildungsstätten angelegt. In jedem dritten fachhochschulischen Leitbild ist die ursprüngliche funktionale Differenzierung zwischen Universitäten als Forschungs-/Lehrorganisation und Fachhochschulen als Ausbildungsstätte aufgeweicht. Überhaupt ist bemerkenswert, dass auch bei allen anderen Selbstthematisierungen keine gravierenden Differenzen zwischen Universitäts- und Fachhochschulleitbildern festgestellt werden können. Hier ist auf der Ebene der organisationalen Selbstbeschreibung eine Tendenz zur Entdifferenzierung zwischen beiden Hochschultypen feststellbar. Des Weiteren kann ersehen werden, dass Globalität und Tradition bei der Leitbildformulierung Hand in Hand gehen. Hochschulen sind insofern keine ausschließlich globalen Organisationen, vielmehr sind sie in erster Linie in lokale Kontexte eingebunden. Meist tragen sie den Namen ihrer Stadt, haben enge regionale Kooperationen und sind für die regionale Wirtschaft von enormer Bedeutung. Es scheint geradezu ein Kennzeichen einer erfolgreichen Hochschule zu sein, dass sie in lokalen und globalen Kontexten gleichsam souverän agiert bzw. „als eine bifokale Institution, die hinsichtlich ihrer beiden wichtigsten Bezugspunkte als lokal und zugleich als global zu verstehen ist, sich erneut als eine spezifisch moderne Institution erweisen könnte, die sich den Umweltbedingungen der Weltgesellschaft anzupassen imstande ist“ (Stichweh 2001: 349). Dieser Prozess kann als Glokalisierung (Robertson 1998) bezeichnet werden. Globale Trends werden von Hochschulen nicht unreflektiert und unangepasst übernommen, vielmehr treffen globale Mechanismen auf regionale und organisationale Traditionen.20 Allerdings können trotz der hochschulischen Praxis zur Adaption und Variation globaler Trends (Krücken u. a. 2007) aus dem vorliegenden empirischen Material zentrale Mechanismen identifiziert werden, die auf der Ebene der hochschulischen Strategieformulierung Globalität forcieren sollen. Diese Mechanismen erweisen sich als erstaunlich konvergent.
20 Eine interessante Strategie, um Internationalität zu demonstrieren, ist z.B. die Verknüpfung von Lokalem und Globalem, indem der hohe Ausländeranteil oder die Internationalität der Stadt als „kreatives Potential“ erwähnt werden: Herausgestellt werden die anregende Umgebung eines „lokalen und internationalen Milieus“ oder das „internationale Gravitationszentrum“ der Stadt, die als „Anregung und Herausforderung zugleich“ dienen.
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3.3 Konvergenz globaler Mechanismen Aus dem empirischen Material kristallisieren sich vier strategische Mechanismen heraus, mit denen Hochschulen den globalen Herausforderungen (zukünftig) begegnen. Der erste Mechanismus betrifft die Ausrichtung auf den internationalen Forschungswettbewerb, der innerhalb des Systems der Wissenschaft ausgetragen wird. Hochschulen wollen vor allem mit zwei Wettbewerbsstrategien ihr Vorsprungswissen behaupten: Zum einen soll eine ausgeprägte internationale Orientierung, zum anderen die „Inter-„ oder auch „Transdisziplinarität“ die hochschulische Forschung auf ein höheres Niveau bringen. Durch die „Vernetzung von Forschungsgebieten innerhalb der Hochschule und darüber hinaus“ erhofft man sich neue „Synergieeffekte“ in der Forschung. Internationalität und Interdisziplinarität sind dermaßen präsente Strategien, dass sie in nahezu jeder Selbstthematisierung als Forschungsorganisation vorkommen. Sie werden als eine Innovation betrachtet, mittels derer Hochschulen sich im internationalen Wettbewerb behaupten können. Der zweite Mechanismus, mit dem Hochschulen auf globale Herausforderungen reagieren, wird hier als enge Kopplung zur Gesellschaft begriffen.21 Diese hat für Hochschulen vor allem eine legitimierende Funktion. In Hochschulleitbildern werden die eigenen Leistungen für die Gesellschaft herausgestellt, wobei die globale Orientierung der Hochschule eine zentrale Rolle als Legitimationsquelle einnimmt. Insbesondere diejenigen Hochschulen, die sich als Transfereinrichtung stilisieren, pflegen Partnerschaftskontakte und Kooperationen zur Wirtschaft bzw. zu Unternehmen im Ausland. Auch verstehen sich Hochschulen zunehmend als „Lieferanten“ für international einsetzbares Personal. Der Trend geht zu Ausbildungsprogrammen, die für „globale Arbeitsmärkte“ qualifizieren. Diese stellen die Herausforderung der Zukunft dar, deshalb müssten „Absolventen für internationale Tätigkeiten und Kooperationen“ bzw. „internationale Berufsfelder“ entsprechend qualifiziert werden. „Interkulturelle Kompetenzen“ gelten hierbei als generelle Handlungskompetenz: „Tiefergehende Kenntnisse anderer Sprachen und Kulturen befähigen unsere Studierende und Absolventen, in globalisierenden Märkten angemessen und verantwortungsvoll zu handeln und in einer immer komplexeren Arbeitswelt gegenwärtige und zukünftige Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen“. Nur so könne das Profil der Absolventen im internationalen Wettbewerb geschärft und deren Zukunftschancen verbessert werden. Besonderes Potential wird dabei in „weltweit operierenden Bildungsorganisationen“ gesehen. In der Selbstthematisierung als Unternehmerische Hochschule wird ein dritter Mechanismus sichtbar, der ebenfalls auf die gesellschaftliche Legitimation zielt. Dieser Mechanismus wird als Selektion eines angepassten Modells der Organisation an die gesellschaftlichen Er-
21 Weingart (2001) beobachtet, dass zwischen den einzelnen Funktionssystemen Wissenschaft, Ökonomie, Politik und Medien enge Kopplungen entstehen. Insbesondere Organisationen sind an der Interdependenzherstellung gesellschaftlicher Teilsysteme beteiligt und wirken daran mit, dass trotz operativer Geschlossenheit autonomer Teilsysteme Zusammenhänge zwischen Teilsystemen möglich werden (Drepper 2003: 238). Aus dem Datenmaterial geht hervor, dass Hochschulen in ihren Strategieformulierungen engen Kopplungen eine zentrale Bedeutung beimessen, allerdings sind diese im Besonderen auf die Wirtschaft und Gesellschaft bezogen. Darüber hinaus wird an vielen Hochschulen die Rolle der Medien für die öffentliche Legitimation von Hochschulen erkannt.
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wartungen interpretiert. Hierdurch erhoffen sich Hochschulen neue Ressourcen, eine „steigende“ und „professionalisierte Einwerbungen von Drittmitteln“ und ein weitaus höheres „Hochschulsponsoring“. Gesellschaftliche Legitimation wollen die Hochschulen vor allem durch die „Wirtschaftlichkeit des Handelns“ steigern, die in letzter Zeit in den Fokus der Kritik geraten ist. Das Ziel ist, die „Effektivität“ und „Effizienz“ der Hochschulaufgaben zu fördern, die der Hochschule „zur Verfügung gestellten Ressourcen zielorientiert einzusetzen, damit wirtschaftlich umzugehen und über die Verwendung der Mittel und das Erreichte Rechenschaft abzulegen“. Hierdurch stilisieren sich Hochschulen als verantwortliche Organisation, die mit den ihr zur Verfügung gestellten Mitteln verantwortlich umzugehen weiß. Die „leistungs- und belastungsbezogene Vergabe von Mitteln und Stellen“ wird wiederum mit Hilfe des „Aufbaus eines Controllingsystems transparent gemacht“. Nur in wenigen Leitbildern fehlt zudem der Bezug auf das hochschulische Qualitätsmanagement, auch wenn dieses zumeist nicht weiter spezifiziert wird. Der vierte Mechanismus der Globalisierung wird als Inklusion22 identifiziert. Es sei besonders wichtig, qualifizierte ausländische Studierende sowie Doktoranden „gezielt“ anzuwerben. Hochschulen werben damit, dass ihre Angebote Studierenden auf der ganzen Welt offen stehen, indem ihnen der Einstieg in die deutsche Sprache erleichtert wird. Andere akzeptieren vermehrt Abschlussarbeiten in gängigen Fremdsprachen und bieten ganze Studiengänge bilingual oder in einer Fremdsprache an. Herausgestellt werden zudem internationale Kooperationsbeziehungen zu diversen ausländischen Universitäten bzw. Bildungseinrichtungen, wobei internationale Kontakte ausgebaut und Partnerschaften auf der „Universität-, Fachbereichs-, und Institutsebene“ forciert werden sollen. Die meisten Hochschulen wollen dabei nur mit „führenden ausländischen Universitäten und wissenschaftlichen Institutionen“ zusammenarbeiten. Doch nicht nur die Mobilität der Studierenden ist ein Thema, auch die Mobilitätsbereitschaft von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wird als ein wesentliches Merkmal von Internationalität thematisiert. Gleichwohl wird dieser Austausch individualisiert, d.h. es hängt von den Mitgliedern der Hochschule ab, ob sie regional mobil werden. Es wird festgehalten, dass die in Leitbildern empirisch vorfindbaren globalen Mechanismen konvergent sind. Diese scheinen ein standardisiertes Instrumentarium zu sein, um die Internationalität der Hochschule auf der Ebene der Selbstbeschreibung zu fördern. Die Thematisierungen des Identitätskerns und der Strategien zur Globalisierung der Hochschule unterscheiden sich kaum. Möglicherweise spiegelt sich in Leitbildern, wie Hanft (2000) es formuliert, nur der Minimalkonsens wider. Für wahrscheinlicher halte ich allerdings, dass ähnliche symbolische und strategische Muster der hochschulischen Selbstbeschreibung diffundieren. Dieses Ergebnis geht mit den institutionalistisch orientierten empirischen Forschungen konform, die als Resultat von Globalisierungsprozessen Diffusionen institutioneller Muster bzw. institutionellen Isomorphismus nachweisen können (Powell/DiMaggio 1991). Allerdings ist nicht zwangsläufig, dass die Konvergenz von Hochschulleitbildern mit dem
22 Inklusion bedeutet den Einschluss in ein System. Prinzipiell hat jeder die gleichen Teilnahmemöglichkeiten an Sozialsystemen, allerdings können spezifisch ungleiche Teilnahmechancen diese begrenzen. Exklusion wird deshalb immer mitgeführt und ist in der modernen Gesellschaft ein Normalfall (Luhmann 1997).
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Isomorphismus der hochschulischen Strukturentwicklungen korreliert.23 Empirisch konnte vielfach nachgewiesen werden, dass die Selbstbeschreibung und die tatsächlichen Strukturen der Organisation auseinander gehen. Damit wird nicht nur unterstellt, dass Organisationen unter einem gesellschaftlichen Integrationswunsch stehen und semantische Formeln nutzen, die gesellschaftlich akzeptiert sind, sondern dass die Untersuchung dieser semantischen Muster kaum Auskunft über organisationale Systemstrukturen gibt (vgl. Hasse/Krücken 1999).
3.4 Thesen zur semantischen Überstilisierung von Globalität Wenn die Selbstbeschreibungen und tatsächlichen Strukturen von Hochschulen auseinander gehen können, würde dies bedeuten, dass die empirisch identifizierten Mechanismen, mit denen Hochschulen den globalen Herausforderungen begegnen, semantisch überstilisiert sein können. Es würde sich dann zwar durchaus um tatsächliche strategische Zielformulierungen der Hochschulen handeln, mehr aber noch um eine Imagepflege, mit der sich die entsprechenden Hochschulen in ein positives gesellschaftliches Licht rücken. Im Folgenden werden deshalb unter Berücksichtigung weiterer Forschungsergebnisse die einzelnen Mechanismen daraufhin geprüft, ob sie Thesen bezüglich ihrer Überstilisierung erlauben. Zunächst wird die in Hochschulleitbildern thematisierte Selbstpositionierung im internationalen Forschungswettbewerb genauer betrachtet. Ein internationaler Forschungsvorsprung soll in den meisten Strategieformulierungen vor allem über eine internationale und interdisziplinäre Orientierung der Forschung erreicht werden. In Hinsicht auf die Internationalität der Forschung muss aber festgehalten werden, dass Globalität eine Eigenschaft ist, die Hochschulen seit mehreren Jahrhunderten zugeschrieben wird, weil die Wissenschaft in ihrer Grunddefinition international angelegt ist. Bereits im frühen vierzehnten Jahrhundert werden Hochschulen als transnationale Organisationen aufgefasst (Stichweh 2001), schließlich ist das in Hochschulen produzierte Wissen universell, d.h. es unterliegt keinen Raum- und Zeitgrenzen: „Globalität meint im Einzelnen dann räumliche Ubiquität, strukturelle Vernetzungen, die weltweit Verknüpfungen schaffen und eine im Weltmaßstab funktionierende wechselseitige Beobachtung der räumlich verteilten Orte wissenschaftlicher Produktion. Globalität bedeutet weiterhin die Konkurrenzlosigkeit des Systems der Weltwissenschaft“ (Stichweh 2005: 182). Wenn Wissen kodifiziert ist, das heißt publiziert und in der Forschungsgemeinschaft etabliert, ist es prinzipiell jedem Wissenschaftler und jeder Wissenschaftlerin auf der ganzen Welt zugänglich, auch wenn sich empirisch leicht zeigen lassen wird, dass Vieles immer noch in nationaler Sprache und in nationalen Verbreitungsmedien publiziert wird. Während die Beschreibung verschiedener moderner Funktionssysteme als global durchaus umstritten ist, gilt dies nicht für das Wissenschaftssystem. Der Sachverhalt, dass die Wissenschaft per definitionem international ist, wird deshalb als trivial bezeichnet (Ders.: 179). 23 Krücken (2004: 287ff) weist daraufhin, dass sich die institutionelle Isomorphie (Strukturangleichungsprozesse) von organisationalen Feldern, hierzu zählen die zu untersuchenden Hochschulen und relevante Organisationsumwelten wie z.B. die nicht-staatliche Instanz der Hochschulrektorenkonferenz, durch Zwang, normativen Druck oder Mimese, d.h. das Beobachten und Kopieren von anderorts eingesetzten Problemlösungsmustern, vollzieht. In seiner empirischen Analyse der Einführung konsekutiver Studiengänge konnte er zeigen, dass Hochschulen vor allem durch mimetisches Verhalten Innovationen einführen.
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Umgekehrt verhält es sich mit der interdisziplinären Orientierung der Forschung. Zwar beobachten Gibbons u. a. (1984) empirisch, dass sich neben den wissensbasierten Industrien Wissensindustrien entwickeln, die die landläufige an Disziplinen orientierte Wissensproduktion nun auf Modi der Trans-, Multi- oder Interdisziplinarität umstellen, allerdings bezeichnet Weingart (1997) dies als eine verselbstständigte Semantik, der kaum forschendes Handeln folgt. Interdisziplinarität gilt in der Wissenschaft als Innovation, tatsächlich jedoch findet eine weitergehende Spezialisierung der Wissenschaften statt, denn nur diese wird als Voraussetzung für die Generierung neuen Wissens befunden. Zwar sollen interdisziplinäre Projekte vermehrt gefördert werden, bei näherem Hinsehen erweisen sich diese aber oftmals als lose Kopplung verschiedener Disziplinen. Es scheint ein schwieriges Unterfangen zu sein, interdisziplinäre Fragestellungen zu entwickeln, zumal sich hiernach das Problem stellt, mit welchen Forschungsmethoden diese wissenschaftlich überprüft werden sollen. Nicht nur die Selbstthematisierung als internationale Forschungsorganisation wird deshalb als eine semantische Übersteigerung gewertet, schließlich wird kaum spezifiziert, was über die bereits im Wissenschaftssystem verankere Internationalität als hochschulische Strategie der Internationalisierung definiert wird, sondern auch die interdisziplinäre Ausrichtung der Forschung, schließlich gehen grade hier Semantik und Forschungspraxis weit auseinander. Die semantische Übersteigerung der eigenen Positionierung im Forschungswettbewerb wird nicht zuletzt anhand des hochschulischen Wunsches nach Dominanz sichtbar: Die Beanspruchung einer wissenschaftlichen Führungsrolle wird in der Äußerung von Zielen wie „eine international überzeugende Spitzenforschung und die damit verbundene Nachwuchsförderung“, die Gewinnung von den „Besten“, „Spitzenforscherinnen“ und „Spitzenforscher“, die „Spitzenleistungen“ erbringen. Konkurrieren möchte man „auf ausgewählten Forschungsfeldern mit den weltbesten Universitäten und Forschungseinrichtungen“. Betrachtet man des Weiteren die hochschulische Herausstellung von engen Kopplungen in die Gesellschaft etwas genauer, kann man zumindest in einem Punkt von der semantischen Überstilisierung der Leistungen, die die Hochschule für die Gesellschaft erbringt, ausgehen. Die Beschäftigungsfähigkeit (employability) der angebotenen Studiengänge ist daraufhin zu hinterfragen, ob sie den tatsächlichen Anforderungen des Arbeitsmarktes entspricht. Denn mit der Orientierung auf internationale Kompetenzen und Schlüsselqualifikationen wird ein Mismatching keineswegs verhindert. Das in Hochschulen vermittelte Wissen, welches nicht mehr ausschließlich von den Disziplinen definiert wird, orientiert sich immer noch wenig an den tatsächlichen Anforderungen des Arbeitsmarktes: „Strukturen und Inhalte des Lehrangebots ergeben sich darüber hinaus aus einer Mischung aus universitärer Profilierungskonkurrenz, wahrgenommener (nicht unbedingt tatsächlicher) Nachfrage nach Kompetenzen auf dem Arbeitsmarkt und internationalen Anpassungszwängen“ (Weingart 2003: 137). Dagegen wird dem informationssuchenden potentiellen Studierenden suggeriert, dass die Hochschule über Trends von morgigen Arbeitsmärkten Bescheid weiß und diesbezüglich zielgerecht ausbildet. Der dritte Mechanismus, mit dem Hochschulen auf globale Herausforderungen reagieren, ist als Selektion einer Organisationsform identifiziert worden, die den gesellschaftlichen Erwartungen nach Wirtschaftlichkeit entspricht. Zwar beschreiben sich nicht wenige Hochschulen als unternehmerische Hochschule, allerdings handelt es sich bei dieser Selbstthematisierung weniger um eine konsistente Strategie als um semantische Inkohä-
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renzen. Dies schlägt sich zunächst darin nieder, dass viele Hochschulen nur fragmentierte Leitbilder haben, die jeweils verschiedenen Instituten, Fakultäten bzw. Verwaltungen zuzuordnen sind (vgl. Kap. 3.2) und sich nicht in ein Gesamtkonzept integrieren lassen. Dieses setzt sich in dem Verständnis, wie eine Unternehmerische Hochschule zu sein hat, fort. Die Beschreibung des eigenen Hochschulmanagements mündet meist in einem Sammelsurium von Strategien, die den Zusammenhang eines Konzeptes vermissen lassen. Die Vorstellungen reichen von der „Fähigkeit zur Selbststeuerung“ über eine entsprechende „Berufungspolitik“ bis hin zur Erkennung von „Potentialen, Eignung, Leistung und Bedürfnissen der Mitglieder“ und Gleichstellungsmaßnahmen. Gestärkt werden sollen die Attraktivität der Hochschule als Arbeitsgeberin sowie ihr Service-Charakter für Studierende, aber auch das Erscheinungsbild als „Campus“. Andere Hochschulen können sich nicht zwischen einem „kooperativen Führungsstil“, der als „Beteiligung an universitärer Willensbildung“ bzw. demokratisches Führungsprinzip spezifiziert wird und modernen Führungsstrukturen, die in einer stärkeren Zentralisation von Führungsverantwortung und Entscheidungsbefugnis gründen, entscheiden. Dagegen haben unternehmerische Hochschulen, wie sie von Clark (1998: 3f) als solche bezeichnet werden, ein Gesamtkonzept bzw. eine Systemlösung des unternehmerischen Handelns und Denkens, welches die ganze Hochschule inklusive ihrer Institute, Fakultäten, Verwaltung etc. einschließt und sich als kollektives unternehmerisches Handeln auf dem Weg der Transformation niederschlägt. Die Erfolgsfaktoren einer unternehmerischen Hochschule sind dabei die Definition einer unternehmerischen Kultur, der Wille zu Veränderungen, die Diversifizierung der Finanzierungsbasis, eine starke Hochschulleitung und ein starkes Netzwerk (Clark 2004: 76ff). Die empirisch vorgefundenen semantischen Inkohärenzen sind dagegen ein Hinweis darauf, dass der Selbstthematisierung als unternehmerische Universität keine oder zumindest andere Strukturen entsprechen. Der letzte Mechanismus, mit dem Hochschulen auf globale Herausforderungen reagieren, ist als soziale Inklusion interpretiert worden. Dieser kann zunächst empirisch belegt werden. Allerdings zeigen aktuelle Daten, dass die deutschen Hochschulen im Wettbewerb um ausländische Studierende nicht so erfolgreich sind, wie sie sich präsentieren. Zwar ist die Zahl ausländischer Studierender an deutschen Universitäten insbesondere in den letzten sechs Jahren sprunghaft angestiegen (DAAD 2006: 8f)24, dennoch sind deutsche Hochschulen nicht für alle gleichermaßen attraktiv. Sie sind für Studierende aus Osteuropa und Ostasien, hier insbesondere aus China, besonders interessant, weniger für Studierende aus Amerika. Der DAAD schließt daraus, dass die deutschen Hochschulen ihre Attraktivität für Studierende aus gesellschaftlich, kulturell und wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten in den letzten Jahren nicht mehr steigern konnten, vielmehr sind fast die Hälfte der Bildungsausländer in Entwicklungsländern beheimatet, zu einem Drittel aus Schwellenländern und knapp zu einem Fünftel aus Industrieländern (DAAD 2006: 14ff; Buchholt/Schmitz 2006:
24 Waren es im Studienjahr 1981 noch etwas über 50.000, ist im Studienjahr 2005 die Zahl der ausländischen Studierenden an deutschen Hochschulen, d.h. an Fachhochschulen und Universitäten zusammengerechnet, auf knapp 250.000 angestiegen. Dabei ist der Anstieg fast ausschließlich bei den Bildungsausländern, weniger der konstanten Gruppe von Bildungsinländern zu verzeichnen.
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117).25 Die Überstilisierung der eigenen Attraktivität für ausländische Studierende ist begleitet von Werten, die auf die Gleichheitssemantik abzielen. Die Sprache ist von der „Vielfalt“ des Lebens, „den Idealen der Toleranz, der Achtung von Minderheiten und der Stärkung des europäischen Zusammenlebens“ und der „Bekämpfung von Rassismus“. Eingeladen werden „Menschen jeglicher Herkunft, an akademischer Bildung teilzuhaben“. Gewünscht ist, dass „verschiedene Lebensentwürfe und Kulturen“ aufeinander treffen und ein Abbau sozialer und sprachlicher Barrieren das „allgemeine Recht auf Wissenszugang“ verwirklicht. In Forschungen zu verschiedenen Kulturen, Ländern und Regionen sehen Hochschulen ihren „wichtigen Beitrag zur weltweiten Humanisierung und nachhaltigen Entwicklung“. Der Bezug auf Werte signalisiert nicht nur Toleranz und Weltoffenheit, über Werte, die hier als Tendenz zur semantischen Idealisierung gewertet werden, wird ein Konsens mit der Gesellschaft erstrebt, um sich höhere Legitimität zu verschaffen (Goffman 1997: 36).
4. Ausblick In Hochschulleitbildern wird die Suche nach sinnstiftenden Symbolen sichtbar, die die scheinbar verlorene Identität der Großorganisation Hochschule füllen können. Hochschulleitbilder geben in diesem Sinne die symbolische und strategische Orientierung der Hochschule vor. Die Selbstbeschreibungen von Hochschulen, die in Leitbildern festgehalten werden, reflektieren dabei mehrere Strategien, mit denen Hochschulen auf globale Herausforderungen reagieren. Die vorliegende empirische Exploration von Hochschulleitbildern weist auf konvergente Mechanismen hin, mit denen sich Hochschulen für den globalen Markt „fit“ machen. Wenn also vermutet wird, dass sich als Folge des zunehmenden Wettbewerbs und der globalen Herausforderungen das Hochschulsystem ausdifferenziert, so ist dies zumindest auf der Ebene der organisationalen Selbstbeschreibung nicht zu bestätigen. Im Gegenteil, die semantischen Themenvorräte, die für Hochschulleitbilder herangezogen werden, wiederholen sich auffällig oft und haben vor allem ein Leitthema: Die Legitimation der Hochschule in der Gesellschaft. Herausgestellt werden die Transferleistungen von (international konkurrenzfähigen) Forschungsergebnissen, die Beschäftigungsfähigkeit des Studiums (auch in globalen Arbeitsmärkten) und die Wirtschaftlichkeit der Organisationsform Hochschule. Allerdings sind die in Hochschulleitbildern enthaltenen Grundmetaphern semantisch überstilisiert. Dies wird als Hypostasierung der Eigenfunktion der Hochschulen für die Gesamtgesellschaft ge-
25 Hierfür gibt es sicherlich mehrere Erklärungen. Eine ist, dass das Studium in Deutschland bisher weitgehend gebührenfrei war, so dass dieses für Studierende, die familiär unterfinanziert sind, sicherlich eine attraktive Alternative zu den studiengebührpflichtigen Programmen der USA, Großbritannien und Australien darstellt. Zum anderen schlägt sich in der geringen Rate an ausländischen Studierenden aus den Industrienationen nieder, dass deutsche Hochschulen im Gegensatz zu den Hochschulen der eben genannten Länder größtenteils als nicht wettbewerbsfähig angesehen werden. Dies ist ein zentrales Ergebnis der empirischen Studie „Destination Europe?“, die von ACA durchgeführt wurde, um zu untersuchen, was europäische Universitäten in Hinsicht auf ihr Qualitätsmanagement und internationales Marketing unternehmen müssten, um ihre Attraktivität gegenüber anderen Ländern zu erhöhen.
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deutet. Hochschulen neigen dazu, sich eine konkurrenzlose Spitzenstellung innerhalb der Gesellschaft zuzubilligen und alle anderen Bereiche als Leistungsempfänger zu konstruieren (vgl. Kieserling 2000: 48ff), um sich in ein besseres gesellschaftliches Licht zu stellen. Dies ist zugleich die Frage nach den Strukturfolgen von Hochschulleitbildern. Auch wenn angenommen wird, dass sich organisationale Selbstbeschreibungen gemeinsam mit organisationalen Strukturen ausdifferenzieren, gibt es die Möglichkeit, dass die Kommunikation der Hochschulen nur, wie es der Neo-Institutionalismus reflektiert, eine Scheinwelt aufbaut. Auch der semantische Apparat hält diese Möglichkeit bereit. Semantiken können sich in diesem Sinne derart ausdifferenzieren, dass sie ein eigenes soziales System bilden und sich keine Entsprechung in den operativen Vorgängen findet. Selbst wenn Semantiken in Handlungen umgesetzt werden, findet nicht unbedingt eine Copy-Paste-Übersetzung statt. Dies ist in der Organisationsforschung als Regenmacher-Phänomen bekannt. Genauso wie es zweifelhaft ist, dass Regenmacher wirklich Regen machen, ist es zweifelhaft, dass Managementkonzepte des Organisationswandels wirklich das Geplante bewirken (Kühl 2000). Vor allem die Besonderheiten der Organisation Hochschule erschweren die Umsetzung von Leitbildern: Zum einen sind der Profilierung von Hochschulen enge Grenzen gesetzt. Ihr Handlungsspielraum ist durch enge gesetzliche Vorgaben und Verwaltungsvorschriften eingegrenzt. Wenn Hochschulen ihre von politischer Seite geforderte Internationalisierung vorantreiben wollen, müssen sie rechtliche Restriktionen wie die Quotierung des Ausländeranteils an Hochschulen berücksichtigen (Hanft 2000: 123). Die hochschulischen gesetzlich fixierten Kernaufgaben sind Forschung, Lehre, Studium und Weiterbildung. Ob Hochschulleitbilder in innovative Organisationsstrukturen übersetzt werden können, hängt davon ab, ob diese dem gesellschaftlichen „Auftrag“ der Hochschulen dienen. Zum anderen erschweren es die losen Kopplungen zwischen Instituten, Fakultäten und Verwaltungen, Managementkonzepte durchzusetzen. Das starke Ausmaß an Dezentralisierung, Zielambiguitäten bzw. organisierter Anarchie (Cohen/March/Olsen 1972) sowie die schwachen Leitungsstrukturen müssten durch neue Steuerungsmodelle umgestaltet werden, um Veränderungsmanagement wirksam zu betreiben. Des Weiteren entscheidet die Akzeptanz des Hochschulleitbildes, ob die Mitglieder der Organisation nach diesem handeln. Da Leitbilder Sinn über Symboliken vermitteln, passen sie durchaus zur Form der Sinnvermittlung an Hochschulen, die ihre Werte und Artefakte im Besonderen über Symbole zum Ausdruck bringen. Zu nennen sind hier u. a. die Talare der Professoren und akademische Initiationsriten in der Vergangenheit, ein hochschuleigenes Zeitverständnis (akademische Viertelstunde), aber auch die Wiedereinführung von Erstsemesterbegrüßungen und Abschlussfeiern (Hanft 2000). Dennoch, die Akzeptanz von Leitbildern ist umso höher, wenn sie „bottom up“ (von unten) entstehen und nicht „top down“(von oben) verordnet werden. Alle Gruppen der Universität sollten an dem internen Verständigungsprozess über ein gemeinsames Leitbild beteiligt sein. Da aber die wissenschaftlichen Mitglieder ihre Identifikation immer weniger aus ihrer Hochschule schöpfen, diese vielmehr in ihren Forschungsgruppen und Expertenkreisen finden, ebenso die Studierenden ihren Lebensmittelpunkt außerhalb der Hochschule wählen, ist fraglich, ob es gelingt, alle Gruppen zu mobilisieren.
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Die Inszenierung wissenschaftlicher Exzellenz. Wie der politisch gesteuerte Wettbewerb um Forschungsressourcen die Wissenschaft den Darstellungszwängen der öffentlichen Kommunikation unterwirft Richard Münch
1. Einleitung Wenn alles im Fluss ist und die Tradition keinen Halt mehr bietet, dann bestimmen in verstärktem Maße die Darstellungszwänge der öffentlichen Kommunikation den Gang der Geschichte (Münch 1991/1995). Das lässt sich auch an der aktuellen Exzellenzinitiative von Bund und Ländern zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an den deutschen Hochschulen beobachten. Da es kein erprobtes Wissen über Forschungsleistungen, ihre Messung und ihre Steuerung gibt, wird maßgeblich in öffentlichen Definitionskämpfen über die Zuschreibung von wissenschaftlicher Exzellenz entschieden. Diese Definitionskämpfe finden in einem diskursiven Feld statt, in dem soziales Kapital in Gestalt von Standortgröße und Mitgliedschaften in einflussreichen wissenschaftlichen Vereinigungen – wie in den Akademien der Wissenschaften –, ökonomisches Kapital in Gestalt von ökonomisch verwertbarem Wissen und kulturelles Kapital in Gestalt von Bildungswissen darüber entscheiden, wie viel symbolisches Kapital in Gestalt von Mitgliedschaften in Beratungsgremien und Ausschüssen im akademischen Feld (Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Wissenschaftsrat, Hochschulrektorenkonferenz, Wissenschaftsministerien) erworben werden kann. Das symbolische Kapital solcher Ausschussmitgliedschaften entscheidet maßgeblich über die Definition und Zuschreibung wissenschaftlicher Exzellenz (Bourdieu 1992). In Deutschland können wir beobachten, dass sich jenseits des föderalen Pluralismus über Prozesse der Akkumulation von symbolischem Kapital seit Mitte der 1980er Jahre eine latente Konzentration von Forschungsmitteln auf wenige Standorte ergeben hat, in deren Hand sich die Definition von wissenschaftlicher Exzellenz in die Richtung von Großprojekten mit hohem Drittmittelaufwand bewegt hat. Die entsprechende Konzentration von Forschungsressourcen geht allerdings mit Effizienzverlusten einher, die sich in einem Missverhältnis zwischen dem Input an Drittmitteln und dem Output an Publikationen bzw. Patenten pro eingesetztem Personal äußern. Diese Diskrepanz wird indessen durch den Schleier der öffentlich inszenierten Exzellenz verborgen, der Großprojekte mit hohem Drittmittelaufkommen
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als Indikator für exzellente Forschung inthronisiert und die Frage nach den Konsequenzen in Gestalt der Einschränkung von Vielfalt, Kreativität und offener Wissensevolution ausblendet. Das ist deshalb möglich, weil sich die Politik in einer Welt, in der alles im Flusse ist und keine Tradition Halt bieten kann, von den Darstellungszwängen der öffentlichen Kommunikation leiten lässt und wenig Chancen hat, hinter die Kulissen inszenierter Exzellenz zu blicken (vgl. Hornbostel 2001). Andere Optionen öffnen sich der Politik nur, wenn kritische Analysen den Verblendungszusammenhang auflösen, um andere Antworten auf die gestellten Fragen zu bieten. Das soll in den folgenden Abschnitten versucht werden.
2. Exzellenzkonstruktion durch politisch inszenierten Pseudowettbewerb Alles weist darauf hin, dass die Exzellenzinitiative von Bund und Ländern als ein politisch inszenierter Pseudowettbewerb abläuft, aus dem diejenigen Standorte als Sieger hervorgehen, die schon vorher Teil eines Machtkartells waren, das einen Großteil von DFG-Ausschussmitgliedschaften, DFG-Gutachtern, koordinierten Programmen und DFG-Bewilligungen insgesamt auf sich konzentriert, ohne dass sich dieses hohe Maß der Konzentration von Forschungsmitteln auf wenige Standorte durch höhere Outputproduktivität als an anderen Standorten rechtfertigen ließe. Wie ein politisch gesteuerter Pseudowettbewerb inszeniert und von einer „hochkarätig besetzten Expertenkommission“ als scheinbar für Objektivität sorgender Konsekrationsinstanz abgesegnet wird, lässt sich am Programm des bayerischen Elitenetzwerks beobachten. Dort wurde dieses Programm dazu benutzt, Mittel systematisch in die politisch gewünschte Richtung von Naturwissenschaften und Technik und an den ausgesuchten Großstandort München auf Kosten der Geistes- und Sozialwissenschaften und auf Kosten der nachweislich produktiver arbeitenden mittleren und kleineren bayerischen Standorte umzuschichten (siehe nur DFG 2003: 178/Berghoff et al. 2005). Das zeigt unmittelbar ein Vergleich der Verteilung von DFG-Graduiertenkollegs und bayerischen Internationalen Doktorandenkollegs. Bei der DFG stehen Naturwissenschaft/Technik zu den Geistes- und Sozialwissenschaften in einem Verhältnis von 24 zu 13, bei der Staatsregierung in einem Verhältnis von 10 zu 2. Bei der DFG befinden sich 27 Graduiertenkollegs außerhalb von München und 10 in München. Die Staatsregierung richtet jedoch 7 in München und nur 5 außerhalb von München ein (Homepage des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst im Mai 2005). Es werden bei diesem politisch inszenierten Pseudowettbewerb Wissenschaftler von der Forschung abgehalten, um von vorneherein aussichtslose Anträge zu schreiben, und Gutachter mit der Beurteilung von völlig unvergleichbaren, nicht objektiv entscheidbaren Anträgen beschäftigt, um als scheinbar objektive Konsekrationsinstanzen einem politisch gewünschten Ergebnis den Schein der Legitimität zu verleihen, das wissenschaftlich durch keinerlei Verdienste legitimiert ist. Dazu gehört, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften mit einem Ethik-Zentrum gefördert werden, dem ganz im Sinne der zur Herrschaft gelangten instrumentellen Vernunft ein Auftrag erteilt wird, den es nicht erfüllen kann und auch nicht erfüllen darf, wenn sich
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die Geistes- und Sozialwissenschaften nicht auf das Konzept einer positivistisch halbierten Vernunft reduzieren lassen wollen. Ethik ist eine Sache des aus vielen Quellen an vielen Orten gespeisten öffentlichen Diskurses und keine Sache eines damit beauftragten Zentrums. An diesem Beispiel ist zu sehen, zu welchen Ergebnissen die politische und ökonomische Instrumentalisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften führt.
3. Exzellenzkonstruktion nach dem Matthäus-Prinzip: Die Diskrepanz zwischen Drittmittelinput und Publikationsoutput pro eingesetztem Personal In der universitären Forschungslandschaft herrscht nach Jahren des Dahinsiechens Aufbruchsstimmung (Mogge-Stubbe 2006). Zumindest wird diese Stimmung von Politikern, Forschungsfunktionären und Medien als Begleitmusik zur Exzellenzinitiative von Bund und Ländern zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an den deutschen Hochschulen im Land verbreitet. Es scheint sich in Zukunft Exzellenz von der breiten Mittelmäßigkeit in der deutschen Universitätslandschaft absetzen zu können. Man erhofft sich von dieser Initiative eine entscheidende Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit von Wissenschaft und Forschung in Deutschland. In der dritten Förderlinie haben sich in der ersten Runde 27 Hochschulen um die Krönung mit dem Titel „Spitzenuniversität“ und den damit verbundenen Geldsegen beworben. Dieser Titel sollte in einem Wettbewerb um die „besten Konzepte“ an bis zu 10 Hochschulen vergeben werden. Eine „internationale Expertenkommission“ soll über die eingereichten Konzepte beraten und die besten davon auswählen. In derselben Weise sollten auch die Zuschläge zu den eingereichten Konzepten für Exzellenzcluster und Graduiertenschulen erteilt werden, von denen jeweils 30 bzw. 40 in den Genuss der Förderung gelangen sollten. Die Frage ist, ob es überhaupt „objektive“ Kriterien für die Entscheidung zwischen der Vielzahl eingereichter Konzepte ganz unterschiedlichen Inhalts geben kann. Das ist nicht anzunehmen. Deshalb mussten sekundäre Hilfskriterien eine ganz entscheidende Rolle spielen. Dafür gab es auch die entsprechenden Vorgaben. Die Konzepte sollten auf schon vorhandenen Strukturen aufbauen und Einrichtungen hervorbringen, die deutlich über die Größenordnung von Sonderforschungsbereichen hinausgehen. Dabei galt das Ortsprinzip. Damit war die Vorgabe klar: Es sollten dort, wo sich schon große DFG-geförderte Forschungseinheiten ballen, noch größere Forschungszentren geschaffen werden. Das Ziel ist demnach eindeutig die Schaffung von Großforschungseinrichtungen, die rein physisch mit einem Umfang an manpower arbeiten, der zur Aufrichtung eines hochgebauten „Leuchtturms“ ausreicht. Man setzt auf die Konzentration von Masse an auserwählten Standorten, von der man hofft, dass daraus auch die gewünschte Klasse hervorgeht. Mit dieser Maßgabe an der Hand musste die international besetzte Expertenkommission nach dem Matthäus-Prinzip „Wer hat, dem wird gegeben“ verfahren (Merton 1968). Diese Verfahrensweise muss sich allerdings fragen lassen, ob sie Mittel tatsächlich dorthin schafft, wo vorher schon mehr Forschungsleistung erbracht wurde, und ob sie Strukturen
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hervorbringt, die den Wettbewerb fördern und die internationale Wettbewerbsfähigkeit von Wissenschaft und Forschung in Deutschland steigern. Das muss bezweifelt werden, wenn man den Blick hinter den Schleier der Exzellenzrhetorik auf die Verteilung des absoluten Inputs an DFG-Bewilligungen, des relativen Inputs pro Wissenschaftler bzw. Professor und des relativen Outputs pro Wissenschaftler bzw. pro Professor in Gestalt von Publikationen und Patenten unter den Standorten richtet. Das beweisen detaillierte statistische Analysen (Münch 2007). Es fällt zunächst auf, dass es eine massive Konzentration von DFG-Ausschussmitgliedschaften und Gutachtern in der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) auf wenige Institutionen gibt (DFG 1998: 380-446). Nicht mehr als 16 Universitäten und die Max-Planck-Gesellschaft teilen sich schon die Hälfte aller DFG-Ausschussmitgliedschaften und verfügen über etwa die Hälfte der DFG-Bewilligungen. Auch zwischen der Zahl der DFG-Gutachter eines Standorts und den DFG-Bewilligungen besteht eine außerordentlich hohe positive Korrelation. Eine weitere wichtige Größe ist die Teilhabe an koordinierten Programmen, die mit ihrem Ortsprinzip große Standorte bevorzugen. Im Durchschnitt machen sie 54% aller DFG-Bewilligungen aus, in den Naturwissenschaften sogar bis zu 75%, sie ziehen außerdem noch in hohem Maße DFG-Bewilligungen im Normalverfahren nach sich (DFG 2003: 59). Es ergibt sich ein Bild, nach dem DFG-Ausschussmitgliedschaften, DFG-Gutachter, koordinierte Programme und DFG-Bewilligungen in absoluten Zahlen massiv auf Technische Universitäten und Traditionsuniversitäten mit sehr hohem Anteil von Medizin, Bio-, Natur- und Ingenieurwissenschaften am Personalbestand konzentriert sind. Dagegen finden sich Standorte um so mehr marginalisiert, je kleiner sie sind und je größeren Anteil die Geistes- und Sozialwissenschaften an ihrem Personalbestand haben. Nicht mehr als 10 Universitäten ziehen schon 37% der DFG-Bewilligungen auf sich, 17 Universitäten schon 50%. Es handelt sich dabei auch um diejenigen Universitäten, auf die sich der weitaus größte Teil der Ausschussmitgliedschaften, DFG-Gutachter und koordinierten Programme konzentriert (DFG 2003: 88-89). In der Sprache des DFG-Förder-Rankings bedeutet das, dass die DFG-Bewilligungen dort hingehen, wo auch die höchste Kompetenz vertreten ist (DFG 2003: 89). Das ist die offizielle Interpretation, die eine Verteilung der DFG-Mittel nach Leistung suggeriert. Eine Prüfung der Richtigkeit dieser Deutung stößt schon auf das Problem der Zirkularität des Vorgangs. Es wird nur gemessen, wie viel Drittmittel-Input von der DFG an welche Standorte mit welcher Gutachterzahl (und von der DFG nicht ermittelt: mit welcher Zahl von DFG-Ausschussmitgliedschaften) fließt. Welcher Output an Publikationen oder Patenten mit diesem Input produziert wird, bleibt weitgehend im Verborgenen. Wo eine solche positive Korrelation nur anhand internationaler Daten ermittelt wird, bleibt die Frage der Produktivität des Outputs pro Wissenschaftler unbeantwortet (DFG 2003: 117-125). Schon die Fokussierung des Drittmittelinputs pro Kopf (Professor bzw. Wissenschaftler) bringt ein ganz anderes Bild zu Tage (DFG 2003: 178). Standorte, die in absoluten Zahlen zur Spitzengruppe gehören, fallen ins Mittelfeld zurück, Standorte aus dem Mittelfeld der absoluten Zahlen rücken zum Teil weit nach vorne. Es zeigt sich, dass die Großstandorte unter dem Gesetz des sinkenden Grenznutzens jeder weiteren Personalstelle jenseits einer mittleren Größe leiden. Diese Großstandorte im Rahmen der Exzellenzinitiative mit noch mehr Mitteln auszustatten, wird diesen Effekt noch erheblich verstärken. Das heißt, dass
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die Exzellenzinitiative massiv Mittel auf Standorte konzentriert, wo sie nachweislich einen Produktivität senkenden Effekt haben und weniger effizient eingesetzt sind als an mittleren und kleineren Standorten. Noch problematischer erscheint das von der Exzellenzinitiative forcierte Programm der Mittelkonzentration auf wenige auserwählte Standorte, wenn man näher prüft, wie Drittmittel und Publikationsoutput miteinander zusammenhängen. Relativ pro Kopf sind sie überhaupt nicht korreliert. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) hat für dreizehn Fächer den Input an Drittmitteln absolut und pro Wissenschaftler und den Output an Publikationen, gewichtet nach Umfang, Autorenzahl und Publikationsart ermittelt (Berghoff et al. 2005). Bei den Fächern handelt es sich um Physik, Chemie, Biologie, Pharmazie, Elektro- und Informationstechnik, Maschinenbau, Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre, Psychologie, Soziologie, Erziehungswissenschaft, Anglistik/Amerikanistik und Geschichte. Das ernüchternde Ergebnis sieht so aus, dass es entweder überhaupt keine signifikante oder nur eine schwach signifikante positive Korrelation zwischen dem Input an Drittmitteln absolut bzw. pro Wissenschaftler und dem Output an Publikationen pro Professor gibt. Ein Blick auf die Publikationen pro Professor in allen dreizehn untersuchten Fächern zeigt ein völlig anderes Bild als der von der Exzellenzrhetorik geprägte Blick auf den absoluten Drittmittelinput, der als Leitlinie der Ressourcenzuteilung im Rahmen der Exzellenzinitiative diente. Nach diesem Maßstab existiert die vom DFG-Förder-Ranking suggerierte Spitzengruppe weniger „herausragender“ Universitäten nicht. Sie stellt sich als ein statistischer Artefakt dar, bei dem Input systematisch mit Output verwechselt wird, eine Rechnungsweise, die bei Wirtschaftsunternehmen schnell im Bankrott enden würde. Betrachtet man die Publikationen (bzw. Patente bei den Ingenieurwissenschaften) aller 13 vom CHE untersuchten Fächer und bildet man jeweils eine Spitzengruppe von fünf oder sechs Fächern, die sich vom breiten Mittelfeld unterscheiden, dann teilen sich nicht weniger als 38 Universitäten die 65 Spitzenplätze der ersten 5 und nicht weniger als 47 Universitäten die 78 Spitzenplätze der ersten 6. Nur eine einzige Universität gelangt in fünf von dreizehn Listen unter die ersten fünf (Würzburg). Dreimal unter die ersten fünf kommen die Universitäten München, Jena, Paderborn, Stuttgart und Tübingen. Weder in der Produktivität der Einwerbung von Drittmitteln pro Wissenschaftler, noch in der Produktivität des Publikationsoutputs pro Professor über alle Fächer hinweg ist jene Spitzengruppe von Universitäten zu sehen, die im Rahmen der Exzellenzinitiative von Bund und Ländern in der dritten Förderlinie in öffentlicher Inszenierung als „Spitzenuniversitäten“ gekürt werden. Dasselbe Ergebnis erbringt auch die Verteilung der 30 Exzellenzcluster und 40 Graduiertenschulen an jene Standorte, die sich durch akkumulierte Drittmittel und entsprechende Großforschungseinrichtungen auszeichnen, ohne dass diese Vorrangstellung durchweg auch durch gleichermaßen herausragende Positionen im Publikationsoutput pro eingesetztem Personal im Vergleich zu anderen, nicht zum Zuge kommenden Standorten gerechtfertigt wird. Das Ergebnis ist eine politisch konstruierte Exzellenz mit erheblichen wissenschaftlichen Legitimitätsdefiziten.
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4. Die Rhetorik der Exzellenz: Soziale Konstruktion eines Rationalitätsmythos Die Herausbildung von Exzellenzzentren wird offensichtlich weniger durch reale Differenzen in der Forschungsproduktivität und mehr durch die Konzentration von symbolischem Kapital auf wenige Standorte vorangetrieben. Die mangelnde Deckung dieser Konzentration von Forschungsgeldern durch die Verteilungsstruktur der Forschungsproduktivität im akademischen Feld wird durch die Entkopplung der verselbständigten Exzellenzrhetorik von der Realität verborgen gehalten (Meyer und Rowan 1977). Dadurch bleibt die Illegitimität des Vorgangs unentdeckt. Die Exzellenzrhetorik ist zu einem Realität konstruierenden Selbstläufer in der Hand der reichhaltig mit symbolischem Kapital ausgestatteten Standorte geworden. Die Exzellenzrhetorik, die den Prozess der Verfestigung von Monopolstrukturen forciert, wird in der öffentlichen Kommunikation eine Etage tiefer durch die Fußballer-Sprache unterstützt, die sich in der Politik im Zuge der öffentlichen Inszenierung und totalen Vermarktung des Fußballs breitgemacht hat. Der Schlüsselbegriff dieser Sprache heißt „ChampionsLeague“. Die Rhetorik der Champions-League ist eine Art Vulgärversion oder Zweitcodierung der Exzellenz-Rhetorik für das einfache Volk. Aus ihrer Sicht wird die Welt durchgehend in eine „Champions-League“, eine erste Bundesliga, eine zweite Bundesliga, Regionalligen, Oberligen, Bezirksligen und Kreisklassen eingeteilt. Es schleicht sich damit ein Jargon ein, mit dem die komplexe Realität auch dem einfachen Wählervolk klargemacht werden kann. Der Jargon erfasst indessen die Sprecher selbst und hindert sie daran, überhaupt noch die Realität hinter den gezündeten Nebelkerzen im Stadion zu erkennen. Die LMU München wird dann gern mit dem FC Bayern München gleichgesetzt. Das wesentlich komplexere Gebilde der Organisation von Wissenschaft wird durch einen solchen Vergleich in eine einfache Schablone gezwängt, die Wissenschaft am Ende zu einer Angelegenheit macht, bei der es im Wesentlichen darauf ankommt, Hochglanzfassaden aufzubauen, die Größe demonstrieren. Was hinter den Fassaden steckt, bleibt der Öffentlichkeit verborgen. Das geht indessen im Fußball nicht. Dort müssen die Kicker des FC Bayern München tatsächlich gegen Real Madrid oder Manchester United als Kollektiv beweisen, was in ihnen steckt. In der Wissenschaft tritt aber nicht die LMU München als Kollektiv gegen die Harvard University an. Vielmehr sind es immer nur einzelne Forscher, die ihre persönliche Forschungsarbeit durch Publikationen in den nationalen und internationalen Diskurs einbringen. Und diese Forscher sind nachweislich breit über alle Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen gestreut. Jede dieser Institutionen beherbergt nur einzelne dieser Exemplare. Kein Fachbereich ist so komplett mit international erstklassigen Spielern besetzt wie das Team des FC Bayern München. Wenn man die Wissenschaft in das Korsett von Fußballligen mit einer auf Dauer gestellten Rangordnung zwängen würde, dann wäre der offene Wettbewerb und damit Vielfalt, Kreativität und offene Wissensevolution endgültig zerstört. Den breit gestreuten einzelnen Forscherpersönlichkeiten helfen keine großen Drittmitteleinnahmen, keine Sonderforschungsbereiche und sonstigen lokalen Kollektivprojekte, sondern allein ihre persönliche internationale Vernetzung in ihrem jeweiligen Forschungsgebiet. Diese internationale Vernetzung wird durch die großformatigen koordinierten Programme der DFG mehr behindert als gefördert, weil sie dazu führen, dass sich Forschung in der Koordination lokaler Großprojekte erschöpft, die leitenden Forscher zu Managern degenerieren und riesige Stäbe
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von Forschersklaven an der Entfaltung eigener Kreativität und selbständiger internationaler Vernetzung gehindert werden. Die oligarchische Organisation der Wissenschaft hält deshalb Professoren und Mitarbeiter von der Teilnahme an der wirklichen „Champions-League“ ab. Der simplifizierende Fußballer-Jargon trägt selbst dazu bei, dass die Forschung in Deutschland nicht genügend internationalen Anschluss findet. Er fördert ein in sich geschlossenes, sich selbst reproduzierendes System ohne Verbindung in das internationale Feld der Wissenschaft. Die Rhetorik der „Champions-League“ bewirkt im Kontext der oligarchischen Wissenschaftsorganisation gerade die Perpetuierung des wissenschaftlichen Provinzialismus. An diesem Beispiel ist zu erkennen, in welchem Maße die Politik in der Mediengesellschaft von Sprechblasen beherrscht wird, die Sprecher und Hörer einem Sprachspiel unterwerfen, das ihnen den Zugang zu den realen Vorgängen versperrt. Sie sind Opfer einer totalen Entfremdung, die sie in eine um sich selbst kreisende Kommunikation hineinzieht, in der sie jeden Realitätsbezug und jede Authentizität verlieren. Sie können nur noch so sprechen wie medial kommuniziert wird, nur noch so denken wie sie sprechen und nur noch so handeln wie sie denken (vgl. Baudrillard 1992; Münch 1991, 1995). Die Akteure im Feld sind Opfer einer Entwicklung, die sich in zunehmendem Maße der Politik bemächtigt hat. Weil Politik immer mehr von den Gesetzmäßigkeiten der politischen Kommunikation beherrscht wird, regieren Sprechblasen – „Wettbewerb“, „Exzellenz“, „Elite“ – die einen schönen Schein erzeugen, hinter dem sich eine weder den Sprechern noch den Hörern bekannte, ganz andere Realität verbirgt. Die Politik wird von einem Polit-Jargon beherrscht, der Politiker, Experten und Publikum in eine um sich selbst kreisende Kommunikation hineinzieht, die ihre eigene Realität erzeugt und jeglichen Kontakt zu den Realitäten außerhalb der politischen Kommunikation verloren hat. Die Forschungspolitik legitimiert ihre neue Programmatik durch Gutachten von Expertenkommissionen. Es gehört zur Legitimation erzeugenden Rhetorik, dass es sich dabei um „hochkarätig“ besetzte Kommissionen handelt. Dabei steht die Häufigkeit, in der die Politik inzwischen Entscheidungen in Ausschreibungs- und Evaluationsverfahren mit der Etikette „hochkarätig besetzte Expertenkommission“ rechtfertigt, im umgekehrten Verhältnis zur allgemeinen Begründbarkeit der Entscheidungen. Weil es sich um in der Regel sehr willkürlich anmutende Entscheidungen handelt, muss die Etikette „hochkarätig besetzte Expertenkommission“ für begründungsfreie Legitimität sorgen. Die Etikette nutzt sich allerdings ab, so dass die blanke Willkür zum Vorschein kommt und einen erheblichen Legitimitätsverlust des Handelns der maßgeblichen Akteure erzeugt. Massenhaft mit dem Orakelspruch „hochkarätig besetzter Expertenkommissionen“ abgelehnte Anträge in Exzellenzinitiativen, deren geringere Qualität im Vergleich zu den glücklichen Gewinnern in keiner Weise erkennbar ist, schüren den Verdacht auf ungerechtfertigte Begünstigungen und untergraben auf breiter Front die Leistungsmotivation im System. „Hochkarätig“ heißt in der Regel, dass die Kommissionsmitglieder dem Machtzentrum des Wissenschaftsbetriebes angehören. Solche Expertenkommissionen spielen die Rolle von Konsekrationsinstanzen, deren Urteil den von der Politik vollzogenen Maßnahmen die notwendige Weihe verleiht, die Kritik schon gar nicht aufkommen lässt, weil die Urteilskraft der weisen Kommissionsmitglieder gar nicht in Zweifel gezogen werden kann. Die betroffenen Institutionen müssen sich dann in ihr Schicksal fügen, als ob es auf einem Gottesurteil be-
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ruhen würde. Die Konsekrationsinstanz par excellence der Forschung in Deutschland ist die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Ihr, ihren Ausschüssen und ihren Verfahren der Verteilung von Forschungsmitteln wird zugeschrieben, dass die von ihr geförderte Forschung wissenschaftlich „geweiht“ und damit unantastbar ist. Die Verfahren der DFG verlieren allerdings ein erhebliches Maß ihrer Legitimität, wenn ihre Mittelverteilung im Hinblick auf Leistungsgerechtigkeit und Effizienz überprüft wird. Die von der Politik zu Legitimationszwecken eingerichteten Kommissionen produzieren keineswegs hinreichend wissenschaftlich basierte Analysen, sondern in aller Regel politische Stellungnahmen, die mangels geeigneter wissenschaftlicher Forschung zum Gegenstand der Reform in der Regel nicht mehr tun können, als dem Zeitgeist zu folgen. Die von der Politik engagierten Experten sind allesamt Praktiker der Wissenschaft und der Wirtschaft, die aus ihrer Praxis und ihrer Position im Machtfeld der Wissenschaft heraus Stellung nehmen, ohne dass sie über die Sache selbst geforscht hätten oder sich ausreichend auf solche Forschung stützen könnten. Praktische Erfahrung ist sicherlich Voraussetzung von Urteilskraft. Sie allein kann aber keineswegs die wissenschaftliche Forschung über diese Praxis ersetzen. An dieser Forschung mangelt es jedoch ganz erheblich. Den Stellungnahmen der Praktiker der Wissenschaft fehlt zwangsläufig wissenschaftliche Fundierung. Infolgedessen wird diesen Stellungnahmen von den Betroffenen nicht selten die Legitimität eines wirklichen, von wissenschaftlichem Wissen abgeleiteten Sachverständigengutachtens abgesprochen. Daran ändert eine noch so „hochkarätige“ Besetzung solcher Kommissionen nichts. Es ist deshalb nicht überraschend, dass z.B. das jüngst von der Kommission für das Bayerische Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst erstellte Gutachten zum „Wissenschaftsland Bayern 2020“ weniger konsensbildend wirkt, als dass es Streit entfacht. Der tiefere Grund dafür liegt darin, dass es der zur Vorherrschaft gelangten Rhetorik der Förderung von Konzentrationsprozessen folgend, von höchst problematischen Annahmen über die strukturellen Voraussetzungen produktiver Wissenschaft geprägt ist. Es folgt in der Grundaussage einer Leitlinie, die auf die politische Schaffung privilegierter Großstandorte auf Kosten von Vielfalt, Wettbewerb und Kreativität und hoher Forschungsproduktivität (Output pro Wissenschaftler) als Voraussetzung einer offenen Evolution des wissenschaftlichen Wissens hinausläuft. Gerne wird auch mit der internationalen Besetzung solcher Expertenkommissionen Legitimität erzeugt. In Wirklichkeit sorgt die Internationalität der Kommissionen dafür, dass sich deren Mitglieder besonders leicht von Fassaden blenden lassen, weil sie keine tieferen Kenntnisse von der Wirklichkeit der Forschung in Deutschland haben. Wenn sie mit nichts anderem versorgt werden als mit der monopolartigen Verteilungsstruktur der DrittmittelEinwerbungen, dann fallen sie leicht auf die Rhetorik herein, die Exzellenz dort lokalisiert, wo sich die Masse der Drittmittel-Einwerbungen sammelt, ohne darauf zu achten, ob diese Mittelverteilung auch tatsächlich in echte wissenschaftliche oder technische Erfolge umgesetzt wird. Eine nähere Prüfung zeigt nämlich, dass eine große Diskrepanz zwischen der monopolartigen Mittelverteilung der DFG und der weitaus gleichmäßigeren Verteilung von DFG-Bewilligungen pro Wissenschaftler und noch weit mehr von Publikationen, Zitationen und Patenten pro Professor herrscht (DFG 2003; Berghoff et al. 2005). Es bestehen sogar erhebliche Diskrepanzen derart, dass sich die Mehrzahl der Drittmittelzentren gerade nicht unter den ersten zehn publikationsstärksten Fachbereichen befindet.
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Expertenkommissionen üben in hohem Maße eine Öffentlichkeit und Politik prägende Definitionsmacht aus, deren Legitimität auf zugeschriebener Expertise beruht. Die Zuschreibung von Expertise durch die Etikette „hochkarätig besetzte Expertenkommission“ verdeckt den Mangel an wirklich gesichertem Wissen über den Wahrheitsgehalt von Realitätsdarstellungen und über die Voraussetzungen und Konsequenzen von empfohlenen Maßnahmen. Bei so viel Ungewissheit entscheidet die Ausübung von Definitionsmacht maßgeblich, welche Realitätskonstruktion sich durchsetzt, was für wahr gehalten wird und von welchen Maßnahmen Erfolg erwartet wird. Nicht die Realitätskonstruktion, die der Realität näher kommt, und nicht die Reformmaßnahme, die nachweislich zum Erfolg führt, werden für wahr bzw. erfolgversprechend gehalten, sondern diejenigen Realitätskonstruktionen und diejenigen Reformmaßnahmen, die mit Hilfe einer Legitimität stiftenden Rhetorik in den Schalthebeln der öffentlichen Definitionsmacht durchgesetzt werden. Es ist diskursive Macht im Sinne von Michel Foucault (1991), die hier in besonderer Weise zum Tragen kommt, weil der Diskurs unter stark eingeschränkten Bedingungen abläuft und dementsprechend weit von einer idealen Sprechsituation im Sinne von Habermas (1971) entfernt ist. Mit Bourdieu (1992, 2004) können wir die Wissenschaft als ein Machtfeld begreifen, das von zwei sich überkreuzenden Achsen bestimmt wird: Zentrum vs. Peripherie und kulturelles Kapital vs. ökonomisches Kapital. Nur wenige haben Zugang zum Diskurs, die entscheidenden Machtpositionen in Expertenkommissionen werden immer wieder von denselben Personen eingenommen, die das Zentrum von Naturwissenschaft, Technik, Medizin und Großstandorten vertreten.1 Opposition kommt kaum auf und kann sich schlecht gegen die suggestive Rhetorik von Wettbewerb, Exzellenz und Elite wenden (vgl. z.B. von Münch 2005). Das ist vor allem deshalb der Fall, weil nicht erkannt wird, dass sich hinter dem Rationalitätsmythos der Rhetorik von Wettbewerb, Exzellenz und Elite eine nicht rationale Praxis verbirgt, die darauf hinausläuft, Wettbewerb einzuschränken und Exzellenz sowie Elite nicht aus dem offenen Wettbewerb, sondern aus kartellartigen Strukturen hervorgehen zu lassen. Hinter der Rhetorik von Wettbewerb und Entlohnung nach Leistung verbergen sich Monopolbildung und Ressourcenzuweisung nach Macht. Diese machtpolitische Durchdringung macht sich im Feld der Forschungspolitik noch mehr bemerkbar, als es im Feld ökonomischer Märkte der Fall ist. In ökonomischen Märkten schaffen große Spieler Marktmacht und erhöhen zu ihren eigenen Gunsten die Marktzutrittskosten für Herausforderer. Im Feld der Wissenschaft wird die Marktmacht von Naturwissenschaft, Technik, Medizin und Großstandorten im Kampf
1 Um zwei von vielen Beispielen zu nennen: Der Generalsekretär der Volkswagen-Stiftung im Jahr 2005 ist Mitglied der Mittelstraß-Kommission zum Wissenschaftsland Bayern 2020, er gehört sowohl dem Universitätsrat Konstanz als auch dem Hochschulrat Marburg an, ist Mitglied des Bildungsrates und der Wissenschaftlichen Kommission des Landes Niedersachsen und wurde unter anderem in das Kuratorium des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen berufen (Quelle: http://www.uni-goettingen.de/show.php). Der DFG-Präsident im Jahr 2005 ist neben seiner Mitgliedschaft in der Mittelstraß-Kommission Mitglied des Wissenschaftlich-Technischen Beirats der Bayerischen Staatsregierung, außerdem hat er zur Zeit unter anderem Mitgliedschaften in folgenden Einrichtungen inne: der Akademie der Naturforscher Leopoldina und der Berlin/ Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, der Göttinger Akademie der Wissenschaften, er ist Auswärtiger Vizepräsident der Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle, Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und des International Science Committee der National Academy of Science in Peking, China, Aufsichtsratsmitglied der Bayer AG (Quelle: http://www.dfg.de/dfg_im_profil/struktur/gremien/ praesidium/praesidium_mitglieder/ernst_ ludwig_winnacker.html).
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um Forschungsmittel zusätzlich durch ihre Dominanz in zentralen Organisationen, Gremien und Kommissionen des Wissenschaftsbetriebs untermauert. Es entsteht dadurch ein nahezu unumstößliches Machtzentrum, das Forschungsressourcen in die Kanäle von Naturwissenschaft, Technik, Medizin und Großstandorten lenkt. Nehmen wir als Beispiel die Expertenkommission, die 2005 im Auftrag der bayerischen Staatsregierung ein Gutachten zum „Wissenschaftsland Bayern 2020“ erstellt hat. In der Kommission dominieren mit erdrückender Mehrheit die Repräsentanten des Komplexes von Naturwissenschaft, Technik, Großforschungseinrichtungen und Industrie.2 Die gleiche Mitgliederstruktur weist z.B. auch die Expertenkommission des „Elitenetzwerks Bayern“ auf. Es ist ganz offensichtlich, dass der Blick auf das Wissenschaftsland Bayern von der zentralen Position der Kommission im Machtfeld Wissenschaft bestimmt wird. Der Bericht stellt das reine Volumen der verbrauchten Drittmittel und die entsprechende Dominanz von Naturwissenschaft, Technik, Medizin und Großstandorten in den Mittelpunkt und behandelt die mittleren und kleineren Standorte sowie Geistes- und Sozialwissenschaften als nachrangig. Die zugunsten von Naturwissenschaft, Technik, Medizin und Großstandorten und bloßem Input an Ressourcen verzerrende „Messung“ von Forschungsleistungen durch das reine Volumen von Drittmitteleinwerbungen wird als Messlatte für die Bewertung von Forschungsleistungen verwendet. Dass damit Input gegenüber Output, Umsatz gegenüber Produktivität und naturwissenschaftliche Laborforschung gegenüber geistes- und sozialwissenschaftlicher Textarbeit bevorzugt und dem Wissenschaftsland Bayern als Maßstab übergestülpt wird, geht in der Stoßrichtung des Gutachtens unter. Der Blick auf das Volumen der Drittmittelforschung lässt außer Acht, mit welchem Ressourceneinsatz das Volumen erreicht wird. Dass sich die Verhältnisse bei einer Umrechnung der Drittmittel auf Professorenstellen anders darstellen als es der Tenor des Berichts vorgibt, wird weitgehend verdrängt. Die Tabelle, die darüber Auskunft gibt, spielt im Bericht keine Rolle. Überhaupt nicht beachtet wird, dass auch die Umrechnung der Drittmittel auf Professuren bei weitem noch keine realitätsgerechte Darstellung der Forschungsleistungen ergibt. Diese kann nur als Forschungsproduktivität (genauer: Inputproduktivität) im Sinne der Drittmittel pro Wissenschaftler insgesamt – Professoren und Mitarbeiter – verstanden werden, wenn man sich auf den schon verzerrenden Maßstab von eingeworbenen Drittmitteln überhaupt einlässt. Es versteht sich von selbst, dass die Chancen der Einwerbung von Drittmitteln mit der Zahl von Mitarbeitern pro Professur wachsen. Wenn auch die von der DFG (2003: 178, Tab. A3-15) zur Verfügung gestellten Zahlen schon Projektmitarbeiter aus Drittmitteln einbeziehen, ist die Umrechnung von Drittmitteln auf Wissenschaftler insgesamt – Professoren und Mitarbeiter – weit näher an der Realität als die Umrechnung auf Professoren allein. Es liegt in diesem Fall bei weitem keine so gravierende Verzerrung wie bei der Umrechnung der Drittmittel auf Professoren allein vor, weil in aller Regel die Vermehrung der Mitarbeiterzahl durch Drittmittel aus der schon gegebenen Verfügung über Mitarbeiter folgt, von denen die entsprechenden Anträge geschrieben werden.
2 In der Kommission waren dominant die Naturwissenschaften vertreten (8 von 13 Mitgliedern). Die Mitglieder wurden von folgenden Institutionen rekrutiert: U Oxford, U Stanford, ETH Zürich, U Marburg, U Bayreuth, Volkswagenstiftung, acatech, IUBremen, Schering AG, DFG, U Heidelberg, FU Berlin. Die Mehrzahl der Mitglieder war überwiegend in repräsentativen Funktionen und nicht unmittelbar in der Forschung tätig (Quelle: http://www.stmwfk.bayern.de/presse/meldung.asp?NewsID=321).
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Nicht selten entsteht eine Maschinerie konsekutiver Drittmittelforschung, als deren Motor mehr das Beschäftigungsinteresse der Drittmittelmitarbeiter als wissenschaftliche Neugierde und Kreativität wirkt. An diesem Beispiel lässt sich beobachten, wie durch die Zusammensetzung von Expertenkommissionen und deren Blick vom Zentrum des Machtfeldes der Wissenschaft auf die Wissenschaftslandschaft die Realität von Forschungsleistungen systematisch zugunsten von Naturwissenschaften, Technik, Medizin und Großstandorten und zu Ungunsten von Geistesund Sozialwissenschaften sowie mittleren und kleineren Standorten verzerrt wird, ganz nach dem Gesetz der Akkumulation von Macht durch Macht. Das Gutachten übt mit verzerrender Realitätskonstruktion in beträchtlichem Maße Definitionsmacht aus, die darauf hinwirkt, die ohnehin schon gegebene Konzentration von Macht im Feld der Wissenschaft noch weiter zu verstärken. Die Konsequenz ist indessen weniger Wettbewerb, weniger Produktivität, weniger Vielfalt und weniger Kreativität, ganz entgegen der offiziellen Rhetorik von Wettbewerb und Entlohnung nach Leistung. Wenn überhaupt mit Kennziffern gearbeitet werden soll, dann eignen sich dafür am ehesten noch Publikationen, und zwar bezogen auf das verfügbare Personal. Zieht man mit der gebotenen Vorsicht die Erhebungen des CHE (Berghoff et al. 2005) zu Rate, dann wird offenbar, dass keine Universität in Deutschland in einer größeren Zahl von Fachbereichen eine hohe Publikationsmenge erreicht. An allen Universitäten gibt es Fachbereiche mit hohen Publikationszahlen, ebenso in allen Universitäten Fachbereiche mit einem niedrigen Publikationsniveau. Alle Universitäten finden sich in der größeren Zahl von Fachbereichen im breiten Mittelfeld mit mittlerem Publikationsaufkommen. Noch mehr gilt, dass es in jedem Fachbereich Wissenschaftler mit hohem Publikationsaufkommen und solche mit niedrigem Publikationsaufkommen gibt. Die Durchschnittswerte pro Fachbereich nivellieren diese fachbereichsinternen Unterschiede erheblich. Gleichzeitig werden bei den Rankings Fachbereiche in eine Rangordnung gebracht, obwohl zwischen den meisten von ihnen kaum signifikante Unterschiede in den Durchschnittswerten bestehen. Das spiegelt die in Jahrzehnten gewachsene Realität der Universitätslandschaft in Deutschland, in der es praktisch alle Universitäten auf Fachbereichsebene miteinander aufnehmen können. Von einer Absetzung von „Spitzenuniversitäten“ von einem Rest aus grauen Mäusen gibt es keine Spur, wenn man die am nächsten den Forschungsaufgaben kommenden wissenschaftlichen Veröffentlichungen pro eingesetztem Personal zu Wort kommen lässt. Die Rede von „Spitzenuniversitäten“ erweist sich angesichts dieser ernüchternden Ergebnisse als eine politische Konstruktion von Forschungsfunktionären, die mit Hilfe der Ausübung von Definitionsmacht in der Öffentlichkeit eine Realität konstruieren, die einer näheren Prüfung nicht stand hält.
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6. Schlussbemerkungen: Lässt sich die Kluft zwischen Mythos und Realität schließen? Blicken wir hinter den Schleier der Exzellenz-Rhetorik, dann stellt sich die Frage: Wie ließe sich die Kluft zwischen Mythos und Realität schließen? Es geht nicht mit Rhetorik, sondern allein durch grundlegende Strukturreformen. Ein solches Unterfangen würde einen kompletten Systemwandel verlangen, gegen den sich alle beharrenden Kräfte stemmen. Der Wandel wird deshalb kaum stattfinden. Es war 1968, als die Traditionsuniversitäten mit dem Leitspruch „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ verabschiedet wurden. Wie man erkennen kann, sind sie immer noch da und werden durch die Exzellenzinitiative sogar wieder an die Spitze befördert. An den damals angeprangerten Strukturen hat sich überhaupt nichts verändert. Die bescheidenen Mitspracherechte von Mittelbau und Studierenden können nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Strukturproblem von viel fundamentalerer, damals nicht erkannter und deshalb auf dem falschen Weg der Demokratisierung angegangener Natur ist. Es ist die Tatsache, dass nicht mehr als 15,9% aller Wissenschaftler an den deutschen Universitäten als Professoren tätig sind und die restlichen 84,1% nichts anderes tun können, als unter Anleitung ihrer Herren vorgedachte Routineforschung ohne jegliche Chance der Selbständigkeit und nahezu ohne Karriereaussichten zu betreiben (DFG 2003: 24). Dieses oligarchische System ist auch die wesentliche Barriere, die Frauen in Deutschland von einer wissenschaftlichen Karriere abhält. Wissenschaft und Forschung werden in Deutschland nur dann zu den USA aufschließen können, wenn dieses oligarchische System zu Gunsten der Unabhängigkeit junger Wissenschaftler komplett abgeschafft wird. Dazu gehört auch die Eingliederung der noch oligarchischer als die Universitäten strukturierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen in die Universitäten. Mit dem dadurch enorm erweiterten Personalbestand wäre es möglich, Departments mit Juniorprofessuren im Tenure-track-System – d.h. mit Aussicht auf Festanstellung – und Seniorprofessoren ohne feste Mitarbeiter, aber wie in den USA mit deutlich reduziertem Lehrdeputat zu schaffen. Auch die Eingliederung des größten Teils der DFGMittel in die Universitäten zur Schaffung von Tenure-track-Juniorprofessuren würde einen erheblichen Teil zu diesem Strukturwandel beitragen. Kostenneutral könnte ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Forschung und Lehre geschaffen werden, das allen Professoren – Junioren wie Senioren – erlaubt, selbst zu forschen und kreativ zu sein und nicht nur forschen zu lassen. Sie wären davon befreit, von einer Antrags-Berichts-Maschinerie der Drittmittelforschung aufgefressen zu werden, die sich zu einem reinen Beschäftigungsprogramm für Forschungssklaven ohne jegliche Karriereaussichten verselbständigt hat (Schimank 1995). Das sakrale Instrument dieser auf Großstandorte konzentrierten Sklaverei sind die koordinierten Programme der DFG mit strenger Geltung des „Ortsprinzips“. Dieses von den Großstandorten mit ihrer Mehrheit in den DFG-Ausschüssen gestützte Prinzip macht die Provinzialität von krampfhaft erzwungenen Kooperationen am Ort zur Tugend und das Ausschweifen in die Ferne ohne große Drittmittelunterstützung zur Sünde. Auch diese Fessel von Offenheit und Internationalität gälte es zu beseitigen. Was am Ende herauskommen müsste, wäre ein Markt der Forschung, auf dem tatsächlich ein freier, politisch nicht gesteuerter und nicht kartellartig eingeschränkter Wettbewerb herrscht. Über diesen Wettbewerb hätten weder Minister noch eine kartellartig beherrschte
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Selbstorganisation der Wissenschaft zu wachen, sondern eine unabhängige Regulierungsbehörde. Die Aufgabe dieser Behörde läge einzig und allein darin, für genügend Wettbewerb zu sorgen, indem Bedingungen von Chancengleichheit einer ausreichend großen Zahl von Konkurrenten gewährleistet werden. Das wäre genau das Gegenteil der Wettbewerbsbeschränkung durch Monopolbildung, die gegenwärtig von einer kartellartig strukturierten Forschungspolitik mit der falschen Etikette von Wettbewerb und Exzellenzförderung betrieben wird.
Literatur Baudrillard, Jean (1992): Transparenz des Bösen. Berlin: Rotbuch Verlag. Berghoff, Sonja/Federkeil, Gero/Giebisch, Petra/Hachmeister, Cort-Denis/Müller-Böhring, Detlef (2005): Das CHE-ForschungsRanking deutscher Universitäten 2005. Arbeitspapier Nr. 70. Gütersloh: Centrum für Hochschulentwicklung. Berghoff, Sonja/Hornbostel, Stefan (2003): „Das CHE hinter den sieben Bergen.“ Perspektiven der Wirtschaftspolitik 4. 191 – 195. Bourdieu, Pierre (1992): Homo academicus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Bourdieu, Pierre (2004): Der Staatsadel. Konstanz: UVK (frz. Original 1989). DFG (1998): Jahresbericht 1997. Bonn: Deutsche Forschungsgemeinschaft. DFG (2003): Förder-Ranking 2003. Bonn: Deutsche Forschungsgemeinschaft. Foucault, Michel (1991): Die Ordnung des Diskurses. München: Hanser. Habermas, Jürgen (1971): Vorbereitende Bemerkungen zu eine Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt/M.: Suhrkamp. 101- 141. Hornbostel, Stefan (2001): Die Hochschulen auf dem Weg in die Audit Society. Über Forschung, Drittmittel, Wettbewerb und Transparenz. In: Stölting Erhard/Schimank Uwe (Hrsg.): Die Krise der Universitäten. Leviathan Sonderheft 20. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. 139 – 158. Merton, Robert K. (1968): The Matthew-Effect in Science. Science 159. No. 3810. 56-63. Meyer, John W./Rowan, Brian (1977): Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. American Journal of Sociology 83. 55 – 77. Mogge-Stubbe, Brigitte (2006): Lasst Unis leuchten! Rheinischer Merkur 61. 4. 26. Januar. 1. Münch, Ingo von. (2005): Elite-Universitäten: Leuchttürme oder Windräder?. Hamburg: Verlag Reuter und Klöckner. Münch, Richard (1991): Dialektik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Münch, Richard (1995): Dynamik der Kommunikationsgesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Münch, Richard (2007): Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz. Frankfurt/ M.: Edition Suhrkamp. Schimank, Uwe (1995): Hochschulforschung im Schatten der Lehre. Frankfurt/M./New York: Campus.
Theatralisierung des Theaters Rüdiger Lautmann
All das „Theater um das Theater“, der geläufige Aufreger im Feuilleton – davon soll jetzt nicht die Rede sein; also nichts über die kleinen und größeren Aufstände um Intendantenwechsel, Stückabsagen, Haushaltsengpässe, Schließungen u.s.w. Wer das Theater liebt, dem kann gar nicht genug darüber geredet werden. Soziologen indessen gehen eher selten ins Theater. Sie bestaunen bloß die rätselhafte Scheinwelt und ziehen Parallelen. Unter den Autoren dieses Bandes haben wir sogar einen Soziologieprofessor, der „Dramatologische Anthropologie“ zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählt. Mein Beitrag nun will die aktuelle Entwicklung in einer der ältesten Kulturinstitutionen der Menschheit betrachten. Heute vollzieht sich hier unübersehbar eine Spielart der „Selbstthematisierung“ (Alois Hahn1). Die Überschrift meint einen genitivus objectivus: Der Trend zur Theatralisierung hat das Theater ergriffen.
1. Ein kategorialer Rahmen Theater, Theatralität, Theatralisierung – alles das Gleiche? Nein, einige Unterschiede fallen ins Gewicht. Zum Theater rechnen, über das gewohnte Schauspiel hinaus, heute auch diejenigen Produktionen der Oper, bei denen die szenische Erscheinung mit ebenso großer Sorgfalt erarbeitet wird wie die gesanglich-orchestrale Seite, sodass Dramaturgie, Regie und Bühnenbild mit dem Schauspiel gleichgezogen haben (Musiktheater). Beim Ballett huldigen nicht mehr allzu viele Kompagnien der klassischen Choreographie des 18. bis 20. Jahrhunderts; in der Mehrzahl widmet sich die Sparte einem mit Sprache durchsetzten Bewegungsvokabular, nach dem Vorbild des Tanztheaters der Pina Bausch. Die Grenzen zwischen Sprech-, Musik- und Tanztheater verfließen häufig. Dadurch verzeichnet der Theaterbegriff einen Inhaltszuwachs, und die Theaterinstitution hat in den drei letzten Jahrzehnten ihren Ereignisraum stark erweitert. 1 Hahn verwendet das Konzept ‚Selbstthematisierung‘ in zahlreichen kultur-, politik- und religionssoziologischen Veröffentlichungen.
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Nun ist das vorhandene Kunst-Theater weder für Theatralisierung prädestiniert noch dagegen gefeit. Theatralität, als ein Idealtypus, eröffnet eine der immer gegebenen Grundoptionen menschlichen Handelns. (An dieser Stelle nun etwa auf Erving Goffman hinzuweisen wäre allzu vordergründig und einengend; dieser Autor benutzt nur das Vokabular und zeigt daran die handlungstheoretischen Möglichkeiten jener Grundoption auf.)
1.1 Das Theatrale eines Mediums Vorab muss man sich vergegenwärtigen, worin Theater besteht – was die theatralen Elemente eines Mediums sind, die wir voraussetzen müssen, ohne bereits von Theatralisierung zu sprechen. Historisch und interkulturell tritt Theater in so vielen Formen auf, dass eine brauchbare Definition hier gar nicht erst versucht wird, sondern der zuständigen Wissenschaft überlassen bleibt. Aus der Beobachterposition bedeutet Theater Schaulust, wenn man es mit einem einzigen Wort umschreiben will. Theatral geht es zu, „wo immer etwas oder jemand bewusst exponiert oder angeschaut wird“ (Warstat 2005: 358). Kurz: das Zeigen und Beobachten, innerhalb derselben Situation. Also keine ‚Theatralik‘, das sind „übertriebene, überdeutliche, auf große Wirkungen kalkulierte Darstellungsweisen“ (ebda.), und auch sonst keine Schmähkritik, als würden ernste Dinge an die Oberflächlichkeit verraten. Diesen pejorativen Klang, der das Wort in der Alltagssprache begleitet, muss man hier vergessen. Gewarnt hätte man bereits von dem auf das lateinische persona (Maske) zurückgehenden Begriff der Person sein können, die uns doch gerne als Inbegriff des Identischen, Eigentlichen, Richtigen u.s.w. erscheint. Tatsächlich bin ich niemals bloß Ich-selber, sondern immer auch das Bild, das ich von mir entwerfe und das mein Gegenüber von mir wahrnimmt – untrennbar von dem, was ich bin. Das Theatrale ist der Existenz des Individuums eingeschrieben. Wir haben es mit einem geradezu anthropologisch verankerten Grundzug zu tun, der von Helmuth Plessner als ‚exzentrische Positionalität‘ analysiert wurde und darauf abhebt, dass der Mensch nicht eins mit der Natur ist. Doch erst in den letzten Jahren entdeckte man, dass theatrales Handeln auf allen gesellschaftlichen Feldern angetroffen wird, in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Familie u.s.w. Hierzu gäbe es eine soziologische Forschungstradition aufzuarbeiten, von Georg Simmel bis Richard Sennett. Mit dem Begriff der Theatralen wird ein sozialer Tatbestand aufgerufen: „Theatralität konstituiert Gesellschaft, Gesellschaft Theater“, lautet die griffige Formel von Andreas Kotte (2002). Gemeint ist: Interaktive Darstellungen im Lebensalltag stiften den gesellschaftlichen Zusammenhalt; dieser wiederum bringt eine Institution wie das Theater hervor, von dem dann Impulse an die Gesellschaft ausgehen. Die Theaterwissenschaft – früher einmal das klassische Orchideenfach, für das sich nur ganz wenige interessierten – verzeichnete hiermit einen Bedeutungsaufschwung und riss die Grenze zur Soziologie ein. Dort allerdings hält man sich mit Ausflügen zurück, kommentiert herablassend den ‚dramatologischen‘ Theorieansatz und überlässt das spannende Feld den Medien- und Kulturwissenschaften. Prominenter noch ist heute das Konzept der Aufführung (performance), das – neben unzähligen anderen Begriffsfassungen – als Kern von Theatralität verwendet werden kann. Zusammen mit den Elementen der Inszenierung, der Korporalität und der Wahrnehmung
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konstituiert Performance die theatrale Situation. Davon einmal unterschieden, dann wieder austauschbar verwendet, wird der schillernde Begriff der Performativität. Und noch anders wird Theatralität erfasst, wenn sie als ein „Gefüge von Wahrnehmung, Bewegung und Sprache als Faktoren kultureller Energie“ bezeichnet wird (Schramm 2005: 49).
1.2 Theatralisierung Theatralisierung hebt den Prozesscharakter theatraler Situationen hervor. Wie werden die Aufführungen zustande gebracht? Wer ist darstellend, inszenierend und wahrnehmend beteiligt? Ferner, in einer Makroperspektive: Wie werden in der heutigen Lebenswelt die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und intimen Praktiken aufgeführt und rezipiert? Welche Unterschiede sind historisch und interkulturell zu verzeichnen? Die Theatralisierung beginnt, wenn uns an einer Aufführung die nicht textgebundenen Merkmale beeindrucken. Die Zutaten auf der Bühne, zumal wenn sie ein Übergewicht zum Text gewinnen, betreiben die Theatralisierung. (Streng genommen handelt es sich auch bei solchen Aufführungen bloß um eine ‚Vertheaterung‘, sit venia verbo.) Auch in den anderen Künsten wird heftig theatralisiert. Für die Literatur denke man an die zahllosen und oft gut besuchten Autorenlesungen (bei der ‚litCologne‘ füllen einzelne Autoren große Säle), an die Literaturshows im Fernsehen (MRR, Heidenreich & Cons.), an die Dramatisierung großer Romane, an die Flut der Hörbücher. Für den Musikbetrieb, für die Ausstellungen der bildenden Kunst, für Film- und Videokunst lassen sich verwandte Tendenzen ausmachen (gelegentlich geschmäht als ‚Trend zur Eventkultur‘). In einem speziellen Sinne, in den letzten Jahren interdisziplinär bewährt, lässt sich Theatralität entlang von vier Gesichtspunkten untersuchen (Fischer-Lichte 1998: 86): 1. Performance, auch: Aufführung (die Darstellung von Körper und Stimme vor anwesenden Zuschauern) 2. Inszenierung (die Art der Zeichenverwendung) 3. Körperlichkeit (bezogen auf die Physis der Darsteller sowie alle Materialien) 4. Wahrnehmung (durch die Zuschauer) Die vier Kategorien sind wenig trennscharf definiert, ihr Verhältnis zueinander ungeklärt (Nr. 1 scheint übergeordnet zu Nrn. 2 bis 4 zu sein). Sie zu explizieren verspricht wenig Erkenntnisgewinn, zumal mehrere divergente Fachsprachen zu berücksichtigen wären. Anstatt nun jene Kategorien weiter zu erläutern, seien sie sogleich auf das Phänomen einer Theatralisierung von Theater angewandt. 1. Bezüglich der Kategorie Performance hat eine Innovation stattgefunden, die den Schauspieler vom Rollenträger zum ‚Performer‘ beförderte. Nicht die Figur wird auf die Bretter gestellt, ja es wird gar keine Rolle gespielt. Vielmehr folgt der Darsteller vollständig dem, „was als Impuls aus seinem Inneren auf die Handlungen einer Rolle reagiert (…); er ist in Kontakt mit seinem Zentrum und fähig, sich frei mit anderen in Beziehung zu setzen“ (Schechner 1973/2005: 330). Diesem Schauspieler sollte es gleichgültig sein, wie er aussieht. Pointiert formuliert es Schechner (1973/2005: 335): „Die Arbeit des Performers beginnt und endet beim Körper. Wenn ich über Seele, Verstand, Gefühle oder Psyche spreche, meine
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ich immer Dimensionen des Körpers. Der Körper ist ein Organismus von endloser Anpassungsfähigkeit. Ein Knie kann denken, ein Finger lachen, ein Bauch weinen, ein Gehirn laufen und ein Gesäß kann zuhören.“ Für Trainingszwecke beginnt Schechner in der Körpermitte – bei den Eingeweiden. Danach folgt die Arbeit mit Wirbelsäule, Gliedmaßen und Gesicht, mit dem Atmen u.s.w. Mag sich das anfangs noch als bloßes Postulat gelesen haben – heute ist es in vielen Aufführungen zu besichtigen. Die Programmschrift von Richard Schechner wird hier so ausführlich zitiert, weil allenthalben auf sie Bezug genommen wird. Die Spieler werden also nicht hinter einer Maske verschwinden und nicht in ihrer Rolle aufgehen. Naturalismus und Psychologie sind verabschiedet. (Ein wenig erinnert das an die Wende in der soziologischen Rollentheorie um 1970, als die Sozialphänomenologie die sozialpsychologische Perspektive von Erwartungsdruck u.s.w. überwand.) „Theatrale Logik besteht aus dem Tun, Zeigen, Verkörpern, Singen, Tanzen, Spielen. Das sind die Ressourcen, auf die ein Performer zurückgreift, wenn er eine Rolle vorbereitet. Was für eine ‚Psychologie‘ sich auch immer in einer Rolle zeigen wird, es wird die Psychologie des Performers sein, sein eigenes, persönliches Sein.“ (Schechner 1973/2005: 355) 2. Inszenierung. Beispielsweise das Spektrum von Darstellungsweisen hat sich enorm erweitert. Die heute auf der Bühne geübten Praktiken können in ein Kontinuum mit den Extrempunkten Schauspielen vs. Nicht-Schauspielen eingeordnet werden. Beim NichtSchauspielen unternimmt der Darsteller nichts, um etwas vorzutäuschen (so ist es oft in Tanzstücken). Beim anderen Extrem wird im Übermaß gemimt – alles das, was auf der Bühne wahrzunehmen ist, wird dem Als-ob des Darstellens unterworfen.2 Heute hat man im Theater stets gewärtig zu sein, dass das Tun der Darsteller sich nicht weit vom Pol des Nicht-Schauspielens entfernt, dass ihr Tun nicht eindeutig einem einzigen Typus des Kontinuums zuzuordnen ist – dass sie ‚aus ihrer Rolle heraustreten‘, wie man früher gesagt hätte. 3. Körperlichkeit. Das Konzept der Theatralität setzt den Körper als zentrale kulturtheoretische Kategorie ein. Der Körper generiert kulturelle Ereignisse und weist ihre Bedeutung vor (Klein 2005: 80). Diese Einschätzung korrespondiert mit den Grundideen von N. Elias, E. Goffman und P. Bourdieu, gilt aber in der Soziologie immer noch als etwas gewöhnungsbedürftig. Das Theater verzichtet nur ausnahmsweise auf die Präsentation des materiellen Spielerkörpers, und wenn, um am Grenzfall dessen Unentbehrlichkeit zu demonstrieren – durch seine momentane Abwesenheit wird nur umso stärker auf den Körper hingewiesen. 4. Wahrnehmung. Die Theateraufführung benötigt nicht nur ein irgendwie präsentes Publikum, wie unablässig betont worden ist. Vielmehr kommt es genau auf die Weise an, in der Zuschauer die Aufführung wahrnehmen. Die Perzeptionsarten werden nicht individuell bestimmt, sondern sind typologisch vorgegeben. Für den New Yorker Theaterwissenschaftler und Regisseur Michael Kirby existiert Theater nur innerhalb eines deutlich gesetzten Referenzrahmens, der zwischen Darstellern und Zuschauern ausgehandelt wird. „Theater ist kein quasi natürlicher, unkontrolliert,spontan und zufällig stattfindender Vorgang, sondern setzt entsprechende Intentionen der beteiligten Akteure und Zuschauer voraus. (…) Der Referenzrahmen, der Voraussetzung für Theater ist, wird also gemeinsam durch Schauspieler und
2 Für die Begriffe und Erläuterungen dazu vgl. Kirby 1987/2005 sowie Lehmann 1999: 242 f.
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Zuschauer konstruiert.“ (Roselt 2005: 359) Schon Erving Goffman unterschied verschiedene Rahmen, in denen sich die Erfahrung einer Theatervorstellung organisiert (1977: 143-164). Mit dieser Begrifflichkeit lässt sich das aktuelle Geschehen im Kunsttheater kultursoziologisch untersuchen. Denn im Konzept der Theatralisierung vereinen sich kunst- und sozialwissenschaftliche Überlegungen zu einem allgemeinen Interpretationsmodell für Kultur, wie es das interdisziplinäre Forschungsprogramm der DFG von 1996 versprach und – unter Teilnahme mehrerer Soziologen – auch verwirklicht hat.3 Man verwechsle also die folgenden Überlegungen nicht mit einer an der Ästhetik interessierten Analyse. Vielmehr versuche ich, die vorfindliche Bühnenwirklichkeit faktenorientiert zu beschreiben.4 Allerdings eignet sich ‚Theatralisierung‘ als analytische Klammer dann nur noch sehr bedingt, wenn der Begriff zu weit geöffnet wird, dass er beliebig wird. Unter den Theaterinteressierten – Machern, Kritikern, Besuchern – sind die Vorgänge und Veränderungen heftig umstritten. Diese Meinungs- und Bewertungskonflikte spielen sich auf der Geschmacksebene ab: Hat mir das gefallen oder lehne ich es ab? Woran es fehlt, ist eine empirisch informierte Analyse, die nicht den Daumen nach oben oder unten kehren will. Schlagwörter wie ‚Regietheater‘ oder gar Polemiken wie ‚Blut- und Hodentheater‘ eignen sich nicht im Entferntesten zur Interpretation, ja nicht einmal zur Begründung von Geschmacksurteilen. Der vage Begriff ‚Regietheater‘ bezeichnet ganz unzulänglich, was auf den tonangebenden Bühnen in Deutschland geschehen ist (und sich nicht rückgängig machen lassen wird). Das Geschimpfe gegen das Regietheater versucht eine einzige Position im Produktionsprozess, womöglich gar die inszenierende Person verantwortlich zu machen, nach dem Prinzip Haltet-den-Dieb. Es ist aber keineswegs „die Regie“, der wir die Veränderungen zuzuschreiben haben, sondern eine mächtige Kulturströmung der Gegenwart. Für das Geschäft der Bewertung ist zu sagen: Es gibt gutes und schlechtes Regietheater. Denn es existieren in allen Sparten, vom Avantgarde- bis zum orthodoxen Stil, unterschiedlich qualitätshaltige Inszenierungen, sofern der Besucher nicht von vornherein festgelegt ist, d.h. anhand von Namen oder Einzelmerkmalen präjudiziert ist. Der soziologische Blick – empirisch, analytisch, distanziert – will den ästhetischen Streit nicht schlichten, doch vermag er ihn zu versachlichen. Kein leichtes Unterfangen im Reich der Künste, dem das soziologische Instrumentarium oft inadäquat ist. Entzauberung und Rationalisierung können hier nicht das letzte Ziel sein; gefragt ist ein Verständnis jenseits blinder Wertungswut. Eine Möglichkeit dazu besteht darin, den Geschmacksstreit um das Gegenwartstheater selbst zum Gegenstand empirischer Forschung zu machen. Wer vertritt die Positionen? Wie wird im Ablehnungsfalle reagiert – mit Rückzug, Protest oder Weiterbesuchen? Gibt es Sur3 Siehe die materialreiche Reihe „Theatralität“ mit sieben Bänden (2000 bis 2005, hrsgg. v. E. Fischer-Lichte, Tübingen: Francke). 4 Zur empirischen Grundlage dieses Beitrags ist zu bemerken: Ich beabsichtige keinen Literaturbericht (das Thema der Theatralisierung wurde bezüglich des Theaters noch gar nicht explizit behandelt), sondern eine Analyse der Erfahrungen, die ich im und über das Theater gesammelt habe. Meine Behauptungen stützen sich zum einen auf den regelmäßigen Besuch von Aufführungen (ein- bis zweimal saisonwöchentlich seit langem), zum anderen auf die intensive Lektüre von Aufführungsberichten in den Feuilletons der Zeitungen sowie in den Theaterzeitschriften. In Deutschland fällt es erstaunlich leicht, ein Bild vom Zustand des Theaters zu bekommen, so zahlreich und vielfältig sind die Zugänge und Quellen. Aus dieser Vorform ‚beobachtender Teilnahme‘ bzw. ‚Inhaltsanalyse‘ entstehen zwar keine Daten i.e.S., wohl aber ein Fundus an Informationen.
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rogate für Enttäuschungen im Hochkulturtheater? Mit wem wird über Theaterfragen kommuniziert, wie verändern sich die Urteile, schichtet sich das Publikum um, lässt sich die ominöse Verjüngung bewerkstelligen u.s.w. Damit beschafft Sozialforschung eine Menge planungsrelevanter Informationen, die zumindest in den Intendantenbüros und Kulturberatungsfirmen zur Kenntnis genommen werden.5 Die Kunstproduzenten allerdings verweigern sich heute einer unmittelbaren Orientierung am Markt. (Ungeklärt ist die Frage, wie weit Nachfrage, Preise, Fernseh- und Filmangebote das Handeln von Theaterakteuren mittelbar beeinflussen. Die kommerzielle Unterhaltungsindustrie zieht zweifellos viele begabte Kräfte vom Theater ab.)
1.3 Text und Aufführung In den genannten vier Kategorien von Theatralität fehlt jede Bezugnahme auf das gespielte Stück. Allenfalls die zu spielenden ‚Rollen‘ werden erwähnt – und ihre Bedeutung relativiert. Der Theaterbesuch orientierte sich früher an dem angekündigten Drama (‚Ich war in Hamlet‘), heute zunehmend an der Aufführung (‚Ich gehe zu Castorf‘). Die Pointierung soll eine unübersehbare Tendenz hervorheben. Theatralisierung bezeichnet den Prozess, in dessen Verlauf die theatralen Momente in einer Interaktion die Oberhand über die Werkmomente gewinnen. Das bearbeitete Werk tritt gegenüber dem dramatischen Verlauf in den Hintergrund. In einer Aufführung lassen sich zwei Wahrnehmungsebenen unterscheiden: erstens das, was als Stück, Handlung, Botschaft u.s.w. zu sehen ist; zweitens die Art der Präsentation durch Schauspieler, Bühnenbild, Musik u.s.w. In arger Verkürzung: das Was und das Wie. Hier das Dargestellte, dort die Darstellung. Hier das Kommunikat, dort die Kommunikation. Bei solchen allzu vertrauten Gegenüberstellungen muss man allerdings aufpassen, nicht bei einer Vereinfachung à la Inhalt-vs.-Form zu landen. In der Theaterwirklichkeit hat es dieses Nebeneinander immer unproblematisch gegeben. Drama und Schauspieler trafen aufeinander. Solange der Stücktext unbestrittenes Übergewicht genoss und die ‚Umsetzung‘ als sekundär erschien, war die Priorität nicht umkämpft. Doch gingen die Leute immer schon wegen des scheinbar minoren Teils ins Theater: Sie wollten das Spiel genießen, nicht (nur) den Text mitbekommen. Der ‚gelernte‘ Besucher las sogar vorher den Text, um sich dann auf das Spiel konzentrieren zu können. Im herkömmlichen Theater (heute als ‚Stadttheater‘ verschrien) hielten sich die beiden Erlebnisebenen im Gleichgewicht. Als Klammer fungierte die Idee, dass die vorgegebene Figur aus dem Dramentext die Darstellungsweise zu lenken habe. Somit ging eine Literaturanalyse der Einstudierung voraus. Inszenierung und Spielweise sollten hinter dem Eindruck der vorgeführten Figur verschwinden. Dass Othello schwarz geschminkt war, verstand sich nicht nur von selbst, sondern sollte auch vergessen gemacht werden. Das höchste Lob aus Laienmund lautete danach: ‚Er spielte nicht Othello, er war Othello‘. 5 Karl Heinz Reuband recherchiert in einer Reihe von Befragungen konsequent im Publikum, darunter auch über die Akzeptanz moderner Operninszenierungen (Reuband 2006) und über die Offenheit zur intellektuellen Auseinandersetzung – differenzierend je nach Theaterbranche (Reuband/Mishkis 2005).
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Inzwischen wird zwischen den beiden Theaterebenen mehr denn je getrennt, ja die Trennung löst sich auf. Der Text wird disponibel, die Wirkung der Aufführung als ganzer erhält Priorität. Genau dieser Wandel kann als Theatralisierung von Theater bezeichnet werden, wenngleich diese sich aus vielen Einzelveränderungen zusammensetzt. Die Dramenautoren wurden entthront, und die Theatermacher wurden (endlich?) zu Autoren der Aufführung. Bei der Einführung des Begriffs ‚Theatralität‘ wurde oft betont, die Vorherrschaft eines gegebenen Werks werde von der Performanz und dem Ereignis abgelöst. Vor der Institution Theater hat diese Tendenz ebenso wenig Halt gemacht wie vor Politik, Religion, Werbung u.s.w. Für das Kunsttheater bedeutet die Theatralisierung nicht, wie man ja denken könnte, eine Selbstverständlichkeit, als käme es ‚nur‘ zu sich selbst. So aber sieht es Birkenhauer, wenn sie von der ‚Retheatralisierung‘ spricht, vom „Ende einer künstlerischen Blockade“ (2006: 183). Mir will der Stilwandel doch als ein Novum erscheinen. Wenn die Dominanz des Literarischen auf der Bühne sich abschwächt – falls sie das überhaupt tut –, dann folgen daraus längst nicht alle Entwicklungen, wie sie Theatralisierung mit sich führt. Im übrigen bleibt das Gedanklich-Textliche so gewichtig wie nur je, bloß sind die Vorlagen nicht mehr sakrosankt, d.h. dem gestaltenden Zugriff entzogen. In dem Forschungsverbund zur Theatralität um 2000 bestand weithin Einigkeit darüber, die Dimensionen Werk und Performanz strikt zu trennen. Dafür wurde nicht zuletzt die interkulturelle Gerechtigkeit angeführt. Bislang habe sich das Selbstverständnis westlicher Kulturen vor allem entlang von Texten und Monumenten formuliert, wohingegen nichtwestliche Kulturen sich vor allem als theatrale Prozesse bzw. cultural performances artikulierten. Von hier aus mag es als plausibel erscheinen, wenn die avancierte Bühnenpraxis den Schwerpunkt ihrer Kommunikation vom Text zum theatralen Vorgang verlagert. Die inzwischen recht häufigen Gastspiele von Truppen auch der entferntesten Länder in eigener Sprache stoßen auf Interesse und unterstreichen damit die Tendenz.
2. Befunde zur Theatralisierung des Theaters Die durch Theatralisierung gestellten Fragen sind nun an das Theater der Gegenwart zu richten. Inwieweit nimmt es die mächtige Strömung auf? Worin bestehen die Symptome? Verändert es sich dadurch? Beeinflusst es auch den Fortgang der allgemeinen Theatralisierung? Kommt es vielleicht zu gegenläufigen Effekten? Es liegt zugleich nahe und fern, Prozesse der Theatralität an deren Urszene zu studieren. Den einen mag so etwas als pleonastisch erscheinen, andere hingegen – Anhänger der Systemtheorie etwa – werden es für geradezu selbstverständlich halten. Meine Bestandsaufnahme wird einige Tendenzen herausheben und zuspitzen. Generalisierungen verbieten sich, denn es bestehen viele Arten von Theatern und Aufführungspraktiken nebeneinander, auch im selben Haus. Mein Zeitraster ‚früher – heute‘ ist zugegeben sehr vage. Sicher ist nur, dass es keinen fixierten Anfangspunkt des hier konstatierten Wandels gibt.
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2.1 Absage an die Treue zum Stücktext Das Theater will nicht mehr so sehr ein Ort sein, wo ein Stück Text auf die Bühne kommt. Im Mittelpunkt der Theaterarbeit steht vielmehr die Aufführung als solche, die Performance. Immer noch benötigt man Dramentexte, aber im Grenzfall geht es auch ohne. Damit wird die Tendenz ‚vom Werk zur Performanz‘ konsequent realisiert. ‚Strichfassungen‘ gab es immer schon, sie wurden in der Dramaturgie hergestellt. Beim Vortrag auf der Bühne ändert sich der Text. Mehr denn je gelten heute die Vorlagen als ‚unvollständig‘; ihr Wortlaut wird bearbeitet, verändert, erweitert. Wurde der Text früher „eingestrichen“, um die zumutbare Aufführungsdauer nicht zu überschreiten, dient er heute als Ausgangspunkt, um die eigene „Fassung“ zu destillieren. Eine Spielvorlage wird neu aufgebaut, wobei Zutaten aus anderen (oft theaterfremden) Texten, Aktualisierungen, Kraftworte u.s.w. hineingemixt werden. Der Text dient als Ausgangs- und nicht mehr als Zielpunkt der Inszenierung. Er wird als ‚Material‘ behandelt, d.h. als ein Rohstoff, der zu bearbeiten ist, um Gestalt zu erlangen. Im Prinzip war es ja nie anders gewesen, nur war es nicht aufgefallen, weil der Arbeitsprozess – eben die Theatralisierung – sich nicht so in den Vordergrund der Aufmerksamkeit geschoben hat. Heute will der Kenner von einer Neuinszenierung zuerst wissen: Wie haben sie das gemacht, welche Interpretation erfuhr der Klassiker u.s.w. Die früher primäre Frage nach der theatralen Wirkung ist in den Hintergrund getreten. Zu studieren ist dies an den Inszenierungen der Stücke des William Shakespeare, deren Wiedergabe großen Schwankungen unterliegt (womit sich ihr Klassikercharakter bestätigt). In der Anglistik wird seit einiger Zeit die soziologische Konzeption von Erving Goffman herangezogen, um wesentliche Partien des Dramenwerks zu interpretieren, beginnend mit der von Shakespeare häufig verwendeten Form von Rollenspiel, Spiel-im-Spiel u.s.w. (zunächst bei Dietrich Schwanitz, in großer Ausführlichkeit bei Roland Weidle 2002). Indem sich die dramaturgische Analyse des Theatralitätsansatzes bedient und Neues in den alten Texten entdeckt, passt sie sich vielleicht nur an die Sicht- und Lebensweise der Spätmoderne an. Man darf vermuten, dass auch auf diesem literaturtheoretischen Wege die reflexive Theatralisierung in die Praxis einsickert. Die Literatursoziologie konzentriert sich auf den lesenden Menschen und trennt die Genres höchst säuberlich. Man analysiert beispielsweise Romane für sich (wie in Kron/Schimank 2004, teilweise auch in Bourdieus „literarischem Feld“, vgl. 1999). Gedichte fallen bereits in eine andere Kategorie, Dramentexte in eine noch andere. Nur ‚Unspielbares‘ und überlange ‚Lesestücke‘ haben eine Chance, literatursoziologisch gewürdigt zu werden. Das Theater hingegen behandelt die vorgefundenen Texte als Vorlage für etwas anderes als die Lektüre, und dieses Andere kann nur die Aufführung sein.
2.2 Bühnenfigur und Desillusion Eine Illusion, der darstellende Mensch da vorne auf der Bühne sei die dargestellte Figur, wird nicht mehr vermittelt. Bis in die 1960er Jahre beherrschte Konversation die Bühne, aufgeführt wurden sprachmächtige und (-lastige) Stücke. An Schauspielern wurde die Fä-
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higkeit zur Rezitation gerühmt (Will Quadflieg und Maria Becker etwa reisten so durch die Lande). Ist es heute mit der Hegemonie des Buches vorbei, wird die uralte Herrschaft der Audiovisualität wiederbelebt, wie Hartmut Böhme meint?6 Möglicherweise aber erledigt die Digitalisierung gleich all diese Dimensionen auf einen Schlag, möglicherweise leben sie alle miteinander fort. Manchen mag es noch als ein ehernes Gesetz des Theaters erscheinen: „Auch der moderne Schauspieler, der einen anderen repräsentiert, bleibt Träger einer Maske“ (Soeffner 2005: 52 und 92). Doch genau dies wird im Zuge der Metatheatralisierung durchbrochen. Spieler, Darsteller und Figur, Mensch und Maskenträger verschwimmen. Die Schlagwörter, mit denen das Herkömmliche abgelehnt wird, lauten ‚historistisches‘, ‚naturalistisches‘ und ‚psychologisches‘ Theater. Bereits B. Brecht hatte mit der ‚Verfremdung‘ dagegen angekämpft, nur in seinen Modellinszenierungen das nicht publikumsabschreckend spüren lassen. Auch bestand der V-Effekt nicht in der Reflexion über das Theater, sondern in einer politisch-kritischen Haltung gegenüber dem dargestellten Vorgang. Die Spieler ‚zeigen‘ nicht auf ihr Theater, sondern auf gesellschaftliche Verhältnisse. Gleichwohl erzeugte das Berliner Ensemble eine unmittelbare Anteilnahme an den thematisierten Problemen – Krieg, Ungleichheit, Faschismus – und rief emotionale Erschütterung hervor. Im theatralisierten Theater von heute sind sowohl historisch präzise Rekonstruktionen als auch die Einfühlung der Beteiligten (Spieler wie Zuschauer) verpönt. Eine als natürlich erscheinende Genauigkeit gelingt besser in den Bildmedien. Und Emotionen werden öffentlich verhandelt – wie in der geläufigen Frage wie fühlst du dich?‘. Die Tyrannei der Intimität, im 19. Jahrhundert noch von der Bühne her gefördert (Sennett 1983: 52ff., 202ff.), wird durch die Selbstreflexion unterwandert. Gleichwohl moniert man gelegentlich die „Aufhebung aller ‚Grenzen des Natürlichen‘ in Schauspiel und Artistik“.7 Auch dieser Kritiker weiß, dass Theater ‚künstlich‘ ist und nicht ‚natürlich‘. Aber die Geschmackskonvention kannte Grenzen, die neuerdings überschritten werden. Der Mensch ist von Natur aus ein homo ludens. „Ein Spieler ist er gerade auch dort, wo seine feinsten und humansten Möglichkeiten sich entfalten: wo die Kultur entsteht.“ (Flitner 1994: 232) Im Prozess der Theatralisierung steigert sich das natürlich Künstliche zum künstlich Künstlichen. So betrachten die Zuschauer heute nicht mehr Charaktere und Schicksale, genießen nicht mehr die hochliterarischen Texte. Sondern sie sehen eine vielschichtige Aktion, in der auch schöne Sprache und interessante Figuren vorkommen – vor allem aber die künstlerische und intellektuelle Ausschmückung animiert.
2.3 Individualität der Schauspieler Richard Schechner gehört zu den vielberufenen Vertretern des theatralisierten Theaters, in Praxis und Theorie. Er zielt nicht „auf eine Komplementarität oder Verschmelzung von Schauspieler und Rolle ab. Die Handlungen des Schauspielers führen nicht die Handlungen einer 6 Hartmut Böhme, Das Theater der Kulturwissenschaften. In: Der Tagesspiegel, 30. Dezember 2002. 25. 7 Martin Halter in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. März 2007. 36.
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fiktiven Figur vor, sondern dramatisieren den Moment der Darstellung durch den Schauspieler selbst“ (Roselt 2005: 329). Das Ideal besteht nicht mehr darin, in der Figur zu verschwinden und ausschließlich diese in den Vordergrund der Darstellung und Wahrnehmung zu rücken. Der Schauspieler darf, ja soll, als produzierende Person und Künstler erkennbar bleiben. Er bringt sich ‚als Marke‘ in die Aufführung ein. Weniger abfällig: Das individuelle Profil der Protagonisten prägt die Produktion und wird zum Gegenstand der Rezeption. Ähnliches gilt für viele Regisseure und Dirigenten. Nachher mag man dann weniger darüber sprechen, wie dem oder der ihr Auftritt, ihre Regie, ihr Dirigat gelungen ist – sondern darüber, ob der oder die in der erwartbaren Linie ihres Profils agiert haben. Die Wahrnehmung einer Aufführung fokussiert sich damit auf andere Dimensionen, als man es in der Zuschauersozialisation früher gelernt hat. Entfesselt wird eine Kreativität der Darsteller bis an die Grenze der Devianz. So gewinnen sie Souveränität gegenüber dem Text und teilweise auch gegenüber der Regie. Die Zuschauer sehen das und sind anfangs durchaus davon befremdet. Die Faszination so mancher Inszenierung seit den 1970ern ging von hier aus – man denke an Othello (Hamburg, 1976). Peter Zadek, einer der epochemachenden Regisseure der zurückliegenden Jahrzehnte, schwärmt von „Schauspielern, deren Phantasie nicht abbricht: Es sind Schauspieler, mit denen man als Regisseur sozusagen etwas ankurbelt, danach fährt das Auto von allein. Du musst immer mal ein bisschen Sprit reintun oder auch ein bisschen Öl, aber an sich fährt es von allein. (…) Ilse Ritters Phantasie bricht 24 Stunden am Tag nicht ab. Manchmal zu meinem Entsetzen. Der Zustand, in den die Schauspieler, die mich interessieren, dadurch geraten, ist nahe an der Schizophrenie. Es hat etwas Krankhaftes. Sie kennen zwar den Unterschied zwischen Schauspielerei und Realität noch, aber nur noch gerade so. Es besteht immer die Gefahr, dass auf der Bühne Dinge passieren, auch Brutalitäten, die sie nicht mehr unter Kontrolle haben. In frühen Zeiten war es manchmal gefährlich, mit Wildgruber zu arbeiten, weil er ja auch ein großer Mann war. Wenn er anfing, um sich zu schlagen oder jemanden zu schütteln, war das nicht immer ungefährlich. (Zadek 2006: 153ff.).
So wird die Aufführung zur Performance – jenseits des einstudierten Stücks. Das Spiel und der individuelle Charakter der Spieler machen das Aufregende aus. Im Wege stand bis dahin, „dass die Schauspieltechnik sich in erster Linie immer noch darauf konzentriert, dass der Schauspieler auf der Bühne bestimmte Dinge ausdrücken kann“ (154). Zadek beschreibt seinen Umgang mit den Darstellern – es ist eine Weise, sie zu einem theatralisierten Spiel zu bewegen. Zunächst distanziert sich der Regisseur von dem Modell ‚Schauspieler kommen mit dem gelernten Text zur Probe, die Regie sagt ihnen, was sie zu tun haben‘. Vielmehr wartet er auf die vorgeführten Spielangebote, erlaubt sogar, dass Darsteller sich den Text zunächst vollständig soufflieren lassen. Noch einmal Peter Zadek: Mir macht es nichts aus, wenn ein Schauspieler keinen Geschmack hat. Im Gegenteil. Geschmack ist eine gesellschaftliche Norm. Wenn man ‚geschmackvolles‘ Theater sieht, bedeutet das nur, dass sich der Regisseur nicht gewagt hat, sich über die Stränge von gesellschaftlichen Konventionen hinwegzusetzen. (2006: 155)
Zur Performance gehört es, das Publikum zu überrumpeln. Nicht etwa zirzensische Kunststücke bewirken das, sondern Darstellungen, die überraschen. Unerhört muss es sein und über die Grenzen des Gewohnten gehen.
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2.4 Absage an das ‚Schöne‘ Wie manche meinen, „dreht sich in der Kunst alles um das im Rahmen von Stilen produzierte Schöne“ (Kron/Schimank 2004: 7). Doch könnte dies zu einfach gedacht zu sein, bei der Suche nach einer ‚Leitdifferenz‘. Der reflexive Mechanismus, mit dem das Theater seine Idee auf sich selber anwendet, negiert den Gestus des Schönen. Die Wonnen einer gemütlichen Ästhetik werden verworfen, ja Hässlichkeit ist Trumpf. Daraus folgt die allenthalben zu beobachtende Maßlosigkeit im Umgang mit den Theaterzeichen. Der Exzess aufgewandter Bühnenmittel ist zum Erkennungsmerkmal des Neuen und Eigenen geworden; in ihm schiebt Theater sich in den Vordergrund dessen, was von der Aufführung wahrzunehmen ist und haften bleibt. Nicht das Stück und seine Botschaft, nicht die Brillanz der Darsteller prägen den Eindruck, sondern die Heftigkeit der sinnlichen Effekte: die Lautstärke der Stimmen, Geräusche und Musik; ein minutenlanges Schweigen; zusammenkrachende Bühnenbilder; Wasserbecken auf der Bühne; akrobatische Verrenkungen der Darsteller; ein Höchsttempo beim Sprechen, welches den Text unverständlich werden lässt u.s.w. Die Produzenten überbieten sich hierbei in den Mitteln, die aus jeder herkömmlichen Ästhetik ausbrechen – und damit die Auseinandersetzung mit dieser Art von Theater hervorrufen. Die Darstellung von Gewalt wird nunmehr so realistisch wie nur möglich. Da die Kritik es mittlerweile rügt, dass manche Aufführungen Hektoliter von Kunstblut vergießen, werden bald andere Zeichen benutzt werden. Darsteller sind heute sehr sportiv und hochtrainiert, sodass sie sich tief fallen, über die Bühne jagen und schleudern lassen können. Nacktheit wird als krasser Effekt (und nicht zur erotischen Erbauung) eingesetzt. Sexuelle Interaktionen finden (gespielt) statt und werden nicht nur im Text erwähnt. Den Weg hierfür bahnten um 1990 Performance-Künstler wie Ron Athey und Anita Sprinkle sowie die katalanische Truppe Fura dels baus. Damit werden absichtsvoll Situationen der Peinlichkeit hergestellt. (Bei Norbert Elias ist das, im Unterschied zur Scham, die Situation, in der man der Normübertretung eines anderen Anwesenden ansichtig wird und darüber in Verlegenheit gerät.) Jeder muss nun für sich entscheiden, ob er weiter hin- oder ob er wegsieht, vielleicht hinausgeht, vielleicht eingreift – die Situation ist offen, nur ausweichen lässt sich ihr nicht mehr, weil sie präsent ist. Solche Aufführungsmomente erzwingen eine Entscheidung beim Zuschauer.
2.5 Wahrnehmungsweise des Publikums Die früher so hermetische vierte Wand der Bühne wird nun durchlässig. In vielen Aufführungen werden die Zuschauer direkt adressiert, wofür nur einige Beispiele genannt seien: – Scheinwerfer richten sich auf das Publikum; – Spiegel stehen auf der Bühne, in denen die einzelnen Zuschauer sich erkennen können (Werther im Berliner Gorki-Theater 2006, Hamlet in Zürich 2007); – die Schauspieler begeben sich in den Zuschauerraum und reden dort auf das Publikum ein; – einzelne Zuschauer werden kurzzeitig in die Aufführung einbezogen.
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„Die Position des Zuschauers wird umgekehrt: Er ist der Erblickte, die Inszenierung sieht ihn an; aus einem Betrachter wird ein Betrachteter.“ Theresia Birkenhauer (2006: 181) belegt diesen Satz detailliert an der ebenso überraschenden wie beeindruckenden Inszenierung von Woyzeck (Salzburger Festspiele 2003). Die Repräsentation der Stückhandlung tritt zurück, die Kommunikation mit dem Zuschauer nimmt zu. Die Aufführung lenkt die Aufmerksamkeit auf sich selbst – als Aufführung, nicht als Repräsentation. „Theater wird als Situation akzentuiert, nicht als Fiktion“ (Lehmann 1999: 231). Nicht selten versuchen aktuelle Inszenierungen, das Publikum mit dessen Wahrheiten zu konfrontieren. In einem alten Stück spiegelt sich dann z.B. die „Spaßgesellschaft“ von heute (MüllerSchöll 2006, über La finta giardiniera in Stuttgart), übrigens ein recht häufiges Inszenierungskonzept, ebenso wie bezüglich anderer zivilisationskritischer und zeitdiagnostischer Ideen. Vieles Weitere ließe sich anführen, um das neue Theater zu charakterisieren. Nicht alles davon ist sogleich als ein Symptom von Theatralisierung zu erkennen, manches indessen doch so zu entschlüsseln. Nur einige Beispiele noch. Des Öfteren steht eine Einstudierung nicht für sich allein, sondern wird in einen thematischen Rahmen für die ganze Saison gestellt. – Der Zuschauerraum wird in vielen Aufführungen umgestaltet; die Spielplätze und Sitzreihen durchdringen einander. Längst enthierarchisieren ihn alle Neubauten durch Abschaffung der Ränge und Logen. – Nicht selten wird eine Bühne auf die Bühne gebaut – ein besonders augenfälliger Ausdruck für die Theatralisierung des Theaters. Oder umgekehrt: es wird gern vor dem Eisernen Vorhang gespielt, also dem Stück scheinbar die Bühne verweigert. – In einer denkwürdigen Volte bemüht sich das theatralisierte Theater um Echtheit. In Armutsstücken werden dann Bettler oder Obdachlose auf die Bühne geschafft (wie einmal bei Schlingensief in Hamburg), oder „Damen und Herren ab 65“ aus Wuppertal tanzen den Kontakthof von Pina Bausch. – Theaterkritik wird selber zum Schauspiel der Beurteilung. Zuschauerzahlen und Auslastungsquoten werden gemessen und öffentlich verhandelt. Wie in einem Wettbewerb bestimmt eine Jury den Jahressieger und eine Art von Erster Bundesliga.
3. Selbstthematisierung Zwar ähnelt Theatralisierung in Manchem dem Vorgang, wenn eine Person die eigene Identität zum Thema einer Interaktion erhebt; die beiden Prozesse decken sich aber keineswegs. Für den Wandel institutioneller Selbstthematisierungen in der Moderne konstatieren Hahn und Willems, er könne in vielen Hinsichten auf den Begriff der Theatralität gebracht werden (Hahn/Willems 1998: 210). Vor allem im Theater muss Theatralisierung den Charakter einer Selbstthematisierung annehmen – so vielfältig sie sich dann auch äußert. Den Vorgang Theatralisierung von Theater können wir unter ‚Reflexivität‘ verbuchen. „Schon durch ihre Codierung sind symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien selbstreferentiell strukturiert“, heißt es bei Niklas Luhmann (1997: 372), und dies ist nur ein tautologischer Satz in seiner Systemtheorie. Von allgemeinerem Interesse ist seine Aussage, dass Kommunikation stets reflexiv ist, d.h. auf sich selbst angewandt werden kann. So wie es Forschungen über das Forschen gibt, wie die Liebe geliebt werden kann (und sollte), so
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mag Theater sich theatralisieren. Eine solche Reflexivität hat sich erst in der Moderne durchgesetzt; mit ihr gewinnt das Medium seine Autonomie und grenzt sich gegenüber anderen Teilsystemen ab (ebda.: 373). Allerdings sind solche Überlegungen und Setzungen für die autopoietische Systemtheorie grundlegend, für andere Theorieperspektiven nicht. Dem Theater eignet von vornherein eine reflexive, selbstbezügliche Form: Es zeigt auf das, was sich in ihm zeigt (Warstat 2005: 364). Die Zuschauer verstehen das geradezu intuitiv und nehmen die gleiche Haltung ein. Wenn sie von einer Aufführung sprechen, hört man (heute) besonders oft die Wendung ‚gut gemacht‘. Darin spricht sich eine Anerkennung aus, zugleich aber eine Distanz und die Weigerung, sich mit dem Erlebten zu identifizieren – es war eben bloß ‚gut gemacht‘, doch was es dem Zuschauer bedeutete, bleibt offen. Bei Alois Hahn meint Selbstthematisierung das Ansprechen des eigenen Selbst – ist also für das Individuum gedacht. Passt das auch auf Institutionen? Herbert Willems (1998: 57-60) bejaht das – mit einem Verweis auf Luhmann und einem Zitat aus dessen frühen Schriften (nämlich 1972, als ihm Goffman noch wichtig war). Die Theatralisierung findet auf der Bühne als Spiel statt – anders als in den ernsthaften Szenen der Beichte, der Psychotherapie, des autobiographischen Schreibens und Erzählens. Hier spricht der einzelne Mensch über sich, etwa in der Beichte, damit seine Biographie generierend (Bohn/Hahn 1999). Dem ähnelt die Theatralisierung des Theaters nur entfernt; hier wäre eher von einer reflexiven Selbstthematisierung zu sprechen: Die Techniken des Selbst werden auf just dieses angewandt, und nunmehr für eine soziale Institution. Alle genannten Mechanismen gehören genuin zum Prozess der Modernisierung. Für sie gilt Luhmanns frühe Einsicht (1966), dass reflexive Mechanismen die Komplexität eines Systems steigern, sodass seine Fassungskraft den gestiegenen Aufgaben gewachsen ist. Für das Theater bedeutet das: Es ist nicht mehr für das höfische Vergnügen da oder zur Vermittlung der bürgerlichen Moral. Sondern von der Bühne her kann eine aktuelle Herausforderung aufgegriffen und das Publikum mobilisiert werden. Für die Selbstthematisierung des Theaters stehen verschiedenen Verfahrensweisen bereit. Auf der Szene befinden sich dann nicht nur Schauspieler in ihren Bühnenfiguren, sondern Vorgänge des Theaters werden dargestellt. Beispielsweise reden Akteure über ihr Spiel, über die Inszenierung, über ihre privaten Befindlichkeiten sowie in ‚Publikumsgesprächen‘ nach der Vorstellung über all das auf einmal. Verarbeitet werden diese Teile des Geschehens nicht durch Schauspielaktion. Nach der Pause spricht der Hauptdarsteller von der Rampe aus das Publikum an: Hat es Ihnen bisher gefallen? – Beifall – Gestern waren die nicht so freundlich. – Gelächter – Sie glauben wohl, ich improvisiere das jetzt?!– Weiteres Gelächter, und dann geht das Stück weiter (Thalia Hamburg, 21. 4. 2007).
Die kleine Szene zeigt, wie das Publikum zum Reflexivwerden eingesetzt werden kann. In diesem Falle wirkt es geradezu unterhaltend, dass von der Meta- zur Metameta- und schließlich zur Metametametakommunikation aufgestiegen wird. Selbstthematisierungen sind im Theater – wie in allen gesellschaftlichen Einrichtungen – nicht neu. Eine klassische Form ist das ‚Theater auf dem Theater‘, wie etwa in Il teatro comico (C. Goldoni, 1750), Ariadne auf Naxos oder Der nackte Wahnsinn (M. Frayn). Ähnlich vertraut ist die Form der ‚Parodie‘ (vgl. hierzu ausführlich Roßbach 2006). Hiervon unterscheidet sich die weit umfassendere Theatralisierung, indem sie sich nicht auf einzelne Züge der Aufführung,
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wie den Handlungsort, den Stücktext, beschränkt, sondern sich auf schlechthin alles erstreckt: die Textvorlage, den Stil des Spielens, die Gestaltung des Bühnenraums, den Bezug zum Publikum u.s.w. Richard Schechner (1973), ein Hauptideengeber des Gegenwartstheaters, machte den Prozess des Aufführens selbst zum Thema. Die aktuelle Erfahrung von Darstellern und Zuschauern wird gesucht und gestaltet. Noch früher formulierten dies A. Artaud und J. Grotowski. Mögen auch die Anstöße und Theorien aus verschiedenen Ländern kommen – Frankreich, Polen, USA –, ihre Wirkung blieb dort auf die Avantgardeszene beschränkt. Im deutschsprachigen Raum hat der neue Stil es – wenngleich nicht in den breiten Theateralltag – auf alle großen Bühnen geschafft; er findet seinen Widerhall im gesamten subventionierten Theater. Die Selbstthematisierung beginnt auf intellektueller Bahn. „Gegenwärtiges Theater ist (…) in hohem Maße reflexiv, auf die Texte und auf die Aufführungstraditionen bezogen.“ Die Auseinandersetzung räsoniert aber nicht, sondern „formuliert sich in den Inszenierungen, der künstlerischen Arbeit“ (Birkenhauer 2006: 179). Zu beachten ist, dass die Theatralisierung bzw. reflexive Selbstthematisierung des Theaters etwas anderes anpeilt als die geläufige ‚metadramatische‘ Perspektive, in der nur über das Drama gesprochen wird. Mit seiner Selbstthematisierung behauptet das Theater seine Eigenart im Bereich der Künste, vor allem gegenüber den Konkurrenzmedien Film, Fernsehen und Video, die übermächtig zu werden drohen. Zwar mögen auch diese zum Mittel der Selbstthematisierung greifen, profilieren sich dann aber nur jeweils selber und nicht gegen die alte Mutter Theater. Selbstthematisierung begleitet in der Moderne die grundlegenden Vorgänge der funktionalen Differenzierung, und dies nicht bloß für Individuen (wie durchgängig bei Alois Hahn besprochen), sondern auch für Institutionen. Im Zuge seiner Selbstreflexion hebt sich das Theater von den anderen Darstellungskünsten wieder schärfer ab; von Film oder Fernsehen geschluckt zu werden steht nun nicht mehr zur Debatte. Es vergewissert sich seiner Identität, zwischen den Medien floriert die Arbeitsteilung.
4. Zur Erklärung der Theatralisierung des Theaters 4.1 Theater als ‚Spiegel der Gesellschaft‘ Theater – wie andere Künste auch – führt vor, wie die Theatralisierung die interaktiven und institutionellen Bereiche erfasst hat. Nie aber dupliziert das Theater die gesellschaftlichen Verhältnisse – es problematisiert sie. Indem es uns die Theatralisierung des Alltags zeigt, denken wir über sie nach. Wir betrachten auf der Bühne die Fratzen, die uns im wirklichen Leben viel zu nahe stehen, um sie reflektieren zu können. Darin liegt ein Kern für erneuten sozialen Wandel. Das Theater teilt uns etwas über die Lebenswirklichkeit mit, wie das auch Filme, Romane usf. tun. All den Exzessen an Grausamkeit, Gewalt und Hässlichkeit, die uns auf Bühnen präsentiertet werden, wird man nicht entgegenhalten können, dass sie keinen Bezug zur gegebenen Wirklichkeit besäßen. Sich von erlebten Zumutungen zu erholen und eine schöne Welt auszu-
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malen, erbieten sich genügend andere Medien (ob auch innerhalb der Kunst, sei bezweifelt). Da das Theater hochsensibel auf alle Wandlungen der äußeren Verhältnisse reagiert und diese – in seiner Zeichensprache – anzeigt, musste es sich geradezu theatralisieren. Denn wir leben heute in einer „dramatisierten Gesellschaft“ (Williams 1998: 246). Auch das Bewusstsein dramatisiert sich (ebda.: 247).
4.2 Absage an das ‚bürgerliche‘ Theater? Der neue Theaterstil gilt weithin als eine Manifestation politischer Überzeugungen. Doch markiert das Jahr 1968 keineswegs den Wendepunkt; die Wurzeln liegen Jahrzehnte weiter zurück (Lehmann 1999: 32ff.). Gleichwohl werden meistens genannt „die 1960er Jahre“ für den Beginn, die frühen 1970er für das Dominantwerden des neuen Trends. Natürlicherweise brachte die damals junge Generation von Theatermachern die Innovationen auf den Weg. Das Living Theatre (Judith Malina und Julian Beck, New York) gastierte in Deutschland und Großbritannien. In Bremen provozierten junge Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler – allesamt heute gesetzte Altstars – mit revolutionär anmutenden Aufführungen. Heute gilt das als die Ablösung eines restaurativen Spielstils der ersten Nachkriegszeit. Politik kann als Faktor und Rahmenbedingung in der Kunstsoziologie sowenig ignoriert werden wie Ökonomie. Doch erhält sich Kultur eine gewisse Autonomie; sie zappelt nicht als Marionette an Herrschaftsinteressen. Das Thema ‚politisches Theater‘ etablierte sich erst seit 1970 (die Vorläufer wie B. Brecht und einige Autoren der 1920er Jahre galten bereits als überholt). Publikationen und Festivals zu ‚Politik im Theater‘ wuchsen zu einer eigenständigen Sparte heran und zeigen damit an, dass der künstlerische Wandel nicht primär politikgeneriert sein kann. ‚Politisch‘ zu sein und zu wirken gehört zu den immer wieder erhobenen Ansprüchen und macht eine heute als selbstverständlich hingenommene Attitüde vieler Theaterleute aus. Die lenkende Kraft bei der Theatralisierung von Theater dürfte es kaum noch sein. Eine ‚Politisierung‘, von der zuweilen ebenso polemisch wie unzutreffend gesprochen wird, folgt als Sekundäreffekt aus den ästhetischen Strategien, beispielsweise das Publikum zu adressieren, Emotionen zu evozieren, Interventionen herauszufordern, ästhetische Belanglosigkeit zu durchkreuzen u.s.w. Oft heißt es, das neue (also theatralisierte) Theater grenze sich vom ‚bürgerlichen Theater‘ ab. Gemeint mag sein: vom ‚spießbürgerlichen‘, also den Sehgewohnheiten des älteren Publikumssegments entsprechenden, heute als ‚gemütlich‘ verschrienen Stil. Hier regieren die Wünsche des ‚Harmonie-‘ und ‚Integrationsmilieus‘ (Schulze 1992). Nur, wie oft gehen diese Menschen ins Theater? Sie sind schon lange zum Musical und Fernsehen abgewandert. Bürgerlich muss das alte wie das neue Theater genannt werden. Ästhetische Avantgarden gedeihen stets innerhalb der Bildungsschichten. Politische Kritik, auch wütender Protest, gehören dazu, mögen sie sich auch als ‚Antitheater‘ bezeichnen und von Staatssubventionen ausgeschlossen werden. Es regiert die alte Unterscheidung zwischen Konformismus und Bohème, oder auch: zwischen Alltag und Kunst.
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4.3 Generationenkonflikt Einige Indikatoren scheinen für die Annahme zu sprechen, in den ästhetischen Innovationen drücke sich eine Ablösung der älteren Generationen aus. So waren die Protagonisten des theatralisierten Theaters in ihren Anfängen stets junge Leute (wobei die Dehnbarkeit des Jugendbegriffs zu berücksichtigen ist). ‚Jung‘ war auch, wer nach 1989 aus der so theateraktiven DDR kam und die Fessel des verordneten Realismus abwerfen konnte (zu nennen, neben anderen: Frank Castorf). Viele Ensembles verfügen heute nur über ein äußerst knappes Aufgebot an älteren Spielern; selbst Stücke mit Rollen aus zwei, drei Generationen werden mit den vorhandenen Thirtysomethings besetzt (vor wenigen Jahren noch waren die Spieler hingegen oft zu alt für ihre Rollen). Deutlich wahrnehmbar buhlen die Theater heute um ein ‚junges‘ Publikum und finden es doch nur schwer. Manche Selbsterklärungen avancierter Theatermacher verraten einige Verächtlichkeit gegenüber den mit dem orthodoxen Bühnenstil aufgewachsenen Publikumsteilen, die notwendig im Alter von fünfzig-plus stehen. Aus diesen Altersgruppen erhebt sich auch lautstarke Kritik. Die These eines Generationenkonflikts trifft jedoch auch auf gegenläufige Evidenz. Die meisten Theaterbegeisterten gehören nach wie vor zu den älteren Jahrgängen, die durchaus auch dem avancierten Stil zujubeln. Warum muss der Geschmack des Publikums weniger flexibel sein als derjenige der Künstler? Lebensalter allein schützt vor Lernen nicht. Und das begehrte Jungpublikum verhält sich äußerst reserviert, wenn es angelockt werden soll – Kino ja, Theater eher nein. Die Generationszugehörigkeit bleibt ein ernst zu nehmender Faktor, kann aber wohl nur in Verbindung mit den Dimensionen von Milieu und Kulturmuster erklärungskräftig werden. In der Kulturtheorie von Gerhard Schulze (1992) ist das ‚Hochkulturschema‘ das ästhetisch höchstrangige und anspruchsvollste in der Gesellschaft vorfindliche Schema, und der Theaterbesuch gehört hierher. Die Anhänger der Hochkultur sind vielfach differenziert: nach Milieu und Generation sowie in ihren Vorlieben. In der jüngeren Generation findet ein anderes Muster mehr Zustimmung: das ‚Spannungsschema‘. In ihm lässt sich der Wunsch nach Individualität, nach Distanz zu den Eltern und Lehrern sowie nach Geselligkeit leichter ausleben. Wie mir scheint, nimmt die Theatralisierung des Theaters einige Elemente des Spannungsschemas auf, ohne das Kunsttheater an die Trivialkultur zu ‚verraten‘.
5. Folgen der Theatralisierung von Theater Die hier als Theatralisierung geschilderten, weit ausgreifenden Stiländerungen blieben nicht auf Randszenen, Off-Off- und Großstadtbühnen beschränkt. Vielmehr sickern sie allerorten in den Theateralltag ein, selbst im Boulevard- und Musicalgenre. Die ästhetischen Praktiken, die seit den 1950er Jahren bei Happenings oder in der Performance- und Aktionskunst ausprobiert wurden, können auch dort wirkmächtig sein, wo Schauspieler nach wie vor Rollen verkörpern, Figuren darstellen oder Charaktere nachahmen (Roselt 2005: 358). Sie erhalten das deutsche Theater als eine der kreativen Stätten in der Kunst. Untersuchenswert wäre die Frage, ob auch die vom Theater abgeleiteten, heute autonomen Medien Film und Fernsehen dem Einfluss der Theatralisierung unterliegen.
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5.1 Das Theater lebt! Der Angstruf vom Theatertod betrifft nur einzelne Standorte, wenn ein Haus geschlossen oder ein Ensemble aufgelöst wird. Da brechen nur Äste von einem Baum, der weiterhin gedeiht. Die innerhalb der Besucherschaft, im Feuilleton sowie unter den Theaterpraktikern äußerst streitig verhandelte Frage, was das ‚neue‘ Theater wert sei, ob man es besuchen oder meiden solle, ob man die Protagonisten sowie Adepten des theatralisierten Stils fördern (sprich: engagieren) oder links liegen lassen solle – all dies belegt die Vitalität einer Institution, die oftmals fälschlich als bedeutungslos hingestellt wird. Wer ‚das‘ avancierte Gegenwartstheater für belanglos hält, verrät wohl nur den Mangel an eigenem Interesse. Den Austausch von Publikumssegmenten hält aber jede Kunstrichtung aus, solange sich nicht alle verabschieden. Jeder Beschwerdebrief, jede Abonnementskündigung, jeder unterlassene Besuch lässt sich sowohl als Gefahr (für die Bilanz) wie auch als Bestätigung (für den ästhetischen Kurs) lesen. Die gleiche Ambivalenz kommt einem vor Empörung über die Zumutung kochenden Premierenpublikum zu: Jede Innovation gilt anfänglich als Devianz, stößt auf Widerstand und bedarf dessen sogar. Die von der Theatralisierung hervorgerufenen Konflikte stärken das Theater, ohne dass damit über eine Durchsetzung des neuen Stils bereits entschieden wäre. Die breite Akzeptanz, die einem Produkt zuteil wird, kann unter spätmodernen Verhältnissen nur ein Durchgangsstadium sein.
5.2 Abwendung des Publikums? Weil viele Besucher ihr gewohntes Theater nicht wiedererkennen, mag man an eine Enttheatralisierung denken. Die Enttäuschten werden entweder ihr Theaterbild ändern oder wegbleiben. Oft ist zu hören: Man liebe zwar das Theater, gehe aber seit Jahren nicht mehr hin, wegen des neuen Stils u.s.w. Nach dem bewährten Schema von A.O. Hirschman lassen sich die Reaktionen dreifach unterteilen, wenn die Leistungen einer Organisation enttäuschen: – exit: Die Theater-heute-Häuser werden gemieden. – voice: Der Widerspruch äußert sich in Kopfschütteln, im Buhruf und meldet sich zu Wort. – loyalty: Manche bleiben dem Theater treu, obgleich es seine Erscheinungsform ändert. Denn viele der gewohnten und erwarteten Dienste werden nach wie vor geleistet, vielleicht sogar in gesteigertem Maße (z.B. im Bereich der Körperlichkeit). Will man schon etwas über ‚das‘ Publikum aussagen, ohne zu differenzieren, dann dieses: Es wendet sich nicht ab; es ‚murrt‘, aber ‚lernt‘. Das so genannte Regietheater wird hingenommen (loyalty), sofern außerregieliche Befriedigung geboten wird. Im Falle der Oper ist das die Musik. Aufschlussreich sind hier die Zuschauerbefragungen von Karl-Heinz Reuband. Er findet, dass die Zuschauer durchaus Vorstellungen darüber haben, wie eine Inszenierung aussehen sollte. Denn danach gefragt, was für eine Inszenierung sie vorzögen – eine, die in der Zeit der Handlung oder in die Gegenwart angesiedelt sei –, befürworten die Mehrheit eine Inszenierung in der Zeit der Handlung.
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Im Angesicht einer bestimmten, in einer gegenwärtigen Zeit angesiedelten Inszenierung (eine Götterdämmerung in Köln, laut Presse auf einer Müllkippe, einem Schrottplatz u.s.w. spielend) kann dieser allgemeine Wunsch auch aufgegeben werden (Reuband 2006: Tab. 5). Zwei ‚moderne‘ Inszenierungen der Götterdämmerung werden zwar nicht gemocht, aber die Leute gehen hin, sie sagen: der Musik wegen. Hinsichtlich der Erwartungen, die das Opernpublikum in Köln und Düsseldorf an eine Aufführung richtet, zeigt sich eine Dominanz des musikalischen Erlebens. Die Inszenierung gilt im Vergleich dazu als sekundär. Gleichwohl gibt es Präferenzen dazu, und diese begünstigen eine Inszenierung in der Zeit der Handlung. Zugleich scheint das Opernpublikum für Neuerungen offen zu sein, geben sich doch die meisten Besucher auch mit andersgearteten Inszenierungen zufrieden, die nicht auf der Linie seiner Erwartungen liegen. (Reuband 2006: Teil 6)
Dem Statement ‚Ich bin für alles Neue in der Inszenierung von Theaterstücken aufgeschlossen, auch wenn es mir persönlich nicht gefällt‘ stimmten zwei Drittel der befragten Schauspielhausbesucher zu (Reuband/Mishkis 2005: Tab. 7). Wer möchte schon einen Geschmack ‚von gestern‘ haben?! Ein nicht unerheblicher Teil des Publikums wendet sich allerdings ab und verzichtet auf den Besuch des Theaters seiner Stadt (exit). Bei einer Reihe davon dürfte es sich um den Prozess des Generationswechsels handeln. Ein Protest gegen den aktuellen Inszenierungsstil (voice) wird selten vernehmbar. Zum geflügelten Feuilletonwort wurde der Zwischenruf eines prominenten Politikers in der Thalia-Aufführung von Liliom 2000: „Das ist doch ein anständiges Stück. Das muss man doch nicht so spielen.“ Proteste artikulieren sich durch das Verlassen der Vorstellung, lautstark am Ende einer Premiere, relativ kleinlaut in Publikumsgesprächen (wie ich sie eine Zeitlang protokolliert habe) sowie ganz gelegentlich in Leserbriefen an die örtliche Tageszeitung. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich die Frage nach der Legitimation für die hohen Theater- und Opernsubventionen aufgeworfen, und sei es nur indirekt beim Hantieren mit ‚Auslastungsquoten‘. Würde sich eine Produktion an der Nachfrage und Zustimmung des Publikums ausrichten, ergäbe sich der kommerzielle Mainstream. Die Theaterästhetik befand sich immer in Bewegung. Wer heute einer vergangenen Stilform nachtrauern möchte, bezieht sich stets auf eine kurze Epoche, nicht auf eine dauerhafte Einrichtung.
5.3 Die Autonomie des Theaters steigt Die Teilautonomie der Sphären Produktion – Rezeption gehört heute zu den Voraussetzungen, dass Kunsttheater möglich wird. Durch die Selbstthematisierung erhöht das Theater seine Unabhängigkeit. Was auf der Bühne gezeigt wird, will nicht dem Staat bzw. politischen Mehrheiten gefallen. Es sucht nicht nach Mehrheiten, weder im Rat der Stadt noch in der Wahlbevölkerung. Es will keine Inhalte von ‚Bildung‘ in pädagogisch wertvoller Art transportieren. Von religiösen Ritualen hatte sich das Theater schon viel früher abgekoppelt. Die Selbständigkeit der Kunst (soziologisch: Ausdifferenzierung von Teilsystemen) hat das Theater später erreicht als etwa die Romanliteratur, Malerei und Musik. Heute indessen ist sie irreversibel vollzogen.
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Enttheatralisierung des Theaters als Theatralisierung des öffentlichen Lebens Erika Fischer-Lichte
In dem alten, seit der Antike zirkulierenden Topos vom theatrum mundi bzw. theatrum vitae humanae spricht sich die Einsicht von dem engen, ja unauflöslichen Zusammenhang von Theater und sozialem Leben aus. Je nach Verständnis dieses Zusammenhanges änderte sich sein Stellenwert in den europäischen Kulturen. Im 17. Jahrhundert erfuhr er nahezu überall in Europa eine bis dahin beispiellose Verallgemeinerung. „Theater“ und „Welt“ bzw. „menschliches Leben“ erschienen nun als zwei grundsätzlich aufeinander bezogene Größen, die sich nur durch Hinweise auf diesen ihren wechselseitigen Bezug angemessen charakterisieren und begreifen ließen. Diese Entwicklung manifestiert sich vor allem in zwei bemerkenswerten Vorgängen: in der Theatralisierung des sozialen Lebens und in der Ausweitung des Theaters zum Welttheater unter universalem Aspekt. Das Leben an den europäischen Höfen wurde zunehmend wie eine Theateraufführung inszeniert. Ob es sich um das strenge bizarre spanische Hofzeremoniell handelte, das am Madrider und Wiener Hof üblich war, oder um das französische, das im Leben des Königs einen jeden seiner Schritte und die seiner Höflinge bestimmte, in allen Fällen wurde das Auftreten bei Hof wie ein Auftritt auf der Bühne in Szene gesetzt. Diese Theatralität des höfischen Lebens fand im Fest eine weitere Steigerung. Hier wurde jeder Festraum zur Bühne. Mitglieder des Hofes traten als Schauspieler auf, der König oder Kaiser spielte seine eigene Rolle und die übrigen Hofleute wurden auch außerhalb des Bühnenraums nicht nach ihrem wirklichen Rang, sondern nach dem ihrer Rolle angesprochen. Neben die höfische Selbstinszenierung trat in den katholischen Ländern die kirchliche. Die großen christlichen Feiertage wurden mit prächtigen Prozessionen begangen, ebenso wie die besonders feierlichen Anlässe einer Heiligsprechung oder Reliquienüberführung. In Spanien stellten darüber hinaus die Fronleichnamsspiele und die großen Autodafés, die Ketzerverbrennungen, die gewöhnlich mit den Feiern für ein anderes großes Ereignis zusammengelegt wurden, eindrucksvolle Beispiele kirchlicher Selbstinszenierung dar. Wieweit die Theatralisierung des Lebens reichte, zeigt exemplarisch eine Anekdote, die Ortega y Gasset in seinen Papeles sobre Velazquez y Goya kommentierend wiedergibt.
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Don Rodrigo Calderón, Marquis de Siete Iglesias, der durch seinen schnellen sozialen Aufstieg und den Prunk, mit dem er sich umgab, zum unpopulärsten Mann des ganzen Landes geworden war, wurde wegen der Unmoral seiner Verwaltung zum Tode verurteilt. Der Tag seiner Hinrichtung, der 21. Oktober 1621, wurde, wie ein Zeitgenosse in seinen Aufzeichnungen festhielt, zum „ruhmreichsten Tag, den dies Jahrhundert gesehen“ – allerdings nicht wegen der an Don Rodrigo vollzogenen Gerechtigkeit, sondern wegen der theatralen Geste, mit der dieser das Schafott bestieg: „(…) er steigt hinauf, ohne zu stolpern, wirft elegant den Saum seines Mantels über die Schulter, bis an das schreckliche Ende Würde und noble Beherrschung bewahrend.“ Unmoral, Prozess, Unbeliebtheit waren mit einem Schlag vergessen. Eine theatrale „Geste beim Besteigen des Schafotts verwischt, vernichtet blitzartig alle Unpopularität und macht aus Don Rodrigo den populärsten Mann in ganz Spanien.“ (Gasset 1950). Die Kunst der öffentlichen Selbstinszenierung machte auch vor dem Tode nicht halt. Wie verschiedene Testamente belegen, wurde die letzte Einkleidung sowie der letzte Auftritt, der Leichenzug, bis ins kleinste Detail hinein vorab festgelegt. Der Dramatiker Calderón entwarf sein eigenes Leichenbegängnis geradezu als Szenario für einen Akt im „Gran teatro del mundo“ (Titel des auto sacramental, das Calderón 1645 zur Aufführung brachte), in dem sein Leichnam als Protagonist die Vergänglichkeit des Lebens zur Schau stellen und so das Leben als eine scheinhafte und vergängliche Theateraufführung ausweisen sollte. Er bestimmte in seinem Testament, das er vier Tage vor seinem Tode (26. Mai 1681) abfasste, dass man ihn in einem offenen Sarg zu Grabe tragen solle, damit er Gelegenheit habe, die „öffentliche Nichtigkeit“ seines „schlechten Lebens“ mit der „öffentlichen Mahnung“ seines Todes zu rechtfertigen. Wie weitgehend das höfische Leben im 17. Jahrhundert theatralisiert war, so dass die Höflinge als Schauspieler agieren mussten, zeigt sich vor allem am französischen Hof. Die Position, welche ein Hofmann in der höfischen Rangordnung einnahm, war äußerst instabil und fortwährenden Schwankungen unterworfen. Um seine Position einigermaßen festigen zu können, bedurfte es vor allem zweier Verhaltensweisen – einer nahezu perfekten Kontrolle über die eigenen Affekte sowie der Fähigkeit, das Verhalten anderer angemessen zu interpretieren. Höfische Rationalität zwang den einzelnen, beständig Masken zu tragen und Rollen zu spielen, deren Wirkung auf die anderen bis ins kleinste Detail kalkuliert war. Wie La Bruyère in seinen Caractères (1688) darstellt, erschien die Maske geradezu als lebensnotwendig für die erfolgreiche Existenz in der höfischen Gesellschaft: Un homme qui sait la cour est maître de son geste, de ses yieux, et de son visage ; il est profond, impénétrable; il dissimule les mauvais offices, sourit à ses ennemies, contraint son humeur, déguise ses passions, dément son coeur, parle, agit contre ses sentiments (Bruyére 1922: 211).
Andererseits musste man auch imstande sein, Motive, Gefühle, Fähigkeiten und Grenzen der anderen richtig einzuschätzen, d.h. ihre Mienen, Gesten und Bewegungen wie die eines Schauspielers „richtig“ zu deuten, um im Umgang mit ihnen keine verhängnisvollen Fehler zu machen. Saint-Simon liefert in seinen Mémoires (1694) eine Fülle von Beispielen für derartige sorgfältig abwägenden Deutungen mitmenschlicher Verhaltensweisen. So schreibt er über einen Bekannten:
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Je m’aperçus bientôt qu’il se refroidissait, je suivis de l’oeil sa conduite à mon égard pour ne me pas méprendre entre ce qui pouvait être accidentel dans un homme chargé d’affaires épineuses et ce que j’en soupçonnais. Mes soupçons devinrent une évidence que me firent retirer de lui tout à fait sans toutefois faire semblant de rien (Rouvroy 1910: 172).
Der andere fungierte jeweils als eine Art Spiegel, der einem das eigene Bild gemäß der aktuellen Rangordnung zurückwarf. Der theatrale Charakter des höfischen Lebens bestimmte den Umgang miteinander. Es war eben dieser theatrale Charakter, gegen den sich im 18. Jahrhundert die Bestrebungen bürgerlicher Intellektueller richteten, indem sie ihm das Postulat der Natürlichkeit entgegensetzten. Dieses Postulat sollte zu einer Enttheatralisierung sowohl des gesellschaftlichen Lebens als auch des Theaters selbst führen. Die Enttheatralisierung des Theaters sollte durch eine neue „natürliche“ Schauspielkunst bewirkt werden, die der „künstlichen“, eben theatralen Schauspielkunst des 17. Jahrhunderts als neues Ideal gegenüber gestellt wurde (vgl. Fischer-Lichte 1983). Diese „Enttheatralisierung“ führte letztendlich dazu, dass Theater wieder zum Modell für das soziale Leben wurde. So schreibt ein anonymer Autor im Taschenbuch für Liebhaber des Privattheaters (1795): Die gute Aufführung guter Schauspiele bringt vorerst eine gewisse Gewandheit in dem Betragen, ohne die man in der Gesellschaft sehr leicht lächerlich werden kann, wenigstens todt für sie ist; sie macht mit den Gewohnheiten und Sitten der feinen Welt bekannt, ohne deren Kenntnis man für diese nicht taugt, ohne die man (…) selbst bey reellen Vorzügen des Geistes und Herzens für sie ungenießbar bleibt, und – wie man das nun zu nennen pflegt – sein Glück schwerlich in ihr machbar (Rochlitz 1795: 6f.).
Zweifellos wurde Theater hier als diejenige Institution begriffen, die dem aufsteigenden Bürgertum Modelle für seine eigenen öffentlichen und privaten Verhaltensweisen und für ein angemessenes Betragen zu bieten vermochte. Dies sahen offensichtlich auch die Zürcher Bürger so, die bei einem Gastspiel der Ackermannschen Truppe im Jahr 1758 es sich angelegen sein ließen, „die besten Tänzerinnen zu Gast zu bitten und denselben die Töchter des Hauses in Gang und Kleidung zur Einflößung besseren Geschmacks zu empfehlen“ (Eichhorn 1964: 44f.). Gleichwohl wurden die Grenzen zwischen Theater und dem gesellschaftlichen Leben schärfer gezogen – nicht zuletzt dadurch, dass in Deutschland seit den 1760er Jahren zunehmend in den Städten feste Theaterbauten errichtet wurden, die in Zukunft Theater ein- und vom sozialen Leben abgrenzen sollten, für das es nichts desto weniger Vorbilder schaffen sollte. Wie der kurze historische Rückblick gezeigt hat, ist die Vorstellung von einer engen Beziehung zwischen Theater und sozialem Leben durchgehend wirksam, wenn auch immer wieder redefiniert. Sie gewinnt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Forderungen der Avantgardebewegungen, Theater wieder ins Leben zurück zu führen, erneut Prominenz und wird schließlich von den Sozialwissenschaften aufgegriffen – zunächst in Simmels und Plessners Arbeiten über den Schauspieler und nach dem Zweiten Weltkrieg geradezu programmatisch von Erving Goffman u.a. Das Theater hat auf derartige Tendenzen seit den ausgehenden sechziger Jahren u. a. mit unterschiedlichen Versuchen reagiert, Theater zu enttheatralisieren. Eine besonders populäre
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Strategie bestand darin, die Theater ein- und vom gesellschaftlichen Leben abgrenzenden Theatergebäude wieder zu verlassen und an Orten zu spielen, die für völlig andere Bestimmungen und Funktionen gedacht waren. Dazu gehörten stillgelegte Fabriken, Straßenbahndepots, Schlachthäuser, Kinos, Parkhäuser, Shopping Malls, Straßen und Plätze der Städte. Am Beispiel einiger ausgewählter derartiger Versuche soll nachfolgend der Frage nachgegangen werden, wie sie sich auf das Verhältnis von Theater und sozialem Leben ausgewirkt haben. In den beiden ersten Beispielen verließ das Theater seine angestammten Gebäude und suchte andere öffentliche Orte auf. Es handelt sich um Klaus Michael Grübers Inszenierung von Rudi (Berlin 1979) und die Audiotouren der Gruppe „Hygiene heute“ aus den späten 1990er Jahren. Als eine andere Strategie zur Enttheatralisierung werden anschließend Aufführungen der Gruppe „Rimini Protokoll“ diskutiert, in denen Laien auftreten, Experten des Wirklichen, und über ihr eigenes Leben sprechen – Sabenation (Berlin) und Wallenstein (Mannheim/Weimar/Berlin 2005).
1. Rudi im Hotel Esplanade Im Frühjahr 1979 fand in Berlin in den unversehrten Räumen des früheren Grandhotels „Esplanade“ die Aufführung von Rudi statt, die Klaus Michael Grüber inszeniert hatte. Das Grandhotel „Esplanade“ war 1907 in unmittelbarer Nähe zum Tiergarten, zum Reichstag und zum Potsdamer Platz errichtet worden. Es avancierte sehr schnell zu einer Attraktion für die oberen Zehntausend – in ihm stiegen Filmstars wie Charlie Chaplin und Greta Garbo ab. Es bildete den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens von Berlin. Im Palmenhof des Hotels wurde zum ersten Mal in Berlin Charleston getanzt. Nachdem die Nazis die Macht übernommen hatten, requirierte Albert Speer das Hotel als Gästehaus der Regierung. Im Krieg wurde es weitgehend zerstört. Nur das Eingangsfoyer, der Palmenhof, der Frühstücksraum, der „Kaisersaal“, ein Barraum und das Kellergeschoß blieben erhalten. Nach dem Krieg wurden diese Räume sofort wieder für unterschiedliche gesellschaftliche Ereignisse wie Opern-, Presse- und Filmbälle, Modeschauen, Schönheitswettbewerbe u.ä. genutzt. Als im August 1961 die Berliner Mauer errichtet wurde, sperrte sie den zum Tiergarten führenden Vorplatz des Hotels ab. Danach fanden nur noch selten Veranstaltungen im Hotel statt und in den siebziger Jahren verfielen seine Räume zunehmend. Dies war der Schauplatz von Rudi, an den Klaus Michael Grüber und sein Bühnenbildner Antonio Recalcati das Publikum einluden.1 Zu dieser Zeit war Grüber bereits für seine Verwendung von Schauplätzen, die nicht als Theater gebaut wurden, berühmt. So hatte er im Jahre 1975 Goethes Faust in der Chapelle Saint Louis des Pariser Hospitals Salpêtrière inszeniert und im eiskalten Winter des Jahres 1977 im Berliner Olympia Stadium, dem früheren Reichssportfeld, auf dem 1936 die Olympischen Spiele stattfanden, ein Projekt mit dem Titel Winterreise realisiert. 1 Heute kann man das Foyer, den Palmenhof, den Frühstücksraum und den „Kaisersaal“ im Sony-Center am Potsdamer Platz besichtigen, wohin sie mit aufwendigen technischen Verfahren 1996 transferiert wurden.
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Recalcati fügte den Räumen des Hotels, die in sich bereits unübersehbar historisch aufgeladen waren, lediglich ein paar Objekte hinzu. Als der Besucher sich den Ruinen näherte, wurde er zunächst mit der Berliner Mauer konfrontiert, gegen die einige Masken gelehnt waren, die an antike Theatermasken erinnerten. Dahinter zeichnete sich die Silhouette der angestrahlten, repräsentativen Gebäude Ost-Berlins, darunter der Fernsehturm am Alexanderplatz, gegen den dunklen Abendhimmel ab. Über dem Eingang waren zwei riesige Vergrößerungen von bekannten Holzschnitten von Frans Masereel angebracht; daneben in großen schwarzen Buchstaben die Worte „Mein ist dein Herz“ – eine Anspielung auf einen alten Filmtitel oder auch das berühmte Lied „Dein ist mein ganzes Herz“ aus Lehárs Operette Land des Lächelns. Im Frühstücksraum saß der Schaubühnen-Schauspieler Paul Burian vor einem Kamin; mit leiser Stimme und vielen Pausen las er Bernard von Brentanos Novelle Rudi aus dem Jahre 1934 vor. Seine Lesung wurde in Teilen und zeitversetzt durch Lautsprecher in andere Hotelräume übertragen. Die Kronleuchter im Frühstücksraum waren mit Tüll verhangen. Zwischen ihnen und dem Kaminaufsatz erstreckten sich Spinnweben, die den schmächtigen Mann im grauen Anzug fast zu bedecken schienen. Neben ihm stand ein alter eisener Ofen sowie ein hoher Bücherstapel. Es hatte den Anschein, als wenn der Mann das Buch, das er in den Händen hielt, eben aus diesem Stapel hervorgezogen hatte. Nachdem er seine Lesung beendet hatte, stand er auf und verließ den Raum. Das eher triste Foyer war mit einem riesigen Silberkorb voller Palmenzweige dekoriert – den einzigen Palmenzweigen im Hotel, denn im Palmenhof wuchsen keine mehr. Auf seiner Galerie befand sich ein Schminktisch, daneben hing ein schwarzes Kleid auf einem Kleiderständer. Die drei Türen an der Rückwand waren mit Brettern vernagelt. In einer Ecke des Kaisersaales waren zwei riesige Objekte plaziert – ein Stuhl und ein hölzernes Bett, beide zweidimensionale, ins Gigantische vergrößerte Nachbildungen von Elementen, die auf einem Gemälde van Goghs zu sehen sind, das dieser in seinem Schlafzimmer hängen hatte. In einem der anderen Räume, der von einem Flügel beherrscht wurde, spielte ein etwa zehnjähriger Junge; er trug Jeans, einen Pullover und darunter ein Hemd mit einem auffallend großen Kragen. Im selben Raum saß auf einem hölzernen Rollstuhl eine alte, grauhaarige Frau, die ganz in schwarz gekleidet war. In Brentanos Novelle, die Burian vorlas, wird die Geschichte eines unehelich geborenen Arbeiterjungen erzählt, der auf der Seite seines kommunistischen Stiefvaters 1933 in einen Straßenkampf zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten gerät und durch eine versehentlich von ihm gezündete Bombe ums Leben kommt. Während sich zwischen einigen der Objekte, die Recalcati den Räumen hinzugefügt hatte, und der Geschichte der Novelle eine, wenn auch zum Teil nur vage Verbindung herstellen ließ, war dies bei den meisten kaum möglich. Die Aufführung war in mancher Hinsicht merkwürdig. Was sie im Hinblick auf unsere Fragestellung so interessant erscheinen lässt, ist die Besonderheit, dass für die Besucher der Aufführung nicht ein bestimmter Zuschauerraum vorgesehen war; sie konnten sich vielmehr frei durch die Räume bewegen. Sie konnten sich im Frühstücksraum auf einen Stuhl setzen und Paul Burians Lesung lauschen; sie konnten durch das Foyer schlendern, durch den Palmenhof, den Kaisersaal und einige der oberen Räume, konnten stehenbleiben, wann immer sie es wollten, und sich die in den Räumen platzierten Gegenstände genauer ansehen; sie
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konnten sich zwischen den Räumen hin und her bewegen und waren nicht gezwungen, das Hotel zu verlassen, als Burian abging. Die Aktivität der Zuschauer bestand darin, sich durch die Räume hindurch zu bewegen und die dort ausgestellten Objekte zu betrachten, wobei sie höchstwahrscheinlich die unterschiedlichsten Szenen imaginierten oder erinnerten, die sich in ihnen abgespielt haben mochten. Wie im Faust und vor allem in der Winterreise stellte bereits die Wahl dieses Schauplatzes einen Akt der Enttheatralisierung des Theaters dar. Die Aufführung trug sich nicht in einem Theatergebäude zu, in dem auf der Bühne Rollen gespielt, fiktive Figuren verkörpert werden, sondern in den Räumen eines Hotels. Die Enttheatralisierung ging hier sogar noch weiter als bei den beiden oben genannten Inszenierungen. Denn während dort das räumliche Arrangement dem Zuschauer abendlich ihre Plätze zuwies, hatten die Zuschauer hier die Möglichkeit, sich frei durch die Räume zu bewegen. Auch in anderer Hinsicht ließ sich kaum eine klare Trennung zwischen Akteur und Zuschauer vornehmen. Denn außer beim lesenden Paul Burian konnten die Zuschauer nicht sicher sein, wer ihnen oder den Akteuren zuzurechnen sei: Bei dem spielenden Jungen und der Frau im Rollstuhl konnte es sich ebenso gut um Besucher handeln wie umgekehrt jeder Besucher, der sich auffallend verhielt, als Akteur angesehen werden konnte. Das theatrale Setting war insofern aufgehoben. Gleichwohl konnte die Aufführung kaum als Besuch bzw. Leben im Hotel erlebt werden. Vielmehr stellte sich ein anderes künstlerisches Setting her – das Setting eines Museums. Denn die Besucher bewegten sich durch die Räume, um sowohl diese selbst als auch die in ihnen ausgestellten Objekte zu betrachten – gerade so wie sich die Besucher eines Museums durch verschiedene Räume hindurchbewegen, in denen die unterschiedlichsten Arten von Objekten ausgestellt sind, Objekte aus der Naturgeschichte, der menschlichen Geschichte und der Kulturgeschichte. Damit erhebt sich die Frage, welche Funktion eine derartige Fusion von Theater und Museum in Rudi erfüllte. Besucher in einem Museum absolvieren für gewöhnlich ihren Parcours durch seine Räume nach einem bestimmten Plan, der sie von Raum zu Raum leitet, so dass sie die dort ausgestellten Objekte in einer vom Plan festgelegten Reihenfolge betrachten. Es bleibt in der Regel ihnen überlassen, wie lange sie sich in einem Raum oder vor einem Objekt aufhalten wollen. Dies war auch in Rudi der Fall; während in Rudi jedoch gleichzeitig eine Novelle vorgelesen, also eine bestimmte Geschichte erzählt wurde, geschieht dies normalerweise in einem Museum nicht – zumindest dem Anschein nach. Denn wie Tony Bennett in seiner wegweisenden Studie The Birth of the Museum (1995) gezeigt hat, trügt dieser Schein. Bennett vergleicht das Museum mit Conan Doyles Sherlock Holmes Geschichten, in denen der Detektiv, wie der Paläontologe, ein vergangenes Ereignis – das Verbrechen – auf der Grundlage der von ihm hinterlassenen Spuren rekonstruieren muss. Er behauptet, dass das Museum so, wie es im 19. Jahrhundert erfunden wurde, eine ähnliche Erzählmaschinerie darstellt. Die ausgestellten Objekte werden in einer bestimmten chronologischen Reihenfolge vorgeführt, die von den Spuren bzw. Überresten ihren Ausgang nimmt, welche die Rekonstruktion einer fernen, meist ‚primitiven‘ Vergangenheit – des Ursprungs – ermöglichen, und allmählich zu den Objekten aus der Gegenwart des Besuchers fortschreitet:
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Like the reader in a detective novel, it is towards this end point that the visitor‘s activity is directed. This is not simply a matter of representation. To the contrary, for the visitor, reaching the point at which the museum‘s narrative culminates is a matter of doing as much as of seeing. The narrative machinery of the museum‘s ‚backtelling‘ took the form of an itinerary whose completion was experienced as a task of urgency and expedition (Bennett 1995: 181).
Das Museum verkörpert oder instantiiert auf diese Weise Fortschrittsideologien. Die Abfolge der Ausstellungsräume ist insofern performativ, als sie dem Besucher durch den Weg, den er zurücklegt, die Prinzipien erklärt, nach denen sie strukturiert ist. The superimposition of the ‚backtelling‘ structure of evolutionary narratives on to the spatial arrangements of the museum allowed the museum to move visitors forward through an artefactual environment in which the objects displayed and the order of their relations to one another allowed them to serve as props for a performance in which a progressive, civilizing relationship to the self might be formed and worked upon (Bennett 1995: 186).
Während die Besucher sich durch die Räume des Museums bewegen, wird ihre Imagination durch die zugrunde liegende narrative Struktur inspiriert oder besser: geleitet und kontrolliert. Die Szenen, die sie imaginieren, während sie bestimmte Objekte betrachten, werden also nicht einfach durch Assoziationen heraufbeschworen noch hängen sie allein von ihrem historischen Wissen ab; vielmehr werden sie zuallererst durch die Geschichte eines permanenten Fortschritts suggeriert, welche die Besucher nacherzählen und verstehen lernen, während sie die Räume nach dem vorgegebenen Parcours abschreiten. Dies war in der Tat auch Ende der siebziger Jahre noch die vorherrschende Struktur von Museen. Sich durch die Räume eines Museums bewegen, hieß in diesem Sinne, die Evolutionsgeschichte des Fortschritts zu re-inszenieren und nachzuspielen – beginnend an einem eher ‚primitiven‘ Anfang und fortschreitend zu einem unausweichlich nahezu vollkommenen Ende. Obwohl in Rudi die Zuschauer sich wie in einem Museum durch die Räume bewegten, folgten sie nicht einer linearen narrativen Struktur. Wie bereits erwähnt, fungierten die Objekte, die in den Räumen platziert waren, nicht als ‚Requisiten‘ in einer Aufführung, welche die Geschichte re-inszenierte oder nachspielte, die in der Novelle erzählt wurde. Es war nicht deren lineare Struktur, welche die Bewegungen der Zuschauer durch die Hotelräume leitete; sie lief ihnen vielmehr zuwider. Denn da die Räume an sich schon mit Geschichte aufgeladen waren und die hinzugefügten Gegenstände weder eindeutig auf die erzählte Geschichte noch auf die Geschichte des Hotels bezogen waren, sondern eher – wenn überhaupt – vage auf sie verwiesen, war es kaum wahrscheinlich, dass die Assoziationen, Erinnerungen, Imaginationen, welche die Räume und ihre Objekte in den sich durch sie hindurch bewegenden Zuschauern hervorriefen, sich bei allen Zuschauern ähnelten. Welche Räume, Bilder und Szenen sie imaginierten oder aus ihrer Erinnerung hervorholten, war weder von den Räumen und Objekten festgelegt noch von der Geschichte der Novelle angeleitet oder kontrolliert. Trotz dieses Potentials für Verschiedenheit wurde gleichwohl ein Bezug auf die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts suggeriert – auf eine Geschichte, die nicht vom fortwährenden Fortschritt geformt und bestimmt war, der zu immer größerer Vollkommenheit führen muss, sondern von Katastrophen, Kriegen und Verbrechen. Es ist kaum vorstellbar, dass dieser Bezug der Aufmerksamkeit der Zuschauer entging. Deswegen ist anzunehmen, dass einige
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der auftauchenden Erinnerungen und Phantasien, die, wenn vielleicht auch nur vage, mit dieser Geschichte verbunden waren, durchaus wenigstens teilweise dem narrativen Muster des ‚backtelling‘ folgten. Eine zusammenhängende Geschichte, der alle Zuschauer folgten und die alle verstanden hätten, wurde dennoch nicht erzählt. Die Verschmelzung von Theater und Museum in Rudi versetzte den Zuschauer in eine liminale Situation2. Weder galt ausschließlich der Rahmen ‚Theater‘ noch derjenige ‚Museum‘, sondern beide waren gleichzeitig gültig. Wie üblich im Theater, waren Schauspieler anwesend wie Paul Burian, die alte Frau und der Junge. Gleichwohl waren die Zuschauer eingeladen, sich wie in einem Museum aufzuführen – sich durch die Räume zu bewegen und sie ebenso wie die in ihnen ausgestellten Objekte zu betrachten. Andererseits gab es keine vorgeschriebene Route, die sie von irgendwelchen fernen ‚wilden‘ oder ‚primitiven‘ Anfängen zu immer größerer Vollkommenheit leitete und ihren Höhepunkt in ihrem Ende fand. Ganz im Gegenteil waren die Zuschauer unfähig, eine zusammenhängende Geschichte zu (re-)konstruieren, die ihr eigenes Selbst stabilisieren würde. Sie wurden in der Tat mit Elementen aus der jüngsten deutschen Vergangenheit konfrontiert. Aber weder einzelne Gegenstände, die sie betrachteten und die dabei bestimmte Imaginationen und Erfahrungen auslösten, noch der gesamte Weg durch den Schauplatz ermöglichten die Konstruktion einer linearen Erzählung. Stattdessen wurden sie als Fragmente präsentiert, welche die Einbildungskraft herausforderten, ohne jedoch irgendwelche Leitlinien für eine kohärente (Re-)Konstruktion zu liefern. Die Bewegungen, welche die Zuschauer durch die verschiedenen Hotelräume vollzogen, von Zeit zu Zeit begleitet von der lesenden Stimme oder auch dem lesenden Schauspieler und zum Teil sogar längeren Partien der Geschichte, die er erzählte, versetzten sie in eine Situation des „betwixt and between“ (Turner 1969: 95), in einen Zustand der Liminalität. Es gab eine Erzählung, Geschichte hatte sich ereignet, aber jegliche Kohärenz war verschwunden. Was übrig blieb, die Spuren der Geschichte, lag in Stücke zerbrochen da, ohne irgendeine Möglichkeit zu eröffnen, aus diesen Fragmenten Sinn herzustellen. Nicht nur war kein stabiler Rahmen vorhanden – Theater oder Museum –, innerhalb dessen die Zuschauer wahrnehmen und agieren konnten; es schien sich überhaupt kein Zusammenhang zu ergeben – weder aus der Beziehung zwischen den Räumen, den hinzugefügten Objekten und der Erzählung der Novelle noch aus der Beziehung, die der Besucher durch seine Bewegung in den und durch die Räume herzustellen vermochte. Anstatt das Selbst zu stabilisieren, wie es die Route im Museum tat, tendierte der Parcours durch die Räume eher dazu, die Zuschauer zu destabilisieren. Eine solche ästhetische Erfahrung lässt sich in der Tat als Erfahrung von Liminalität genauer charakterisieren – eine Erfahrung der Irritation, der Destabilisierung des Selbst, der Unfähigkeit, dem Wahrgenommenen eine Bedeutung zuzusprechen und es in eine zusammenhängende Ordnung zu überführen. Die Schwellenerfahrung entstand hier aus der Bewegung durch die Räume, die dem Zuschauer als Akteur die Wahrnehmung enigmatischer Bilder ermöglichte, die vielleicht durch eine zugrunde liegende geheimnisvolle, mysteriöse Ordnung untereinander verbunden waren, welche allerdings unzugänglich blieb und kaum vorstellbar schien. Diese Erfahrung wurde nicht als eine Krise erlebt, sondern eher als eine tiefe Melancholie,
2 Vgl. zum Begriff der Liminalität Victor Turner, The Ritual Process. Structure and Anti-Structure, London 1969.
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die sich wie die Spinnweben im Frühstücksraum verbreitete und vom Zuschauer als eine Destabilisierung seines Selbst erfahren wurde. Zu einer Zeit, da in Stuttgart (Valentin Jekel), Frankfurt (Christof Nel), Bremen (Ernst Wendt) und Berlin (Niels-Peter Rudolph) Grübers Kollegen Sophokles Antigone in Szene setzten, um beunruhigende Parallelen zwischen dem fundamentalen Konflikt zwischen Kreon und Antigone und der gegenwärtigen Situation in Deutschland, „Deutschland im Herbst“, zu ziehen (wie der Titel eines Films von Volker Schlöndorff u.a. über die Baader-Meinhof-Bande und die RAF, die Rote Armee Fraktion lautete, der ebenfalls eine Antigone-Sequenz enthielt), vermied Grüber jegliche definitiven Schlussfolgerungen oder offenkundigen Parallelen. Die Bilder, die er und sein Bühnenbildner Recalcati dem Zuschauer anboten, blieben vieldeutig und rätselhaft. Der Weg durch die Räume, welchen die Zuschauer einschlugen, gab ihnen keinen deutlichen Fingerzeig, wie die Räume, die Objekte und die erzählte Geschichte zueinander in Beziehung gesetzt werden könnten. Sie blieben in einem liminalen Zustand einer melancholischen oder auch – wie der Kritiker Peter Iden (Iden 1979) – verärgerten Desorientierung. Ihre Einbildungskraft konnte umherschweifen, ohne von einer bestimmten Ideologie oder Geschichte geleitet oder gar kontrolliert zu werden. Sie wurden sich zunehmend dessen bewusst, dass sie unfähig waren, Sinn zu produzieren, eine lineare Geschichte zu konstruieren. Die Enttheatralisierung, die Grüber mit Rudi vornahm, bewirkte, den Äußerungen von Kritikern und einzelnen Zuschauern zufolge, in ihnen eine Destabilisierung ihres Selbst, die häufig mit dem Ausdruck Desorientierung beschrieben wurde. Sie beraubte die Zuschauer eines klaren Standpunktes, den sie gegenüber der deutschen Geschichte, ebenso wie der deutschen Gegenwart einnehmen konnten. In diesem Sinn lässt sich die Enttheatralisierung als eine Politisierung denken – wenn auch als eine Politisierung von ganz anderer Art als die genannten Antigone-Aufführungen im deutschen Stadttheater sie konzipierten und vornahmen.
2. Audiotouren von „Hygiene heute“ Als ungefähr zwanzig Jahre später die Gruppe „Hygiene heute“ gegründet wurde, hatte sich die Situation dramatisch geändert – politisch, gesamtkulturell und künstlerisch. Deutschland war wiedervereinigt. Nach sechzehn Jahren einer Kanzlerschaft Helmut Kohls mit einer schwarzgelben Koalition war 1998 eine rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder als Kanzler gewählt. Mit den neuen Medien, Fernsehen, Video und Computer hatte eine Art Kulturrevolution stattgefunden, die das postindustrielle Zeitalter ebenso wie die Epoche der Globalisierung einläutete. Im Theater war die Verschmelzung, zumindest die Verbindung mit neuen Medien, Performance Kunst oder auch mit anderen Arten von cultural performance längst gängige Praxis, postdramatisches Theater zu einer Art von Mainstream Theater avanciert. In den Museen wurde mit neuen Formen und Praktiken der Ausstellung experimentiert, welche die alte Geschichte vom permanenten Fortschritt zu immer größerer Vollendung ad acta legten. Auf diesem Hintergrund entwickelte „Hygiene heute“ unter Stefan Kaegi ein neues künstlerisches Verfahren – Audiotouren in und durch verschiedene(n) Städte, so zum Beispiel in Gießen (Verweis Kirchner 2000), Frankfurt am Main (System Kirchner 2000), München (Kanal Kirchner 2001),
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Graz (Kirchners Schwester 2002). Wie bei Audiotouren durch Museen, Schlösser und andere historische Schauplätze wurde jeder Zuschauer mit einem Walkman ausgestattet, der ihn bei seiner ca. einstündigen Tour durch die Stadt leiten sollte. Mit einem Abstand von 15 oder auch 20 Minuten wurden die Zuschauer einzeln auf den Weg geschickt. Das Band, das sie auf ihrem Weg hörten, war angeblich eines der wenigen Lebenszeichen vom Bibliothekar Kirchner, seit dieser im Jahre 1998 – dem Wahljahr – unter mysteriösen Umständen verschwunden war. In München war das Band, wie es hieß, in einem öffentlichen Toilettenhäuschen gefunden worden, weswegen die Tour hier ihren Anfang nahm. Die Stimme auf dem Band fing an, die Geschichte von Kirchners Verschwinden zu erzählen. Ganz allmählich verwickelte sie den Zuhörer in eben diese Geschichte – und zwar als Jäger und zugleich Gejagten, als Verfolger und Verfolgten. Zweifellos handelte es sich um eine Kriminalgeschichte, in die der Zuschauer hineingezogen wurde – nicht nur in seiner Phantasie, sondern anscheinend auch ganz buchstäblich, körperlich. Der Weg entpuppte sich als eine Art ‚backtelling‘ Erzählmaschinerie. Nach den Worten der Stimme auf dem Band zu urteilen, befand sich der Zuschauer in größter Gefahr, von der ‚Schnecke‘ in eine Falle gelockt und gefangen zu werden. Er wurde so zum Protagonisten der Geschichte, zum wichtigsten Akteur in der Aufführung. In einem riesigen unterirdischen Parkhaus hörte er die Stimme mit beschleunigtem Atem ihn beschwören: „Lauf! Öffne die Tür. Die Schnecke ist ganz nah, kannst du sie riechen? Lauf schneller, öffne die Tür am Ende des Ganges!“ Und an einer Straßenbahnhaltestelle erteilte die Stimme die Anweisung: „Beobachte die Leute an der Straßenbahnhaltestelle. Siehst du die mit den Koffern?“ Da praktisch an jeder Haltestelle mitten in der Stadt Leute mit Koffern stehen, überall in der Stadt Männer mit blauen Hemden herumlaufen (vor denen in Frankfurt gewarnt wurde), an allen öffentlichen Gebäuden Überwachungskameras angebracht sind – auf die die Stimme immer wieder als Beleg für die Verfolgungssituation hinwies –, war es für die Zuschauer/Akteure schwierig, wenn nicht gar unmöglich zu entscheiden, ob hier tatsächlich Schauspieler oder Statisten unterwegs waren, welche die Rolle der Verfolger spielten, oder ob sie sich nur einbildeten, dass es sich bei den Leuten um Verfolger handelte. Diese Entscheidung wurde noch dadurch zusätzlich erschwert, dass Zuschauer/Akteure, die den Anweisungen der Stimme folgten, sich häufig selbst so auffällig aufführten, dass Passanten stehenblieben und sich nach ihnen umsahen. Damit erhob sich für die Zuschauer/Akteure die Frage, ob es sich bei den Passanten um Zuschauer handelte oder um Schauspieler, welche Verfolger spielten. Der Zuschauer, der sich durch den Raum der Stadt bewegte, geleitet von den Anweisungen der Stimme auf dem Band, die Teil einer Kriminalgeschichte waren, wurde der einzige Akteur, ohne in der Lage zu sein, zwischen Akteuren, Zuschauern und zufälligen Passanten unterscheiden zu können. Zuschauer begannen die Stadt, die sie gut zu kennen glaubten, schon nach kurzer Zeit mit anderen Augen wahrzunehmen. Sie betraten die bekannten Plätze, Parks, Gebäude auch als Schauplätze, auf denen sich jene unglaubliche, mysteriöse, fiktive Geschichte abspielte, von der die Stimme auf dem Band mit ihren Handlungsanweisungen, Warnungen, Erklärungen erzählte – eine Geschichte, in der offenbar sie selbst eine Rolle spielten. Es war jeder einzelne Zuschauer, der mit seiner Bewegung durch den Raum und seiner durch die Stimme beeinflussten, zumindest gefärbten Wahrnehmung die Räume der Stadt als eine merkwürdige Überblendung von realen mit fiktiven Räumen, Personen und Handlungen neu hervorbrachte. Diese spezielle Fusion von Theater und Museum in den Audiotouren von „Hygiene heute“ unterschied sich offensichtlich deutlich von derjenigen, die in Rudi vollzogen wurde.
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Den Schauplatz von Rudi stellte ein ‚wirkliches‘ Hotel dar, das allerdings nicht mehr als ein solches benutzt wurde, vor mehr als dreißig Jahren im Krieg schwer beschädigt war und zur Zeit der Aufführung direkt an der Berliner Mauer gelegen; seine Fassade und Räume waren auf spezielle Weise hergerichtet. In allen Audiotouren dagegen diente die betreffende Stadt als Schauplatz der Aufführung, ohne dass irgendwelche Hinzufügungen vorgenommen wurden. In Rudi wurde eine Novelle vorgelesen, ohne dass es möglich schien, die Geschichte der Novelle so auf die Räume und die hinzugefügten Objekte zu beziehen, dass eine kohärente Erzählung, sei sie fiktiv oder historisch, entstehen konnte. Die Audiotouren dagegen gingen gerade von einer kohärenten Kriminalgeschichte aus, deren Ende allerdings vorenthalten wurde – das Ende, das den Höhepunkt jeder Kriminalgeschichte ebenso wie der Geschichte des permanenten Fortschritts in den Museen darstellte. Indem der Zuschauer sich durch den Stadtraum hindurch bewegte, wurde er von der Stimme ermutigt, wenn nicht gar verführt, die fiktiven Räume, Personen und Handlungen der erzählten Geschichte so auf die wirklichen Räume, Personen und Handlungen zu beziehen, dass sie für ihn einen Sinn ergaben, wenn auch einen beunruhigenden, irritierenden Sinn – während der Schluss, der alle Geheimnisse enthüllen, die Geschichte in ihrem Zusammenhang vollenden und so alle Ängste, Besorgnisse und Spannung eliminieren soll, zurückgehalten wurde. Der Zuschauer/Akteur wurde zwar im Laufe seiner Bewegung durch die Stadt in einen Zustand zwischen Fiktion und Realität versetzt; sofern er mit diesem Schwellenzustand spielerisch umzugehen vermochte, folgte daraus jedoch nur eine flüchtige, schnell vorübergehende Destabilisierung seines Selbst, die eher lustvoll, denn als eine bedrohliche Krise empfunden wurde. Die Schwellenerfahrung entsprang in jedem Fall der Verwischung der Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion und damit der permanenten Überschreitung von vormals als gesichert geglaubten Grenzen – eine Überschreitung, wie sie in den neuen Medien alltägliche Praxis ist, ohne dass der Medienbenutzer sie wie der Zuschauer/Akteur in Kaegis Audiotouren am eigenen Leib erfahren und so ihrer bewusst werden würde. Nicht als bloßer Zuschauer oder gar Medienkonsument war hier das individuelle Subjekt imstande, mit der permanenten Überschreitung, gar Verwischung der Grenzen zwischen Realität und Fiktion produktiv umzugehen, sondern nur indem es sich in einen Akteur verwandelte, der gleichwohl eine spielerische Distanz zum Geschehen wahrte, in dem er – angeblich – eine aktive Rolle spielte. Die Enttheatralisierung hatte in den Audiotouren von „Hygiene heute“ entsprechend auch eine andere Funktion. Zum einen vollzog sich die Enttheatralisierung von Theater hier zugleich als Theatralisierung des öffentlichen Raumes – alle in ihm gegebenen Objekte ließen sich als Kulissen und Requisiten für die Aufführung der den Bibliothekar Kirchner betreffenden Kriminalgeschichte wahrnehmen, ebenso wie das Verhalten der Menschen an den verschiedenen durchquerten Orten als Rollenspiel. Die Enttheatralisierung von Theater ließ die Welt wieder zur Bühne werden – allerdings in einem ganz anderen Sinn als im 17. Jahrhundert. Während dort die Theatermetapher auf die Scheinhaftigkeit und Vergänglichkeit allen Irdischen verwies, dem das ewige Sein in Gott gegenübertrat, verwies das Verwischen der Grenze zwischen Sein und Schein bei den Audiotouren auf das grundsätzliche Wahrnehmungsproblem, mit dem der moderne Mensch seit Erfindung der neuen Medien sich konfrontiert sieht. Dies Problem ins Bewusstsein zu rufen und zugleich einen spielerischen Umgang mit ihm zu erproben, war ganz sicher eine der wichtigsten und folgenreichsten Wirkungen, welche die Audiotouren auszulösen vermochten.
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3. Die Experten des Wirklichen bei Rimini Protokoll Die Gruppe Rimini Protokoll, die von Daniel Wetzel, Stefan Kaegi und Helgard Haug gegründet wurde, verfährt bei ihren Enttheatralisierungen in mancher Hinsicht grundlegend anders als „Hygiene heute“ oder auch Grüber in Rudi. Ihre Aufführungen finden häufig in Theatergebäuden statt – sind also insofern für die Zuschauer eindeutig der Institution des Kunsttheaters zuzurechnen. Eine Verunsicherung hinsichtlich des theatralen Charakters der Vorgänge, die ihm auf der Bühne präsentiert werden, befällt sie allerdings meist gleich zu Beginn der Aufführung. Denn als Akteure treten hier nicht Schauspieler auf, die Rollen spielen, sondern Menschen anderer Berufsgruppen, die hier ausdrücklich nicht in die Rolle von Schauspielern schlüpfen, die eine Figur darstellen wollen. Sie treten vielmehr als sie selbst auf und berichten aus ihrem Leben. In Sabenation. go home & follow the news (2004) zum Beispiel handelte es sich um ehemalige Mitarbeiter der Fluggesellschaft Sabena, die in Konkurs gegangen war. Die ehemaligen Mitarbeiter erzählten über ihre Arbeit bei Sabena sowie über die Folgen, die der Konkurs für sie persönlich hatte, und ihre Bemühungen, mit den Folgen fertig zu werden. Statt mit einer fiktiven Geschichte, in der fiktive Figuren handeln und leiden, wurde der Zuschauer hier unter Beibehaltung des Theaterrahmens mit Menschen konfrontiert, die über ihre tatsächlichen Handlungen und Leiden sprachen. Diese Art der Enttheatralisierung von Theater bewirkte nun ihrerseits eine Dramatisierung und Theatralisierung des wirklichen Lebens realer Menschen. Die Bühne wurde erneut zum theatrum vitae humanae. Dies zeigte sich besonders deutlich in der Arbeit Wallenstein, die im Schillerjahr 2005 als Gemeinschaftsproduktion mit dem Nationaltheater Mannheim und dem Deutschen Nationaltheater Weimar herausgebracht wurde. Hier glaubten die meisten Zuschauer zunächst, sie würden ins Theater gehen, um eine Inszenierung von Schillers Wallenstein zu sehen – wenn auch ganz sicher keine konventionelle, sondern wohl eher eine experimentelle. In dieser Erwartung wurden sie allerdings sehr schnell enttäuscht. Zwar trat zunächst ein Akteur auf, der Verse aus dem Wallenstein deklamierte. Es handelte sich bei ihm, wie sich bald herausstellte, jedoch nicht um einen Schauspieler, der eine Rolle aus dem Drama spielen wollte, sondern um einen Elektromeister und Schillerfan. Wie er dem Publikum mitteilte, pflegte er Krisen in seinem Leben dadurch zu meistern, dass er Schillerverse auswendig lernte und deklamierte. Von seiner Kunst lieferte er im Laufe des Abends noch mehrere Proben. Auch die anderen Akteure hatten nie die Schauspielkunst erlernt, sondern andere Berufe ergriffen. Unter ihnen waren zwei Vietnam-Veteranen, die von ihren Erlebnissen im Vietnamkrieg erzählten und als besonders schockierendes Faktum zum Besten gaben, wie Frauen und Kinder getötet wurden, nur um beim head count die geforderte Quote zu erreichen. Nach ihrer Erzählung formierten sich alle Akteure und marschierten im Gänsemarsch um die sich bewegende Drehbühne, wobei sie das Abgangslied der Soldaten aus Wallensteins Lager sangen „Wohl auf Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd! Ins Feld, in die Freiheit gezogen!“. Zu den Akteuren zählten außerdem ein ehemaliger Bundeswehr-Offiziersanwärter, ein Stadtamtsrat a. D., der als Luftwaffenhelfer im Zweiten Weltkrieg gedient hatte, ein Mannheimer Richter, der außerdem Stadtrat war und sich vor einigen Jahren erfolglos um das Amt des Bürgermeisters beworben hatte, der stellvertretende Leiter der Weimarer Polizeidirektion, der ebenfalls Stadtrat war, die Gründerin und Besitzerin einer Partnerschaftsagentur, die auch während
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der Aufführung Anrufe von außerhalb entgegennahm, sowie eine geprüfte Astrologin. Ihre von ihnen selbst erzählten und dokumentierten Lebensgeschichten überlagerten sich nicht nur gegenseitig, sondern wurden auch von Versen aus dem Wallenstein unterbrochen, die der Elektromeister rezitierte, sowie durch die Strophen der bereits erwähnten Liedes aus Wallensteins Lager. Wie sich im Laufe des Abends herausstellte, ließen sich bestimmte Fakten und Episoden aus dem Leben jedes/jeder einzelnen Akteurs/in in eine Beziehung zu Figuren und Vorgängen in Schillers Drama setzen. So stellte die Astrologin, die schon durch ihren Beruf auf den Astrologen Seni bezogen war, auffallende Parallelen zwischen den Horoskopen Wallensteins und des Mannheimer Richters fest. Und als dieser in seiner langen und wohl dokumentierten Erzählung zur Katastrophe in seiner politischen Laufbahn kam, dem Scheitern seiner Wahl zum Bürgermeister, die von Parteifreunden hintertrieben wurde, wirbelte die Leiterin der Partnerschaftsagentur auf ihrem Drehstuhl mit Rollen über die Bühne, wobei sie mehrfach die Worte der Gräfin Terzky kurz vor Wallensteins Ermordung wiederholte: „Sagt Dir die innere Ahndungsstimme nichts?“ (5. Akt, 3. Szene) Die Lebensgeschichten der Akteure und Schillers Wallenstein wurden so ständig aufeinander bezogen und kommentierten sich gegenseitig. Dadurch wurden zum einen die Grenzen zwischen den Lebensgeschichten der auf der Bühne anwesenden Menschen und denen der fiktiven Figuren aus Schillers Drama verwischt und die Zuschauer, wie auch in den beiden ersten Beispielen, in eine Art Zwischen- oder auch Schwellenzustand versetzt. Zum anderen bewirkte dies – expliziter und nachdrücklicher als in Sabenation – eine Dramatisierung der Lebensgeschichten der Betroffenen: ihr Leben erfuhr so eine Theatralisierung. Die Enttheatralisierung des Theaters erschien hier als ein Verfahren zur Theatralisierung des alltäglichen Lebens, zur Dramatisierung von Lebensgeschichten. In der dramatisierten und theatralisierten Form enthüllten sie ihre Ebenbürtigkeit mit den dramatisierten und theatralisierten Lebensgeschichten der so genannten großen Männer. Das Leben jedes einzelnen gewöhnlichen Menschen wird, auf die Bühne gebracht, zum theatralen Ereignis – allerdings auf ganz andere Weise und in ganz anderer Hinsicht, als es Diderot und Lessing bei ihrer Forderung vorschwebte, das Theater zu enttheatralisieren und statt steif über die Bühne stolzierender Monster, die man nur anstaunen könne, Menschen auf die Bühne zu bringen, die mit uns „von gleichem Schrot und Korn“ sind. Denn was in der Wallenstein-Inszenierung zu erleben war, war nicht ein Abbild des sozialen Lebens, keine imitatio naturae, wie sie das 18. Jahrhundert forderte, sondern eine „Transfiguration des Gewöhnlichen“ (Arthur Danto), wie sie im 17. Jahrhundert vielleicht Don Rodrigo mit der theatralen Geste bewirkte, mit der er beim Besteigen des Schafotts den Saum seines Mantels über seine Schulter warf. In jedem der drei angeführten Beispiele einer Enttheatralisierung von Theater, die auf jeweils andere Weise zu einer Theatralisierung des öffentlichen Lebens führten, lässt sich der Vorgang der Enttheatralisierung mit bestimmten jeweils zeittypischen Phänomenen in Verbindung bringen: So reagierte Rudi auf einen spezifischen Umgang mit der deutschen Vergangenheit und Gegenwart, wie sie Ende der siebziger Jahre vorherrschte. Die Audiotouren von „Hygiene heute“ setzten sich mit der durch die neuen Medien bewirkten Ununterscheidbarkeit von Facta und Ficta auseinander. Und Rimini Protokoll lenkt die Aufmerksamkeit auf das Leben und die Schicksale einzelner zeitgenössischer Menschen, die durch spezifische
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Fernsehformate wie daily soaps, reality-TV, „Deutschland sucht den Superstar“ u. ä. trotz gegenteiliger Behauptungen der betreffenden Fernsehmacher, mehr und mehr aus unserem Blickfeld verschwinden. Ohne vorschnelle Schlüsse ziehen zu wollen, möchte ich die These vertreten, dass Theater mit seiner eigenen Enttheatralisierung vor allem der letzten Jahre auf eine spezifische Art der Theatralisierung im Sinne von Entwirklichung aller unserer Lebensbereiche reagiert. Wenn die Welt und das menschliche Leben in diesem Sinn vollkommen theatralisiert werden, bleibt dem Theater nichts anderes übrig, als sich zu enttheatralisieren. Nur eine radikale Enttheatralisierung des Theaters vermag die vollständige Theatralisierung unserer Lebenswelt noch bewusst zu machen und ihr so entgegenzuwirken.
Literatur Bennett, Tony (1995): The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London: Routledge. Bruyère, Jean de La (1922): Caractères. Nr. 2. Paris. Eichhorn, Herbert (1964): Konrad Ernst Ackermann. Ein deutscher Theaterprinzipal. München: Lechte. Fischer-Lichte, Erika (1983): Semiotik des Theaters. Bd. 2: Vom „künstlichen“ zum „natürlichen“ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. Tübingen: Narr. Iden, Peter (1979): „Paßt ‚Rudi‘ ins Hotel Esplanade? Grübers Berliner Spektakel“. In: Theater heute. 20. 5. 5f. Ortega y Gasset, José (1950): Papeles sobre Velazquez y Goya. Madrid. [dt.: Velazquez und Goya. Beiträge zur spanischen Kulturgeschichte. übers. v. Hans-Karl Schneider. Stuttgart 1955.] Rochlitz, Johann Friedrich (Hrsg.) (1795): Taschenbuch für Liebhaber des Privattheaters. Leipzig. Rouvroy, Louis de/Saint-Simon, Duc de (1910/1711): Mémoires, Bd. XVIII. Kap. 31. Paris. Turner, Victor (1969): The Ritual Process. Structure and Anti-Structure. London: Routledge.
Spielen und Heilen – Zur Theatralisierung des Therapeutischen Matthias Warstat
Spielen und Heilen sind als kulturelle Praktiken häufig aufeinander bezogen. Im Spiel kann sich der Mensch entspannen, entfalten, neu erfinden, und im Spiel lassen sich neue, andere Rollen erproben, die einen Ausweg aus Sackgassen und Blockaden der Lebenswelt eröffnen. Die Entlastung von Zwängen und die Überschaubarkeit der Regeln, die für Spiele kennzeichnend sind, verhelfen den Akteuren zu einer Sicherheit, aus der heilsame Wirkungen erwachsen können. Entsprechend häufig setzen Heilungsstrategien auf spielerische Elemente: Spielend soll der Patient Körperfunktionen zurückgewinnen, neuen Lebensmut schöpfen und Handlungskraft regenerieren. Das Spiel, das Linderung oder gar Heilung verspricht, kann den Charakter einer theatralen Aktion annehmen, die auf Performanz, Darstellung oder Mimesis rekurriert. In solchen Fällen erscheint es berechtigt, von einer Theatralisierung des Therapeutischen zu sprechen. Die Verflechtung von Spiel und Therapie hat eine lange Tradition, so dass der Begriff ‚Theatralisierung‘ hier nicht als Verweis auf eine Entwicklung der jüngsten Zeit missverstanden werden darf. Tatsächlich durchziehen theatrale Strukturen von jeher alle Einrichtungen und Praktiken des Therapeutischen. So ist etwa die Beziehung zwischen Arzt und Patient bzw. zwischen Therapeut und Klient auf beiden Seiten von Selbstinszenierungen geprägt. Der Arzt versucht, für den Patienten Kompetenz und Zuversicht zu verkörpern. Umgekehrt ist der Patient bemüht, dem Therapeuten seine Symptome gestisch-körperlich anschaulich zu machen. Dies ist die basale Theatralität des therapeutischen Feldes: In therapeutisch geprägten Beziehungen kommt es darauf an, sowohl Symptome als auch die richtige Antwort auf diese Symptome möglichst genau zu verkörpern. Je besser die Verkörperung auf beiden Seiten gelingt, desto größer die Heilungschance. Über diese basale Theatralität hinaus haben wichtige Methoden der professionellen Psychotherapie noch eine spezifischere theatrale Dimension. Von den Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen in der Psychoanalyse über das theatrale Probehandeln in der Verhaltenstherapie, die berühmten Übungen mit dem ‚leeren Stuhl‘ in der Gestalttherapie bis hin zu den szenischen Arrangements der Familienaufstellung machen viele bis heute praktizierte Heilmethoden in besonderer Weise von theatralen Techniken des Zeigens und
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Zuschauens Gebrauch. Im theatralen Spiel können Patienten/Klienten bestimmte Entscheidungen, Redeweisen und Handlungen erproben, die ihnen im Alltag, außerhalb des therapeutischen Raums, aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich sind. Auf diese Weise lässt sich ein neuer Umgang mit Ängsten, Verletzungen und Konflikten einüben. Auch dient Theatralität als Mittel der Bewusstmachung: Häufig kann man psychische Belastungen und Konflikte überhaupt erst als die eigenen erkennen und anerkennen, indem man sie spielerisch ausagiert. Nicht immer sind solche genauer bestimmten Zielsetzungen gegeben, wenn in Kliniken, Krankenhäusern, Pflegeheimen und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens Theater gespielt wird. Oft sollen entsprechende Aufführungen einfach dem Allgemeinbefinden der Patienten zuträglich sein: Laientheatergruppen, Clowns, Alleinunterhalter und Komödianten spielen für die Kranken, um sie zu unterhalten, aufzuheitern oder abzulenken. Die Patienten nehmen als Zuschauer und manchmal auch als Mitspieler an solchen Aufführungen teil. Seit dem späten 18. Jahrhundert sind Theateraufführungen in Hospitälern und psychiatrischen Anstalten in verschiedenen europäischen Ländern nachweisbar, beispielsweise im englischen Ticehurst Asylum oder im Hospiz von Charenton bei Paris, dessen Direktor Coulmier zwischen 1797 und 1811 Theateraufführungen mit Patienten einstudierte.1 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden viele große Kliniken mit Theatersälen ausgestattet, so etwa die Hospitäler von Broadmoor, Aversa, Neapel und Palermo.2 Alle bisher erwähnten Facetten von Theatralität im Gesundheitswesen treffen aber noch nicht den engeren Bereich der Theatertherapie. Von Theatertherapie sollte dann (und nur dann) gesprochen werden, wenn Theatralität nicht nur ein Teilaspekt der jeweiligen Heilmethode ist, sondern die angestrebten Heilwirkungen in erster Linie, wenn nicht gar ausschließlich aus theatralen Prozessen erwachsen. In diesem Sinne, als eigenständige Disziplin und Profession, ist Theatertherapie in den 1930er Jahren entstanden und hat in den 1960er und -70er Jahren einen bedeutenden Aufschwung erlebt. Unter den deutschen Begriff Theatertherapie lassen sich insbesondere das weltweit verbreitete Psychodrama und die vor allem in Großbritannien und den Vereinigten Staaten etablierte Dramatherapy subsumieren. Dieser Definitionsvorschlag ist aber nicht unumstritten, und eine international konsistente Terminologie besteht nicht. Die im anglo-amerikanischen Sprachraum dominierenden Bezeichnungen Dramatherapy (England) und Drama Therapy (USA) sind insofern irreführend, als die darunter gefassten Methoden häufig ohne dramatischen Text auskommen. Der deutsche Begriff Theatertherapie ist in dieser Hinsicht präziser, hat allerdings in Deutschland selbst einen schweren Stand, weil sich entsprechende Therapieformen hierzulande – mit Ausnahme des Psychodramas – noch wenig durchgesetzt haben und bei den Krankenkassen nicht erstattungsfähig sind. In den Niederlanden ist Theatertherapie in Lehre und Praxis besser etabliert; sie firmiert dort zusammen mit Musik-, Tanz- und Kunsttherapie unter dem Sammelbegriff Kreatieve Therapie.
1 Vgl. Souall 1981: 207 zu Ticehurst. Die Theateraktivititäten in Charenton dienten Peter Weiss als historisches Material für sein Erfolgsstück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, dargestellt durch die Schauspieltruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, uraufgeführt in Berlin 1964. 2 Vgl. Mora 1957: 268 zu den italienischen Beispielen; Cox 1992: 116 zu Broadmoor.
Spielen und Heilen – Zur Theatralisierung des Therapeutischen
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Ein Blick auf die Geschichte der Theaterkunst bzw. des Kunsttheaters bestätigt die Affinität von Spielen und Heilen aus anderer Richtung: Therapeutische Ambitionen begleiten das europäische Theater seit seinen Anfängen. Schon in der Antike erwartete man sich vom Theater heilsame – zum Beispiel kathartische – Wirkungen; in Mittelalter und früher Neuzeit waren Theaterkunst und Heilkunst aufs engste verbunden; und im 20. Jahrhundert hegten die Avantgarden weit reichende Ansprüche, heilsam und/oder erzieherisch in die Gesellschaft hineinzuwirken. Auf diese Weise haben sich zwischen Medizin, Psychotherapie und Kunsttheater vielfältige Schnittmengen gebildet. Die enge Verwandtschaft von Spielen, Heilen und Lernen bildet die gemeinsame Basis, auf der sich Beziehungen zwischen Kunsttheater und dem Bereich der professionellen Therapien herausbilden konnten. So kann man im Kunsttheater therapeutische Wirkungsstrategien nachweisen, umgekehrt aber auch zeigen, wie sich psychotherapeutische Ansätze – etwa das Psychodrama Jacob Levy Morenos – von der Theateravantgarde inspirieren ließen. Im Folgenden soll jedoch nicht von einer Gemeinsamkeit, sondern von einem markanten Unterschied zwischen Kunsttheater einerseits und theatralen Therapieformen andererseits ausgegangen werden, der es erlaubt, die spezifische Theatralität des Therapeutischen genauer zu fassen. Vergleicht man theatrale Therapieformen (wie Psychodrama, Gestalttherapie, Dramatherapie oder Tanztherapie) mit dem Kunsttheater der Gegenwart, dann wird man neben zahlreiche Parallelen eine überraschende Differenz entdecken: In den meisten theatralen Therapieformen spielt die Aufführung, die den medialen Kern des Kunsttheaters bildet – und die im Übrigen auch als wichtigste Kategorie der Theaterwissenschaft gelten darf – nur eine geringe oder gar keine Rolle. Viele therapeutische Theatergruppen verzichten darauf, die gemeinsam erarbeiteten Darbietungen aufzuführen, d.h. einem externen Publikum zu präsentieren. Die Aufführung, auf die im Kunsttheaterbetrieb meist alles zusteuert, unterbleibt. Die Frage, warum Theatertherapie oft auf Aufführungen verzichtet, eignet sich, um der besonderen, spezifischen Theatralität des Therapeutischen auf die Spur zu kommen. Es geht hier um eine Theatralität, die bestimmte Risiken und Nebenwirkungen, die mit dem Kunsttheater verbunden sind, vermeiden möchte und vermeiden muss. Die Bestimmung dieser Theatralität soll in drei Schritten erfolgen: Zunächst wird das relationale Theatralitätskonzept, das der Betrachtung heuristisch zugrunde liegt, in einem theoretischen Exkurs eingeführt (I.). Nach einem kurzen Blick auf die Geschichte der Theatertherapie (II.) sollen die grundlegenden Prozesse derartiger Heilmethoden und deren Wirksamkeit differenziert werden (III.). Bei der Analyse der elementaren Wirkungsmechanismen von Theatertherapie wird sich das Fehlen bzw. die Randständigkeit der Aufführung bemerkbar machen. In einem letzten Schritt (IV.) soll nach den Hintergründen dieses Fehlens gefragt und erörtert werden, welche Vorteile sich aus einer Theatralität ergeben, die ohne Aufführung auskommt.
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1. Ein relationales Theatralitätskonzept Der performative turn, der vor allem in den 1990er Jahren innovative Perspektiven auf dem Feld der Sozial- und Geisteswissenschaften eröffnet hatte, ist inzwischen nicht mehr neu. In manchen Disziplinen, vor allem in den Kunstwissenschaften, hat er sich so breit durchgesetzt, dass die in solchen Fällen unvermeidlichen Absetzbewegungen begonnen haben. Wenn das Performative als Forschungsparadigma, als Kernbegriff des Fragens und Argumentierens, etwa durch das Ästhetische, das Visuelle oder das Mediale ersetzt wird, stehen manchmal – nicht immer – solche allmählichen Verschiebungen des Erkenntnisinteresses dahinter. Die Performativität, den Aufführungscharakter von sozialen Beziehungen, gesellschaftlichen Prozessen oder kulturellen Praktiken festzustellen, hat keinen wirklichen Neuigkeitswert mehr. Desiderat sind aber nach wie vor in vielen Bereichen Studien, die über das Konstatieren von Performativität hinaus die Funktions- und Wirkungsmechanismen konkreter Aufführungen erhellen. Je mehr die performative Seinsweise sozialer und kultureller Phänomene als selbstverständlich akzeptiert wird, desto unangefochtener hat der Performativitätsdiskurs sein Ziel erreicht und desto dringender wird der Bedarf nach neuen Kategorien und Fragestellungen, mit denen sich genauer ermitteln und zeigen ließe, wie die uns allenthalben umgebenden Aufführungen, über deren Gegebensein nicht mehr gestritten werden muss, im Einzelnen funktionieren. Der Begriff ‚Theatralität‘, der am Beginn wichtiger Stränge des performative turn stand, bevor er in einigen Disziplinen recht vollständig von der ‚Performativität‘ abgelöst wurde, könnte im Zuge dieser Neuausrichtung von Forschungsperspektiven erneut an Interesse gewinnen. Denn in gewisser Weise ging das Bedeutungsspektrum von ‚Theatralität‘ schon immer über das hinaus, was mit ‚Performativität‘ gemeint sein kann. „Der Begriff des Performativen – ebenso wie der der Performanz – bezieht sich auf (1.) das wirksame Ausführen von Sprechakten, (2.) das materiale Verkörpern von Bedeutungen und (3.) das inszenierende Aufführen von theatralen, rituellen und anderen Handlungen. Der Begriff des Performativen bezeichnet die Eigenschaft kultureller Handlungen, selbstreferentiell und wirklichkeitskonstituierend zu sein. Mit Performativität wird das Konzept bezeichnet, mit dem das Performative systematisch untersucht wird.“ (Fischer-Lichte 2005: 234) Wer von Performativität spricht, wendet sich dieser Definition zufolge also Sprechakten, Verkörperungen und/oder Aufführungen zu, um deren Selbstbezüglichkeit wie auch deren Potenzial, Wirklichkeit zu generieren, näher zu untersuchen. Das allerdings ist ein Programm, in dem das Theatrale nicht unbedingt aufgehoben ist. Theatralität, das haben die Jahrzehnte der Beschäftigung mit der „Inszenierungsgesellschaft“ gezeigt,3 darf keinesfalls auf Phänomene des (schönen) Scheins, der Täuschung/Manipulation oder des ‚Als-ob‘-Handelns reduziert werden, aber der Begriff meint doch auch Spezifischeres als ein selbstbezügliches und wirklichkeitsgenerierendes Handeln im Allgemeinen. Es geht um ein präziser zu fassendes, genauer zu beschreibendes Untersuchungsinteresse, das nicht dabei stehen bleibt, den konstruktiven und selbstbezüglichen Charakter eines Handelns zu markieren.
3 Die enorme Bandbreite an Studien wird deutlich in dem Handbuch von Willems/Jurga 1998.
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Der Theatralitätsbegriff muss beileibe nicht neu definiert werden,4 aber wichtig scheint es doch, eine Eigenheit der vorhandenen Definitionen aufs Neue zu betonen: Theatralität, wie auch immer man sie näher bestimmen will, ist ein relationaler Begriff; ein Konzept also, das seinerseits auf eine Beziehung von anderen Begriffen verweist. Die Pole dieses Beziehungssystems werden unterschiedlich bestimmt: Theatralität ist als ein Zusammenhang von Performance, Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung definiert worden (Fischer-Lichte 2000). Eine andere Definition sieht in Wahrnehmung, Bewegung und Sprache die Faktoren kultureller Energie, als deren Zusammenwirken Theatralität bezeichnet werden könnte (Schramm 2005). Eine dritte, wieder anders gelagerte Definition erhebt die (historisch hochvariablen) Felder Kunsttheater, lebensweltliches Theater, Anti-Theater und reflexives Theater zu Grundbausteinen eines Theatralitätsgefüges (Münz 1998). Es kann hier nicht beurteilt werden, welche Definition die ergiebigste ist, zwischen welchen Polen sich also besonders interessante und erkenntnisträchtige Netze spannen lassen – letztlich hängt das von den jeweiligen Gegenständen und Fragestellungen einer Untersuchung ab. Stattdessen soll die Aufmerksamkeit auf die Relationalität der Begrifflichkeit selbst gelenkt werden: Was der Theatralitätsdiskurs heute an Erkenntnisgewinn verspricht, tritt dann hervor, wenn diese Relationalität in all ihren Konsequenzen ernst genommen und durchgespielt wird. Relationalität heißt erstens, dass eine Untersuchung, die nur einen der Pole allein in den Blick nimmt, Theatralität analytisch verfehlt. Sich mit dem Inszenierungscharakter einer politischen Veranstaltung zu befassen, kann lohnend und erhellend sein, ist aber für sich noch keine Untersuchung von Theatralität, wenn außer Acht bleibt, wie die Inszenierung in der Performanz gelingt, aber auch scheitert, wie sie körperlich umgesetzt, aber auch verfehlt wird, und wie sie schließlich in der Wahrnehmung realisiert, aber auch verfremdet werden kann. Relationalität heißt zweitens, dass die Entfernung zwischen den einzelnen Polen variieren kann. Wahrnehmung, Bewegung und Sprache können eng beieinander liegen, wie es im Akt des Lesens der Fall ist, sie können aber auch größere Distanzen eröffnen, wie es etwa beim Computerspielen passiert, wenn der Spieler vielfältigste Bewegungen und oft auch Sprechakte im virtuellen Raum produziert, die aber in einem ganz anderen Raum, nämlich im realen Raum des Kontakts zwischen Auge und Benutzeroberfläche wahrgenommen werden. Relationalität heißt schließlich auch, dass man vermutlich dort auf die ergiebigsten Themen und Untersuchungsfelder stößt, wo die Pole des Beziehungsgefüges besonders weit auseinander treten oder besonders eng zusammen rücken, wo die Lineaturen zwischen den Polen also zum Zerreißen gespannt oder bis zur Implosion zusammengeschnurrt sind. Nur in der Begegnung mit solchen Extremphänomenen werden die allgegenwärtigen theatralen Mechanismen, die die Dinge unserer Welt – zumeist unbemerkt – zum Erscheinen und zum Verschwinden bringen, überhaupt spürbar. Bis zur Implosion radikalisierte Verdichtung kann zum Beispiel eintreten, wenn Kunsttheater und lebensweltliches Theater unmittelbar aufeinanderprallen: So geschieht es in Augusto Boals „unsichtbarem Theater“, dessen Strategie darin besteht, ganz alltägliche Situationen mit künstlerischen Mitteln unter der Hand so zu transformieren, dass sich für die nicht eingeweihten Teilnehmer im eigenen Alltag ein massiver Verfremdungs- und (idealiter) auch 4 Überblick über einflussreiche Definitionsangebote: Warstat 2005.
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Lerneffekt ergibt (vgl. Boal 1989: 74-82). Im Bereich der Theatertherapie hat man es dagegen, das soll im Folgenden gezeigt werden, mit dem umgekehrten, nicht minder interessanten Fall zu tun. Die Pole des Theatralitätsgefüges treten auffällig auseinander: Inszenierung, Korporalität und Wahrnehmung werden in theatertherapeutischen Prozessen oftmals nicht in einer Performance (Aufführung) zusammengeführt, sondern bleiben auf eigenartige Weise unverbunden. Dies hat mit Implikationen von Aufführungen zu tun, die in therapeutische Programme kaum zu integrieren sind.
2. Geschichte der Theatertherapie Die Geschichte der professionellen Theatertherapie differenziert aufzuarbeiten, wäre ein umfangreiches Forschungsprojekt. Hier können nur grobe Umrisse skizziert werden. Gesichert ist, dass sich Theatertherapie in den USA, Großbritannien und den Niederlanden besonders früh und besonders breit entwickelt hat – wenn auch, wie dargestellt, unter anderen Bezeichnungen. In diesen Ländern hat es bereits in den 1930er und -40er Jahren wichtige Pionierarbeiten gegeben. An der amerikanischen Ostküste leitete Jacob Moreno seit 1925 erste Psychodrama-Gruppen und fand in den Folgejahren bereits einzelne Nachahmer. 1936 gründete er das erste fest institutionalisierte Psychodrama-Theater im Beacon Hill Sanatorium im Staat New York. 1942 erhielt Frances Herriott die erste offizielle Festanstellung mit der Berufsbezeichnung ‚Psychodramatist‘ an einem öffentlichen Krankenhaus in den USA (vgl. Jones 2000: 62f.). In Großbritannien begann der Schauspieler Peter Slade seit 1935 an dem von ihm initiierten Arts Centre in Worcestershire mit theatertherapeutischer Gruppenarbeit für Kinder. In den späten 30er Jahren hielt er den ersten Vortrag über Dramatherapy vor der British Medical Association.5 In den Niederlanden begannen erste TheatertherapieProjekte ebenfalls im sozialpädagogischen Bereich in den 1940er Jahren.6 Wichtigen Auftrieb erhielten theatertherapeutische Initiativen sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Großbritannien und den Niederlanden im Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg, als für die Rehabilitation von Kriegsversehrten und für die Arbeit mit Kriegswaisen innovative Therapieprogramme entworfen und finanziert wurden (vgl. Fryrear/Fleshman 1981: 14). Ihre Blütezeit erlebte die Theatertherapie in den USA und Westeuropa aber erst in den 1960er und -70er Jahren. In dieser Zeit entstanden die ersten spezialisierten Berufsverbände und Ausbildungsgänge. Zugleich avancierte Theatertherapie zum festen Bestandteil des Therapieangebots in psychiatrischen und sozialpädagogischen Einrichtungen. Auch mit Blick auf die Gesamtpalette psychotherapeutischer Techniken ist in den 1960er und -70er Jahren ein Boom theatral akzentuierter Therapieformen wie Gestalt- oder Spieltherapie auffällig. Viele Protagonisten der alternativen Therapieszene standen den neuen sozialen Bewegungen der 68er-Zeit nahe und teilten mit diesen den festen Glauben an eine heilsame, verändernde Kraft des Ausagierens. Wichtige Impulse bezog die Theatertherapie von der humanistischen 5 Ein Interview und weitere Informationen zu Slade finden sich bei Jones 2000: 83-86. 6 Zur Theatertherapie im Rahmen von Kreatieve Therapie in den Niederlanden Junker 2002.
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Psychologie, die sich seit den späten 1950er Jahren als dritte Alternative („Third Force“) neben Psychoanalyse und Behaviorismus durchsetzte. Erkennbar vom Existenzialismus, aber auch von der phänomenologischen Philosophie beeinflusst, betonten humanistische Ansätze (zum Beispiel Abraham Maslow, Carl Rogers, Charlotte Bühler) den Respekt vor der subjektiven Sicht des Klienten, ein Vertrauen in dessen Fähigkeiten und höchste Wertschätzung für individuelle Freiheit und Gestaltungskraft. Was die humanistische Psychologie zu einer wichtigen Stütze und Inspirationsquelle für die Theatertherapie machte, war die gemeinsame Überzeugung, dass jeder Mensch über ureigene, wertvolle Ressourcen verfügt, die realisiert, gestaltet und ausagiert werden wollen. Theatertherapeutisches Ausagieren schien geeignet, die von der humanistischen Psychologie beschriebene Kluft zwischen Zwängen und Wünschen, Realität und Phantasie, Sein und Werden zu überbrücken.7 Warum sich Theatertherapie in den übrigen europäischen Ländern, aber auch in anderen Teilen der Welt weniger dynamisch entwickelte als in Großbritannien, den USA und den Niederlanden, müsste für jede Gesellschaft gesondert diskutiert werden. In Deutschland scheint sich die komplizierte Randlage der Theatertherapie im Grenzbereich von Sozialpädagogik, Psychologie und Kunsttheater hemmend ausgewirkt zu haben. Hier waren es in den 1970er und -80er Jahren zunächst vor allem Sozialpädagogen, die in der Arbeit mit Jugendlichen und sozialen Problemgruppen auf Theaterprojekte setzten. Zur psychologischen Theoriebildung hatten diese Initiatoren eher wenig Zugang; entsprechend waren sie bemüht, die entstehende Theatertherapie vom psychoanalytisch geprägten Psychodrama und anderen theatral akzentuierten Psychotherapien deutlich abzugrenzen. Ähnliches galt für die künstlerisch ausgebildeten Schauspieler, Regisseure und Dramaturgen, die – nicht selten aufgrund fehlender Berufschancen im Kunsttheater – seit den 1980er Jahren verstärkt in die Tätigkeitsfelder Theaterpädagogik und Theatertherapie drängten. Umgekehrt integrierten aufgeschlossene Psychotherapeuten in ihre Praxis zwar zunehmend theatertherapeutische Verfahren, ohne diese allerdings explizit beim Namen zu nennen. Sie verstanden sich weiterhin primär als Gesprächstherapeuten, Verhaltenstherapeuten, Psychoanalytiker etc. und sahen daher wenig Anlass, zu den theatertherapeutisch tätigen Sozialpädagogen Kontakt aufzunehmen. Trotz dieser verfahrenen Lage konnte sich der Begriff Theatertherapie in den 1990er Jahren vermehrt durchsetzen, was sich in einer wachsenden Zahl von Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten spiegelte. Diese positive Entwicklung wurde allerdings durch das Psychotherapeutengesetz von 1998 gebremst, das die Theatertherapie nicht in den Kreis erstattungsfähiger Therapieformen aufnahm.8 Lassen sich trotz dieses disparaten Gesamtbilds übergreifende Qualitäten von Theatertherapie benennen, die zugleich Differenzen zu einem therapeutisch akzentuierten Kunsttheater markieren?
7 Zur gegenseitigen Stärkung von Theatertherapie und humanistischer Psychologie Emunah 1994: 26-18. 8 Siehe zur Entwicklung und aktuellen Situation von Theatertherapie in Deutschland die Überblicksdarstellungen von Martens 2002 und Müller-Weith 2002, daneben auch die übrigen Beiträge in dem Sammelband von MüllerWeith et. al. 2002.
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3. Theatertherapeutische Prozesse und deren Wirksamkeit In Anlehnung an ein Konzept von Phil Jones (2000) können neun elementare Prozesse von Theatertherapie unterschieden werden, die sowohl äußere als auch innere Dynamiken der therapeutischen Arbeit umfassen. Eine Betrachtung der einzelnen Prozesse und ihres Zusammenhangs macht klar, was für Wirkungen von Theatertherapie zu erwarten sind. Wichtige Abweichungen von den Arbeitsweisen und Wirkungsmöglichkeiten des Kunsttheaters treten hervor. Theatertherapie integriert a.) intersubjektive Prozesse des Agierens, Darstellens und Zuschauens sowie b.) intrasubjektive Prozesse des Denkens und Fühlens. Aus dem Zusammenwirken dieser Aktivitäten ergeben sich c.) die übergreifenden Prozesse performativer Gestaltung. Die im Folgenden differenzierten neun Prozesse überlagern und durchdringen sich also gegenseitig; keinesfalls dürfen sie als diskrete Einheiten oder gar als diachrone Abfolge verstanden werden (vgl. Jones 2000: 99-125).9
a.) Intersubjektive Prozesse 1.) Verkörperung bezeichnet in theatertherapeutischen Zusammenhängen das körperliche Ausagieren von Themen, Problemen, Bedürfnissen, Haltungen etc. Der Begriff unterstreicht, dass solche Darstellungen den Körper des Klienten voll involvieren. Körper und Bewegung sind entscheidende Medien der Therapie. 2.) Personifizierung verweist auf spezielle Prozesse der Verkörperung, die der Darstellung einer Person oder eines Teilaspekts einer Person durch den Klienten dienen. Meist geht es für den Akteur darum, in ein spielerisches, experimentelles Verhältnis zur eigenen Person einzutreten. Nicht ausschließlich der eigene Körper, sondern auch Hilfsmittel wie Puppen oder Masken können zur Personifizierung herangezogen werden. 3.) Spiel ist der Begriff für das intersubjektive Zusammenwirken der verschiedenen Personifizierungen und Verkörperungen mehrerer Akteure. Theatertherapie-Sitzungen legen ihren Teilnehmern eine spielerische Einstellung und ein gesteigertes Maß an Kreativität und Spontaneität nahe: Gespielt wird mit Körpern, Objekten, Symbolen, Rollen und Figuren. Das Spiel kann die Akteure in kindliche Entwicklungsstadien zurückversetzen, aber auch prospektiv in die Zukunft gerichtet sein. 4.) Zeugenschaft weist als Begriff darauf hin, dass Theatertherapie ganz gleich welcher Ausprägung nicht nur Handeln, sondern auch Zuschauen erfordert. Häufig spielen sich diese Prozesse des Zuschauens lediglich innerhalb der Therapiegruppe ab, ohne dass ein externes Publikum hinzugezogen würde. Meist wird auch besonderer Wert darauf gelegt, dass der Handelnde sich selbst zum Zuschauer wird. Diese vier Prozesse (1-4) bezeichnen intersubjektiv wahrnehmbare Leistungen, die den Klienten abverlangt werden. Insgesamt dienen sie dazu, Konflikte und Probleme zu artikulieren oder aufzudecken.
9 Meine Anordnung weicht insofern von Jones’ Systematik ab, als ich die neun Prozesse bestimmten Wirkungsebenen zuordne und auf dieser Grundlage neu sortiere. Vgl. auch die mit Jones gut vereinbare Strukturierung des theatertherapeutischen Prozesses in fünf Sequenzen bei Emunah 1994: 34-47. Das Modell von Landy 1993: 4555 lässt sich ebenfalls auf Jones’ „core processes“ beziehen, ist jedoch stärker auf den Rollenbegriff fokussiert.
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b.) Intrasubjektive Prozesse 5.) Projektion bezeichnet die subjektiv herzustellende, gedankliche Verbindung zwischen dem inneren Zustand des Klienten und der äußeren theatralen Form. Der Klient projiziert Aspekte seiner selbst auf konkrete theatrale Gegenstände oder Handlungen (zum Beispiel Requisiten, Figuren, dramatische Konflikte), so dass er seine inneren Konflikte externalisiert. 6.) Einfühlung und Distanzierung werden in theatertherapeutischen Kontexten gleichermaßen benötigt: Einerseits soll der Klient Gefühle in die dargestellten Rollen, Situationen und Konflikte investieren, andererseits muss er Distanz gewinnen, um das Wahrgenommene, das eigene Handeln und die eingegangenen therapeutischen Beziehungen reflektieren zu können. Nur im Zusammenspiel von Einfühlung und Distanzierung ergeben sich neue Perspektiven auf die eigene Lage. Diese beiden Prozesse (5 und 6) sind intrasubjektive Aktivitäten, durch die der Klient eine neue emotionale und intellektuelle Haltung zu seinen Konflikten und Problemen gewinnen kann.
c.) Übergreifende Prozesse 7.) Performance bezeichnet den theatertherapeutischen Gesamtprozess von der Identifizierung von Bedürfnissen über die Erprobung von Handlungsmöglichkeiten bis zur Gestaltung von Lösungen. Diese Arbeitsschritte müssen nicht in eine Aufführung für andere münden. Vielmehr kommt es darauf an, dass der Klient den Eindruck einer in sich geschlossenen Gestalt(ung) gewinnt. 8.) Vermittlung von Theater und Leben leistet die Theatertherapie durch die ihr eigene liminale Position. Der theatertherapeutische Raum ist in einer Zwischensphäre angesiedelt und kann insofern als Schwellenphänomen gedeutet werden: nah genug am Alltag, um alltagsrelevante Handlungen beherbergen zu können, aber auch weit genug vom Alltag entfernt, um freies Experimentieren ohne negative Konsequenzen zu ermöglichen. 9.) Transformation wird von allen acht vorgenannten Prozessen getragen. Die Heilung, wenn sie gelingt, ist Ergebnis dieser multiprozessualen Transformation. Für jede Form von Theatertherapie ist der Transformationsbegriff deshalb von zentraler Bedeutung. Die Themen, Konflikte und Probleme eines Lebens sollen reorganisiert, neu arrangiert und in veränderter Form re-integriert werden. Mit den drei letzten Begriffen (7-9) wird der Gesamtablauf einer theatertherapeutischen Maßnahme charakterisiert und das Zusammenwirken der zuvor analytisch voneinander getrennten Prozesse betont.
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4. Differenzen zum Kunsttheater Aus theaterwissenschaftlicher Sicht fällt an diesem prozessualen Modell von Theatertherapie sofort auf, dass die Aufführung, d.h. die Präsentation vor einem (externen) Publikum, der Nukleus des Kunsttheaters, im Konzert der neun therapeutischen Prozesse gerade nicht das alles entscheidende Zentrum bildet. Das Wechselspiel von Zeigen und Zuschauen ist wichtig, muss sich aber nicht im Rahmen einer Aufführung vollziehen. Eher gleicht die therapeutische Arbeit einem Probenprozess, in dem die Positionen zwischen Zuschauenden und Handelnden kurzfristig wechseln können und in dem sich die Akteure vor allem selber kritisch betrachten, um mit unterschiedlichen Haltungen, Handlungen und Kommunikationsformen zu experimentieren. Unter den neun elementaren Prozessen sind nur diejenigen der ‚Performance‘ und der ‚Zeugenschaft‘ unmittelbar an den Aufführungsbegriff gebunden. Aber selbst bei diesen beiden Prozessen legt Phil Jones Wert auf die Feststellung, dass gegenseitiges Zuschauen auch in der geschlossenen Gruppe (ohne externes Publikum) erfolgen kann. Eine ‚therapeutische Performance‘ muss nicht notwendig mit einer abschließenden Aufführung enden, sondern kann auch dadurch abgerundet werden, dass der Handelnde für sich selbst eine geschlossene Gestalt erreicht zu haben glaubt: Within Dramatherapy, performance need not have the connotations and conditions of much theatrical performance in terms of a clearly defined situation involving audience and performer. (…) For some situations the work remains unseen by others, and the showing here becomes the client’s sense of a completed action. For example, in play orientated work the client may involve themselves in solitary play with objects. Similarly, in group improvisation the material may not reach a point of ‚showing‘ and not be performance orientated, the Dramatherapist may be the sole witness for the showing. (Jones 2000: 103)
Gerade bei der Arbeit mit schwerer betroffenem, instabilem Klientel, etwa bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, wird in der Regel auf öffentliche oder halböffentliche Präsentationen verzichtet. Eine vielfach angewandte Alternative zur Aufführung vor externem Publikum besteht in einem gruppeninternen Abschlussritual, wie es auch in der Gestalttherapie zur ‚Schließung der Gestalt‘ vorgesehen ist. An die Stelle der Anerkennung durch Dritte tritt dann ein ermutigendes Feedback durch die Therapeuten und die anderen Gruppenmitglieder.10 Anders als im Kunsttheater hat der Gestaltungsbegriff im professionell-therapeutischen Kontext höhere Relevanz als der Aufführungsbegriff. Spielen, Verkörpern, Personifizieren,
10 Vgl. dazu die folgende Beschreibung der Abschlusssitzung einer theatertherapeutischen Gruppenarbeit mit psychosomatisch erkrankten Patientinnen: „In der letzten Sitzung lassen die Patientinnen alle gespielten Rollen noch einmal Revue passieren. Dies geschieht in Form eines Rituals, bei dem sich jede einen Platz im Raum sucht und dort ihre wichtigsten Rollen (Schlüsselrollen) imaginär ansiedelt und ganz konkret ihre Maske und ihr Requisit hinlegt. Ausgehend von diesem Platz führen wir die Gruppe durch die wichtigsten Spielszenen. Jede Frau kann für sich noch einmal über Bewegung, Körperhaltung und Stimme in die Rollen einsteigen, über innere Monologe einen individuellen Rückblick halten und sich so der Vielfalt ihres eigenen Rollenrepertoires bewusst werden. Wir unterstützen diesen Rückblick, indem wir darauf hinweisen, besonders auf neu gemachte, überraschende und erfreuliche Erfahrungen achten. Auch erinnern wir die Gruppe an die erlebten Kontakte und an wichtige Begegnungen. Die Patientinnen haben Zeit, ihren ganz persönlichen Prozess zu betrachten. Dieser künstlerische Abschluss ermöglicht ihnen, ihre eigene Entwicklung in ihrem Rollenrepertoire, das verändert und erweitert ist, wahrzunehmen (…).“ (Stoltenhoff-Erdmann/Merschmeyer 2002: 284)
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Transformieren – all dies sind nicht notwendigerweise Aktivitäten vor Zuschauern, aber in jedem Fall Vorgänge der Gestaltung. Im Mittelpunkt steht das ausprobierende Umgestalten von Situationen, Beziehungen und Lebensbedingungen. Mit dem Einstudieren einer in sich geschlossenen Inszenierung hat die gestalterische Arbeit der Theatertherapie oft wenig zu tun. Verbreiteter sind kurze, aber intensive performative Übungen, in denen konkrete soziale Fähigkeiten trainiert werden, wie etwa das „Grenzen Setzen“ im folgenden Fallbeispiel aus einer theatertherapeutischen Gruppensitzung mit Opfern sexueller Gewalt: „Als körperliche Vorübung findet jede Frau im Sitzen ihre ‚Königin‘-Haltung in Kontrast zur ‚Normal‘- und zur ‚Kleinsein‘-Haltung. Ich lasse sie durch mehrmaliges Hin- und Zurückwechseln von Normalsitzhaltung zu Königinhaltung detailliert nachvollziehen, was sie ganz konkret rein körperlich dazu verändern. Bei der nächsten Zweierübung steht eine Partnerin in Königinhaltung, die andere soll von jeder Seite näher kommen und die Königin sagt: ‚Stop, nicht weiter‘, wenn ihre Grenze erreicht ist. Dann richtet jede Frau mit Gegenständen im Raum (Stühlen, Decken, Tüchern und diversen Requisiten aus der Materialkiste) ihr Königinnenreich ein, möglichst prächtig und schön, mit der Aufgabe, die Grenzen ihres Reiches deutlich zu markieren. Dann können drei der Frauen sich eine andere als Grenzwächterin wählen und ihr genau sagen, was sie zu tun hat, um die Grenze zu schützen. Die restlichen vier Frauen gehen herum, ‚besuchen‘ … die drei Königinnen und überschreiten dabei die Grenzen. Danach wird im Gespräch genau ausgewertet, was sich an den jeweiligen Grenzen an konkreten Handlungen und Aktionen abgespielt hat, und erst dann im zweiten Schritt, mit welchen Gefühlen das verknüpft war.“ (Lutz 2002b: 189) Anstatt als vorzeigbares Produkt eine Aufführung vor externem Publikum hervorzubringen, mündet die gemeinsame therapeutische Arbeit hier in eine gruppeninterne Reflexion des Gestaltungsprozesses. Dieser Prozess – darin liegt ein weiterer auffälliger Gegensatz zu avancierten Bereichen des Kunsttheaters – erfolgt in mehr oder minder sicherer Umgebung. In einer therapeutischen Beziehung trägt der Therapeut Verantwortung dafür, dass der Patient keinen Schaden nimmt. Dies gilt auch für Theatertherapeuten. Viel Aufwand wird betrieben, um die therapeutische Situation vor Beginn der eigentlichen Gestaltungsarbeit gründlich abzusichern. „Es ist wichtig, eine sichere Atmosphäre zu schaffen, in der die PatientInnen das Gefühl haben, dass verschiedene Gefühlsreaktionen und ‚Zustände‘ legitim sind und nicht als Bedrohung erlebt werden.“ (Nowak 2002: 223)11 Man hat es in der professionellen Theatertherapie also mit einem Typus von Theatralität zu tun, der weniger herausfordernd, weniger riskant und weniger verunsichernd wirken soll als viele andere Manifestationen der Inszenierungsgesellschaft. (Diese Differenz erscheint auch sinnvoll, wenn man bedenkt, dass Theatertherapie häufig gerade gegen jene Erkrankungen eingesetzt wird, die als Folge psychischer Belastungen durch die Inszenierungsgesellschaft gelten dürfen. Nicht selten sind es depressive und erschöpfte Patienten, die mit Hilfe von Theatertherapie oder anderen Kreativtherapien Handlungskraft zurückgewinnen sollen.12) Die speziellen Sicherheitsvorkehrungen beginnen bereits bei der Zusammenstellung
11 Die Autorin arbeitet als Theatertherapeutin an der Medizinischen Hochschule Hannover. 12 Die derzeit in vielen Gesellschaften beobachtbare Zunahme depressiver Erkrankungen wird in neueren Studien auf eine psychische Erschöpfung durch die stetig wachsenden Anforderungen des Leistens, Sich-Zeigens und Sich-Inszenierens zurückgeführt. Das Subjekt steht unter dem Druck, sich vor aller Augen ständig neu zu entwerfen. Siehe dazu vor allem Ehrenberg 2004.
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der Gruppe. So sind theatertherapeutische Gruppen nicht wie die Zuschauer einer Kunsttheateraufführung unüberschaubar konstituiert, sondern vom jeweiligen Therapeuten sorgfältig ausgewählt. Dabei ist es nicht zwingend, dass die Gruppe nur aus Patienten mit übereinstimmender Diagnose besteht. Bedürfnislage und Belastbarkeit der Gruppenmitglieder sollten aber konvergieren. Der Unterschied zum Kunsttheater ist eklatant: Aufführungen des Kunsttheaters beziehen einen besonderen Reiz daraus, dass einander unbekannte Menschen zur selben Zeit am selben Ort zusammentreffen. Die Kontingenz solcher first-encounter-Situationen wird dagegen im therapeutischen Raum gezielt minimiert. Vor Beginn der eigentlichen theatertherapeutischen Arbeit steht eine Phase des gegenseitigen Kennenlernens, in der sich die Gruppenmitglieder miteinander und mit dem Therapeuten vertraut machen. Mindestens der Therapeut kennt in der Regel die Vorgeschichten aller Teilnehmer. Aber auch die Patienten selbst erhalten anfangs Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen. Oft wird erst nach einer längeren gesprächstherapeutischen Phase zu theatralen Therapieformen übergegangen. In der Betonung von Vertrauen und Transparenz liegt ein weiterer markanter Unterschied zum Kunsttheater, der sich mit Hilfe des Maskenbegriffs auf den Punkt bringen lässt. Die Maske symbolisiert die theatertypische Dialektik von Zeigen und Verbergen.13 Theatertherapie ist dagegen in den meisten ihrer Spielarten letztlich um Offenlegung bemüht. Sie versucht, das Verbergen zu überwinden. Für die Frühphase des therapeutischen Prozesses heißt das, dass sich die Teilnehmer einander öffnen und Vertrauen gewinnen sollen. Dies kann zum Beispiel durch das „Interviewspiel“ geschehen: „Paarweise finden sie [die Patienten] sich zusammen und haben einige Minuten Zeit, sich gegenseitig Fragen zu stellen (Name, Alter, Beruf, Hobbys, Träume, Wünsche u.s.w.). Im anschließenden Plenum stellen sie sich dann gegenseitig der gesamten Gruppe vor.“ (Stoltenhoff-Erdmann/Merschmeyer 2002: 276) Ein nicht mehr allein verbaler, sondern bereits gestisch-theatraler Teil des Vertrauensbildungsprozesses zu Beginn jeder Sitzung ist das so genannte Warm up, das mit Hilfe von Atemübungen, Gymnastik, Bewegungsspielen und einfachen Kontaktimprovisationen eine entspannte, als sicher wahrgenommene Ausgangssituation für die darstellerische Arbeit gewährleisten soll. In dieser Phase geht es darum, den Körper zu lockern und ein positives Gefühl für die eigene Anwesenheit, die anderen Anwesenden und die räumliche Umgebung zu entwickeln.14 Das Warm up ist auch insofern ein Sicherungsmechanismus, als besondere Verletzungen, Gefährdungen und Empfindlichkeiten einzelner Teilnehmer meist schon in dieser Frühphase für den Therapeuten erkennbar werden, so dass er sein Programm gegebenenfalls
13 Für Lyotard bildet diese Dichotomie von Zeigen und Verbergen den Kern jeglicher Theatralität, vgl. seine berühmte Bestimmung: „Verstecken – Zeigen, das ist Theatralität.“ (Lyotard 1982a: 11) 14 Siehe dazu Jones 2000: 17-22; Junker/Cimmermans 2002: 264f.; jeweils mit Übungsbeispielen. Emunah (1994: 34) schreibt über diese Phase: „A nonthreatening, playful environment is established. Processes include creative dramatics, improvisation, playful, interactive exercises, and structured theatre games. Many of the techniques are physicalle active, and most are socially interactive. Individual and group skills are developed; these skills, in turn, promote self-confidence and self-esteem, along with an awareness of and appreciation for the qualities of co-participants.“ Lutz betont die physiologische Bedeutung der ‚Aufwärmphase‘: „Ein solches ‚Warming-up‘ trägt nicht nur zur gesamten physiologische Verlebendigung bei (verbesserte Körperfunktionen, Ausdauertraining) und zu veränderten sozialen Kontakten (wer schwitzt und schnauft, ist – in der Regel – nicht mehr in seiner offiziellen Alltagsrolle), sondern es ermöglicht durch gezielte Bewegungsübungen auch neue Brücken zwischen den Hirnhemisphären und öffnet so den Zugang zu bislang verschlossenen Handlungspotenzialen (v.a. der rechten Gehirnhälfte).“ (Lutz 2002a: 161)
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modifizieren und entschärfen kann. Indem jeder Klient behutsam an den theatralen Prozess herangeführt wird, sollen Momente der Irritation, der Verunsicherung oder gar des Schocks, wie sie im Kunsttheater nicht nur des 20. Jahrhunderts immer wieder angestrebt wurden, weitgehend ausgeschlossen werden. Die wichtigste Sicherheitsgarantie während des gesamten theatertherapeutischen Prozesses ist aber die Anwesenheit des Therapeuten. In seiner Rolle als ‚Spielleiter‘ kann er die Gruppendynamik bei Bedarf in erheblichem Maße steuern. Ziel der theatertherapeutischen Ausbildung ist es, geeignete Interventionsmaßnahmen für verschiedene Problemkonstellationen zu trainieren. Der Therapeut agiert als Regisseur, der das Geschehen durch Themenvorgaben, Arbeitsanweisungen und gezieltes Einbringen von Materialien unter Kontrolle behält. Er stimuliert den kreativen Prozess der Gruppe, versucht ihn notfalls aber auch zu bremsen, wenn Aggressionen, Konflikte oder gegenseitige Verletzungen überhand nehmen. Trotz all dieser Sicherungsmaßnahmen ist das Erfahrungspotenzial von Theatertherapie nicht weniger liminal, fulminant oder transgressiv als das des Kunsttheaters. Eindeutiger noch als im Kunsttheater geht es in der Theatertherapie darum, grundlegende Veränderungen beim einzelnen Teilnehmer zu erreichen und mithin persönliche Grenzen und Schwellen zu überschreiten. Die dazu nötigen Transformationsprozesse sind aber in einen geschützten Raum verlegt, der die Risiken kontingenter Autopoiesis, die für das Kunsttheater (zumal für das Theater der Avantgarden) charakteristisch sind, auszuschließen versucht: Während das Kunsttheater um das riskante Paradigma der Aufführung zentriert ist, steht bei der Theatertherapie die Gestaltung, das gemeinsame Erarbeiten von Verkörperungen, Rollenbildern und szenischen Verläufen, obenan, ohne dass eine Aufführung zwingend erforderlich wäre. Gestaltung im therapeutischen Raum ist – idealiter – eine Gestaltung im safe space. Angestrebt wird eine Liminalität mit möglichst geringem Risiko für die Betroffenen. Die Risikoverminderung ergibt sich vor allem aus der Kontrolle des Therapeuten und hat von daher auch ihren Preis: Der Patient einer theatertherapeutischen Sitzung untersteht sehr viel mehr der Kontrolle des Therapeuten als ein Theaterzuschauer der Kontrolle des Regisseurs. Das heißt auch: Wer im kontrollierten, geschützten Raum der Theatertherapie Handlungskraft zurück gewonnen hat, ist möglicherweise dennoch weit davon entfernt, diese auch im Alltag einsetzen zu können. Eine weitere grundlegende Divergenz zwischen Performancekunst/Kunsttheater einerseits und Theatertherapie liegt in der Reichweite der angestrebten Heilungswirkung. In Kunsttheater, Aktionskunst und Performancekunst hat die therapeutische Intention häufig eine überindividuelle oder gar gesamtgesellschaftliche Dimension. So pflegte zum Beispiel Joseph Beuys in Interviews und anderen öffentlichen Einlassungen für seine Aktionskunst nicht weniger als eine umfassende Heilung der Gesellschaft zu beanspruchen.15 Es ging ihm um weit mehr als nur um einzelne therapeutische ‚Angebote‘ für individuelle Zuschauer. Deshalb kam es Beuys auch nicht darauf an, den einzelnen Zuschauer während der Performance zu aktiver Mitwirkung zu animieren. Seine Performances entsprangen der optimistischen Hoffnung, der Gesellschaft mit Hilfe ritueller Handlungen und wirkungsstarker Symbole neue, vergessene oder brachliegende Energieressourcen erschließen zu können. Man muss die esoterischen Aspekte dieses Beuys’schen Projektes nicht überbetonen, um zu erkennen, dass Heilungsansprüche bei ihm
15 Sehr markant etwa in dem Werkstattgespräch mit Harlan 1986.
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eine makrokulturelle und gesellschaftliche Note gewinnen, die der Theatertherapie zumeist abgeht. Beuys zielte nicht auf die Genesung einzelner ‚Klienten‘, sondern auf eine völlige Neuausrichtung des kulturellen und gesellschaftlichen Energiehaushalts. Im therapeutischen Raum ist es dagegen oberstes Gebot, den spezifischen Bedürfnissen und Leiden des einzelnen Patienten/Klienten gerecht zu werden. Schon die selektive, durchdachte Zusammenstellung der Therapiegruppe soll gewährleisten, dass sich jeder Einzelne im konkreten therapeutischen Angebot wiederfindet und aufgehoben fühlt. Jeder ist aktiv in die Gestaltung einbezogen, und zugleich darf niemand durch die Gestaltungsanforderungen überfordert werden. Klar definierte Therapieziele und -wege sollen dem Einzelnen verifizierbare, alltagsrelevante Heilungsfortschritte ermöglichen. Obwohl Theatertherapie zumeist in Gruppen praktiziert wird, ist sie in ihren Zielen und Strategien letztlich doch eine Individualtherapie, die von den Problemen des einzelnen Patienten ausgeht und nach individuellen Lösungen für individuelle Krisen sucht. Ganz anders Kunsttheater und Performancekunst: Sie tendieren als Aufführungskünste – und mithin als ‚kollektive‘ Kunstformen – dazu, noch aus den scheinbar persönlichsten und individuellsten Krisen eine kollektive Dimension herauszuarbeiten. In den meisten Kulturen ist Theater von jeher ein gesellschaftlicher Ort, ein öffentliches Forum oder gar ein Modell für das Ganze der Kultur. Was auch immer im Raum des Kunsttheaters stattfindet, muss dieser öffentlich-gesellschaftlichen Dimension Rechnung tragen. In der Ausprägung und Gewichtung der öffentlichen Dimension von Theater bestehen gravierende kulturelle und historische Unterschiede, aber allgemein gilt: Sobald eine Aufführung ein plurales Publikum integriert, ist der theatrale Raum zwangsläufig weit ins Gesellschaftliche geöffnet. Diese Öffnung ist mit therapeutischen Ambitionen ohne weiteres vereinbar. Heilung kommt im Kunsttheater oft gerade dadurch in Aussicht, dass die gesellschaftliche, makrokulturelle Dimension scheinbar individueller Krisen erkannt und ausgespielt wird. Würden Kunsttheater und Performancekunst therapeutische Ambitionen allein der professionellen Theatertherapie überlassen, wie sie sich seit den 1930er Jahren entwickelt hat, so könnte darüber jene gesellschaftspolitische Tiefenschicht des Therapeutischen verflachen, die Heilungsansprüche im kollektiven Raum des Theaters gegenüber anderen Heilungsansätzen auszeichnet.
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Spielen und Heilen – Zur Theatralisierung des Therapeutischen
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1. Einleitung Von Hospizen wird im Allgemeinen gesagt, dass mit dem Tod dort auf natürliche Weise umgegangen würde. Man meint dann damit, dass in einem Hospiz die sterbenden Menschen auch sterben „dürften“ und nicht um ihren Tod in Würde betrogen würden, wie dies auf medizinischen Intensivstationen der Fall sei, wo sterbende Menschen nur noch über Apparate an einem Leben festgehalten würden, das sie oft selbst nicht mehr leben wollten. Mag diese populäre Meinung auch überspitzt sein, so fasst sie doch ein Phänomen in Alltagssprache, dessen Beschreibung seit etwa vierzig Jahren Gegenstand sozialwissenschaftlicher Arbeit ist. Es geht dabei nicht in erster Linie um den menschlichen Tod als solchen. Der Tod als rohe Tatsache menschlicher Bedingtheit ist gerade aus diesem Grunde nicht Gegenstand der Soziologie, sondern von Platons „Phaidon“ bis zu Heideggers „Sein und Zeit“ klassischerweise ein Thema der Philosophie. Auch Georg Simmel, unbestritten sowohl Philosoph als auch Soziologe, schreibt seinem Essay über den Tod die Zugehörigkeit zur Philosophie schon in den Titel: „Zur Metaphysik des Todes“.1 Die Soziologie als Wissenschaft von der Gesellschaft interessiert sich naturgemäß für die gesellschaftlichen Konsequenzen, also die innerweltlichen Phänomene, die sich aus der Tatsache ergeben, dass die Menschen sterblich sind. Ein modernes Sterbehospiz ist für die Soziologie ein solches Phänomen, allerdings in einem dialektischen Sinne. Denn der einfache Umstand, dass sterbende Menschen der Pflege bedürfen und diese auch erhalten, ist nicht weiter interessant. Selbst die Tatsache, dass dies in dafür vorgesehenen Räumen geschieht, ist (offensichtlich) noch kein hinreichender Anlass näherer soziologischer Betrachtung. So gibt es, soweit ich sehe, noch keine soziologische Arbeit über die Hospize des Mittelalters, auf welche in den aktuellen Hospiz-Ethnographien und Arbeiten immer wieder im historischen Abriss zum Begriff Hospiz hingewiesen wird2. Das soll hier keineswegs kritisiert werden, ganz im Gegenteil soll es als Beleg dafür gelten, dass sich die Sozio1 Vgl. dazu: Alois Hahn (1995 und 2001) und zu den soziologischen Klassikern und ihrer Befassung mit dem Tod: Feldmann/Fuchs-Heinritz (1995). 2 Etwa Johann-Christoph Student: „…knüpfte sie (Cicely Saunders, M.H.) mit dem Begriff ‚Hospice‘ an alte mittelalterliche Traditionen an. Hospize nannte man damals die Herbergen, die von kirchlichen Orden geführt wurden und Pilgern auf ihrer Reise zum Ziel Unterkunft, Rast, Pflege und Stärkung anboten.“ (Student 1999a: 21)
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logie nicht für Hospize per se zu interessieren begann, sondern für Hospize in einer besonderen gesellschaftlichen Situation. Eine Situation, die sich in den sechziger Jahren des 20. Jhdts. zu entwickeln begann und Mitte/Ende der siebziger Jahre ihren Kulminationspunkt erreichte. Dass sich, hier wie bei anderen Phänomenen, ab einem gewissen Zeitpunkt ein aus den ursprünglichen Bezügen gelöstes Eigeninteresse etabliert, ist damit nicht bestritten. Nun soll es in diesem Aufsatz nicht um eine Rekonstruktion der Hospizgeschichte des 20.Jhds gehen, dennoch sind aber einige Verweise auf sie für unsere Argumentation wichtig. Denn worin besteht der „dialektische“ Aspekt des Interesses? Die Entwicklung, die hier beschrieben werden soll, ist zugespitzt die folgende: Die Umstände, unter denen die Patienten in den Krankenhäusern Ende der 70er Jahre gestorben waren, sind derart häufig und drastisch beschrieben worden, dass diese Sterbesituation nahezu zu einem ikonographischen Topos geworden ist: Das „unbarmherzige, bereits klassisch gewordene Bild des mit Schläuchen und Röhrchen gespickten Sterbenden“, so Phillipe Ariès in seiner großangelegten Studie zur Geschichte des Todes in Europa (Ariès 2002: 748). Bei Ariès und mit ihm in der Hospizbewegung wird dieses Bild als ein moralisch zutiefst verwerfliches gedeutet, da der Sterbende zu einem Objekt technischer Möglichkeiten werde und dadurch seine Würde verliere. Weniger pathetisch und gestützt auf eigene Feldforschung, haben aber der Sache nach auch Glaser und Strauss diese Situation beschrieben. In ihrer Typologie von Bewusstheitskontexten firmiert diese Situation als „geschlossener Bewusstheitskontext.“3 Dem Patienten werden keine Informationen über seinen wahren Zustand mitgeteilt und es wird auch unter allen Umständen versucht, ihn am Erlangen von solchen Informationen zu hindern. Indem ihm also die Möglichkeit genommen ist, sich auf seinen Tod vorzubereiten, ist ihm auch die Möglichkeit genommen, seinen Frieden mit sich und der Welt zu machen und so in Würde sterben zu können. Darüber hinaus konnte Sudnow in seinen Krankenhausethnographien zeigen, dass die Häufigkeit der Zimmerbesuche durch Ärzte im Verlaufe des Sterbeprozesses abnimmt.4 Mit der Auslagerung des Todes aus der Familie in die Klinik hat sich sehr viel mehr geändert als einfach die Lokalität. Mit dem Einzug ins Krankenhaus findet sich der Sterbende in einer Sphäre, die technisch geprägt ist. Nicht zuletzt waren es ja eben auch technisch-medizinische Erwägungen, die mit den Ausschlag für die Einweisung in die Klinik gegeben haben. Lebensgefährlich Erkrankte erwarten ihren Tod im Krankenhaus, da nur dort die Gewähr sachgemäßer Pflege und Behandlung gegeben ist. Das Pflegepersonal und die Ärzte kennen den Sterbenden in der Regel nicht. Er interessiert sie nur, insofern er krank ist. Ihr Verhältnis zu ihm ist, um es mit den Parsonschen „pattern variables“ auszudrücken, durch funktional universalistische Kriterien bestimmt, nicht wie das der Angehörigen und Nachbarn, die in der vormodernen Welt sein Sterben begleitet hätten, durch partikularistische. Ihre Rolle ist
3 „Was jeder Interagierende über einen bestimmten Zustand des Patienten weiß, sowie sein Wissen darum, dass die anderen sich dessen bewusst sind, was er weiß – also das Gesamtbild, wie ein Soziologe es zeichnen würde-, werden wir Bewußtheits-Kontext nennen.“ (Glaser/Strauß 1974: 17). Sie unterscheiden vier Bewusstheitskontexte: „Geschlossene Bewusstheit“ (Arzt, Pflegepersonal, Angehörige wollen eine Aufklärung vermeiden, Patient ist ahnungslos); „Argwohn“ (Patient hegt Vermutungen und versucht, diese zu bestätigen), „wechselseitige Täuschung“ (beide Seiten wissen um den bevorstehenden Tod, geben sich aber unwissend), „offene Bewusstheit“ (alle Beteiligten wissen Bescheid). 4 Vgl. Sudnow (1973).
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funktional spezifisch, nicht funktional diffus; denn es sind ausschließlich ganz bestimmte, durch den Stand der medizinischen Kenntnisse für erforderlich erachtete Dienstleistungen, die – gegen eine finanzielle Honorierung – erwiesen werden. Schließlich handelt es sich um ein affektiv neutrales Verhältnis. Affekte, Gefühle, Trauer, Schmerz, Erschütterung würden die Effizienz der sachlich geforderten Dienste nur einschränken und sind überdies auch gar nicht möglich bei der großen Zahl der gleichzeitig zu betreuenden Sterbenden und der kurzen Zeit, die das Krankenhauspersonal den einzelnen kennt. Aus der umfassenden Geborgenheit der Familie ist der Sterbende nun in eine Institution verlegt, die an ihm als Person kein Interesse mehr hat, sondern nur noch an ihm als Träger der Patientenrolle. Die Reduzierung der Perspektive von der Person auf eine Rolle ist freilich kein Spezifikum der Institution Krankenhaus. Es gilt für alle Institutionen, dass sie Personen nur unter der für sie je spezifischen Perspektive betrachten und damit nur einen Aspekt der Person wahrnehmen. Die Situation der Sterbenden ist also gegen Ende der siebziger Jahre geprägt von hoher Technisierung und einem hohen Grad an Unpersönlichkeit. Mit der Hospizbewegung kommt es zu einer Gegenbewegung. Sie schreibt sich auf die Fahnen, diese als unerträglich empfundene Situation zu verändern und die Patienten, jenseits ihrer physischen Situation, in ihrer letzten Lebensphase auch mit ihren seelischen Nöten und Wünschen ins Zentrum der Betreuung zu stellen. Was Cicely Saunders 1967 mit der Errichtung des St.Christopher’s Hospice in London begann, gewinnt Ende der 70er Jahre enorm an Fahrt. Im Laufe der 80er Jahre kommt es zur Gründung zahlreicher stationärer Hospize in Europa.5
2. Natürlichkeit als Resultat der „Hinterbühne“6 Das Gebiet der hospiziellen Sterbebegleitung, in welches wir eintreten wollen, ist im stärksten Kontrast gegen das Krankenhaus die Wiege der theoretisch und praktisch patientenzentriertesten Formen von pflegerischer Ethik, welche das späte 20.Jh. hervorgebracht hat. Ebenso ist hier die entsprechende „Technik“ am höchsten entwickelt. Der Begriff „Technik“ wirkt im Kontext der Hospizbewegung auf den ersten Blick wie ein Fremdkörper. Wollte sie nicht gerade das Gegengewicht sein zu den technisch dominierten Umgangsformen, denen die Sterbenden in den Krankenhäusern ausgesetzt waren? Es soll gezeigt werden, dass auch in der Sterbebegleitung, wie sie die Hospizbewegung praktiziert, ein hohes Maß an „Technik“ erforderlich ist, um die Anforderungen zu erfüllen, welche sie sich selbst gesetzt hat. Welchem Zweck dienen die „Techniken“ in der Sterbebegleitung? Die spontane Antwort ist sicherlich: Den Patienten. Und diese Antwort ist im Endeffekt sicher richtig. Die Würde 5 Zum gegenwärtigen Stand s. Gronemeyer et al (2005). 6 „Hinterbühne“ ist die gebräuchliche deutsche Übersetzung von Goffmans „Backstage“. An sich ist diese Übersetzung fatal, weil die Hinterbühne „der hintere Teil der Bühne“ ist und nicht „der Teil hinter der Bühne“. Genau darauf kommt es bei Goffmans Unterscheidung von Frontstage und Backstage aber an: Die Bühne ist einsehbar (ihr vorderer wie ihr hinterer Teil) und der Bereich hinter der Bühne (die Garderobe etwa) ist es nicht. Vgl. dazu zentral Goffman (2003).
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der Sterbenden soll gewahrt bleiben, es soll ihnen Raum gegeben werden, Aspekte aller Dimensionen des Menschen (sozial, körperlich, psychisch und spirituell) zu artikulieren. „Die Pflege von Sterbenden soll eben nicht nur funktional angemessen sein und handwerklichen Qualitätsansprüchen genügen, (...), sondern sie soll ihre Würde, Humanität und Persönlichkeit anerkennen.“ (Dreßke 2005: 13) Dennoch greift die Antwort zu kurz. Obwohl die Frage des „guten Todes“ bzgl. des Gelingens auch und vielleicht sogar in großem Maße am Patienten selbst liegt, ihm jedenfalls eine Mitverantwortung zum „Gelingen“ auferlegt wird, hängt doch vieles von der Art des Umgangs der Hospizhelfer mit den Sterbenden ab. Dem funktional spezifischen Umgang, wie er in den Krankenhäusern stattfindet, soll wieder ein funktional diffuser Umgang entgegengestellt werden. Ähnlich wie in einer Familie soll dann alles das kommunikativ relevant sein, was für den Patienten relevant ist. Man könnte also von einem strukturell offenen Zustand sprechen. Wenn dieser Zustand ersteinmal inhaltlich nicht weiter spezifiziert ist, so ist es gerade deswegen für den Hospizbeistand sehr schwierig, sich in ihm zu bewegen. Es handelt sich dabei differenzierungslogisch eben nicht um einen Schritt zurück in Richtung einer Entdifferenzierung, sondern es handelt sich um etwas wie eine neue Leitdifferenz: Die Relevanz des Kommunizierten für den Patienten. Der Unterschied zur Familie fällt direkt ins Auge: Dort ist alles kommunikativ relevant, was für einen, egal wen aus der Familie, relevant ist. Im Hospiz ist „nur“ das kommunikativ relevant, was für den Patienten relevant ist. Die symmetrische Relevanzstruktur der Familie verschiebt sich hier zu einer vollständigen Asymmetrie. Die Sicherung dieses strukturell offenen Raumes ist nun hoch voraussetzungsvoll, weil die Relevanzbedingung nur die Sicht des Patienten betrifft und dabei aber in ihrer Auswahlmöglichkeit total ist. Die Art des Umgangs mit den Patienten soll in einem Hospiz dem natürlichen Umgang in einer Familie gleichen. Aber es soll hier gezeigt werden, auf welch radikal anderen Grundlagen der Umgang im Hospiz beruht und welche Voraussetzungen dafür erfüllt werden müssen. Kurzum: wie hochgradig artifiziell diese „Natürlichkeit“ ist. Die These lautet nun, dass es sich bei diesem „natürlichen“, offenen Raum um eine „Vorderbühne“ (Frontstage) im Sinne Goffmans handelt, deren kunstfertige Herstellung sich auf einer „Hinterbühne“ (Backstage) verbirgt, die vom Patienten nicht einsehbar ist. Dieser Hinterbühne, so die These weiter, kommt für die Hospizarbeit eine weit entscheidendere Bedeutung zu, als allgemein angenommen wird. Die Tätigkeit des Hospizbeistandes als solche ist selbstredend die Interaktion mit dem Patienten, aber diese ist nur erfolgreich möglich, wenn auf der Hinterbühne kontinuierlich eine ganze Reihe an Voraussetzungen geschaffen wird. Die Rahmenbedingungen müssen so angelegt sein, dass die Hospizmitarbeiter ihre Arbeit gut verrichten können. Sie müssen in ihren Ressourcen geschützt werden, sie müssen unterstützt werden in Supervisionen und klärenden Gesprächen mit Kollegen. Kann das nicht gewährleistet werden, läuft die ganze Sterbebegleitung Gefahr, abgebrochen werden zu müssen. Umgekehrt ergibt sich, gewissermaßen als Effekt guter Bedingungen für die Hospizhelfer, eine größere Wahrscheinlichkeit, dass der Sterbende zu einem guten Sterben findet. Dass die strukturellen Gegebenheiten entscheidend sind für eine gute Sterbebegleitung, lässt sich auch, sozusagen negativ, an dem Befund erkennen, den eine Umfrage unter Krankenhauspflegekräften erbrachte.
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3. Eine quantitativ-empirische Studie 2002 gab der Hospizverein Trier e.V. in der Abteilung für Allgemeine Soziologie und der Abteilung für Empirische Sozialforschung der Uni Trier eine Studie in Auftrag. Man wollte untersucht haben, inwieweit die Anregungen und Forderungen der Hospizbewegung Gehör und Aufnahme in Kliniken, Alten- und Pflegeheimen und ganz generell überall dort gefunden hätten, wo die Begleitung Sterbender Teil des Arbeitsalltags ist. Es ging für den Hospizverein um eine „Bestandsaufnahme“ in Sachen Sterbebegleitung, so auch der Titel der veröffentlichten Studie. (Hahn et al. 2003)7 Es wurden dabei die Mitarbeiter der jeweiligen Institutionen mittels eines standardisierten Fragebogens befragt. Der für unseren Zusammenhang interessante Ausschnitt der Untersuchung betrifft die grundlegende Frage, was nach Meinung der Befragten zu einer guten Sterbebegleitung gehört.8 Es wurde dabei bewusst nicht danach gefragt, was nach Meinung der Befragten deren je eigener Beitrag zu einer guten Sterbebegleitung sei oder sein sollte, sondern, was sie glaubten, dass zu einer guten Sterbebegleitung generell dazu gehöre.9 Grundsätzlich kann man feststellen, dass die Ansicht der Befragten in großem Maße mit den Vorstellungen der Hospizbewegung übereinstimmt. Das meist genannte Item war „Schmerzfreiheit des Patienten“. Diese wird von rund 97 Prozent der befragten Pflegekräfte genannt und erhält damit den Stellenwert, den die Hospizbewegung ihr als Voraussetzung von guter Sterbebegleitung beimisst. 90 Prozent der Pflegekräfte nennen „eine den Bedürfnissen und Wünschen der Patienten angepasste Pflege“, rund 89 Prozent meinen, dass es zu einer guten Sterbebegleitung gehört, „für ein angenehmes und würdevolles Umfeld (zu) sorgen“. Die Möglichkeit für Angehörige, bei den Patienten übernachten zu können, nennen rund 85 Prozent der Befragten, ebenso wie die Meinung, dass es zu guter Sterbebegleitung gehöre, für die Patienten „einfach nur da zu sein“. „Gespräche mit den Patienten“ wird von rund 85 Prozent und „Gespräche mit den Angehörigen“ von rund 80 Prozent der Pflegekräfte zu guter Sterbebegleitung gezählt. Mit Ausnahme der Schmerzfreiheit handelt es sich also um Aspekte des Umgangs mit Sterbenden, die auf den ersten Blick keine technischen Anforderungen an das Pflegepersonal zu stellen scheinen. Es ist sicher zuzugestehen, dass die Befragten unter einer „den Bedürfnissen der Patienten angepasste(n) Pflege“ auch technische, also pflegerisch-fach-
7 Die Studie kann über den Hospizverein Trier oder über den Autor bezogen werden. Es handelt sich um eine lokale Studie, die das Einzugsgebiet des Trierer Hospizvereins betrifft. 8 Wir beschränken uns auf die Antworten der Pflegekräfte, da es um die Gegenüberstellung von Krankenhaus und Hospiz geht. Überdies war diese Gruppe die größte (N=682), so dass sie die solideste Datenbasis bildet. 9 Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass diese Frage nicht offen gestellt war, sondern eine Liste mit 15 Items vorgelegt wurde, die angekreuzt werden konnten. Die Liste wurde in Zusammenarbeit mit dem Hospizverein Trier erstellt und beinhaltete alle Aspekte, die aus Sicht des Vereins zu einer guten Sterbebegleitung gehören: Schmerzfreiheit, eine den Bedürfnissen der Patienten angepasste Pflege, Gespräche mit Patienten, für ein angenehmes und würdevolles Umfeld sorgen, für Patienten „einfach da sein“ (am Bett sitzen, Hand halten), Gespräche mit Angehörigen, Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige, seelsorgerische Betreuung der Patienten, Patienten kleinere Wünsche erfüllen, Patientenwünsche auch dann akzeptieren, wenn sie medizinisch nicht indiziert sind, Wahrheit am Krankenbett, Sedierung bei Bedarf, Symptomkontrolle, formelle Angelegenheiten für Patienten erledigen.
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liche Aspekte verstehen, aber es ist anzunehmen, dass wegen des Bestandteils „Wünsche“ in der Formulierung das Item als darüber hinaus verweisend verstanden wurde. Die Annahme rechtfertigt sich daraus, dass sich zwei andere Items ebenfalls auf Wünsche bezogen, jedoch jeweils einen spezifischeren Zuschnitt hatten. „Patienten kleinere Wünsche erfüllen“ nennen 62 Prozent der Pflegekräfte, „Patientenwünsche auch dann respektieren, wenn sie medizinisch nicht indiziert sind“ 60 Prozent. „Kleinere Wünsche“ ist eine umgangssprachliche Wendung, die sich etwa darauf beziehen kann, Zeitschriften oder Getränke zu besorgen oder einen Telefonanruf mit einem Angehörigen zu tätigen. Die „medizinisch nicht indizierten Patientenwünsche“ beziehen sich, so war in den Expertengesprächen im Vorfeld der Umfrage zu erfahren, oftmals auf bestimmtes Essen oder auf den Genuss von Tabak oder Alkohol. Auch wenn man sehen muss, dass die vorgelegte Liste hauptsächlich solche nicht-technischen Aspekte beinhaltete, so hat doch, oder vielleicht gerade, die Tatsache einen Aussagewert, dass die neben der Schmerzfreiheit einzigen beiden anderen technischen Aspekte, die „Sedierung bei Bedarf“ und die „Symptomkontrolle“ jeweils nur von 44 bzw. 27 Prozent genannt wurden.10 Wenn der Hospizverein wissen wollte, was die Befragten über gute Sterbebegleitung wissen, so konnte er also mit diesem Ergebnis zufrieden sein. Allerdings ist die entscheidende Frage natürlich, was von diesem Wissen sich unter den Bedingungen der alltäglichen Arbeit umsetzen lässt und inwiefern die Befragten sich auf die Umsetzung dieser Aspekte vorbereitet fühlen, respektive bezüglich welcher Aspekte sie Weiterbildungen besucht haben. Ohne genauere Spezifizierung wurde gefragt, ob der Umgang mit Sterbenden Teil der Ausbildung war, was von 80 Prozent bejaht wurde. Dies hängt jedoch stark davon ab, wie lange die Ausbildung zurücklag. In der jüngsten Generation von Pflegekräften (weniger als zwei Jahre Berufserfahrung) war der Umgang mit Sterbenden zu 93 Prozent Teil der Ausbildung. Bei den in der Umfrage vertretenen Krankenpflegeschülern zu 99 Prozent. Die Ausbildungscurricula haben sich augenscheinlich den Anforderungen des pflegerischen Arbeitsalltags angepasst. Bei den Themenbereichen, die von den Befragten als in ihrer Ausbildung fehlend oder als zu kurz gekommen genannt wurden, sind diejenigen, die an erster Stelle genannt werden auch diejenigen, die zu einer guten Sterbebegleitung gezählt wurden: Gesprächsführung mit Angehörigen (50%), Palliativmedizin (50%), psychische Betreuung Sterbender (46%), Gesprächsführung mit Patienten (45%). Zwar ist bei der „Palliativmedizin“ ein ähnliches Phänomen der Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Ausbildung zu erkennen, diesmal aber wird mit 72 Prozent derer, die „Palliativmedizin“ nicht als in der Ausbildung fehlend oder zu kurz gekommen ansehen, nur ein ungleich niedrigeres Niveau erreicht. Aus Sicht des Hospizvereins sicher bedeutsamer ist aber die Tatsache, dass sich drei der vier meistgenannten Items auf den menschlichen Kontakt mit den Sterbenden bzw. mit ihren Angehörigen beziehen. Auch „psychische Betreuung“ hat einen kommunikativen Kern. 10 Allerdings ist hier auch möglicherweise ein Missverständnisses zu sehen: „Symptomkontrolle“ haben vermutlich manche Pflegekräfte nicht genannt, weil sie es nicht als ihre Aufgabe ansehen, diese herzustellen. Denn es ist an sich ein Widerspruch, „Schmerzfreiheit“ zu guter Sterbebegleitung zu zählen, eine „Sedierung bei Bedarf“ aber nicht. Die Betonung liegt auf Bedarf. Dass es möglicherweise in der Hospizbewegung die Meinung gibt, eine Sedierung sei deshalb nicht förderlich, weil sie die Bewusstheit des Patienten einschränke, welche aber notwendig sei, spielt m.E. in Zusammenhang mit den Pflegekräften keine Rolle.
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Was also als in der Ausbildung als nicht ausreichend vermittelt benannt wird, sind Fragen, die den Umgang mit dem sterbenden Menschen und seinen Angehörigen angehen. Dazu komplementär werden von den Pflegekräften Weiterbildungen besucht: zu psychischer Betreuung (67%), Gesprächsführung mit Patienten (64%), Gesprächsführung mit Angehörigen (53%). Erst danach folgen Weiterbildungen zu Themen, welche die technische Seite des Pflegeberufes betreffen: Schmerztherapie (49%), Palliativmedizin (46%). Man kann also sagen, dass bei den Pflegekräften erstens ein Bewusstsein für die wichtigen Aspekte der Sterbebegleitung vorhanden ist und zweitens auch der Wille, diese so gut als möglich umzusetzen, also das über Weiterbildungen zu kompensieren, was man in der Ausbildung nicht gelernt hat. Das gewichtigste Hindernis bei der Sterbebegleitung besteht für die Pflegekräfte aber in dem durch Weiterbildungen nicht zu kompensierenden Zeitmangel, der den Arbeitsalltag geradezu unvermeidbar dominiert. Fragt man nach dem Zeitmanagement der Pflegekräfte bei der Begleitung Sterbender, ergeben sich zwei Erkenntnisse. Erstens, wenig verwunderlich, sagen 86 Prozent der Pflegekräfte, dass die Pflege im engeren Sinne besonders viel Zeit in Anspruch nimmt. Dann werden die Gespräche mit Angehörigen (66%), die seelische Unterstützung des Patienten (60%) und die Gespräche mit den Patienten (57%) genannt. Es ist festzuhalten, dass also neben der fachlichen Aufgabe der Pflegekräfte die Gespräche mit Patienten und Angehörigen den meisten Raum einnehmen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil man angesichts eines drückenden Zeitkorsetts und der Tatsache, dass die Pflegekräfte den Komplex Kommunikation mit Patienten und Angehörigen als in der Ausbildung zu kurz gekommen charakterisiert hatten, auch hätte vermuten können, dass gerade dann die Gespräche mit den Patienten und Angehörigen so knapp als möglich gehalten würden. Aber es ist natürlich diese Interpretation der Daten nicht ganz auszuschließen: Dass nämlich die Gespräche mit Patienten und Angehörigen als zeitintensiv bzw. zeitraubend erkannt werden, man aber nicht in der Lage und oder willens ist, angesichts knapper Zeitressourcen diese Zeit aufzubringen, man also dem Sinne nach handelte: „Die Gespräche kosten so viel Zeit, man muss sehen, dass man sie vermeidet. Es ist schlimm, aber es geht nicht anders, die Zeit ist zu knapp.“ Zweitens aber geben die Pflegekräfte an, sich vor allem mehr Zeit zu wünschen für: Gespräche mit den Patienten (81%), seelische Unterstützung des Patienten (72%) und Gespräche mit den Angehörigen (62%). Erst auf dem vierten Rang findet sich die Pflege (56%). Dies stützt eher die Deutung, dass sich die Pflegekräfte über die Bedeutung des kommunikativen Kontaktes mit den Sterbenden und deren Angehörigen für eine gute Sterbebegleitung im Klaren sind. Man kann daraus die zwiespältige Bilanz ziehen, dass die Vorstellungen, die Ideale und Forderungen der Hospizbewegung wenigstens bis ins Bewusstsein der Pflegekräfte in den Kliniken ihren Weg gefunden haben und diese dann nach ihren Möglichkeiten versuchen, sich in ihrer Arbeitsroutine daran zu orientieren und ihnen so gut als möglich nachzukommen. Beschränkt wird die Umsetzung dieses Wissens durch die Struktur der Institution Krankenhaus, die als solche nicht auf die Begleitung einzelner Sterbender ausgerichtet ist, sondern auf die Pflege vieler Patienten, zumal mit dem Ziel, diese wieder gesund entlassen zu können.
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Weil die Pflegekräfte auf der einen Seite eine Vorstellung davon haben, was gute Sterbebegleitung bedeutet, auch wenn sie, wie im Falle etwa von Gesprächstechniken im Umgang mit Sterbenden, sich nicht genügend ausgebildet fühlen, auf der anderen Seite aber auch erkennen, dass die Struktur eines Krankenhauses die Umsetzung dieses Wissens nur allzu unbefriedigend erlaubt, befürworten sie zu 95% die Errichtung eines stationären Hospizes in ihrer örtlichen Umgebung. Als Gründe dafür werden genau die Punkte genannt, die sie selbst nicht umsetzen können: ausreichende Zeit, sich dem einzelnen Sterbenden zu widmen; im Umgang mit Sterbenden geschultes Personal; die Möglichkeit, die Angehörigen in die Pflege einzubinden, Übernachtungsmöglichkeiten für Angehörige. Dies alles wird genannt als Bedingung der Möglichkeit dafür, die Würde der Sterbenden wahren zu können. In den Äußerungen der Pflegekräfte scheint sich ein Bild von einem stationären Hospiz aufzubauen, wonach gute Sterbebegleitung vornehmlich an den äußeren Bedingungen des Umfeldes hängt, innerhalb dessen die Patienten sich befinden. Es wird sich zeigen, dass dies zutrifft.
4. Hospize im Lehrbuch Was kennzeichnet eigentlich Hospize, was war die Neuerung, die sie radikal von Krankenhäusern unterschied? Der Kern liegt wohl darin, dass hier zum erstenmal „der Sterbende ernst genommen wurde als Person und menschliches Gegenüber; dass Sterbende nicht mehr ins Abseits gedrängt wurden, den sozialen Tod schon vor dem körperlichen erlitten; dass mit ihnen und nicht nur über sie gesprochen wurde. Am deutlichsten ist dieser Wandel wohl daran zu erkennen, dass jetzt die Wünsche sterbender Menschen entdeckt wurden.“ (Student 1999a: 22) Einer dieser wiederkehrenden Wünsche der Patienten ist es, die „Sinnfrage (Sinn des Lebens, Sinn des Sterbens u.ä.) stellen und besprechen zu dürfen.“ (ebd.) Auf diese Frage hat die klassische Medizin typischerweise keine Antwort. Medizin als Wissenschaft ist an Sinnfragen nicht interessiert, was bereits Max Weber gesehen hatte: „Medizin will keine existenziellen Fragen beantworten, sondern Dinge wissenschaftlich behandelbar lösen.“ (Weber 1919: 589) Noch eine Spur radikaler liest sich folgende Charakterisierung: „Hospize mischen sich nicht ein in das Sterben. Nicht die Begleitenden, sondern der sterbende Mensch gestaltet den Tod.“ (Rest 2006: 24) Es ist sofort erkennbar, dass der sterbende Mensch ganz im Zentrum der Aufmerksamkeit und des Agierens der Hospizkräfte steht.11 Aber es stellt sich ebenso sofort die Frage: Welchen Agierens eigentlich? Welches Maß an Agieren bleibt innerhalb der gesetzten Grenzen des sich Nicht-Einmischens? Oder ist es keine Frage des Maßes, sondern eine Frage der Art des Agierens, also keine quantitative sondern eine qualitative Unterscheidung? 11 Hier sei erwähnt, dass wir auf unserer abstrahierten Ebene keine weiteren Differenzierungen nach Hospizkraft, ehrenamtlicher Hospizhelfer und Palliativfachkraft machen. In den unten genannten hervorragenden Ethnographien zum Thema wird dies ausführlich durchexerziert.
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Vielleicht kommt man einer Antwort näher, wenn man sieht, in welcher Hinsicht sich das hospizielle Agieren vom Agieren der Pflegekräfte im Krankenhaus absetzen will: Dem künstlichen System (der Fachkräfte) steht ein natürliches Beistandssystems gegenüber, welches seine Kraft allein oder wesentlich aus dem menschlichen Kontakt zieht. Das künstliche System hat Grenzen, die nur das natürliche System überwinden kann. Das natürliche System handelt aus Anteilnahme, nicht aus Pflicht. (Rest 2006: 228)
Die Benennung „natürliches System“ lässt die Nähe zum familiären Umgang mit dem Patienten im Hospiz im Sinne der oben beschriebenen Analogie zwischen Hospiz und Familie ahnen. Hier erscheint in der Tat eine qualitative Unterscheidung zwischen künstlichem und natürlichem Beistandssystem, zwischen „Agieren“ und „Kontakt haben“. „Kontakt-haben“ ist hier analog zu Anteilnahme gebraucht. Diese Analogführung lässt den Unterschied zwischen Agieren und Kontakt-haben nun besser fassen: Agieren kann man auch, ohne dieses Agieren notwendig auf einen Anderen auszurichten. Agieren kann gewissermaßen leer laufen. Es kann sich im Hantieren mit Gerätschaften, im Einstellen von Instrumenten erschöpfen, die zwar ihrerseits auf einen Menschen hin ausgerichtet sein mögen, die sich selbst aber nicht auf einen Anderen beziehen können. Die Ausrichtung auf einen Anderen kann nur durch einen Menschen erfolgen. Auch wenn die Justierung eines Instrumentes schließlich auf einen Menschen bezogen ist, ist mit der Ausführung der Justierung noch nicht notwendig ein auf einen Anderen bezogener Kontakt hergestellt. Genau diese Situation ist gemeint, wenn vom „instrumentellen Handeln“ der traditionellen Pflegeberufe in Krankenhäusern gesprochen wird. Deren Helferrolle wird als „undialogisch definiert“ verstanden. Eine dialogisch definierte Helferrolle im Sinne der Hospizbewegung ist ausgezeichnet durch Gegenseitigkeit, Unmittelbarkeit, Ausschließlichkeit und damit durch: Verantwortung (vgl. Rest 2006: 169). Wie kann aber Verantwortung übernommen werden, wenn gleichzeitig das Gebot des Nicht-Einmischens Gültigkeit behalten soll? Entweder wäre es eine unbedingte Verantwortung, was den Begriff ad absurdum führte, oder aber es ist eine Verantwortung gemeint, die sich nicht auf das Verhalten des Patienten bezieht, sondern auf die Gestaltung seiner lebensweltlichen Umgebung, auf seine Situation. Es ist wohl die Verantwortung für die Herstellung und Aufrechterhaltung des oben skizzierten strukturell offenen Raumes. Noch komplizierter wird die Situation, wenn gefordert wird, „dass der Beistand sowohl seine Unverfälschtheit, seine Echtheit behält, als auch sein Verhalten an der Einfühlung und weniger an der Bewertung des Verhaltens des Patienten ausrichtet.“ (Rest 2006: 227) Das ernst genommen hat zur Konsequenz, dass die Erfüllbarkeit aller drei Gebote (Nicht-Einmischung, Verantwortung, Behalt der Unverfälschtheit und Echtheit des Beistandes) davon abhängig wird, dass die Beistandsperson und der Patient zueinander passen. Und tatsächlich wird auf die passende Paarung von Patient und Beistand geachtet.12 Es ist bereits an dieser Stelle deutlich, dass die Qualität der Sterbebegleitung in hohem Maße von der Person des
12 Wir kommen im Zusammenhang mit der Ethnographie von Pfeffer (Pfeffer 2005) darauf zurück.
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Beistandes abhängt. Eben dies ist bei einer Behandlung im Krankenhaus nur in viel geringerem Maße der Fall. Dort existieren möglichst genau zu verfolgende und umzusetzende Therapieanordnungen, bei denen es nebensächlich ist, wer vom Personal diese durchführt. In dieser Tatsache wiederum gründet die undialogische Helferrolle. Hospizielle Begleitung verneint nun keineswegs die instrumentell-technische Seite der Medizin, sie hält sie aber für die Sterbebegleitung nicht für hinreichend. Von den vier Dimensionen menschlicher Existenz ist durch die Schulmedizin nur die körperliche Dimension abgedeckt. Insofern alle vier Dimensionen befriedigend abgedeckt sein müssen, werden die Möglichkeiten der Schulmedizin als notwendige, aber nicht hinreichende Maßnahmen in der Hospizpflege vorausgesetzt.13 Hospize leben also ganz entscheidend von ihrer inneren Qualität. Das bedeutet, dass sie vor allem von der persönlichen Einstellung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leben. (Student 1999a: 33)
Dass persönliche Einstellungen der MitarbeiterInnen für die Hospize von größter Bedeutung sind, ist unbestreitbar, aber es gilt zu zeigen, dass zur Erhaltung dieser Einstellung bestimmte Voraussetzungen geschaffen sein müssen.
5. Hospiz-Ethnographien Nachdem die Ideen, die Ideale und die selbstgestellten Anforderungen, gewissermaßen also die Theorie eines Hospizes dargestellt worden sind, gilt es, sich der empirischen Wirklichkeit der Hospize zuzuwenden. Um Einblick in diese Sphäre zu gewinnen, stütze ich mich auf in der jüngeren Vergangenheit erschienene Arbeiten, die einen ethnographischen Bericht aus stationären Hospizen liefern.14 Diese Ethnographien, die einen alle Facetten umfassenden Einblick in die Welt der Hospize liefern, sollen unter der Perspektive gelesen werden, welche strukturellen Maßnahmen und Kommunikationstechniken im Arbeitsalltag eines stationären Hospizes existieren, um zweierlei zu gewährleisten: Erstens den angesprochenen Raum struktureller Offenheit herzustellen und, zweitens, die Mitarbeiter soweit zu stützen, dass sie in der Lage sind, die Anforderungen ihrer Arbeit zu bewerkstelligen.
13 Student gibt als ein Qualitätskennzeichen von hospizieller Begleitung an: „Gute Kenntnisse und Fertigkeiten der Symptomkontrolle. Hier wird in Deutschland zwar immer zuerst an die Schmerztherapie gedacht. Ebenso wichtig ist aber die Behandlung anderer, das Sterben belastender Beschwerden, wie Atemnot, Verdauungsstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Juckreiz – kurz gesagt, das gesamte Gebiet dessen, was als palliative Medizin im engeren Sinne gilt.“ Student et al (2004: 28). 14 Dreßke (2005), Pfeffer (2005), Eschenbruch (2005).
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6. Stationäre Hospize als formale Organisationen Es gibt zwischen Krankenhäusern und stationären Hospizen strukturelle Ähnlichkeiten. Beide sind formale Organisationen. Das heißt, sie müssen eine Ordnung aufweisen, die so gut als möglich an ihre Anforderungen angepasst ist. Wenn als starker Kontrast zur Organisation eines Krankenhauses vorgebracht wird, dass dort die strategische Ausrichtung der Anforderung genügen muss, viele Patienten gleichzeitig auf dem höchsten erreichbaren Niveau zu versorgen, sodass die Begleitung eines Einzelfalles diese Ordnung schnell an ihre Leistungsgrenzen bringen kann, dass also ungeplante und nicht planbare Sterbeverläufe die Struktur des Ganzen gefährden, so besteht dieses Problem an sich auch in einem stationären Hospiz. Genaugenommen besteht dieses Problem überall dort, wo es um den Umgang mit Abläufen und Verläufen geht. Diese Einsicht ist so entscheidend wie banal. Es ist vornehmlich eine quantitative Frage von Ressourcen. Denn auch in einem stationären Hospiz stehen Abläufe im Zentrum dessen, was organisiert werden muss. Eigentlich sind die Anforderungen hier noch viel größer als in einem Krankenhaus. Dort hat man als Primärziel die Entlassung des genesenen Patienten. Nach der Festlegung der Therapie ist ein Weg vorgezeichnet, der erst einmal als zielführend erachtet wird und als solcher in seinem gewünschten Verlauf auch bekannt ist. Alle weiteren auszuführenden Maßnahmen richten sich nun danach, diesen Weg möglichst nicht zu verlassen und somit den vorgegebenen Ablauf einzuhalten. Bekanntlich ergeben sich häufig Komplikationen, d.h. Störungen im Verlauf, für die aber in der Regel ein souverän beherrschtes Repertoire an therapeutischen Antworten bereitsteht. Die Komplikationen können auch derart schwerwiegend sein, dass die angesetzte Behandlungsstrategie aufgegeben werden muss. Allerdings wird sie in der Regel nicht ersatzlos aufgegeben, sondern durch eine andere ersetzt. Entscheidend ist also, dass auch dann nicht von der Überzeugung abgewichen wird, dass sich eine voraussehbare Behandlungsstrategie findet lässt, wenn bereits viele andere aufgegeben werden mussten. Es ist eine strukturelle Eigenheit der Schulmedizin, kontrafaktisch an der Planbarkeit und Beherrschbarkeit von Therapieverläufen festzuhalten.15 Sterben als prinzipiell nicht vorauszusehender Verlauf führt diese Annahme ad absurdum und bringt damit die darauf aufbauende Ordnung einer Krankenstation durcheinander, wenn nicht gar zu Fall. Aber Sterben folgt natürlich auch dann keinem Verlaufsplan, wenn es sich in einem stationären Hospiz vollzieht. Hospize tragen dem Rechnung, indem sie, ihrer Idee nach, nicht versuchen, das Sterben in einen Ablauf zu zwingen. Es gibt auch keine Handlungs- oder Ablaufpflichten mehr, die einer Behandlungsstrategie geschuldet wären. Wo es keinen vor15 In der modernen Gesellschaft finden sich noch andere Beispiele für kontrafaktisches Reagieren: Etwa im Erstellen von und im Vertrauen auf Prognosen (Wirtschaftsprognosen u.ä.). Die moderne Gesellschaft ist geradezu darauf angewiesen, Prognosen kontrafaktisch zu vertrauen. Im Unterschied zu vormodernen Gesellschaften erfährt die moderne Gesellschaft Zukunft nicht mehr als etwas, zu dessen Deutung die Erfahrung der Geschichte Entscheidendes beitragen kann, sondern als etwas, das Folge von hier und jetzt getroffenen Entscheidungen ist. Einerseits also werden die Zukunftsperspektiven unschärfer, gleichzeitig aber steigt andererseits der Entscheidungsdruck in der Gegenwart. Prognosen führen zu einer Entlastung von diesem Druck, wobei ihre Geltung notwendig immun ist gegenüber permanenten Enttäuschungen. Auch wenn sich Prognosen wiederholt als falsch herausstellen, lässt die Notwendigkeit der Orientierung in der Gegenwart zum Vertrauen in eine neue Prognose keine Alternative zu. Vgl. hierzu Alois Hahn (2003a).
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gegebenen Ablauf gibt, kann auch keine Vorgabe verfehlt werden. Aber da es ja gerade nichtvorhersehbare Verläufe sind, eben Sterbeverläufe, denen die Arbeit des Hospizes gilt, ist eine viel komplexere organisatorische Leistung zu erbringen als in einem Krankenhaus. Es ist gewissermaßen die paradoxe Situation des erwarteten Unerwarteten. Man ist darauf eingestellt, dass sich unvorhersehbare Situationen ergeben, auf die flexibel reagiert werden muss. In diesem Sinne unterscheidet sich ein stationäres Hospiz stark von einem gewöhnlichen Krankenhaus. Aber von Verlaufsschwierigkeiten (trajectory mess) an einem Ort ohne festgelegte Verläufe zu sprechen, ist nur auf der Formulierungsebene eine Paradoxie. In der empirischen Realität handelt es sich schlicht um Ressourcenprobleme. Gestört wird die Möglichkeit, die selbstgewählte Verpflichtung, jedem einzelnen Sterbenden die für ihn notwendige Zuwendung zu geben. Wählt man andere Formulierungen, wird das Gemeinte schnell einsichtig: Es kommt zu einem „Schlamassel“, zu einer unglücklichen Situation, einer Situation, in der man das nicht mehr leisten kann, für das man angetreten ist.16 Wenn im Zusammenhang mit Krankenstationen von einer Schlamasselsituation gesprochen wird, so ist eher die Konnotation des „Unzeitigen“ im Vordergrund. Da die Begleitung eines Sterbenden nicht die zentrale Aufgabe auf einer Krankenhausstation ist, führt sie dazu, zumal sie zwangsläufig unplanmäßig akut wird, dass die Aufgaben, für die die Station eigentlich ausgelegt ist, vernachlässigt werden müssen. Der Schlamassel, wenn man so sagen darf, liegt darin, dass durch die hohen Anforderungen einer Sterbebegleitung die anderen Patienten vernachlässigt werden. Schlamasselverlauf in einem Hospiz dagegen ist gut beschrieben als „prekäre Versorgungssituation“. Das Prekäre besteht dann nicht in erster Linie darin, dass die bestehenden anderen Aufgaben vernachlässigt würden, sondern darin, dass das Ziel, welches man bei der betreffenden Person verfolgt, nicht erreicht wird. Dreßke (Dreßke 2005) beschreibt in seinem Feldbericht den Fall einer Frau Ellwanger. Sie ist eine Patientin mit einem Hirnkarzinom und wird von den Pflegekräften als „aufwendige Person“ beschrieben, weil sie viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Im Verlaufe ihres Aufenthaltes verschlechtert sich ihr Zustand zusehends. Sie erkennt bei sich selbst eine „Jammerdepression“ und gerät in einen Zustand stärkster Unruhe. Ihr Wach-Schlaf-Rhythmus wird völlig unregelmäßig und sie betätigt mit extremer Häufigkeit die Notrufklingel. Was die Pflegekräfte belastet, ist die Tatsache, dass alle durchgeführten Linderungsmaßnahmen keinen Effekt zeigen. Sie leiden mit Frau Ellwanger: Schlamassel als Unglück, weil man den Zweck seiner Tätigkeit nicht erfüllen kann. Diese Situation des prekären Betreuungsverhältnisses hat aber, wie von Dreßke berichtet wird, noch eine andere Dimension, die sowohl in ihrer Interpretation als auch in ihrer Beantwortung an die Schlamasselsituation im Krankenhaus erinnert. Ihr, sich in der Notruffrequenz zeigendes, enorm gesteigertes Aufmerksamkeitsbedürfnis wird von den Pflegekräften zusehends als Gefährdung der ruhigen Atmosphäre empfunden. Dies allerdings bezieht sich auf die anderen Patienten des Hospizes, die dieser Atmosphäre bedürfen. Hier wird nun auch das Verhalten eines einzelnen Patienten in einen Sanktionszusammenhang gestellt, der sich aus der Sorge um die Mitpatienten legitimiert sieht. 16 Schlamassel: von jiddisch Schlimásl, Schlemásl: Pech. Aus den Bestandteilen: Schli/Schle für nicht gut/schlecht und Másl (hebr. Masál): Sternzeichen, Gestirn, Glücksstern, Glück. Vgl. Rosten (2002: 528ff.).
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Im Prinzip muss der Fall von Frau Ellwanger als ein Schlamasselverlauf gedeutet werden. Ihre ständige Unruhe und ihre Suizidabsichten stören das Gebot des ruhigen Arbeitens. Frau Ellwanger installiert eine Ordnung der Dringlichkeit, obwohl es nicht um Rettung oder gar Genesung gehen kann. Demzufolge treten Disziplinierungsversuche in Kraft. Es werden Beruhigungsmittel gegeben, deren größte Wirksamkeit sich nur durch die Infusion entfalten kann. Damit ist es trotz der Suizidabsicht fast unabdingbar, dass eine neue Nadel gelegt wird. An dieser Stelle entscheiden sich die Pflegekräfte zwischen dem Risiko durch unablässige Unruhe oder einem möglichen Suizid für die größtmögliche Ruhe. (Dreßke 2005: 81)
Man traut seinen Augen kaum. Da es keinen erkennbaren Grund gibt, in Zweifel zu ziehen, dass der Ethnograph hier genau das zu Papier gebracht hat, was er zu Papier hat bringen wollen, dokumentiert das Zitat Ungeheuerliches: Die Sicherung des ruhigen Arbeitens wird als so wichtig eingestuft, dass ein möglicher Selbstmord (Dreßke schreibt nicht: ein möglicher Suizidversuch!) in Kauf genommen wird. Es wird allerdings „der personale Einsatz (...) mit dem Ziel des Beobachtens und Aufpassens erhöht.“ (Ebd.) Die Geschichte von Frau Ellwanger ist also die eines prekären Verlaufs, der Einbrüche in Versorgungsroutinen und des Schlamassels. Ihr wird mit den Praktiken des Disziplinierens, Beruhigens und Aufpassens begegnet. Es ist die Geschichte eines professionellen Pflegearrangements, bei dem es darum geht, Defizite, Störanfälligkeiten und Gefahren zu antizipieren, aufzuspüren und zu beseitigen. (Dreßke 2005: 82)
Es ist dies nicht das einzige ausführlich verzeichnete Beispiel für eine „Güterabwägung“, wie man sie nach Lektüre der einschlägigen Hospizlehrbücher nicht erwartet. Auch am Falle von Frau Montag lässt sich sehen, wie die Verabsolutierung eines an sich sinnvollen Gebotes einen Effekt produziert, der in strengem Gegensatz zu zentralen Grundsätzen einer Hospizstation steht. Das Gebot lautet: „Es darf keine Hektik aufkommen.“ Man will ihr eine Atmosphäre präsentieren, die sich unterscheidet von der keine Ruhe zulassenden Betriebsamkeit der Krankenhausstation. Allerdings ergibt sich eine Situation, in der eine ruhige Atmosphäre nicht durchzuhalten ist. Da Frau Montag einen Anfall von Atemnot erleidet, schließt der Pfleger eine Sauerstoffflasche an, die sich aber sehr bald als leer herausstellt. Daraufhin erleidet Frau Montag eine Panikattacke. In der Schilderung von Dreßke nun offenbart sich aber eine absurd anmutende Beurteilung der Situation durch den Pfleger. Dieser resümiert, dass so etwas nicht passieren dürfe, meint aber damit, dass man eine solche Panikattacke um der ruhigen Stimmung willen vermeiden müsse: Interessant erscheint an diesem Beispiel, dass sich das Handeln nicht explizit auf die Beherrschung der Atemnot richtet, sondern auf die Herstellung einer „ruhigen Stimmung“, die als Gefühlsregel für das Hospiz gelten kann. Der Skandal im Falle der Patientin Frau Montag liegt (es ist wohl gemeint: aus Sicht der Hospizpflegekraft, M.H.) nicht in den unzureichenden Vorkehrungen für die Beherrschung der Atemnot, vielmehr werden durch die Panik der Patientin die Gefühlsregeln ‚ruhige Stimmung‘ und ‚ruhiges Arbeiten‘ verletzt. (Dreßke 2005: 55)
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7. Stationäre Hospize als totale Institutionen? Es sei trotz aller Unterschiede festzuhalten, resümiert Dreßke, „dass auch das Hospiz eine im Sinne Goffmans totale Institution ist.“ (Dreßke 2005: 91). Ein gewichtiger Unterschied besteht zweifelsohne darin, dass niemand gezwungen werden kann, in einem stationären Hospiz zu bleiben. Schon Else Ephrem Lau (Lau 1975) hat in einer Krankenhausethnographie aus den 70er Jahren darauf hingewiesen, dass Charakteristiken totaler Institutionen in solcher Drastik wie bei Goffman bei ihren Studien in Krankenhäusern nicht zu beobachten waren.17 Auch Dreßke verweist auf die eher in milder Form auftretenden Ähnlichkeiten zwischen stationärem Hospiz und harten totalen Institutionen (Gefängnisse und Psychiatrien). Im Gegensatz zu diesen ist es gewollt, dass Patienten persönlichen Kontakt zum Personal haben und zwar auch in dem Sinne, dass die Intensität des Kontaktes nicht zu jedem Mitglied des Personals gleich groß ist. Wie Dreßke berichtet, ist dies keine Seltenheit und es wird als Zeichen des Erfolgs angemerkt, wenn auf den Übergaben berichtet wird, dass sich ein Patient ‚auf Schwester Norma freut‘. Unter Umständen verbringt eine Pflegekraft mit dem Patienten zwei bis drei Stunden pro Schicht. Während der Pflegetätigkeiten kann sich für den Patienten ein intensiver Kontakt entwickeln. Ein Aspekt dieser Beziehungen zwischen Patient und Pflegekraft ist, dass der Inhalt der Gespräche ‚im Zimmer bleibt‘, wie Pflegekräfte es selbst formulieren. Auf diese Weise wird eine Charakteristik totaler Institutionen abgemildert, nämlich, dass die Patienten gegenüber allen Mitgliedern des Personals gleichermaßen eine Art variationslose Gesamtpersönlichkeit zeigen. (Dreßke 2005: 75)
Patienten können somit ihre Persönlichkeit differentiell darstellen. Was zwischen ihnen und einem Mitglied des Personals gesprochen wird, ist damit nicht automatisch jedem anderen Personalmitglied bekannt. Auf die Anbahnung solch persönlichen Kontaktes wird ab der Aufnahme in das stationäre Hospiz hingearbeitet. Die Pflegekräfte tauschen sich bewusst untereinander darüber aus, zu welchem der Patienten wer vielleicht einen besonders guten „Draht“ hat und derjenige übernimmt dann soweit als möglich allein die Betreuung des betreffenden Patienten, so dass „Nähe zum Patienten“ zu einer „Arbeitsressource“ wird (Pfeffer 2005: 115). Auf die beträchtlichen Gefahren, die in dieser Ressource lauern, kommen wir weiter unten zurück. Die für Goffman wichtige Charakteristik totaler Institutionen, die „fundamentale Trennung“ zwischen Insassen (Patienten) und Personal (Goffman 1973: 18), soll bewusst überwunden werden. Eine direkte Konsequenz aus der Tatsache, dass auch stationäre Hospize formale Organisationen sind, zeigte sich bereits oben in der Anwendung disziplinatorischer Maßnahmen. Wenn es zu einer formalen Organisation gehört, dass sie sich eine Ordnung gegeben hat, deren Einhaltung ihrer Anpassung an die gestellten Anforderungen geschuldet ist, hat sie auch ein Interesse daran, Störungen dieser Ordnung zu ahnden und abzustellen (s. oben den Fall Frau Ellwanger). 17 „Totale Institutionen sind für Goffman – so eine seiner Thesen – soziale Umwelten, in denen Persönlichkeiten verändert werden (...) Die Berechtigung dieser These in der Anwendung auf die Situation des Sterbenden im Krankenhaus läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nur mangelhaft nachprüfen. Allerdings kann gesagt werden, daß sich Praktiken, die Goffman für Anzeichen eines ‚Diskulturationsprozesses‘ hält, im Krankenhaus durchaus finden lassen, wenn auch nicht so ausgeprägt, wie etwa in dem von Goffman zum Ausgangspunkt genommenen Beispiel der psychiatrischen Klinik.“ (Lau 1975: 44)
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8. Inszenierung im stationären Hospiz Wenn man zu einer Hospizkraft sagte, dass ihr Handeln in der Sterbebegleitung einer Inszenierung folge, wäre sie vermutlich nicht sehr erfreut. Warum eigentlich? Vermutlich deshalb, weil Inszenierung etwas von „jemandem-etwas-vorspielen“ hat. Spielen aber heißt: unernst sein, etwas nicht so meinen, wie es scheinbar gemeint ist. Hinter dem Schein gibt es ein anderes Sein. Die Dinge lägen noch schlimmer, wenn man sie nach der Theatralität ihrer Handlungen fragte. Eine der ehernsten Säulen, auf denen die zeitgemäße Hospizarbeit ruht, ist die Wahrhaftigkeit der Hospizkraft im Umgang mit den Sterbenden. Dem Gegenüber nichts vormachen, an seiner Situation nichts beschönigen und sein Hadern, seine Furcht und seine Wut angesichts des nahen Todes ernst nehmen und ertragen; sie zulassen anstatt sie zu bekämpfen und nicht davor ausweichen; das alles fordert wahrhaftiges Verhalten. Werte wie Selbstbestimmtheit, Bewusstheit und Individualität, das Fördern aktiven Erlebens und reflexiver Bezüge auf die eigene Situation und Biographie bestimmten die Atmosphäre in der Pflege im Hospiz am Stadtwald. (Eschenbruch 2005: 191)
Auf den ersten Blick scheint hier nichts ferner zu liegen als eine Theatralisierung des Umgangs mit dem Sterbenden. Inszenierung und Theatralisierung müssen so als Verrat an den Idealen der Hospizbewegung erscheinen. Aber auch hier ist zu fragen: Gibt es ein Sein hinter dem Schein? Hospizielles Handeln ist naturgemäß soziales Handeln. Denn soziales Handeln ist nach dem berühmten Wort Webers „ein solches Handeln (...), welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“ (Weber 1972: 6) Das eigene Tun am Anderen, am Patienten, zu orientieren, gilt auch zentral für die Hospizbewegung: „Wenn wir einen würdigen Lebensraum für Sterbende in unserer Gesellschaft schaffen wollen, dann müssen wir unser Tun an den Wünschen der Sterbenden selbst orientieren.“ (Student 1999a: 22-23) Vermutlich hat das „soziale“ in Webers Definition nicht die normative Implikation des Helfens, und es ist hier nicht das Handeln der Sozialarbeiter heutiger Tage gemeint. Es ist eine Form des Alltagshandels, die inhaltlich nicht weiter bestimmt ist. Dennoch scheint einem Weber in unserem Kontext hier fast als ein Hospiztheoretiker avant la lettre. In einem Lehrbuch zu Hospiz und Palliative Care liest man: „Der sterbende Mensch und seine Angehörigen stehen im Zentrum des Hospizdienstes. Das bedeutet, dass die Kontrolle über die Situation ganz bei den Betroffenen liegt. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu herkömmlichen Institutionen des Gesundheitswesens, die viel eher das Handeln nach abstrakten Therapiekonzepten oder Krankheitsvorstellungen ausrichten.“ (Student 2004: 28) Das Handeln des Hospizhelfers richtet sich, wörtlich, nach dem Verhalten des Anderen, i.e. des Patienten. Hospizielles Handeln balanciert aber immer auf dem schmalen Grat zwischen struktureller Offenheit der Situation und der Tendenz, allzu strikt an normativen Erwartungen fest zu halten. Dass diese Gefahr besteht, liegt wohl im nicht völlig zu unterdrückenden Bedarf
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nach Erwartungen, die eine offene Situation dennoch irgendwie strukturieren helfen und sie erwartbar werden lassen. So ermöglichte das andauernde Ansprechen selbst halb komatöser Patientinnen, auch den kleinsten Hinweis auf mögliche Wünsche und vielversprechende Narrativierung aufzunehmen – beim ersten Anzeichen von Herrn Krieger hätte ich ihm mehr oder andere Kekse geholt, ihm mehr Kaffee gegeben oder irgendeinen anderen Wunsch von ihm verfolgt, wenn er nur einen geäußert hätte. (Eschenbruch 2005: 199)
Es ist daher ein schmaler Grat, weil die Umsetzung in ein Verhalten immer schnell Gefahr läuft, in einen instrumentellen Aktionismus umzukippen. Eschenbruch formuliert, wohl als ein Ergebnis seiner Feldstudien, das Grundanliegen der Hospizpflege so: „den sozialen Tod, das Ende aller bedeutungsvollen Beziehungen, soweit wie möglich hinauszuzögern, und ihn idealerweise nicht vor dem biologischen Tod stattfinden zu lassen.“ (Eschenbruch 2005: 199) Noch immer ist hier das Gebot gewahrt, sich in das Sterben nicht einzumischen, denn analog zum sozialen Tod, ist es hier das soziale Sterben, dass vermieden werden soll, keineswegs soll das biologische Sterben aufgehalten oder manipuliert werden. Solange der Patient noch lebt, geht es um die Aufrechterhaltung einer dialogischen Situation. Durch mein Verhalten konstruiere ich aktiv kommunikative und praktische Situationen, in denen es möglich ist, ihn (den Patienten, M.H.) nicht als sozial tot zu behandeln. (Eschenbruch 2005: 199)
Das Problem, die Nicht-Einmischungsregel einzuhalten, stellt sich aber schnell, weil diese konstruierten kommunikativen und praktischen Situationen auch bedeuten, dass man den Patienten zu etwas ermuntern will, zu etwas aktivieren will, was dieser von sich aus nicht mehr täte. Der Verlust der Lebenswelt des Patienten, dem man sich entgegenstellen will, ist in den von Eschenbruch gegebenen Beispielen primär ein Verlust an aktivem Tun. Es liegt dabei auf der Hand, dass die Aufrechtherhaltung von Handlungsfähigkeit unstrittig begrüßenswert ist, die Frage ist nur, was man den Patienten zumutet, bis sich herausstellt, ob in diesem Punkt der Verlust der Lebenswelt noch etwas aufgehalten werden kann oder nicht. Von vorneherein lässt sich das nicht ohne weiteres sagen. Hier ist Erfahrung entscheidend: Wenn es im Hospizkontext bei der Narrativierung darum ging, sich dem unabwendbaren Verlust der Lebenswelt von Patientinnen noch eine Weile entgegenzustellen, dann illustriert diese Geschichte auch, dass Erfahrung und Urteilsvermögen notwendig waren, um eine Situation korrekt einzuschätzen und den richtigen Handlungsverlauf zu entwerfen und durchzuführen. (Eschenbruch 2005: 198)
Liegt eine Fehleinschätzung vor, werden also Bemühungen gestartet, den Patienten zu aktivieren und müssen diese nach einigen Anläufen eingestellt werden, weil der Patient eben doch nicht mehr dazu in der Lage ist, dann ist eine Situation hergestellt, die derjenigen in den Kliniken nicht unähnlich ist, in der wiederholt Maßnahmen angesetzt werden in der Hoffnung, noch etwas zu bewirken. Ein gewisses Maß an Hartnäckigkeit ist notwendig, wenn man sich dem Verlust an Lebenswelt entgegenstellen will. Nur läuft man schnell Gefahr, die Aktionen zu einem Selbst-
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zweck werden zu lassen. Eschenbruch beschreibt Situationen, die man durchaus als übergriffig bezeichnen könnte, wenn man für einen Augenblick die Intention der Pflegekräfte vergisst: Sie wollten mehr von Herrn Tanner, nämlich, dass er ein Frühstück genieße, wie er es normalerweise tat. Er sollte aus seiner Gleichgültigkeit herausgelockt werden. (...) (Eschenbruch 2005: 195)
Das gegebene Beispiel stößt sicherlich auf Verständnis beim Hörer: Was soll an einem Genuss eines Frühstückes schlecht sein, zumal, wenn dies den einstigen Gewohnheiten entspricht? Aber, so könnte man fragen, mit welchem Recht eigentlich wird die Gleichgültigkeit von Herrn Tanner als nicht hinnehmbar angesehen? Wann ist der Zeitpunkt erreicht, von dem ab man ernst macht mit dem Vorsatz, sich ganz und ausschließlich nach den Wünschen des Patienten zu richten? Die Hospiztheoretiker haben hier keine einheitliche Position. Es wird deshalb nicht selten der naheliegende Vorwurf artikuliert, dass die Wünsche der Patienten dann akzeptiert werden, wenn sie in Einklang stehen mit den Vorstellungen der Sterbebegleiter, im anderen Falle aber, vorgeblich im Interesse des Patienten, gegen deren Wünsche gehandelt wird oder diese nicht umgesetzt werden. Angesichts mancher Formulierungen hat man den Eindruck, dass es sich um wohlklingende Leerformeln handelt. Etwa in der interessanten Unterscheidung von tatsächlicher Bedürftigkeit und Bedürfnis: Wenn nun tatsächlich Bedürftigkeit besteht, muss ohne Bedenken eine Befriedigung erfolgen. Bedürftig ist jemand, der einen erkennbaren Mangel leidet und die Behebung dieses Mangels braucht zur Sicherstellung seiner körperlichen, seelischen und sozialen Gesundheit. (...), oberhalb der tatsächlichen Bedürftigkeit besteht aber für niemanden ein rechtlicher oder sittliche Zwang, dem geäußerten Bedürfnis zu entsprechen. (Rest 2006: 184)
Im zitierten Falle ist dies u.a. darauf bezogen, dass manche Menschen sich nach der Gegenwart ihrer Haustiere sehnen, man aber dennoch die Hospizeinrichtung nicht zu einem Tierasyl umfunktionieren kann, um dieser Sehnsucht, diesem Bedürfnis des Patienten nachzukommen. Unter Verweis auf die strukturellen äußeren Zwänge wird diesem Bedürfnis nicht nachgegeben. Die Gefahr, bestimmte normative Orientierungen beim Patienten vorauszusetzen, oder sie als unverzichtbar zu erachten, zeigt sich aber dort, wo der Grund für die Zurückweisung einer Bedürfnisbefriedigung nicht in strukturell-äußeren, sondern in normativen Überzeugungen liegt. Dazu heißt es im gleichen Lehrbuch wenige Zeilen weiter: Es kann sein, dass schwerkranke Kinder oder auch Erwachsene nach vielen Spielsachen in ihrem Bett verlangen; aber gerade diese können auch eine Ablenkung vom Ernst der Situation sein und einem falschen „Luxus“ dienen. (Rest 2006: 184)
Es scheint fast zynisch, den Wunsch nach Spielzeug angesichts des Todes als „falschen Luxus“ zu bezeichnen. Ihre Erklärung findet eine solche Position in einem „übergeordneten
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Interesse“. Dieses misst sich an der Übereinstimmung mit der anthropologischen Bedingtheit des Menschen. Allerdings ist diese hier theologisch konnotiert: „Dieses übergeordnete Interesse ist die Übereinstimmung mit der allgemeinen Bestimmung des Menschenwesens gegenüber sich selbst und gegenüber seinem Gott.“ (Rest 2006: 185). Nicht jeder Patient aber stimmt einer solch gläubigen Position zu. Wenn auch in der Hospizbewegung von der Helferrolle zu der dialogisch definierten Rolle des Freundes übergegangen werden soll (vgl. Rest 2006), so kann auch das nicht verhindern, dass die Dialogbereitschaft von Patientenseite nicht angenommen wird oder angenommen werden kann. Auch der Ansatz der therapeutischen Narrativierung18 findet seine Grenzen an einem Patienten, der zur Kooperation nicht fähig ist. Die Frage, ob er nicht fähig oder nicht willens ist, lässt sich eben nur sehr schwer entscheiden oder ist gar nicht entscheidbar. Selbst in reflektierten Situationen, etwa dort, wo ein Forscher teilnehmende Beobachtung treibt, schimmert ein Überbleibsel von der Versuchung durch, eine Situation instrumentell abzuarbeiten, wie im zitierten Beispiel im Falle von Herrn Krieger, den man gerne mit Kaffee und Keksen bedient hätte, wenn er nur irgendwie einen Wünsch danach geäußert hätte. Da es keine festen, per se richtigen Phasenverläufe des Sterbens gibt (Rest 2006), kann auch vorher nie sicher gewusst werden, ob eine Offerte zur Rekonstruktion der Lebenswelt des Patienten zu einem „Happy-End“ (vgl. Eschenbruch 2005) führt oder nicht. Man wird sich hier die Augen reiben: Happy End und Offerten? Angesichts des eingangs zitierten Gebotes, sich nicht einzumischen, scheint man sich hier davon recht erheblich entfernt zu haben. Es werden Offerten gestartet, man versucht, mit den Patienten einen narrativen Faden zu spinnen und konstatiert einen Erfolg, wenn Herr Krieger doch wieder am Mittagessen teilnehmen kann. Aber in der Tat ist das ein Erfolg und es wäre widersinnig und nachgerade inhuman, solches um des Gebotes der Nicht-Einmischung willen nicht zu realisieren. Allein: Ob etwas zu einem Erfolg wird oder nicht, lässt sich nur in der Rückschau feststellen. Die nüchterne Einsicht des Lehrbuchs in die Unvermeidbarkeit des menschlichen Loses kann eben in der Situation der Sterbebegleitung nur allzu leicht aus dem Blick verloren werden. Das aber bedeutet auch, dass wir bei aller „Kunst“ (ars moriendi) dem Sterbenden eigentlich doch nichts ersparen können; der „Fluch der Unausweichlichkeit“ kann nicht wegdiskutiert oder wegtherapiert werden: „Wir sind allesamt zum Tod gefordert und wird keiner für den anderen sterben, sondern ein jeglicher in eigener Person wird mit dem Tod kämpfen.“ (Martin Luther) Es wäre ein Illusion für den Sterbebeistand, wenn er dem Sterbenden glauben machen möchte, es könnte ihm gelingen, das Unangenehme angenehm, den Fluch in Segen, alle Erschütterungen umzugestalten. Hier entsteht hektische und sinnlose Betätigungswut oder Betriebsamkeit für hochqualifizierte Arbeitslose, die einer Illusion nachrennen wegen einer Idee, die letztlich doch nur jenseits menschlicher Verfügung erfüllt werden kann. (Rest 2006: 277)
18 „Therapeutische Narrativierung“ ist Eschenbruchs Übersetzung des Ausdrucks „Therapeutic Emplotment“ von Cheryl Mattingly. Im Kern geht es bei diesem Konzept darum, mit den Patienten einen narrativen Faden zu spinnen, den Alltag in Geschicht(ch)en einzubauen, um über eine solcherart erreichte Strukturierung der Zeit die Patienten wieder zu Handlungen anzuregen, von denen sie glaubten, nicht mehr zu ihnen fähig zu sein. „Die Narrativierung der chronologischen Zeit zu Erzählzeit macht Veränderung und bedeutsame Erfahrung möglich und verstärkt das Wünschen nach mehr Veränderung und Erfahrung.“ (Eschenbruch 2005: 193)
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9. Praktische und pragmatische Notwendigkeit für Inszenierungen Dreßke beschreibt das Hospiz als ein „Labor guten Sterbens“. Von diesem Labor werden von der Gesellschaft Erfolge erwartet. Nach Dreßke sind die Hospize mit einem ideologischen Überschuß ausgestattet und d.h. auch: belastet. Von zwei Seiten bestehen Erwartungen: von seiten der Patienten und Angehörigen sowie von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Ohnehin sieht Dreßke die Hospize als Ergebnis der Medizinkritik und in der Stellung des Garanten für ein gutes Gewissen der Gesellschaft, gewissermaßen als Feigenblatt und als immerwährend möglicher Verweis darauf, dass die Gesellschaft sich um die Situation der Sterbenden kümmert.19 Der „Abgrund“ lauert auch hier: Als Ergebnis dieses Druckes gerät das Hospizpersonal unter den „Zwang“ (jedenfalls der eigenen Empfindung nach), seine „Leistung“ zu dokumentieren. Einerseits nach innen, d.h. für die Patienten, Dreßke spricht von „Inszenierungsleistungen“, um den Patienten deutlich zu machen, dass etwas für sie getan wird, auch wenn es nicht (immer und sofort) zu sehen ist. Hier spiegelt sich der oben beschriebene Umstand, dass „sich-nicht-Einmischen“ nicht gleichzusetzen ist mit Passivität. Aber wie erwähnt, fehlt die Möglichkeit, durch das technische Abarbeiten einer Situation zu dokumentieren, dass man kompetent zu handeln versteht. Nicht mehr das Dringlichkeitsgebot ist leitend, sondern die Aufnahme umfassender Bedürfnisse des Patienten unter der Rubrik der ganzheitlichen Betreuung. (...) Damit steht das Hospizpersonal allerdings vor dem Problem, wie es seine gute Arbeit gegenüber dem Patienten repräsentieren kann. Im Krankenhaus ist das Vermögen, prompt und sicher zu reagieren, das Professionalität kennzeichnende Kriterium. (Dreßke 2005: 55)
Die große Leistung liegt in der Aufspannung und Aufrechterhaltung des hospizlichen Raumes. Dieser muss immer neu aufgespannt werden und ist ständig von Labilität bedroht. Ist er aufgespannt, zeigt er sich in seinen Auswirkungen, wenn das „gute Sterben“ gelingt. In nichtakuten Phasen, die es sehr wohl auch im Hospiz gibt, bleibt er gewissermaßen unsichtbar.
10. Die Ressource „Nähe“ als Problem Die Nähe zu den Patienten wird von den Pflegekräften aus dem Grund gesucht, weil so die individuellen Bedürfnisse und Probleme der Patienten besser erkannt und bearbeitet werden können. Wie bereits erwähnt, ist Nähe zu den Patienten deshalb eine Arbeitsressource (vgl. Pfeffer 2005: 115). Allerdings birgt sie auch die Gefahr in sich, dass die zugelassene Nähe in einen unkontrollierbaren Distanzverlust übergeht. Sie ist daher „zentrales Merkmal und Problem in der Pflege und Sterbebegleitung (nicht nur) in stationären Hospizen.“ (Pfeffer 2005: 104). Sobald keine Distanz mehr zum Patienten gewahrt bleiben kann, kann ihm auch kein Beistand mehr
19 Vgl. Dreßke (2005: 7ff.)
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geleistet werden, weil dann die „Überlegenheit über das Leiden verloren geht“ (Streckeisen 2001: Fußnote 87). Die Rollen desjenigen, der Beistand gibt und desjenigen, der Beistand erfährt, sind hier eindeutig verteilt und eine Umkehrung soll mit allen Mitteln ausgeschlossen werden. Gleichwohl kann eine solche Umkehrung der Rollen in einer Situation vorkommen, denn die Dialektik der Ressource Nähe besteht ja gerade darin, dass das Einfühlungspotential zunimmt in dem Maße, wie die Gefahr des Umkippens in Distanzverlust wächst.20 Hinzu kommt, dass die Hospizhelfer sich nicht nur einer zugelassenen Nähe aussetzen sollen, die zu einer u.U. zu engen Bindung zum Patienten führen kann, sondern es sind ihnen keine Möglichkeiten gegeben, in einer dramatischen Situation ihre emotionale Aufgewühltheit durch technisch-instrumentelles Handeln (auch im Sinne einer Leerlaufhandlung, s.o.) zu kompensieren, wie dies die technisch dominierten Krankenhausstationen bieten. Was im Krankenhaus in solchen Situationen als sogenanntes Notfallhandeln abläuft, wird im Hospiz unter der Maxime des „Zulassen statt Bekämpfen“ durch existentielle Nähe ersetzt. 85% der Pflegekräfte in unserer Umfrage hatten das einfache „Da-Sein“ zur guten Sterbebegleitung gezählt. Hier also taucht es im realen Hospizkontext auf. Aber man sieht direkt, dass das Beiwort „einfach“ sehr leicht täuschende Konnotationen heraufbeschwört. Denn in der Tat ist die „Pflegekraft (...)jenseits ihres Berufs (Hervorhebung M.H.) als ein Mensch gefordert, der bleibt und nicht geht“ (Pfeffer 2005: 110), aber andererseits muss sie sich der nicht zu unterschätzenden Gefahren dieser existentiellen Nähe bewusst sein, die einen nur allzu schnell in emotionale Situationen und Problemzonen bringen, für die man nicht so ohne weiteres gerüstet ist und die mit Alltagserfahrungen von Nähe nur wenig mehr gemeinsam haben. Das Auftauchen solcher Probleme muss möglichst frühzeitig erkannt werden und es müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Die täglichen Übergabegespräche haben neben dem Informationsaustausch über die Patienten die eminent wichtige Funktion, auch die (psychisch-emotionale) Situation der Hospizhelfer zu reflektieren. Sei es, dass die entsprechende Person von sich aus ihre Schwierigkeiten benennt oder sei es, dass sie von ihren Kollegen auf etwaige Vermutungen hin angesprochen wird. In ihrer Arbeit zur Beziehungsdynamik in stationären Hospizen stellt Christine Pfeffer drei Strategien der Kontrolle von Nähe vor: Drei Strategien lassen sich identifizieren, die den Pflegekräften eine Distanzierung innerhalb einer Beziehungsordnung der Nähe erlauben und es ihnen ermöglichen, Nähe zu Patienten zu kontrollieren, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen oder zu vermeiden: Tauschen als erwünschter Betreuungsabbruch, Distanz durch Abstraktion und Rekonzentration auf die Physis. (Pfeffer 2005: 119)
Die radikalste Maßnahme stellt der Betreuungsabbruch dar. Ebenso, wie zu Beginn einer Sterbebegleitung passende Paarungen gesucht werden (s.o.), werden diese Paarungen wieder gelöst, wenn die Situation für die betreuende Person nicht mehr zu bewältigen ist. Der
20 Darin der berühmten „Paradoxie der Machtsteigerung“ ähnlich. Wenn der Herr seine Macht steigern will, muss er dem Knecht einen Zuwachs an Kompetenzen zugestehen. Mit jedem Machtzuwachs des Knechtes wiederum aber wird der mögliche Einsatz der Machtmittel gegen den Herrn immer verheerender. Vgl. dazu Alois Hahn (2003b).
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Abbruch einer Betreuung ist selbst eine schmerzliche Entscheidung, da es einen Abschied von einer Person bedeutet, zu der nunmehr eine (zu starke) Nähe aufgebaut worden war und weil es bedeutet, dass man nun das Ziel der Betreuung, das einzige Ziel der ganzen Sterbebeistandsarbeit, die Betreuung des Patienten bis zu seinem Tod hat aufgeben müssen. Auch diese Situation ist eine Schlamasselsituation im obigen Sinne. „‚Tauschen‘ ist deshalb für viele Pflegekräfte eine emotionale Notbremse.“ (Pfeffer 2005: 120) Zur zweiten Strategie führt Pfeffer aus, dass sie einen Versuch darstelle, die Arbeit rational zu durchdringen und somit eine Distanzierung zu gewinnen. Diese Distanzierung durch Abstraktion (Hervorhebung im Text, M.H.) ist eher ‚Distanz im Kopf‘ als ‚Distanz am Bett‘. Es ist eine Bewältigungsstrategie, die gleichzeitig retrospektiv wie antizipatorisch ausgerichtet ist, denn sie ermöglicht es, die derzeitigen Beziehungen zu kontrollieren und nimmt gleichzeitig schon zukünftige Beziehungen in den Blick. Diese Strategie hilft, zu verhindern, dass sich etwas ‚verknotet, verknäult und zum Kloß‘ wird, wie es diese Krankenschwester beschreibt. Nur wenn es gelingt, emotionale Verstrickungen zu verhindern, kann auch dem nächsten Patienten wieder Nähe angeboten werden. (Pfeffer 2005: 120)
Die „Rekonzentration auf die Physis“ als dritte Distanzierungsstrategie führt wieder nahe an das Phänomen eines technisch-instrumentellen Abarbeitens einer Situation. Im gegebenen Beispiel konzentrieren sich die Pflegekräfte wieder und wieder auf die Behandlung eines durch langes Liegen entstandenen Druckgeschwürs, „das für den Patienten allerdings nicht beeinträchtigend war, denn er war bewusstlos und stand unter Schmerzmitteln. In langfristiger Perspektive war diese offene Stelle ebenfalls zu vernachlässigen, denn es gab schlicht keine langfristige Perspektive mehr.“ (Pfeffer 2005: 121). Strukturelle Offenheit und existenzielle Nähe liegen unvermeidlich sehr nahe beieinander, sie bedingen sich vielleicht sogar gegenseitig. In dieser existenziellen Nähe verbirgt sich aber ein Gefahrenpotential, das die Bedingung der Möglichkeit vernichten kann, den strukturell offenen Raum zu erhalten. Um diesen offenen Raum auf der Vorderbühne zu erhalten, müssen kontinuierlich auf der Hinterbühne Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden. Unter Umständen fällt dort auch die Entscheidung, das Offenhalten des hospiziellen Raumes und die Arbeit auf der Vorderbühne an einen anderen abzugeben.
11. Resümee Es sollte deutlich gemacht werden, dass in der Hospizarbeit unspezifische, mitmenschliche und nicht technisch-instrumentell ausgerichtete Tätigkeiten von großer Bedeutung sind, dass diese gleichwohl aber teils eingepfercht sind in organisatorisch-strukturelle Zwänge (s. Hospize als formale Organisationen) als auch dort ganz besonders sensibel von flankierenden Schutzmaßnahmen umgeben sind, wo diese Tätigkeiten als existentielle Nähe von Bedeutung sind. Ein natürliches, ohne weitere Voraussetzungen und Randbedingungen praktiziertes „Da-Sein“ wird aus guten Gründen in der Hospizarbeit nirgendwo praktiziert. „Natürlichkeit“ ist der angestrebte Modus im Verhältnis zu den Patienten und kann doch immer nur eine artifizielle Natürlichkeit sein.
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Damit soll die Arbeit der Hospizhelfer in keiner Weise herabgewürdigt werden. Es sollte nur anschaulich gemacht werden, dass bei aller Bedeutung, die der inneren Einstellung der Hospizmitarbeiter zukommt, dennoch immer besondere Rahmenbedingungen notwendig sind, um die anspruchsvolle Arbeit hospizlicher Begleitung leisten zu können.
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Zur Inszenierung spektakulärer Ungleichheiten. Vom bürgerlichen Beruf zur Ökonomie der Talente Cornelia Koppetsch
Ein kulturkritischer Beobachter, aus den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts abrupt in unsere Zeit versetzt, wäre nicht wenig erstaunt über die Gepflogenheiten sozialer Selbstbehauptung in den Arbeitswelten der Gegenwart. Verwundert würde er zunächst zur Kenntnis nehmen, dass die Sprache von Wettbewerb und Markt das berufliche Leben im modernen Kapitalismus der Gegenwart fast völlig bestimmt und dass im Kampf um Anerkennung Bildungsinvestitionen und handwerkliches Können dem Streben nach schnellem Erfolg zunehmend untergeordnet werden. Bemerkenswert würde dem Betrachter auch erscheinen, dass selbst die akademischen Berufsstände, die einst auf der Legitimitätsgrundlage professioneller Selbstregulation einen Gegenpol zur reinen Marktlogik bildeten, heute einem zunehmenden Wettbewerbs- und Rentabilitätsdruck ausgesetzt sind: Davon zeugen Exzellenzwettbewerbe, Evaluationen und Qualitätswettbewerbe in Wissenschaft, Medizin und Bildung. Frappierend erscheint an der gegenwärtigen Situation vor allem, dass in vielen gesellschaftlichen Sphären Wettbewerb nicht nur akzeptiert wird – er wird sogar ausdrücklich gefördert, ohne dass sich jemand über die extremen Ungleichheiten und die Monopolisierung der Gewinne durch einige wenige empören würde. Robert Frank und Philip Cook (1995) haben in einem originellen Essay beschrieben, wie nach dem Vorbild der Talentbewertung in Kunst und Sport immer mehr Winner-take-all-Märkte entstehen: In diesen Märkten fällt der Löwenanteil jenen zu, die besonders hoch um Kurs stehen, während die Übrigen mit einer ungleich abgestuften Verteilung der Gewinne vorlieb nehmen müssen. Der vorliegende Aufsatz geht dieser Frage auf den Grund, indem er sich den kulturellen Sinngrundlagen und Kodes widmet, durch die spektakuläre Ungleichheiten legitimiert werden. Gezeigt werden soll zum einen, erstens, warum auch der moderne Kapitalismus auf kulturelle Einbindungen und Rechtfertigungen nicht verzichten kann, zweitens, warum die Berufsfelder der Kulturund Medienberufe prototypische Beispiele für die neue Rechtfertigungslogik des globalen Kapitalismus bieten, wie am „Ethos der Kreativen“ in den Werbeberufen gezeigt werden soll, drittens wird gezeigt, wie es diesem Ethos gelingt, gesellschaftliche Sinnstiftung und ökonomische Erfordernisse zu versöhnen und so zum kulturellen Erfolg des Kapitalismus beizutragen.
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Ursache für die Verschärfung ökonomischer Verteilungskonflikte in den Arbeitswelten der Gegenwart ist ein allgemeiner Strukturwandel, in dessen Gefolge sich die Machtchancen ökonomischer Akteursgruppen erweitert haben. Kritische Gegenwartsdiagnosen und neuere Analysen zu Arbeit und Erwerb kommen nicht zufällig zu dem Schluss (Betzelt 2003; Brose 2000; Voß/Pongratz 1998; Neckel 2001; Sennett 2000, 2005), dass Globalisierung und die Flexibilisierung von Organisationsformen, die von den Wirtschaftseliten zur Deregulation von Arbeitsmärkten und Wohlfahrtsinstitutionen genutzt wurden für viele Beschäftigtengruppen berufsbiografische Risiken nach sich gezogen hat. So haben Voß und Pongratz (1998) als theoretische Bestimmung des neuen Arbeitkrafttypus die Kategorie des „Arbeitskraftunternehmers“ vorgeschlagen. Die diesem Typus zugeschriebenen Kennzeichen – der Zwang zur verstärkten Ökonomisierung der eigenen Arbeitsfähigkeiten beinhalten die Vorstellung, dass Subjektivität und Sozialität unter ein ökonomisches Nützlichkeitsdiktat geraten. Sennett befürchtet die „Erosion des Charakters“ als Konsequenz der Aufweichung des stabilen, bürokratischen Institutionengefüges der Industriemoderne. Auch andere Stichworte der aktuellen Diskussion wie „Marktgesellschaft“ und „Neoliberalismus“ (Neckel 2001; Nullmeier 2001) beinhalten die Vorstellung einer weitgehend durch das Ökonomische determinierten Gesellschaft, die sämtliche Solidaritäts- und Legitimitätsbestände, die in der europäischen Industriemoderne ihre Stabilität garantierte, aufzehrt, ohne sie ersetzen zu können. Dass von den Märkten aufgrund ihrer globalen Präsenz Zwänge ausgehen, kann kaum bestritten werden. Was in der kritischen Deutung dieser und anderer Formen der Globalisierungskritik jedoch meist übersehen wird, ist, dass auch der moderne Kapitalismus auf kulturelle und soziale Ressourcen zurückgreifen muss, wenn er sich das Engagement der Beteiligten sichern will, insbesondere jener Mitspieler, deren Chancen, ihren Profit zu maximieren, gering sind. Denn wie sollte sich die ökonomische Logik des globalen Kapitalismus von sozialen Normen so vollständig entkoppeln können, dass sie der Gesellschaft nur noch feindlich gegenüber steht? Auch der moderne Kapitalismus, so möchte ich im Anschluss an Max Weber argumentieren, setzt Rechtfertigungsprinzipien und Sinngrundlagen, also ein Ethos voraus, das nicht in kapitalistische Verwertungsinteressen aufgeht. Dabei reicht es jedoch nicht aus, auf allgemeine Ideologien und abstrakte Rechtfertigungsprinzipien – allgemeiner Wohlstand, Fortschritt – zurückzugreifen, es bedarf einer Verankerung des Ethos in den Mikrostrukturen kapitalistischer Alltagswelten. Wenn – um es auf eine kurze Formel zu bringen – der Kapitalismus Akteure zum mitspielen bewegen will, muss er für den Einzelnen attraktive Identifikationsangebote und Lebensperspektiven bieten.
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1. Die Kultur- und Medienberufe als Avantgarde des Kulturwandels von Arbeit Zu den Berufsfeldern, die dem Wunsch nach Identifikation und Sinnstiftung besonders entsprechen, gehören die Kultur- und Medienberufe, da diese die Spielregeln des neuen Kapitalismus im Spannungsfeld von Sinnstiftung und Wettbewerb, Expressivität und Disziplin prototypisch verkörpern. Es handelt sich um Berufsgruppen, die wie z.B. Designer, Lektoren, Journalisten, Schauspieler, Regisseure, Modemacher, Multimedia-Künstler, Popmusiker, Schriftsteller, Werbegestalter – also Expertengruppen, die im weitesten Sinne mit der kommerzieller Kultur- und Symbolproduktion zu tun haben und dabei auf massenmediale Vermittlung angewiesen sind. Diese Berufsgruppen haben durch die Ausweitung expressiver Konsumstile und des gesellschaftlichen Einflussgewinns der Massenmedien insgesamt an Bedeutung gewonnen und sind auch in den beruflichen Feldern der Hochkultur eingedrungen. So unterscheidet sich z.B. klassische Musik in ihren Inszenierungsund Präsentationsformen nur noch graduell von populärkulturellen Darstellungs- und Vermittlungsformen. Auch andere hochkulturelle Symbolvermittler wie Museumskuratoren, Schriftsteller und bildende Künstler, nähern sich, aufgrund der Kürzung staatlicher Mittel und der zunehmenden Bedeutung massenmedialer Ausdrucks- und Inszenierungsformen, den kommerziellen Kultur- und Medienberufen an. Das deutet darauf hin, dass der Berufstypus der Kultur- und Medienberufe auch in Zukunft noch an Relevanz gewinnen wird. Die Attraktivität der Kultur- und Medienberufe besteht – auf eine kurze Formel gebracht – darin, dass hier das aus Avantgarde und Gegenkultur entliehene Ethos der Kreativen zum Subjekt- und Berufsideal geworden ist. Individualität, Kreativität und Genussfähigkeit sind in diesen Berufsmilieus zum Gegenstand zahlreicher Praktiken der Selbststilisierung und Identifikation geworden, demgegenüber die Berufs- und Identitätsmodelle der Industriemoderne als nicht authentisch, standardisiert und konformistisch erscheinen. Zwei Abgrenzungslinien stehen im Vordergrund: Am oberen Ende der Beschäftigungshierarchie grenzen sich Kultur- und Medienberufe vom Modell der Professionen ab, da sich ihre beruflichen Handlungsmuster und Werte eher an expressiven Ausrucksformen und der Präsenz in den Massenmedien orientieren statt – wie bei den Professionen – an Bildungssystem und Hochkultur. Auf der anderen Seite verläuft die Distinktion gegenüber dem Typus des fest in eine Beschäftigungshierarchie eingebundenen Angestellten, da das Ethos der Kreativität größere Freiheiten einfordert.
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2. Die Legitimation spektakulärer Ungleichheiten durch das Ethos der Kreativität Verglichen mit dem Status des Angestellten oder des freiberuflichen Professionellen ist der Erwerbstatus der Kultur- und Medienberufe jedoch problematisch: Anstelle eines durch Bildungstitel garantierten Beschäftigtenverhältnisses ist die Projektlogik getreten, die es erforderlich macht, sich immer wieder neu zu bewähren. Konkret bedeutet die Projektlogik, dass Akteure nicht kontinuierlich beschäftigt sind, sondern sich von Projekt zu Projekt hangeln. Ihre Beschäftigungschancen hängen im Wesentlichen von dem Erfolg vorangehender Projekte ab, an denen sie beteiligt waren und von dem Ausmaß des ihnen zugeschriebenen Talentes. Berufliche Statusordnungen, orientieren sich daher primär an Talent- statt an Leistungskriterien. Die negative Konsequenz ist eine Scherenentwicklung zwischen einer erfolgreichen Elite, einer auf Netzwerke angewiesenen mittleren Beschäftigungsgruppe und einer durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse gekennzeichneten „Masse“. Die Ungleichheitsentwicklung innerhalb der beruflichen Felder können auf zwei Gründe zurückgeführt werden: Zum einen bewirken die projektförmigen Erwerbsordnungen, dass Ausbildungsqualifikationen und Bildungstitel, die in bürgerlichen Berufsgruppen wie z.B. in den Professionen für die Monopolisierung von Erwerbschancen und die soziale Schließung gegenüber anderen Berufsgruppen sorgten, in den Kultur- und Medienberufen an Wirksamkeit verloren haben: Individuelle Reputation ist für die Platzierung innerhalb des Feldes weitaus relevanter als Bildungsqualifikationen und -zertifikate – die Konsequenz ist eine zunehmende Konkurrenz auch zwischen Berufsgruppen. Zum anderen bewirkt die starke Affinität dieser Berufsgruppen zur Funktionslogik der Massenmedien dass beruflicher Rang zunehmend stärker durch Charisma und „Persönlichkeit“ statt durch objektive Leistungskriterien geprägt wird. Interessanterweise wird die mit diesen Prinzipien verbundene Scherenentwicklung und die Herausbildung von Winner-Take-All-Märkten in den Kultur- und Medienberufen nicht nur akzeptiert, sondern durch das Ethos dieser Berufsgruppen legitimiert. Dies soll im folgenden am Fallbeispiel der Werbegestalter/Werbeberufe illustriert werden, die ich in einer empirischen Studie im Rahmen meiner Habilitationsarbeit (Koppetsch 2006 a,b) beforscht habe. Wurde Werbegestaltung in Deutschland bis in die 1970er Jahre noch als Handwerk verstanden, bei dem die grafische Ausführung und Präzision im Vordergrund stand1, so zeichnet sich seit den 1980er Jahren eine Entwicklung zum Kulturberuf ab. Der Berufstitel des ArtDirektors setzte sich auch in Deutschland als Berufsbezeichnung für Grafiker, zunächst auch in deutlicher Abgrenzung zum abgewerteten Berufstitel der „ReinzeichnerInnen“, durch. Der Art-Direktor beansprucht über die rein grafische Gestaltung hinaus die Kompetenz zur Entwicklung des Konzepts bzw. der Idee einer Kampagne. Immer mehr kleinere, sogenannte 1 Informationen über die historische Entwicklung des Berufsbildes wurden dem Archiv der 1964 gegründeten Schule für Gebrauchsgrafik/Grafik-Design Kunstschule Alterdamm in Hamburg sowie der Branchenzeitschrift „Gebrauchsgrafik“ entnommen. Der Wandel beruflicher Qualifikationsprofile spiegelt sich im Wandel der Texte von Stellenanzeigen: Wurden in den 1960er Jahren noch „tüchtige“ Grafiker gesucht, die „gewöhnt an sauberes, exaktes Arbeiten“ und über „solides Können“ verfügen, so tauchen in den Stellengesuchen der 1970er vermehrt die Attribute „ideenreich“ und „schöpferisch“ auf. Seit den 1990er mehren sich Stellenanzeigen, die „Vertrautheit mit der Popkultur“ verlangen.
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„kreative“ Werbeagenturen entstanden, die danach strebten, in Werbeproduktionen popkulturelle Standards zu realisieren und durch Wettbewerbe (z. B. Cannes) autorisieren zu lassen.2 Die Entwicklung zum Kulturberuf wurde durch die Übernahme von Rollenmodellen aus der Popkultur und gegenkultureller Lebensformen3 begleitet, was die Ausweitung projektförmiger Arbeitsformen begünstigte. Werbegestalter verstehen sich heute als „kreative Elite“, die sich in Umgangsformen und Stil vom Rest der Bevölkerung abhebt. Informelle Umgangsformen, „flache Hierarchien“, freie Raum- und Zeitgestaltung und individuelle Arbeitsstile suggerieren eine spielerische Haltung zur Arbeit. Dies wird in vielen Agenturen durch ein Interieur unterstrichen, das durch modernes Design und ungewöhnliche Einrichtungsgegenstände den Eindruck einer unkonventionellen, eher künstlerischen Arbeitsumgebung, macht. In manchen Agenturen besteht die Erlaubnis, das Gebäude zu verlassen und sich mit dem Laptop in einem Café oder einem Park niederzulassen. Diese Freiheiten gelten als Privilegien, die scheinbar durch die Selbstverpflichtung auf hohe berufliche Standards „verdient“ werden. Die Paradoxie besteht nun darin, dass die Freiheit von bürokratischen Kontrollen nicht zu mehr Autonomie, sondern im Gegenteil zu einer Vertiefung sozialer Zwänge geführt hat, was sich in einer durch selbstausbeuterische Arbeitspraktiken und einen starken Konkurrenzdruck dokumentiert. Insbesondere Berufsanfänger neigen dazu, sich bis zur völligen psychischen Erschöpfung (Burn-Out) zu verausgaben. Zur Erklärung dieses Widerspruchs lohnt es sich, einen Blick auf die symbolischen Ordnungen des beruflichen Feldes zu werfen: Im Zentrum des Identitätsentwurfs der Werbegestalter steht der Glaube, dass „gute Werbung“ von Talenten gemacht wird, die sich im Tätigkeitsfeld offenbaren bzw. bewähren müssen (oder scheitern). Der Glaube an die kreative Persönlichkeit wird als Eintrittsbillet in ein Spiel vorausgesetzt, in dem es nicht nur um die Absicherung eines Lebensunterhalts geht, sondern in dem die Größe, der Status der Persönlichkeit, entworfen wird. Es geht darum, als eine Begabung, als eine kreative Persönlichkeit zu gelten, die sich in Lebensführung und beruflichem Erfolg gegenüber anderen auszeichnet. Wie wird der Rang einer kreativen Persönlichkeit bestimmt? Der Rang eines Talents kann in einem Arbeitsfeld, in dem die kleinste Einheit der Beschäftigung nicht die Stelle, sondern das Projekt darstellt, nicht an der betrieblichen Position festgemacht werden. Auch kann der Werdegang des Einzelnen wegen der Singularität von Projektlaufbahnen nicht mehr kollektiv, als typische Berufslaufbahn, erfahren werden, der nach außen durch Bildungstitel öffentliche Legitimität verliehen wird. Dennoch haben sich im Kontext der Werbebranche berufliche Bewährungsproben herausgebildet, die als Selektionsmuster in den beruflichen Laufbahnen wirksam werden und sozial verbindliche Rangordnungen schaffen. Diese sind in Form des Wettbewerbsprinzips innerhalb des Berufsfeldes institutionalisiert, die ins Zentrum symbolischer Verteilungskämpfe getreten sind.
2 Wie im vorangehenden Kapitel gezeigt wurde, verkörpern die Wettbewerbe nicht nur die beruflichen Standards der Werbebranche. Sie stiften symbolische Ränge, die über die Zugehörigkeit zu exklusiven, meist überregionalen beruflichen Netzwerken entscheiden und bei der Vergabe von Posten zentral sind. 3 Die Absorption gegenkultureller Ideen und Gestaltungsideale durch das Berufsmilieu ist für die USA sehr gut dokumentiert (Frank 1997), hat nach Einschätzung von Experten mit zeitlicher Verzögerung auch in Deutschland stattgefunden. Vgl. dazu auch Thiel 2002.
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Wettbewerbe existieren in der Branche in unterschiedlichen Formen. Es gibt Wettbewerbe, die effiziente Werbung (d.h. Werbung die nachweislich den Umsatz steigert) auszeichnen, Wettbewerbe für kundenfreundliche Agenturen u.a. Das Gros der ausgeschriebenen Wettbewerbe bezieht sich auf die Norm der „Kreativität“. Die renommiertesten Kreativwettbewerbe stellen auf internationaler Ebene der Wettbewerb in Cannes und auf nationaler Ebene die vom Art-Direktors-Clubs (ADC) ausgeschriebenen Wettbewerbe dar. Mit der Etablierung der Wettbewerbskultur durch den Art-Direktors-Club (vgl. Severin 2000: 20), sollte zunächst, analog zur Rolle des Festivalwesens im Berufsfeld Kinofilm (Baumann 2001), eine künstlerische Identität dokumentiert, bzw. die Verknüpfung von Werbung und Popkultur hergestellt werden. Öffentliche Anerkennung als legitime Kulturproduzenten ist den „Kreativen“, im Unterschied zu anderen Kulturindustrien (Popmusik, Film, Mode) bis heute versagt geblieben, dazu ist die Bindung von Werbeproduktionen an kommerzielle Interessen zu dominant und zu offensichtlich. Doch die Gründung des ADC markiert den Beginn der Herausbildung eines Feldes kultureller Produktion (Bourdieu 1998) innerhalb der Werbebranche, das einen gemeinsamen Orientierungsrahmen für die Positionierung des Einzelnen vor dem Hintergrund gemeinsamer beruflicher Standards schuf. Die in Wettbewerben verliehenen Auszeichnungen und Preise haben zur Institutionalisierung eines gemeinsamen beruflichen Anspruchskonzeptes beigetragen. Sie repräsentieren die kreativen Standards für „gute Werbung“. Diese sind vor allem bei Auftraggebern und Marketingexperten umstritten, innerhalb der „Zunft“ haben sie sich jedoch flächendeckend durchgesetzt. Ihre Geltung ist nicht nur in den Zentren für Kreativwerbung – Hamburg und Berlin –, sondern auch in den traditionellen Agenturen anerkannt.4 Die Bedeutung der Preise für das berufliche Feld hat kontinuierlich zugenommen, was sich zum einen in der enormen Ausweitung des Wettbewerbswesens5, zum anderen in der zunehmenden Relevanz der Preise und Auszeichnungen für die berufliche Positionierung des Einzelnen (im Hinblick auf Gehaltsforderungen, Arbeitsbedingungen und Zugang zu renommierten Agenturen, etc.) dokumentiert.
4 Die Befragungen in unterschiedlichen Städten haben gezeigt, dass die Standards des ADC nicht nun in den kreativen Zentren der Branche – nämlich Hamburg und Berlin, die eine Ballung sogenannter Kreativagenturen und eine besondere Häufung von Preisen aufweisen – sondern auch an den Rändern anerkannt werden (deren Chancen Auszeichnungen zu erhalten aufgrund struktureller Benachteiligungen gegenüber den Zentren geringer sind). Dennoch werden die Entscheidungen der Jurys akzeptiert und die durch Preise verliehenen Ränge im Allgemeinen geteilt. 5 Die Ausweitung des Wettbewerbswesens dokumentiert sich in der Einrichtung zusätzlicher Sparten, der „Special Awards“ (Media Person of the Year; Advertiser of the Year; Agency of the Year; Lion of Excellence in Music, etc) und der Zunahme der in den Wettbewerben eingereichten Arbeiten. Nach Angaben des ADC (vgl. auch www.adc.de) hat sich die Gesamtzahl der eingesandten Arbeit zwischen 1981 und 2004 von 867 auf 3663 vervierfacht. Daraus wird ersichtlich, dass Kreativwettbewerbe eine zunehmende Bedeutung im Berufsfeld einnehmen.
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3. Das Ethos der Kreativen – vom Gegenmodell zur Quelle wirtschaftlicher Wertschöpfung Warum ist es dem Berufshabitus der Werbegestalter gelungen, ein schöpferisches Ethos, das in der Industriemoderne lange Zeit ein Gegenmodell zur kapitalistischen Arbeit darstellte, mit den wettbewerbsorientierten Arbeitswelten des globalen Kapitalismus zu versöhnen? Die Bedeutung der Wettbewerbskultur für die Erwerbslogik der Werbeberufe besteht darin, dass sie ermöglicht, die Marktlogik des Beschäftigungssystems und die daraus resultierenden spektakulären Ungleichheiten durch das Ethos der Kreativität zu legitimieren. Was ursprünglich der Verständigung über gemeinsame berufliche Standards diente, entpuppt sich unter der Hand als Legitimationsinstanz für die spektakulären Ungleichheiten des beruflichen Feldes. Die verliehenen Auszeichnungen und Preise begründen die extremen Ungleichheiten mit der Seltenheit des Talentes. Dazu folgende Zitate: „Wirklich kreative Menschen gibt es nur wenig in der Werbung“ (Art-Direktor männlich). „In vielen Agenturen wird Mittelmaß produziert und das reicht [dem Kunden], zieht aber keine talentierten Leute an“ (Art-Direktor, männlich). „Von Menschen, die nicht besonders talentiert sind wirst du niemals eine außergewöhnliche Idee kriegen“ (B5 männlich). „Das was an Kreation rausgeht, das verteilt sich in einer Familie [Bezeichnung für eine Abteilung] wegen mir mit 40, 50 Leuten auf 5 oder 6 Schultern. Und die anderen sind im Grunde genommen also so Zuarbeiter und spielen keine entscheidende Rolle“ (Texter männlich).
Die Berufskultur der Kreativen versöhnt somit die Wettbewerbslogik der Beschäftigungsstrukturen mit dem Glauben an das kreative Talent, der notwendig ist, um am Spiel teilzunehmen. Individuelle Laufbahnen werden durch erhaltene Preise geebnet, die Beschäftigung in prestigeträchtigen Projekten und Teams sichern. Darüber hinaus nähren Wettbewerbe die Hoffnung auf den großen kreativen Durchbruch, von dem die meisten Art-Direktoren, Grafiker und Texter träumen. Sie bieten, da die Preisträger in Branchenzeitschriften innerhalb der Werbeszene bekannt gemacht werden, dem Einzelnen ein Forum von Prestige und Beachtung, durch die ein Teil der Attraktionskraft der Medien, die durch die Funktionsmechanismen von Prominenz und Aufmerksamkeit gesteuert wird, auf den Einzelnen abfällt. Wettbewerbe machen aus der Konkurrenz innovativer Talente und Ideen, wie sie in den Erwerbsstrukturen der Branche verankert ist, eine legitime Wertigkeitsprüfung6, sanktionieren den Charakter der Liminalität (Turner 2000) kreativer Arbeit und verknüpfen ihn mit den Regeln von Konkurrenz und Markt. Der „Wettbewerb der Talente“ schließt stets die Möglichkeit der „Umwertung der Werte“, der Umkehrung bisher geltender Rangordnungen und Autoritäten mit ein. Jeder soll die Möglichkeit erhalten, mit einer außergewöhnlichen, nie dagewesenen Idee hervorzutreten. Nicht die Beförderung, d.h. die hierarchische Selektion durch Vorgesetzte, auch nicht die schulische Selektion durch Bildungstitel, sondern die Behauptung in einer Konkurrenzsituation, ist das Strukturprinzip des beruflichen Erfolgsstrebens. Kreativwettbewerbe unterstützen die projektförmigen Beschäftigungsstrukturen, die sich verstärkt seit den 80er Jahren in der Werbebranche herausgebildet haben, durch die ideelle Aufwertung der Prinzipien von Konkurrenz und Markt. Die charismatische Auf-
6 Zum Konzept der Wertigkeitsprüfung vgl. Boltanski/Chiapello (2003: 72ff).
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wertung des Wettbewerbsprinzips liefert ihren Trägern das Bewusstsein der Richtigkeit und der Sinnhaftigkeit ihrer unsicheren Erwerbsform und der damit verbundenen extremen Ungleichheiten – und die Motivation sich innerhalb dieser Erwerbsordnungen zu behaupten. Was lernen wir aus diesem Fallbeispiel für die zu Beginn gestellt Frage nach den sozialen Rückkopplungen des modernen Kapitalismus, die diesen auch in kultureller Hinsicht erfolgreich machen? In Anlehnung und Weiterführung von Boltanski und Chiapellos (2003) Buch über den „neuen Geist des Kapitalismus“ lässt sich argumentieren, dass sich der gegenwärtige Kapitalismus vor allem die „ästhetische Kritik“ bzw. die „Künstlerkritik“ einverleibt hat, die von Seiten der kulturellen Gegenbewegungen seit jeher gegen ihn hervorgebracht worden ist. Dies führte nicht nur zur Neutralisierung der Kritik durch Integration, die Topoi dieser Kritik – wie z.B. Individualismus, Authentizität, Kreativität und Genuss – die sich in anderen Epochen einer Marktvergesellschaftung entgegengestellt haben sind nun selbst zu bevorzugten Investitionsgebieten der Marktökonomie geworden. Institutionell kann dieser Wertewandel an der die Expansion der Massenmedien und der nicht-materiellen Dienstleistungen – von Unterhaltung und Tourismus bis zur Gesundheit – und an der flexiblen Spezialisierung der Märkte abgelesen werden. Dass die Berufsfelder der Kultur- und Medienbranchen keine Randerscheinung des neuen Kapitalismus darstellen, zeigt sich auch am Wandel gesellschaftlicher Eliten. Eine neue Prominenzelite ist entstanden, deren Status sich der Beherrschung populärkultureller Stile (Witz, Expressivität, Kreativität, Authentizität, Individualität) verdankt. Während für die traditionellen Eliten der Industriemoderne (Professionen, Wissenschaftler, Wirtschaftseliten und Politiker) die Beherrschung des im Bildungssystem erworbenen hochkulturellen Kanons und Stils (elaborierter Kode) unverzichtbar war, sind für die Kultur- und Medieneliten der Gegenwart massenmediale Inszenierungstechniken zu unverzichtbaren Ressourcen geworden, um sich im Wettbewerb um öffentliche Aufmerksamkeit zu behaupten7 und/oder in der beruflichen Hierarchie aufzusteigen. Die Orientierung an Prinzipien wie Prominenz und Aufmerksamkeit bewirkt darüber hinaus, dass wesentliche Ressourcen in den jeweiligen Feldern von einer kleinen Prominenz-Elite monopolisieret werden: Ein international bekannter Wissenschaftler kann ungleich mehr Ressourcen mobilisieren, als ein vergleichbar qualifizierter, aber weniger bekannter Kollege. Ein prominenter Popstar verdient das Vielfache eines weniger bekannten Musikers, u.s.w. Die Berufsfelder der Kultur- und Medienberufe gehören zu den Nutznießern und Trägergruppen dieser Entwicklungen. Die Ironie ihres Schicksals besteht darin, dass sie das Ethos der Kreativität, das einst als utopisches Gegenmodell der Allmacht des Marktes und den Prinzipien „entfremdeter Arbeit“ entgegengehalten wurde, zum Erfüllungsgehilfen des globalen Konkurrenzkapitalismus gemacht haben.
7 Diesen Wandel hat Clemens Albrecht in einem bislang wenig beachteten Aufsatz auf die Formel „Populärkultur als Repräsentativkultur“ gebracht.
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„Retail Theater“ Zur Inszenierung des Shoppings Kai-Uwe Hellmann
1. „Der Breuninger“ Das Kaufhaus „Breuninger“ in Stuttgart ist seit Jahrzehnten das erste Haus am Platze. Zurückzuführen ist diese Sonderstellung im Wesentlichen auf den Umstand, dass „der Breuninger“1 kein Vollsortimenter im herkömmlichen Sinne ist, also nicht das gesamte Sortiment im Foodund Non-Food-Bereich führt, sondern eine ausgewählte Angebotspalette bereithält, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Textilien, der ungebrochenen Traditionslinie dieses Hauses seit seiner Gründung im Jahre 1881.2 Zwar kam es 1971 zur Ausweitung der ursprünglichen Angebotspalette. Doch wählte Breuninger dafür den Weg der Vermietung hauseigener Flächen an ortsansässige Fachgeschäfte, so dass auch weiterhin der Name „Breuninger“ nur für ein Fachgeschäft der besonderen Art stand. Nach einem aufwendigen Umbau in den 1990er Jahren erfuhr das Kaufhaus schließlich eine innen wie außen gründliche Renovierung, mit dem erklärten Ziel, eine Reihe weiterer Verbesserungen der Beziehungen zwischen Kaufhaus, Personal und Kundschaft zu erreichen. So heißt es auf der unternehmenseigenen Homepage: Seit 125 Jahren ist der Weg des Unternehmens E. Breuninger GmbH & Co. geprägt von fortschrittlichen Ideen und dem Gespür für die Wünsche seiner Kunden. Beim Eintreten in die ‚Breuninger Welt‘ wird dieses außergewöhnliche Flair sofort vermittelt. E. Breuninger GmbH & Co. bedeutet Mode, Parfümerie, Sport, Schuhe, Accessoires und Wohnen. (…) Unsere Kunden und unsere Mitarbeiter stellen den zentralen Wert bei Breuninger dar. Denn größtmögliche Kundenzufriedenheit ist für jeden Mitarbeiter eine freudige Verpflichtung. Ob Kundenberater oder Einkäufer, ob Führungskraft oder Mitarbeiter in der Verwaltung, alle haben das selbe Ziel: das kundenfreundlichste Einzelhandels-Unternehmen Deutschlands zu sein. Breuninger Stuttgart wurde wiederholt von einer unabhängigen Jury zu Deutschlands Kaufhaus Nr. 1 gewählt.3
1 Aufgrund seiner Tradition wird diesem Kaufhaus im Raum Stuttgart gewissermaßen eine eigenständige Individualität/Persönlichkeit zugesprochen, vgl. Keim 1999: 14. 2 Von den rund 300.000 Artikeln, die der Kunde bei Breuninger vorfindet, sind etwa 70 Prozent Textilien, vgl. Keim 1999: 15. 3 Vgl. http://www.breuninger.com/kundenservice/ueberuns.htm vom 3. März 2007.
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In „Magic Moments“ hat sich Gerhard Keim (1999) eigens mit diesem Kaufhaus auseinandergesetzt. Im Mittelpunkt seiner Untersuchung steht dabei die Bedeutung des Raums, d.h. die Gestaltung und Inszenierung des Kaufhauses „Breuninger“ für die Gestaltung und Beeinflussung der Beziehungen zwischen Kaufhaus, Personal und Kundschaft. Keim geht hierzu in zwei Schritten vor, soweit es die Beschreibung des Kaufhauses „Breuninger“ selbst betrifft. Im ersten Schritt beschreibt Keim das Kaufhaus als Museum, im zweiten geht es ihm um das Kaufhaus als Theater. Beide Sichtweisen sind aufeinander bezogen und haben vieles gemeinsam. Der Unterschied zwischen Museum und Theater kann jedoch darin gesehen werden, dass Keim bei der Beschreibung des Kaufhauses als Theater die aufwendige Selbstinszenierung des Kaufhauses in Gestalt passiver wie aktiver Absatzförderung in den Vordergrund stellt. Wendet man sich nun speziell dieser Beschreibung des Kaufhauses „Breuninger“ als Theater zu, so fällt zunächst die Räumlichkeit dieses Kaufhauses ins Auge, mit seinen Eingangstüren, Stockwerken und Orten, verbunden durch Rolltreppen, Fahrstühle und Wege, die eine eigene, in sich, von der Umwelt abgeschlossene Welt zu erzeugen suchen. Daneben gibt es das Moment der Zeitlichkeit, äußerlich begrenzt durch die Ladenschlusszeiten, innerlich ohne festes Zeitmaß, eine Welt mit eigener Zeitordnung, die zu endlosem Verbleiben einlädt. „Breuninger scheint endlos – und damit auch zeitlos, ohne zentralen Takt, ein Ort, an dem man im Bann subjektiver Eigenzeit leicht das Gefühl für die Echtzeit verliert.“ (Keim 1999: 229) Schließlich gibt es noch das Moment der „Menschlichkeit“, d.h. die Regelung des Aussehens und Verhaltens des Personals im Verkaufsraum. Denn die „Menschen“ im Kaufhaus – und hierbei ist nicht nur an das Personal, sondern auch die Kunden zu denken − „verkaufen“ das Kaufhaus „Breuninger“ als eigenständige Dienstleistung, weshalb es insbesondere von deren Präsenz und Performanz abhängt, ob und inwieweit der Anspruch dieses Kaufhauses auf Alleinstellung als gerechtfertigt erscheint. Das Personal ist das ‚Gesicht‘ des Hauses. Verkaufsmitarbeiter stehen auf der ‚frontstage‘, auf der Bühne, sie sind der menschliche Teil der Schnittstelle zwischen dem Kaufhausunternehmen und den Kunden. Sie sind Teil der Inszenierung ‚Kaufhaus‘. Ihre Erscheinung ist wichtig, denn sie sind ein Hauptbestandteil dessen, was die Kunden sehen und erleben. Sie prägen das Image und verkörpern ‚corporate identity‘. (Keim 1999: 255)
Die Beschreibung des Kaufhauses „Breuninger“ mit Hilfe der Theatermetapher, wie es Gerhard Keim in dieser Arbeit getan hat, ist übrigens keine Ausnahme, soweit es um Studien zur Soziologie des Shoppings geht.4 Offenbar besitzt das Shopping, also der gesamte Prozess vor, während und nach dem Einkaufen, eine solche Eigentümlichkeit, dass es naheliegt, hierfür die Theatermetapher zur Beschreibung heranzuziehen − sicher um den Preis der Vereinfachung und Verkürzung des Gesamtgeschehens, aber dafür mit großer Anschaulichkeit und Prägnanz. Zudem wird dem Shopping durch die Theatermetapher auch ein Stück Aura verliehen. Immerhin gelten Theater als wahre Kunsttempel, während Kaufhäusern schon als 4 Vgl. Zahn 1960; Commandeur/Nokielski 1980; Grove/Fisk 1992; Haubl 1996; Miller 1997; Lethonen/Mäenpää 1997; Solomon 1998; Arnould et al. 1998; Keim 1999; Satterthwaite 2001; Sherry et al. 2001; Baron/Harris 2001; Kozinets et al. 2002.
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Konsumkathedralen bezeichnet wurden (vgl. Crossick/Jaumain 1999). Wie weit aber trägt die Metapher des Theaters? Und was wird dabei unterschlagen? Passt sie nur für Situationen, die dem Shopping entsprechen, oder auch auf Märkte im Allgemeinen? Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Sinnfälligkeit der Theatermetapher zur Beschreibung des Shoppings einer ersten Prüfung zu unterziehen. Hierzu wird in Orientierung an der Sozialtheorie von Erving Goffman (1983, 1989) eine Art Wissenssoziologie des Shoppings konzipiert, in deren Mittelpunkt die Phänomenologie des Theaters steht, mit all ihren Besonderheiten. An- und abschließend geht es dann noch um die Frage, ob und inwiefern eine solche Wissenssoziologie des Shoppings auch auf Märkte im Allgemeinen übertragbar ist.
2. Die Theatralisierung des Einkaufens Wenn von Shopping die Rede ist, hat man es zunächst mit der Unterscheidung von Angebot und Nachfrage zu tun, deren Teleologie in eine Transaktion zwischen Käufer und Verkäufer mündet. Doch damit nicht genug. Viel mehr sieht man nämlich, wenn eine andere Unterscheidung ins Spiel kommt, die mindestens zwei Formen des Einkaufens umfasst: Zweckkaufen und Erlebniskaufen (vgl. Hellmann 2005). Beim Zweckkaufen geht es um die lästige Besorgung des Notwendigen, all der Güter und Dienste, die nötig sind, damit das normale Leben in geordneten Bahnen verläuft. Hingegen bedeutet Erlebniskaufen das schiere Vergnügen, das Bummeln und Flanieren, Anschauen, Betasten, Anprobieren, Ausprobieren, ohne jede Not, purer Zeitvertreib, Luxus in Reinkultur. Denn Luxus, so Werner Sombart (1996: 85), ist jeder Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht. Kurzum: Shopping ist hybrid, geradezu janusköpfig, dies belegen bislang vorliegende Studien einhellig. So sprechen Barry J. Babin, William R. Darden und Mitch Griffin (1994: 647) davon, dass „shopping with a goal can be distinguished from shopping as a goal“: Während „shopping with a goal“ das geplante Einkaufen bestimmter Sach- oder Dienstleistungen bedeutet, vorrangig utilitaristischen Charakter hat und als „work“ bewertet wird, geht es beim „shopping as a goal“ um den Vorgang selbst, der deutlich hedonistische Züge trägt und als „fun“ erlebt wird. Pasi Falk und Colin Campbell (1997) unterscheiden analog zwischen „shopping for“ und „shopping around“: Ersteres verfolgt rein instrumentelle Absichten und deckt sich mit dem geplanten Einkauf bestimmter Sach- oder Dienstleistungen, während zweiteres einen autonomen Bereich des Erlebens und Handelns betrifft, der erst in Erscheinung tritt, wenn man nicht bloß geplante Einkäufe unternimmt, sondern geplant hat, eher planlos durch die Geschäfte zu schlendern. Rachel Bowlby (2001: 8) unterscheidet wiederum zwischen „doing the shopping“ und „going shopping“. Dabei bezeichnet „doing the shopping“ eine Verpflichtung, die regelmäßig zu erledigen ist und die sich auf den Kauf einer mehr oder weniger festgelegten Anzahl von Artikeln bezieht. Demgegenüber bewegt sich „going shopping“ klar in Richtung Neigung; es stellt eine vage, ja extravagante Tätigkeit dar, die kein bestimmtes Ziel kennt und sich über eine längere Zeit erstrecken kann, ohne dass es am Ende zum Kauf eines bestimmtes Gutes kommen muss. Turo-Kimmo Lethonen und Pasi Mäenpäa (1997: 143f.) trennen
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funktional äquivalent zwischen „necessity shopping“ und „pleasurable shopping“. Shopping von der ersten Art betrifft demnach das „buying-myself-this-and-that-and-now“, während Shopping von der zweiten Art eine „pleasurable social activity in itself“ ist, die ihrer selbst wegen ausgeführt wird und damit eine intrinsische Motivation aufweist. Und schließlich kann man mit Paco Underhill (1999: 161ff.) zwischen „buying“ und „shopping“ unterscheiden. „Buying“ beschränkt sich auf den Kauf konkreter Güter und bezeichnet gleichsam einen technischen Vorgang, eine Routine, die fast automatisch ausgeführt wird, ohne nennenswerte innere Anteilnahme. Beim „shopping“ steht hingegen das Erleben und Erfahren des möglichen Erwerbs beliebiger Sach- und Dienstleistungen im Vordergrund, weitgehend unabhängig davon, ob tatsächlich eine erworben wird oder nicht. Fragt man vor diesem Hintergrund nach der Sinnfälligkeit der Theatermetapher für die Beschreibung des Shoppings, nach dem heuristischen Nutzen dieser Metapher, so gilt zunächst, das Phänomen des Theaters selbst zu beschreiben. Womit hat man es zu tun, wenn vom Theater die Rede ist? Was sind die konstitutiven Elemente dieses Phänomens? Ohne hier all zu weit einzusteigen, bietet sich zunächst eine Art Begehung des Theaters an.5 Von außen betrachtet, tritt ein Theater zunächst als Gebäude in Erscheinung. Es gibt einen Haupteingang, dann ein Foyer, wo sich die Kassen befinden, den Einlassbereich mit Kartenkontrolle, anschließend eine Art Empfangs- und Aufenthaltshalle mit Garderobe und angeschlossener Gastronomie, Zugänge und Treppen zum Publikumsraum, der mehrere Reihen Stühle umfasst, die allesamt in die gleiche Richtung aufgestellt sind. Hat das Publikum vollständig Platz genommen, ist die Zeit gekommen, ertönt ein Gong, die Türen werden geschlossen, der Raum verdunkelt, der Vorhang hebt sich. Man sieht die Bühne, einen Raum im Raum, auf dem sich früher oder später Schauspieler einfinden, die ein bestimmtes Stück aufführen. Die Aufführung dieses Stücks ist der offizielle Zweck der Veranstaltung, der Grund für den Erwerb der Eintrittskarte. Während nun auf der Bühne die Handlung voranschreitet, die Schauspieler ihrer Arbeit nachgehen, schaut das Publikum aufmerksam zu, bleibt aber stumm. Es ist zwar nicht unbeteiligt, beteiligt sich aber nicht selber. Hochkultur ist angesagt. Indes ist es genau diese asymmetrische Form von Interaktion zwischen Schauspielern und Publikum, auf die es beim Theater vor allem ankommt. Denn egal welches Stück aufgeführt wird: Es ist immer die Aufführung eines Stücks durch Schauspieler vor einem Publikum, was Theater ausmacht. Dabei kennen sich Schauspieler und Publikum in der Regel nicht. Das Publikum kennt jedoch das Stück oder weiß zumindest, dass ein Stück aufgeführt wird, weiß in jedem Fall, was „Stück“ und „Stück aufführen“ heißt, und erwartet die Aufführung des Stückes, dies ist der Grund seiner Anwesenheit. Theater bedeutet somit die Aufführung eines Stücks durch Schauspieler vor einem Publikum, der Rest ist Beiwerk, nicht unerheblich, aber auch nicht entscheidend für den Erfolg eines Theaters (sieht man von der „Volksbühne“ einmal ab). Der Fokus liegt auf der Interaktion zwischen den Schauspielern, während das Publikum ihnen dabei vornehmlich zuschaut und zuhört, lässt man Beifallsbekundungen und andere „spontane“ Mitteilungen mal beiseite. Genau genommen handelt es sich also um die Inszenierung einer Interaktion innerhalb einer Interaktion. 5 Vgl. in diesem Sinne auch die „Vorgehensweise“ in dem Aufsatz „Being in the Zone. Staging Retail Theater at ESPN Zone Chicago“ von Sherry et al. (2001).
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Überdies wissen Schauspieler wie Publikum, dass es sich nur um ein Spiel, um die Konstruktion einer Realität in der Realität handelt. Was immer auch passiert, es passiert nicht wirklich, sondern wird nur als wirklich vorgetäuscht. Im Grunde kommt es gerade auf diese Vortäuschung an, auf das „Als Ob“. Es geht um die Inszenierung einer Illusion. Theater ist Wahrnehmung der Inszenierung eines bestimmten Stückes, oder abstrakter ausgedrückt: die Beobachtung der Beobachtung einer Beobachtung,6 das Spiel mit Möglichkeiten, die Welt zu sehen, zum Zwecke der Unterhaltung des Publikums. „Othello und Desdemona sind Bilder, die eine Wirklichkeit bedeuten, zwischen die wirklichen Theaterbesucher und die wirklichen Schauspieler geschoben, Bilder einer imaginären Welt, die der Wirklichkeit gleicht, aber sie selbst nicht ist.“ (Plessner 1979: 205) Somit besteht die Wirklichkeit des Theaters im Vorspielen solcher Möglichkeiten, und im Falle einer Aufführung wird für kurze Zeit, innerhalb nur eines Raums und vor wenigen Personen eine solche Möglichkeit, die Welt zu sehen, inszeniert − von anwesenden Personen, die allein handeln, für anwesende Personen, die genau das erleben, um später dann, in der Pause oder Zuhause, das Erlebte durch eigenes Handeln, durch Gedankenspiele oder Gespräche mit anderen, sich erneut, aber nochmals anders anzueignen. Nimmt man nunmehr die Frage nach der Sinnfälligkeit der Theatermetapher für die Beschreibung des Shoppings wieder auf, dürften einige Parallelen deutlich geworden sein (vgl. Grove/Fisk 1992). Wie beim Theater hat man es auch beim Shopping mit einer asymmetrischen Interaktion zwischen Leistungs- und Publikumsrollen zu tun. Die zentralen Leistungsrollen werden vom Verkaufspersonal besetzt, während im Hintergrund andere Leistungsbereiche unterstützend mitwirken, wie Geschäftsführung, Technik, Logistik, Aufsicht, Putzkolonnen. Auf der Seite der Publikumsrollen finden wir die Kunden, ggf. auch Käufer von Sach- oder Dienstleistungen. Leistungs- und Publikumsrollen folgen dabei eingespielten Skripts, Drehbüchern, die Vorgaben machen fürs jeweilige Erleben und Handeln bei wechselseitiger Abstimmung und anwendbar auf sämtliche Situationen des Shoppings, eingedenk gewisser Modifikationen für den Einzelfall. Damit wird deutlich, dass auch das Publikum und nicht bloß das Personal dem Shopping im Sinne einer Aufführung nicht bloß beiwohnt, sondern selbst aktiv daran teilnimmt. Hier mag auf den ersten Blick ein klarer Unterschied zum Theaterpublikum vorliegen; auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass das stumme Verharren des Publikums auch nur eine Rolle ist, die sogar (Nicht-)Handeln durch Stillsitzen einschließt, vorausgesetzt und abgestimmt auf das Geschehen auf der Bühne. Im Unterschied zum Theaterpublikum beschränken sich Publikumsrollen beim Shopping jedoch nicht bloß aufs Stillsitzen und Erleben, sondern sehen eigenes Handeln systematisch vor. Und komplementär hierzu beschränken sich die Leistungsrollen beim Shopping nicht bloß auf die Interaktion untereinander, sondern sind primär auf die Interaktion mit dem Publikum ausgerichtet. Das Wechselspiel zwischen Leistungs- und Publikumsrollen bleibt darüber zwar asymmetrisch, doch wechseln sich Handeln und Erleben alternierend ab, während beim Theaterbesuch Handeln und Erleben diametral verteilt sind, jedenfalls während der Aufführung. 6 Und damit ist es nicht einmal getan. Vielmehr schließt daran mindestens noch die regelmäßige Beobachtung der Beobachtung der Beobachtung einer Beobachtung an, wie sie seitens der Schauspieler hinsichtlich der Reaktionen des Publikums auf den Verlauf dessen erfolgt, was die Schauspieler gerade aufführen, vgl. Goffman 1989: 160f.
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Man kann eine solche Analyse des Shoppings, die sich durch die Theatermetapher inspirieren lässt, als eine Form von Wissenssoziologie bezeichnen, wie Herbert Willems (1997: 50) dies mit Blick auf die Sozialtheorie von Erving Goffman getan hat, der sich dieser Metapher bekanntlich sehr häufig bediente. Denn alles dreht sich um die Beherrschung und Umsetzung eines bestimmten Wissens, Goffman (1989: 153) spricht in diesem Zusammenhang von „Kenntnisstand“, der gewissermaßen das zugrunde liegende „Stück“ des Shoppings ausmacht. Vordergründig geht es um den Erwerb von Sach- oder Dienstleistungen, im Hintergrund spielt sich jedoch eine ungleich aufwendigere Aufführung ab, eine hochkomplexe Verschachtelung von Handlungsrahmen und Handlungssträngen, flankiert von einer Vielzahl von Erlebnischancen. Dies zeigt sich schon, wenn man die Unterscheidung von Zweck- und Erlebniskaufen heranzieht. 1. Beim Zweckkaufen steht der instrumentale Aspekt im Vordergrund, Zweckkaufen ist nur Mittel zum Zweck − doch schon dies ist eine Verkürzung dessen, was beim Zweckkaufen insgesamt passiert, betrachtet man den Gesamtverlauf vor, während und nach einem Zweckkauf. 2. Beim Erlebniskaufen wird das Mittel zum Selbstzweck, hier greift die Theatermetapher vollends. Denn nicht das Erwerben von etwas, sondern das Erleben dessen, was überhaupt erworben werden könnte, steht hier im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wie beim Theater geht es um das „Als Ob“, um ein Spielen mit Möglichkeiten, sich und die Welt auf unterschiedlichste Art und Weise zu erleben. Nicht der konkrete Kauf, sondern die Simulation von Besitz und Verwendung unterschiedlichster Sach- und Dienstleistungen macht den eigentlichen Reiz beim Erlebniskaufen aus.7 „The built environment of the site is the stage on which the consumer enacts fantasies and dreams – with enough verisimilitude and reduced risk – that real life often does not permit.“ (Sherry et al. 2001: 504) Man weiß zwar, dass nicht wirklich passiert, was man sich vorstellt, außer im eigenen Bewusstsein; aber genau darauf kommt es an: auf solche Vorstellungen, Tagträume, Phantasien, wie sie den modernen Konsum insgesamt kennzeichnen.8 Dabei konfrontiert das Shopping in einem Kaufhaus nicht nur mit einer Unmenge an Gegenständen, allesamt für den Konsum gedacht und geeignet, sondern mehr noch mit einer Überfülle an Bedeutungen, die keinerlei Festlegung aufweisen, sondern unbestimmt viele Deutungsmöglichkeiten bereithalten. Wir kennen diesen Dekodierungseffekt qua Multiplikation der Aneignungsformen seitens der Cultural Studies-Forschung zu Genüge (geradezu klassisch Katz/Liebes 1987). Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass sich die Theatermetapher zur Beschreibung des Shoppings durchaus anbietet, die Parallelen sind offensichtlich. Ein wesentlicher Unterschied bleibt jedoch: Es gibt keine unüberschreitbare Grenze zwischen Personal und Publikum, kaum Interaktion in der Interaktion. Vielmehr zielt das Shopping gerade auf die Interaktion zwischen Personal und Publikum ab, selbst wenn das Erlebniskaufen, also das imaginative Spielen mit den Möglichkeiten, bei vielen Kunden, vor allem Frauen, einen großen Raum einnimmt (vgl. Fiske 2000). Außerdem weist das Shopping eine offensive Zielstellung auf: Alles, was passiert, soll die Kunden zum Kauf animieren, während beim Theater eher kon7 Vgl. Kaufmann 1969; Bellenger/Korgaonkar 1980; Bloch et al. 1994; Haytko/Baker 2004; Vester 2004. 8 Vgl. Hirschman/Holbrook 1982; Holbrook/Hirschman 1982; Campbell 1987; Belk/Costa 1998.
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tingent bleibt, was mit dem Publikum passieren soll. Nichtsdestotrotz erscheint die auffällig häufige Verwendung der Theatermetapher in der Praxis und Theorie des Shoppings als gerechtfertigt.9 Bestätigung erfährt diese Bewertung, wenn man vergegenwärtigt, dass seitens der Einkaufsstättenbetreiber selbst der Versuch unternommen wird, Shopping als Theater aufzuziehen. Der brancheninterne Fachausdruck lautet hierfür „Retail Theater“, eine Semantik, die in den USA aufgekommen ist und im Laufe der 1990er Jahre eine erstaunlich positive Rezeption gefunden hat, vergleicht man die einschlägige Presse daraufhin.10 Steve Baron, Kim Harris und Richard Harris (2001) haben eine erste Übersicht zur Forschungslage hinsichtlich des „Retail Theater“-Themas vorgelegt, einschließlich des Versuchs einer Typologie unterschiedlicher Theaterformen. Auch in Deutschland können wir erste Anläufe in dieser Richtung beobachten. Oftmals geht es dabei um eine kundenfreundlichere Gestaltung der Geschäfte: Obst vorne, Konserven hinten, breitere Gänge, altersgerechtere Regalbestückung, schnellere Kassen, informativer Ladenfunk im Hintergrund etc. Gleichwohl unterscheidet sich „Retail Theater“ von diesen doch eher behutsamen Eingriffen in herkömmliche Shoppingräume erheblich. Denn mit „Retail Theater“ ist eine sehr direkte Form der Kundenansprache, Kundenunterhaltung und Kundenbindung gemeint, bei der die Interaktion zwischen Kaufhaus, Personal und Kundschaft nicht bloß erwünscht und ermöglicht, sondern systematisch hergestellt wird. Mehr noch wird versucht, nicht bloß das Shopping als Theater zu inszenieren, sondern auch während des Shoppings Theater zu inszenieren, etwa in Form von Sportaufführungen, Musikevents, Zirkus- oder Varieté-Veranstaltungen. Auch bei uns kommt dies mitunter schon vor, vor allem in den großen Shopping Malls wie dem „CentrO“ in Oberhausen oder „Nova Eventis“ bei Leipzig (vgl. Franck 2000; Rieber 2005). „Retail Theater“ bezeichnet also die strategische Verschmelzung von Shopping und Theater. „Retail theater is generally presented as a ‚fun‘ experience involving spectacle and excitement.“ (Baron et al. 2001: 103) Intendiert ist damit, die Erlebnisqualität beim Einkaufen zu verbessern, um zu vermehrtem (Erlebnis-)Kaufen anzuregen, und die Kundenbindung zu verstärken, angesichts zunehmenden Wettbewerbs (vgl. Wakefield/Baker 1998). „Retail theater is staged to create desires to enter, stay, and return.“ (Sherry et al. 2001: 496) Insbesondere B. Joseph Pine und James Gilmore (2000) haben sich in „Erlebniskauf“ mit diesem relativ neuen Phänomen in den USA beschäftigt. Ausgangspunkt ihrer Befassung mit dem Erlebniskaufen ist die Überlegung, dass sich eine Evolution des Einkaufens feststellen lässt, an deren Anfang der Vertrieb von Massengütern stand, gefolgt von Konsumgütern und Dienstleistungen. Seit den 1980er Jahren beobachten Pine/Gilmore nun die stetige Zunahme einer besonderen Form von Dienstleistung, die es in erster Linie darauf anlegt, bei den Kunden bestimmte Erlebnisse hervorzurufen. „Während Massengüter austauschbar, Güter materiell
9 John Deighton (1992) operiert in seinem Aufsatz „The Consumption of Performance“ mit einem 4-Feld-Schema, dessen Parameter auf der einen Seite das Kontinuum zwischen Beobachter- und Teilnehmerrolle und auf der anderen, orthogonalen Seite das Kontinuum zwischen Realitäts- und Phantasiebias umfasst und mit dem es möglich wäre, die Theatermetapher über ihre klassische Bedeutung hinaus auch in Richtung von deutlich partizipativeren Formen der Auseinandersetzung zwischen Leistungs- und Publikumsrollen zu diskutieren. 10 Vgl. Haber 1988; McAllister 1993; Fickes 1994; Marcin 1994; Salas 1994; Moin 1996; Brumbeck 1996; Switzer 1997; Harris et al. (2001: 112): „In the late 1990s and the early 2000s, there is evidence that retailers across different product groups and across different countries are adopting the phrase ‚retail theater‘ with customers.“
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und Dienstleistungen immateriell sind, besteht die wesentliche Eigenschaft von Erlebnissen darin, dass sie einprägsam sind.“ (Pine/Gilmore 2000: 29) Mit „einprägsam“ ist gemeint, dass die Kunden ihre Distanz verlieren und soweit wie möglich eingebunden werden in die jeweilige Inszenierung des Shoppings. Das Einkauferlebnis soll eine dramatische Intensivierung des persönlichen Involvements erreichen, d.h. rational und emotional gleichermaßen ansprechen, alle Sinne aktivieren und die Kunden in eine ganz eigene Welt versetzen, der sie sich nicht mehr so ohne weiteres entziehen können und wollen. Zur Erreichung dieses Ziels diskutieren Pine/Gilmore sämtliche Aspekte, die für das Theater und eine erfolgreiche Theateraufführung maßgebend sind, wie das Bühnenbild, das Drehbuch, die Arbeitsteilung des Theaterpersonals und die Formen der Vorführung. Zum Abschluss gehen Pine/Gilmore sogar noch einen Schritt weiter und erörtern die ihrer Meinung nach nächste Evolutionsstufe des Einkaufens, die nicht bloß auf Erlebniserzeugung beim Kunden, sondern auf die Wandlung des Kunden zielt. „Im Fall der Wandlung ist der Kunde das Produkt! Der Käufer der Wandlung sagt im Grunde: ‚Verändere mich‘.“ (Pine/Gilmore 2000: 256) Unterstützung erfährt dieser Wandlungsprozess durch bestimmte Symbole, welche die Kunden kaufen können, um ihrer Wandlung zu gedenken und sie anderen gegenüber zum Ausdruck zu bringen. Ringe, Kreuze, Fahnen, Trophäen, Medaillen, Insignien und andere derartige Symbole weisen darauf hin, dass ihre Träger eine Wandlung durchgemacht haben: vom Single zum Ehepartner, vom Zivilisten zum Soldaten, vom Soldaten zum Helden usw. All diese Symbole ermöglichen es den Leuten außerdem, jene zu erkennen, welche die gleiche Wandlung durchgemacht haben. Auf diese Weise geben sie den Anstoß zu Gesprächen und zur Bildung von Gemeinschaften. (Pine/Gilmore 2000: 261)
Wie unwahrscheinlich diese Möglichkeit, Kundenwandlung als Dienstleistung anzubieten, heutzutage auch erscheinen mag: Schaut man auf die Theorie des Theaters, so liegt eine solche Assoziation gar nicht fern. Denn auch das Theater als eine Form der Kunst zielt auf Veränderung der Zuschauer, sei es durch Verunsicherung, Überraschung oder Läuterung. Exemplarisch für dieses Kunstverständnis soll der Theaterregisseur Claus Peymann zu Wort kommen, der einmal gesagt hat: „Die Zuschauer erwarten ein anderes Leben. Sie erwarten nicht eine Bestätigung dessen, was sie sind, sondern sie erhoffen sich etwas anderes: etwas Neues, etwas Überraschendes, etwas Unerhörtes, etwas Empörendes, etwas Unvergessliches zu erleben.“11 Insofern würde die Inszenierung des Shoppings dem Theater nicht nur darin ähneln, dass es zur Übernahme einzelner Facetten des Theaters kommt, sondern indem auch Funktionen des Theaters zum Vorbild genommen werden − wie wenig davon am Ende auch übrig bleiben mag, wenn es an die konkrete Inszenierung des Retail Theaters geht. Auch wenn Struktur und Semantik dessen, was hier als „Retail Theater“ bezeichnet wird, selbst in den USA, von Europa, gar Deutschland, ganz zu schweigen, noch sehr weit auseinanderklaffen mögen, ist eine unverkennbare Strategie bei vielen Einkaufsstättenbetreibern festzustellen, ihre Läden in Richtung „Retail Theater“ aufzumöbeln, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Hiermit ist quasi ein allgemeiner Trend bezeichnet, siehe nur die Werbung und die dort stattfindenden Etatumschichtungen in Richtung Direct Marketing. Grund ist zum einen,
11 Dieses Zitat entstammt einem Interview mit Claus Peymann, veröffentlicht in DeutschlandRadio 2002: 162.
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dass die Kunden deutlich anspruchsvoller geworden sind; zum anderen ist es weltweit zu einer überproportional starken Zunahme von Einkaufsflächen gekommen, mit der die Kundenzahlen kaum Schritt halten können. Fast könnte man sagen: Die Kunden werden knapp. Die „Retail Theater“-Strategie stellt vor diesem Hintergrund den Versuch dar, einen Ausweg zu finden, um der selbsterzeugten Spirale zwischen Anspruchssteigerung und Chancenausreizung zu entkommen. Es ist absehbar, dass es sich hierbei um ein unlösbares Problem handelt.
3. Die Involution einer Semantik Shopping ist ein Sonderfall von Markt, und wie der Shoppingbegriff besitzt auch der Begriff des Marktes hohe Anschaulichkeit. Ob Floh-, Wochen-, Super-, Arbeits- oder Immobilienmarkt: Welcher Markt auch immer in Rede steht, zumeist tritt mit Nennung dieses Begriffes ein bestimmtes Ensemble von Architekturen und Akteuren vors innere Auge, von Angebot und Nachfrage, von Interaktionen und Transaktionen irgendwelcher Sach- oder Dienstleistungen, die auf der Basis von Gaben- oder Geldtausch abgewickelt werden. Der Begriff des Marktes konfrontiert gewissermaßen intuitiv mit konkreter Materialität und Sozialität in Raum und Zeit (vgl. Sherry 1998). Jeder macht damit Erfahrungen, mehrmals täglich, in den verschiedensten Situationen. Aufgrund alltäglicher Anschauung und Vertrautheit wird jedoch kaum bewusst, dass Märkte – wie überhaupt alle Ereignisse – ihre Bedeutung, ja Existenz allein dadurch gewinnen, dass sie eine soziale Tatsache, eine kulturelle Konvention, eine Konstruktion von hoher symbolischer Qualität darstellen. Märkte soziologisch verstehen heißt demnach, sich vor allem dieser immateriellen Dimension, der Kultur, der „mental map“ von Märkten zuzuwenden und diese zunächst phänomenologisch zu beobachten und zu beschreiben. Erst im Ergebnis, durch Deutung und Vergleich, wird dann sichtbar, was ein konkreter Markt im Kern bedeutet. Denn Märkte werden, dies kann man wohl als kleinsten gemeinsamen Nenner der Marktsoziologie behaupten, als soziales Arrangement aus Regeln, Rollen und Sanktionen verstanden, die ein bestimmtes Erleben und Handeln anleiten, wenn es um das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage geht. Oder wie Pierre Bourdieu (1998: 189) es formuliert hat: Der sogenannte Markt ist also in letzter Instanz nichts anderes als eine soziale Konstruktion, eine Struktur spezifischer Beziehungen, zu der die verschiedenen im Feld tätigen Agenten in unterschiedlichen Graden dadurch beisteuern, dass sie ihm Modifikationen aufzwingen und dazu diejenigen Befugnisse des Staates ausnutzen, die sie kontrollieren und lenken können.
Angesichts dieser Forschungslage dürfte sicher einleuchten, wenn nicht nur das Phänomen des Shoppings, sondern auch das Phänomen des Marktes als eine spezielle Form des Wissens klassifiziert und Marktsoziologie als Wissenssoziologie konzipiert werden.12 Soziologie des
12 Vgl. Sayer 2000; Stehr 2001; Slater 2002; MacKenzie/Millo 2003.
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Marktes bedeutet demnach, die Funktionen, Strukturen und Prozesse des Wissens zu analysieren, welches das Handeln und Erleben in Märkten ermöglicht und zugleich begrenzt. Nur welche Form von Wissenssoziologie bietet sich hierfür an? Im Falle des Shoppings wurde auf die Sozialtheorie von Erving Goffman verwiesen, insbesondere dessen Rollentheorie aus den 1950er Jahren, die sehr stark von der Kunstform des Theaters beeinflusst wurde (z.B. Drehbuch, zentrierte, komplementäre und asymmetrische Rollenverhältnisse, Interaktionsbezug, Inszenierungscharakter, Dramaturgie und Dramatik des Auftretens etc.). Lässt sich diese Semantik des Theaters auch auf Märkte im Allgemeinen übertragen? Überwiegend ja, so möchte man gleich vermuten, mit einigen Ausnahmen. Denn viele Märkte stellen sachlich, sozial und zeitlich nichts anderes dar als unterschiedliche Situationen des Shoppings, die unterschwellig beträchtliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Insofern würde sich die Übernahme der Sozialtheorie Goffmans, die in hohem Maße eine Interaktionstheorie ist, für viele Märkte anbieten. Doch schon beim eShopping oder eCommerce dürfte es erhebliche Probleme geben, weil die Bedingung der Interaktion nicht mehr erfüllt ist, und noch viel schwieriger wird es, wenn man sich Nachrichten- oder Finanzmärkte anschaut: Diese funktionieren oftmals völlig interaktionsfrei, soweit es das Wechselspiel von Angebot und Nachfrage betrifft. Hier noch von „Theater“ zu sprechen, ist allenfalls im übertragenen Sinne von „Durcheinander“, „Unübersichtlichkeit“, „Chaos“ sinnvoll, aber kaum noch bezogen auf die Kunstform des Theaters. Angesichts dieser Situation zu versuchen, auch solche neueren, primär durch Techniken und Telekommunikation ermöglichten Formen von Märkten mit Hilfe der Theatermetapher zu beschreiben, würde einer Situation gleichen, die Niklas Luhmann (1995) einmal als „Involution“ einer Semantik bezeichnet hat. Gemeint ist damit die vorübergehende Wiederholung, Ausarbeitung, Betonung und Verstärkung einer schon nicht mehr adäquaten Form gesellschaftlicher Selbstbeschreibung, um Vergangenes, das noch Geltung genießt und solange als Übergangsphänomen genutzt wird, bis sich die neuen Verhältnisse in der Lage zeigen, eine ihnen angemessene Selbstbeschreibung zu liefern.13 Ob und inwiefern es gegenwärtig eine solche zeitgemäße Wissenssoziologie für diese neuen Märkte schon gibt, steht sehr in Frage. Unzweifelhaft dürfte jedoch sein, dass die Metapher des Theaters allenfalls auf Marktformen passt, die noch vormoderne Wurzeln haben. Die Obsoleszenz dieser Metapher für zukünftige Marktformen ist somit absehbar.
13 Zum Beispiel greift Urs Stäheli (2007: 113f., 180f.) bei seiner Rekonstruktion der Börsenentstehung mehrfach auf die Theatermetapher zurück. So schreibt er u.a.: „Die Börsenarchitektur führt jedem, der sie betritt, dieses theatrale Dispositiv vor.“ (Stäheli 2007: 113) Diese Beschreibung ist sicher zutreffend, soweit es den Raum der Börse und die darin beobachtbaren Interaktionen betrifft. Doch welche Relevanz besitzt dieses theatrale Dispositiv, wenn es um heutige Finanzmärkte geht? Das Festhalten an der Theatermetaphorik bei der Marktbeschreibung erinnert übrigens an Harrison C. Whites Begründung dafür, dass er die Einbeziehung der Konsumenten für die Konstitution von Märkten für entbehrlich hält: „Markets are not defined by a set of buyers, as some of our habits of speech suggest“ (White 1981: 518), weil er das, was die Käufer (subjektiv) tun, für unbeobachtbar hält. In diesem Sinne wird auch hier dafür plädiert, sich nicht länger durch „some of our habits of speech“ dazu verführen zu lassen, moderne Märkte per se mit Bezug auf dieses theatrale Dispositiv zu diskutieren.
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Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept? Anforderungsprofile von Arbeitgebern im Rekrutierungsprozess Justine Suchanek und Barbara Hölscher
1. Einleitung Was bei Bewerbungs- und Rekrutierungsprozessen auf dem Arbeitsmarkt und insbesondere von Arbeitgeberseite als Professionalität definiert wird, ist im Besonderen bei der Personalentscheidung beobachtbar. Mit Personalentscheidung ist die Entscheidung über den Eintritt oder Austritt in eine Organisation sowie über die individuellen Karrieremöglichkeiten gemeint. Auf Arbeitgeberseite wird bereits vor einer Anstellung im Unternehmen angestrebt, das Potential von Bewerbern für eine „erfolgreiche“ Mitgliedschaft und die Aufstiegschancen zu kalkulieren, also einzuschätzen und als Auswahlkriterium zu nutzen. Man hat eine Stelle zu besetzen und sucht den geeigneten Kandidaten (Matching-Problem) (…) Headhunter, Personalvermittlungen, Personalentwickler und der gesamte Trainings- und Seminarmarkt leben von dieser Ungewissheitszone im Bereich der Personalprämissen und des Matching von Person und Stelle. (Drepper 2003: 152)
Die Personalentscheidung ist für Unternehmen sehr weit reichend, denn die Personalrekrutierung ist ein Mechanismus der Ressourcenbeschaffung: Über neue Mitarbeiter kann ein exzeptioneller und differenzierter Zugang zu Umweltressourcen erschlossen werden. Hierzu zählt das gesamte Professionsprofil des (potentiellen) Mitarbeiters, insbesondere das kulturelle und soziale Kapital der Akteure auf dem Arbeitsmarkt, aber auch der Erwerb neuer Informationen, da sich die Entscheidung für oder gegen die Einstellung an externen Autoritätsquellen ausrichtet, so etwa an Zertifikaten und das über die Ausbildung garantierte Niveau der fachlichen Qualifikation (Luhmann 1997: 838). Dabei ist das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitssuchendem wechselseitig und komplex: Vorraussetzung für das Vorliegen eines Arbeitsmarktes im idealtypischen Sinne sind (…) zwei Konkurrenzbeziehungen sowohl auf der Seite der Anbieter als auch der Nachfrager nach Arbeitskraft und eine Konfliktbeziehung zwischen Anbietern und Nachfragern von Arbeitskraft. (Lange 1989: 195)
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Ob ein Bewerber als so genannter „High Potential“ oder „Low Potential“ eingestuft wird, wird auf dem Arbeitsmarkt anhand von Bewerbungsmappen beobachtet. Hierbei zählt die Vollständigkeit, Ordnung und die möglichst „hochwertige“ Zertifizierung der formalen Bildung und der weiteren Tätigkeiten, also sicherlich in erster Linie das relativ eindeutig beobachtbare kulturelle Kapital. Die Art und Weise wie sich Bewerber selbst in Szene setzen können, also ihr auf Inszenierung abstellendes Self-Marketing, ist als Faktor für eine erfolgreiche Bewerbung sowie den weiteren Karriereweg aber wohl kaum zu unterschätzen. So mancher kennt dementsprechend persönliche Fälle, wo Personen mit „gar nicht so guten Zeugnissen“ besonders schnell eine Anstellung erhalten haben: „Er/sie kann sich gut verkaufen“, so heißt es dann oft im Alltagsjargon. Die Karriere ist insofern das Resultat von Selbst- und Fremdselektionen. Sie ist das Ergebnis von Selbstselektionen insoweit, dass man sich auf Stellen bewirbt, deren Erwartungen man zu erfüllen glaubt und die von der Organisation kommunizierten Erwartungserwartungen ansprechend findet. Fremdselektionen wiederum nimmt der Personalentscheider vor, indem der Bewerber danach bewertet wird, ob reziproke Erwartungssicherheit hergestellt werden kann. In diesem Prozess ist beobachtbar, wie entscheidungsabhängig das moderne Leben ist: Eine verschlafene Qualifikation, Wissenslücken, ein nicht gemachter Auslandsaufenthalt oder eine versäumte Fremdsprache, all das kann Karriererückstände produzieren. Karriererückstände entstehen aber eben auch durch das Versäumnis oder das Unvermögen, die eigenen Kompetenzen im Bewerbungsprozess ins „rechte Licht“ zu rücken. Verpasst ein Bewerber, die entsprechenden Signale seiner Anschlussfähigkeit an das gesuchte Professionsprofil dem Arbeitgeber zu senden, wird dieser ihn wahrscheinlich nicht in den weiteren Bewerbungsprozess aufnehmen. Letztendlich ist die Kommunikation der eigenen Kompetenzen im Zeitalter der Online-Bewerbungen, Rekrutierungsmessen und Arbeitgeberkontaktbörsen, die zu einer Vervielfachung des Bewerbungsaufkommens und teilweise zu einer Informationsflut über Bewerberprofile führen können, ein entscheidender Faktor für den Wettbewerbsvorsprung gegenüber Konkurrenten. Arbeitgeber geben dabei durchaus vor, was bei Ihnen als Erfolgsfaktor gilt. In Stellenanzeigen werden die geforderten Professionsprofile institutionalisiert und eine dementsprechende Kompetenzdarstellung erwartet. Dabei wird erwartet, dass Bewerber um diese Erwartung eines auf das Stellenprofil hin gezielten Auftritts von Kompetenzdarstellung und Selbstinszenierung wissen und in diesem Sinne handeln werden. Aus relativ verbreiteten, überregionalen Zeitungen (z.B. FAZ, Die Welt, Die Zeit) ist weitgehend bekannt, wie Stellenanzeigen der Wirtschaft, aber auch der Wissenschaft und der öffentlichen Verwaltung im Allgemeinen gestaltet sind. Professionalität, professionelles Auftreten – wie auch immer dieses konkret auszusehen hat – scheint omnipräsent in solchen Medien, aber auch in den Köpfen von Arbeitgebern, von Beschäftigten und Arbeitsuchenden. Diesem Aspekt scheint sich das im Alltag oft beschworene „Vitamin B“ als karriereförderlich hinzuzugesellen. Die „richtigen Kontakte“ haben und pflegen, so lautet mancherorts der Tipp, sei Karriere fördernder als einfach nur „fleißig“ zu sein und auf die Karriere als Belohnung zu hoffen. Soziologisch kann letzteres mit Bourdieus sozialem Kapital aufgegriffen werden. Aber was ist dran an diesen Alltagsweisheiten? Anhand einer explorativen Studie von Stelleninseraten in der FAZ, welche sich im Kern an Suchende für Positionen in Wirtschaftsunternehmen richten, soll folgenden Leitfragen nachgegangen werden:
Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept?
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(a) Welche Anforderungen an Professionalität stellen Organisationen der Wirtschaft in Stellenausschreibungen? (b) Welche Rolle nimmt hierbei das soziale Kapital ein? Bevor hierzu empirische Befunde erörtert (Abschnitt 4) und zusammengefasst werden (Abschnitt 5), ist dem Begriff „Professionalität“ oder in prozessualer Hinsicht dem der „Professionalisierung“ inszenierungstheoretisch nachzugehen, wobei die wesentlichen Momente zu bestimmen sind, die als Karriere fördernd am Arbeitsmarkt gelten und in Stelleninseraten eingefordert werden können (Abschnitt 2). Zudem ist zunächst ebenfalls theoretisch die Rolle des „sozialen Kapitals“ bei der Positionierung auf dem Arbeitsmarkt zu beleuchten bevor ein Blick in die empirische Realität der FAZ erfolgen kann (Abschnitt 3).
2. Inszenierung von Professionalität: Kompetenzdarstellungskompetenz als Erfolgsfaktor Bei Berufen, die regelmäßig in überregionalen Zeitungen ausgeschrieben werden und die in der Regel ein höheres Bildungs- und Ausbildungsniveau erfordern, handelt es sich um inzwischen weitgehend professionalisierte und überwiegend verwissenschaftlichte Berufe (Stehr 2000; Kurz 2000). Was „Professionalität“ im Kern ausmacht, ist jedoch eine ebenso alte wie wiederkehrende Frage der Berufssoziologie,1 aber auch anderer Disziplinen, wie der Berufspädagogik (z.B. Combe/Helsper 1996). Dies liegt entscheidend darin begründet, dass Professionalität weder eine unmittelbar sichtbare Qualität von Akteuren, noch ein historisch fixer Zustand ist, der zum Beispiel bei einer bestimmten Berufsgruppe allein anhand „objektiver“ Kriterien festgestellt werden kann. Vielmehr steht Professionalität für einen über Darstellungen rekonstruierbaren Anspruch, den zum einen die Berufsakteure selbst haben, der zum anderen von außen an die Akteure und an die durch sie vertretene Berufsgruppe heran getragen wird. Inszenierungstheoretisch steht Professionalität damit für ein bestimmtes Darstellungsproblem, das nur deshalb zum Problem wird, weil sowohl auf Akteur- wie auf Systemebene spezifische Erwartungen und relevante „erwartete Erwartungen“ (Luhmann 1969) an die professionstypische Darstellung gebunden sind, ja ihr sogar vorausgehen. Die wesentliche Frage lautet dabei, wie, also mit welchen Mitteln, Methoden und Techniken es einem individuellen oder kollektiven Akteur gelingen kann, dass signifikante Andere ihm Professionalität attestie-
1 Aus soziologisch-systemtheoretischer Sicht sind Professionen verberuflichte Leistungsrollen der Sozialsysteme. Klassisch handelt es sich dabei um Ärzte, Pfarrer, Lehrer etc. Das Wissen der professionellen Praktiker ist „an essential component of the European tradition of science and (…) as an action oriented knowledge system on scientific foundations (i.e. as dogmatics), is fundamental for professional action in the respective function system“(Stichweh 1997a: 97). Allerdings ist es geradezu ein Merkmal der Wissensgesellschaft, dass die besondere professionelle Handlungsweise nicht auf professionelle Berufsgruppen beschränkt bleibt. Die Handlungslogik anderer Experten, Ratgeber, Berater und professioneller Dienstleister basiert ebenso immer weniger auf einer technisch-instrumentellen Anwendung von wissenschaftlichem Regelwissen und immer mehr auf einem Fallverstehen, welches durch Erfahrungswissen und hermeneutische Sensibilität ergänzt wird (Kurz 1998: 110).
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ren. Das heißt, wie kann bei anderen der glaubhafte Eindruck von Professionalität geweckt werden. In dieser Hinsicht ist Pfadenhauer zuzustimmen, die in Anlehnung an Hitzler betont: Entgegen dem strukturfunktionalistischen Verständnis, demzufolge ‚Professionalität‘ ein objektiver Tatbestand auf Grund tatsächlich nachgewiesener Kenntnisse und Fähigkeiten ist und im Wesentlichen auf herausragenden fachlichen Qualifikationen beruht, wird der Professionelle inszenierungstheoretisch (...) vor allem durch seine Kompetenz charakterisiert, von ihm beanspruchte Kompetenzen glaubhaft darzustellen. Inszenierungstheoretisch erscheint, kurz gesagt, ‚Professionalität‘ im Wesentlichen als ‚Kompetenzdarstellungskompetenz‘. (Pfadenhauer 1998: 294f.; vgl. auch Hölscher 2002a: 255-259)
Das Erscheinen als Professioneller, als ein Profi auf seinem Gebiet, also die Beurteilung des Dargestellten als Professionalität ist das Ziel der beruflichen Kompetenz-Inszenierung. In diesem Sinne bezeichnet Professionalisierung auf Akteurebene den Prozess, in dem die notwendige Kompetenzdarstellungskompetenz erlernt, internalisiert und habitualisiert wird. Oft wird auch von einem professionellen Habitus, von Profi-Sprache bzw. Fachjargon geredet, die beobachtbare Resultate der Professionalisierung sind und zugleich Professionalität symbolisieren. Da dieser Prozess nicht auf Einzelne beschränkt bleibt, sondern zu einem partialkollektiven Phänomen wird, das die Angehörigen bestimmter Berufsgruppen betrifft, etabliert sich ein bestimmtes Muster von Professionalität. Zugleich wird hierüber die Ausgestaltung von Professionalität in den entsprechenden Teilen der Wirtschaft institutionalisiert.2 Auf Handlungsebene äußert sich diese Institutionalisierung, der stets Habitualisierungsprozesse vorausgehen, schließlich in der dramaturgischen Darstellung und Aufführung von Professionalität, die alle Beteiligten wechselseitig voneinander erwarten, wobei auch erwartete, also antizipierte Erwartungen erwartet werden. In einer konkreten Handlungssituation beschränken sich die Erwartungen und die antizipierten Erwartungen von und an Professionelle jedoch nicht auf dramaturgische Auf- und Vorführungen ihrer Kompetenzdarstellungskompetenz. Vielmehr muss das Dargestellte mit Substanziellem einhergehen. Damit ist entscheidend, dass die dargestellte Kompetenz nicht als „Schaumschlägerei“ und leeres Versprechen entlarvt wird, sondern (weitgehend) authentisch ist. Dass also die Qualität von versprochenen Leistungen und die damit vorgegebenen Qualifikationen für die Tätigkeit, die als Eindruck über die dramaturgische Inszenierung von Professionalität vermittelt werden sollen, auch eingelöst werden (können). Dies beruht ebenso auf einem sozialen Konsens wie die wechselseitige Erwartung von Kompetenzdarstellungen. Allerdings greift hier zumindest im ersten Zugriff auf Bewerber doch wieder die strukturfunktionalistische Vorstellung von Professionalität, indem in der Regel formale Qualifikationsnachweise eingefordert werden (z.B. Bildungszertifikate, Arbeitszeugnisse). Solchen Forderungen nach substanziellen Leistungsnachweisen liegt das Verständnis von Professionalität zu Grunde, wonach Professionen als solche Berufe gelten, „(...) die über besondere Qualifikations-, Kontroll- und Erwerbschancen und damit verbunden über ein hohes Maß an Ansehen und Einfluss in der Gesellschaft verfügen“ (Pfadenhauer 1998: 292). 2 Hier kann von einer Partial-Verkollektivisierung von berufstypischem Habitus die Rede sein, was den professionellen Habitus als institutionelles Phänomen in Organisationen oder als berufstypisch in Erscheinung treten lässt. Nur so können Ärzte (immer noch) als „Halbgötter in Weiß“ gelten, können sich Klischees über den „typischen Wissenschaftler“ hartnäckig halten, kann das Bild vom Werber als einem „kreativen Lebenskünstler“, der weitgehend autonom im gestalterischen Beruf Erfüllung und Selbstverwirklichung findet, überhaupt zustande kommen (weiterführend Hölscher 2002b).
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In diesem Sinne betont zum Beispiel Parsons (1964b; 1965), dass Professionen eine integrative soziale Funktion erfüllen, die auf Wertverwirklichung, Normenkontrolle und damit auf die Kontrolle der Einhaltung gesellschaftlicher Wertuniversalien abstellt. Solchen strukturfunktionalistischen Modellen zufolge, geht die berufsspezifische Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften auf die Ausdifferenzierung von rational notwendigen Funktionen und Leistungen zurück. Diese werden in entsprechenden Berufspositionen gebündelt, die mit bestimmten Rollenerwartungen und Leistungsanforderungen auf individuelle Berufsakteure übertragen werden. Die Leistungsorientierung und Leistungserbringung wird durch Sozialisation und Internalisierung der berufstypischen Normen und Werte sowie durch (vornehmlich positive) Sanktionen gesichert. Dies erfolgt insbesondere während der Berufsausbildung und -ausübung, worüber schließlich die Habitualisierung der spezifischen Gestalt von Professionalität erfolgt. Die Einhaltung von Professionalität und von professionellem Handeln wird „(...) in einem gewissen Ausmaß durch strukturelle Zwänge gesichert“ (Daheim 1973: 234; vgl. auch Daheim 1967; 1992; Hartmann 1972; Parsons 1964a). Objektive Professionalität kann über formale Kriterien und Zertifikate, wie Zeugnisse, nachgewiesen werden. Entlang der typischen Relevanzstrukturen von Stellenanbietern (Arbeitgeberseite) und (potenziellen) Bewerbern richten sich deren Wahrnehmungen, Deutungen und Bewertungen von solchen substanziellen Leistungen sowie die Selektionskriterien zentral danach aus, ob für die in der Ausschreibung beschriebenen berufstypischen Probleme tatsächlich kompetente Lösungsstrategien verfügbar sind. Solche berufstypischen (z.B. marketingstrategischen) Problemlösungen setzen bestimmte Sonderwissensformen voraus (z.B. Wissen über Marketingtechniken), die auf individueller Bewerberseite wie auf Organisationsseite verfügbar sein müssen (Oevermann 1996; Schütz/Luckmann 1979: 374ff., 382ff.; Berger/Luckmann 1980: z.B. 124f.; Hölscher 1998: 44f.). Auf Basis der „Reziprozität der Perspektiven“, also der menschlichen Grundannahme der „Vertauschbarkeit der Standpunkte und (...) Kongruenz der Relevanzsysteme“ (Schütz/Luckmann 1984: 95) wird den relevanten „erwarteten Erwartungen“ (Luhmann 1969) zwischen inserierenden Firmen und der jeweiligen ArbeitsmarktZielgruppe über die Mittlerinstanz der Stellenanzeigen Ausdruck verliehen. So in Form von reglementierten Stellenbeschreibungen mit Forderungen nach über Zertifikate nachweisbarer Professionalität. Gleichzeitig werden in aller Regel in Stellenausschreibungen gewisse Kompetenzdarstellungskompetenzen auf beiden Seiten erwartet und (ein-)gefordert. Dabei dürfte schnell einleuchten, dass die professionelle Praxis von kognitiv anspruchsvollen Problembewältigungen oft unter Entscheidungsdruck und Zeitknappheit geschieht, weshalb sie immer unter dem Risiko des Misserfolgs stehen. Professionelle müssen sich für eine Lösungsstrategie meist in Situationen der „Ungewissheit“ entscheiden. Dies erfordert von Professionellen subjektive Komponenten, wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikobereitschaft, Verantwortungsübernahme, die in Stellenanzeigen als Persönlichkeitsmerkmale gefordert werden. Solche Persönlichkeitsmerkmale sind aber nicht formal nachweisbar, auch wenn sie in Arbeitszeugnissen manchmal attestiert werden. Spätestens an dieser Stelle setzt die kompetente Kompetenzdarstellung ein. Bei Arbeitgebern, hier den Stellenanbietern, setzt dies das Vertrauen in die authentische Vorführung von Kompetenz voraus. (allgemein dazu u.a. Stichweh 1994: 294f.) Damit sind formale Kriterien meist nur erste Auswahlkriterien, die als Eintrittskarten in bestimmte berufliche Stellungen und Positionen dienen. Im Berufsalltag zählen dann mehr Kriterien der Kompetenz, also der Erfüllung von berufstypischen Anforderungen. Daneben
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gilt bereits in der Bewerbungsphase auf eine Berufsposition, dass das „Sich-Verkaufen-Können“, also die symbolische Kompetenzdarstellungskompetenz entscheidend für die Anstellung sein kann. Erst recht gilt dies für den beruflichen Karriereweg. Diese Notwendigkeit von dramaturgischen Inszenierungen der eigenen Professionalität kann auch als unausgesprochenes, wechselseitig erwartetes Self-Marketing am Arbeitsmarkt und im Berufsleben bezeichnet werden (weiterführend Hölscher 2002a: 40f.). Damit beruhen Strategien des SelfMarketing und die damit einhergehende Kompetenzdarstellungskompetenz auf einem in der Regel unausgesprochenen sozialen Konsens. Das eigentlich Soziale in Stellenanzeigen ist aber das Angebot eines Tausches: Eine bezahlte Stelle gegen ein bestimmtes Professionsprofil. Zweckrationale, strategische Aspekte von marktorientierter Mitarbeiterwerbung sollen mitsamt einem in der Wirtschaft oft geforderten kundenahen Verhalten auf das Handeln in der Berufswelt von Wirtschaftsorganisationen übergehen und ihr ökonomisches Kapital nicht nur sichern, sondern vermehren. Im Gegenzug fordert der Arbeitsmarkt kulturelles Kapital von den Akteuren in Form von Zertifikaten, Wissen und Repräsentationsvermögen. Auch dies scheint immer mehr als Distinktionskriterium zwischen „High Potentials“ und „Low Potentials“ zu fungieren – so ist zumindest als eine These festzuhalten. Allerdings stellt sich die Frage, ob es alleinig das kulturelle Kapital ist, welches als Input der Mitarbeiter in die sie beschäftigende Organisation gefordert wird oder ob das soziale Kapital im Rahmen der Kompetenzdarstellungskompetenz und der Inszenierung von Professionalität unter den heutigen Akteuren im Berufsleben auch etwas gilt; und wenn was?
3. Die Rolle des sozialen Kapitals bei der Positionierung auf dem Arbeitsmarkt Der Handlungsspielraum der Akteure innerhalb des vom Konkurrenzprinzip geprägten, sozialen Feldes Arbeitsmarkt ist von der Verfügungsgewalt über Kapital abhängig, weshalb die Akteure darauf bedacht sind, sich durch Investitionen möglichst viel Kapital anzueignen (Bourdieu 1979: 151f). Dabei ist die verschiedene Verfügungsgewalt der Akteure über ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital und soziales Kapital grundlegend (Bourdieu 1983, 1997b). Erst die Konvertierbarkeit der Kapitalarten macht diese für Bewerber und Arbeitgeber interessant: Ein Bewerber hat etwas (z.B. Bildungstitel und die daran gebundene Erwartung einer berufsadäquaten Qualifikation, im Sinne des kulturellen Kapitals), was ein Arbeitgeber haben möchte und dies kann über Arbeitsvertrag getauscht und in monetäre Entlohnung, die wiederum ersterer anstrebt, umgewandelt werden.3 Jeder, der es auf dem Arbeitsmarkt zu etwas bringen will, der also als „High Potential“ von (potentiellen) Arbeitgebern eingestuft werden will, muss sich dabei an die Regeln der Arbeitgeber halten und im Verteilungskonflikt möglichst viel der „gewünschten“ Kapitalsorte sichern und als bei ihm/ihr im besonderen Maße vorhanden kommunizieren, ganz im Sinne des arbeitsmarktstrategischen Self-Marke-
3 Die Nähe zum Konzept des Humankapitals ist an dieser Stelle unverkennbar (weiterführend Belfield 2000).
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ting. Denn die Verfügungsgewalt eines Akteurs A über eine Kapitalsorte reicht bei diesem Prozess nicht allein aus. Dem jeweilig anvisierten Tauschpartner muss der Tauschakt mit ausgerechnet Akteur A schmackhaft gemacht werden. Hier werden offene Stellen ebenso angepriesen wie sich Bewerber selbst zweckrational in Szene setzen (müssen). Einer häufig zu hörenden These nach ist zu beobachten, dass vor allem „nützliche soziale Netzwerke“, also soziales Kapital ein Türöffner für viele Stellen darstellt. Nicht nur gilt als allgemein bekannt, dass das so genannte „Vitamin B“ für einen Einstieg in eine Organisation sehr hilfreich sein kann, auch organisieren sich zunehmend professionelle Netzwerke, die auf das soziale Kapital als „Schlüsselressource“ setzen. Das bekannteste Netzwerk ist derzeit OpenBC im Internet (jetzt umbenannt in XING), das informelle Kontakte zwischen Geschäftspartnern, Arbeitnehmern und Arbeitssuchenden ermöglichen will. XING selbst versteht sich als professionelles Kontakt-Management und Business-Beschleuniger und weist zeitgleich aus, wer über wie viele Kontakte verfügt. Premium-Mitglieder, die über besonders viele Kontaktbestätigungen verfügen, sind mit viel sozialem Kapital ausgestattet und für weitere Kontaktaufnahmen besonders attraktiv. Soziales Kapital ist insofern nicht an sich Handlungsvermögen, sondern wird auf dem „Markt“ erst über die vielfältigen Möglichkeiten des Transfers in kulturelles und ökonomisches Kapital gewinnbringend und von daher interessant (vgl. Bourdieu 1997). Die Konvertierbarkeit des sozialen Kapitals hat sich in der modernen Gesellschaft, die sich in der Gegenwart oft als „Wissensgesellschaft“ bezeichnet, allerdings verändert.4 Zunächst kann man kaum noch vom sozialen Kapital als einer stilistisch holistischen Größe ausgehen, sondern je nach Erwartungsstrukturen von unterschiedlichen Kapitalbündeln. Da sich die Erwartungsstrukturen der einzelnen Teilsysteme nicht unbedingt aufeinander beziehen, steht der soziale Akteur einer Vielzahl von Lebensbereichen gegenüber. Jeder, der in einem Funktionssystem etwas erreichen will, muss sich auf seine Erwartungsstrukturen berufen. Es sind dezentrierte Bündel an Sozialkapital, welche soziale Akteure mal in diesem, mal in jenem Funktionssystem erfolgreich sein lassen. Beispielsweise kann im Rechtssystem ein privater Kontakt zu Juristen wichtige Informationen bei Schadensfällen liefern und so möglicherweise Laien eine gewinnbringende Klage ermöglichen. Im Sportsystem wiederum kann das soziale Kapital schnell in ökonomisches umgewandelt werden, wenn z.B. beim Fußballtrainer besonders talentierte und viel versprechende Spieler aus der Jugendarbeit kennen und sie nun für den neuen Verein anwerben. Hingegen scheinen für den Arbeitsmarkt diejenigen sozialen Kontakte Erfolg versprechend, die auch etwas zu vergeben haben: das heißt, weitere, für den Arbeitsmarkt relevante soziale Kontakte oder gar Stellen. Damit wird das soziale Kapital in einer ganz neuen Weise ökonomisiert. Nicht mehr der alleinige Besitz von sozialem Kapital, sondern der ökonomische Umsetzungserfolg stellt eine Ressource bei symbolischen Auseinandersetzungen dar. Es zählt der monetäre Profit, der aus 4 In Gegenwartsdiagnosen ist oft die Rede von einer Wissensgesellschaft. In dieser gesellschaftlichen Selbstbeschreibung soll dem Wissen eine erweitere Macht zukommen. Art und Umfang von Wissen sollen maßgeblich an der Organisation sozialer Ungleichheit beteiligt sein, damit an der sozialen Inklusion/Exklusion (dem Eingeschlossensein versus dem Ausgeschlossensein). Der Theorie nach wird das soziale Inklusionspotential von Wissen in den wesentlichen Bereichen der modernen Gesellschaft in Form einer Verwissenschaftlichung aller Handlungs- und Lebensbereiche und über die Technisierung von Wissen begründet (weiterführend vgl. Suchanek 2006; Weingart 2001: 12ff.; Kübler 2005).
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einem sozialen Netzwerk herausgeschlagen werden kann, damit berufliche Karrieren, materieller Reichtum und wirtschaftliche Leistungspotenz im Funktionssystem Wirtschaft gesichert werden können. Dementsprechend zählt in der Kommunikation zwischen den verschiedenen Milieus zwar nach wie vor die Zurschaustellung der Verfügungsgewalt über Kapital, aber zunehmend auch der berufliche Erfolg als ein Indikator für erfolgreiche Transformation der Investitionen in z.B. kulturelles und/oder soziales Kapital (Kraemer 1997; Kraemer/Bittlingmayer 2001). Auch Organisationen bedienen sich vermehrt des sozialen Kapitals ihrer Mitarbeiter, um es zu vermarkten. Ausschlaggebend hierfür ist die Umstrukturierung von Organisationen, die im Zusammenhang mit dem Wandel zur Wissensgesellschaft steht: Die Dezentralisierung und Deterritorialisierung von Produktionsprozessen macht Kooperationen notwendig. Ein Unternehmen kann immer öfter nur konkurrenzfähig bleiben, wenn es zum Netzwerkunternehmen transformiert (Castells 2001). Diese nicht mehr rein vertikal, sondern zudem horizontal gegliederte Unternehmensorganisation ist durch flache Hierarchieebenen, Teamwork und Prozess- statt Aufgabenorientierung zu charakterisieren und soll eine flexiblere Anpassung an sich wandelnde Umweltbedingungen ermöglichen. Wenn Gruppen anstelle von Einzelpersonen Entscheidungen übertragen werden, dann geht man von einigen Annahmen über die Leistungsvorteile von Gruppen aus gegenüber Einzelpersonen, die aus der sozialpsychologischen Forschung stammen. Aus dieser Forschung ist bekannt, dass der Leistungsvorteil von Gruppen gegenüber einzelnen in folgenden Leistungen liegt (…): 1. Leistungen vom Typus des Hebens und Tragens: Kräftesummation, Aggregationseffekt, (…). 2. Leistungen des Typus des Suchens: Überall dort, wo bestimmte Mittel, Wege oder Lösungen gesucht werden können, steigt die Wahrscheinlichkeit ‚richtiger‘ Lösungen und richtiger Wege mit der Zahl der Gruppenteilnehmer an. (…) Einzelpersonen ‚irren‘ häufiger. 3. Leistungen vom Typus des Bestimmens: In den meisten Fällen, in denen Entscheidungen in Bezug auf die Umweltsituation gefunden werden müssen, gibt es keine so genannten richtigen Lösungen, sondern allenfalls Approximationen, die sich im Nachhinein als nicht falsch erweisen. Gruppen haben hier den Vorteil, Fehlentscheidungen zu minimieren und Lösungen zu setzen, die anschließend von allen Mitgliedern getragen werden. (Lange 1989: 155f.)
Parallel zur Ausdifferenzierung von Produktmärkten und Marktnischen wie zur Ausdifferenzierung von Zielgruppen, die immer detaillierter zu erfassen und zu analysieren gesucht werden, wird seit vielen Jahren eine stärkere Notwendigkeit der Kundennähe propagiert. Dies hat solche unternehmensinternen Restrukturierungsprozesse befördert, deren (Zwischen)Resultate heute häufig mit Netzwerkunternehmen tituliert werden. Konzipiert für einen relativ stabilen Absatzmarkt weitgehend homogener Massengüter wird die traditionelle Arbeitsorganisation heute konfrontiert mit einem qualitativ neuen Nachfragermarkt, dessen Flexibilitätsansprüche ein Mehr an Qualität, Termingenauigkeit, Produktdiversifikation und Kundennähe einfordern. (Brinkmann/Skrotzki 1994: 91)
Das heißt, Kooperationen zwischen den einzelnen Abteilungen und Teams sowie Kontakte zur Außenwelt der Organisation sind in einem Netzwerkunternehmen ein zentraler Faktor des Kommunikations- und Informationsflusses. Professionelle Netzwerkarbeit wird auf zwei Ebenen immer wichtiger: Organisationen mit flachen Hierarchien sind zunächst immer mehr auf die Kommunikation untereinander angewiesen. Bezeichnend ist, dass es in diesem Zusammenhang z.B.
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bei Bertelsmann (Gütersloh) den neuen Beruf „Schnittstellenmanager“ gibt. Darüber hinaus wird Netzwerkarbeit bei der Kopplung zwischen Organisation und Umwelt wichtiger, denn multinationale Unternehmen sind auf Kooperationen zu ihren Dependancen angewiesen und Kunden müssen emotionaler an Produkte oder Dienstleistungen gebunden werden. Soziales Kapital wird stärker für Kooperationen, die Anknüpfung von engen Kontakten, Vertrauen sowie die Pflege von dauerhaften Geschäftsbindungen herangezogen. Nach Hardt/Negri (2002) ziehe insbesondere die Computerisierung immaterielle Arbeit nach sich, welche auf Sozialkapital immer stärker zurückgreife. Denn immaterielle Arbeit ist zunächst affektive Arbeit, sie bezieht sich auf die Herstellung von zwischenmenschlichen Kontakten und Interaktionen, die ihrerseits Gefühle der Zufriedenheit, des Wohlergehens, der Befriedigung etc. erzeugen. Das zielgerichtete „professionelle“ sich in Szene setzen der Akteure kommt hierbei in spezieller Hinsicht zum tragen. Hier geht es um die Handhabung von Affekten, denn affektive Arbeit produziert soziale Netzwerke, Formen von Gemeinschaften und der Biomacht, sodass die Produktion um die Komplexität der menschlichen Interaktion bereichert wird (Hardt/Negri 2002: 305). Für den (potentiellen) Bewerber bedeutet dies, dass die Darstellung seines Bündels an sozialem Kapital bzw. die Kompetenz, soziales Kapital anzuwerben, immer wichtiger erscheint, um sich auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren. Die Zurschaustellung und das gezielte in Szene setzen von sozialen Kompetenzen wie Verhandlungssicherheit und Kommunikationsstärke oder etwa eines beruflichen Netzwerkes, das bestenfalls für den potentiellen Arbeitgeber genutzt werden könnte, kann im Bewerbungsprozess den entscheidenden Vorteil darstellen, um sich gegen Mitkonkurrenten durchzusetzen. Wie sich Professionalität auf dem Arbeitsmarkt im Genaueren über soziales Kapital konstituiert und welche symbolischen Kompetenzdarstellungen von Arbeitgebern eingefordert werden, ist allerdings kaum erforscht. Im Folgenden werden deshalb mit Blick auf die einleitend formulierten Leitfragen ausgewählte Befunde einer explorativen Stellenanzeigenanalyse vorgestellt, die die obigen Überlegungen empirisch unterfüttern.
4. Anforderungen der Wirtschaft an Professionalität und soziales Kapital 4.1 Design der explorativen Studie Eine empirische Exploration soll im Folgenden Anhaltspunkte dafür liefern, welche Anforderungen, im Sinne von angezeigten Rekrutierungsmustern, für eine Stellenbesetzung von Wirtschaftsorganisationen gestellt werden. Den Ausführungen liegt dabei ein Auszug des empirischen Materials und ein Teildatensatz zu Grunde, die aus der von Suchanek (2006) durchgeführten, umfassenderen Studie zum sozial inklusiven Wissen im deutsch-polnischen Vergleich stammen. In den vorliegenden Beitrag gehen nur Daten und empirische Materialien für Deutschland ein, die mit Blick auf die hier anders gelagerten Leitfragen relevant sind und sekundäranalytisch reinterpretiert werden. Bei der Frage danach, welche Professionalitätsprofile von Organisationen gefordert werden, sind sicherlich die Eintrittskriterien aufschlussreich, die Organisationen in Stelleninseraten formulieren. Stellenanzeigen sind als soziologisches Erhebungsinstrument zwar wenig erprobt,
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für die vorliegende Problemstellung aber prädestiniert: Sie geben das für die Stellenbesetzung erwünschte Qualifikations- bzw. Professionalitätsprofil an. Hier spiegelt sich der von Suchprozessen des Arbeitsmarktes unabhängige Bedarf wider. In ihnen drücken sich klar die von Organisationen gestellten idealtypischen Eintrittsbedingungen für eine Mitgliedschaft aus. Das Besondere an Stelleninseraten ist ihre antizipatorische Ausrichtung (Hölscher 2002a: 254; Hölscher 2002b), sie fragen komprimiert jenes Wissensprofil nach, das von Organisationen als besonders wichtig und zukunftsträchtig erachtet wird. In Stelleninseraten drücken sich komprimiert die in Organisationen vorherrschenden Werte, Normen und Leitideen aus, deren Einhaltung und Internalisierung idealtypisch von (potenziellen) Mitarbeiter/innen gefordert wird. Die Studie basiert auf einem zweistufigen Auswahlverfahren von Stellenanzeigen. Auf Grund der geringen Fallzahlen (n=287) wird hier kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben, vielmehr handelt es sich um eine empirische Exploration. Die Auswahl der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) folgt der Überlegung, dass die so genannten Wissensarbeiter und High Potentials eher überregional gesucht werden. Die erste Ausgabe der FAZ erschien am 01.11.1949. Seitdem konnte sich die FAZ im Vergleich zu anderen überregionalen Zeitungen als auflagenstärkste Zeitung profilieren. Samstags erscheint die in Deutschland größte überregionale Stellenanzeigenbeilage, wobei die Auflagenhöhe deutlich ansteigt. Eine von der FAZ durchgeführte Leseranalyse zeigt, dass vor allem Selbstständige, Freiberufler, Angestellte und Beamte in leitenden Funktionen das Medium FAZ nutzen. Mit einer Reichweite von 247.000 Lesern in diesem Segment ist die FAZ Marktführer. Für den angestrebten Zeitvergleich werden das markante Jahr 1989 und das zum Zeitpunkt der Erhebung aktuelle Jahr 2002 festgelegt. Bei der Sichtung des Gesamtmaterials konnten keine besonderen Diskrepanzen zwischen den Inseraten der einzelnen Ausgaben beider Jahre festgestellt werden. Daher wurde bei der ersten Auswahlstufe zufällig je eine Zeitung für 1989 und 2002 gezogen. Sodann wurde systematisch jedes dritte Inserat aus diesen Zeitungen erhoben. Die Analyseeinheit ist die angebotene Stelle. Die Erhebung fand entlang von Ausschlusskriterien statt. Nicht berücksichtigt wurden: Lehrstellenangebote (Trainees, Volontäre wurden erfasst), geringfügige Beschäftigungen wie 325,- Euro-Jobs, Stellenangebote mit bis zu 19 Stunden pro Woche, Aushilfstätigkeiten ohne Dauercharakter, freie Mitarbeit auf Honorarbasis, Gesuche an Nichtarbeitnehmer (wie Geschäftspartner, Subunternehmer, Franchisenehmer), alle Anzeigen, in denen Privathaushalte als Arbeitgeber auftreten, Stelleninserate außerhalb Deutschlands, nichtinformative Stelleninserate. Informative Inserate enthalten über der Angabe des Berufs hinaus weitere Konkretisierungen der Qualifikationsanforderungen. Die Stelleninserate wurden mittels einer Inhaltsanalyse erfasst, konkret wurde auf der semantisch-semantischen Ebene die Themenanalyse verfolgt. Die strukturierte Themenanalyse basiert auf einem abstrakten Klassifikationsschema. Maßgeblich ist hier ein eigens entwickeltes Kodierbuch mit ergänzenden Kategorien, das für jede Variable vorgegebene Kodes und Anweisungen enthält, nach denen verschlüsselt wird.5 Ergänzend wurden die Anzeigen
5 Um ein möglichst valides Erhebungsinstruments zu entwickeln, erfolgte die Konstruktion zunächst theoriegeleitet, wobei aus dem Datenmaterial sukzessiv Kategorien ergänzt wurden. Ein Pretest, der mit Hilfe einer zweiten Stichprobe das Kategoriensystem auf Konsistenz und Vollständigkeit prüfte, diente zur Modifizierung und Optimierung des Erhebungsinstruments. Mittels der Test-Retest-Methode konnte eine sehr hohe Übereinstimmung der Reliabilität festgestellt werden.
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einer interpretativ-sinnverstehenden Themenanalyse unterzogen, um wichtige Hinweise auf tiefer liegende Strukturen zu erhalten.6 Zentral für die Analyse ist die Konstruktion von Idealtypen. Um das empirische Material zu verdichten, wurden im Sinne von Max Weber (1904) Idealtypen des nachgefragten Professionalitätsprofils gebildet. Bei den identifizierten Wissenstypen handelt es sich somit um Abstraktionen des empirisch nachgefragten Wissensprofils in Stelleninseraten. Die Abstrahierung des Datenmaterials zu Typen erfolgte zunächst intuitiv. Durch anschließende Substruktion wurde der ihnen zu Grunde liegende Merkmalsraum rekonstruiert (vgl. Kluge 1999: 104ff). Idealtypen ermöglichen es, kulturelle Schemata, die sehr komplex sind, zu veranschaulichen. Sie sind verdichtete Ausdrucksmittel, „theoretische Konstruktionen unter illustrativer Benutzung des Empirischen“ (Weber 1904: 205). Im Folgenden werden, mit Blick auf die einleitend formulierten Fragen, ausgewählte Befunde zu den vorgefundenen Professionalitätstypen und der Bedeutung von sozialem Kapital als Erfolgsfaktor auf dem Arbeitsmarkt vorgestellt.
4.2 Befunde Insgesamt können neun Wissenstypen identifiziert werden, die jeweils besondere Werte- und Normenmuster sowie Leitideen von Wirtschaftsorganisationen zum Ausdruck bringen und hier speziell als Professionalitätsprofile in Stellenanzeigen nachgefragt werden. Auf dem gegenwärtigen Arbeitsmarkt erscheinen allerdings nicht alle Wissenstypen Erfolg versprechend, die in Inseraten gefordert werden, sondern diejenigen, die entweder im Vergleich zu den anderen Wissenstypen besonders häufig oder jene, die zwischen 1989 und 2002 deutlich häufiger nachgefragt werden. Erstere können als konstant zentrale Professionalitätsprofile und Zweitgenannte als im Trend wichtiger werdende interpretiert werden. Aus Abb. 1 geht hervor, dass in der arbeitsmarktspezifischen Organisationskommunikation mehr als die Hälfte der empirisch vorgefundenen Wissenstypen häufiger nachgefragt werden.7
6 Zur Inhaltsanalyse vgl. Lamnek 1989; Merten 1995; Brosius/Koschel 2003. 7 Als Indikator werden die Häufigkeiten der nachgefragten Wissenstypen in Stelleninseraten der FAZ in den Jahren 1989 und 2002 gegenübergestellt. Da die vorliegende Studie keinen Anspruch auf Repräsentativität hat und es nicht um die Identifizierung der von in Zahlen ausgedrückten Zu- oder Abnahmen des nachgefragten Wissens geht, sondern um die Abbildung von Trends, werden die Befunde abstrakt entlang von zwei Achsen abgebildet, um relevante Gruppen von Wissen sichtbar zu machen, die als sozial inklusives Wissen bezeichnet werden können. Die eine Achse hält die Zu- oder Abnahme der einzelnen Wissenstypen zwischen den Jahren 1989 und 2002 fest und bildet somit den Trend ab, die andere Achse sortiert die Wissenstypen nach ihrer Präsenz im Jahr 2002 ein.
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Abb. 1: Trend der nachgefragten Wissenstypen in der FAZ zwischen 1989 und 2002
Zunächst ist beim unteren Cluster (I) zu ersehen, dass im Zeitverlauf der Internationale und der Führende Wissenstyp weniger, der Innovative Wissenstyp fast genauso häufig nachgefragt werden. Der Internationale Wissenstyp umfasst dabei im Kern jenes Wissen, das den internationalen Anschluss von Kommunikation ermöglichen soll und von daher dem „Zeitgeist“ der zunehmenden Transnationalisierung von Wissen sowie den Schlagworten der Globalisierung und der Global Players folgt (u.a. Kübler 2005: 34, 160ff.). Gefordert werden vor allem Sprachkompetenzen und interkulturelles Handlungsvermögen. Dass dieser Wissenstyp mit
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abnehmender Tendenz in Stellenanzeigen explizit gefordert wird, kann sicherlich nicht als dessen verminderte Relevanz für den Arbeitsmarkt gedeutet werden. Vielmehr mag dies daran liegen, dass ein derartiges Professionalitätsprofil inzwischen als eine gewisse Selbstverständlichkeit vorausgesetzt wird. Das heißt, Arbeitgeber erwarten, dass das Wissen hierüber bei Bewerbern vorhanden ist. Zeitgleich wird dieser Wissenstyp im Zeitvergleich weniger über Sprachkompetenzen und zunehmend über interkulturelle Kompetenzen, die möglichst durch Auslandsaufenthalte und –praktika belegt sind, kommuniziert, was auf eine Anhebung des geforderten Niveaus an transnationale Kompetenzen hinweist. Der Führende Wissenstyp verdichtet dagegen Anforderungen, die das Management von Aufgaben und Mitarbeitern umfassen, wobei der „richtige“ Habitus mitsamt der „geeigneten“ Kompetenzdarstellungskompetenz relevant wird. Verlangt werden Führungsqualitäten und Steuerungsvermögen, es geht vor allem um das Ausschöpfen des Humankapitals durch eine motivierende Leitung. Berufspositionen, die solche Kompetenzen verlangen, sind nicht expansiv, sondern limitiert, was die abnehmende Tendenz der Forderung dieses Professionalitätsprofils im Zeithorizont plausibilisieren kann. Der Innovative Wissenstyp umfasst jene Wissensprozesse, die Ideen, Kreativität, Gestaltung und Veränderung initiieren. Insgesamt handelt es bei den in diesem Cluster idealtypisch geforderten Kriterien weniger um solche, die allesamt über Zertifikate gut prüfbar wären, sondern um jene, die eher im Berufsalltag und zuvor im persönlichen Auftritt beim Bewerbungsgespräch beobachtbar werden. Die Kommunikation solcher Kriterien erfordert während des gesamten Bewerbungsprozesses im besonderen Maße die Kompetenz der gezielten Kompetenzdarstellung. Da der Professionelle Wissenstyp, der im Gesamtbild abseits aller anderen steht, zwar deutlich häufiger, aber dennoch insgesamt auf geringem Niveau nachgefragt wird, wird er hier nur kurz umrissen. Dieser Typus bezieht sich auf die Ausweitung der professionellen Handlungsweise auf nicht-professionelle Berufsgruppen. Es geht um Eingriffe in das personale System, wobei ein negativer in einen positiven Wert überführt werden soll. Ein Beispiel ist der betriebliche Weiterbildner oder der Unternehmenscoach. Diese Professionsprofile werden auf dem Arbeitsmarkt im direkten Vergleich mit anderen Wissenstypen weniger und im Zeitvergleich teilweise abnehmend häufig kommuniziert. Erfolg versprechender scheinen deshalb diejenigen Wissenstypen zu sein, die in den anderen Clustern abgebildet sind. Im mittleren Cluster (II) werden dagegen der Medienkompetente, der Forschende und der Interdisziplinäre Wissenstyp häufiger und vermehrt nachgefragt werden. Beim Medienkompetenten Wissenstyp handelt es sich vor allem um den kompetenten Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien. Viele Tätigkeiten machen den Umgang mit neuen Medien erforderlich: z.B. zeichnen Architekten und Maschinenbau-Ingenieur nicht mehr am Reißbrett, sondern mit CAD. Im Interdisziplinären Wissenstyp wird das nachgefragte Wissen aus traditionell verschiedenen Disziplinen verdichtet. Dieser Typus bildet eine Art Schnittstellenfunktion zwischen traditionell unterschiedlichen Disziplinen und stellt idealtypisch auf generalisiertes Wissen und generalisierte Handlungskompetenzen ab. Im Forschenden Wissenstyp werden wiederum jene Anforderungen zusammengefasst, die den Entwurf systematischer Handlungsstrategien durch Forschung und Entwicklung ermöglichen sollen. Mit Forschungswissen kann eine Organisation Informationen über die Umwelt gewinnen (z.B. Marktforschung) oder selbst Produkte entwickeln (Stichwort: immaterielle Produktion). In Inseraten werden u.a. wissenschaftliche Qualifikationen, Forschungserfahrungen und fun-
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dierte Methodenkenntnisse nachgefragt. Diese Professionalitätsprofile greifen zentrale Qualifikationsanforderungen auf, die im Zusammenhang mit dem Thema Wissensgesellschaft thematisiert werden: Medienkompetenz, Forschungswissen und Interdisziplinarität (Suchanek 2006). Insgesamt erfordern auch diese Wissenstypen ein hohes Maß an Kompetenzdarstellungskompetenz. Jedoch können hier, besser als im Vergleich zum unteren Cluster I, gut prüfbare Zertifikate des Bildungs- und Ausbildungssystems, also zertifiziertes kulturelles Kapital unterstützend wirksam werden. Im oberen Cluster (III) werden indes vor allem zwei Wissenstypen besonders oft gefordert: der Selbstmanagende und der Vernetzende Wissenstyp. Beide spielen im Vergleich zu den anderen Wissenstypen eine konstant Erfolg versprechende Rolle auf dem Arbeitsmarkt. Diese Professionalitätsprofile ökonomisieren die Person, indem Forderungen in der Hinsicht aufgestellt werden, dass das (künftige) Organisationsmitglied seine hedonistischen, trägen und launischen Seiten den ökonomischen Prozessen und Notwendigkeiten unterordnet. Der Selbstmanagende Wissenstyp steht für das Management des eigenen Wissens sowie das persönliche Disziplinverhalten, zudem verweisen Komponenten auf erwünschtes kulturelles Kapital. Gehobene Umgangsformen, der gute Ton und ein niveauvolles persönliches Format sind formulierte Eintrittskriterien und „feine Unterschiede“ (Bourdieu 1987a), die der Organisation ökonomische Vorteile bringen sollen, sei es durch die Funktion eines milieuinternen Wahrnehmungsfilters unter Managern oder mittels der Rolle des Repräsentanten gegenüber der Umwelt der Organisation. Der „richtige“ Habitus kann einer Organisation entscheidende Wettbewerbsvorteile bringen. Beim Vernetzenden Wissenstyp handelt es sich wiederum um Eintrittsbedingungen, die den Aufbau von Netzwerken zu Mitgliedern anderer Organisationen, zu Kunden oder die Kommunikation in der eigenen Organisation betreffen. In Stelleninseraten wird gefordert, dass die (zukünftigen) Organisationsmitglieder Netzwerke mit Geschick und Diplomatie knüpfen können. Dieser Wissenstyp entspricht in etwa dem Wissen, das Bourdieu (1983, 1987a, 1997b) als soziales Kapital definiert. Bei diesem Typus wird besonders deutlich, dass Wirtschaftsunternehmen sogar explizit soziale Netzwerkbildungen, also die Kompetenz soziales Kapital auf- und auszubauen, von (künftigen) Mitarbeitern einfordern. Mit solchen Forderungen geht nicht nur eine verstärkte Nachfrage nach dramaturgischen Kompetenzen einher, sondern es wird auch wird ein stärkerer Rückgriff auf die Person vorgenommen, als dies eigentlich für eine Mitgliedschaft in einer Organisation vorgesehen ist (Luhmann 2000, Drepper 2003). Der Vernetzende Wissenstyp ist ein besonders plakatives Beispiel dafür, dass Wirtschaftsorganisationen einen stärkeren Rückgriff auf die Person des (potentiellen) Mitarbeiters vornehmen. Zumeist wird Vernetzungswissen über Erwartungserwartungen kommuniziert. Das heißt, über die Beschreibung der Aufgabenstellungen, die zukünftig zu bewältigen sein werden. Zu nennen sind hier die Netzwerkpflege, das Schnittstellenmanagement und eine Kundenorientierte Arbeitsweise. Als Erwartung werden vor allem „Interpersonale Fähigkeiten“ formuliert. Abb. 2 verdeutlicht, wie sich die nachgefragten Kategorien zur Umschreibung des Vernetzenden Wissenstypus zwischen den Jahren 1989 und 2002 in Inseraten der FAZ verändert haben.
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Abb. 2: Merkmalsraum des Vernetzenden Wissenstyps in Stellenanzeigen der FAZ (Mehrfachnennungen)
Seltener wird vor allem die Netzwerkpflege (-21,4%) erwähnt. Der Kontaktaufbau zu anderen Organisation oder Institutionen bzw. zu deren Vertretern scheint in Inseraten der FAZ im Trend eine abnehmende Rolle zu spielen. Zumeist handelt es sich hierbei um den Aufbau und die Pflege von Netzwerken, um „Vertragsführungen“, „Verhandlungen mit Zulieferern, Planern, Architekten, Produzenten“ bzw. „die Zusammenarbeit mit (Vertretern von) anderen Organisationen“, die für den eigenen Produktionsprozess oder für die angebotene Dienstleistung von Interesse sind. Häufig handelt es sich bei der Netzwerkpflege um die Steuerung von Informationen. Es werden „Kooperationen mit der Presse“ oder die „Zusammenarbeit mit Agenturen und Marktforschungsinstituten“ thematisiert. Andere wünschen den „Wissensaustausch mit externen Einrichtungen“, die in Ausschreibungen jedoch selten näher benannt werden. Relativ konstant geblieben ist die Einforderung von Kriterien des Schnittstellenmanagements (-0,3%), welches sich als Kommunikationsbrücke innerhalb der Organisation als „Vernetzung von einzelnen Abteilungen“, „Funktionsbereichen“ oder als „intensive Kommunikation mit allen Stellen des Hauses“ veranschaulichen lässt. Als zentral wird der Austausch von Informationen über den Stand der Arbeit in angrenzenden Abteilungen erachtet. Versinnbildlicht wird die organisationsinterne Vernetzungsfunktion durch die Semantiken „Schnittstellenfunktion“, „Schnittstellenbetreuung“ und „Kommunikationsbrücke“. Anscheinend räumen Organisationen den Kommunikationsprozessen innerhalb der Organisation mehr Priorität ein als der Netzwerkpflege außerhalb der Organisation. Dieses Bild verkehrt sich indes, wenn man die Kundensemantik hinzuzieht.
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Die kundenorientierte Arbeitsweise („Customizing“) wird in Inseraten zunehmend thematisiert (+18,4%). Hierzu gehört die „Akquise von Kunden“, die „Betreuung von Stammkunden und deren Beratung“. Nicht selten wird der Kundenkreis noch einmal spezifiziert, insbesondere wenn es sich um bekannte Firmen handelt und die Namen gleichzeitig als Werbung oder PR für das Unternehmen dienen können. Besonderes Gewicht wird der Kundenorientierung verliehen, wenn von „Kundenbetreuung als wichtigste Priorität“ gesprochen wird. Meist ist dies der Fall, wenn es sich um anspruchsvolle und finanzkräftige Kunden handelt, oft auch als „Schlüsselkunden“ bezeichnet. Spätestens dann wird Wert auf die Qualität der Kundenberatung gelegt, indem „Klientenanforderungen fundiert analysiert werden“, eine „umfassende Betreuung von Privatkunden“ stattfindet und die Profilierung des (zukünftigen) Organisationsmitglieds „als kompetenter Gesprächspartner für den anspruchsvollen Kundenkreis“ bzw. die „persönliche Betreuung vermögender Privatkunden“ erwartet wird. In der Kundensemantik wird das Wirtschaftliche latent gehalten. Im Vordergrund steht angeblich nicht der Vermarktungsaspekt, sondern die „persönliche Beziehung zum Kunden“. In diesem Sinne geht es darum, den „Aufbau eines vertrauensbildenden Dialogs mit Kunden“ voranzutreiben. Kundenorientierung wird darüber hinaus als ganzheitliches Managementkonzept oder als eine Philosophie der Organisation gehandelt. Slogans wie „fundierte anwendungstechnische Beratung von Kunden ist das A und O“ oder „ideale Voraussetzungen bringen Sie mit, wenn Sie Kundenbegeisterung nicht als Schlagwort, sondern als Schlüssel Ihres persönlichen Erfolges verstehen“ zeigen, wie weit reichend die Kundensemantik Organisationen durchdringt. Eine zunehmend gewichtige Rolle spielen in Inseraten der FAZ des Weiteren Interpersonale Fähigkeiten (+21%). Der Katalog dieser ist schier unendlich. Wiederholt werden jedoch „kommunikative Fähigkeiten“ eingefordert, hierzu gehören „Kommunikationsstärke“, „Kontaktfreude“, „Einfühlungsvermögen“, „Partnerschaftlichkeit“, „ausgleichendes Verhalten“, „Kooperationskompetenzen“, „Konsenzfähigkeit“ sowie „Diplomatie“. Großer Beliebtheit erfreut sich zudem das „Verhandlungsgeschick“. Hierunter sind die „Sicherheit in Vertragsverhandlungen“ und der „kompetente Umgang mit Konflikten“ zu verstehen. Insgesamt schlägt sich im Vernetzenden Wissenstyp eine Dynamisierung von Professionalität nieder. Es wird weniger das Berufswissen um interne und externe Kommunikationen nachgefragt (vor allem organisationsinterne Netzwerkpflege, Schnittstellenmanagement). Hingegen werden interpersonale Fähigkeiten und die Kunst, Kunden emotional zu binden, zunehmend eingefordert (Kundenorientierung und Kundenbindung, im Sinne einer mehr externen Netzwerkpflege). Dieser stärkere Zugriff auf die Person konzentriert sich vor allem auf das soziale Kapital des (zukünftigen) Organisationsmitglieds, nämlich die Fähigkeiten zur interpersonalen Netzwerkpflege.
Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept?
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5. Fazit Auf der Folie, dass der Arbeitsmarkt, ähnlich dem Gütermarkt, im Kern aus Konkurrenzbeziehungen zwischen den verschiedenen Anbietern von Arbeitskraft wie zwischen den verschiedenen Anbietern von Arbeitsplätzen sowie einem grundsätzlichen Machtgefälle zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten besteht, wurden folgende Leitfragen an Hand einer empirischen Studie betrachtet: (a) Welche Anforderungen an Professionalität stellen Wirtschaftsorganisationen in Stellenausschreibungen, die in der FAZ, als einem für die Akteure relevanten Stellen-Marktplatz, inseriert werden? (b) Welche Rolle nimmt hierbei das soziale Kapital ein? Allen in Stelleninseraten der FAZ identifizierten Professionalitätsprofilen ist gemeinsam, dass sich die Tendenz eines stärkeren Rückgriffs auf die Person abzeichnet, wobei Eigenschaften, Attribute und Qualitäten der Person und der Persönlichkeit, damit eben auch erworbene, nicht wirklich zertifizierbare Kompetenzen im Vordergrund stehen. Ihren Höhepunkt findet diese Tendenz in der vermehrten Nachfrage nach Vernetzungswissen und der Fähigkeit soziales Kapital im Sinne des Unternehmens auf- und auszubauen. Diese Kompetenzen sollen sich vor allem auf den Absatzmarkt des Unternehmens beziehen. Es geht also ganz zentral um Kundennähe und Kundenbindung, also um den Auf- und Ausbau sowie die Pflege absatzmarktrelevanter Netzwerke sozialer Beziehungen. Betroffene Berufe sind klassischerweise Ein- und Verkäufer von Handelsketten und allen Industriezweigen, Zwischenhändler, aber auch das Personal der Dienstleistungs- und Versicherungsbranche sowie die Mitarbeiter in Marketing und Marktforschung. Hier ist die Fähigkeit gefragt, zielorientiert und zweckrational „emotionale Bindungen“ herzustellen und zu pflegen. Ob Bourdieu (1983, 1997b) seine Interpretationen des sozialen Kapitals allerdings derart weit reichend gemeint hat, wie dies nun im Rekrutierungsprozess von Arbeitgebern eingefordert wird, kann und soll an dieser nicht abschließend geklärt werden. Entgegen im Alltag vielleicht noch immer nachhallenden Vorstellungen werden der Führende und der Innovative Wissenstyp im Vergleich zu den anderen Wissenstypen tendenziell seltener nachgefragt. Die explizite Einforderung des Führenden Wissenstyps hat in den analysierten Stellenanzeigen der FAZ sogar im Zeitverlauf relativ abgenommen. Vielmehr fallen in den Ausschreibungen dann schon die Forderungen nach Selbstmanagement insofern auf, dass im Zeitverlauf eine zunehmende Dynamisierung von Wissen („lebenslanges Lernen“) zu beobachten ist. Beim Rekrutierungsprozess wird von Arbeitgeberseite bereits in den Stelleninseraten auf die zunehmende Verlagerung der Kontrolle und Führung vom Vorgesetzten auf die Mitarbeiter hingewiesen, so wie dies in der Literatur unter dem Stichwort „Arbeitskraftunternehmer“ (Voss/Pongratz 1998) verhandelt wird. Festzuhalten ist also, dass von Arbeitgeberseite in Stelleninseraten vor allem Professionalitätsprofile für jene Stellensuchenden gezeichnet werden, die mit besonderen „cultural attitudes“ (Bell 1981), einer guten Ausbildung, hohem technischen Vermögen, Forschungsbefähigung und gewissen Medienkompetenzen sowie der Ambition zum lebenslangen Lernen aufwarten können. Diese Bilder von „High Potentials“ sollen von besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen auf dem Gebiet des sozialen Kapitals, also von Fähigkeiten des Bewerbers zur „sozialen Netzwerkarbeit“, aber auch zum „Selbstmanagement“ flankiert werden. Alle
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genannten Faktoren sollen zudem „irgendwie“ vom Bewerber nachgewiesen werden. Nur wie dieser Nachweis konkret aussehen soll, bleibt in der Regel doch dem Eindruck des Vorstellungsgesprächs und der Bewährungsprobe im Alltagsgeschäft und damit immer auch der zielsicheren Kompetenzdarstellungskompetenz vorbehalten: dass heißt, dem Self-Marketing, also dem zweckrationalen sich-in-Szene-setzen eines Bewerbers und späteren Mitarbeiters und zwar in jedweder Hinsicht.
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Professionalität und soziales Kapital als Erfolgsrezept?
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Terrorismus als Performanz Bernhard Giesen
Wir haben erlebt, wie mit dem Fall der Twin Towers, mit den Ereignissen in Bezlan und im Irak, unsere politischen Mythen umgeschrieben werden mussten. Der Konflikt zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist beendet. Es geht nicht länger um eine Frontstellung, die aus Ideologien oder der Rivalität zwischen ebenbürtigen Weltreichen erwächst, wie es bei den USA und der Sowjetunion für Jahrzehnte der Fall war. Der Charakter kriegerischer Gewalt hat sich grundlegend geändert. An die Stelle symmetrischer Konflikte, bei denen sich ebenbürtige Gegner gegenübertraten, treten zunehmend asymmetrische Konflikte (Münkler 2006), deren wichtigster wohl der zwischen Rechtsordnung und Terrorismus ist. Der Unterschied zwischen dem Terrorismus und den traditionellen Kriegen liegt nicht nur in seinen Opfern – Zivilisten statt Soldaten – sondern auch in seiner militärischen Strategie und den Bedingungen des Erfolgs. Terroristen bleiben unsichtbar und unerkannt bis zum Moment des Angriffs. Sie verfügen zumeist nur über einfache, kostengünstige Waffen, die sie allerdings mit größter persönlicher Entschlossenheit einsetzen. Sie unterscheiden sich damit von regulären Armeen, die ihre Soldaten mit militärischer Disziplin zum Angriff motivieren und teure, hochtechnische Waffen benutzen. Nur bei einem klaren militärischen Sieg kann die Armee eines demokratischen Systems als erfolgreich gelten, und dieser Sieg muss vor den Augen der Öffentlichkeit und unter Beachtung der Menschenrechte stattfinden, um Anerkennung zu finden. Im Vergleich zu solchen Militäroperationen sind terroristische Anschläge selbst dann erfolgreich, wenn sie ihr vorgebliches Ziel gar nicht treffen. Es spielt fast keine Rolle, wie viele Opfer ein Anschlag fordert oder welche Mittel verwendet werden. Der Terrorismus an sich ist natürlich keine neue Erfindung. Seit den Anfängen des modernen Rechtsstaates gehört dieses Phänomen der politischen Gewalt zum Repertoire all jener, die für sich sonst keine Möglichkeit sehen, etwas zu bewegen. Dennoch haben wir uns an terroristische Anschläge nicht gewöhnen können. Jeder Anschlag ist eine traumatische, schockierende Erfahrung, die in der Weltöffentlichkeit ihre Spuren hinterlässt. Obwohl der Terrorismus auch heute noch in Europa seine Opfer fordert, sei es durch die Rote Brigade in Italien, die ETA in Spanien oder die IRA in Irland, so ist die Zahl der Toten, die auf terroristische Anschläge zurückzuführen sind, doch wesentlich geringer als die Zahl jener, die ihr Leben bei Unfällen oder durch Krebserkrankungen verlieren. Warum also ist der Terrorismus für die Öffentlichkeit so ungleich interessanter?
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Die wohl häufigste Antwort auf diese Frage verweist die symbolische Bedeutung des Terroraktes. Der Terrorismus stellt die Legitimation des Staates selbst in Frage. Anders als ein Mord, der zwar gegen die Gesetze verstößt, sich aber nur gegen einen bestimmten Menschen wendet, richtet sich die Gewalt der Terroristen direkt gegen die Glaubwürdigkeit des Staates als Inhaber des Gewaltmonopols und als Schutzmacht seiner Bürger gegen Feinde innerhalb und außerhalb seiner Grenzen. Es geht bei solchen Anschlägen nicht um militärische Effizienz, nicht um Gewinn und Verlust auf einem Schlachtfeld, sondern vielmehr um theatralische Darbietungen, die gezielt für ein Publikum gemacht sind. Bevor wir den Terrorismus in seinen kulturellen und symbolischen Dimensionen analysieren können, müssen wir eine moralisch beurteilende Perspektive aufgeben – gleichwohl, ob wir die Anschläge als Verbrechen verurteilen oder für ein angemessenes Mittel für den Freiheitskampf der Unterdrückten halten. Eine soziologische Darstellung des Terrorismus wird sich zunächst auf die soziale Situation der Terroristen konzentrieren. Anders, als man häufig annimmt, sind Terroristen nur selten arme, unterdrückte Menschen, die einen persönlichen Kampf gegen Elend und Gefangenschaft führen. Sie rekrutieren sich zum großen Teil aus jungen Leuten aus der Mittelklasse mit guter Ausbildung, die sich zwar manchmal entwurzelt und marginalisiert fühlen, die aber weder arm noch ungebildet sind. Die meisten von ihnen sind mit der modernen urbanen Welt und ihren Versprechen vertraut, aber sie verlangen mehr als das, was ihnen geboten und gewährt wird. Wegen ihrer Ausbildung denken sie in Kategorien und identifizieren sie sich mit Gemeinschaften, die über ihre Familie und das reine Überleben hinausgehen. Viele sind im höchstem Maße mobil und leben weit von ihrer Heimat und ihren Familien entfernt. Oft leben sie in einer Art Zwischenwelt, und ihr Grenzgängertum setzt sie einer Vielzahl von Spannungen aus. In Hinblick auf diese Zwischenlage unterscheiden sie sich nicht von den Jakobinern in der Französischen Revolution, den Anarchisten am Ende der 19. Jahrhunderts, den Führern des Sozialismus, der italienischen „Brigade Rosse“ oder der deutschen RAF. Dieses Grenzgängertum, dieses Leben in der Zwischenwelt, das den Boden für den Weg in den Terrorismus ebnet, zeigt sich nicht nur auf der sozialstrukturellen Ebene. Auch die besondere biographische Situation spielt mit hinein. Terroristen sind meist junge Männer in der Übergangssituation zwischen Kontrolle durch die Eltern und der Verantwortlichkeit für eine eigene Familie. Fast alle der palästinensischen Selbstmordattentäter waren männlich und unverheiratet. Junge Männer zwischen dem Ende der Kindheit und den Verpflichtungen des Erwachsenenlebens haben bekanntlich eine besondere Neigung, hohe Risiken einzugehen. Sie versuchen, sich durch den Regel- und Tabubruch heroisch zu inszenieren und ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu beweisen. Nur für einen Tag und für wenige ein Held zu sein, ist ihnen wichtiger als dass viele sie für Kriminelle halten. Aber die Suche nach männlichem Heldentum und Rebellion führt natürlich nicht unvermeidlich in den Terrorismus. Sie kann sich auch in Aufständen, Bandenkriminalität, Militärdienst, Autoraserei oder politischem Radikalismus ausdrücken. Welchem Heldenideal ein junger Mann entgegenstrebt, hängt von den Mythen, Narrativen und Ikonen der Kultur ab, in der er sich befindet. Diese kulturellen Bilder und Narrative sind nicht in seinem eigenen Kopf entstanden, sondern sie werden von einer Gemeinschaft getragen, und sie entstehen nicht aus dem Nichts, sondern werden auf eine große Tradition zurückgeführt. Die meisten Terroristen bewegen sich nur noch in einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter, die ihre Ideen teilen und sich
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viel darüber austauschen, während Kommunikation mit Außenstehenden kaum noch stattfindet. Innerhalb dieser Gruppe fordert man sich heraus, es werden große Taten angekündigt, um die eigene Hingabe zu beweisen, am Ende steht die Planung des Angriffs. Außerhalb dieser internen Kommunikation fallen Terroristen kaum auf. Unauffälligkeit tarnt die Vorbereitung des Angriffs. Terroristen unterscheiden sich von ihren Mitbürgern nicht nur durch die besondere Form ihrer internen Kommunikation, sondern auch durch ihre besondere Weltanschauung. Sie sind besessen von der Idee, dass die Welt sich in einem kosmischen Krieg befindet, der außergewöhnliche und gewalttätige Mittel erfordert. In den meisten Fällen teilen sie diese Idee mit anderen, die ebenso wie sie davon überzeugt sind, dass dieser Krieg zwischen dem absoluten Bösen und dem absoluten Guten tobt, und das Wissen um ihre Wahrheit stärkt ihnen den Rücken. In diesem Krieg steht ihre Kultur, und das bedeutet oft: ihre Religion, im Feuer. In ihren Augen geht es um nicht weniger als um eine Verteidigung gegen die Mächte des Bösen, und sie wissen, dass in diesem kosmischen Krieg selbst extreme Gewalt Zustimmung bei ihren Anhängern finden wird. So absurd und wahnsinnig diese Ideen einem Außenstehenden auch erscheinen mögen, ist ihr Vokabular dennoch nicht völlig von dem öffentlichen Diskurs abgetrennt, an dem die Terroristen unvermeidlich teilhaben. Wie andere radikale Bewegungen in der neueren Geschichte verweisen auch die Terroristen immer wieder auf typische Oppositionen und apokalyptische Visionen der Moderne: Reinheit wird gegen Dekadenz gesetzt, Echtheit gegen Künstlichkeit, Tugend gegen Sünde, das gute Volk gegen seine dämonischen Feinde. Es sind nicht nur die Puritaner, die Jakobiner und die Kommunisten, die sich vom Eifer nach Reinheit, Authentizität und Tugend antreiben ließen: auch ein radikaler ökologischer Fundamentalismus oder der Terrorismus im Namen Allahs, Jahwes, Shivas, Buddhas oder des christlichen Gottes segeln unter dieser Flagge. Die Vorstellung vom kosmischen Krieg findet sich in all diesen modernen apokalyptischen Bewegungen. Dieser Krieg zwischen Gut und Böse tritt nach Meinung der Terroristen nun in seine letzte und entscheidende Phase, in der jeder mit gutem Herzen gegen die Dämonen ins Feld ziehen muss. Weltliche Regeln und Gesetze sind bei diesem Kampf für eine grundlegend vollkommene Gesellschaft kaum von Belang. Der scharfe Gegensatz zwischen Gut und Böse, die überdeutliche Abgrenzung zwischen beiden Lagern kompensiert die Uneindeutigkeit und Undeterminiertheit der sozialen und biographischen Zwischenlage, in der sich die Terroristen befinden. Was im Hinblick auf die eigene Zugehörigkeit und den eigenen Standort undeutlich bleibt, was als soziale Grenzziehung seinen sicheren und unverrückbaren Verlauf verloren hat, wird nun durch kulturelle Imagination von eindeutigen Grenzen und unversöhnlichen Gegensätzen im kosmischen Zusammenhang ersetzt. Parteinahme in diesem kosmischen Zusammenhang weist dem Einzelnen einen neuen und eindeutigen Ort, eine neue und eindeutige Identität zu. Diese Identität lebt wie alle Identitätsvorstellungen von dem Bezug auf ein Jenseits der Grenze, auf einen Anderen, in dem man sich einerseits spiegelt, von dem man sich andererseits aber auch grundlegend abstößt. Der Eifer, die Welt vor dem Bösen zu retten, ist allerdings nicht die Triebfeder aller terroristischen Bewegungen. Bei Unabhängigkeitskämpfern wie der ETA, der IRA, der Hamas oder den Aufständischen in Tschetschenien wird man ihn kaum finden. Aber auch die Unabhängigkeitskämpfer haben ihre Mythologien. Es sind dies vor allem der nationale und
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der demokratische Mythos. Der erste stellt Nationen als grundlegende politische Gemeinschaften dar, die ein Recht auf politische Souveränität und eigenes Gebiet haben. Der zweite gibt die Rechtfertigung, im Kampf für politische Unabhängigkeit und gegen ausländische Unterdrücker Gewalt anzuwenden. Beide Mythen sind der kulturelle Kern jeder modernen politischen Unabhängigkeitsbewegung. Dies trifft allerdings nicht nur auf die antikolonialen Bewegungen in Afrika, Asien und Lateinamerika zu, sondern auch für viele europäische Nationen (z.B. die Niederlande, Irland, Polen, Italien und Finnland, um nur einige zu nennen), und ganz besonders auf die Vereinigten Staaten und Israel, die heute in der Sturmspitze des Kriegs gegen den Terror stehen. Im vierten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts kämpfte die Irgun für einen unabhängigen jüdischen Staat auf palästinensischem Gebiet und bediente sich dabei terroristischer Mittel wie der Ermordung von palästinensischen Zivilisten und der Bombardierung ihrer Dörfer. Der spätere Premierminister Menachim Beguin war einer der Führer der Irgun. Auf ganz ähnliche Art gingen die amerikanischen Siedler während des Unabhängigkeitskrieges gegen jene vor, die sich der Britischen Krone gegenüber loyal verhielten. Auch die meisten anderen Unabhängigkeitsbewegungen haben vor Gewaltanwendung nicht zurück geschreckt. Der Aufstand gegen die Herrschaft der Fremden oder der Unterdrücker und die Machtergreifung auf den Barrikaden ist der Grundmythos des modernen Demos. Mit dem Aufstand wird ein neuer Naturzustand geschaffen, in dem der Demos, das Volk und die Nation performativ konstituiert werden. Das Volk setzt die bestehende Herrschaft außer Kraft, befreit sich von seinem Herrscher und enthauptet ihn und gibt sich selbst aus diesem ordnungslosen Zustand eine neue Verfassung. Betrachtet man die revolutionäre Gewalt aus der Perspektive eines Staates, der in den Feuern einer Revolution geschmiedet wurde, so scheint sie ein gerechter und gangbarer Weg zu sein, um gegen Unterdrückung anzugehen. Aus dem Blickwinkel eines bestehenden ancien régime jedoch, das in seinen Gesetzen verhaftet ist, ist sie jedoch reiner Terror. Die Enthauptung von Charles I durch Oliver Cromwell und die englischen Puritaner, der Sturm auf die Bastille und die Enthauptung der Königsfamilie in der Französischen Revolution, der Angriff auf die britischen Garnisonen während der amerikanischen Revolution oder der Sturm auf den Winterpalast und die Ermordung des Zaren und seiner Familie, die jüdischen Angriffe auf die britischen Kolonialherren nach 1945 und der Bombenanschlag auf das König David-Hotel in Jerusalem, ja – konsequent zu Ende gedacht – sogar der Widerstandskampf gegen die Naziherrschaft in Frankreich, Italien, Russland und Deutschland während des Zweiten Weltkriegs waren aus Perspektive des jeweiligen Machthabers „terroristische Anschläge“. Das kollektive Gedächtnis einer Nation und ihre Gründungsmythen müssen jedoch eine solche legitimistische Interpretation der Revolution verdrängen und ausschließen. Terroristische Anschläge gegen den demokratischen Staat zerren jedoch diese unterdrückte Erinnerung an dessen eigene blutige Geburt wieder an die Oberfläche. Weil westliche Demokratien im Terrorismus dem Trauma ihrer eigenen Geburt voller Gewalt und Gesetzlosigkeit begegnen, müssen sie so entschieden gegen den Terrorismus Front machen. Einer Demokratie bleibt nichts übrig, als die unheimliche Parallele zwischen den eigenen Ursprüngen und dem derzeitigen Terrorismus zu leugnen. Die Terroristen wiederum sehen ihre Angriffe als Fortsetzung und Wiederholung des elementaren demokratischen Aufstandes gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung. So war es möglich, dass sich die RAF als Erbe des Widerstands gegen den Nationalsozialismus sah und
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glaubte, als Stellvertreter für die vielen Deutschen, die damals geschwiegen hatten, nachholenden Widerstand leisten zu müssen. Die deutschen Widerständler wiederum sahen sich in der Tradition der Befreiungskriege gegen die napoleonische Tyrannei. Die Rote Brigade im Italien der Achtziger nahm in ihren Augen das Schwert der „resistenza“ wieder auf, das diese gegen Faschismus und die Besetzung durch Nazideutschland geführt hatte, und die „resistenza“ berief sich auf die „rissorgimento“-Bewegung, die im neunzehnten Jahrhundert Italien von der Fremdherrschaft befreit hatte. Die Selbstmordattentäter in Palästina sahen sich in der Tradition der Assassinen und der islamischen Märtyrer, und auch der Oklahoma-Bomber konnte sich auf die Aufständischen des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges berufen, die sich wiederum in Nachfolge der Römischen Republik sahen. Diese Reihe ließe sich noch weiter fortsetzen. Das gleiche Ereignis, das in den Augen der internationalen Öffentlichkeit einen schrecklichen Bruch der demokratischen Grundordnung darstellt, ist für die Terroristen politisches Heldentum. Will man Terrorismus als öffentliche theatralische Performanz analysieren, so liegt der Blick nicht nur auf kulturellen Skripten und Narrativen, sondern auch auf dem Publikum. Theater basiert auf einer Trennung zwischen Spiel- und Zuschauerraum, mit einer Hinterbühne, die vom Publikum nicht eingesehen werden kann, und einer Bühne, wo vor den Augen des Publikums gespielt wird. Das Handeln der Terroristen verlässt sich eindeutig auf diese Trennung. Diese Trennung zwischen verborgener Vorbereitung und öffentlicher Zurschaustellung ist für den terroristischen Akt von entscheidender Bedeutung. Wenn der Anschlag kein Publikum findet, ist sie ebenso verschwendet, wie wenn die Öffentlichkeit vor dem Anschlag über Ort und Zeitpunkt informiert würde. Für die Terroristen teilt sich das Publikum in zwei Gruppen: Tatsächliche und potentielle Befürworter ihrer Sache und Außenstehende, die niemals verstehen werden, weil sie von Grund auf böse sind. Den Befürwortern versucht der Terrorist eine Botschaft über seine Macht und seine Ziele zu übermitteln. Diese potentiellen Anhänger oder Gläubigen kennen das Muster der Geschichte, sie wissen, wer die Helden und wer die Schurken sind und kennen die Bedeutung von Schauplatz und Zeitpunkt des Attentats. Für sie ist das Attentat keine Tat eines Verrückten, sondern eine sinnvolle Aufführung bekannter Narrative und Bilder, die „Wir können es schaffen!“ in die Welt ruft. So verwandelt das Ereignis des Terrors eine latente Gemeinschaft des Verstehens in eine manifeste Gemeinschaft voller Stolz und Entschlossenheit. Im Gegensatz dazu stehen die Außenseiter, die solchen anscheinend nihilistischen Angriffen gegen Verkörperungen ihrer kollektiven Identität, gegen die sicheren und heiligen Zentren ihrer Gemeinschaft wie den Twin Towers, den Flugzeugen und den Kindern von Bezlan hilflos und verängstigt gegenüberstehen. Für sie bricht mit den Türmen auch der Sinn zusammen. Wie die Leute vor einer Konzerthalle, die von der Symphonie im Inneren nur Lärm hören, können auch sie keinen Sinn in den Ereignissen finden, deren Zeuge sie werden. Es bleibt absurd, nihilistisch, böse. Das terroristische Ereignis trennt so die Außenstehenden, die von dieser anscheinend so absurden Gewalt geschockt sind, von dem Publikum, das dieses Ereignis mit dem Narrativ von Rache und Revolution interpretiert. Schließlich muss ein wesentlicher Wandel in der sozialen Reproduktion terroristischer Gewalt erwähnt werden. Der traditionelle Terrorismus war in vielen Bereichen nach klassischem militärischen Muster organisiert: zwar war er versteckt, aber trotzdem wurden Be-
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fehle von einzelnen Führern zu jenen weitergeleitet, die tiefer in der Hierarchie standen, und es gab eine strikte Trennung zwischen denen, die zur Organisation gehörten und den Außenstehenden, auch wenn nur Eingeweihte wussten, wer dazugehörte und wer nicht. So konnte im Prinzip jeder Anschlag zu denen zurückverfolgt werden, die die Befehle dazu gegeben hatten. Diejenigen zu liquidieren, die den Plan erdacht hatten und die Befehle gaben, hätte die Strukturen ernsthaft geschädigt. Heute findet man diese Hierarchien nur mehr in sehr abgeschwächter Form. Terroristen operieren in Terrorzellen ohne klare Hierarchien oder offensichtliche Zugehörigkeit. Schaltet man die eine aus, behindert das die anderen nicht. Die weltbekannten Anführer wie Osama bin Laden oder Sheik Jassin aus dem Verkehr zu ziehen, erregt eher den Zorn ihrer Gefolgsleute, als dass es sie schwächt. Zusätzlichen Schutz zu der Organisation in Netzwerken erfahren terroristische Aktivitäten vor den klassischen Militärstrategien durch eine neue Art der Informationsverbreitung via Fernsehen und Internet. Moderner Terrorismus verlässt sich nicht mehr auf Texte, sondern auf Bilder, und teilt sich über diese Bilder einem Publikum jenseits aller sprachlichen Grenzen mit. So können indonesische und algerische Terroristen den gemeinsamen Grund ihrer Taten erkennen, der ansonsten durch Verständigungsschwierigkeiten verschleiert wäre. Obwohl sich Neuigkeiten und Bilder über die Anschläge über die ganze Welt verbreiten, ist das Risiko, beim Verbreiten solcher Nachrichten ertappt zu werden, wesentlich geringer als zu Zeiten, zu denen sie noch auf Papier geschrieben wurden. Die anonymen Weiten des Internet erlauben es, Nachrichten und Konstruktionspläne für Bomben zu versenden, ohne dass der Absender ein großes Risiko hätte. Manchmal verbreitet sich die Botschaft der Terroristen sogar unabsichtlich. Allein durch einen Fernsehbericht kann sich ein Nachahmungstäter motiviert genug fühlen, um durch einen Terrorakt Ruhm und Bewunderung durch eine geheimnisvolle, verborgene Gruppe zu erhalten – selbst wenn er keine direkten Verbindungen zu diesen hat. Gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts war es die massive Berichterstattung in den Medien, die den rechtsradikalen Ausschreitungen gegen Ausländer zu einem neuen Hoch verhalf und es gibt Grund anzunehmen, dass die Bomben, die vor kurzer Zeit in deutschen Bahnhöfen gefunden wurden, ebenso wie der Großteil der Milzbrand-Briefe vor wenigen Jahren ebensolchen Nachahmungstätern zu verdanken waren. Die Suche nach Leuten, die bei diesen jungen Männern die Fäden gezogen und sie zum Terror verführt haben, muss hier vergeblich bleiben. Es gibt keine Kommandanten oder Oberhäupter, die diese Angriffe befohlen haben. Osama bin Laden oder Al Zarkhawi ihrer „gerechten Strafe“ zu übergeben, wird dem Terror kein Ende machen. Es wird wohl keine Wahl bleiben, als mit dem Risiko Terrorismus noch eine Weile zu leben. Wie das Risiko Opfer eines anderen Gewaltverbrechens zu werden kann man auch dieses Risiko bis zu einem gewissen Grad eindämmen, aber kaum endgültig beseitigen. Brutale Vergeltungsmaßnahmen und symbolische Erniedrigung bewirken wohl eher das Gegenteil, nämlich größere Unterstützung für die Terroristen in ihren Heimatländern. Man muss bedenken, dass dies kein neues Phänomen ist, sondern nur eine spezielle Interpretation von Tatsachen nach dem kulturellen Code der modernen Politik. Selbst ein differenzierteres und soziologisch besser unterfüttertes Vorgehen, das auf die sozialen Netzwerke abzielt, in denen sich die Terroristen bewegen, scheint keine vielversprechende Lösung zu sein. Es gibt einfach keinen Weg, wie man diese Zustände auf moralisch akzeptable Weise kontrollieren kann. Bessere Überwachung an öffentlichen Orten, gründlichere Sicherheitsprüfungen im öf-
Terrorismus als Performanz
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fentlichen Transportsystem oder das Einschleusen von Undercoveragenten in die Netzwerke der Terroristen mögen durchaus Resultate erzielen, aber sie werden die Terroristen kaum von etwas abhalten. Sie werden neue Wege finden, um ihre Ziele zu erreichen. Es gibt so viele verwundbare Gebiete in modernen Gesellschaften, dass es eher erstaunlich ist, dass es nur so wenige Anschläge sind, so unangenehm der Gedanke auch ist.
Literatur Alexander, Jeffrey/Giesen, Bernhard/Mast, Jason L. (Hrsg.) (2006): Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics, and Ritual. Cambridge: Cambridge University Press. Eagleton, Terry (2005): Holy Terror. Oxford: Oxford University Press. Esposito, John L. (2002): Unholy War. Terror in the Name of Islam: Oxford: Oxford University Press. Fuchs, Peter (2004): Das System „Terror“. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne. Bielefeld: transcript. Giesen, Bernhard (2004): Triumph and Trauma. Boulder (CO): Paradigm. Goffman, Erving (2006): Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München: Piper. Juergensmeyer, Mark (2003): Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence. Berkeley (CA): University of California Press. McCann, Colum (2005): Ritter, Tod und Teufel. Krieg, Terror und Pandemien. Hamburg: Zeitverlag Kursbuch. Meggle, Georg (Hrsg.) (2003): Terror & der Krieg gegen ihn. Öffentliche Reflexionen. Paderborn: mentis. Münkler, Herfried (2006): Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Frankfurt/M.: Velbrück. Sofsky, Wolfgang (2002): Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg. Frankfurt/M.: Fischer. Turner, Victor W. (2005): Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt/M.: Campus.
Über die Autorinnen und Autoren
Bullerjahn, Claudia (*1962), Dr. phil.; Professorin für Systematische Musikwissenschaft und Musikkulturen der Gegenwart an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Mitherausgeberin des Jahrbuchs der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie e. V. (DGM) ab Bd. 19. Forschungsschwerpunkte: Musik in den Medien; Musik des 20. Jahrhunderts; populäre Musik; psychologische Grundlagen des Musiklernens und -produzierens; Wirkungen von Musik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Kinder – Kultur. Ästhetische Erfahrungen. Ästhetische Bedürfnisse. Opladen: 1999 (hrsgg. mit H.-J. Erwe/R. Weber); Grundlagen der Wirkung von Filmmusik. Augsburg: 2001; Das Populäre in der Musik des 20. Jahrhunderts. Wesenszüge und Erscheinungsformen. Hildesheim: 2001 (hrsgg. mit H.-J. Erwe); Musikermythen. Alltagstheorien, Legenden und Medieninszenierungen. Hildesheim: 2004 (hrsgg. mit W. Löffler); Musik: gehört, gesehen und erlebt. Festschrift Klaus-Ernst Behne zum 65. Geburtstag. Hannover: 200 (hrsgg. mit H. Gembris/A. C. Lehmann).
Burkart, Günter (*1950), Professor für Soziologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Familien-, Paar- und Geschlechterforschung; Kultur, Medien und Technik; Individualisierung und Selbstthematisierung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Handymania. Wie das Mobiltelefon unser Leben verändert hat. Frankfurt/M.: 2007; Die Ausweitung der Bekenntniskultur - neue Formen der Selbstthematisierung? (Hrsg.). Wiesbaden: 2006; Zaudernde Männer, zweifelnde Frauen, zögernde Paare: Wer ist schuld an der Kinderlosigkeit? In: P. A. Berger/H. Kahlert (Hrsg.): Der demographische Wandel. Chancen für die Neuordnung der Geschlechterverhältnisse. Frankfurt/M.: 2006, 111-135; Familiensoziologie. Konstanz: 2008.
Diaz-Bone, Rainer, Dr.; wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin. Im WS 2007/08 und SoSe 2008 Vertretung des Lehrstuhles Empirische Sozialforschung, Uni Trier. Forschungsschwerpunkte: angewandte Diskursanalyse; empirische Kultur und Sozialstrukturanalyse; Wirtschaftssoziologie; Methoden der empirischen Sozialforschung; Wissenschaftstheorie; sozialwissenschaftliche Statistik und Netzwerkanalyse. Ausgewählte Veröffentlichungen: Statistik für Soziologen. Konstanz: 2006; Märkte als soziale Strukturen (hrsgg. mit J. Beckert/H. Ganßmann). Frankfurt/M.: 2006; Discourse
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Zu den Autorinnen und Autoren
analysis in the social sciences/Diskursanalyse in den Sozialwissenschaften (Special Issue). Historical Social Research/Historische Sozialforschung, 33 (1). Köln: 2008 (hrsgg. mit A. Bührmann/W. Schneider/E.R. Gutiérrez/G. Kendal/F. Tirado); Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie. 2. Auflage. Wiesbaden: 2009; Diskurs und Wirtschaft. Wiesbaden: 2009 (hrsgg. mit G. Krell).
Fischer-Lichte, Erika, Dr. Dr. h.c.; Professorin am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Seit 1973 Professorin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main, ab 1986 Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Bayreuth, ab 1990 Direktorin des neugegründeten Instituts für Theaterwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik, Theorie und Geschichte des Theaters; Ästhetik des Gegenwartstheaters; Transkulturelle Theaterästhetik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative. Tübingen: 2001; Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M.: 2004; Theatre, Sacrifice, Ritual. Exploring Forms of Political Theatre. New York/London: 2005; Verklärte Körper. Ästhetiken der Transfiguration. Paderborn: 2006 (hrsgg. mit N. Suthor); Wege der Wahrnehmung. Berlin: 2006 (hrsgg. mit B. Gronau/S. Schauter/C. Weiler); Auf der Schwelle. Kunst, Risiken und Nebenwirkungen. München: 2006 (hrsgg. mit R. Sollich/S. Umathum/M. Warstat).
Giesen, Bernhard, Prof. Dr. rer. pol., Institut für Soziologie, Universität Konstanz. 1974 Promotion in Augsburg, 1980 Habilitation in Münster. 1982-1999 Professor für Soziologie in Gießen. Lehr- und Forschungsaufenthalte in Stanford, Los Angeles, Chicago, Bielefeld, Florenz, New York und Yale. Seit 1995 External Professor am Europäischen Universitätsinstitut in Florenz, seit 1999 Professor für Makrosoziologie an der Universität Konstanz.19971999 Forschungsleiter im DFG-Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“, seit 2000 Forschungsleiter im DFG Sonderforschungsbereich „Norm & Symbol“. Forschungsschwerpunkte: Makrosoziologie; kollektive und nationale Identität; Erinnerungskulturen. Ausgewählte Publikationen: Makrosoziologie. Eine evolutionstheoretische Einführung. Hamburg: 1980; Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit. (Hrsg.) Frankfurt: 1991; Die Intellektuellen und die Nation. Eine deutsche Achsenzeit. Frankfurt: 1993; Nationale und kulturelle Identität. Frankfurt: 1996; Kollektive Identität. Die Intellektuellen und die Nation 2. Frankfurt: 1999; Cultural Trauma and Collective Identity, B. Giesen/J. C. Alexander/R. Eyermann/N. Smelser/P. Sztompka. Berkeley 2004. Social Performance. Symbolic Action, Cultural Pragmatics and Ritual, B. Giesen/J. C. Alexander/J. L. Mast (Hrsg.). Cambridge 2006.
Über die Autorinnen und Autoren
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Gumbrecht, Hans Ulrich (*1948), Prof. Dr. phil., Dr. h.c., Stanford University. Studium der Romanistik, Germanistik, Soziologie und Philosophie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. 1971 Promotion in Konstanz, 1974 Habilitation ebenda. 1975-1982 Professor an der Ruhr-Universität Bochum, 1983-1989 Professor an der Universität-Gesamthochschule Siegen. Seit 1989 Albert-Guérard-Professor für Komparatistik an der Stanford University. Zahlreiche Gastprofessuren, u.a. in Berkeley, Princeton, Berlin, Kyoto und Paris (Ecole des Hautes Etudes). Forschungsschwerpunkte: Literaturgeschichte der romanischen Sprachen; Mediengeschichte; Ideengeschichte; Literaturwissenschaft und Literaturkritik; Ästhetik des Sports. Ausgewählte Publikationen: Eine Geschichte der spanischen Literatur. Frankfurt: 1990; Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. München: 2002; 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit. Frankfurt: 2003; Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten. Frankfurt: 2003; Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt: 2004; Lob des Sports. Frankfurt: 2005; Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München: 2006.
Heipcke, Stefanie, Studium der Germanistik und Philosophie an der Gesamthochschule Kassel, und der Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis mit den Schwerpunkten Literatur/Theater/Medien und Musik in Hildesheim. Diplomarbeit zum Thema: Karaoke – Eine Tautologie des Populären. Eine empirisch gestützte Untersuchung des Phänomens in besonderem Hinblick auf Motivstrukturen und sozialpsychologische Aspekte.
Hellmann, Kai-Uwe (*1962), Dr. phil.; Privatdozent am Institut für Soziologie der TU Berlin. 1989 Diplom in Politologie, 1995 Promotion in Soziologie, 2003 Habilitation in Soziologie. Forschungsschwerpunkte: Wirtschafts-, speziell Konsumsoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Soziologie der Marke. Frankfurt/M.: 2003; Das Management der Kunden. Studien zur Soziologie des Shopping. Wiesbaden: 2005 (hrsgg. mit D. Schrage); Einführung in den Neo-Institutionalismus. Mit einem Beitrag von W. Richard Scott. Wiesbaden: 2006 (hrsgg. mit K. Senge).
Hitzler, Ronald (*1950), Prof. Dr., Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an den Fakultäten „Erziehungswissenschaft und Soziologie“ und „Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“ der Technischen Universität Dortmund. Forschungsschwerpunkte: Dramatologische Anthropologie; Lebensweltanalyse; hermeneutische Wissenssoziologie; Modernisierung als Handlungsproblem; Materiale Kultursoziologie; Soziologie des Politischen; Konsumsoziologie. Weitere Informationen unter www.hitzler-soziologie.de.
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Zu den Autorinnen und Autoren
Hoffmann, Matthias (*1976), MA., Institut für Soziologie, Universität Trier. 2000-2005 Studium der Soziologie und Philosophie in Trier. Seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie; Thanatosoziologie; Soziologie des Hospizes. Ausgewählte Publikationen: Sterbebegleitung in Trier. Bestandsaufnahme 2003. Trier: 2003 (mit Hahn, Alois/Jacob, Rüdiger/EirmbterStolbrink, Eva); Tod und Sterben als soziales Ereignis. In: Transit, Europäische Revue, 33. 2007. 5-25 (mit Alois Hahn).
Hölscher, Barbara (*1964), Dr.; Professorin für Soziologie an der Christian-AlbrechtsUniversität zu Kiel. Forschungsschwerpunkte: Kultur- und Mediensoziologie; Soziale Ungleichheit; Wirtschafts-, Bildungsforschung. Ausgewählte Veröffentlichungen: Lebensstile durch Werbung? Zur Soziologie der Life-Style-Werbung. Wiesbaden: 1998; Advertising and the Russian Way of Media Reception. In: Journal of Sociology and Social Anthropology 4, 2001, pp. 116-144 (mit R. Dittrich); Concepts of Social Inequality on the Condition of Cultural Changes. In: Sociological Problems Quarterly 35, 2002. 93-118. (mit R. Dittrich); Wissenschaft und Hochschulbildung im Kontext von Wirtschaft und Medien. Wiesbaden: 2008 (hrsgg. mit J. Suchanek).
Kardorff, Ernst von, Prof. Dr. phil., Professor für Soziologie, Institut für Rehabilitationswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Bewältigung chronischer Krankheit; Arzt-Patient-Verhältnis; Social Support; Sozial-psychiatrische Versorgung; Selbsthilfe; Qualitative Forschung; Evaluationsforschung; Internet in der Rehabilitation. Ausgewählte Veröffentlichungen: Zur gesellschaftlichen Bedeutung und Entwicklung (qualitativer) Evaluationsforschung. In: U. Flick (Hrsg.): Qualitative Evaluationsforschung. Konzepte - Methoden – Umsetzungen. Reinbek: 2006; Kein Ende der Ausgrenzung Verrückter in Sicht? In: R. Anhorn/F. Bettinger (Hrsg.): Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Wiesbaden: 2005, 25 - 27; Internet use by the families of cancer patients – help for disease management? In: J. Public Health 04/2006 (mit S. Kirschning/K. Merai); Mit dem kranken Partner leben. Anforderungen, Belastungen und Leistungen von Angehörigen Krebskranker. Soziologische Fallstudien. Opladen: 2004 (hrsgg. mit C. Schönberger); Qualitative Forschung. Ein Handbuch. Reinbek: 2000 (hrsgg. mit U. Flick/I. Steinke).
Knoblauch, Hubert (*1959), Prof. Dr. phil., Institut für Soziologie, Technische Universität Berlin. Studium der Soziologie, Philosophie und Geschichte in Konstanz und Brighton. 1989 Promotion in Konstanz, 1994 Habilitation ebenda. 1996-2000 Heisenberg-Stipendiat der DFG. Zahlreiche Forschungs- und Lehraufenthalte, u.a. in Sankt Gallen, Paris, Berkeley, Wien und London. 2000-2002 Professor für Religionssoziologie und Religionswissenschaft in Zürich. Seit 2002 Professor für Allgemeine Soziologie an der Technischen Universität
Über die Autorinnen und Autoren
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Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie; Wissens- und Kultursoziologie; Sprache, Interaktion und Kommunikation; Religion in der Gegenwartsgesellschaft; Qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung; Visuelle Soziologie. Ausgewählte Publikationen: Religionssoziologie. Berlin und New York: 1999; Qualitative Religionsforschung. Religionsethnographie in der eigenen Gesellschaft. München (u.a.): 2003; Wissenssoziologie. Konstanz: 2005; Thanatosoziologie. Tod, Hospiz und die Institutionalisierung des Sterbens. Berlin: 2005 (hrsgg. mit Arnold Zingerle); Zur Kritik der Wissensgesellschaft. Konstanz: 2006 (hrsgg. mit Soeffner, Hans-Georg/Tänzler, Dirk); Neue Perspektiven der Wissenssoziologie. Konstanz: 2006 (hrsgg. mit Soeffner, Hans-Georg/Tänzler, Dirk).
Koppetsch, Cornelia (*1967), PD Dr.; Gastprofessorin am Institut für Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Studium der Psychologie und Soziologie in Gießen, Hamburg und Berlin. Abschlüsse: Diplom-Psychologin in Hamburg; Promotion in Soziologie an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Qualitative Methoden der Sozialforschung; Geschlechterverhältnisse im Milieuvergleich; Familiensoziologie; Wandel von Arbeit und Identität; Ökonomie und Emotionen.
Lautmann, Rüdiger (*1935), Dr. phil., Dr. jur.; Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Leiter des Instituts für Sicherheits- und Präventionsforschung (ISIP) in Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Soziologie von Kriminalität; Geschlecht; Sexualität und Kultur. Ausgewählte Veröffentlichungen: Soziologie der Sexualität. Erotischer Körper, intimes Handeln und Sexualkultur. Weinheim: 2002; Nationalsozialistischer Terror gegen Homosexuelle. Paderborn: 2002; Themenhefte des Kriminologischen Journals über den Septemberterror (2002) sowie über Körper und Verbrechen (2003) und Punitivität (2004); Lexikon zur Soziologie (Neubearbeitung 2007).
Lenz, Karl, Prof. Dr.; Professor für Mikrosoziologie an der TU Dresden. Forschungsschwerpunkte: Soziologie persönlicher Beziehungen; Soziologie der Geschlechter; Interaktion und Kommunikation; Qualitative Sozialforschung. Ausgewählte Publikationen: Soziologie der Zweierbeziehung. Eine Einführung. 3. aktualisierte Aufl., Wiesbaden: 2006; Sexualitäten. Diskurse und Handlungsmuster. Weinheim: 2005 (hrsgg. mit H. Funk); Frauen und Männer. Zur Geschlechtstypik persönlicher Beziehungen (Hrsg.). Weinheim: 2003; Erving Goffman – ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation. Bern/Stuttgart: 1991 (hrsgg. mit R. Hettlage)
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Zu den Autorinnen und Autoren
Lipp, Thorolf (*1973), Dr. phil., M.A.; Kulturanthropologe und Filmemacher. Forschungsschwerpunkte: Religion; Mythos- und Ritualtheorie; Ethnologie und Film; Fernsehforschung; Medienpraxis. Mehrjährige Feldforschungen in Westafrika und Ozeanien. Ausgewählte Veröffentlichungen: Gol - das Turmspringen auf der Insel Pentecost in Vanuatu. Beschreibung und Analyse eines riskanten Spektakels. (Dissertation, Univ. Bayreuth). Filme: Mythen der Südsee (Dokumentationsreihe, Bayerisches Fernsehen).
Münch, Richard (*1945), Professor für Soziologie an der Universität Bamberg. Gastprofessuren an der University of California, Los Angeles. Mitherausgeber des American Journal of Sociology (1982-1985), der Current Perspectives in Social Theory (1985-1989), der Zeitschrift für Soziologie (2001-2006) und der Soziologischen Revue (1998-2006). Associate Editor von Sociological Theory und Mitglied des Fachbeirats des Max Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie; komparative Makrosoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Soziologische Theorie, 3 Bde. Frankfurt/M./New York: 2002-2004; Die akademische Elite. Zur sozialen Konstruktion wissenschaftlicher Exzellenz. Frankfurt/M.: 2007.
Pfadenhauer, Michaela (*1968), Prof. Dr., Lehrstuhl für Soziologie – unter besonderer Berücksichtigung des Kompetenzerwerbs an der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Karlsruhe (TH). Wichtigste Forschungsschwerpunkte: Kompetenzforschung; Soziologie professionellen Handelns; Soziologie des Organisierens; Methoden explorativ-interpretativer Sozialforschung. Weitere Informationen unter http://soziologie. geist-soz.uni-karlsruhe.de/content/view/66/90/ und unter http://www.professionssoziologie. de/?page_id=13.
Schauerte, Thorsten, Dr.; wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sportpublizistik der Deutschen Sporthochschule Köln. Ausgewählte Veröffentlichungen: Quotengaranten und Minderheitenprogramme. Berlin: 2002; Medien im Berufsalltag von Sportjournalisten. Köln: 2006; Die Ökonomie des Sports in den Medien. Köln: 2004 (hrsgg. mit J. Schwier); Vorbilder im Sport. Köln: 2007 (hrsgg. mit J. Schwier).
Schorch, Marén, M.A.; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie an der Universität Trier; Forschungsschwerpunkte: Identität/Alterität; Staatsangehörigkeit; Migration; transnationale Zugehörigkeit; Minderheiten. Veröffentlichungen: ‚Meine Zukunft bin ich!’ Alltag und Lebensplanung Jugendlicher. Frankfurt/M.: 2001 (W. Vogelgesang, Mitarbeit); Tests und andere Identifikationsverfahren als Exklusionsfaktoren. In: Gren-
Über die Autorinnen und Autoren
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zen, Differenzen, Übergänge. Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation. Volkswagenstiftung 2007 (mit A. Hahn); Technologies of the Will and their Christian Roots. In: S. Maasen/B. Sutter (Hrsg.): On Willing Selves. Neoliberal Politics and the Challenge of Neurosciences. Basingstoke: 2007 (mit A. Hahn).
Schroeter, Klaus R., PD Dr. phil. habil.; Privatdozent am Institut für Sozialwissenschaften, Universität Kiel. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie; Soziologische Theorien; Gerontosoziologie; Körpersoziologie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Soziale Ungleichheiten und kulturelle Unterschiede in Lebenslauf und Alter. Wiesbaden: 2007 (hrsgg. mit H. Künemund); Altern in Gesellschaft. Ageing – Diversity – Inclusion. Wiesbaden: 2007 (U. Pasero/G. M. Backes); Das soziale Feld der Pflege. Weinheim: 2006; Altern und bürgerschaftliches Engagement. Wiesbaden: 2006 (hrsgg. mit P. Zängl); Soziologie der Pflege. Weinheim: 2005 (hrsgg. mit T. Rosenthal); Figurative Felder. Wiesbaden: 2004; Theoretische Beiträge zur Alternssoziologie. Opladen: 2002 (hrsgg. mit U. Dallinger); Entstehung einer Gesellschaft. Berlin: 1994.
Schwanitz, Dietrich (*1940; †2004), Prof. Dr. phil., Institut für Anglistik und Amerikanistik, Universität Hamburg. Studium der Anglistik, Geschichte und Philosophie in Münster, London, Philadelphia und Freiburg i. Br., ebenda 1971 Promotion zum Dr. phil.. 1978-1997 Professor für Englische Literatur und Kultur an der Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: sozialhistorisch und mentalitätsgeschichtlich orientierte Literaturgeschichte; Literaturtheorie; Verbindung von Dramentheorie; Theaterpraxis und Creative Writing. Ausgewählte Publikationen: George Bernard Shaw: Künstler, Konstruktion und unordentliche Welt, Frankfurt a. M.: 1971; Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma, Opladen: 1990; Englische Kulturgeschichte, Tübingen: 1995; Shakespeare und die Liebe: Ein Beispiel für die Applikation der Systemtheorie auf die Literatur. Hagen: 1996.
Schwier, Jürgen, Prof. Dr.; Professor für Sportwissenschaft an der Universität Giessen, Gründungsmitglied des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität. Ausgewählte Veröffentlichungen: Fußball, Fans und das Internet. Baltmannsweiler: 2003 (mit O. Fritsch); Sport als populäre Kultur. Hamburg: 2000; Spiele des Körpers. Jugendsport zwischen Cyberspace und Streetstyle. Hamburg: 1998; Mediensport – Ein einführendes Handbuch (Hrsg). Baltmannsweiler: 2002; Die Ökonomie des Sports in den Medien. Köln: 2004 (hrsgg. mit T. Schauerte); Wettbewerbsspiele. Sport und Politik in den Medien. Frankfurt/M.: 2006 (hrsgg. mit C. Leggewie).
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Zu den Autorinnen und Autoren
Schwietring, Thomas, Dr. rer. pol.; wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Philosophie der Sozialwissenschaften, soziologische Theorie und Kultursoziologie an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorie; Wissenschaftstheorie; Historische Soziologie; Kunst- und Kultursoziologie. Vorbereitung einer Habilitation zum Thema ‚Menschen und ihre Dinge. Zur Soziologie der gemachten Welt’. Ausgewählte Veröffentlichungen: Kultur und ihre Wissenschaft. Konstanz: 2002 (hrsgg. mit U. Helduser); Soziologische Forschung. Opladen: 2003 (hrsgg. mit B.Orth/J. Weiß); Kontinuität und Geschichtlichkeit. Konstanz: 2005.
Suchanek, Justine, Dr. rer. soc.; Wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl für „Ökonomie und Politik des tertiären Bildungssystems“, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Universität Osnabrück; Studium der Soziologie an der Universität Bielefeld, der Université des Sciences Humaines de Strasbourg, Frankreich; Forschungsaufenthalt in West-Samoa, Südpazifik. Forschungsschwerpunkte: Hochschul- und Wissenschaftsforschung; Professions- und Organisationssoziologie; Soziologie sozialer Differenzierung; Gesellschaftsdiagnose und internationaler Vergleich; Mediensoziologie; Methoden empirischer Sozialforschung (quantitativ und qualitativ). Ausgewählte Veröffentlichungen: Wissenschaft und Hochschulbildung im Kontext von Wirtschaft und Medien. Wiesbaden: 2007 (hrsgg. mit B. Hölscher); WissenInklusion-Karrieren. Zur Theorie und Empirie der Wissensgesellschaft. Göttingen: 2006.
Tasheva, Gallina, Dr. phil., Dipl. Soz.; Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Theorien, insbesondere klassische Soziologie, Phänomenologie, Poststrukturalismus und Daseinsanalytik. Ausgewählte Veröffentlichungen: Vom intersubjektiven Bewusstsein zur Erfahrung des Fremden. Critique § Humanism: 1998; Zeit und Differenz. Soziologie jenseits von Ontologie, In: J. Weiß (Hrsg.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft. Konstanz: 2001, 149-173; Daseinsanalytik und Soziologie, In: K.-S. Rehberg (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft. Frankfurt/M.-New York: 2008 (im Druck); Tod, Mitsein, Anerkennung. Widerstreitende Ordnungen des Sozialen, In: Phänomenologische Forschungen. Hamburg: 2008 (im Druck).
Thiedeke, Udo, Dr. phil. habil.; Privatdozent, Institut für Soziologie, Johannes Gutenberg Universität Mainz. Forschungsschwerpunkte: Allgemeine Soziologie; Soziologische Theorien; Soziologie der Medien; Bildung und Politik; Virtualisierte Vergesellschaftung; Soziologische Systemtheorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Virtuelle Gruppen. Wiesbaden: 2000 (2. Aufl.); Soziologie des Cyberspace (Hrsg.). Wiesbaden: 2004; Trust, but test! Das Vertrauen in virtuellen Gemeinschaften. Konstanz: 2007.
Über die Autorinnen und Autoren
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Warstat, Matthias (*1972), Dr.; Privatdozent für Theaterwissenschaft und wissenschaftlicher Assistent am Institut für Theaterwissenschaft der Freien Universität Berlin. Mitglied im DFG-Sonderforschungsbereich 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ und Projektleiter im Forschungsverbund „Theater und Fest in Europa. Zur Inszenierung von Identität und Gemeinschaft“ (gefördert vom BMBF) in Berlin. Promotion 2002 mit einer Arbeit unter dem Titel „Theatrale Gemeinschaften. Zur Festkultur der Arbeiterbewegung 1918-33“ (Tübingen/Basel: 2005). Habilitation 2007 mit der Schrift „Krise und Heilung. Wirkungsästhetische Studien zum Theater des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart“. Forschungsschwerpunkte: Theater- und Kulturgeschichte der Moderne (19./20. Jahrhundert); Theaterpädagogik/Theatertherapie; Ästhetische Theorie; Theatralität des Politischen.
Willems, Herbert, Dr. phil., M.A. Soziologie, Dipl. Päd.; Professor für Soziologie, JustusLiebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Modernisierung; Massenmedien; Werbung; Interaktion; Geschlechter; Allgemeine soziologische Theorie. Ausgewählte Veröffentlichungen: Psychotherapie und Gesellschaft. Voraussetzungen, Strukturen und Funktionen von Individual- und Gruppentherapien. Opladen: 1994; Rahmen und Habitus. Zum theoretischen und methodischen Ansatz Erving Goffmans. Frankfurt/M.: 1997; Identität und Moderne. H. Willems/A. Hahn (Hrsg.), Frankfurt/M.: 1999; Theatralität der Werbung. Berlin: 2003 (mit Y. Kautt); Elemente einer Journalismustheorie nach Bourdieu. In: K.D. Altmeppen/T. Hanitzsch/C. Schlüter, (Hrsg.): Journalismustheorie: Next Generation. Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation. Wiesbaden: 2007. 215-238; Lehr(er)buch Soziologie. Für die pädagogischen und soziologischen Studiengänge. In zwei Bänden (Hrsg.). Wiesbaden: 2008; Weltweite Welten. Internet-Figurationen aus wissenssoziologischer Perspektive. Wiesbaden: 2008.