Textmaschinenkörper Genderorientierte Lektüren des Androiden
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Herausgegeben von
Gerd Labroisse Gerhard P. Knapp Norbert Otto Eke
Wissenschaftlicher Beirat:
Christopher Balme (Universiteit van Amsterdam) Lutz Danneberg (Humboldt-Universität zu Berlin) Martha B. Helfer (Rutgers University New Brunswick) Lothar Köhn (Westf. Wilhelms-Universität Münster) Ian Wallace (University of Bath)
2006
AMSTERDAMER BEITRÄGE ZUR NEUEREN GERMANISTIK
Textmaschinenkörper Genderorientierte Lektüren des Androiden
Herausgegeben von
Eva Kormann, Anke Gilleir und Angelika Schlimmer
Amsterdam - New York, NY 2006
Die 1972 gegründete Reihe erscheint seit 1977 in zwangloser Folge in der Form von Thema-Bänden mit jeweils verantwortlichem Herausgeber. Reihen-Herausgeber: Prof. Dr. Gerd Labroisse Sylter Str. 13A, 14199 Berlin, Deutschland Tel./Fax: (49)30 89724235 E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Gerhard P. Knapp University of Utah Dept. of Languages and Literature, 255 S. Central Campus Dr. Rm. 1400 Salt Lake City, UT 84112, USA Tel.: (1)801 581 7561, Fax (1)801 581 7581 (dienstl.) bzw. Tel./Fax: (1)801 474 0869 (privat) E-Mail:
[email protected] Prof. Dr. Norbert Otto Eke Universiteit van Amsterdam Fac. der Geesteswetenschappen, Spuistraat 210, 1012 VT Amsterdam Nederland, E-Mail:
[email protected]
Cover illustration: Paul Delvaux: Pygmalion (1939 - wood 117 x 147,5 cm). The Royal Museums of Fine Arts of Belgium: the Museum of Modern Art (Brussels) All titles in the Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik (from 1999 onwards) are available online: See www.rodopi.nl Electronic access is included in print subscriptions. The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 90-420-1778-3 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam – New York, NY 2006 Printed in The Netherlands
Inhalt
Anke Gilleir (Leuven), Eva Kormann (Karlsruhe), Angelika Schlimmer (Bielefeld): Genderorientierte Lektüren des Androiden. Eine Einführung Rudolf Drux (Köln): Männerträume, Frauenkörper, Textmaschinen. Zur Geschichte eines Motivkomplexes Jutta Eming (Berlin): Schöne Maschinen, versehrte Helden. Zur Konzeption des künstlichen Menschen in der Literatur des Mittelalters Britta Herrmann (Bayreuth): Das Geschlecht der Imagination: Anthropoplastik um 1800. Eva Kormann (Karlsruhe): Künstliche Menschen oder der moderne Prometheus. Der Schrecken der Autonomie Carola Hilmes (Frankfurt/Main): Literarische Visionen einer künstlichen Eva Marianne Vogel (Groningen): “Einfach Puppe!” Die Wachspuppe in der Wirklichkeit und in der Imagination in Romantik und Moderne Annette Bühler-Dietrich (Stuttgart): Zwischen Belebung und Mortifizierung: Die Puppe im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé Gudrun Wedel (Berlin): Kunst – Gefühl – Kommerz: Puppen in der Autobiographie von Käthe Kruse (1883–1968) Cathy S. Gelbin (Manchester): Das Monster kehrt zurück: Golemfiguren bei Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration Birte Giesler (Sydney): Phantasmen der Prokreation im Kontext der neuen Reproduktionstechnologien – utopischer Raum für neue Konzepte von Gender und Autorschaft? – Carl Djerassis Komödie Unbefleckt Tanja Nusser (Greifswald): Reproduktive Un-/Ordnungen. Überlegungen zu kulturellen Darstellungen biomedizinischer und kybernetischer Reproduktion Frank Degler (Karlsruhe): Scheintod. Das Spiel mit den digitalen Körpern Elke Brüns (Berlin): Matrix: Erlösung von Körper und Geschlecht? Claudia Gremler (Bath): Androiden und (Anti)feminismus in The Stepford Wives Silke Arnold-de Simine (Mannheim): Ich erinnere, also bin ich? Maschinen – Menschen und Gedächtnismedien in Ridley Scotts Blade Runner (1982/1992) Florentine Strzelczyk (Calgary): Maschinenfrauen – Sci-Fi Filme: Reflektionen über Metropolis (1926) und Star Trek: First Contact (1996)
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Anke Gilleir, Eva Kormann und Angelika Schlimmer
Genderorientierte Lektüren des Androiden. Eine Einführung Textmaschinenkörper ist ein Neologismus, aufgebaut aus drei Lexemen, die, auf unterschiedliche Weise zu Neukombinationen verbunden – Textmaschine, Maschinenkörper, Textkörper –, jeweils das Sprachliche, Mechanische oder Leibliche betonen. Dass das semantische Feld des Wortes ‘Textmaschinenkörper’ die Summe seiner Teilbedeutungen übersteigt, beweisen die Beiträge in diesem Band. Das Hyperonym der einzelnen Wörter ist indes Konstruktion: Texte, Maschinen und Körper sind Artefakte, deren Herstellungsgeschichte und Wirkung zwar sehr unterschiedlich sein kann, aber deren Signum der menschlichen Konstruktion sie jeweils zu Elementen der Kulturpraxis im weitesten Sinn macht und deren Bedeutung immer wieder neu erfasst werden muss. Die unter dem Titel “Textmaschinenkörper” gesammelten Aufsätze befassen sich mit der Darstellung des Maschinenkörpers in literarischen, filmischen und digitalen Texten. Die Beiträge analysieren Körper- und Menschenkonstruktionen, die auf einer Skala von Medien, vom schriftlich fixierten literarischen Text bis zur digitalen Vorstellung, repräsentiert und thematisiert werden.1 Dass das Thema des artifiziell konstruierten Menschen in vielerlei Hinsicht brisant ist, beweist beispielhaft der Erfolg von Lara Croft, die seit 1996 in Tank-Top und mit Maschinenpistolen über Bildschirme, Kinoleinwände und Plakatsäulen springt und als neue – digitale und feminine – Version des Helden weltweit rezipiert wurde. Jedoch nicht nur als Party-Smalltalk, sondern auch als Forschungsobjekt wurde der fiktiven Gestalt, die als Realisierung des vor fast zwei Jahrzehnten in Donna Haraways “Manifesto for Cyborgs”2 skizzierten Cyborgs zu figurieren scheint, viel Aufmerksamkeit zuteil.3 Lara 1
Das Thema des künstlichen Menschen beschäftigt auch die bildende Kunst. Vgl. dazu Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne. Hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora. Köln 1999. Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle des Menschen. Hg. von Jan Gerchow. Ostfildern 2002. Die traditionellen Grenzen zwischen bildender Kunst und Literatur überschreitet Kunst im elektronischen Raum, die sich ebenfalls dem Androiden widmet. Vgl. dazu Cyborg Bodies. Hg. von Yvonne Volkart. In: www. medienkunstnetz.de/themen/cyborg_bodies/ (eingesehen am 07.03.2005). 2 Donna Haraway: A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology, and Socialist Feminism in the 1980s. In: Socialist Review 80 (1985). S. 65–108. 3 Vgl. u. a. LaraCroftism. Hg. von Manuela Barth. München 1999. Astrid DeuberMankowsky: Lara Croft – Modell, Medium, Cyberheldin. Das virtuelle Geschlecht und seine metaphysischen Tücken. Frankfurt/M. 2001. Menschenkonstruktionen. Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Gisela Febel und Cerstin Bauer-Funke. Göttingen 2004. (⫽ Querelles. Jahrbuch für
8 Croft erscheint in diesem Zusammenhang als allegorische Darstellung der technischen Möglichkeiten in Sachen artifizieller Menschenschöpfung. Der künstliche Mensch ist ein altes Thema in der Literatur; die Geschichten von Hesiods Pandora und mehr noch von Ovids fiktivem Künstler Pygmalion werden in diesem Kontext als Gründungsmythen jenes seit Jahrtausenden in Literatur und Kunst verhandelten alten Traums der künstlichen Menschenschöpfung interpretiert. Entsprechend der Erweiterung technischer Möglichkeiten und der Entwicklung neuer Medien als Träger der menschlichen Phantasie ist die Bandbreite künstlicher Menschen im Laufe der Zeit groß geworden und reicht von den antiken Elfenbein- und Marmorstatuen, Golemfiguren, Alraunen, Homunculi, über romantische Wachspuppen, Marionetten und Automaten und Frankensteins Monster bis hin zu den Robotern und Cyborgs, jenen androiden4 Filmprotagonisten aus den Trilogien Terminator und Matrix, dem Remake der Stepford Wives (2004) oder der jüngsten Verfilmung des Asimov-Romans I, Robot (Film: 2004). Man hat, um diese Formenvielfalt zu ordnen, zwischen magisch, künstlerisch und technisch erzeugten Androiden zu unterscheiden versucht. Die technisch generierten lassen sich wiederum in biologisch-medizinische und ingenieurund informationswissenschaftliche Artefakte klassifizieren.5 Eine solche Kategorisierung für das Motiv des künstlichen Menschen halten wir hier für unbrauchbar. Schließlich wird erst seit der Aufklärung zwischen magischen, künstlerischen und (natur)wissenschaftlichen Praktiken differenziert. Und die jeweiligen Varianten des Motivs vom künstlichen Menschen und die dazugehörigen Herstellungsweisen haben zumeist eine Geschichte, die weit vor der Aufklärung beginnt. Rezepturen zur Erzeugung künstlicher Menschen, die heute als Magie erscheinen, galten zu ihrer Zeit doch als anerkannte Frauen- und Geschlechterforschung. Bd. 9) Wir folgen hier der aktuellen Verwendung des Begriffs vor allem im angloamerikanischen Raum. Cyborg meinte zunächst ein Zwitterwesen zwischen Mensch (org-anism) und informationsverarbeitender Maschine (cyb-ernetic). Geprägt hat den Begriff 1960 der Luftfahrtingenieur Manfred Claynes in einem Artikel für die Zeitschrift Astronauts: Cyborgs sind in Claynes’ Verständnis Anpassungsformen des Menschen an die besonderen Erfordernisse der Raumfahrt. Vgl. Manfred Geier: Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos – Literatur – Wissenschaft. Reinbek 1999. S. 9–13. Inzwischen hat sich die Bedeutung des Begriffs erweitert, Cyborg ist immer mehr die Bezeichnung für einen künstlichen Menschen im Allgemeinen und für Mensch-Maschine-Systeme der verschiedensten Art. Vgl. auch Yvonne Volkart: Cyborg Bodies. Das Ende des fortschrittlichen Körpers. http://www.medienkunstnetz.de/ themen/cyborg_bodies/editorial (eingesehen am 07.03.2005). 4 Der Begriff Android bezeichnet hier, anders als häufig in der Debatte um künstliche Menschen, nicht ausschließlich einen maschinellen Kunstmenschen, sondern den künstlichen Menschen im Allgemeinen. Dies entspricht der Etymologie des Wortes aus dem Griechischen: android ist ein Geschöpf, das menschenähnlich ist. 5 Vgl. Helmut Swoboda: Der künstliche Mensch. München 1967. S. 11f.
9 Technik. Insofern ist eine Einteilung in magisch, künstlerisch und technisch erzeugte Androiden anachronistisch. Unbestreitbar ist zwar, dass der heutige Forschungsstand namentlich in der Biomedizin und den Ingenieur- und Informationswissenschaften den alten Traum des artifiziell generierten oder konstruierten Menschen wie nie zuvor realisierbar zu machen scheint.6 Doch deswegen ältere literarische Vorstellungen des Androiden nur noch als Magie und heutige fiktive Darstellungen des Androiden nur als direkte Auseinandersetzungen mit der von Technik bedrohten Humanität zu lesen, bedeutet letztlich eine Engführung der Literaturwissenschaft. Menschen tauchen in literarischen Texten als Figuren auf. Sollen sie auf thematischer Ebene als Androide erscheinen, müssen sie in ganz bestimmter Weise dargestellt sein. Figuren lassen sich als künstliche Menschen lesen oder sehen, wenn das (Sprach)kunstwerk ihren Schöpfungsprozess mit abbildet, wenn sie abweichen von gängigen Vorstellungen des ‘natürlichen’ Menschen, wenn sie als hybride, defekte oder auch allzu perfekte Wesen erscheinen. Das Motiv hat dabei durchaus wandelbare Funktionen. Es kann als Metapher gelesen werden oder ganz wörtlich gelten wollen. Der im Text dargestellte Maschinenkörper kann als Allegorie für das komplexe Verhältnis zwischen Literatur und Interpretation gelesen werden, das jegliche platte Kausalität zwischen Text und Kontext übersteigt. J. Hillis Miller liest im Rahmen seiner “Ethics of reading” Pygmalions Geschichte aus Ovids Metamorphosen als Literarisierung der Prosopopöie, jener Trope, die dem Abwesenden, Inanimaten oder Toten eine Stimme, einen Namen oder ein Gesicht gibt und sich als bildlicher Ausdruck des Interpretationsvorgangs erweist.7 Aber das traditionsreiche Motiv des Androiden erlaubt vielerlei interessante Lesarten. So evozieren Textmaschinenkörper oft Auseinandersetzungen mit Formen des menschlichen Selbstverständnisses, der Geschlechterverhältnisse und/ oder sozialem, individuellem, künstlerischem oder technisch-wirtschaftlichem Handeln: Marionetten, Puppen, Automaten oder Maschinen lassen sich als Metaphern für besondere menschliche Befindlichkeiten oder die allgemeine anthropologische Konstitution lesen.8 Fragen der Abbildung, Nachbildung und Darstellung – und ihres geschichtlichen Wandels – werden in diesen Werken verhandelt.9 Mit dem Androiden verbinden sich Hoffnungen auf Unsterblichkeit 6
Vgl. Digitale verbeelding. Hg. von Anneke Smelik und Berteke Waaldijk. Tijdschrift voor Genderstudies 6/1 (2003). 7 J. Hillis Miller: Versions of Pygmalion. London – Cambridge, Mass. 1990. S. 4. 8 Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von E.T.A. Hoffmann bis Georg Büchner. München 1986. Vgl. auch Julien Offray de La Mettrie: L’homme machine. Leiden 1748. Étienne Bonnot de Condillac: Traité des sensations. London – Paris 1754. 9 Albrecht Koschorke: Pygmalion als Kastrat. Grenzwertlogik der Mimesis. In: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. von Mathias
10 oder todbringende Kräfte, Allmachtsphantasien oder Ohnmachtsgefühle. Der künstliche Mensch kann außerdem eine Variante des Doppelgänger-Motivs sein, in zahlreichen Werken gerade der Romantik entfaltet sich das Verhältnis von Original und Kopie und damit die Frage eines Ich-Verlusts durch das Auftreten einer menschenähnlichen Figur.10 Geschlechterverhältnisse werden in diesen Texten implementiert oder problematisiert. Greift man hier abermals auf den Pygmalion-Stoff als Spezialfall des Motivs vom künstlichen Menschen zurück, so zeigt sich die oftmals ambigue Bedeutung des Textmaschinenkörpers. Der Liebhaber Pygmalion erweist sich durchaus als misogyn, denn seine künstliche Traumfrau soll ein Geschöpf ohne eigenen Willen sein. Auch als Allegorie für Kunstschaffen und Kunstwahrnehmen offenbart der PygmalionStoff die Abhängigkeit von Geschlechterverhältnissen, konkret: Pygmaliongeschichten schreiben den Ausschluss von Frauen aus der Kunstproduktion und sogar aus produktiver Kunstrezeption fest.11 Dominant ist in der Kulturgeschichte des künstlichen Menschen auch die Verunsicherung, die er auslöst, Verunsicherung darüber, was einen Menschen zum Menschen macht und von der künstlichen Kopie scheidet, Verunsicherung, was die Natürlichkeit von Geschlechtereigenschaften betrifft, Verunsicherung vor allem über die Möglichkeit von Natur und Natürlichkeit. Insofern forcieren Literatur und andere künstlerische Werke Identitäts- und Wahrnehmungskrisen, sie reagieren auf soziokulturelle Umbruchprozesse und treiben sie produktiv weiter. Dies gilt auch und vor allem im Hinblick auf Geschlechterverhältnisse: Wenn um 1800 die komplementäre Dichotomie der Geschlechter in den zunehmend dominant werdenden Wissenschaftsdiskursen durchgesetzt wird und auch in der Literatur die zugleich drohende Verwirrung und erhoffte Stabilisierung der Geschlechtergrenzen zum Ausdruck kommt, tauchen Marionetten, Kleiderpuppen, Automaten und Golem-Frauen auf. Heute gerät diese seit zwei Jahrhunderten etablierte Dichotomie der Geschlechterverhältnisse in Un- und Neuordnung, und das auf mehreren Ebenen. Während die Biomedizin immer tiefere Einblicke in den Kode der menschlichen Natur und damit
Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg 1997. S. 299–322. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‘Darstellung’ im 18. Jahrhundert. München 1998. 10 U. a. Renate Böschenstein: Doppelgänger, Automat, serielle Figur. Formen des Zweifels an der Singularität der Person. In: Androiden. Hg. von Jürgen Söring und Reto Sorg. Frankfurt/M. u. a. 1997. S. 165–195. Aglaja Hildenbrock: Das andere Ich. Künstlicher Mensch und Doppelgänger in der deutsch- und englischsprachigen Literatur. Tübingen 1986. 11 Vgl. Britta Herrmanns Beitrag in diesem Band. Siehe auch Eva Kormann: Pygmalions Kopfgeburten – Traumfrauen und Geschlechterverhältnisse. In: Gelegentlich: Brecht. Jubiläumsschrift für Jan Knopf. Hg. von Birte Giesler et al. Heidelberg 2004. S. 129–138.
11 wachsende Eingriffsmöglichkeiten verheißt, belegen Epistemologie, Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft das anthropologische und kulturelle a priori jeder wissenschaftlichen Wahrnehmung, Namensgebung und Klassifikation.12 Literatur und andere Medien der Fiktionalität greifen diese unterschiedlichen Diskurse auf und verhandeln sie auf eigene, sich oft gegen vereinfachende Auslegungen sperrende Weise – nicht zuletzt in der Form künstlicher Figuren, die prototypisch Weibliches zitieren, von William Gibsons Idoru (1996) über die Borg Queen aus Star Trek (1996) bis zu Lara Croft. Neben der aktuellen Auseinandersetzung mit dem literarischen und künstlerischen Motivgebrauch gibt es in den verschiedensten Geisteswissenschaften derzeit ein großes Interesse an Artefakten wie den Automaten Jacques de Vaucansons und Pierre und Henri-Louis Jaquet-Droz’, an den aktuellen Forschungsergebnissen von Robotikern und an den wachsenden Gestaltungsmöglichkeiten der Reproduktionsmedizin, an den gewebezüchtenden Potentialen der Genforschung und an der physiologischen Hirnforschung, die unter anderem nach erinnerungsmanipulierenden Medikamenten sucht. Dieses wissenschaftshistorische Interesse wird nicht immer eindeutig von einer literaturhistorischen Fragestellung getrennt. Viele Sammelbände vereinigen Analysen von Science und Fiction.13 So ziehen einerseits technikgeschichtliche Untersuchungen auch literarische Texte als Quellen heran,14 auf der anderen Seite greift Hollywood in seinen Filmen immer öfter neueste technische Möglichkeiten auf, etwa in Gattaca (1997), AI. Artificial Intelligence (2001) und Eternal Sunshine of the Spotless Mind (2004). Und nicht zuletzt tendieren die öffentlichen Verlautbarungen einiger Natur- und Ingenieurwissenschaftler, etwa Ray Kurzweils The Age of Spiritual Machines 12
Siehe dazu z.B.: Thomas Laqueur: Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud. Cambridge, Mass. 1991. Het Lichaam (m/v). Hg. von Kaat Wils. Leuven 2001. Anne Fausto-Sterling: Myths of Gender. Biological Theories about Women and Men. New York 1985. Londa Schiebinger: Has Feminism changed Science? Cambridge, Mass. 1999. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. New York 1990. 13 Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500–2000. Hg. von Richard van Dülmen. Wien u. a. 1998. Die Geschöpfe des Prometheus. Der künstliche Mensch von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Rudolf Drux. Bielefeld 1994. Nach dem Menschen. Der Mythos einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur. Hg. von Bernd Flessner. Freiburg 2000. Der künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. von Karl R. Kegler und Max Kerner. Köln u. a. 2002. The Gendered Cyborg. A Reader. Hg. von Gill Kirkup et al. London – New York 2000. 14 Vgl. etwa verschiedene Beiträge auf der Züricher Tagung der Gesellschaft für Technikgeschichte “Artifizielle Körper – lebendige Technik. Zur Geschichte der Biomedizin und Biotechnologie” (Juli 2003).
12 (1999) und die diversen Schriften Hans Moravecs, eher zu Fiction als zu Science.15 Angesichts der aktuellen gentechnischen und bioethischen Debatten, die die Frage nach Humanität und Natürlichkeit von Körper und Geschlecht neu aufwerfen, lassen sich fiktionale Texte und Filme über das Androide als kulturgeschichtliche Präfigurationen betrachten. Die jüngsten Berichte über Retortenbabys nach Maß, über künstliche Organproduktionen und über die Fortschritte der Transplantationsmedizin, unter anderem auch die Möglichkeit der Gesichtstransplantation,16 provozieren nicht weniger als Sprach- und Kulturkritiker wie Manfred Geier, Judith Butler oder Donna Haraway die Frage nach der Natürlichkeit von Körpern: Was kann als ‘natürlich’ gelten und wie werden menschliche Körper in Alltag, Kunst und Wissenschaft konzipiert? Die skizzierte Stofffülle lässt jeden Versuch eines bibliographischen Überblicks vorläufig werden.17 Der Körper steht in einem Kräftefeld zwischen materiellen Vorgaben, soziokulturellen Deutungen und individuellen Freiheitswünschen, zwischen Zustand und Geschichte. Er ist Schnittstelle zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, zwischen unhintergehbarer, unvermeidlicher (aber dennoch manipulierbarer) Materialität und genauso unhintergehbarer, unvermeidlicher 15
Das ist im Übrigen keine Erscheinung erst der Jahrtausendwende. Schon die Zukunftsvisionen verschiedener Medizin-Nobelpreisträger auf dem 1962 durchgeführten Ciba-Symposium “Man and his future” übertreffen den Einfallsreichtum mancher Science-Fiction-Romane. Sie entwickeln Forschungsprogramme für eine intellektuelle Optimierung der Menschen durch die Vermehrung der Hirnsubstanz, der genetischen Verbesserung und eine geistige und körperliche Anpassung an MaschinenSysteme und neue Aufgaben. Die Beiträge sind abgedruckt in Das umstrittene Experiment: Der Mensch. 27 Wissenschaftler diskutieren die Elemente einer biologischen Revolution. Hg. von Robert Jungk und Hans Josef Mundt. Dokumentation des Ciba-Symposiums 1962 “Man and His Future”. 2. ergänzte Aufl. Frankfurt/M. – München 1988. 16 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 270 vom 20. Nov. 2003. S. 36. 17 Eine Bibliographie – von eingeschränktem Gebrauchswert – ist Bernhard Dotzler, Peter Gendolla und Jörgen Schäfer: Maschinen-Menschen. Frankfurt u a. 1992. Seit 1996 erschienen u. a. folgende Untersuchungen zum künstlichen Menschen in Literatur, Film und sonstiger Medienlandschaft: Künstliche Menschen. Manische Maschinen, kontrollierte Körper. Hg. von Rolf Aurich u.a. Berlin 2000. Jürgen Bräunlein: Lara, mach mir die Greta…! Über synthetische Stars und virtuelle Helden. In: Nach dem Menschen. Der Mythos einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur. Hg. von Bernd Flessner. Freiburg 2000. S. 115–132. Bernd Gräfrath: Erlösung durch Überwindung des Menschlichen? Stanislaw Lems Philosophie transbiologischer Personen. Ebd. S. 281–299. Roland Innerhofer: Die technische Modernisierung des künstlichen Menschen in der Literatur zwischen 1800 und 1900. Ebd. S. 69–99. Elmar Schenkel: Literatur als Labor. Posthumane Welten bei H.G. Wells. Ebd. S. 101–113. Rudolf Drux: Das Menschlein aus der Retorte. Bemerkungen über eine literarische Gestalt, ihre technikgeschichtlichen Konturen und publizistische Karriere. In: Der
13 und trotzdem veränderbarer kultureller Deutung. In den Literatur-, Kunst- und Kulturwissenschaften ist der Körper seit einiger Zeit ein zentrales Thema: Er leistet gewichtigen Widerstand gegen Vorstellungen der reinen Textualität, und doch kann es keine Debatte über ‘Körper’ geben, die Konstruktion und kulturelle Bedeutungszuschreibung vermeiden kann. Und nicht zuletzt erinnert die Thematisierung und dargestellte Manipulierung der Körper an Giorgio Agambens Analyse des Konnex zwischen moderner Politik – der so genannten Biopolitik – und dem so genannten “nackten Leben”.18 In radikalisierter – und verschobener – Form stellen sich diese Fragen, wenn es um künstliche Körper, um die Konstruktion künstlicher Menschen geht.19 Bio- und Technowissenchaften radikalisieren die Machbarkeitspostulate, die hinter einer extremen Lesart von Butlers ‘doing gender’ stehen. Menschliche Körper werden verfügbar – aus radikalkonstruktivistischer Perspektive und
künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Hg. von Karl R. Kegler und Max Kerner. Köln u. a. 2002, S. 217–238. Febel und Bauer-Funke (Hg.): Menschenkonstruktionen. Bernd Flessner: Emanzipation der Prothese und multitechnokulturelle Gesellschaft. In: Der künstliche Mensch. Körper und Intelligenz im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. S. 193–216. Wolfgang Frühwald: “Die Trübsal am Rande der posthumanen Wüsten” – Zum Menschenbild in der modernen Literatur. In: Das Bild des Menschen in den Wissenschaften. Hg. durch die Gerda Henkel Stiftung. Münster 2002. S. 225–243. Geier: Fake. Carola Hilmes: Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte. Königstein/Ts. 2004. S. 81–123. Kirkup et al. (Hg.): The Gendered Cyborg. Kormann: Pygmalions Kopfgeburten. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: “Sadly disfigured”. Schönheit, Verletzung und pygmalionische Gewalt in Henry James’ The last of the Valerii, Thomas Hardys Barbara of the House of Grebe und Neil LaButes The Shape of Things. In: Von schönen und anderen Geschlechtern. Schönheit in den Gender Studies. Hg. von genus. Münsteraner Arbeitskreis für Gender Studies. Frankfurt/M. 2004. S. 119–135. Androiden. Hg. von Jürgen Söring und Reto Sorg. Frankfurt/M. u.a. 1997. Puppen, Körper, Automaten. 18 Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt/M. 2002. 19 Dass das Thema des künstlichen Menschen im Hinblick auf seine heutige Realisierbarkeit u.a. in der KI-Forschung, Robotik und Gentechnik zu ethischen Debatten führt, sei hier nur am Rande erwähnt. Hingewiesen sei lediglich auf folgende Bücher: Das Bild des Menschen in den Wissenschaften. Biopolitik. Die Positionen. Hg. von Christian Geyer. Frankfurt/M. 2001. Stefan Metzger: Bio-Culture – biologistische Diskursstrategien im Feuilleton 2000. In: Die List der Gene. Strategeme eines neuen Menschen. Hg. von Bernhard Kleeberg et al. Tübingen 2001. S. 73–113. Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen. Hg. von Frank Schirrmacher. Köln 2001. Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt/M. 1999 (bekannter als “Elmauer Rede”). Siehe dazu u. a. Matthias John, Temilo van Zantwijk: Sloterdijk, der Humanismus und die Anthropologie des 18. Jahrhunderts. In: Die List der Gene. S. 171–188 und Michael Kempe: Neulich im Menschenpark. Die phantastische Anthropologie des Peter Sloterdijk. Ebd. S. 151–169.
14 mehr noch aus der Sicht der Gentechnologie. Kontroversen um materialistische oder konstruktivistische Methoden in der Literaturwissenschaft erfahren aus der Debatte um ‘künstliche’ oder ‘natürliche’ Menschen somit neuen Zündstoff. Insofern vermag die Analyse des Motivs die aktuellen Debatten um Körper, Text und Geschlecht in den Literatur- und Kulturwissenschaften zu bündeln. Daraus erklärt sich die andauernde Aktualität dieses Themas über das Zeitgeist-Phänomen Lara Croft und den Prioritätenwandel öffentlicher Debatten hinaus, und daraus speist sich unser Interesse an diesem vielgestaltigen Motiv. Die Beiträge für diesen Band – und auch schon für die Bremer Tagung Textmaschinenkörper – konzentrieren sich auf Literatur und Film. Bildende Kunst und Technik geraten nur insofern in den Blick, als sie in – literarischen oder alltagsweltlichen – Texten wiederum reflektiert werden. Die verschiedenen Praktiken der Erzeugung eines künstlichen Menschen und unterschiedliche Varianten des Motivs werden betrachtet. Im Vordergrund steht die Auseinandersetzung mit ästhetischen, spezifisch literatur- und kulturwissenschaftlichen Fragen. Deskriptive Textanalysen münden beim Thema des Androiden zwar schnell in präskriptive Verlautbarungen. Doch wir verzichten hier zumeist auf ethische Debatten, streifen oder dokumentieren sie nur am Rande,20 auch wenn wir mit manchen Beiträgen sicher Grundlagen für solche Debatten legen können.21 Wir gehen aber allen technokratischen Nützlichkeitsorientierungen der derzeitigen Bildungs- und Forschungspolitik zum Trotz davon aus, dass Literatur und andere Formen künstlerischer Auseinandersetzung mit Möglichkeiten des menschlichen Lebens und Arbeitens ihre eigenen Gesetze, ihre eigenen Wirkstrukturen haben und Lektüren jenseits herrschender technikfeindlicher oder –freundlicher Diskurse ermöglichen. Das eigenwillig Ästhetische literarischer und anderer künstlerischer Werke macht sie zwar selbstverständlich nicht autonom von gesellschaftlichen Diskursen über Menschlichkeit, Geschlechterverhältnisse und technische Produktion, gibt ihnen aber dennoch widerständige, überschießende Kraft gegenüber ethischen Sollens-Vorschriften und der Affirmation gesellschaftlicher Normen und Stereotype. “Textmaschinenkörper. Genderorientierte Lektüren des Androiden” hieß eine von der VolkswagenStiftung, Hannover, dem Bildungswerk der HeinrichBöll-Stiftung, Bremen, und der Stiftung Frauen-Literatur-Forschung, Bremen, geförderte Tagung des Vereins “FrideL. Frauen in der Literaturwissenschaft”. Dieses internationale Netzwerk von Germanistinnen hat sich zum Ziel gesetzt, eine genderorientierte Literaturwissenschaft zu fördern. Der vorliegende Band fußt auf Beiträgen, die im Rahmen der Tagung diskutiert wurden, und wird 20 21
Etwa die Beiträge von Drux, Giesler und Nusser in diesem Band. Vgl. den Beitrag von Degler in diesem Band.
15 durch ergänzende Aufsätze abgerundet. Die Artikel bieten Analysen vor allem zur deutschsprachigen Literatur – von Automaten in der Dichtung des Mittelalters über Marionetten, Puppen und Automaten in der Romantik und in der Literatur des fin de siècle bis hin zu aktuellen Reflexionen über Körper, Technik und Reproduktion – und zur Variation des Motivs im Film des 20. Jahrhunderts – von Metropolis bis Matrix. Alle präsentieren genderorientierte Lektüren von Texten, die künstliche Menschen auftreten lassen. Texte sind dabei hauptsächlich fiktionale literarische Texte, aber auch solche, die nicht im engen Sinn als fiktional gelten, jedoch einen hohen Wert an Literarizität aufweisen, wie etwa der Briefwechsel von Lou Andreas-Salomé und Rainer Maria Rilke oder die Autobiographie der Puppenmacherin Käthe Kruse. Als Texte ‘gelesen’ werden aber ebenso Filme und Computerspiele. Betont sei auch, dass der Band “Textmaschinenkörper” die Intensivierung und Aktualisierung einer genderorientierten Literaturwissenschaft anstrebt. Die ausgewählten Beiträge sollen vor Augen führen, dass eine genderorientierte Literaturwissenschaft zu notwendigen Antworten auf hochaktuelle Fragen führt und damit keineswegs ‘Schnee von gestern’ ist, wie es etwa Thomas E. Schmidt in seiner reichlich oberflächlichen Bestandsaufnahme zur Lage der Germanistik der Öffentlichkeit weismachen wollte.22 Die Analysen in diesem Band zeigen die subtilen Wirkungsweisen der Kategorie Geschlecht auf und belegen, welche Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten, methodischen Fundierungen und inhaltlichen Positionierungen genderorientierte Lektüren des Androiden erlauben. Eine genderorientierte Literaturwissenschaft steht, dies soll dieser Band belegen, mit ihren Untersuchungsgegenständen, Fragestellungen und Lektüren im Zentrum der gegenwärtigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Debatten. In der deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaft sind indes genderorientierte Lektüren literarischer und künstlerischer Repräsentationen des künstlichen Menschen bisher weitgehend ein Desiderat geblieben. Dass sie notwendig sind, darauf hat zwar Rudolf Drux seit den Anfängen seiner Beschäftigung mit dem Thema verwiesen: Seine Analysen zeigen, dass die Geschlechterzuordnung Schöpfer/Geschöpf der Subjekt/Objekt-Aufteilung patriarchalischer Ordnungen entspricht. Auch Manfred Geier diskutiert Genderfragen. Er setzt sich mit dem provozierenden Faktum auseinander, dass Technik und Künstlichkeit in literarischen Werken verschiedener Zeiten immer wieder durch künstliche, automatenhafte Frauen dargestellt werden, obwohl doch die bis heute virulenten dichotomen Geschlechterdiskurse um 1800 das weibliche Geschlecht der Natur und Technik dem männlichen Geschlecht zuordnen. Eine überzeugende Antwort darauf ist aber Geier in seinem einflussreichen und so diskussionsanregenden Band Fake schuldig geblieben. 22 Thomas E. Schmidt: Die erschöpften Germanisten. In: Die Zeit Nr. 38 vom 9. September 2004.
16 In gegenwärtigen kulturellen Manifestationen einer künstlichen Frau mischen sich scheinbar die Geschlechtergrenzen: Lara Croft trägt zur Figur des Superweibs als Penis-Prothesen gleich zwei Maschinenpistolen. Aus der stummen Verführerin Pygmalions ist nicht nur im Computerspiel ein waffenstarrendes Tank Girl geworden. Weiblich markierte Roboter und Cyborgs stehen ihren männlichen Kollegen an Durchsetzungskraft, Effektivität, Machtbewusstsein, Skrupellosigkeit und Brutalität in keiner Weise nach. Sind dies Folgen einer Emanzipation, einer Transgression von Geschlechterstereotypen, hat hier Butlers Gender trouble oft schon avant la lettre Früchte getragen? Analysen von Science-Fiction-Filmen legen eine andere Erklärungsmöglichkeit nahe: In den Diskursen über Kultur und Natur um 1800 war ‘Natur’ das Wilde, Unbändige, Unkontrollierbare, Gefährliche. Europäische Männer wollten es mit zwei Strategien zähmen: Einerseits haben die herrschenden Geschlechterdiskurse Natur weiblich konnotiert und damit als das Andere vom männlichen Subjekt weg definiert, und andererseits entwickelten die westlichen Gesellschaften immer ausgeprägtere Techniken der Naturbeherrschung, Produktion und schließlich auch Reproduktion. “Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.”, beschreibt Sigmund Freud diese Entwicklung in Das Unbehagen in der Kultur.23 Die ‘Prothesen’ greifen nach dem Menschen, der sie entwickelt hat und dem sie dienen sollen. Die Menschen verspüren Angst vor ihren Geschöpfen, vor der Technik, die ihnen jetzt immer häufiger gefahrvoll, drohend, unüberschaubar gegenüber zu treten scheint. Jetzt ist sie, die doch geschaffen wurde, um Gefahr zu bannen, um Natur berechenbar zu kontrollieren, das Unberechenbare, das Unbeherrschbare, das Außer-KontrolleGeratene. Die Prothese will autonom sein und greift nach ihrem Herrn. Zur Abwehr dieser neuen Gefahr bleibt wieder nur die alte Diskurs-Strategie: Das Ängstigende wird als das Andere, das Fremde und damit oft als das Weibliche kategorisiert.24 Rudulf Drux, dem der Verein Frauen in der Literaturwissenschaft für wissenschaftliche und organisatorische Unterstützung herzlich dankt, eröffnet diesen Band mit Bemerkungen zur Motivgeschichte des künstlichen Menschen. In ihnen liest er die lange Kette von Schöpfungsträumen als fortgesetzte Männerphantasie. Der nächste Aufsatz führt in die Literatur des Mittelalters. Am Beispiel deutscher und französischer Romane analysiert Jutta Eming die Funktion von Automaten für die Darstellung männlicher Heroen. Auf den ersten Blick treten die Automaten deutlich als eine Herausforderung an den Mut und die Stärke 23
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Wien 1930. S. 50. Auch die andere häufige Form des künstlichen Menschen in Literatur und Film, die Dienerfigur, ließe sich als Machtkampf zwischen Mensch und Prothese deuten. 24
17 der Helden auf. In einer detaillierten Analyse zeigt Eming jedoch, dass die konfliktreiche Begegnung zwischen Mensch und Maschine einen sehr viel differenzierteren und weitaus komplexeren Zweck hat. So reflektieren die Automaten in Konrad Flecks Flore und Blanscheflur und vor allem in Le Roman de Troie von Benoît de Sainte-Maure vielmehr soziale und ethische Ideale und dienen somit der Rückbindung an die höfische Identität, die auf einem subtilen Wertesystem basiert. Auf diese Weise haben die Automaten wesentlichen Anteil an der Konstruktion eines modellhaften Männerbildes im Mittelalter. Die Beschäftigung mit dem künstlichen Menschen bindet Britta Herrmann an den Begriff der Imagination, der in den medizinischen, anthropologischen, philosophischen und poetologischen Diskursen des 18. Jahrhunderts eine bedeutsame, doch zugleich auch ambivalente Rolle spielt. Erzählungen von menschlichen Missgeburten, die als Folgen der unkontrollierbaren, zerstörerischen Kraft der weiblichen Imagination dargestellt werden, bringen den weiblichen ‘Schöpfungsakt’ in Misskredit. Nur durch eine regulierende, männliche Vernunft kann die Imagination nach der Vorstellung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zur Hauptquelle von Kreation und Erneuerung im entstehenden Genie-Konzept werden. Herrmann rekonstruiert am Beispiel der Mythen von Pygmalion und Prometheus sowie ihrer mutterlosen schönen Kinder, wie Imagination, nun positiv rekodiert, als fruchtbare männliche Kraft innerhalb der Künste und Wissenschaften betrachtet wird. Anhand von Mary Shelleys Frankenstein, E.T.A. Hoffmanns “Der Sandmann” und Johann Jakob Bodmers “Pygmalion und Elise” zeigt Herrmann darüber hinaus, dass die Zuordnung weiblich/männlich auch zu einer Hierarchisierung ästhetischer und poetologischer Konzepte in der Klassik und Romantik führt. Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) und E.T.A. Hoffmanns “Der Sandmann” (1816) sind zwei von vielen Schauergeschichten aus der Zeit kurz nach 1800, die künstliche Menschen auftreten lassen. Für Eva Kormann erweist sich in beiden Geschichten das Konzept des autonomen Subjekts als fragwürdige und gefährliche menschliche Selbstkonstruktion. Die solipsistischen Menschenschöpfer streben nach Autonomie und scheitern daran. Sie zerstören ihre Kreaturen, werden zur Gefahr für die Menschen, die sie umgeben, und für sich selbst. Auch noch am Ende des 19. Jahrhunderts bleibt Autonomie ein – durchaus aporetisches – Leitmodell, dies zeigt dieser Beitrag mit einem Blick auf Auguste Villiers de L’Isle-Adam’s L’Ève future (1886). Villiers de L’Isle-Adam’s L’Ève future steht auch am Ausgangspunkt des nächsten Beitrags: Carola Hilmes ist den Veränderungen literarischer “Visionen einer künstlichen Eva” auf der Spur. Sie vergleicht die Genderkonstruktionen, die hinter Villiers mit technischen Mitteln geschaffener Eva stehen, mit der in Angela Carters Roman The Passion of New Eve (1977). Dieser Roman dekonstruiert mit seinen hybriden Figuren, Monstern und künstlichen Wesen
18 noch herrschende Geschlechterstereotypen auf hochironische Weise. Die neuen hybriden Figuren, die Monster und künstlichen Wesen weisen voraus auf Donna Haraways Visionen einer Geschlechtergrenzen überwindenen Cyborg-Welt. Vor dem Hintergrund der Verwendung von Wachspuppen in der Romantik und im Modernismus analysiert Marianne Vogels Aufsatz die Bedeutung dieser Artefakte in der Literatur Jean Pauls und in einigen Aufsätzen Walter Benjamins und weist nach, wie mittels dieser Textmaschinenkörper jeweils die Bedrohung männlicher Identität und herkömmlicher Maskulinität zum Ausdruck gebracht wird. Annette Bühler-Dietrich befasst sich mit dem Thema der Puppe in den Schriften Rainer Maria Rilkes, das zu den wichtigen wiederkehrenden Motiven in seinem Werk gehört. Mit der Niederschrift des Aufsatzes “Puppen: Zu den Wachspuppen von Lotte Pritzel” und der vierten Duineser Elegie findet es im Zeitraum 1914–1915 besondere Aufmerksamkeit. Auch im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé erscheint in diesen Jahren das Bild der Puppe wiederholt, erweist sich aber zunehmend als Symptom verdrängter infantiler Sexualität. Die Geschichte der Puppenmacherin Käthe Kruse beschreibt Gudrun Wedel. Sie stellt die Autobiografie und autobiografische Kinderbücher ins Zentrum ihres Aufsatzes und erläutert neben den zahlreichen Rollen dieser außergewöhnlichen und in vielen Bereichen auch unkonventionellen Frau (Schauspielerin, Mutter von sieben Kindern, Puppenmacherin, Schriftstellerin, Fotografin und Gründerin eines erfolgreichen Unternehmens) auch das künstlerische Konzept, die bewusste Mischung aus Realität und Phantasie, die Kruses kleine ‘künstliche Menschen’ auszeichnet. Eine besondere Form des Textmaschinenkörpers findet sich in Cathy Gelbins Aufsatz über die Golemfigur in der heutigen deutsch-jüdischen Literatur. Der Golem figuriert traditionell als Metapher für die Zugehörigkeit und/oder Ausgeschlossenheit der Juden in den deutschsprachigen Ländern. Die neue Erscheinung der Golemtrope in der Literatur von Benjamin Stein, Esther Dischereit und Doron Rabinovici zeigt nicht nur die Zweite Jüdische Generation als die verkörperte Erinnerung der Shoah, sondern kann auch als Ausdruck des neuen europäischen Judentums verstanden werden, der jenseits und über Grenzen von Politik und Nation erscheint. Das Theaterstück Unbefleckt von Carl Djerassi thematisiert die Diskussion um neue Technologien der künstlichen Befruchtung und verknüpft diese mit einem Streit um die Zuschreibung von Autorschaft. Birte Giesler konzentriert sich in ihrer Interpretation der Beziehungs- und Verwechslungskomödie auf die Auswirkungen der Reproduktionsmedizin auf das Geschlechterverhältnis, das sich hier zu Gunsten der Frauen zu verschieben scheint. Doch Giesler fragt, ob das Drama nicht doch den alten Traum von der männlichen Selbstzeugung wiederholt. Denn am Ende des Stückes repräsentiert das glückliche Paar den
19 altbekannten Dualismus der Geschlechter: zum einen den sich in jeder Hinsicht autonom wähnenden Mann, zum andern die auf Körperlichkeit und Natur festgeschriebene Frau. Für Tanja Nusser stellen die neuen Reproduktionstechnologien traditionelle Familienkonstellationen in Frage. In der Figur des durch die NRT empfangenen Kindes werde eine hybride Situation markiert. Das Kind verdankt seine Herkunft einem materiellen und geistigen ‘Akt’, der bei einigen der Technologien zu einer Vervielfachung der elterlichen Positionen führe. Im Begriff, in der Metapher des Cyborg-Fötus, so Nusser, wird diese Hybridisierung durch die technischen Interventionen als eine Fusion von Organischem und Technischem konzipiert, und in Nachfolge von Haraways Aufsatz werden teilweise utopische Potentiale beschworen. Diese müssen aber, zeigt der Artikel, durchaus problematisiert werden, wenn man sich mit den Implikationen einer Verschmelzung von Kybernetik und Bio- beziehungsweise Reproduktionstechnologie, also einer zweifachen künstlichen Entstehung, wie sie in neueren Filmen imaginiert wird, auseinandersetzt. Körperbilder werden im Zeitalter digitaler Medien nicht länger als Abbilder realer Körper wahrgenommen, sondern nur noch als das, was sie sind: als Bilder. Dies ist der Ausgangspunkt von Frank Deglers Analyse aktueller Filme und Computerspiele. Die Auswirkungen dieses Prozesses auf das audiovisuelle Dispositiv seien kaum zu überschätzen, insbesondere im Fall der vielen toten Körper, deren Sterben und Wiederauferstehung Computerspiele so oft präsentierten. Degler sieht darin den Kern einer neuen Form des Erzählens. Die Körperlichkeit der He-roen und She-roen ist nicht mehr eine zerbrechliche und das Mitleiden herausfordernde, sondern nur noch eine provisorische, deren Zweck darin besteht, immer wieder ausgelöscht zu werden. Der Beitrag wird am Beispiel von Tomb Raider zunächst die Grundüberlegung entfalten, inwiefern sich das Problem der adaequatio im digitalen Zeitalter noch sinnvoll formulieren lässt, und wird anhand verschiedener Computer/Spiel/Filme, von Tron und War Games bis Lola rennt und Matrix, das Spannungsfeld von Digitalität und Realität analysieren. Eine genauere Untersuchung der Geschlechterverhältnisse in der MatrixTrilogie steuert Elke Brüns Aufsatz bei. In den letzten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts, in denen die Menschheit immer konkreter mit den Herausforderungen der Biotechnologien, Lebenswissenschaften und damit verbundener Virtualisierung des Menschen konfrontiert wird, wird auch der Zuschauer im Kino der möglichen Inkarnation eines künstlichen Menschen zunehmend ausgesetzt. Nicht nur die Gefahren und damit verbundene Ängste einer solchen Inkarnation sind Thema der Filme, sondern ebenso die Wünsche nach Ermächtigung und Erlösung gehen damit einher. Brüns analysiert in Larry und Andy Wachowskis Matrix-Trilogie vor allem die Verbindung zwischen Körper und Geschlecht in einem christlich inspirierten Phantasma.
20 Claudia Gremlers Beitrag behandelt das Thema künstliche Menschen im Film zu den Hoch-Zeiten der Neuen Frauenbewegung in den siebziger Jahren. In dieser Zeit erwacht erneut die männliche Wunschfantasie von der idealen künstlichen Frau. In der Horrorgeschichte The Stepford Wives (Roman von Ira Levin 1972, der 1975 von Bryan Forbes verfilmt wurde) werden reale Ehefrauen im Laufe der Zeit von ihren Ehemännern durch Androiden ersetzt, die ihren Originalen täuschend ähnlich sehen und dem patriarchalischen Modell einer idealen Ehefrau entsprechend funktionieren. Mit Bezug auf die klassischen Genreelemente zeigt Gremler anhand der Rolle der Protagonistin die Möglichkeit sowohl einer feministischen als auch einer antifeministischen Lesart des Films auf. Silke Arnold-de Simines Beitrag untersucht den Entwurf der Maschine als besseren Menschen in Ridley Scotts Blade Runner (1982/1992) und weist nach, wie das Bewusstsein von und das Bedürfnis nach einer eigenen Vergangenheit (und damit auch Zukunft), den Dreh- und Angelpunkt von “Menschlichkeit” bildet. Die Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Maschine wird vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Gedächtniskonzeptionen und -medien gestellt. Gefragt wird so nach der Funktion von Gedächtnismedien wie Literatur, Fotografie und Film in der Herausbildung von jenen Erinnerungen, die den ‘wahren’ Menschen vom künstlichen unterscheiden, deren imaginärer Charakter jedoch jegliches Authentizitätskriterium in Bezug auf die erlebte Vergangenheit als problematisch aufzeigt. Eine zweite Frage betrifft das Genderverhältnis zwischen (menschlichem und männlichem) Schöpfer und (künstlichem, weiblich konnotiertem) Geschöpf und siedelt Scotts Film in einer langen Tradition des Automatenmotivs an. Androiden und weibliche Cyborgs gehören zum wesentlichen Repertoire von Science Fiction Filmen. Doch während sich das Genre einerseits seit den 1920er Jahren deutlich gewandelt hat, sind die Repräsentationen weiblicher Androiden und Cyborgs gleich geblieben. Florentine Strzelczyk zeigt in ihrer Analyse, welche auffallenden Ähnlichkeiten sich zwischen der Konzeptualisierung der Maschinen-Maria in Fritz Langs Metropolis (1926) und der Borg Queen in Star Trek: First Contact (1996) feststellen lassen. Während Langs Maschinen-Maria die für das frühe 20. Jahrhundert typischen Ängste vor der weiblichen Sexualität ausdrückt, ist die Figur der Borg Queen durch die verschiedenen Ängste der neuen mikroelektronischen Formen der Kommunikation gekennzeichnet, die als exzessive und unkontrollierbare weibliche Sexualität kodiert sind. Dabei macht Strzelcyk deutlich, dass Langs Film als Blaupause fungiert, die mit neuen und sich ändernden politischen Inhalten im Hinblick auf Technologie und Gender ausgefüllt werden kann. Mit dieser gendersensiblen Analyse der aktuellen Science-Fiction-Filmproduktion schließt der Band Textmaschinenkörper.
Rudolf Drux
Männerträume, Frauenkörper, Textmaschinen. Zur Geschichte eines Motivkomplexes The idea and the literary motif of artificial human beings has existed since the ancient world. This essay gives an introductory survey of fundamental elements of this complex motif and points out some important traits of its development. Even Homer tells stories about artificial beings that are made in order to serve the gods. The idea of creating willing beings can also be seen in the automata of the 18th century and the robots in the 20th century. Apart from the master and servant relationship this literary motif especially demonstrates the relations of the sexes. In most cases the inventor of an artificial human being is male (e.g. Pygmalion, Thomas Alva Edison) and very often the creature is female. Yet not only a supposed victory over nature is presented. As this analysis shows male sexual desire and at the same time deep fear of sexuality play an important part in this creating act. Eventually, a closer look at E.T.A. Hoffmann’s “Der Sandmann” and Goethe’s Faust elucidate a critical use of this literary motif. Above all Goethe’s text depicts the desire for a creation of human life that is independent of biological conditions and praises the male mind. The attempt to making the female body superfluous is clear in the context of current reproductive medicine. The science fiction vision in which a woman is released from giving birth is no longer a male utopian dream.
Am Anfang war Homer, auch was die ersten künstlich gefertigten Menschen betrifft; denn wie er in der Ilias (XVIII 373 ff.; 417 f.) erzählt,1 gehören zu den Erzeugnissen des “erfindungsreichen” Hephaistos, des kunstfertigen Schmiedes 1
Alle im Darstellungstext genannten Werke finden sich in: Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden – Texte von Homer bis Asimov. Hg. von Rudolf Drux. Stuttgart 1988. Da die Anthologie aber inzwischen vergriffen ist, gebe ich die einzelnen Titel, aus denen ich hier zitiere oder auf die ich verweise (und die im Übrigen auch fast alle in den Beiträgen dieses Bandes behandelt werden), in dem nachstehenden Literaturverzeichnis an. Auf den Zusammenhang von Frauenbildern und Männerphantasien bei der Gestaltung des Motivs der künstlichen Frau habe ich mit Blick auf seine Ausprägung in der romantischen Literatur bereits auf dem Triestiner Kongress über ‘Maschinen-Menschen’ 1986 (der sich im Nachhinein als eine Art Katalysator für die Erforschung dieses Motivkomplexes herausgestellt hat) hingewiesen: Rudolf Drux: Von der gelenkten Gliederpuppe bis zu den Dampfmaschinen beiderlei Geschlechts. In: Maschinenmenschen. Referate der Triestiner Tagung. Hg. von Horst Albert Glaser und Wolfgang Kaempfer. Frankfurt/M. u.a. 1988. S.86–96. Des Weiteren habe ich auf folgende eigenen Studien zur Thematik zurückgegriffen: Rudolf Drux: Mit romantischen Traumfrauen gegen die Pest der Zeit. Heinrich Heines “Florentinische Nächte” im dritten Teil des Salons. In: Literatur und Politik der HeineZeit. Hg. von Hartmut Kircher und Maria Klanska. Köln u.a. 1998. S. 36–41; Rudolf Drux: Frankenstein oder der Mythos vom künstlichen Menschen und seinem Schöpfer. In: Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen. Hg. von Rudolf Drux. Frankfurt/M. 1999. S. 26–47.
22 unter den Olympiern, der die Göttinnen mit prächtigem Geschmeide und seinen Vater Zeus mit den Macht sichernden Blitzen versorgt, nicht nur mit Rädern versehene Dreifüße, die von selbst zum Dienst bei den Göttern anrollen, sondern auch reizende Jungfrauen aus Gold, die “den hinkenden Feuerbeherrscher” stützen. Bei den Römern hieß er übrigens Vulcanus, weil sie ihn am gewaltigen Feuer des Vesuvs wirken glaubten, und wie (den mythengeschichtlich älteren) Prometheus, der aus dem vorolympischen Geschlecht der Titanen stammt, erwählten ihn die Handwerker im antiken Athen zu ihrem Schutzpatron. Für ihre gestalterische Tätigkeit ist das Feuer gewiss unerlässlich; darüber hinaus aber setzt die Entfaltung der Kultur überhaupt erst seine Domestizierung voraus. Deshalb war der eigentlich schöpferische Akt des Demiurgen Prometheus die Nutzbarmachung des Feuers, was dessen listige Beschaffung, das heißt Diebstahl voraussetzt. Denn Zeus hatte aus Ärger über und zur Strafe für den Opferbetrug des Titanen ihm und den Menschen, die er – so schildert es der römische Dichter Ovid im ersten Buch seiner Metamorphosen (I 83) – Lehm mit Regenwasser mischend, “nach dem Bilde der alles lenkenden Götter formte”, das zum (Über-)Leben notwendige Element vorenthalten.
I Klar geht jedenfalls aus den oben genannten Versen der Ilias hervor, dass die selbstbeweglichen Gebilde, die automatischen Knechte oder Handlanger des Hephaistos, durch ihre instrumentelle Funktion bestimmt sind. Von daher wäre ihre tatsächliche Herstellung, wie Aristoteles in der Politik (I 4 b 32–40) folgert, durchaus ein gewichtiger Beitrag zur Lösung des Sklavenproblems und Entspannung des Herr-und-Knecht-Verhältnisses: Wenn nämlich jedes einzelne Werkzeug, auf einen Befehl hin oder einen solchen gar im voraus erahnend, sein Werk verrichten könnte, wie man das von den Standbildern des Dädalus oder den Dreifüßen des Hephaistos erzählt, von denen der Dichter sagt, sie seien von selbst zur Versammlung der Götter erschienen, wenn also auch das Weberschiffchen so webte und das Plektron die Kithara schlüge, dann brauchten allerdings die Handwerker keine Gehilfen und die Herren keine Sklaven.
Das automatische Weberschiffchen wird etliche Jahrhunderte später entscheidend an der industriellen Revolution beteiligt sein und fern jeder mythischen Vision die Zahl der Arbeiter in den Textilmanufakturen ganz real reduzieren. Der geniale Automatenbauer Jacques de Vaucanson, der von der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Paris 1738 für die klare Konzeption und Aus der psychoanalytisch verfahrenden Forschung zu diesem Thema habe ich Erkenntnisse verwendet von: Bruno Bettelheim: Die symbolischen Wunden. Pubertätsriten und der Neid des Mannes. Frankfurt/M. 1982 und Klaus Theweleit: Männerphantasien 1. Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. Frankfurt/M. 1977.
23 gelungene Ausführung seines mechanischen Flötenspielers ausgezeichnet worden war, konstruierte nämlich einen von Lochkarten gesteuerten Webeapparat für die Seidenmanufakturen zu Lyon, zu deren königlichen Inspektor er 1741 ernannt wurde. In dieser Position konzentrierte er sein an den mechanisch-modellhaften Lebewesen erprobtes Talent auf Nutzmaschinen und beförderte so einen technikgeschichtlichen Prozess, in dessen Verlauf – so Hans Magnus Enzensberger 1975 in seiner Mausoleums-Ballade über Vaucanson – “von der Haspelei bis zum Walkwerk / ein integrierter industrieller Komplex, / gut ausgeleuchtet, voll klimatisiert”, entstand. Dass die anthropomorphen Kunstwesen Aufgaben, die gemeinhin für den Menschen unangenehm oder belastend sind, zu erledigen vermögen (und auch der Golem der Kabbala wird zu diesem Zweck durch die mystische Kraft der heiligen Buchstaben belebt), das bleibt, unabhängig von der ständig verbesserten technologischen Ausstattung ihrer auf Effizienz getrimmten Maschinenkörper, noch im 19. und 20. Jahrhundert ein zentrales Anliegen ihrer Hersteller. Davon zeugt die internationale Karriere des (nach dem tschechischen Wort robota ⫽ Fron-, Schwerstarbeit) gebildeten Begriffs ‘Roboter’, der aus Karel Capeks “utopischem Kollektivdrama” Rossum’s Universal Robots (1921) als Bezeichnung für jedwede Arbeits- und Dienstleistungsmaschine in Menschengestalt längst in die Lexika der Industrienationen gelangt ist. Daran hat auch die fortschreitende Segmentierung des Arbeitsablaufs nichts geändert, die, schon 1854 von Hermann von Helmholtz mit der Abkehr von der mechanischen Nachbildung eines (möglichst) kompletten Menschen und der Fokussierung auf nur eine einzige, dafür aber optimierte spezifisch menschliche Fähigkeit gefordert, sich im Zuge der unaufhaltsamen Spezialisierung in der modernen Arbeitswelt vollzog. Der elektronische Greifarm beispielsweise, auf die Simulation der natürlichen Bewegungen von Armen und Händen programmiert, kann komplizierte Aufgaben etwa im Rahmen der Kraftfahrzeugproduktion oder bei orthopädischen Operationen mustergültig und seine menschlichen Fachkollegen an Geschwindigkeit und Genauigkeit bei Weitem übertreffend wahrnehmen. Allerdings trifft auf ihn in verstärktem Maße zu, was bereits Jean Paul 1784 in einer Jugendsatire auf die eher harmlosen, wenn auch seinerzeit großes Aufsehen erregenden Spielautomaten und Sprechapparate betonte, dass nämlich immer schon “Maschinen zu Markt [gebracht worden seien], welche die Menschen außer Nahrung setzten, indem sie die Arbeiten derselben besser und schneller ausführten”. Als Gehilfinnen hat auch Hephaistos seine goldenen Jungfrauen, die mit “Verstand in der Brust und redender Stimme” begabt sind (was sie als Angehörige der Gattung ‘homo sapiens’ ausweist), von Vornherein vorgesehen; laut der angeführten Ilias-Stelle gebraucht er, “der Lahme”, ihre Körper von “jugendlich zarter Bildung” als Krücken. Ihre in jeder Hinsicht strahlende Erscheinung, über die er, “das rußige Ungeheuer” auf “schwächlichen Beinen”,
24 nach Belieben verfügt, kompensiert sichtlich seine Hässlichkeit, derentwegen ihn einst sogar seine eigene Mutter, die “entsetzliche” Hera, “auszutilgen beschloss”. Komplexer nimmt sich die Motivation für eine weitere, berühmtere Frauenfabrikation in der griechischen Mythologie aus, was nicht verwundern kann: Bei Pandora verfolgt der olympische Schmied keine Eigeninteressen, vielmehr wird er (nach der Version des Mythos, die Hesiod in seinen Werken und Tagen (47–105) vermittelt) im Auftrag seines Vaters tätig, der ihm genau sagt, was er zu tun hat. Zeus lässt ihn ein Mädchen voll “lockender Schönheit” aus feuchter Erde formen, also eigentlich auf dieselbe Weise, wie Prometheus den Menschen bildete; dieser jedoch konnte für sein Geschöpf auf eine “frische” Erdscholle zurückgreifen, “die, da kürzlich erst vom hohen Äther geschieden, noch die verwandten himmlischen Keime enthielt”, womit Ovid den entscheidenden Unterschied zwischen der ursprünglichen Genese des Menschen und seinen späteren Nachschöpfungen markiert (Metamorphosen I 80f.). Der Bildungsprozess der lieblich gestalteten Pandora wird – immer noch “nach dem Ratschluss Kronions” – damit fortgesetzt, dass die Göttinnen der “Allbegabten” oder “Allgeberin” (beide Lesarten erlaubt die Etymologie ihres Namens und rechtfertigt ihre Geschichte) zahlreiche Eigenschaften verleihen, die schon damals als typisch weiblich galten (auch Arglist und Schmeichelei, für die jedoch der verschlagene Götterbote Hermes zuständig ist), und sie prachtvoll mit Ketten, Kränzen und Kleidung dekorieren. Derart ausgerüstet, wird sie zu den Menschen geschickt – beziehungsweise zu den “Männern”, ist diese Übersetzung des griechischen ‘andrés’ doch passender, zum einen weil allein ihnen das Epitheton “geschäftig, betriebsam” im Sinne Hesiods zukommt. Zum andern bedarf die verheerende Wirkung der mit allen Reizen ausgestatteten Traumfrau und ihres ominösen Gefäßes, in der Krankheiten und Laster versammelt sind, auf eine reine Männergesellschaft keiner langen Erklärung. Diese ist für die sinnliche Schöne empfänglich, hier, unter den Männern, breiten sich die Übel aus der geöffneten Büchse rasch aus. Gewiss, es verbleibt die in ihrem Innern eingelagerte Hoffnung, bekanntlich stirbt sie zuletzt und deshalb das Menschengeschlecht nicht aus, doch das sorglose Leben auf Erden ist endgültig vorbei. Das erinnert stark an die Genesis (1. Mose 3), in der die sekundär aus Adams Rippe geschaffene Eva, da sie den Einflüsterungen der Schlange nachgibt und ihren Gefährten zum Genuss des verbotenen Apfels überredet, den Verlust des Paradieses herbeiführt. Offenbar gelangt in den Schöpfungsmythen patriarchalischer Kulturen das Böse über die Frau in die Welt. In das Trauerspiel um Pandora, die zum wandelnden Strafvollzug hergerichtete Kunstfrau, sind drei männliche Akteure involviert: ein Auftraggeber, ein Exekutor und ein Opfer. Auch wenn diese Rollen mitunter nur von zwei Personen übernommen werden, die mythologische Konstellation hat sich in der Literaturgeschichte behauptet und noch auf ihrer trivialen Schwundstufe überdauert, was Thea von Harbous Roman Metropolis (1926), den Fritz Lang in die
25 expressionistischen Bilder seines gleichnamigen Spielfilms übersetzte, belegt: Joh Federsen, der Zeus der Metropolis, bedient sich zur Sicherung seiner Macht eines weiblichen Wesens, das der genial-perverse Erfinder Rotwang entworfen hat und dessen erotischer Ausstrahlung kein Mann widerstehen kann; als falsche Maria verführt sie gleisnerisch die geschundenen Arbeiter zu selbstzerstörerischem Aufruhr, kann aber letztlich die sentimentale Versöhnung “zwischen Hirn und Händen” nicht verhindern, die sich in der Verbindung zwischen dem edlen Sohn des skrupellosen, aber durch die Ereignisse geläuterten Herrn über die kapitalistische Maschinenwelt und der wahren Maria, dem Engel der Armen und Ausgebeuteten in der Unterstadt, triefend symbolisiert. Neben der zum Untergang der Männer instrumentalisierten dämonischen Maschinenfrau wird damit ein weiteres im klassischen und biblischen Mythos angelegtes Klischee gepflegt: die Doppelnatur der Frau als Hure und Heilige.
II Ein weiterer männlicher Beweggrund für den Bau einer künstlichen Frau geht in ungalanter Deutlichkeit aus der Sage vom zypriotischen Bildhauer Pygmalion hervor, der – Ovids Version der Sage zufolge – “empört war ob der Vielzahl der Laster des Weibergeschlechtes, / die von Natur es besitzt” (Metamorphosen X 243f.). Ähnliches muss wohl auch der dandyhafte Lord Ewald empfinden, ist er doch durchaus damit einverstanden, dass kein Geringerer als der große amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison seine hübsche, aber geistlosgewöhnliche Freundin gegen das “elektrische Ideal” eintauscht, das dieser unter Verwendung der neusten Errungenschaften der Elektrotechnik (vom antreibenden Elektromotor bis zur Walze mit Stanniolstreifen, die stundenlang geistvolle Dichterworte abspulen kann) zur “Eva der Zukunft” entwickelt hatte, wie der französische Symbolist Villiers de l’Isle-Adam seinen 1886 erschienen Roman betitelt. Bei Oskar Kokoschka materialisiert sich dieser Männertraum endgültig: Als sich ihm Alma Mahler als Geliebte entzieht, erteilt er der Puppenbildnerin Hermine Moos 1918 den Auftrag, “eine lebensgroße Darstellung der Geliebten recht getreu nachzuahmen und mit […] Geduld und Sensualität in Realität umzuschaffen”. Die Bauanleitungen, die sich auf “die Kontur des Körpers”, die Stärke des Skeletts, die Form der Extremitäten und der Brüste, ja sogar auf die “parties honteuses” (“vollkommen und üppig”) beziehen, sind äußerst akribisch, bei dem damaligen Stand der Technik aber nicht naturalistisch umzusetzen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Erwartungen des Malers enttäuscht werden. Beim Anblick der Puppe ist er “ehrlich erschrocken”, denn deren “äußere Hülle ist ein Eisbärfell, das für eine Nachahmung eines zottigen Bettvorlegebären geeignet wäre, aber nie für die Geschmeidigkeit und Sanftheit einer Weiberhaut”. Schließlich wird sie in einem Happening vernichtet und wahrhaft mythologisch
26 entsorgt, im Orkus der Zivilisation, das heißt verbracht auf die Müllhalde. Den von Kokoschka beklagten Mangel an Gefühlsechtheit hat die Kunststoffindustrie inzwischen längst erfolgreich beseitigt, was die aufblasbare (ursprünglich nur in weiblicher Ausfertigung erhältliche) Puppe belegt, die zum Markenartikel von Sexshops avanciert ist. (Auch in der Literatur hat sie schnell reüssiert; für die Wiedererweckung einer verstorbenen Filmdiva in Lawrence Durrells Roman Numquam (1970) sind manche ihrer Details im Genitalbereich ebenso hilfreich, wie sie für einige Aussteiger in Charles Bukowskis Erzählungen, zum Beispiel Fuck Machine (dt. 1972) verwirrend sind.) Technologisch fortschrittlicher als diese, aber gleichfalls auf die Befriedigung sexueller Bedürfnisse ausgerichtet sind die computergrafisch animierten Gespielinnen, die, über ein CD-ROMLaufwerk oder im Internet abrufbar, zum digitalen Sex einladen und dem einsamen Benutzer Lustgefühle virtuell bescheren. Hinter all diesen künstlichen Ersatzfrauen lässt sich die Sehnsucht des Mannes ausmachen, die weibliche Sexualität zu beherrschen, was mit seiner Angst vor der andersartigen Natur der Frau zusammenhängt, insbesondere ihrer Fähigkeit, Leben hervorzubringen. Auch Dr. Frankenstein, der Titelheld von Mary Shelleys Roman (1818), ist davon erfüllt: Im Bestreben, “Wesen und Ursprung des Lebens” zu ergründen, zieht er sich zur künstlichen Kreation eines menschlichen Wesens in sein Labor zurück. Von seiner Braut hält er sich fern, schiebt die Heirat mehrmals auf und entgeht letztlich dem ehelichen Vollzug, weil Elisabeth zuvor in der Hochzeitsnacht bestialisch ermordet wird. Diese Untat hätte er verhindern können, wenn er seinem Monster das gewünschte weibliche Pendant beschert hätte; das jedoch verweigert er ihm, sich auf seine humane Pflicht besinnend, solchen Eltern die Zeugung von Kindern zu versagen und zur Rettung der Menschheit die Ausbreitung eines “Geschlechts von Teufeln” zu unterbinden. Als ob diese Gefahr wirklich drohte beziehungsweise durch die Sterilität der Monsterfrau nicht von vornherein zu vermeiden wäre! Nein, ganz offenkundig führt den fatalen Gang der Ereignisse in die Katastrophe Frankensteins Phobie vor einer sexuellen Vereinigung und der daraus folgenden Befruchtung der Partnerin herbei, womit jenes Defizitgefühl ins Pathologische gesteigert ist, für das die Tiefenpsychologie den Begriff ‘Gebärneid’ geprägt hat. Ihn erläutert der Psychoanalytiker Bruno Bettelheim am Beispiel der ‘Couvade’, des Männerkindbettes: Bei vielen Naturvölkern sei zu beobachten, dass sich der Mann nach der Geburt des Kindes mit diesem wochenlang ins Bett legt, diätetisch ernähren und umsorgen lässt. Er “möchte herausfinden, wie es ist, wenn man gebärt, oder er möchte erzählen, daß er es kann. Mit dieser unwahren Behauptung möchte er von der Bedeutung der Frau ablenken”. Er kann aber nur die äußeren Umstände imitieren, das Wesentliche bleibt ihm verwehrt: Er wird einfach keine Kinder gebären. Nicht der Beseitigung, sondern der Bewältigung dieses tief empfundenen Mangels dienen demnach seine Bemühungen im künstlichen Wochenbett wie bei der künstlichen Geburt.
27 III Die Motive der männlichen Menschenschöpfer (bis weit ins 20. Jahrhundert sind grundsätzlich Männer für die Konstruktion der Kunstwesen verantwortlich, die ihrerseits entweder Diener und/oder Frauen sind) lassen sich insgesamt an zwei herausragenden Werken des frühen 19. Jahrhunderts ablesen, auf die ich deshalb etwas näher eingehen möchte: Ich meine E.T.A. Hoffmanns “Nachtstück” Der Sandmann (1816) und J.W. v. Goethes Faust II (1832), vor allem die Laboratoriums-Szene aus dem zweiten Akt. Zugleich geben sie die unterschiedlichen Macharten und Substitutionsformen humanoider Kunstgeschöpfe wieder; jeweils den Maschinen- beziehungsweise Retortenmenschen repräsentierend, perfektionieren beziehungsweise pervertieren sie einerseits einen bestimmten Frauentypus, andrerseits den natürlichen Zeugungs- und Geburtsvorgang. Kaum eine andere literarische Kunstfrau hat auf Künstler und Wissenschaftler derart anregend gewirkt wie die singende und tanzende Holzpuppe Olimpia aus E.T.A. Hoffmanns Erzählung. Ihr Erscheinungsbild erinnert an die (auch heute noch in Neûchatel/Schweiz zu bewundernde) mechanische Rokoko-Musikerin von Vater und Sohn Jaquet-Droz (1768). Sie entlockt fünf verschiedene Stücke einem Harmonium, dessen Tasten auf den Druck ihrer Finger zu reagieren scheinen, während ihre Augen den Bewegungen ihrer zierlichen Hände folgen. Hoffmann war sie, wie er selbst an anderer Stelle mitteilt, bekannt. Allerdings ist die Suche nach Olimpias technischem Vorbild (wofür in den Jahrzehnten nach 1800 dank eines breiten – damals bereits – musealen Interesses an musizierenden Androiden diverse Exponate in Frage kommen können) für das Verständnis des Textes weit weniger wichtig als die Aufdeckung des sozialen und genderpolitischen Diskurses, der ihre literarische Darstellung prägt. Der Öffentlichkeit wird Olimpia auf einem glanzvollen Fest präsentiert, das ihr Vater Spalanzani, Professor der Naturkunde, für sie ausrichtet und zu dem “die halbe Universität eingeladen” ist. “Sehr reich und geschmackvoll gekleidet”, was ihre gute Figur unterstreicht, demonstriert sie ihre musische “Fertigkeit”. Ihr Klavierspiel zeichnet ebenso wie ihr Gesang ein hohes Maß an Perfektion aus; freilich weiß nicht jeder Zuhörer ihre technische Bravour (die Jacques Offenbach mit den Koloraturen der aufziehbaren Olympia seiner Oper Hoffmanns Erzählungen (1881) ohrenfällig wiedergibt) zu goutieren, denn ihrer hellen und klaren Stimme sind etliche “schneidende” Töne beigemischt. Auch fällt an ihrer Haltung und Bewegung “etwas Abgemessenes und Steifes” auf, was allgemein den Eindruck erweckt, dass sie sich “dem Zwange […], den ihr die Gesellschaft auflegte”, in ihrer Körpersprache angepasst habe. Überhaupt erfüllt Olimpia die Anforderungen, die das Bürgertum an seine höheren Töchter stellt, so vorzüglich, dass nach ihrer Demontage sich die Herren in den Salons verunsichert fühlen. Einige verlangen sogar, um sich zu überzeugen, “daß man keine
28 Holzpuppe liebe”, von der Geliebten gelegentliche Äußerungen “in der Art […], daß dies Sprechen wirklich ein Denken und Empfinden voraussetze”. Gerade ihre Fähigkeit, ruhig zuzuhören, hatte der unglückliche Student Nathanael, der Protagonist der “traurigen Geschichte”, an Olimpia hoch geschätzt. Sie ließ sein ganzes literarisches Werk über sich ergehen, ohne zu ermüden; und im Unterschied zu seiner Braut Clara vermied sie es, seinen Vortrag durch ein Gähnen zu stören oder mit Stricken zu überbrücken, untersagte sich vor allem kritische Erwiderungen. In der wortarmen und hübschen Holzpuppe begegnet dem dichtenden Studenten die ideale Zuhörerin; von ihr weiß er sich “ganz verstanden”, was er seinem Kommilitonen Siegmund gegenüber auf den Punkt bringt: “nur in Olimpias Liebe finde ich mein Selbst wieder”. Einer solchen Selbstbespiegelung verweigert sich Clara, die seinen Elaboraten eher distanziert gegenüber steht. Sie lehnt sie sogar explizit ab, was er wiederum als Ablehnung seiner Person empfindet. Als sie sein langes Gedicht über die Zerstörung ihres “Liebesglücks” durch den ‘Sandmann’ Coppelius gnadenlos als “tolles – unsinniges – wahnsinniges Märchen” abkanzelt, bezeichnet er sie erbost als “lebloses, verdammtes Automat”, ordnet also seiner lebhaften Braut den Gattungsnamen der starren Olimpia zu. Seinem krankhaften Narzissmus entgeht deren anorganische Substanz und ist seine Hinwendung zu einer anthropomorphen Maschine zuzuschreiben, die er eigentlich, wie die Beschimpfung zeigt, für gefühlskalt und seelenlos hält. (Georg Büchner wird 1834 seine Braut in Straßburg über seinen depressiven Zustand während seines Studiums in Gießen, da ihm selbst “die Wollust des Schmerzes und des Sehnens” abhanden gekommen sei, mit der resümierenden Feststellung informieren: “Ich bin ein Automat; die Seele ist mir genommen”.) Während Nathanael bei seiner heftigen Entgegnung auf Claras Kritik an seinem Dichtwerk aber den sprachlichen Bereich nicht überschreitet, wird er auf der Galerie des Rathausturms handgreiflich: Als er durch Coppolas Perspektiv, durch das er zuvor “nach der schönen Olimpia” schaute, seine Braut erblickt – “Clara stand vor dem Glase!” – , erlebt er einen furchtbaren “Anklang an die Vergangenheit”, das heißt, er assoziiert die schrecklichen Geschehnisse um Olimpias Zerstörung, was einen erneuten Wahnsinnsschub auslöst. Mit dem wörtlich wiederholten Aufschrei “Holzpüppchen dreh dich” sucht er Clara über das Geländer in die Tiefe zu schleudern. Wie jeder Vertauschungsakt setzt auch eine derartig pathologische und katastrophale Verwechslung beziehungsweise Ersetzung, wie sie Nathanael unterläuft beziehungsweise vornimmt, (wenigstens) eine Vergleichsgröße zwischen den Substitutionselementen, hier Clara und Olimpia, voraus, und sei sie noch so subjektiv gespürt oder ersonnen. Worin sie für Nathanael besteht, verraten (mehr noch als die Beschimpfungen) die verbalen Liebkosungen, mit denen er Braut und Geliebte bedenkt. Clara pflegt er gerne als sein “Engelsbild” zu apostrophieren und er bleibt im Sinnbereich engelhafter Wesen, wenn er später Olimpia (sich der Etymologie ihres Namens: ‘die aus dem Olymp Stammende’, annähernd) als
29 “herrliche, himmlische Frau” anschwärmt oder ihre Wortkargheit damit entschuldigt, dass sie “ein Kind des Himmels” sei, das “nicht in platter Konversation faselt” (was ziemlich euphemistisch anmutet, da sich ihr Wortschatz auf den Minimalsignifikanten “ach!” und die Abschiedsformel “Gute Nacht, mein Geliebter!” beschränkt). Nach seiner zwischenzeitlichen Genesung erkennt er “erst recht Claras himmlisch reines, herrliches Gemüt” und erhebt sie zu einem “Engel”, der ihn “auf den lichten Pfad” zurückgeführt habe. Also, die Prädikate, die Nathanael den geliebten Frauen zuteilt, machen deutlich, dass er diese in die Unwirklichkeit des Engelhaft-Reinen erhöht und dass sie für ihn um so liebenswerter sind, je mehr sie seinen Projektionen Raum lassen. Insgesamt aber kann er Clara und Olimpia deshalb mit beinahe demselben Vokabular belegen, weil sie für ihn prinzipiell austauschbar sind. Wer danach fahndet, ob es dafür auch objektive, das heißt nicht aus der psychischen Erkrankung des Protagonisten abzuleitende Gründe gibt, wird nicht übersehen können, dass Clara ihren hausfraulichen Pflichten ebenso gründlich nachkommt wie Olimpia den Geboten kunstsinniger Repräsentation. So fühlt sie sich, wenn ihr Nathanael schon “am frühen Morgen” die “mystische[…] Lehre von Teufeln und grausen Mächten” auftischt, in der Zubereitung des Frühstücks beeinträchtigt. Dass sie ihn aber ironisch als “das böse Prinzip” identifiziert, das ihrem Kaffee “feindlich” gesonnen sei, und damit die höheren Mächte auf die niederen Verrichtungen des Alltags reduziert, das muss ihrem Bräutigam als ein zynisches Herunterspielen seiner manifesten Ängste erscheinen – und als weitere Verharmlosung seiner Bedrückungen, die Claras allzu verständige Erklärung, “ein böses feindliches Prinzip” konstituiere sich allein “in seinem Inneren”, als pragmatisches Kalkül entlarvt. Claras Abwehrreaktion unter Berufung auf häusliche Notwendigkeiten erinnert an die Verhaltensweisen der von Hoffmann öfters karikierten Bürgermädchen, die ihr Glück als Gleichklang mit den sozialen Erwartungen verstehen. Frl. Christina Roos aus der Erzählung Der Artushof bietet dafür ein besonders drastisches Beispiel: Der jungen Frau sei nie “eine Mandeltorte mißraten, und die Buttersauce verdickt sich jedesmal gehörig, weil sie niemals links, sondern immer rechts im Kreise mit dem Löffel rührt!” Wenn es im Hause brennt, werde sie “noch geschwinde den Kanarienvogel füttern und die neue Wäsche verschließen”, bevor sie ihrem Vater den Brand melde. Ihr höchstes Ziel sei die Ehe, weshalb sie auch den Traugott innig liebe, der sie heiraten will; “denn was sollte sie wohl in aller Welt anfangen, wenn sie niemals Frau würde!” Mit seinen spöttischen Attacken und genüsslich ausgeführten Angriffen auf die heiratssüchtigen Bürgertöchter ergeht sich E.T.A. Hoffmann keineswegs nur in frauenfeindlichen Fantasien (hinter denen sich eine traumatische Erfahrung mit seiner Gesangsschülerin Julia Mark aus seiner Bamberger Zeit verbirgt), sondern er nimmt auf sozialgeschichtliche Entwicklungen des beginnenden 19. Jahrhunderts Bezug, insbesondere die Etablierung der bürgerlichen Kleinfamilie, die sich um 1800 unter veränderten (industriellen) Produktionsbedingungen im Rahmen
30 einer Trennung von Arbeitswelt und familiärem Bereich ausprägt und eine Neubestimmung der Rolle der Frau mit sich bringt: Der ‘züchtig im häuslichen Kreise waltenden Hausfrau’, wie dieser weibliche Sozialisationstyp nach Friedrich Schillers programmatischem “Lied von der Glocke” (1799) genannt werden könnte, wird die Fürsorge für den Nachwuchs und den im täglichen Erwerbskampf strapazierten Gatten aufgetragen, und beiden Aufgaben, der Erziehung der Kinder und der Erbauung des Ehemanns, kommt ein gemütliches und ansprechendes Heim entgegen, das die Frau als Regentin im Innern mit Anmut und Würde zu gestalten und erhalten weiß. Dafür empfängt sie ja ihre geschlechtsspezifische Ausbildung, deren Resultate Olimpia so gefällig vorzuführen vermag. “Das ruhige häusliche Glück”, das dem in ihr karikierten Frauentyp obliegt, soll, wie der angehängte Schlussabschnitt des Nachtstücks als Ondit berichtet, letztlich auch Clara zuteil geworden sein – und es entspreche durchaus “ihrem heiteren lebenslustigen Sinn”. Allerdings folgt die Idylle der traulich-kleinbürgerlichen Familienszene um Clara am Ende der Erzählung recht unvermittelt der (im wahrsten Sinn des Wortes) Katastrophe als Ausgang der Tragödie vom armen Nathanael. Als ob es da einen Zusammenhang gäbe.
IV Während Hoffmann auf ein (zu seiner Zeit bereits antiquiertes) Phänomen der Technikgeschichte rekurriert, um die soziale Zurichtung junger Frauen zu automatenhaft funktionierenden Rollenträgerinnen zu parodieren (und die bürgerliche Kleinfamilie als Geburtsort psychischer Defekte zu dekuvrieren), spielt Goethe auf ein aktuelles Ereignis der Naturforschung an, wenn er in seinem Zweiten Faust die Erzeugung eines Homunkulus durch den “hochgelehrte[n]” Dr. Wagner im spätmittelalterlichen Laboratorium darstellt. Dieser beschreibt, vom eigenen Experiment fasziniert, die Vorgänge “in der innersten Phiole” (V. 6824ff.). Darin Erglüht es wie lebendige Kohle, Ja wie der herrlichste Karfunkel, Verstrahlend Blitze durch das Dunkel. Ein helles weißes Licht erscheint!
Das Spiel der Farben indiziert, dass Wagner das Destillationsverfahren der Alchimisten zur Läuterung und Umwandlung von Stoffen anwendet: Die in der Flasche in strahlendem Rot erglühende und in “ein helles weißes Licht” verfeinerte Kohle zeigt die Umwandlung der ‘materia prima’ an, aus der sich nach anfänglicher Schwärzung (nigredo) durch Aufhellung (albedo) der Homunculus entwickelt, womit das alchimistische ‘opus magnum’ verrichtet ist. Das hatte übrigens zuvor schon in wörtlicher Übersetzung sein Schüler erwähnt, als er über seinen Meister sagte, “des großen Werkes Willen / Lebt er im allerstillsten
31 Stillen” (V. 6675f.). Wagner geht bei der Genese des Homunkel von dem “aus viel hundert Stoffen / Durch Mischung” zusammengesetzten (komponierten) “Menschenstoff ” aus, der in einem mit Lehm verschlossenen (verlutierten) Kolben mehrfach destilliert (kohobiert) werden muss: “So ist das Werk im stillen abgetan” (V. 6854). Indem Goethe so eine Urzeugung nach Alchimistenart inszeniert, ordnet er dem gotischen Laboratorium eine wissenschaftsgeschichtlich passende Tätigkeit zu. Darüber hinaus weist er aber auf eine Entdeckung der Chemie seiner Zeit hin, über deren Stand er bestens informiert war: 1828, ein Jahr bevor er die Homunkulus-Episode niederschrieb, gelang es Friedrich Wöhler, eine organische Substanz, den Harnstoff, synthetisch herzustellen, womit auf mechanische Weise (durch “Kristallisieren”) ein Geheimnis der “organisieren[den]” Natur entrissen zu sein schien – in Wagners Worten (V. 6857ff.): Was man an der Natur Geheimnisvolles pries, Das wagen wir verständig zu probieren, Und was sie sonst organisieren ließ, Das lassen wir kristallisieren.
Dass Goethe nicht viel von solch stubengelehrtem Erkenntnisoptimismus hielt, gibt auf der Handlungsebene des Dramas der weitere Werdegang des Männleins in vitro zu verstehen: Als Galatea, der Meerestöchter Schönste, am Ende der Klassischen Walpurgisnacht erscheint, zerschellt Homunkulus mit seiner Phiole, “von Pulsen der Liebe gerührt” (V. 8468), an ihrem Muschelwagen. Die Schönheit der Göttin, Signum vollkommener Körperlichkeit, treibt ihn, den Körperlosen, das Erzeugnis kopflastiger Laborarbeit, in die Wellen des Meeres, aus dem alles Leben “entsprungen”, bevor es sich in “tausend, abertausend Formen” entfaltet hat (V. 8325), – womit er sich der Evolution unterwirft und seinen dringlichsten Wunsch, “im besten Sinn [zu] entstehn” (V. 7831), erfüllt. So setzt Goethe der Urzeugung, der Entwicklung von Organismen aus anorganischen Stoffen im Labor, das organische Wachstum nach den “ewigen Normen” der Natur entgegen. Freilich erschöpft sich die Bedeutung des Goetheschen Homunkulus nicht in dieser naturkundlichen Standortbestimmung; vielmehr hat seine Vieldeutigkeit viele Deutungen hervorgerufen. Mit der hier gebotenen Konzentration auf den Gender-Diskurs ist aber zuerst einmal festzuhalten, dass der in der Retorte angerichtete Homunkulus durchweg über eminente geistige Fähigkeiten verfügt. Als reines Geistwesen, leuchtend in der klingenden Phiole über die Bühne schwebend, vermag er sich in Fausts Traum einzuschleichen und ihn als “die lieblichste von allen Szenen” (V. 6919) auszulegen. In ihr spielt sich eine weitere nicht-natürliche Zeugung ab, und zwar die mythische der schönen Helena, deren Mutter Leda (gemäß der Exegese des männlichen Traums) “mit stolzem weiblichen Vergnügen [sic!] / Der Schwäne Fürsten ihrem Knie sich schmiegen” sieht (V. 6915f.). Zudem ist Homunkulus in der Lage, den Helena begehrenden
32 Faust in die Antike zu geleiten. Er bewährt sich also als Traumdeuter, Reiseleiter und Allheilmittel, das heißt, er nimmt Aufgaben wahr, die die Alchimie dem Stein der Weisen (dem ‘lapis sapientium’, ‘filius philosophorum’ oder eben ‘homunculus’) zuschreibt. Woher aber kommt seine charakteristische Allwissenheit? Eine Erklärung dafür bietet die (Goethe bestens bekannte, aber von Wagner nicht angewendete) Rezeptur des Hohenheimer Arztes und Naturgelehrten Paracelsus, nach der “ein Mensch außerhalb des weiblichen Leibs und einer natürlichen Mutter geboren werden könne”. Dabei berief er sich auf antike Philosophen wie Anaxagoras und Aristoteles, dessen Lehrautorität im Mittelalter unbestritten war. Sie vertreten die Ansicht, dass allein der Vater für die Nachkommenschaft bestimmend sei; ihm sei die wirkende Form (griech.: morphé) zugeordnet, die Mutter diene nur zur Aufbewahrung und Ernährung der Leibesfrucht. Deshalb könne sie auch durch ein entsprechend eingerichtetes und temperiertes Behältnis (wie einen mit Pferdedung gefüllten Kürbis) ersetzt werden. Wenn darin das “sperma eines Manns” (auf das Paracelsus im Gegensatz zu seinen alchimistischen Kollegen wie Dr. Wagner nicht verzichten will) einem vierzig Tage langen Fäulnisprozess (putrefactio) unterzogen werde, komme ein “lebendig” Wesen zustande, das “einem Menschen einigermaßen gleich” sehe. Dieser seiner Mutterlosigkeit dürfte Homunkulus seine geistige Omnipräsenz verdanken. Insofern er nämlich allein aus dem Samen beziehungsweise aus einem spirituellen Prozess hervorgeht, der Mann aber in den Schriften erwähnter Philosophen mit dem Verstand, der prägenden Form, der strukturierenden Kraft korreliert ist, muss der ohne stoffliche Weiblichkeit Geborene zwangsläufig geistiges Potenzial in Reinkultur aufweisen. Diese Vorstellung ist sicherlich unter die fundamentalistischen Männerphantasien zu subsumieren, wie Klaus Theweleit die Männlichkeitsentwürfe von Angehörigen der präfaschistischen Freikorps in seiner psychoanalytischen Studie gleichen Titels (1977) genannt hat. Allerdings, realisieren lässt sie sich nach paracelsischem Rezept nicht. Dass ein Embryo aber außerhalb des weiblichen Körpers, in der Retorte, tatsächlich entstehen kann, hat die Reproduktionsmedizin seit langem (genauer: seit 1978, dem Geburtsjahr der Luise Brown) bewiesen. Was in Werken der bildenden Kunst und Literatur über Jahrhunderte hinweg bloße Fiktion war: künstliche Befruchtung, Embryonentransfer, Leihmutterschaft und Ähnliches, ist inzwischen verwirklicht. Die Schreckensvision des Aldous Huxley von einer Brave New World (1932), in der die Frau nicht von einem Kind, sondern von der Geburt entbunden wird, damit die pränatale Konditionierung der Nachkommen auf ihre künftigen gesellschaftlichen Funktionen hin nicht gefährdet wird, ist im Prinzip nicht länger mehr u-topisch (das heißt ortlos), sondern erhält da ihren soziokulturellen Ort, wo über die ständige Verkürzung der Schwangerschaft zuletzt die extra-uterine angestrebt wird. Wenn das, was Charlotte Kerner 1989 in
33 ihrer “Zukunftsgeschichte” Geboren 1999 als funktionsfähig beschreibt, der Künstliche Uterus, “das letzte Geheimnis” der Reproduktionsmedizin (auch im neuen Jahrtausend ist er bei allen Bemühungen ihrer Labors technologisch noch nicht ausgereift), zum täglichen Einsatz bereitsteht, dann können die verschiedenen Verfahrensweisen künstlicher Zeugung schließlich noch um die totale Maschinengeburt ergänzt werden. Auch diese ist wie die Automatenfrau eine Textmaschine, das heißt ein im fiktiven Text dargestelltes mechanisches Erzeugnis beziehungsweise Zeugungsverfahren, kurzum: ein literarisches Motiv, das darüber hinaus jedoch, da durch diverse (ökonomische, soziale, psychologische, ästhetische u.a.) Diskurse formiert, in der gesamten Maschinerie der Textproduktion generiert wird. Um diesen Zusammenhang abschließend noch einmal am Motivkomplex der künstlichen Frau in der romantischen Literatur zu erläutern: In der Reguliertheit der Androide wird ein neues bürgerliches Frauenbild kritisiert, die männlichen Wünsche aber, die mit seiner Etablierung nicht mehr ausgelebt werden dürfen, werden auf die Frauenfiguren aus Marmor und Elfenbein projiziert, zum Beispiel auf die Statue der heidnischen Venus, die, mythologisch verbürgt und bildungsgeschichtlich legitimiert, in strahlender Nacktheit geschildert und ohne moralische Sanktionen betrachtet werden kann. Insgesamt werden die weiblichen Maschinenkörper durch männliche Ängste und / oder Sehnsüchte belebt, wobei ihnen allerdings nur selten die Gnade der natürlichen Geburt zuteil wird (was aufgrund ihrer Konstitution weit weniger verwunderlich ist als die außergewöhnliche Mutterschaft von Pygmalions elfenbeinerner Jungfrau). Immerhin vermag auch ihre kernbiologische Funktion der Arterhaltung, zumindest partiell, substituiert zu werden, wie die (zeitgleich reaktivierte) HomunkelGenese zeigt: Das bringt außerdem den (männlich-chauvinistischen) Vorteil mit sich, dass die ästhetische Attraktivität und der sexuelle Genuss des weiblichen Körpers nicht durch dessen Veränderung in der Schwangerschaft getrübt zu werden brauchen. So gesehen, sind die institutionelle Überwachung der Frau bei Zeugung und Empfängnis, die Aussparung des weiblichen Körpers beim Heranreifen des Kindes und ihre (noch fiktive) Suspendierung bei der Geburt die gendertechnisch letzten Konsequenzen des archetypischen Traums des Mannes von der Verfügbarkeit der Frau, den sie als schön gestaltetes Lustobjekt und Hegerin der von ihm weitgehend allein hervorgebrachten Nachkommenschaft umfassend erfüllt.
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34 Karel Capek: RUR. Rossums Universal Robots. Utopisches Kollektivdrama in drei Aufzügen. Deutsch von O. Peck. Prag. Leipzig 1922. Lawrence Durrell: Nunquam. Roman. Deutsch von S. Lepsius. Reinbek 1970. Hans Magnus Enzensberger: Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts. Frankfurt/M. 1975. Johann Wolfgang von Goethe: Faust I und II. Hg. von Albrecht Schöne. Werke VII.1. Frankfurt/M. 1994. Thea von Harbou: Metropolis. Roman. Frankfurt/M. u.a. 1984. Hesiod: Werke und Tage. In: Hesiodos. Ins Deutsche übertragen von R. Peppmüller. Halle 1896. S. 206–209. Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: Der Sandmann. Hg. von Rudolf Drux. Stuttgart 1991. Der Artushof. In: Die Serapions-Brüder. Nach dem Text der Erstausgabe (1819–21). München 1976. S. 145–171. Homer: Ilias. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Nach dem Text der Erstausgabe Hamburg 1793. München 1957. Aldous Huxley: Schöne Neue Welt. Ein Roman der Zukunft. Übersetzung von H. E. Herliischka. Frankfurt/M. 1986. Jean Paul: Unterthänigste Vorstellung unser, der sämtlichen Spieler und redenden Damen in Europa entgegen und wider die Einführung der Kempelischen Spiel- und Sprachmaschinen. In: Sämtliche Werke. Abt. II. Bd. 2. Hg. von N. Miller und W. Schmidt-Biggemann. München 1976. Charlotte Kerner: Geboren 1999. Eine Zukunftsgeschichte. 3. Aufl. Weinheim – Basel 1991. Oskar Kokoschka: Briefe I. 1905–1919. Hg. von O. Kokoschka und H. Spielmann. Düsseldorf 1971. Ovidius Naso, Publius: Metamorphosen – Verwandlungen. Übersetzung und Einführung von H. Breitenbach. Zürich 1958. Paracelsus: De natura rerum. Neun Bücher Philippi Theophrasti von Hohenheim Paracelsi genannt. Liber primus. In: Werke. Bd. V. Besorgt von W.-E. Peuckert. Darmstadt 1976. S. 58–62. Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Aus dem Engl. übersetzt von U. und Ch. Grawe. Stuttgart 1986. Auguste Villiers de l’Isle-Adam: Die Eva der Zukunft. Deutsch von Annette Kolb. Frankfurt/M. 1984.
Jutta Eming
Schöne Maschinen, versehrte Helden. Zur Konzeption des künstlichen Menschen in der Literatur des Mittelalters This paper analyzes examples of automata and cyborgs in Middle High German and Old French novels. Concentrating on frequent scenes of confrontation between these automata and their heroic (male) human counterparts, it examines the functions which these conflicts might have. Although one function may be to challenge the hero’s courage and strength, other encounters between man and machine serve a different and more complex purpose. In Konrad Fleck’s Flore und Blanscheflur and especially in Le Roman de Troie of Benoit de Sainte-Maure the automata reflect social and ethical ideals and help to reassure the hero of his courtly identity. In doing so, the automata help construct a model of medieval men that is based on a sophisticated system of courtly values.
Automaten und Cyborgs sind vor allem aus dem Motivreservoir der phantastischen Literatur um 1800 und darüber hinaus bekannt. In der Literatur ebenso wie später im Film verweisen sie auf ein krisenhaftes Verhältnis von Mensch, Körper und Natur, das kulturhistorisch als Kennzeichen der Moderne gilt.1 Tatsächlich haben die Vorstellung einer künstlichen Erschaffung des Menschen und die Frage seines Verhältnisses zur Maschine jedoch eine lange Tradition, deren Wurzeln in die Antike zurückreichen und die im Mittelalter etwa seit dem 13. Jahrhundert neu konzeptualisiert wird.2 Zu diesem Zeitpunkt dringt antikes Wissen über technische Apparate vermittelt über Arabien und Byzanz nach Westeuropa vor, fasziniert den an Prestigeobjekten ebenso wie an Bildung und Unterhaltung interessierten Hochadel und wird zu einem Thema seiner Literatur. Im Folgenden werde ich Beispiele von Automaten in mittelalterlichen Texten vorstellen, welche einen Einblick in die historische Bandbreite der Konfrontation von Mensch und Maschine vermitteln. Sie machen die Vorstellung korrekturbedürftig, dass der künstliche Mensch das Thema der modernen Grusel- oder auch Science-Fiction-Genres ist und ein außertextuelles Subjekt konstituiert, das mit Befremden, wenn nicht Horror auf ihn reagiert. Darüber hinaus werde ich zeigen, dass die Erschaffung künstlicher Menschen wie schon im Falle des antiken Pygmalion-Mythos auf Differenzierungen beruht, die genderspezifisch determiniert sind. 1
Vgl. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/M. 1994. 2 Einen Einblick in diese Tradition gibt Jeffrey Cohen, der zugleich den provokanten Versuch unternimmt, einen mittelalterlichen ‘Maschinenmenschen’ in Rekurs auf den poststrukturalistischen Ansatz von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu konzeptualisieren. Vgl. Jeffrey J[erome] Cohen: Medieval Identity Machines. Minneapolis – London 2003 (Medieval Cultures 35). S. xiff.
36 Der Religionswissenschaftler Richard Kieckhefer zählt in seinem Standardwerk zur Magie im Mittelalter Automaten zum Bereich der ‘technischen Wunder’. Er zitiert eine französische Quelle vom Ende des 13. Jahrhunderts, der zufolge der Graf von Artois seinen Palast mit verschiedenen Automaten ausstatten ließ. Es habe einen Saal gegeben, in dem Unwetter simuliert wurden, und, neben anderen Kuriositäten, ‘acht Düsen im Fußboden, aus denen Damen naßgespritzt wurden, und drei verborgene Öffnungen, aus denen Vorübergehende mit Mehl bestäubt wurden’.3
Bereits dem Realitätsgehalt solcher Berichte gegenüber ist Skepsis geboten, scheint hier doch überliefertes Fachwissen antiker und orientalischer Ingenieure phantasievoll angereichert zu werden. In fiktionalen Texten des Mittelalters wird der Automat dann vollends zu einem Stimulans für die literarische Imagination und, neben den monströsen Völkern Indiens und Äthiopiens, paradiesischen Landschaften und sagenhaften Reichtümern, zu einem weiteren Signifikanten der Wunder des Orients.4 Im Allgemeinen ist das textuelle Subjekt, das mit dem Automaten konfrontiert wird, eine männliche Figur. Eine zentrale Funktion solcher Konfrontation besteht darin, den Helden auf seiner queste herauszufordern, dem typischen Weg der ritterlichen Bewährung, auf dem er sich unterschiedlichster menschlicher und übermenschlicher Gegner erwehren muss. Ähnlich Drachen und Monstern ist der Automat ein gefährlicher Gegner, der Mut und Körperkraft des Ritters auf’s Äußerste provoziert. Anders als im Falle des Monstrums aber, das über Defekte oder Deformationen zusätzliche Angst erzeugt, wirkt der Automat in seiner technizistischen Perfektion bedrohlich. Er ist ein Gegner, der keine Schwäche zeigen und vom Kampf nie ermüden wird, sondern mit präzisem Automatismus immer neu zum Schlag ansetzt. Exemplarisch zeigt sich diese Funktion in einer Textpassage aus dem mittelhochdeutschen Wigalois, einem der bekanntesten Artusromane des Mittelalters. Sie macht zugleich ersichtlich, welche eigenwillige Verbindung Mechanik und Magie bei der Konstruktion mittelalterlicher Automaten miteinander eingehen. Der Held des Wigalois muss ein verzaubertes Reich erobern und dafür eine 3
Vgl. Richard Kieckhefer: Magie im Mittelalter. München 1995. S. 118. Zur weiteren Differenzierung mittelalterlicher Automaten vgl. Ulrich Ernst: Mirabilia mechanica: Technische Phantasien im Antiken- und im Artusroman des Mittelalters. In: Das Wunderbare in der arthurischen Literatur. Probleme und Perspektiven. Hg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2003. S.45–77 sowie ders.: Zauber – Technik – Imagination. Zur Darstellung von Automaten in der Erzählliteratur des Mittelalters. In: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Grubmüller und Markus Stock. Wiesbaden 2003 (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 17). S. 115–172. 4 Diese Tradition beschreiben zum Beispiel Lorraine Daston und Katharine Park: Wonders and the Order of Nature. 1150–1750. New York 1998. S. 21ff.
37 Reihe natürlicher und übernatürlicher Gegner besiegen, bis er zum Schloss eines Zauberers und Teufelsbündlers gelangt. Der Eintritt in dieses Schloss vollzieht sich über ein Marmorportal, vor dem sich ein Rad dreht. von marmel ein tor gemûret lac, des ein rat von êre pflac; daz lief umbe vor dem tor ûf îsenînen siulen enbor. ez treip ein wazzer daz was grôz; durch daz vûle mos ez vlôz. daz rat mit kreften umbe gie; durch daz tor ez niemen lie. daz hêt Rôaz gemeistert dar. mit scharfen swerten was ez gar und mit kolben wol beslagen.5
Der Held des Wigalois sieht sich einem bedrohlichen, aber zugleich faszinierenden und ästhetisch reizvollen Hindernis gegenüber. Denn das Rad ist aus kostbarem Marmor hergestellt, und es ist, wie der Begriff der êre signalisiert, der in erster Linie eine ethische Qualität bezeichnet, vollkommen ausgeführt. Obwohl das Rad Naturelemente integriert, indem es das Wasser antreibt, wird es selbst durch magische Kraft in Bewegung gesetzt. Dabei stellt das Rad eine waffenstarrende, gefährliche Einrichtung dar. Es ist ringsum mit Schwertern und Kolben besetzt, die sich unablässig drehen und keine offenen Stellen lassen, durch die man durch das Portal gelangen würde. Um doch in das Schloss eintreten zu können, greift der Held deshalb zu einem ungewöhnlichen Mittel: Er wendet sich mit einem Gebet an Gott, der ihn erhört und das Rad anhält. Auf diese Weise wird gleichsam ein Wunder durch ein anderes vertrieben, eine Form, Magie und Religion miteinander zu verschränken, die für den Wigalois typisch ist.6 Die exquisite Ausstattung des Automaten und seine Gegenüberstellung mit einem männlichen Helden bilden in der mittelalterlichen Literatur übergreifende Struktur- und Darstellungsmuster von Mensch und Maschine. Auch wenn sie, wie im Wigalois, eine Gefahr oder Herausforderung für den Helden darstellen, wird ihre Bedrohlichkeit erzählstrategisch durch eine ästhetische Gesamtinszenierung ausbalanciert. Die bedrohliche Ausstrahlung ist dabei keineswegs ein 5
Wirnt von Gravenberc: Wigalois der Ritter mit dem Rade. Hg. von J. M. N. Kapteyn. Bd. 1: Text. Bonn 1926 (Rheinische Beiträge zur germanischen Philologie und Volkskunde Bd. 9). V. 6774–6778. Übersetzung: Da gab es ein Marmortor, das durch ein vollkommenes Rad bewehrt war, das lief vor dem Tor auf eisernen Säulen. Es trieb ein wildes Wasser an, das durch das faulige Moos floss. Das Rad drehte sich durch Zauberkraft, es ließ niemanden durch das Tor. Roaz hatte es erschaffen, es war ringsum mit scharfen Schwertern und Kolben beschlagen. 6 Vgl. zu diesem Aspekt Jutta Eming: Funktionswandel des Wunderbaren. Studien zum Bel Inconnu, zum Wigalois und zum Wigoleis vom Rade. Trier 1999 (LIR 19).
38 durchgängiges Merkmal. Konstant ist hingegen, dass Automaten in einem luxuriösen höfischen Ambiente situiert oder selbst als Kunstwerk gestaltet sind. Dies zeigen auch die folgenden Textbeispiele, in denen es um Automaten im eingeschränkten Sinne von mechanischen Figuren geht, die sich, von allein oder durch besondere Vorrichtungen dazu gebracht, lebensnah bewegen. In einer Passage aus der mittelhochdeutschen Fassung von Flore und Blanscheflur, einem Roman, der im Mittelalter in ganz Europa verbreitet war, sind künstliche Figuren auf einem Grabmal befestigt. Den Grund für den Bau dieses Grabmals bildet eine Intrige der Eltern des Romanhelden Flore. Sie haben ihn von seiner Geliebten Blanscheflur getrennt, täuschen ihrem Sohn nun vor, dass seine Freundin gestorben sei, und führen ihn vor ihr – gefälschtes – Grabmal. Dieses Grabmal scheint alle Kostbarkeiten des Orients in sich zu vereinen. Es besteht aus einer Marmorplatte mit goldenen und silbernen Verzierungen, die Arabesken zeigen und alle Tiere, die es auf der Erde gibt. Ringsum ist es mit Email und Edelsteinen eingefasst. Oberhalb der Grabplatte sind Flore und Blanscheflur als mechanische Figuren angebracht. Bei günstigen Winden bewegen sich die Figuren aufeinander zu, reichen sich Blumen, sprechen miteinander und küssen sich. Zur Inszenierung der Grabstätte gehören außerdem Vögel, von deren Gesang auf den, der sie hört, eine beruhigende Wirkung ausgeht. Dieses Arrangement ist ganz auf den männlichen Adressaten Flore zugeschnitten. In welcher Relation dabei Kunst und Künstlichkeit, Wahrheit und Liebe zueinander stehen, ist in der Mediävistik viel diskutiert worden. Das gefälschte Grabmal hat zunächst die Aufgabe, der Lüge von Flores Eltern über den angeblichen Tod der Geliebten eine trügerische Faktizität zu verleihen. Zusätzlich aktualisieren seine kunstvollen Arrangements unterschiedliche zeitgenössische Vorstellungen über die heilsame Wirkung von Musik, Spiel und Kunst, mit der eine innere Anerkennung des Todes erzielt werden soll.7 Mit dem ‘rührenden’ Spiel der mechanischen Figuren und den sensuellen Beigaben des Grabmals verknüpfen Flores Eltern die Erwartung, dass sich eine beruhigende Wirkung auf Flore einstellt, durch die er seine Trauer über Blanscheflurs Tod in eine versöhnliche Haltung einer Akzeptanz des vermeintlich Unveränderlichen überführen würde. In der mediävistischen Forschung ist der Umstand, dass genau diese Wirkung sich nicht einstellt und Flores Trauer um Blanscheflur durch das Grabmal nicht gelindert, sondern bis zur Verzweiflung gesteigert wird, als Zeichen dafür gewertet worden, dass der Text die ‘Künstlichkeit’ und ‘Inszeniertheit’ des Grabmals problematisiere.8 Diese Deutung setzt voraus, dass die moderne 7
Vgl. Mary Frances Wack: Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and its Commentaries. Philadelphia 1990. 8 Vgl. Klaus Ridder: Ästhetisierte Erinnerung – erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: Memoria in der Literatur. LiLi 27/105 (1997). S. 62–85.
39 Entgegensetzung von Künstlichkeit und Authentizität auch für einen mittelalterlichen Text Gültigkeit besitzt.9 Doch in der Dichtung selbst wird die Künstlichkeit des Grabmals nicht kritisiert. Stattdessen wird en détail geschildert, welche Gefühle es bei Flore zum Vorschein bringt. Dass die Intentionalität der Inszenierung und die Intentionen ihrer ‘Regisseure’, Flores Eltern, dabei auseinander treten, ist emotionstheoretisch und mediengeschichtlich aufschlussreich.10 Zunächst bemerkt Flore das Lachen der mechanischen Figuren und stellt dann fest, dass sie ihm und Blanscheflur nachgebildet sind und sich so verhalten, wie er und seine Freundin es getan haben. Dann liest er die Grab-Inschrift: hei wie flîzeclîche er las die guldînen buochstaben, die dâ stuonden ergraben al umbe des grabes ort! weinde sprach er disiu wort: “hie lît Blanscheflûr diu guote, die Flôre minte in sînem muote, und sî in ze gelîcher wîs. sî was sîn friunt, er ir âmîs.” dâ von wart das kint ermant alsô ver, daz im geswant drî stunt von der angesiht, ê dan er wurde verriht. und als er kam ze gerechen, daz er mohte sprechen, sâ ze stunt er sich verlie für diu kint ûf diu knie. den begunde er warten mit rede vaste zarten und dar nâch heize weinen.11
9
Vgl. etwa Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte. Tübingen 2002. 10 Vgl. zur Intentionalität von Inszenierungen Martin Seel: Inszenieren als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs. In: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hg. von Josef Früchtl und Jörg Zimmermann. Frankfurt/M. 2001. S. 48–62. 11 Übersetzung: Ach, wie geflissentlich er die goldenen Buchstaben las, die da rings um das Grabmal eingemeißelt waren! Unter Tränen las er folgende Worte vor: “Hier liegt die vortreffliche Blanscheflur, die Flore von Herzen liebte, und den sie auf eben solche Weise liebte. Sie war seine Freundin, er war ihr Geliebter.” Davon wurde der Jüngling so sehr von seiner Erinnerung überwältigt, dass er dreimal hintereinander in Ohnmacht fiel, bis es ihm wieder etwas besser ging. Und als er so weit wieder zu sich kam, dass er sprechen konnte, da kniete er sofort vor den jungen Leuten nieder und erwies ihnen mit schön gewählten Worten und heftigen Tränen seinen Respekt. – Konrad Fleck: Flore und Blanscheflur. Hg. von Wolfgang Golther. Berlin – Stuttgart 1888 (Deutsche National-Litteratur 4). V. 2218–2237.
40 Flore ist verwundert, neugierig und fasziniert (“hei wie flîzeclîche”), dann zunehmend von seiner Erinnerung und der Trauer um die Freundin überwältigt. Insbesondere die mechanischen Figuren lösen einen emotionale Dynamik aus, die das Gegenteil der Akzeptanz des Verlustes darstellt, die Flores Eltern sich wohl erhofft hatten. Sie konnten nicht absehen, dass die verschiedenen medialen Stimuli – Bild und Bewegung, Stein und Schrift, Kunst und Körper – mehrfach codiert sind und im Zusammenspiel einen komplexen Prozess der memoria in Gang setzen, durch den Blanscheflur nicht nur versöhnlich verabschiedet, sondern auch eindrücklich erinnert wird, und der die Emotionen für sie wieder belebt. Potentiell appelliert das Grabmal nämlich an die einander widersprechenden Gefühle und Stimmungen von Freude und Schmerz, Erinnern und Vergessen, Verzweiflung und Hoffnung. Damit ist ihm ein größeres Potential an Wirkungen inhärent als jene, die Flores Eltern avisiert hatten. Die ‘Lebensnähe’ der Figuren spielt für diesen Prozess der Gefühle eine entscheidende Rolle. Die animierten Figuren bringen die Grenze zwischen Kunstwerk und Mensch, unbelebter Materie und Fleisch und Blut zum Verschwimmen und erzeugen damit die gleichen Emotionen wie gegenüber wirklichen Menschen. Erzählerisch wird dies zusätzlich dadurch unterstrichen, dass sie wie reale Personen apostrophiert sind: “diu kint”. Der Umstand, dass sie sogar die Grenze zwischen Leben und Tod zu überschreiten scheinen, ist eine Qualität, welche die Beziehung zu einem realen Menschen sogar noch übertrifft. Diese weitgehend affirmative Haltung gegenüber der Lebensnähe mechanischer Figuren bedeutet in historischer Perspektive einen zentralen Unterschied zwischen mittelalterlichen und modernen Konzepten des künstlichen Menschen.12 Die Natur erreichen, wenn nicht übertreffen zu können, ist noch keine bedrohliche Tendenz einer sich verselbstständigenden wissenschaftlichen Hybris, sondern eine Leistung der Kunst.13 Künstliche Menschen erzeugen in der mittelalterlichen Literatur deshalb auch noch nicht jenen in der phantastischen Literatur der Moderne virulenten Horror über eine sich rächende Natur, über die der Mensch sich durch eigene Schöpferkraft erheben wollte. Der weitere Prozess der memoria, den das Figurenspiel bei Flore auslöst, macht ein zusätzliches Strukturmuster der Darstellung von Automaten in der mittelalterlichen Literatur ersichtlich. Flore erinnert sich an den Schulunterricht, 12
Beispiele einer negativen oder ambivalenten Haltung bespricht Udo Friedrich: Contra naturam. Mittelalterliche Automatisierung im Spannungsfeld politischer, theologischer und technologischer Naturkonzepte. In: Automaten in Kunst und Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. S. 91–114. 13 Die These Brittnachers, dass vormoderne Konzepte des künstlichen Menschen “[…] bei aller Phantasie doch Bestandteil eines gläubigen Weltbildes [bleiben], dem solche Erzählungen als Warnbilder oder religiöse Parabeln dienen”, trifft mit Blick auf diesen Befund nicht zu. Brittnacher: Ästhetik des Horrors. S. 270.
41 den er gemeinsam mit seiner Freundin genossen hat: “ach wie wir tougen / samet retten in latîne, / und ich iu an mîme tevelîne / brievelî von minnen schreip”, V. 2286–2289.14 Automaten reflektieren höfische Werte und höfische Bildung. In der Regel ist das Bildungsprogramm, mit dem sie assoziiert werden, jedoch nicht, wie im Roman von Flore und Blanscheflur, auf eine weibliche Figur zugeschnitten. Der primäre Adressat bei der Vermittlung höfischer Ideale durch höfische Mechanik ist der Mann. Dies macht auch das nun folgende, letzte Textbeispiel aus Benoîts de Sainte-Maure Le Roman de Troie deutlich. Der Roman de Troie gehört zu den antikisierenden Gattungen des Mittelalters, in denen die Geschichte Trojas, Roms und Thebens vergegenwärtigt wird, eine Geschichte, als deren Fortsetzer und Erneuerer der mittelalterliche Adel sich verstand. Diese Texte sind wie beinahe alle des Hochmittelalters in Frankreich entstanden und wurden dann ins Deutsche übertragen. Die Textpassage um den Salle de beautés oder “Saal der Schönheiten” ist in der deutschen Übersetzung allerdings gekürzt worden. Die hier deshalb auf Französisch zu betrachtenden Textauszüge weisen alle bereits beschriebenen Charakteristika mittelalterlicher Automaten auf und sind dennoch durch die Detailliertheit und Komplexität, mit der künstliche Menschen ins Bild gesetzt werden, in der mittelalterlichen Literatur einmalig. Hector ist im Kampf um Troja verwundet worden. Damit er wieder genesen kann, lässt Helena sein Krankenbett in einen Saal bringen, der nicht nur luxuriös ausgestattet ist, sondern eine Besonderheit in Form von vier Säulen in den Ecken des Raumes aufweist, auf denen je zwei männliche und zwei weibliche Figuren angebracht sind. Der Erzähler hebt zunächst allgemein die Schönheit der Figuren hervor: “E si esteient colorees / et en tel maniere formees, / quis esguardot, ço li ert vis / qu’angle fussent de Paradis”.15 Dann beschreibt er im Einzelnen, wie die Automaten aussehen und welche Bewegungen sie ausführen. Die kleinere der zwei weiblichen Figuren hält einen goldenen Spiegel in der Hand, der allen, die in ihn blicken, ihr wahres Bild zeigt. Von dieser statischen Erscheinung hebt die zweite weibliche Figur sich aufs Lebhafteste ab: “L’autre danzele ert mout corteise, / quar tote jor joë e enveise / et bale et tresche e tombe et saut, / desus le piler […]”.16 Sie jongliert mit Messern und führt 14 Übersetzung: Ach, wie wir heimlich auf Latein miteinander gesprochen haben, und ich Euch Liebesbriefe auf meinem Täfelchen schrieb! 15 Le Roman de Troie de Benoît de Sainte-Maure. Publié d’après tous les manuscrits connus par Léopold Constans. Tome II. New York – London 1968 (zuerst 1903). V. 14677–14680. Übersetzung: Sie waren so bemalt und von so schöner Gestalt, dass, wer sie anblickte, meinte, es seien Engel vom Paradies. – Ich danke Elisabeth Schmid dafür, dass ich eine von ihr angefertigte deutsche Übersetzung benutzen darf. 16 V. 14711–14714. Übersetzung: Die andere junge Dame war überaus höfisch, denn den ganzen Tag amüsiert und vergnügt sie sich und tanzt und dreht sich und schlägt Volten und springt auf der Säule […].
42 Zauberkunststücke vor, in denen Tiere zu Wasser und zu Land, Monstren, Theaterszenen und schließlich ganze Seeschlachten erscheinen: “Cent gieus divers riches e beaus / I fait le jor set feiz o uit.”17 Von den männlichen Figuren nimmt die erste eine sitzende Position ein. Es ist ein ebenfalls schöner Jüngling, der mehrere kostbare Musikinstrumente in der Hand hält, mit denen er eine überirdisch klingende Sphärenmusik erzeugt. Quant cil de la Chambre conseillent, A l’endormir e quant il veillent, Sone e note tant doucement, Ne trait dolor ne mal ne sent Quil puet oïr ne escouter.18
Die Vorstellung einer heilsamen Kraft der Musik, die bereits an der GrabmalEpisode des Flore-Romans zu beobachten war, kehrt hier wieder. Verschiedene Musikinstrumente spielen zu können ist aber nicht die einzige Fähigkeit, über welche die Figur verfügt. Es folgt eine Art Satyrspiel, das den Kreislauf des Lebens als Blüte, Aufstreben, Vergänglichkeit und Erneuerung symbolisch in Szene setzt. Der Jüngling wirft zunächst Fluten von Blumen auf den Mosaikboden des Saals. Daraufhin zielt ein künstlicher Satyr mit einem Ball auf einen Adler, der sich für die Dauer des Wurfs in die Luft erhebt und über die Blumen fliegt. Durch den Wind, der aus seinen Schwingen kommt, verwelken die Blumen, dann geht der ganze Vorgang wieder von vorne los, insgesamt zwölf Mal täglich. Die vierte Statue schließlich, die wieder einen jungen Mann darstellt, kommuniziert mit den Menschen, die im Saal anwesend sind, durch eine geheime Zeichensprache, die individuell auf jeden Einzelnen zugeschnitten ist. Die Botschaften betreffen den richtigen Gebrauch der differenzierten Regeln darüber, wie man sich richtig am Hof benimmt. Schon die Frage des passenden Betretens und Verlassens des Saals verlangt ein Feingefühl, das zu entwickeln die Anwesenden durch die Signale der Statue unterstützt werden: L’image saveit bien mostrer Quant termes esteit de l’aler, Et quant trop tost, e quant trop tart; Sovent preneit de ço reguart.19 17
V. 14718f. Übersetzung: Hundert großartige und herrliche Kunststücke vollführt sie sieben oder acht mal täglich. 18 V. 14791–14795. Übersetzung: Wenn die Insassen des Saales sprechen, schlafen oder wachen, spielt die Statue so süß, dass der, welcher den Instrumenten lauscht, weder Schmerzen noch Beschwerden verspürt. 19 V. 14883–14886. Übersetzung: Die Statue verstand es gut, anzuzeigen, wann es Zeit war, zu gehen und wann es zu früh war und wann zu spät, und sie achtete sehr darauf. Sie bewahrte diejenigen, die in den Saal kamen, die Eintretenden und die Scheidenden, davor, lästig zu fallen, ungehobelt zu sein oder zudringlich.
43 Um die Funktion dieser erstaunlichen Figuren und ihrer Darbietungen zu verstehen, ist zu bedenken, dass sie einem Kranken dargeboten werden, der mit ihrer Hilfe wieder genesen soll. Der verwundete Hector liegt im Bett und braucht sich nur von einer Seite zur anderen zu wenden, um die Blickrichtung zu ändern und eine der vier Figuren ins Visier zu nehmen, deren mechanische Bewegungen sich dann gleichsam wie ein Film vor ihm abspulen. Die Unterhaltungsfunktion ist jedoch mit dem ernsten Zweck verknüpft, seine geschwächte Konstitution wieder zu beleben, wozu dem medizinischen Verständnis der Zeit gemäß Spiele und Zerstreuung beitragen. Harmonische Musik stellt demgegenüber ein Remedium dar, es beruhigt den Organismus. So lässt sich vorstellen, dass Hector, je nach Befindlichkeit und Bedürfnis, seinen Blick entweder auf das Mädchen oder auf den Musiker richtet. Unter emotions- und wahrnehmungstheoretischen Aspekten ließe sich zeigen, dass die Vorgänge zunächst Neugier wecken sollen, eine der so genannten Basisemotionen des Menschen, die sich im Folgenden zu Schreck, Vergnügen, Angst oder Angst-Lust weiter differenziert.20 Die Bewegungen und Spektakel der Figuren sind somit strategisch darauf angelegt, die Sinne der Betrachter anzuregen und verschiedene emotionale Prozesse zu stimulieren. In der Forschung ist die Funktion der Figuren hervorgehoben worden, kulturelle Werte zu vermitteln.21 Der Spiegel in der Hand des ersten Mädchens verweist symbolisch auf ihre gemeinsame Aufgabe, die vielfältigen Gegenstände höfischer Bildung zu reflektieren. Dazu gehören äußere Erscheinung und gesellschaftliches Auftreten ebenso wie Kenntnisse im Raffinement der Künste und das Wissen um den Kreislauf des Lebens zwischen Vergänglichkeit und Erneuerung. Noch die Kunststücke der zweiten weiblichen Figur haben eine unterweisende Funktion, weil sie zum Beispiel die unterschiedlichen Eigenschaften der Tiere illustriert, die sie herbeizaubert: “Conoistre fait tot en apert / de quei chascune joë e sert.”22 In den exquisiten Materialien, aus denen die Figuren geschaffen sind, wird die Exklusivität des adligen Standes gespiegelt. Auch die kostbare Alabaster-Einkleidung des Saales wird deshalb ausführlich beschrieben. Schwieriger zu deuten ist das auffällige Gendering dieser Passage, der Umstand also, dass sie je zwei weibliche und männliche Figuren auch räumlich miteinander konfrontiert, denen unterschiedliche Attribute und Funktionen zugeordnet sind. Auf den ersten Blick kann es so erscheinen, als seien 20
Vgl. Carrol E. Izard: Die Emotionen des Menschen. Eine Einführung in die Grundlagen der Emotionspsychologie. 4. neu ausg. Aufl. Weinheim 1999. 21 Vgl. Penny Sullivan: Medieval Automata. The ‘Chambre de beautés’ in Benoît’s Roman de Troie. In: Romance Studies 6 (1985). Themenheft: The Machine in Literature. S. 1–20. Hier S. 9. 22 V. 14739f. Übersetzung: Deutlich zeigt sie, wie ein jedes läuft und funktioniert. Vgl. auch Sullivan: Medieval Automata. S. 10.
44 anspruchsvolle und weniger anspruchsvolle Tätigkeiten auf Frauen und Männer verteilt – hier Mädchen mit Spiegel und Spektakeln, dort Jünglinge mit SphärenMusik und einer Semiotik des richtigen Betragens. Doch dieser Eindruck hält einer genaueren Analyse nicht stand. Der Jüngling mit der Geheimsprache verweist ebenso auf die Spielregeln höfischer Interaktion wie das Mädchen mit dem Spiegel, und die Zauberkunststücke stehen dem elaborierten Musizieren mittelalterlichen Begriffen von Kunstfertigkeit gemäß nicht nach. Genderspezifische Aspekte des Textabschnitts lassen sich jedoch auch mit Blick auf den intradiegetischen Adressaten beschreiben,23 auf die männliche Figur des Hector also, der diese Figuren im Zustand und zum Zweck der Rekonvaleszenz wahrnimmt. Dazu sei der Kontext der Szene vergegenwärtigt. Hector ist im Kampf verletzt worden, während einer Tätigkeit also, die soziale Aufgabe und Identität des Mannes über Jahrhunderte hinweg so fraglos definiert, dass sie als ein Stereotyp von Männlichkeit gelten darf. In der mittelalterlichen Literatur wird dieses Modell des gewaltfähigen Mannes propagiert und idealisiert, aber immer wieder auch problematisiert. Ein besonders bekanntes Beispiel dafür bietet der Parzival Wolframs von Eschenbach, der die Kampfbereitschaft des Mannes in ihren fatalen Konsequenzen aufzeigt, in der Trauer weiblicher Figuren reflektiert und zugleich in der Idee des Gralsrittertums religiös überformt. Ein kritisches Potential in der Haltung gegenüber Krieg und Gewalt ist auch im Roman de Troie gesehen worden. Sarah Kay erinnert daran, dass während der Zeit, in der Hector sich im Salle de beautés erholt, draußen der Kampf weitergeht: “Outside the peaceful Chamber is the Trojan War, narrated in tones of desolation at its endless battles and terrible carnage. It thus appears to be the contrary of the Chamber which is a haven of calm and a place of healing for the wounded Hector.”24 Wenn man Kays Lektüre in diesem Punkt folgt, hat der Salle de beautés eine eskapistische Funktion. Er hält den zerstörerischen irrationalen Vorgängen auf dem Schlachtfeld25 einen Raum des Rückzugs entgegen, der durch höfische Werte und Rationalität bestimmt ist. Die Leblosigkeit der Automaten zeigt nach Auffassung von Kay allerdings, dass diese Ideale letztlich nicht lebbar seien.26 Auch Hector wird, nachdem er sich im Salle de beautés erholt hat, nur in den Krieg zurückkehren, um in ihm zu sterben.
23 Zum Begriff des intradiegetischen Adressaten vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 21998. 24 Sarah Kay: Courtly Contradictions. The Emergence of the Literary Object in the Twelfth Century. California 2001. S. 216. 25 Zu denen Kay auch die Paarbeziehungen des Textes zählt, ein Aspekt, der hier nicht weiter interessieren muss. Vgl. Kay: Courtly Contradictions. S. 116ff. 26 “[…] lifeless figures with abstract moral and aesthetic values from their historical setting, leaving desire, blood, and death outside.” Ebd. S. 118.
45 Trotz dieses Handlungsverlaufs, der auch für Hector am Ende nur den Tod bereithält, möchte ich die Funktion des Salle de beautés nicht von der Finalität des Erzählens her deuten. Das Verhältnis von Kriegsgeschehen und Rückzug aus ihm lässt sich, wenn die Ausstattung des Saales und die Rolle der Figuren betrachtet wird, auch als komplementäres verstehen. Denn der Salle de beautés soll zwar dazu beitragen, dass die physische Versehrtheit des Helden ausgeglichen wird. Seine Funktion jedoch geht weit darüber hinaus, einen Raum zu bieten, in dem in Ruhe Wunden heilen können. Und der Männlichkeitsentwurf, der dabei vorausgesetzt wird, ist nicht allein durch Gewaltfähigkeit definiert. Die multimedialen Stimuli der Figuren vermitteln vielmehr ein mit allen Sinnen erfahrbares Bildungsprogramm, das in den Dienst einer ‘Genesung’ im umfassenden Sinne als Wiedererlangung einer sozialen Identität gestellt wird. Die Automaten erinnern und bestätigen kulturelle Techniken, höfische Bildung und Werte. Sie vermitteln Wissen und Raffinesse in der höfischen Interaktion und ein ganzes Spektrum anregender Emotionen. Hectors Genesung betrifft also nicht nur seinen Körper, sondern ist mit einem Prozess verschränkt, in dem er sich rational und emotional seiner sozialen Identität als einem gebildeten Mitglied der höfischen Gesellschaft vergewissert. Für die Konstruktion von Männlichkeit in der mittelalterlichen Kultur ist dieser Konnex aufschlussreich. Denn er macht deutlich, dass die Identität eines männlichen Helden selbst dort, wo ein großer, lang anhaltender Krieg im Zentrum eines Textes steht, nicht notwendig über die klischeehafte Akzentuierung seiner Kampfbereitschaft konstituiert wird, sondern über die Zuschreibung umfassender kultureller Kompetenzen verlaufen kann. Mit Blick auf die Darstellung von Gewalt in der mittelalterlichen Literatur ist ein solches differenziertes Verständnis von Männlichkeit bislang eher übersehen worden. So hat Thelma Fenster im Vorwort des inzwischen klassischen Bandes “Medieval Masculinities. Regarding Men in the Middle Ages” in Bezug auf Männlichkeits-Konzepte in der französischen Literatur des Mittelalters polemisch eine rhetorische Frage gestellt: […] the French epic of the Middle Ages is a repository for depictions of violence, presented as both gendered and institutionalized. […] Should we turn away in distaste […] leaving it to other colleagues to sanction, however silently, the equation many French epics offer between masculinity and anger, physical action, and lack of reflection?27
Der Männlichkeits-Entwurf im Roman de Troie korrigiert dieses Stereotyp blindwütiger, ja stumpfsinniger Gewalttätigkeit. Ebenso wie der Flore-Roman, 27 Thelma Fenster: Preface: Why men? In: Medieval Masculinities. Regarding Men in the Middle Ages. Hg. von Clare A. Lees mit Thelma Fenster und Jo Ann McNamara. Minneapolis – London 1994 (Medieval Cultures 7). S. ix-xiii. Hier S. xif.
46 der auf den ersten Blick einen deutlich entgegen gesetzten, feinsinnigeren Heldentypus exponiert, beschreibt der Roman de Troie ein versehrtes männliches Subjekt, das mittels des höfischen Ich-Ideals28 seine Stärke in einem umfassenden Sinne wieder finden soll. Dieses Ich-Ideal ist mit Exklusivität, Sensualismus, Schönheit, Kunst und richtigem Betragen assoziiert, mit einem Zivilisierungsund Bildungsprogramm, an das gerade in Zeiten des Krieges zu erinnern ist. Den künstlichen Menschen in den Dienst eines solchen Programms zu stellen, bezeugt nicht die Abgründe, sondern die Leistungen kultureller Produktion.
28
Vgl. zu diesem Begriff Harald Haferland: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200. München 1989. S. 243.
Britta Herrmann
Das Geschlecht der Imagination: Anthropoplastik um 1800 Imagination is an ambivalent power: As the medical discourse about pregnant women has shown in the eighteenth century, it is an ungovernable, deforming force, producing ‘monsters’ where it can. But when regulated by (male) ration, imagination can be regarded as the main source of creation and innovation within the newly emerged concept of genius around 1800. In reading medical, anthropological, philosophical and poetological texts this essay reconstructs how imagination is positively recoded as a productive (fertile) male power within arts and sciences by using the myths of Pygmalion and Prometheus and their motherless production of beautiful ‘children’. At the same time the discussion about imagination is also used to establish a hierarchical relation between arts and sciences by (de-)valuating different kinds of epistemology as male or non-male. With a short analysis of Mary Shelley’s Frankenstein, Sandmann, Pygmalion und Elise the essay further shows, that this kind of gendering also works with regard to different aesthetical and poetological concepts as they are negotiated between Classicism and Romanticism.
Anthropoplastiken – Androiden, Statuen, Puppen, Monster und künstliche Menschen – bilden im 18. Jahrhundert Denkfiguren unterschiedlicher Re-)Produktionsmodelle, die im Zeichen des Genies sowohl für die Kunst als auch für die Naturwissenschaften verhandelt werden. Im Zentrum dieser Diskussion um das Bildungsvermögen steht die Imagination als ambivalente Macht: Einerseits Bedrohung des Urteilsvermögens, erscheint die Einbildungskraft als zügellos, ausschweifend, deformierend, pathologisch. Andererseits aber gilt sie, sofern sie von der Vernunft gesteuert wird und regelgeleitet arbeitet, als produktiv und innovativ.1 Um 1800 lässt sich nun beobachten, wie sich das kunsttheoretische Geniekonzept über das produktive Einbildungsvermögen generiert, dabei Modelle wissenschaftlicher Ideengenerierung umbesetzt und den epistemologischen Ansprüchen der Wissenschaften gegenüber eine selbstbewusste Konkurrenz behauptet. Im Gegenzug reklamieren die (experimentellen) Wissenschaften die Positionen des pygmalionischen oder prometheischen 1
Auf die lange Tradition der ambivalenten Bewertung der Imagination kann hier nicht weiter eingegangen werden. Verwiesen sei stellvertretend auf Gianfrancesco Pico della Mirandolas Auseinandersetzung mit Aristoteles in seiner Schrift De imaginatione (1501) sowie – besonders im Hinblick auf die Einschätzung der Einbildungskraft als produktivem Erkenntnisvermögen – auf die Regulae ad directionem ingenii von René Descartes (1628/29). Vgl. dazu Gunter Scholtz: Erfindungsgeist und Bildlichkeit in der neuzeitlichen Wissenschaft. In: Ordnungen des Imaginären. Theorien der Imagination aus funktionsgeschichtlicher Sicht. Hg. von Rudolf Behrens. Hamburg 2002. S. 69–88. Hier S. 74–76.
48 Künstlers für sich, ordnen jedoch die pathologisch markierte Imagination den schönen Künsten zu, um sich von diesen hierarchisch abzugrenzen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist diese mäandernde Bewegung der Ausdifferenzierung der diskursiven Ordnungen von Wissenschaft und Kunst insgeheim geschlechtlich markiert. Das Konzept vom (stets männlich gedachten) Genie und seiner Einbildungskraft als innovativem Vermögen wird zwischen Wissenschaft und Kunst immer neu verhandelt und kann sich um 1800 vor der alten medizinischen Prokreationstheorie profilieren. Diese ordnet den Frauen seit der Antike und insbesondere seit Malebranche eine ungeregelte und destruktive Imagination zu, welche – gleichsam im Dauerschlaf der Vernunft – lediglich Monster zu gebären vermag. Der Fötus im Mutterleib erscheint dabei als Kunstwerk, das stets zu misslingen droht. Mutter und Genie, Monster und schöne Kunstfigur verkörpern so die beiden Seiten der Einbildungskraft. Vor diesem Hintergrund lässt sich das männliche Genie als Gegenentwurf und als Aneignung des weiblichen progenitorischen Formungsvermögens verstehen. Im Zuge dieser Umbesetzung wird zum einen die Frau aus den Ordnungen von Kunst und Wissenschaft ausgeschlossen, um sie der (unbeherrschten und willkürlich produzierenden) Natur zuzuordnen. Zum anderen aber, und darauf ist hier näher einzugehen, werden über das männliche gendering der Imagination unterschiedliche Modelle der Wissensgenerierung zwischen Wissenschaft und Kunst verhandelt sowie die poetologischen Programmatiken von Klassizismus und Romantik gegeneinander profiliert. Die Frage nach dem Verhältnis zur Einbildungskraft erweist sich um 1800 stets auch als Frage nach Autorschaft, Zeugungskraft und (potenterer) Männlichkeit.
1. Hurra, es ist ein Monster! 1726 hatte Mary Toft in Godalmin bei Guilford recht ungewöhnliche Nachkommen: Sie gebar nacheinander 17 Hasen, begleitet und beglaubigt von zum Teil renommierten Ärzten. Dieses Ereignis, das sich später als ein hoax der Hasenmutter herausstellte, wirft ein Licht auf eine grundlegende Problematik der Aufklärung: die Frage nach der Wissensgenerierung zwischen überprüfbarer Empirie und Narration, zwischen fact und philosophical proof.2 Beides ist im frühen 18. Jahrhundert noch kaum voneinander zu trennen. Die Hasengeburt zeigt, dass die empirische Optik der aufklärerischen Beobachter deutlich von einem althergebrachten Narrativ der Vormoderne überformt wird. Einem Narrativ, das sich aus zahllosen Darstellungen und Berichten über menschliche Tiergeburten und tier-menschliche Mischwesen seit der Antike, vor allem aber aus dem 16. und 17. Jahrhundert, generiert und über literarische Texte, über 2
Dennis Todd: Imagining Monsters. Miscreations of the Self in Eighteenth-Century England. Chicago – London 1995.
49 Flugblätter und Illustrationen kulturelle Wirksamkeit erreicht.3 Im späteren 18. Jahrhundert lassen sich die kulturellen Fantasien über die Wundergeburten mit neuesten anthropologischen Theorien über die Wechselwirkung von Körper und Seele verbinden und so in die moderne Wissenschaft überführen: Seit der Antike gilt als ein auslösender Faktor für fötale Missbildungen die pränatale Formungskraft (oder vielmehr: die pränatale Deformationskraft) des maternalen Einbildungsvermögens. Nicht zuletzt in der Aufwertung der unteren Seelenvermögen seit Baumgartens Aesthetica (1750/58) und in der anthropologischen Suche nach der Verbindung zwischen Physis und Psyche4 bildet die Imagination eine Art psychosomatische ‘Schnittstelle’, die bidirektional funktioniert: Als Vermögen der Seele reproduziert die Einbildungskraft nicht nur sensuelle Erfahrungen (Gerüche, Berührungen, Geschmack, Bilder et cetera), die auch ohne äußeren Auslöser aktiviert und rekombiniert werden können; vielmehr vermag die Seele darüber hinaus mithilfe der Imagination ihre eigenen Regungen (Schreck, Begehren, Freude, Angst etc.) in innere Bilder umzusetzen und selbst produktiv zu werden. Wie der Bildhauer den Stein formt, so prägen nach Ansicht von Vertretern der Theorie des Versehens die mütterlichen Emotionen, Affekte und Begierden dem weichen und empfindsamen Körper eines Fötus ihre Bilder ein. Mit dem Wegfall anderer potentieller Erklärungsmodelle für die Wundergeburten (Zorn Gottes, Beischlaf mit dem Teufel, Hexerei) avanciert im Fortgang der Aufklärung die Doktrin von der imaginationsgeleiteten Poiesis der Leibesfrucht nicht nur zu einem Feld physiologischer Beweisführungen,5 sondern zum breiten gesellschaftlichen Wissen.6 Und so konnte die illiterate Mary Toft an dieses Wissen anknüpfen, als sie ihre tierischen Nachkommen mit folgender Erzählung beglaubigte: Während der fünften Schwangerschaftswoche sei bei der Feldarbeit in ihrer unmittelbaren Nähe plötzlich ein Hase aufgesprungen, den sie vergeblich zu fangen versucht habe. Nachdem sich diese Begebenheit so ähnlich noch ein zweites Mal wiederholte, habe sie einen
3
Vgl. etwa Irene Ewinkel: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995. Dudley Butler Wilson: Signs and Portents. Monstrous Births from the Middle Ages to the Enlightenment. London – New York 1993. 4 Vgl. auch Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen 1998. 5 Wie etwa noch bei Georg Heinrich Daniel Wüstney: Versuch über die Einbildungskraft der Schwangeren in Bezug auf ihre Leibesfrüchte zur Beantwortung der Frage: Können Schwangere sich würklich versehn? Mit Sieben und Zwanzig Beyspielen erläutert zunächst zur Belehrung für Frauenzimmer. Rostock 1809. S. 40–63. 6 Michael Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens. In: Der falsche Körper – Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hg. von Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 73–107.
50 starken Appetit auf Hasenfleisch bekommen, konnte sich aber aus Armut keines leisten. In der gleichen Nacht habe sie geträumt, dass sie mit den zwei Hasen im Schoß auf dem Feld hocke, und davon sei sie mit einem Krankheitsanfall erwacht, der bis zum Morgen gedauert habe.7 Diese Erzählung bedient alle Momente der prokreativen Imaginationstheorie: Überraschung, obsessives Kreisen um ein Objekt und unbefriedigtes Begehren. Tofts fiktive Geschichte passt so gut in das zeitgenössische Narrativ über die Entstehung von Monstern und Missgeburten, dass sich bei vielen Wissenschaftlern auch nach dem Eingeständnis des hoax die Überzeugung hielt, an der Hasengeburt sei etwas Wahres dran gewesen, ja, sie habe trotz allem tatsächlich stattgefunden.8 Die Tatsache, dass der Toft-Fall sich auf einem fake gründet, konnte offenbar ignoriert werden, weil dessen Plausibilität weniger aus der empirischen Verifikation (oder eben Falsifikation) erwuchs, als vielmehr daraus, dass er die narrative Struktur wissenschaftlicher Argumentation imitierte. Auf diese Weise verwandelt sich die Fiktion der Hasengeburt vom fake zum wissenschaftlichen factum.9 Der Toft-Fall wirft damit ein Licht auf die Einbildungskraft und deren Rolle in der Wissensgenerierung. Zwar hat die widerrufene Hasengeburt durchaus auch dazu geführt, die maternale Imaginationstheorie erstmals systematisch zu hinterfragen – etwa mit James Blondels The Strength of Imagination in Pregnant Women Examin’d (1726)–, ihre Wirkungsmacht behielt sie dennoch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein.10 Wenn also etwa Ernest Martin 1880 in seiner populären Histoire des monstres konstatiert, dass die wissenschaftlichen Autoren im 18. Jahrhundert oft Details in ihre Beschreibungen gemischt hätten, die dem untersuchten Gegenstand fremd gewesen seien, dass nun aber endlich die Imagination der Reflexion gewichen sei,11 so wird hier eine binäre Verteilung von Fakt und Fiktion, Imagination und Reflexion behauptet, welche zwar dazu dienen soll, die Wissenschaft des 19. gegenüber der des 18. Jahrhunderts
7
Zusammengefasst nach Todd: Imagining Monsters. Miscreations of the Self in Eighteenth-Century England. S. 52. 8 Ebd. S. 44. 9 Vgl. Javier Moscoso: Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im 18. Jahrhundert. In: Der falsche Körper. S. 56–72. S. 69: “Man konnte an der Existenz von allen möglichen Monstern zweifeln, aber man konnte nicht an der Existenz von solchen Monstern zweifeln, die nach den Regeln des wissenschaftlichen Diskurses konstruiert worden waren.” 10 Marie-Hélène Huet: Monstruos Imagination. Cambridge/London 1993. S. 7; Irmgard Müller/Daniela Watzke: Gebrauch und Mißbrauch der Einbildungskraft in der Medizin des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Ordnungen des Imaginären. S. 89–115. Hier S. 96–98. 11 Ernest Martin: Histoire des monstres depuis l’antiquité jusqu’à nos jours. Paris 1880. S. 114.
51 als objektiv und rational zu etablieren, jedoch in der Praxis nur bedingt funktioniert: Noch Otto Weininger argumentiert für die Fernzeugung und unterstützt die Theorie des mütterlichen ‘Versehens’.12 Die Differenzrhetorik, welche der Kunst die Einbildungskraft, der Wissenschaft aber die Empirie zuschreibt, hat eine gewisse Tradition und verweist doch stets auf die Instabilität der vorgenommenen Grenzziehung.13 Selbst die renommiertesten unter den Wissenschaftlern, so klagt der Mediziner Gabriel Jouard 1806 in seinem Buch Des monstruosités et bizarreries de la nature über seine Kollegen und Zeitgenossen, reproduzieren und produzieren vor allem “romans surnaturels”, “vrais contes bleus”, “fables ridicules”, weil sie dem Gebot empirischer Verifizierung (noch) nicht folgten und ihr Wissen aus der Literatur oder gar aus Büchern anderer Wissenschaftler bezögen. Denn was das Spiel der Einbildungskraft anbelangt, so Jouard, übertreffen die Physiologen sogar noch die Dichter: “Mais en fait de fiction, de délire et d’écart d’imagination, les physiologistes l’emportent sur les poëtes.” 14 Wie der Toft-Fall demonstriert, schließen sich Empirie und Imagination keineswegs so strikt aus, wie die dichotomische Verteilung auf die diskursiven Ordnungen von Wissenschaft und Kunst suggerieren will: Gerade die Augenzeugen der Hasengeburt haben Probleme mit der evidentia,15 weil der empirische Blick nicht frei ist von Wahrnehmungsfiltern. Mit dem Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft wird zwar einerseits eine von der Einbildungskraft unabhängige Forschungslogik angestrebt (Bacon), andererseits aber nimmt die vis imaginativa als Mittlerin zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Vernunft eine zentrale Position im Erkenntnisprozeß ein,16 und spätestens seit Descartes
12 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter – Eine prinzipielle Untersuchung. 6. unveränd. Aufl. Wien – Leipzig 1905. S. 309: “Hätte man begriffen, […] daß der Urogenitaltrakt nicht der einzige, sondern nur der wirksamste Weg ist, auf dem eine Frau koitiert werden kann, daß die Frau durch einen Blick, durch ein Wort sich bereits besessen fühlen kann, es wäre der Widerspruch gegen das Versehen wie gegen die Telegonie so laut nicht geworden. […] die Mutter ist empfänglich überhaupt. In ihr gewinnt alles Leben, denn alles macht auf sie physiologischen Eindruck und geht in ihr Kind als dessen Bildner ein.” 13 Vgl. auch Scholtz: Erfindungsgeist und Bildlichkeit. S. 71–74. 14 Gabriel Jouard: Des monstruosités et bizarreries de la nature. Bd. 1. Paris 1806. S. 95f; S. 200. 15 So etwa Samuel Molyneux, der sich vor Ort von “the Truth of the Fact” überzeugen will: “[…] he would be not satisfied till he was permitted both to see and feel the Rabbet in the very Passage whence we all come into this World out of our Mother’s Womb. Accordingly he told me, he had more Evidence for it, than he had that I had a Nose; whilst he had known that by one of his Senses only, that of seeing, but knew this by two of his Senses, both seeing and feeling.” Zit. nach Todd: Imagining Monsters. S. 40f. 16 Vgl. Müller/Watzke: Gebrauch und Mißbrauch der Einbildungskraft. S. 92–95.
52 kann sie als legitimes, innovatives und produktives Vermögen für die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion in Anspruch genommen werden. In dieser Neubewertung erweist sich die Einbildungskraft als ein wichtiges Instrument der Vernunft, insofern sie sich dieser unterordnet. Nicht die Imagination an sich gilt es daher um 1800 aus den Wissenschaften auszugrenzen, sondern nur deren regellose, ausschweifende Variante: “délire” und “écart d’imagination”. Diese Variante gehört den Dichtern zu. Und den (schwangeren) Frauen.
2. Die Kunst, schöne Kinder zu produzieren Mindestens seit Paracelsus formuliert sich in der Gleichsetzung der Schwangeren mit dem Bildhauer das medizinische Wissen über die Macht der maternalen Imagination: “Darum so steht ein Kind in seiner Schöpfung im Mutterleib in der Mutter Hand und Willen, wie eine Erde in des Hafners Hand, der macht und formiert daraus, was er will und was ihn gelüstet.”17 Gerade die weiblichen ‘Gelüste’ aber sind, wie die Toft-Erzählung vor Augen geführt hat, das Problem: Anleitungen zur Disziplinierung der Einbildungskraft durch eine Diätetik des Blicks, der Gedanken und Begierden versuchen in fortgesetzten Neuauflagen seit dem 17. Jahrhundert, die fötale Entwicklung zu steuern und in eine Art ästhetische Eugenik zu überführen – nicht sehr erfolgreich, wie sich denken lässt: Let Melancholy cease and Fancy roam / No more among the Shades and lonely Gloom, / that may the tender Soul with Spectres fright, / With Visions, Ghosts, or Goblins of the Night; / […] / No other Phantoms should admittance find, / But what may please the Eye and cheer the Mind; / […] The wretched Womb the frightful Shape receives, / And sad Impressions on the Fœtus leaves: / Should fam’d Prometheus by such forms as these, / Attempt Great Nature’s Work, no Charms would bless / The Boy, nor Shape, nor Face, nor Features please; / […].18
Mit der Berufung auf den Prometheus-Mythos parallelisiert die im 18. Jahrhundert breit rezipierte kallipädischen Schrift von Claude Quillet die Schwangerschaft einerseits mit der männlichen Kunstproduktion. Andererseits aber weist sie die Imperfektion und Devianz weiblicher Formkraft aus, indem sie die ‘Monsterproduktion’ als negatives Gegenmodell zur prometheischen Schöpfung vorstellt. Und nicht von ungefähr taucht zeitgleich mit der hier zitierten Auflage der Titan bei Shaftesbury als ‘Held’ der Dichtkunst auf, um 17
Theophrastus Paracelsus: Magia naturalis. De natura rerum. In: Ders.: Werke. Bd. V: Pansophische, Magische und Gabalische Schriften. Hg. von Will-Erich Peuckert. Darmstadt 1976. S. 53–133. Hier S. 59. 18 [Claude Quillet:] Callipaediae – or, the Art of Getting Pretty Children. Translated from the Original Latin of Claudius Quilletus By several Hands. London 1710. S. 33; 39–40.
53 im folgenden für den Geniediskurs reklamiert zu werden: Ihn nämlich zeichnen, im Gegensatz zur werdenden Mutter, “Judgement and Ingenuity”, “Harmony and Honesty” aus, deshalb vermag er wie ein Gott oder wie “universal Plastick Nature” ein gelungenes Ganzes zu schaffen.19 Zu einer Aufwertung der Imagination als produktivem, künstlerischem Vermögen20 mag aber auch die kurze Zeit später einsetzende Kritik an der Theorie des Versehens beigetragen haben, welche die maternalen Formkraft relativiert und gerade dadurch der Einbildungskraft einen neuen Stellenwert einräumt. Blondel argumentiert 1729 gegen die zeitgenössischen Vorstellungen über die deformierende mütterliche Fantasie: “Die Einbildung schämt sich, eine geringe Trödlerin zu seyn, und nur mit schlechten Gemälden zu handeln […].”21 So lässt sich die ‘plastic power’ der Frau recodieren und auf den Mann verschieben – im ästhetischen Diskurs ebenso wie im medizinischen. Wenn Paracelsus die Schwangere noch als Hafnerin verstehen konnte, dann tritt 1812 – wohl als Spätfolge der animakulistischen Präformationstheorie – der männliche Samen als Skulpteur auf: La liqueur séminale est à la génération, ce que le sculpteur est au marbre; la liqueur séminale du mâle est le sculpteur qui donne la forme, la liqueur menstruelle de la femme est le marbre ou la matière, et la figure est le fœtus ou le produit de la génération.22
In dem Maße aber, indem dem Vater jene mythologischen Positionen von Pygmalion und Prometheus zugewiesen sind, die im 18. Jahrhundert für den kunsttheoretischen Diskurs aktiviert und oftmals gegenseitig ineinander geblendet werden, entfaltet umgekehrt der Geniediskurs seine Wirkungsmacht aus der Gleichsetzung des schöpferischen Künstlers mit der männlichen 19
“Such a Poet is indeed a second Maker: a just PROMETHEUS, under JOVE. […] he forms a Whole […]. He notes the Boundarys of the Passions, and knows their exact Tones and Measures […].”Antony Ashley Cooper Shaftesbury: Soliloquy, or Advice to an Author [1710]. In: Ders.: Standard Edition. Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. Hg. von Gerd Hemmerich und Wolfram Benda. Bd. 1,1: Ästhetik. Stuttgart – Bad Cannstatt 1981. S. 110. 20 In der Nachfolge Shaftesburys betonen etwa Akenside und Addison die prometheische Stellung des Künstlers und dessen imaginative “plastic power”. James Engell: The Creative Imagination. Enlightenment to Romanticism. Cambridge, Mass./London 1981. Hier S. 42–50. 21 James Blondel: The Power of the Mother’s Imagination over the Foetus Examin’d – In Answer to Dr. Daniel Turner’s book, intitled A Defense of the XIIth Chapter of the First Part of a Treatise, De Morbis Cutaneis. London 1729. S. 29. 22 J.R. Jacquelin Dubuisson: Tableau de l’amour conjugal, édition remise à la hauteur des connaissances d’aujourd’hui. Bd. IV: Additions au ‘Tableau de l’amour conjugal’ de Nicolas Venette. Paris 1812. S. 11. Zit. nach: Pierre Darmon: Le mythe de la procréation à l’âge baroque. Paris 1981. S. 44.
54 Zeugungskraft. Dies umso mehr, als bereits in der Antike der Genius als “embodiement of male procreation” gilt und Originalität und Perfektion verbürgt.23 Männliche Schöpfung und weibliche Reproduktion repräsentieren demnach im 18. Jahrhundert die Segnungen und Gefahren der Einbildungskraft: gute Gemälde und lebende Statuen einerseits, Missgeburten, groteske Körper und Monster andererseits. So aber, wie die Callipaedia ein Modell männlicher Kunstproduktion aufruft und sich selbst darüber legitimiert, reklamieren auch die Wissenschaften die prometheische Position für sich – etwa, indem sie die Zeugungsmacht des paternalen Bildhauers zu stärken und zu lenken trachten. Medizinisch-physiologische Ratgeber zur ehelichen Liebe wie L’Art de faire des Garçons oder Abhandlung von der Erzeugung der Menschen zielen dabei weniger darauf, durch diätetische Maßnahmen die mütterliche Einbildungskraft zu regulieren als darauf, die formprägende Potenz des männlichen Samens zu steigern, “damit er hernach fähig sey, das bild eines knäbleins in sie [die Materie des weiblichen Samens] einzudrücken” und so die Empfängnis einer Tochter oder – was in diesem Fall gleichbedeutend ist – einer männlichen Missgeburt zu vermeiden.24 Darüber hinaus aber versucht man im 18. Jahrhundert, generative Vorgänge gänzlich außerhalb des Mutterkörpers zu simulieren. Neue Erkenntnisse über die Epigenese und die Möglichkeiten ihrer gezielten Beeinflussung werden von Wissenschaftlern wie Lazzaro Spallanzani, Charles Bonnet und Albrecht von Haller in zahllosen Experimenten mit verstümmelten Schnecken und Salamandern, Hühnerembryonen oder Kröteneiern dadurch gemacht, dass sie gezielt Missbildungen produzieren, um deren Gesetzmäßigkeiten bestimmen zu können. Spallanzanis Experimente zur künstlichen Befruchtung25 legen zudem die Idee nahe, den Fötus künftig gänzlich nach Wunsch produzieren zu können.26 Auf diese Weise wird das Labor zur Natur in nuce,27 gleichsam zur
23
Jürgen Klein: Genius, Ingenium, Imagination – Aesthetic Theories of Production from the Renaissance to Romanticism. In: The Romantic Imagination – Literature and Art in England and Germany. Hg. von Frederick Burwick Amsterdam – Atlanta, GA 1996. S. 19–62. Hier S. 21. Vgl. zudem Huet: Monstrous Imagination. S. 8: “Imagination was reclaimed as a masculine attribute, and just as theories of generation had long been theories of Art, Romantic Art became a theory of generation.” 24 Nicolas Venette: Abhandlung von der Erzeugung der Menschen. Königsberg – Leipzig 1738, S. 429; S. 427; Michel Coltelli Procope-Couteaux: L’Art de faire des Garçons ou Nouveau Tableau de l’Amour Conjugal, par M**** Docteur en Medicine de l’Université de Montepellier. Montpellier 1755. 25 Lazzaro Spallanzani: Dissertazioni di fisica animale, e vegetabile. Modena 1780. 26 Beate Moeschlin-Krieg: Zur Geschichte der Regenerationsforschung. Basel 1953. 27 Allerdings funktioniert diese virtuelle Natur unter Ausschluss aller natürlichen und sozialen Bedingungen. Vgl. hierzu: Karin Knorr Cetina: Epistemic Cultures. How The Sciences Make Knowledge. Cambridge, Mass. – London 1999. S. 26.
55 Simulation des weiblichen Uterus, und der Wissenschaftler wird zum ‘Vater’: mit dem fernen Ziel, die Kallipädie in eine Kalligenese zu überführen. Noch sei es nicht soweit, so schreibt Gabriel Jouard 1806 in seinem Buch über Monstrositäten und Bizarrerien, aber sollte ‘Mutter Natur’ das Geheimnis ihrer Launen einmal preisgeben, würden der Mensch sich ganz gewiss neu herstellen: “nous voudrions à coup sûr nous refaire”, zumindest aber würde man die Kunst beherrschen, “pour la satisfaction des caprices des papas et des mamans”, das Geschlecht des Kindes, seine physischen und geistigen Anlagen vorher bestimmen zu können, um auf diese Weise nur noch männliche oder schöne Kinder – oder gar Genies zu produzieren: “l’art de faire des garçons, l’art de procréer les sexes à volonté, l’art de faire des beaux enfans, l’art de ne faire que des hommes de génie”.28 Der perfektionierte, künstliche Mensch männlicher Herstellung bildet so auch in den Wissenschaften das imaginäre ‘Andere’ weiblicher Monstergeburten. Und im Rückgriff auf die damit verbundenen mythischen Narrative entwirft sich der (Experimental-)Wissenschaftler als potenter poieton.
3. Kunst oder Wissenschaft? Eine Frage der Männlichkeit “Die Kunst, nichtexistierende Wesen nach dem Vorbild der existierenden Wesen zu schaffen, ist wahre Poesie”.29 So antwortet in Denis Diderots Rêve de d’Alembert (1769) der Arzt Bordeu auf die an ihn gerichtete Aufforderung, schnell ein paar Ziegenmenschen – Monster also – herzustellen. Diderot verweist damit nicht nur auf den (bislang) fiktiven Charakter künstlicher Menschenproduktion – wie Bordeu bemerkt, gibt es “noch sehr wenig abgeschlossene Experimente”.30 Vielmehr lenkt er die Aufmerksamkeit auf die poiesis als ein Vermögen der Dichtkunst, welche derartige wissenschaftlichen Versuche zur zweiten Schöpfung insgeheim für sich in Anspruch nehmen: Kunst ahmt Natur nach, Wissenschaft aber imitiert Kunst, und das Labor wird zum poetischen Raum. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass der Schweizer Johann Jakob Breitinger 1740 in seiner Critischen Dichtkunst mit dem Wahrscheinlichen gegenüber dem historisch Wahren ein poetisch Wahres definiert und aufwertet, weil es erlaubt, “das Mögliche und Zukünftige” zu erkunden und zu entwerfen: denn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der 28
Jouard: Des Monstruosités et Bizarreries de la Nature. S. 214 ; S. 199f. “[…] l’art de créer des êtres qui ne sont pas, à l’imitation de ceux qui sont, est de la vrai poésie.” Denis Diderot: Le Rêve de d’Alembert. In: Ders.: Œuvres complètes. Édition critique et annotée. Bd. 17. Hg. von Jean Varloot. Paris 1987. S. 25–209. Hier S. 197. Übers. nach Diderot: Gespräche mit D’Alembert. In: Ders.: Über die Natur. Hg. von Jochen Köhler. Frankfurt/M. 1989. S. 67–144. Hier S. 137. 30 “[…] il y a très peu d’experiénces faites”. Ebd. S. 203. Übers. nach ebd., S. 141. 29
56 würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind. […] Und in dieser Absicht kömmt dem Dichter alleine der Name , eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit herüberbringet
Die Dichtkunst wird damit nicht nur gegenüber allen anderen Künsten vorgezogen, sie bietet auch den eigentlichen Innovationsraum. Bei diesem an Aristoteles orientierten Mimesisverständnis wird der “Zusammenhang der würcklichen Dinge” bis zu einem gewissen Grad relativ, könnte er doch “unendlich vielemahl […] verändert werden.” Poetologisch ist so in der Literatur jene Experimentierkunst verankert, welche die Wissenschaften wiederum ins Labor verlagern. Beide, Dichter und Wissenschaftler, trachten konkurrierend danach, “die Kräfte der Natur selbst” jeweils zu beherrschen und anzuwenden.31 Wer aber den Rang des Breitingerschen ‘Poeten’ und die produktive Einbildungskraft für sich zu reklamieren vermag, der ist im 18. Jahrhundert auch ein Genie. Denn das Genie, so definiert es die von Diderot und d’Alembert herausgegebene Enzyklopädie der Wissenschaften und Schönen Künste, folgt nicht der logischen Gedankenkette der Deduktion, es begnügt sich auch nicht mit der Beobachtung, sondern reist in der Stille und Verborgenheit des Studierzimmers ins Reich der Phantasie und entwirft einen Körper für die Phantome seiner Einbildungskraft. In den Künsten wie in den Wissenschaften scheint das Genie die Natur der Dinge zu verändern: Le génie entouré des objets dont il s’occupe ne se souvient pas, il voit; il ne se borne pas à voir, il est ému: dans le silence & l’obscurité du cabinet, il joüit de cette campagne riente & féconde; […] L’ame […] voudroit par des couleurs vraies, par des traits ineffaçables, donner un corps aux phantômes qui sont son ouvrage […]. Dans les Arts, dans les Sciences […] le génie semble changer la nature des choses […].32
Das Imaginationsvermögen also wird dem Genie zugeordnet, und Kunst wie Wissenschaft beanspruchen mit diesem Konzept gleichermaßen genau das poietische Vermögen als positiven Wert für sich, welches für die weiblichen Einbildungskraft negativ markiert ist: “changer la nature des choses”. Wenn nun das männliche Genie chimärische Verbindungen produziert, so ist das kein
31 Johann Jakob Bodmer, Johann Jakob Breitinger: Schriften zur Literatur. Hg. von Volker Meid. Stuttgart 1980. Hier S. 88; S. 86. 32 Génie (Philosophie & Littér.). In: [Denis Diderot / Jean Le Rond d’Alembert (Hg.)]: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers par une société de gens de Lettres. Bd. 9. Paris 1757. S. 582–584. Hier S. 582, Sp. 1 und S. 584, Sp. 1. Reprint New York 1969. Bd. 2. S. 166.
57 Hinweis auf ein regelloses Begehren, sondern vielmehr das Beiprodukt kombinatorischer Fähigkeiten und vernetzten Denkens. Gegenüber dem Innovationspotential der Imagination stellen mögliche Monstrositäten ein vergleichsweise geringes Risiko dar, zumindest für Diderot: Il [le génie, B.H.] a cet esprit de combinaison, cet instinct que j’ai défini dans quelques-unes des mes pensées sur l’interpretation de la nature. Mais il vaut encore mieux risquer des conjectures chimériques, que d’en laisser perdre d’utiles.33
Stützt sich die Enzyklopädie hier auf Instinkt und Geist, so versucht Kant vierzig Jahre später das unkalkulierbare Risiko des chimärischen, ungerichteten und zufälligen Spiels der Einbildungskraft dadurch zu mindern, dass er dem Genie die Vernunft zuweist und der künstlerischen Produktion eine Zweckgerichtetheit: Denn etwas muß dabei als Zweck gedacht werden, sonst […] wäre [es] ein Produkt des Zufalls. Um aber einen Zweck ins Werk zu richten, dazu werden bestimmte Regeln erfordert […]. Da nun die Originalität des Talents ein (aber nicht das einzige) wesentliches Stück vom Charakter des Genies ausmacht, so glauben seichte Köpfe […] man paradiere besser auf einem kollerichten Pferde als auf einem Schulpferde.34
Indem Kant zwischen zügelloser und regelloser Einbildungskraft (“effrenis aut perversa”) unterscheidet, bestimmt er die Imagination so, dass das freie Spiel der Ideen möglich ist, ohne dass das vernünftige Subjekt die Kontrolle darüber verliert: die zügellose Phantasie […] ist Üppigkeit aus ihrem Reichtum; aber die regellose nähert sich dem Wahnsinn, wo die Phantasie gänzlich mit dem Menschen spielt, und der Unglückliche den Lauf seiner Vorstellungen gar nicht in der Gewalt hat.35
Im Unterschied zu den deformierenden Müttern, die ihre Fantasien eben nicht zu beherrschen vermögen, zeichnet sich das Genie dadurch aus, dass es seine Einbildungen durch Vernunft – und durch Sprache – zu regulieren vermag, ohne dabei jedoch das poietische und innovative Vermögen der Imagination zu verlieren. Auf diese Weise gelingt es dem Genie, “das schnell vorübergehende Spiel der Einbildungskraft aufzufassen und in einem Begriff […] zu vereinigen, der sich ohne Zwang der Regeln mitteilen läßt.”36 Damit werden die Gebilde 33
Denis Diderot: Encyclopédie. In: L’Encyclopédie. Bd. 3. S. 642 A, Sp. 2. Reprint New York 1969. Bd. 1. S. 1159. 34 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. §47, 186. Hamburg 1990. S. 164. 35 Vgl. Immanuel Kant,: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. §27. In: Ders.: Werkausgabe. Bd. XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt/M. 1982. §32. S. 485. 36 Kant: Kritik der Urteilskraft. §49. 199. S. 172.
58 der Imagination ästhetisch produktiv, statt Schwärmerei und Wahnsinn auszulösen.37 Die gelungene Vermittlung zwischen Imagination und Verstand aber ist eine “seltene Erscheinung”, das “Genie ein Günstling der Natur”.38 Die weniger Begünstigten müssen ihre Einbildungskraft daher durch eine “psychologische[.] Diät” bezähmen, was aber die Frauenzimmer und die Hypochonder in der Regel missachten: sie “lieben mehr das entgegengesetzte Verhalten”.39 Die assoziative Einbildungskraft wird demnach im 18. Jahrhundert umcodiert: vom negativen und pathologischen Einfluss maternaler Begierden, Obsessionen, Launen und Einbildungen zum Zeichen eines seltenen produktiven, innovativen und männlichen Vermögens. Kunst bildet dabei einen Gegenentwurf zu den generativen Prozessen, durch den – in genauer Verkehrung der Resultate maternaler Einbildungskraft – das Naturhässliche ästhetisch transformiert wird: “Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt”.40 Und genau in diesem ‘kallipädischen’ Anspruch begründet sich, wie noch zu sehen sein wird, die deutsche Klassik. Parallel zu dieser ästhetischen Umcodierung erfolgt eine Aufwertung der Einbildungskraft als spezifisch produktives Vermögen, mit der die Kunst sich nun auch von der Wissenschaft zu distanzieren vermag. Mit Kant – und den Schweizern und beinahe auch in Fortsetzung von Diderots und d’Alemberts Geniebegriff – lässt sich nämlich argumentieren, dass die Einbildungskraft des männlichen Genies “mächtig [ist] in Schaffung gleichsam einer anderen Natur aus dem Stoffe, den die wirkliche ihr gibt”.41 Dabei profiliert Kant die Kunst deutlich gegenüber der Wissenschaft: Das poietische Innovationspotential bleibt dem Wissenschaftler grundsätzlich verwehrt, der noch als “der größte Erfinder vom mühseligsten Nachahmer”42 nur graduell zu unterscheiden ist – und daher niemals ein Genie sein kann. Auf diese Weise wird die Wissenschaft der nunmehr autonomieästhetisch gefassten Kunst epistemologisch nachgeordnet: Nur in der Kunst manifestiert sich das “produktive[s] Erkenntnisvermögen” der Imagination.43 Oder knapper und mit Novalis gesagt: “Dichten ist zeugen”.44 Wenn der Wissenschaftler sich also mit der potentiellen Herstellung eines künstlichen Menschen als Prometheus oder Pygmalion entwirft, dann versucht er letztlich jene Position des Originalgenies zu besetzen, die ihm nach Kant verwehrt ist. Die Umcodierung der Einbildungskraft schließt demnach um 37 38 39 40 41 42 43 44
Vgl. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. §27. S. 472. Kant: Kritik der Urteilskraft. §49. 200. S. 173. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. §30. S. 484. Kant: Kritik der Urteilskraft. §48. 189. S. 165f. Ebd., §49. 193. S. 168. Ebd., §47. 184. S. 162. Ebd., §49. 193. S. 168. Novalis: Schriften. Bd. II, S. 534.
59 1800 nicht nur Frauen und Hypochonder aus dem Geniediskurs aus, sondern auch Wissenschaftler. Je nach Perspektive also richten sich die Hierarchien der diskursiven Ordnungen von Kunst und Wissenschaft entweder nach den empirischen ‘Fakten’ oder nach dem poietischen Vermögen aus. In jedem Fall aber ist die Zugehörigkeit zur jeweiligen Ordnung eine Frage der Männlichkeit – entweder der rationaleren oder aber der (er)zeugungsfähigeren Männlichkeit.
4. Grenzüberschreitungen 1818 hat Mary Shelley mit ihrem Roman Frankenstein Or the Modern Prometheus den Typus des Wissenschaftlers porträtiert, der in Verkennung der Grenzen zwischen den diskursiven Ordnungen von Wissenschaft und Kunst zum Schöpfer zu werden versucht. Eingeschlossen in sein Studierzimmer gelingt es ihm – wie dem bei Diderot und d’Alembert in der Enzyklopädie beschriebenen Genie – tatsächlich, dem Fantom seiner Einbildungskraft einen Körper zu geben. Analog zu den von Jouard mitgeteilten Fantasien über künstlich erzeugte Kinder soll auch Frankensteins Geschöpf perfekt und vor allem schön werden: “I had selected his features as beautiful”.45 Doch das misslingt gründlich: Nachdem der Wissenschaftler sein ‘Kind’, ein Flickwerk aus Leichenteilen, erfolgreich erzeugt und animiert hat, muss er erkennen, dass er stattdessen ein “miserable monster” (FMP, S. 40) kreiert hat – unproportioniert und von unerträglichem Anblick: “the beauty of the dream vanished, and breathles horror and disgust filled my heart.” (ebd.) Shelley zitiert hier teilweise wörtlich eine Passage aus Mary Wollstonecrafts kurzer Kunstdiskussion in A Vindication of the Rights of Woman (1792) und legt so die Nähe zwischen einem bestimmten Kunstideal und dem aufklärerischen Diskurs über die Verbesserung des Menschen offen. Denn Wollstonecraft konstatiert zunächst, dass auch die griechischen Statuen eine kunstvolle “assemblange” darstellen: “beautiful limbs and features were selected from various bodies to form an harmonious whole” und ein “fine ideal picture” der Menschheit. Daran anschließend entwickelt sie den Gedanken, dass die Menschen einst nicht nur körperlich disziplinierter, sondern deshalb auch sittlicher und also insgesamt schöner waren. 46
45 Mary Shelley: Frankenstein: Or the Modern Prometheus. In: The Novels and Selected Works of Mary Shelley. 8 Bde. Hg. von Nora Crook. Bd. 1. London 1996. S. 39. Zitate im Haupttext im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle FMP. 46 “Judgment must reside on the brow, affection and fancy beam in the eye, and humanity curve the cheek, or vain is the sparkling of the finest eye or the elegantly turned finish of the fairest features: whilst in every motion that displays the active limbs and well-knit joints, grace and modesty should appear.” Mary Wollstonecraft: A Vindication of The Rights of Woman. In: Dies.: Political Writings. Hg. von Janet Todd. London 1993. S. 67–296; S. 267f.
60 Damit wiederum ist auf jene Verkopplung von Biopolitik, Moral und klassizistischer Ästhetik verwiesen, die Frankensteins Geschöpf überhaupt erst zum abjekten Monster werden lassen und die insbesondere Winckelmanns Lektüre der Statuenkörper mehr als deutlich herstellt. In seinen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755), vor allem aber in der Beschreibung des Torso im Belvedere in Rom (1759) und in der Beschreibung des Apollo im Belvedere (1756/59), führt Winckelmann ‘plastisch’ vor Augen, wie aus Gesichtszügen und Körperformen, seien sie auch noch so rudimentär erhalten, der wahre Charakter der Seele zu erkennen sein muss, wie edle Einfalt, stille Größe und schöner Körper eine notwendige Einheit bilden: “die Gestalt ist blos wie ein Gefäß derselben.”47 Winckelmann ist sich sehr wohl bewusst, dass die griechischen Statuen ein Ideal darstellen, dennoch zieht er daraus kallipädische Rückschlüsse: Klima, Diät, Mode, körperliche Disziplin und eugenische Sorgfalt bei der Zeugung verleihen den griechischen ‘Natur’-Körpern “den großen und mänlichen Contur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben” und der im 18. Jahrhundert nicht mehr zu finden ist.48 Die Griechen dagegen “gingen sogar so weit, daß sie aus blauen Augen schwarze zu machen suchten” und ein Quillet, so Winckelmann weiter, zeigt nicht so viele Wege auf, als die Alten kannten, um schöne Kinder zu zeugen.49 Nicht nur Generation und Kunstproduktion, auch lebendige und steinernde Leiber werden ineinander verschoben und repräsentieren eine Politik der gelenkten Natur. Denn ‘Mutter’ Natur, so formuliert es später Karl Philipp Moritz in aller Deutlichkeit, schlägt mit ihrem Bildungstrieb oftmals “einen falschen Weg ein”, und “so bleibt das echte Schöne selten.”50 Analog zum medizinischen Diskurs über die Einbildungskraft der Schwangeren übernimmt der klassizistische Künstler demnach die kallipädische Aufgabe, ‘schöne Kinder’ zu (er)zeugen: die progenitorische Formkraft des Mannes findet sich wieder im Genie der autonomieästhetischen Kunstproduktion. Und das Mythologem für dieses ästhetische Bodybuilding stellt die Pygmaliongeschichte bereit, die sich im 18. Jahrhundert vielfach mit dem Prometheusnarrativ mischt. 47
Johann Joachim Winckelmann: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1. Hg. von Joseph Eiselein. Faksimilie der Ausgabe von 1825. Osnabrück 1965. S. 226–233; S. 231f. 48 “Die schönsten Körper unter uns wären vielleicht dem schönsten griechischen Körper nicht ähnlicher, als Iphikles dem Herkules, seinem Bruder, war. Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. In: Ebd. S. 6–39; S. 10. Zitat im Haupttext: S. 11. 49 Ebd. S. 8; S. 12. 50 Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788). In: Ders.: Werke in zwei Bänden. Hg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt a.M. 1997, S. 958–991. Hier S. 978.
61 Vor diesem Hintergrund also entsteht Shelleys Roman und liefert einen deutlichen Kommentar zur männlichen Kunstproduktion. In der Überschreitung der Fiktionsgrenze und des Kunstdiskurses erzeugt die produktive Kraft des Genies nämlich weniger eine Verbesserung der Natur als deren Perversion, und die bei Kant aufgezeigte ästhetische Verwandlung der Natur ins Kunstschöne kehrt sich ins Monströse um. Bei der Konzeption des neuen Adam mag Frankenstein zwar an die klassizistischen Schönheitsregeln und Bestimmungen idealer Hautlinien und Körperformen gedacht haben: “His limbs were in proportion” (FMP, S. 39). Doch im Moment der Belebung entfalten die an statischen und ‘toten’ Vorbildern gewonnenen Formkonzepte ihre Unnatur, und es entsteht ein Wesen “such as even Dante could not have conceived” (FMP, S. 40). Die misslungene dichterische ‘Empfängnis’ weist implizit darauf hin, wie sehr sich das Geniekonzept aus dem Diskurs um die maternale Einbildungskraft speist: Frankenstein nimmt gerade nicht die Position des Künstlers ein, auch nicht die des Erzeugers oder des wissenschaftlichen Fötus-Skulpteurs, sondern die der alle kallipädischen Ratschläge vernachlässigenden Mutter. Und so ist das Monster das Produkt und die Manifestation einer ungezügelten und unmännlichen Einbildungskraft: Nachträglich nämlich stellt Frankenstein fest, wie nötig für sein ‘Geburtsvorhaben’ “a calm and peaceful mind” statt “passion or a transitory desire” (FMP, S. 38) gewesen wäre. Frankenstein verkörpert also, folgt man der oben zitierten Callipaedia, genau nicht den Prometheus, als den ihn der Untertitel des Romans bezeichnet. Und auch als Pygmalion versagt er, denn das Ideal antiker Statuen gerät ihm zur Karikatur. Indem das Monster einen ästhetischen Erwartungshorizont aufruft, der sogleich wieder durchkreuzt wird, bildet es eine Kippfigur der Groteske51 – und als solche repräsentiert es ein romantisches Kunstprogramm. Dieses lässt sich deutlich am Körper des Monsters ablesen, als dessen “miserable origin and author” (FMP, S. 75) sich Frankenstein bezeichnet. In seiner notdürftigen Verbindung heterogener Leichen-Einzelteile offenbart die Gestalt eben jene Kontingenz von Form und Materie, die in Winckelmanns imaginären, pygmalionischen Statuenergänzungen und – belebungen verdeckt bleiben soll,52 51 S. hierzu Carl Pietzcker: Das Groteske. In: DVjS 45(1971). H. 2. S. 197–211. Hier S. 199. Andrea Jäger: Groteske Schreibweise als Kipp-Phänomen der Romantik. In: Romantik und Ästhetizismus – Festschrift für Paul Gerhard Klussmann. Hg. von Bettina Gruber u. Gerhard Plumpe. Würzburg 1999. S. 75–89. Hier S. 75. 52 Das Ideal entsteht in Winckelmanns Imagination ja gerade deshalb, weil die Statuenkörper meist nur noch fragmentarisch erhalten sind: “[…] so fangen sich an in meinen Gedanken die übrigen mangelhaften Glieder zu bilden […]. So vollkommen hat weder der geliebte Hyllus, noch die zärtliche Jole den Herkules gesehen […].” Winckelmann: Beschreibung des Torso im Belvedere zu Rom. S. 231 f. Vgl. hierzu auch Irmela Marei Krüger-Fürhoff: Der versehrte Körper. Revisionen des klassizistischen Schönheitsideals. Göttingen 2001.
62 nun jedoch zum Zeichen der romantischen Ästhetik schlechthin wird. In diesem Sinn schreibt Friedrich Schlegel: “[…] so spielt das Groteske mit wunderlichen Versetzungen von Form und Materie, liebt den Schein des Zufälligen und Seltsamen, und kokettiert gleichsam mit unbedingter Willkür.”53 Bekanntlich wertet das romantische Kunstverständnis das Spiel der Imagination und Assoziation, den Witz und die Groteske gegenüber “der vernünftig denkenden Vernunft” auf, um “uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie” zu versetzen.54 Und es scheint, als ob die Romantik dabei Kants Konzept der zügellosen Imagination aufgreift und sie als Gegenentwurf zur klassizistischen Kunstproduktion versteht. Das Groteske erscheint zumindest aus der Sicht Schlegels als jene negierte ‘andere’ Schreibweise des Klassizismus, die entdeckt werden muss, um durch eine “freie Ideenkunst” – “alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet” – die romantische Literatur an den Anfang der Poesie zurückzuversetzen. So formuliert es 1800 Ludoviko in Schlegels Gespräch über die Poesie, der hofft, auf diese Weise den “alten Kram” der Dichtkunst zu erneuern und den seelenlosen “tote[n] Leichnam der Poesie” gleichsam galvanistisch mit dem Funken der Fantasie wiederzubeleben.55 Jeder Romantiker ein kleiner Frankenstein – und ein ‘neuer Prometheus’. Nicht zufällig also verkörpert das Monster in Shelleys Roman eine anamorphotische Verkehrung jener klassizistischen Ästhetik, die im 18. Jahrhundert immer wieder mithilfe des pygmalionischen Topos der belebten Statue in Szene gesetzt wird. Und ganz ähnlich führt auch E.T.A. Hoffmanns Nachtstück “Der Sandmann” (1816/17) die romantische Kunstproduktion anhand einer ins Monströse gewendeten klassizistischen Denkfigur vor Augen. Denn die Automate bildet die ‘technische’ Variante der animierten Statue, erhält aber im Laufe der Erzählung schauerromantische Züge des Motivs von der wiedererweckten toten Braut zugewiesen und erweist sich schließlich ebenso als (un)heimliche Schwester von Pygmalions Galathea56 wie als Pendant zu Frankensteins Monster. Hoffmanns Erzählung demonstriert – nicht nur mittels ihres Protagonisten –, wie leicht die zügellose Einbildungskraft in jene regellose umzuschlagen droht, die Kant mit dem Wahnsinn gleich gesetzt hat. Er verknüpft darüber hinaus 53
S. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. Erste Abt.: Kritische Neuausgabe. Bd. 2. Paderborn u. a. 1967. S. 251. Zitat S. 217. 54 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. S. 319. 55 Schlegel: Gespräch über die Poesie. S. 318. 56 Hoffmanns Text lässt sich auch aufgrund intertextueller Referenzen als Antwort auf Rousseaus Monodrama Pygmalion (1770) verstehen, in dem die Statue bekanntlich den Namen Galathea erhält.
63 gängige epistemologische und psychologische Diskussionen um die Imagination mit transzendentalphilosophischen Überlegungen zur Wirklichkeitsgenerierung und poetologischen Konzepten der Wirkungsästhetik. Dabei lenkt der Text erstens den Blick auf die Mechanismen und Gefahren der produktiven Einbildungskraft des ins Romantische abdriftenden Dichters Nathanael. Zweitens beleuchtet die Erzählung metareflexiv das eigene poetische Verfahren. Und drittens demonstriert sie die mediale Erzeugung von Empfindungen und Realitäten am Leser selbst. Dies geschieht nicht zuletzt dadurch, dass der Leser sich epistemologisch in Nathanaels Position wiederfindet, welcher – durch sein Perspektiv auf die Automate schauend – die Distanz verliert und zu ebenso unverhofften Gefühlen für die betrachtete Figur verleitet wird wie der Leser durch den Text zur Sympathie für den Protagonisten. Von Nathanael erfährt man gleich in seinem ersten Brief, dass er sich in einer “zerrissenen Stimmung des Geistes”57 befindet, weil er einem Wetterglashändler begegnet ist. In diesem meint er einen früheren, “teuflischen” Bekannten wiederzuerkennen, der den Tod des Vaters verschuldet hat. Damit Nathanaels Freund Lothar ihn wegen seiner nun andauernden dunklen Ahnungen nicht für einen “Geisterseher” hält, bemüht er sich, die traumatischen Kindheitserlebnisse mit diesem “Sandmann” näher darzulegen. Eine Verwechslung sei unmöglich, denn “Figur und Gesichtszüge sind zu tief in mein Innerstes eingeprägt” (DS, S. 20). Genau dies aber ist das Problem: Johann Georg Sulzer hat 1771 in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste dargelegt, dass durch das seelische Vermögen der Imagination “die Welt, so weit wir sie gesehen und empfunden haben, in uns” liegt und die dadurch angefüllte Fantasie zum “Zeughaus” einer neuen Welt wird. Somit ist es die Einbildungskraft, welche die aufgenommenen sensuellen Daten verarbeitet, speichert und für mögliche Rekombinationen bereit stellt. Sie kann aber auch zu einer “fatalen Verwirrung des Gemüthes” führen, wenn der Verstand nicht dagegen hält.58 Um mit Fichte zu sprechen: Die Einbildungskraft “produziert Realität”, und sofern der Verstand diese akzeptiert und fixiert, “wird ihr Produkt etwas Reales.”59 So auch bei Nathanael, der
57
E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke. Bd. 3: Nachtstücke. Hg. von Hartmut Steinecke. Frankfurt/M. 1985. S. 11. Angaben im Haupttext im folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle DS. 58 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzeln, in alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinander folgenden, Artikeln abgehandelt. Bd. 1. Leipzig 1771. Art. Einbildungskraft S. 292–294; Art. Dichter S. 247. 59 Johann Gottlieb Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. In: Johann Gottlieb Fichtes sämmtliche Werke. Hg. von Immanuel Hermann Fichte. Bd. 1. Berlin 1845. S. 234.
64 durchaus erkennt, “daß es nicht meiner Augen Blödigkeit ist, wenn mir nun alles farblos erscheint […].” (DS, S. 18) Es ist also zu spät, um zu verhindern, dass der “Sandmann die Augen verderben” (DS, S. 23) möchte, wie Nathanaels vernüftige Verlobte Clara es versucht – das alte Ammen-Märchen vom augenraubenden Sandmann hat längst gewirkt. Nicht die Organe sind geschädigt, sondern die Wahrnehmung findet sich durch bereits gespeicherte ‘innere’ Bilder gefiltert. Subjektive und objektive Anschauung fließen ineinander und erzeugen eine andere Realität: das – wie Clara es nennt – “Fantom unseres eigenen Ichs” (ebd.). Clara analysiert genau die Mechanismen der psychischen “Täuschung” (ebd.), die Fichte 1794/95 als philosophisches Problem dargelegt hat: “Solange du an ihn [Coppelius] glaubst, ist er auch und wirkt, nur dein Glaube ist seine Macht.” (DS, S. 29f.) Doch Nathanael, dem bereits alles “Traum und Ahnung geworden” (DS, S. 29), verwahrt sich gegen “logische Collegia” (DS, S. 24) dieser Art. Schritt für Schritt erfolgt seine Trennung von Clara, die nicht nur (nomen est omen) den Verstand repräsentiert, sondern auch das klassizistische Konzept von clarté, bon sens, raison, règles und plaire.60 Aus Nathanaels ‘Farblosigkeit’ werden neue – dunkle, schauerromantische – Dichtungen entstehen, welche die ‘prosaische’ Clara am liebsten verbrennen möchte: Statt der “anmutigen, lebendigen Erzählungen” von einst sind Nathanaels Werke nun “düster, unverständlich, gestaltlos” (DS, S. 30). Damit urteilt Clara ganz im Sinne Goethes, der 1808 äußert: “Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige […] ganz zügellos, betrunken […]”.61 Claras Ansinnen aber, das “wahnsinnige Märchen ins Feuer” (DS, S. 32) zu werfen, lässt sie in Nathanaels Augen zur unempfindsamen, leblosen Automate werden (ebd.). Man könnte meinen, Hoffmann habe Sulzer literarisch paraphrasiert, um gleichermaßen Kritik am Rationalismus der Aufklärung, am Klassizismus und an einer romantischen “Mystik” (DS, S. 30) zu üben. Sulzer nämlich konstatiert, dass der Dichter ohne den Verstand in die “Gattung des Ungereimten” abgleitet, ausschweifende und “abentheuerliche Vorstellungen” hervorbringt und im “immerwährende[n] Traum” versinkt, dass das andere Extrem aber, der Mensch ohne Einbildungskraft, nicht mehr “als eine blosse Maschine” sei.62 60
Vgl. auch Roland Innerhofer: Die technische Modernisierung des künstlichen Menschen in der Literatur zwischen 1800 und 1900. In: Nach dem Menschen. Der Mythos einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur. Hg. von Bernd Flessner. Freiburg i. Br 2000. S. 69–99. Hier S. 80. 61 Aufzeichnung Riemers vom 28. Aug. 1808. Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Bd. 33. Hg. von Rose Unterberger. Frankfurt/M. 1993. S. 362. 62 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Art. Abentheuerlich S. 3; Art. Einbildungskraft S. 291.
65 Freilich scheint es nur so, als sei dies die Quintessenz des ‘Nachtstücks’, denn bekanntlich haben wir es darin mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun, der selbst ‘Ungereimtes’ und Dunkles produziert. Nicht allein Nathanael kämpft nämlich mit der Farblosigkeit, auch dem Erzähler scheint zunächst jedes Wort “farblos und frostig und tot”, mit dem er den “Farbenglanz des innern Bildes abzuspiegeln” trachtet, das “Brust, Sinn und Gedanken ganz und gar” erfüllt (DS, S. 25–27). Aber während Nathanaels Wahrnehmung durch die Einbildungskraft getrübt ist und er sich mit seinen Dichtungen buchstäblich im Modus der Umnachtung – des ‘immerwährenden Traums’ – befindet, besteht das Problem des Erzählers im unzulänglichen sprachlichen Ausdruck. Die Perspektive wechselt also von der psychischen Macht der inneren Bilder zu deren poetischen Gestaltung und von dort weiter zu deren Wirkungsästhetik. Prägnanter könnte kaum demonstriert werden, dass die Romantik die psychischen Antriebe der Kunstproduktion und ihre Übersetzung in die Textform ‘entdeckt’. Nicht zufällig gleicht daher die den Erzähler umtreibende Einbildungskraft den Fieberträumen Nathanaels – “Es gärte und kochte in dir, zur siedenden Glut entzündet sprang das Blut durch die Adern […], die Rede zerfloß in dunkle Seufzer” (DS, S. 25 f.) –, die “Lebhaftigkeit des Gefühls” und der Zwang, dieses anderen gegenüber zu äußern, gehört zum “poetischen Genie”.63 Das ganze unförmige “innere Gebilde” drängt auf einmal nach außen, sucht gleich mit dem “ersten Wort” wie “ein elektrischer Schlag” (DS, S. 26) alle zu treffen. Das “Feuer der Einbildungskraft” (Sulzer) soll also überspringen und sich gleichsam in der Seele des Lesers entladen. Wortwörtlich gleicht das narrative Projekt hierin zeitgenössischen Ideen zur pädagogischen Vorstellungssteuerung und Seelenführung: Oft wirke “ein einziges kräftiges Wort, das an eine in der Seele vorhandene Reihe von Gemählden erinnert, wie ein elektrischer Schlag”.64 Freilich scheint diese Pädagogik selbst wiederum der romantischen Wirkungsästhetik nahe zu stehen, die Novalis wie folgt knapp umreißt: “Man sucht mit der Poesie […] innre Stimmungen, und Gemälde oder Anschauungen hervorzubringen […] Poesie ⫽ Gemütserregungskunst.”65 Und entsprechend bemüht sich auch Nathanael, “Claras kaltes Gemüt” zu entzünden (31). Um die Gemälde herzustellen, an die der Dichter ‘erinnern’ will, gilt es, “wie ein kecker Maler” zunächst den Umriss des inneren Bildes zu skizzieren, um dieses dann mit immer glühenderen Farben zu füllen und so zu beleben, dass der Leser “sich selbst mitten im Bilde” vorfindet und es ihm später so vorkommt, als hätte er “die Person recht oft schon mit leibhaftigen Augen gesehen” (DS, S. 27). Der Erzähler arbeitet also, ähnlich wie Nathanael, daran, 63
Ebd. Art. Dichter S. 247. Johann Joachim Bellermann: Bemerkungen über den Anbau der Einbildungskraft und Phantasie, in pädagogischer Hinsicht. Berlin 1805. S. 13. 65 Novalis: Schriften. Bd. III. Hg. von Richard Samuel. Darmstadt 1968. S. 650. 64
66 den ‘Leichnam der Poesie’ galvanistisch zum Leben zu erwecken – mit und in der Fantasie des Lesers. Deutlicher könnte die plastic (und anthropoplastic) power des Dichters kaum vorgeführt werden: Fiktion ist die Realität, welche die Einbildungskraft (des Dichters im Leser) hervorbringt; die Literatur agiert wie jene “psychische Macht”, die – so Clara – oft fremde Gestalten “in unser Inneres hineinzieht” (DS, S. 23). Denn die Erzählung installiert gleichsam einen Wahrnehmungsfilter im Kopf des aufgeklärten Lesers, der schließlich nicht mehr entscheiden kann, welcher Perspektive er folgen soll: der subjektiven Anschauung eines bedauerlichen Schwärmers, welcher geheime, magische Mächte am Werk vermutet, oder der objektiven der Vernunft. Vom Erzähler werden wechselweise beide Sichtweisen unterstützt: Nathanaels zwischenzeitliche ‘Genesungen’ bestätigen Clara, seltsame Zufälle und Ereignisse hingegen Nathanael, beide Anschauungen fließen auch hier ineinander. Man kann diese Wahrnehmungsirritation mit Clara als Täuschung deklarieren und darin paradoxerweise demselben Kant folgen, der den Frauen die Kontrolle über die Imagination abspricht. Doch der Text selbst entscheidet sich, gut romantisch, für Fichte: Dieser nämlich hält Kant entgegen, dass das Vermögen der Einbildungskraft gerade darin bestehe, Wahrheit durch Täuschung hervorzubringen sowie darin, das Subjektive wie das Objektive parallel zu führen und beides zusammen in der Schwebe zu lassen.66 Dann wäre auch der Erzähler einer jener “Nebler und Schwebler”, die bei Clara “böses Spiel” haben und diese daher – wie Nathanael – “kalt, gefühllos, prosaisch” schelten (DS, S. 28). Doch gehört es zur Ambivalenz (zur ‘inneren Zerrissenheit’) des Erzählers wie Nathanaels, gerade die heitere, kindliche, lebenskräftige, verständige und gemütvolle Seite dieser Kritikerin zu loben und zu lieben – eine deutliche, wenn auch auf den unwiederbringlichen Verlust “der ewigen Einheit mit sich selbst” verweisende Referenz des romantischen Textes an die klassizistische ‘edle Einfalt’.67 Für die Nathanaels dieser Welt jedenfalls formuliert Hoffmanns Text eine medienreflexive Warnung. Denn dass Literatur zuweilen Empfindungen oder Wahrnehmungen stiftet, “die ein Nichtleser nicht haben oder teilen könnte, die also nicht lebensweltlichen, sondern erklärtermaßen schriftlichen Ursprungs
66
Fichte: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. S. 206, S. 216f.; S. 227. Vgl. Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 20,1: Philosophische Schriften. Hg. von Benno von Wiese. Weimar 1962. S. 413–503. Hier S. 414. Schiller merkt an, dass die sentimentalische Dichtung, im Gegensatz zur naiven, stets zwischen Einbildungskraft und Vernunftidee schwankt – und genau dies führt Hoffmanns Text vor, mit allen pathologischen Konsequenzen.
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67 sind”,68 ist ein seit der Empfindsamkeit bekanntes und durchaus problematisches Phänomen. Und dass dieses auftaucht, weil Literatur weder objektiv noch abbildhaft funktioniert, sondern vielmehr subjektiv und perspektivisch arbeitet, konstatiert in diesem Kontext bereits Sulzer: Nichts scheint so geringe, das die Dichtkunst nicht interessant, und nichts so groß, das sie nicht noch weit mehr vergrössern könnte. Denn eigentlich zeigt der Dichter den Gegenstand nicht, wie er in der Welt vorhanden ist, sondern […w]ir sehen durch ihn mehr die Scenen, die seine Phantasie und sein Herz beschäftigen, als Scenen der Natur.69
Unschwer lässt sich erkennen, dass Nathanaels Blick durch das Perspektiv, mit dem ihm die Automate Olimpia zu Leben erwacht, eben diesem poetologischen Verständnis und diesem neuen Mimesiskonzept geschuldet ist. Hoffmann zeigt, was Medientheoretiker später herausfinden: Das Tele-Bild vom Gesicht der Automate Olimpia vergrößert nicht einfach, sondern modifiziert deutlich die Struktur des Wahrgenommenen: es fokussiert und fragmentiert, es lässt die Grenzen zwischen körperlicher Distanz und sinnlicher Nähe, zwischen imaginärer Vergegenwärtigung und anschauender Erkenntnis verschwinden, und die “entpersönlichte” Vision des Objektivs setzt schließlich das Betrachtete – in seltsamer Verkehrung des Sehvorgangs – als Subjekt in Szene: “[…] wie er immer schärfer und schärfer durch das Glas hinschaute, war es, als gingen in Olimpia’s Augen feuchte Mondstrahlen auf. […] immer lebendiger und lebendiger flammten die Blicke.” (DS, S. 36) Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass der Kamera eine andere Natur offenbar wird als dem bloßen Auge70, nämlich eine zergliederte, deren Teile sich nach neuen Gesetzen zusammenfinden – Gesetze, die auch für Nathanaels Sehrohr71 und für das Medium Literatur um 1800 gelten: Hoffmanns Text stellt für den Leser jenen epistemologischen Schwebezustand her, den nach Fichte etwa auch Brentano 1801/02 als spezifisch romantisch
68 Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 1999. S. 162f. Zum Verhältnis von Text und Leben vgl. auch meine Überlegungen in: Britta Herrmann: “Wir leben in einem colossalen […] Roman”. Fiktionalität und Faktizität um 1800. In: Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850. Hg. von Britta Herrmann und Barbara Thums. Würzburg 2003, S. 111–134. 69 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Art. Dichtkunst S. 251. 70 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Ders:. Gesammelte Schriften. Bd. I,2. Hg. von Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. S. 499f. 71 Ulrich Stadler: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch 1 (1993). S. 91–105.
68 markiert, und Nathanaels Produktionen bringen genau das ‘Ausschweifende’, Ungestalte zum Vorschein, welche die derart erzielte (mediale) Neuordnung des Blicks erzeugt:72 Szenerien im Dazwischen von Subjekt und Objekt, ‘Ich’ und ‘Es’. Keineswegs zufällig vermehrt sich dieses Ungestalte angesichts der im “reinsten Ebenmaß gewachsenen” (DS, S. 25) und ‘engelschön’ geformten “Gestalt” (DS, S. 37) Olimpias. Wie in einem ironischen Kommentar auf die zum Musendasein verdammten und nicht selten abwesenden oder gar toten Frauen in romantischen Texten werden die Dichtungen des Protagonisten Nathanael durch die Gegenwart der weitgehend stummen Automate befördert und “täglich vermehrt”, wobei es dem auf Olimpias vermeintliche Kommentare lauschenden Nathanael vorkommt, “als habe die Stimme aus seinem Innern selbst herausgetönt. Das musste denn wohl auch sein; denn mehr Worte als vorhin erwähnt, sprach Olimpia niemals.” (DS, S. 43) Diese innere Stimme aber ist eine “grauenvolle” (DS, S. 31), und die vorweggenommene ‘écriture automatique’ gebiert wie Goyas ‘Traum der Vernunft’73 Monster. Damit lässt sich einerseits zu Sulzer zurückkehren, der für eine derart ausschweifende Einbildungskraft die Erziehung durch Frauen verantwortlich macht: Durch diese nämlich “wird der Seele ihre männliche Kraft weggeschnitten, alle Nerven werden schlaff, und man macht aus dem Menschen eine Mißgeburt […].”74 Nathanaels Dichtungen wären also nicht nur pathologisch, sondern unmännlich und bildeten das fortgesetzte Produkt einer weiblichen Einbildungskraft, die einst im Ammen-Märchen vom Sandmann ‘pädagogische’ Formkraft entfaltete: Eine vorfreudianische ‘Kastration’ also, die sich im Perspektiv der Dichtung dem analytischen Leser offenbart. Andererseits aber zeigt sich das Monströse auch als das inhärente ‘Andere’ der schönen Statue und der pygmalionischen Kunstzeugung. Denn ‘Vater’ und eigentlicher Schöpfer der Automate ist ja nicht wirklich Nathanael, auch nicht ein “einfältige[r ] Uhrmacher” (DS, S. 44), sondern der Physikus Spalanzani. Damit sind Lazzaro Spallanzanis Experimente zur künstlichen Zeugung sowie zur gezielten Produktion von Missbildungen aufgerufen, und Olimpia ‘ent-puppt’
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Clemens Brentano: Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. von Jürgen Behrens u. a. Bd. 16,1. Hg. von Werner Bellmann. Stuttgart u. a. 1978. S. 314f. Vgl. auch die Ausführungen Goethes zur Wahrnehmungsveränderung durch Sehhilfen: Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. 8. 7. Aufl. Hamburg 1967. S. 120f. 73 El sueño de la razón produce monstruos: Bekanntlich lässt sich ‘sueño’ mit ‘Traum’ und mit ‘Schlaf’ gleichermaßen übersetzen. 74 Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Art. Einbildungskraft S. 293.
69 sich als Pendant zu Frankensteins Laborproduktion. Nur dass in ihr das Monströse gleichsam kunstvoll überdeckt ist, während umgekehrt die ungestalte Oberfläche des Monsters moralische Schönheit verbirgt. Doch da letztere im klassizistischen Denken notwendigerweise in der ästhetischen Form zur Anschauung gelangt, meint der getäuschte Nathanael im ‘toten Leichnam’ der Automate zu erkennen, was nicht vorhanden ist (und spiegelt umso deutlicher sich selbst), wohingegen das galvanistisch belebte Monster allein von einem Blinden adäquat ‘gesehen’ werden könnte. Eine metonymische Verschiebung vom Monströsen ins Idealschöne und umgekehrt. Oder mit Schlegel gesprochen: alles in allem “wunderliche[ ] Versetzungen von Form und Materie”, die einmal mehr die Geburt der Romantik aus dem Geist das Klassizismus belegen.75
5. Queering Pygmalion Der Kampf um die ‘potentere’, produktivere Einbildungskraft führt nicht nur die mäandernde Ausdifferenzierungsdynamik von Wissenschaft und Kunst vor Augen, sondern motiviert zugleich paradigmatische Verschiebungen innerhalb der poetologischen Programmatiken und Ästhetiken von Klassizismus und Romantik. Und die sind stets geschlechtlich markiert. Dass über den Ausschluss der Frau aus der Kunstproduktion und über ihre Stillstellung als Muse das offenbar prekäre Verhältnis von Künstlertum und Männlichkeit ausgehandelt wird, zeigt nicht nur Hoffmanns Erzählung, indem diese das pygmalionische Begehren Nathanaels nach der künstlichen Frau deutlich als autoerotisch zeichnet und das ästhetische Poduktionsmythologem ‘Liebe’76 dadurch hintergründig kommentiert: als narzisstische Spiegelung im Gegenüber (DS, S. 42) und als – letztlich unmännliche – poetische Selbstbefruchtung. Noch stärker aber diskutiert Mary Shelleys Roman das Verhältnis des Autors zu seinem Text. Dabei stellt Frankenstein weit augenfälliger
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So auch der Titel von Ernst Osterkamp: Die Geburt der Romantik aus dem Geist des Klassizismus. Goethe als Mentor seiner Zeit. In: Goethe-Jahrbuch 112 (1995). S. 135–148. Dass Klassizismus und Romantik komplementäre Antworten auf Probleme der Aufklärung bzw. zwei Ausprägungen der Moderne darstellen, wird seit einigen Jahren diskutiert. Zu letzterem s. etwa Sabine M. Schneider: Klassizismus und Romantik. Zwei Konfigurationen der einen ästhetischen Moderne. Konzeptuelle Überlegungen und neuere Forschungsperspektiven. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 37 (2002), S. 86–128. 76 Christian Begemann: Kunst und Liebe. Ein ästhetisches Produktionsmythologem zwischen Klassik und Realismus. In: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier. Hg. von Michael Tietzmann. Tübingen 2002. S. 79–112.
70 als der Sandmann die heterosexuelle Matrix und Begehrensstruktur des Pygmalion-Narrativs zur Disposition, die beide Male dieses Verhältnis strukturieren – oder strukturieren sollen. Eine zentrale Abweichung von den pygmalionischen Erzählungen in der Nachfolge Ovids besteht ja darin, dass Frankenstein keine neue Eva, sondern einen neuen Adam erschafft. Dadurch wird das pygmalionische Liebesbegehren grundlegend neu codiert. Bei Shelley taucht es zunächst verdeckt wieder auf als Enttäuschung angesichts der Hässlichkeit der animierten Leichenteile und zeigt sich dann – weniger verdeckt – in einer ‘Bettszene’, bei der Frankenstein eben jene Annäherungsversuche seines Geschöpfes abwehrt, die in den pygmalionischen Geschichten stets das Ziel bilden: He held up the curtain of the bed; and his eyes, if eyes they may be called, were fixed on me. His jaws opened, and he muttered some inarticulate sounds, while a grin wrinkled his cheeks […] one hand was stretched out, seemingly to detain me, but I escaped and rushed downstairs. (FMP, S. 40)
Der Schöne und das Biest: Frankenstein nimmt die Position der weiblichen Unschuld ein, während das Monster zum Zeichen eines abzuwehrenden männlichen Begehrens wird, das Frankenstein wie ein verdrängter Gedanke im Verlauf des Romans immer wieder einholt – mit stets zerstörerischen Konsequenzen. Als einzige Lösung erscheint die Überführung in ein heterosexuelles Arrangement, das wie folgt aussieht: Frankenstein baut auf Wunsch des Monsters seinem Adam eine Gefährtin, beide ziehen sich dann aus der menschlichen Welt zurück, und Frankenstein heiratet seine eigene Adoptivschwester Elisabeth, die das Monster ansonsten zu töten droht. Ein ‘Frauentausch’, der ganz im Sinne Eve Kosofsky Sedgwicks zu einem homosozialen ‘male bonding’ führt und zugleich die heterosexuelle Geschlechterordnung stabilisiert. Doch eben diese Möglichkeit lehnt Frankenstein ab, und so stirbt Elisabeth noch in der Hochzeitsnacht. Hinter dieser Verweigerung und hinter dem ‘homosocial desire’ steht offenbar eine generelle Angst vor weiblichen Begehrlichkeiten. Nicht nur, dass Frankensteins Ehe nicht vollzogen wird – auch die vom Monster geforderte Produktion einer künstlichen Frau findet deshalb nicht statt. Frankenstein wird im Laufe seiner Vorbereitungen für die Erschaffung der neuen Eva nämlich bewusst, dass auch dieses Geschöpf ein Wesen mit eigenem Verstand, eigenem Willen und eigenem Begehren werden könnte, welches sich vielleicht nicht, wie vorgesehen, auf den monströsen Adam richten könnte – “They might even hate each other” – sondern auf einen Menschen: “She also might turn with disgust from him to the superior beauty of man […].” (S. 128) Diese Bedenken bilden den geheimen Subtext der ‘Bettszene’ mit Frankensteins erstem Geschöpf, das ja gewissermaßen an Stelle der sonst üblicherweise produzierten Frau agiert und vorführt, was Frankenstein mit der Erschaffung seines Adams abwehrt: die
71 heterosexuelle Matrix der pygmalionischen Schöpfungsgeschichte.77 Zugleich offenbaren die Befürchtungen Frankensteins das grundsätzliche geschlechtliche Arrangement pygmalionischer Belebungsphantasien: die Frau – die künstliche zumal – darf zwar das Objekt und soll der willige Spiegel erotischer Wünsche sein; als Subjekt eines eigenen Liebesverlangens aber wird sie bedrohlich. Seit Ovids Metamorphosen dient die Erschaffung einer künstliche Frau der männlichen Kontrolle über das weibliche Begehren. Ovids Pygmalion schnitzt sein “elfenbeinernes Weib wie Natur es / Nie zu erzeugen vermag” als “Jungfrau” und korrigierenden Gegenentwurf zu den sexuellen “Laster[n] des Weibergeschlechtes”.78 Sie sollte nur ihm allein gehören und sein eigenes Liebesverlangen spiegeln. Genau diese Kontrolle aber erweist sich zuweilen als problematisch. In Johann Jakob Bodmers “Pygmalion und Elise” von 1747 etwa äußert die weibliche Kunstfigur den Wunsch: “Ich wollte gerne mehr Pygmalionen haben”79, und Pygmalion muss fürchten, dass seine belebte Statue trotz aller Künstlichkeit dennoch “alle die natürlichen Neigungen des weiblichen Geschlechtes”80 entwickelt. Als Zeichen ungeregelter, unkontrollierbarer weiblicher Sexualität verkörpert das weibliche Monster in Shelleys Roman daher nicht nur in ästhetischer, sondern auch in libidinöser Hinsicht das ‘Andere’ der schönen animierten Puppen. Frankensteins Entschluss, keine neue Eva herzustellen, vermeidet zum einen, dass sich dessen Liebesverlangen – der pygmalionischen Erzählstruktur folgend – auf ihn als Schöpfer richtet. Der Roman dementiert so die Begehrensstruktur des Ovidschen Mythos. Zum anderen aber führt Frankensteins Entscheidung dazu, dass das Monster – wie angekündigt – Frankensteins Braut in der Hochzeitsnacht tötet. Indem das heterosexuelle Narrativ – und mit ihm das Modell der natürlichen Reproduktion – auf allen Ebenen scheitert, verweist der Roman auch auf die verborgene männliche Begehrensstruktur der im
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Ähnlich auch Anthony Stephens: Frankenstein und Pygmalion. In: Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. von Mathias Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg i. Br. 1997. S. 531–553. Hier S. 532. Allerdings sieht Stephens die “Macht des Erotischen” in Shelleys Roman gänzlich gebrochen – ein Schluss, dem ich ebensowenig folge wie der auf die Sichtung einer allzu eindimensionalen ödipalen Struktur hin ausgerichteten psychoanalytischen Interpretation. Vgl. zudem Anne K. Mellior: Possessing Nature. The Female in Frankenstein. In: Romanticism and Feminism. Hg. von Anne K. Mellor. Bloomington 1988. S. 220–232. 78 Publius Ovidius Nasus: Metamorphosen. Übers. und hg. von Hermann Breitenbach. Stuttgart 1990. S. 324. 79 Johann Jakob Bodmer: Pygmalion und Elise. In: Neue Erzählungen verschiedener Verfasser. Frankfurt/Leipzig 1747. Zit. nach: Klaus Völker (Hg.): Künstliche Menschen. Über Golems, Homunculi, Androiden und lebende Statuen. Frankfurt/M. 1994. S. 324–357. Hier S. 341. 80 Ebd. S. 345.
72 Text zitierten literarischen Schöpfungsmodelle, Kunstproduktionen und wissenschaftlichen Reproduktionsphantasien: Sie dient, wie auch der Abwehr des ‘Anderen’ und der Reproduktion des ‘Eigenen’ – sie funktioniert buchstäblich homo-logisch. In “Pygmalion und Elise”, der bereits genannten Erzählung von Bodmer, bittet Elise ihren Schöpfer darum, sie in das Geheimnis seiner Kunst einzuweihen, damit sie nun nach ihrem Bedarf männliche Statuen zum Leben erwecken kann. Pygmalion verweist sie auf ihren Platz: “So gebären die Frauen nicht. Die Natur wird es dich lehren […].”81 Ihr Begehren – das erotische ebenso wie das künstlerische – ist deutlich als heterolog markiert, als Abweichung von der durch Pygmalion gesetzten Norm, als Unnatur. Die Kunstfrau kennt diese Natur jedoch nicht, an der sie mit dem männlichen Blick stets gemessen wird, sie ist – um einen berühmten feministischen Ausspruch aufzugreifen – nicht als Frau geboren, sondern muss dazu gemacht werden: über den Verweis auf die Reproduktionsfunktion und die vermeintlich natürliche Biologie.82 Prometheus- und Pygmaliongeschichten kreisen um die Geschlechtergrenzen der Kunst und die künstlichen Grenzen des Geschlechts. Sie berichten dabei untergründig von der steten männlichen Angst, die Kontrolle über die Frau/die Natur/das Begehren zu verlieren und fundieren die metonymische Verschiebung von einem ins andere. Im 18. Jahrhundert bilden sie zudem die Antwort auf jene Diskurse über die Reproduktion, welche dem Mann weniger die Rolle des antiken Genius – als “embodiment of male procreation”83 – als vielmehr die eines ohnmächtigen Beteiligten zuweisen oder ihn gar, in manchen Theorien, gänzlich von der Prokreation ausschließen.84 Pygmaliongeschichten reagieren darauf mit der Verwandlung der Natur/des Weiblichen in ein männliches Kunstprodukt und dessen anschließende Re-Naturalisierung: “So gebären die Frauen nicht” – wohl aber die Männer. Jedenfalls die Genies unter ihnen. Und nicht selten kommen dabei Monster hinaus.
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Ebd. S. 341. Vgl. Simone de Beauvoir: Le Deuxième Sexe. Paris 1949. 83 Jürgen Klein: Genius, Ingenium, Imagination: Aesthetic Theories of Production from the Renaissance to Romanticism. In: Burwick: The Romantic Imagination. S. 21. 84 Etwa in den Fantasien über eine ‘unbefleckte Empfängnis’ durch in der Luft frei flottierende Samen. Zur Idee einer solchen Panspermie, bei der die Frau z.B. durch den Wind befruchtet wird, und zu den Vorstellungen über eine rein weibliche Prokreation s. Darmon: Le mythe de la procréation à l’âge baroque. S. 107–121. 82
Eva Kormann
Künstliche Menschen oder der moderne Prometheus. Der Schrecken der Autonomie Mary Shelley’s Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) and E.T.A. Hoffmann’s “Der Sandmann” (1816) are two of many other Gothic stories at the beginning of the nineteenth century, featuring artificial human beings. As the analysis of the stories shows, in both fictions the Romantic individualism turned out to be a questionable and dangerous self-conception. The solipsistic creators of androids are longing to be autonomous but they did not reach their aim. They fail, destroy their creatures, loose the people around them and often die, at least they stay alone at the end of the story. Auguste Villiers de L’Isle-Adam’s L’Ève future (1886) shows that at the end of the 19th century self-concepts of autonomy are still en vogue but still problematic.
Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus (1818) und E.T.A Hoffmanns “Der Sandmann” (1816) führen in die Welt des Horrors, des Schauerlichen und des Schauderns und in die Zeit nach 1800, ans Ende jener von Koselleck so genannten Sattelzeit oder Epochenschwelle.1 Mit einiger Verzögerung nimmt 1886 Villiers de L’Isle-Adams L’Ève future Stoff und Stil wieder auf, knüpft an die Romantik an und wird so zu einem frühen Dokument für die Krise des Individuums um 1900, für eine Krise, deren Vorschein im Frankenstein und im “Sandmann” schon hell aufleuchtet.2 Der künstliche Mensch ist zunächst in der griechischen und römischen Antike und in der jüdischen Überlieferung aufgetaucht: So erzählt Hesiod von Pandora, jenem täuschend schönen Übel, das die Götter als künstlichen Menschen geschaffen haben, um sich an Prometheus und den Menschen zu rächen.3 Hesiods 1
Reinhart Koselleck: Einleitung. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Hg. von Otto Brunner u. a. Bd. 1. Stuttgart 1972. S. XIII–XXVII. Hier S. XV. Ders.: Das Achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. Hg. von Reinhart Herzog und Reinhart Koselleck. München 1987. S. 269–282. 2 Vgl. zur Krise des Individuums um 1900 u. a. Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens. Berlin 1991. 3 Hesiod: Theogonie. Griechisch/Deutsch. Übers. und hg. von Otto Schönberger. Stuttgart 1999. S. 44–48: V. 558–616. Siehe auch die Anmerkungen S. 115. Hesiod: Werke und Tage. Griechisch/Deutsch. Übers. und hg. von Otto Schönberger. Stuttgart 1996. S. 8–10: V. 60–105. Siehe auch die Anmerkungen S. 69. Vgl. die Textsammlung Mythos Pandora. Texte von Hesiod bis Sloterdijk. Hg. von Almut-Barbara Renger und Immanuel Musäus. Leipzig 2002 mit der dort genannten Sekundärliteratur. Siehe auch Pandora. Frauen im klassischen Griechenland. Hg. von Ellen D. Reeder. Mainz 1997 und Manfred Geier: Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos – Literatur – Wissenschaft. Reinbek 1999. Vor allem S. 70–78.
74 Lehrgedichte lassen offen, ob Pandora die erste Frau überhaupt oder nur die erste künstliche Frau war.4 Aber in jedem Fall hat sie das Übel in die Welt gebracht. Ovids Metamorphosen enthalten einige künstliche Menschenschöpfungen, ja sie lassen das ganze Menschengeschlecht als am Ursprung künstlich geschaffen erscheinen. Prometheus ist in der römischen Mythologie der Menschenbildner, der seine Geschöpfe aus Lehm und Wasser formt,5 Deukalion, Sohn des Prometheus und der Pronoia, und Pyrrha, Tochter von Epimetheus und Pandora, bevölkern nach einer Art Sintflut die Erde wieder mit Menschen, indem sie Steine hinter ihre Fußspuren werfen.6 Und der Bildhauer Pygmalion verliebt sich in eine von ihm geschaffene Elfenbeinstatue.7 In der jüdischen Tradition kennt vor allem die Kabbala die Vorstellungen von einem Golem, einer ungestalten, unfertigen Lehmfigur, die durch Wortmagie zu einem künstlichen, menschenähnlichen Geschöpf belebt wird und durch ebensolche Wortmagie auch wieder abgetötet werden kann.8 4
Vgl. Hesiod: Werke und Tage. Anmerkungen S. 68. P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übers. und hg. von Michael von Albrecht. Stuttgart 1994. I 76–88. S. 10f. 6 Ebd. I 313–415. S. 28–34, vor allem S. 32f. 7 Ebd. X 243–297. S. 526–530. Mythos Pygmalion. Texte von Ovid bis John Updike. Hg. von Achim Aurnhammer und Dieter Martin. Leipzig 2003. Vgl. zur PygmalionRezeption u. a. Annegret Dinter: Der Pygmalion-Stoff in der europäischen Literatur. Rezeptionsgeschichte einer Ovid-Fabel. Heidelberg 1979. Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. von Mathias Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg 1997. Joseph Hillis Miller: Versions of Pygmalion. Cambridge (Ma) – London 1990. Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der ‘Darstellung’ im 18. Jahrhundert. München 1998. Irmela Marei Krüger-Fürhoff: “Sadly disfigured”. Schönheit, Verletzung und pygmalionische Gewalt in Henry James’ The last of the Valerii, Thomas Hardys Barbara of the House of Grebe und Neil LaButes The Shape of Things. In: Von schönen und anderen Geschlechtern. Schönheit in den Gender Studies. Hg. von genus. Münsteraner Arbeitskreis für Gender Studies. FrankfurtM. 2004. S. 119–135. Monika SchmitzEmans: Der neue Pygmalion und das Konzept negativer Bildhauerei. Zu Varianten des Pygmalionstoffes in der modernen Literatur. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993). H. 2. S. 161–187. Eva Kormann: Pygmalions Kopfgeburten. Traumfrauen und Geschlechterverhältnisse. In: Gelegentlich: Brecht. Jubiläumsschrift für Jan Knopf. Hg. von Birte Giesler u. a. Heidelberg 2004. S. 129–138. 8 Eveline Goodman-Thau: Golem, Adam oder Antichrist. Kabbalistische Hintergründe der Golemlegende in der jüdischen und deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Hg. von Eveline Goodman-Thau u. a. Tübingen 1999. S. 81–134. Gershom Scholem: Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Frankfurt/M. 1973. S. 209–259. Sigrid Mayer: Golem. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich u. a. Bd. 5. Berlin – New York 1987. Sp. 1387–1394. Vgl. dazu auch in diesem Band Cathy S. Gelbin: Das Monster kehrt zurück: Golemfiguren bei Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration. 5
75 Aber der Höhepunkt der literarischen Auseinandersetzungen mit von Menschen geschaffenen Menschen ist die Zeit um 1800. Schon im Verlauf des 18. Jahrhunderts, wenn Ideen vom Maschinenmenschen, vom ‘homme machine’, die naturphilosophische Debatte provozieren,9 erlebt der Pygmalion-Stoff eine äußerst breite Rezeption.10 Und in dieser Rezeption radikalisiert sich allmählich die Ovid’sche Stoffvorlage: Bei Ovid war die Statue noch aus Elfenbein, einem organischen Material, das sich durch Berühren zwar nicht belebt, aber immerhin schnell erwärmt. Gerührt hat sich bei Ovid die Materie auch nicht unter dem liebenden Blick des Künstlers, sondern unter dem gnädigen der Göttin Venus. Später ist es kalter, harter Marmor, den jetzt kein Gott und keine Göttin mehr in Bewegung bringen muss. Es ist allein der begehrende Blick, der die Statuen belebt, eine Imagination, die die begehrte harte, kalte Gestalt zu weicher warmer Beweglichkeit bringt – ganz gleich, ob ein Künstler mit dem Objekt seines Kunstschaffens und seiner Liebessehnsucht belohnt wird oder – wie etwa in Eichendorffs Marmorbild (1819) – ein junger Mensch sich von seiner lebhaften erotischen Phantasie verführen lässt.11 Um 1800 bevölkern dann Androiden der verschiedensten Art – und mit ganz verschiedenen Funktionen – die Literatur: Zum einen sind da Holzfiguren, etwa Jean Pauls schrulliger Holzschnitzer, der die “Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer neuen angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst erfunden und geheirathet” scheinbar harmlos erzählt. Dieser nur vermeintlich einfältige Erzähler ist ein solcher Schöpfer einer hölzernen Ehefrau, und Jean Pauls Ich-Erzählung aus dem Jugendwerk Auswahl aus des Teufels Papieren (1789) ist nur zum Schein gut gemeint, sie ist vielmehr eine hochironische Satire auf allerhand Merkwürdigkeiten seiner Zeit. Diese Holzfiguren oder auch Wachspuppen12 stehen zum großen Teil als Metaphern für dystopische
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Julien Offray de LaMettrie: L’homme machine. Leiden 1748. Vgl. zu LaMettrie vor allem Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de LaMettrie. München u.a. 1998. Zu Automaten als Modellvorstellungen von Organismen vgl. Alex Sutter: Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant. Frankfurt/M. 1988. 10 Vgl. Annegret Dinter: Der Pygmalionstoff. S. 65–115. Heinrich Dörrie: Pygmalion. Ein Impuls Ovids und seine Wirkungen bis in die Gegenwart. Opladen 1974. S. 45–58. Hans Sckommodaus: Pygmalion bei Franzosen und Deutschen im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1970. 11 Vgl. u. a. Künstliche Menschen. Über Golems, Homunculi, Androiden und lebende Statuen. Hg. von Klaus Völker. Frankfurt/M. 1971. S. 322–423. Volker Klotz: Venus Maria. Auflebende Frauenstatuen in der Novellistik. Bielefeld 2000. S. 47–69. 12 Vgl. in diesem Band Marianne Vogel: “Einfach Puppe!” Die Wachspuppe in der Wirklichkeit und in der Imagination in Romantik und Moderne. Siehe auch Peter Gendolla: Anatomien der Puppe. Zur Geschichte des MaschinenMenschen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann, Villiers de l’Isle-Adam und Hans Bellmer. Heidelberg 1992.
76 Bilder vom Menschen: Der “Metaphernkomplex Marionettentheater”13 versinnbildlicht den stillgestellten, erstarrten, unfreien, am Gängelband der gesellschaftlichen Normen geführten Menschen, der nicht viel mehr ist als eine Holzfigur an unsichtbaren Drähten. Prominent sind auch die Automaten – vor allem, aber nicht nur, bei E.T.A. Hoffmann.14 Andere künstliche Menschen in der Literatur des 19. Jahrhunderts sind Goethes Homunkulus aus Faust II15 und Marie Shelleys von Frankenstein geschaffenes Monster. Viel eher verwechselbar mit wirklichen Menschen als Goethes quirliger, winziger, ehrgeiziger Reagenzglas-Sprössling und Shelleys ungeschlachte, aber sensible Assemblage aus Leichenteilen, viel menschenähnlicher ist die Kunstfigur “Eva der Zukunft”, “L’ève future”, für die ein fiktiver Erfinder Edison ein geniales tissue engineering16 betrieben hat. Der 1886 erschienene verspätete Schauer- und frühe Science-Fiction-Roman Villiers de L’Isle-Adams ist ein für die Analyse von Geschlechtervorstellungen äußerst aufschlussreiches Werk im Rahmen der Literatur, die sich mit artifiziellen Körpern befasst. Im 19. Jahrhundert sind es also vor allem die Nachtstücke, die Schauerromane, die gruseligen Novellen, in denen sich Statuen beleben, Automaten bewegen und tote Materie zum Leben erweckt wird. Diese Häufung künstlicher Lebewesen im schauerlichen Genre und nach 1800, in der Hoch-Zeit des – bürgerlichen, männlichen, europäischen – autonomen und schöpferischen Subjekts, ist, so meine These, kein Zufall: Die fiktiven Schöpfer künstlichen Lebens wie Frankenstein bei Mary Shelley oder Edison bei Villiers de L’Isle-Adam, bei E.T.A. Hoffmann etwa Spalanzani und Coppelius – aber auch Nathanaels Vater und Nathanael selbst –, diese fiktiven Schöpfer künstlichen Lebens treiben die Vorstellung von der Autonomie des Subjekts auf die Spitze. Oder: sie werden von dieser Vorstellung auf die Spitze getrieben, sie ziehen die letzte Konsequenz aus den titanischen, prometheischen Konstruktionen von einem autonomen Subjekt, von einem Menschen, der ausschließlich selbst über sich bestimmt, der sich nur Gesetzen unterwirft, die er sich selbst gibt. Im Schauerlichen zeigt im 19. Jahrhundert die Literatur über künstliche Wesen die Aporien der Autonomie, die Nöte, die Schrecken
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Rudolf Drux: Marionette Mensch. Ein Metaphernkomplex und sein Kontext von E.T.A. Hoffmann bis Georg Büchner. München 1986. 14 Vgl. u. a. Klaus Völker (Hg.): Künstliche Menschen. S. 172–309. 15 Vgl. u. a. Klaus Völker: “Homunkulus”. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 6. Berlin – New York 1990. Sp. 1224–1229. 16 Tissue engineering nennt sich derzeit ein Zweig der Mikrobiologie, der organisches Gewebe für Transplantationen, etwa Hauttransplantationen, herstellt. Vgl. Eugene Thacker: Biotechnologie. Neudefinition des Natürlichen. Zur Kompexität des Tissue Engineering. In: Arch⫹ 159/160 Mai 2002. S. 144–147.
77 dieser Subjektkonzeption, einer solch freischwebenden Vorstellung vom Menschsein.17 Mary Shelley nennt ihren Frankenstein “the modern Prometheus”. Prometheus, der Titan und Menschenschöpfer, das ist eine Metapher für das Konzept des autonomen Subjekts, das sich als Schöpfer seiner selbst begreift. Einen solchen Titanen feiert auch Goethes Hymne Prometheus mit ihren zwei bezeichnenden Schluss-Strophen: Wähntest etwa, Ich sollt das Leben hassen In Wüsten fliehn, Weil nicht alle Knabenmorgen Blütenträume reiften? Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde Ein Geschlecht das mir gleich sei Zu leiden, weinen Genießen und zu freuen sich Und dein nicht zu achten Wie ich!18
Dieser rebellische Titan setzt ans Ende einer Ansprache an die Götter und deren Herrscher Zeus ein aufrührerisches, vorwitziges, stolzes “ich”: “wie ich”. Dieses Ich formt göttergleich Menschenfiguren nach dem eigenen Bild. Seine Schöpferkraft beweist sich also, indem er kleine ‘Klone’ des eigenen, gegen seinen Schöpfer sich auflehnenden Ich schafft. Dieses vorwitzige, emphatische Ich19 sitzt “hier”, es flieht nicht in Wüsten, wie Zeus vermutet haben mag.20 Bei allem Aufruhr, bei aller Rebellion ruht dieses Ich doch letztlich in sich und bleibt am Platz. Bei allen Widerhaken, die es einbaut und die man nicht überlesen 17 Seit einiger Zeit wird in zahlreichen Veröffentlichungen die Vorstellung vom autonomen Subjekt als Gipfelpunkt der Entwicklung menschlicher Selbstkonzeptionen in Frage gestellt. Vgl. dazu unter vielen anderen Paul John Eakin: Relational Selves, Relational Lives. The Story of the Story. In: True Relations. Hg. von G. Thomas Couser und Joseph Fichtelberg. London 1998. S. 63–81. Geschlecht und Person als Kategorien der Selbstzeugnisforschung. Hg. von Claudia Ulbrich und Gabriele Jancke. Göttingen 2005 (⫽Querelle. Jahrbuch für Frauenforschung Bd. 10). 18 Johann Wolfgang Goethe: Prometheus. In: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hg. von Dieter Borchmeyer u. a. Bd. 1. Abt. 1: Sämtliche Werke. Hg. von Karl Eibl. Gedichte 1756–1799. 1. Aufl. 1987. S. 203f. 19 Zum Begriff siehe Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte – am Leitfaden des Leibes. Stuttgart 1987. U. a. S. 240. 20 Vgl. zur Deutung der Ode vor allem Inge Wild: Prometheus. In: Gedichte von Johann Wolfgang Goethe. Hg. von Bernd Witte. Stuttgart 1998. S. 43–61. Zur sitzenden Haltung des Prometheus siehe ebd. S. 53.
78 darf,21 ist Goethes frühes Gedicht die Selbstfeier eines Schöpfers, der unabhängig sein will und mit seinen Geschöpfen spielt, als seien sie Playmobil-Figuren. In Mary Shelleys Frankenstein ist Frankenstein, der Schöpfer des Monsters, der “moderne Prometheus”. In der englischen Philosophie und Dichtungslehre in der Scaliger- und Shaftesbury-Folge ist Prometheus der geniale Künstler und Schöpfer, der alterus deus bei Scaliger, “a second Maker: a just Prometheus” bei Shaftesbury im Soliloquy (1710).22 Auf Shaftesburys Soliloquy I,3 mit dem Dichter-Prometheus-Vergleich spielt Mary Shelley meines Erachtens auch dezidiert an, wenn sie im berühmten fünften Kapitel das Monster in einer düsteren Novembernacht die ausdruckslosen, gelblichen Augen aufschlagen lässt. Denn wenn Shaftesbury den genialen Dichter, den Prometheus und zweiten Schöpfer preist, dann lobt er ihn für eine gelungene Schöpfung, um eine, die Maß hält, die stimmig und ausgewogen alle Bestandteile des Geschaffenen zusammenfügt. Solche Ausgewogenheit ist bei Shaftesbury das Zeichen einer gelungenen Schöpfung. Maß gehalten, auf stimmige Proportionen geachtet hat Shelleys Frankenstein sehr wohl (“His limbs were in proportion, and I had selected his features as beautiful.”),23 auch wenn sich dann sein Werk insgesamt als so schaurig und schäbig und äußerlich grobschlächtig erweist. Im Kreis um Mary Shelley, bei ihrem Ehemann Percy Bysshe Shelley und bei Lord Byron finden sich Prometheus-Dichtungen, die durchaus die Schöpferfigur noch in pathetischer Weise feiern – als Vorkämpfer der Menschheit, als einen, der sich im Namen seiner Geschöpfe und Schützlinge auflehnt gegen einen ungnädigen Schöpfergott.24 21
Vgl. zum Mittelteil des Gedichts mit seiner aus dem Pietismus schöpfenden “Sentimentalisierung der Gottesvorstellung” Wild: Prometheus. S. 51. 22 Anthony Ashley Cooper Shaftesbury: Standard Edition – Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit paralleler deutscher Übersetzung. Hg., übers. und komm. v. Gerd Hemmerich und Wolfram Benda. Stuttgart 1981. Darin Soliloquy: Or, Advice to an Author. S. 34–300. Hier S. 110. Vgl. u. a. Christian Kreutz: Das Prometheussymbol in der Dichtung der englischen Romantik. Göttingen 1963. Zum Prometheus-Mythos im Werk E.T.A. Hoffmanns vgl. Rudolf Drux: “E.T.A. Hoffmanns Version der ‘Fabel von dem Prometheus’ ”. In: E.T.A. Hoffmann Jahrbuch. Band 1 (1992/93) S. 80–90. Zur Rezeptionsgeschichte des PrometheusMythos siehe Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 5. Aufl. Frankfurt/M. 1990. S. 327ff. 23 Zitierte Ausgabe: Mary Shelley: Frankenstein or, The Modern Prometheus. London 1994. S. 69. Im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle FMP. 24 Hans-Georg Gadamer: Prometheus und die Tragödie der Kultur. In: Ders.: Kleine Schriften II. Interpretationen. 2. verbesserte Aufl. Tübingen 1979. S. 64–74. Hier S. 73. (Zunächst 1954). Vgl. zu den symbolischen Funktionen der Prometheusfigur u. a. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. 2. durchges. Aufl. Darmstadt 1988. Bd. 1. S. 254–269. Zur Intertextualität von Shelleys Frankenstein vgl. u. a. die ergänzungsbedürftige Darstellung durch Radu Florescu: In Search of Frankenstein. With contributions by Alan Barbour and Matei Cazacu. London 1977. S. 173–187.
79 Wie verhält sich dagegen Mary Shelleys moderner Prometheus? Vielleicht ist es kein Zufall, dass dieser Shelley’sche Frankenstein in Genf geboren sein soll: Genf ist die Stadt Jean-Jacques Rousseaus, und Rousseau kann mit seinen Confessions (posthum erschienen 1782 beziehungsweise 1789) geradezu als Erfinder eines emphatischen, eines sich selbst und seine Unabhängigkeit und Einsamkeit feiernden Ich gelten. So inszeniert sich Rousseau gleich in den ersten Sätzen seiner Autobiographie als einzigartig und als einer, der ein einzigartiges, singuläres Werk beginnt.25 Mary Shelleys Genfer Bürger Frankenstein strebt ebenfalls nach Einzigartigkeit. Er will sich ein Denkmal setzen in der naturwissenschaftlichen Welt, und er will es nicht mit harmlosen Laborspielen. Sein Ehrgeiz zielt auf das ‘Elixier des Lebens’, er will der Schöpfung das tiefste Geheimnis entreißen: “I will pioneer a new way, explore unknown powers, and unfold to the world the deepest mysteries of creation.” (FMP, S. 57) Dieser Drang Frankensteins und auch der Waltons, des Polarforschers in dieser möglicherweise ersten Science-Fiction-Erzählung der Literaturgeschichte, in neue, noch unerforschte Gebiete der Natur und Naturwissenschaft lässt in Mary Shelleys Wortwahl Wissenschaft als männliches Eindringen in eine weiblich imaginierte Natur erscheinen.26 Als Frankenstein das Geheimnis der Schöpfung gefunden hat, fühlt er eine ungeheure Selbsterhebung: “What had been the study and desire of the wisest men since the creation of the world was now within my grasp” (FMP, S. 63). Was tut er mit diesem Geheimnis, das sich ihm enthüllt hat, das er in Händen hält? Er, der noch in der Erzählung seines Elends von der eigenen Erhabenheit und dem eigenen Edelmut vollkommen überwältigt ist? Mit seinen Forschungen hat er sich den Dank der ganzen Menschheit erwerben wollen. Er war ein Mensch, das immerhin hat er am Ende erkannt, “who aspires to become greater than his nature will allow” (FMP, S. 64). Die Ansprüche, die Frankenstein erhebt, sind Umschreibungen von Hybris. Wohin treibt die Selbstüberhebung diesen modernen Prometheus? Er flieht die Gesellschaft der Lebenden und experimentiert auf den Friedhöfen, und er endet, gehetzt von seinem Geschöpf, in abgelegener Einsamkeit. Denn Mary Shelleys Prometheus flieht in Wüsten: in Eiswüsten. Der Roman findet ein eindrückliches Bild für die Einsamkeit des sich autonom gerierenden Subjekts: Frankenstein stirbt im ewigen Eis der Arktis. Seine prometheische Selbstkonzeption führt ihn also nicht zur runden, in sich ruhenden, von Zwängen und unliebsamen Umwelteingriffen unabhängigen Autonomie. Sein Versuch, ein moderner Prometheus zu sein, scheitert kläglich. Er ist für ihn, für die Menschen, die ihn lieben, und für sein Geschöpf tödlich. 25
Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions. In: Ders.: Œuvres complètes. Bd. I. Hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris 1959. S. 1–656. Hier S. 5. 26 Mit zahlreichen Beispielen Jane Donawerth: Frankenstein’s Daughters. Women Writing Science Fiction. Syracuse – New York 1997. S. XIXf.
80 Mit der Suche nach dem Geheimnis der Schöpfung und dem Bau des monströsen künstlichen Menschen treibt Frankenstein das Selbstverständnis des autonomen Subjekts auf die Spitze und führt die Vorstellung von Autonomie ad absurdum. Schließlich genügt es ihm nicht, sich als Schöpfer seiner selbst betrachten zu können, sondern er will seine Schöpfereigenschaften im Erschaffen eines künstlichen Gegenübers vor Augen haben und damit die Krönung eines autonomen Schöpfergenies erreichen. Doch damit wird er zu einem Menschen, dem Autonomie letztlich gänzlich abhanden kommt. Denn seit er das Monster geschaffen hat, hetzt ihn dieses Monster: Zunächst ist Frankenstein auf der Flucht vor seinem schauerlich hässlichen Geschöpf, und dann ist er auf der Jagd nach ihm: nach dem Monster, das aus Einsamkeit mörderisch geworden ist. Und bekanntlich kommt Frankenstein immer zu spät und kann keinen der Morde verhindern. Am Ende hetzen sich Frankenstein und sein Monster in der Arktis zu Tode. Er, der Herr über das Leben sein wollte, ist hilflos der Macht des Todes ausgeliefert. Erstaunlicherweise verschwendet Victor Frankenstein keinen Gedanken daran, seine lebensspendenden Fähigkeiten zur Erweckung der zahlreichen Toten anzuwenden. Ja, er unternimmt nicht einmal Rettungsversuche, die seine besonderen Kenntnisse gar nicht erfordern würden, so versucht er nicht, die des Mordes verdächtige Hausangestellte Justine vor der Todesstrafe zu retten, obwohl er, anders als die anderen, den genauen Täter kennt. Auch dies zeigt, dass er, der autonome Ungebundenheit erstrebt, keinen besonderen Wert darauf legt, von seiner Familie und seinen Freunden umgeben zu sein. Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Erzählung “Der Sandmann” kennt nicht nur einen, sondern mehrere Menschenschöpfer: Künstliche Menschen wollen Spalanzani und Coppola/Coppelius27 und Nathanaels Vater und Nathanael selbst erschaffen. Die Erzählung “Der Sandmann” aus der Sammlung Nachtstücke ist eigentlich kurz, lang aber ist die Geschichte ihrer literatur- und kulturwissenschaftlichen Deutungen.28 Die Lesart hier geht von zwei bedeutungsvollen Merkmalen der Geschichte aus. Auffällig ist zunächst das Zentralmotiv der Erzählung: das Auge. Auf das Auge weist auch schon der Name der Sammlung, in der die Erzählung zunächst publiziert wurde, hin: Diese Sammlung trägt den Titel Nachtstücke, und das Nachtstück ist ein Genre der Malerei, also einer Kunst, die das Auge fordert.29 Auf das Auge verweist auch der Titel der Erzählung “Der 27
Hoffmanns Text lässt offen, ob Coppola und Coppelius ein und dieselbe oder zwei verschiedene Personen sind. 28 Vgl. als knappe Zusammenfassungen Detlef Kremer: E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin 1999. S. 7073 und Rudolf Drux: Der Sandmann. Erläuterungen und Dokumente S. 78–121. 29 Vgl. u. a. Kremer: E.T.A. Hoffmann. S. 66f.
81 Sandmann”. Titelfigur ist damit nicht die Hauptfigur der Geschichte, der genarrte schwärmerische Student Nathanael, Titelfigur ist auch nicht Olimpia, die künstliche Frau. Sondern Titelfigur ist der Sandmann, jener Sand-in-die-AugenStreuer, eine Schauermärchengestalt, eine Figur aus einem grauenerregenden Ammenmärchen, ein grausamer Augenräuber, nicht jenes “liebe Kinder gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht”-Sandmännchen. Darüber hinaus spielen die Namen Coppola, Coppelius und Spalanzani auf die italienischen Wörter ‘coppo’ (Augenhöhle) und ‘spalancare’ (die Augen aufreißen) an. Das Motiv des Auges wird in der Geschichte variiert durch auf das Auge bezogene technische Gerätschaften, durch optische Instrumente: Es gibt diverse Augengläser, Brillen, Perspektive und immer wieder Spiegelflächen.30 Der Blick des Auges wird perspektivisch gebrochen – durch optische Geräte und durch Trübungen der verschiedensten Art. Denn es wird gequalmt und Dampf erzeugt, und es fließen einige Tränen. Das Auge wird zudem selbst zur spiegelnden Fläche, vor allem die Augen der beiden Frauen, die Nathanael liebt, die Augen der natürlichen Clara und der künstlichen Olimpia werden mit Spiegeln verglichen. Das Auge, die optischen Geräte und die Brechungen des Blicks meinen – metonymisch, in verschobenen Bildern – das menschliche Wahrnehmen und sein Gefährdetsein.31 Die Gefährdung der menschlichen Wahrnehmung führt im “Sandmann” zu äußerstem Schwarz-Weiß-Denken, zu Wirklichkeitsverlust und Selbstzerstörung.32 Insofern können die Augen eines Menschen auch metaphorisch für seine Seele stehen.33 Das zweite Auffällige – und darin spiegelt sich die Variation des Augenmotivs – ist, dass die ganze Geschichte perspektivisch gebrochen erzählt wird:34 in zwei Briefen Nathanaels und einem seiner Braut Clara und in der Darstellung einer keineswegs allwissenden und objektiven Ich-Erzählstimme. 30
Vgl. dazu vor allem Ulrich Stadler: Von Brillen, Lorgnetten, Fernrohren und Kuffischen Sonnenmikroskopen. Zum Gebrauch optischer Instrumente in Hoffmanns Erzählungen. In: E.T.A. Hoffmann-Jahrbuch 1 (1992/93) S. 91–105. 31 Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. Darmstadt 2004. S. 123, spricht ungenau von “Metaphern des Sehens und der Optik”. 32 Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2. S. 19–33. Zum Denken in Extremen ebd. S. 31: Damit wird auch eine dritte durchgehende Auffälligkeit der Erzählung, ihre Antithetik, auf die Aporien der Autonomie beziehbar. Im Titel der Sammlung, in Nachtstücke, wird diese Antithetik schon markiert: Malerische Nachtstücke sind schließlich keine monochrom-schwarzen Bilder, sondern Gemälde mit extremem Hell-Dunkel-Konstrast. 33 Drux: E.T.A. Hoffmann. Der Sandmann. S. 15. 34 Vgl. u. a. Irene Schroeder: Die Rede vom Farbenglanz des inneren Bildes. Darstellungen abweichender Wahrnehmung und ver-rückten Erlebens anhand von E.T.A. Hoffmanns Erzählung “Der Sandmann”. In: Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Hg. von Peter Wiesinger. Bd. 10. Hg. von Margaret Littler u. a. Bern 2003. S. 251–260. Hier S. 255–257.
82 Wir erfahren somit das Geschehen aus den verschiedensten Perspektiven und können uns daraus kein kongruentes Bild schaffen.35 Hoffmanns “Der Sandmann” ist von radikaler Mehrdeutigkeit. Wer in diesem Text nach der Stimme des Autors, und sei es des impliziten, sucht, wird zusätzlich genarrt durch den Namen “Nathanael”, der im Hebräischen nichts anderes bedeutet als Theodor, der zweite Vorname E.T.A. Hoffmanns, nämlich Gottesgeschenk. Das heißt, der Text sorgt für Irritationen auf der Suche nach seinem Autor, gibt sich opak. Gleich zu Beginn kühlt der sich leidenschaftlich erhitzt gebende Erzähler die Erwartungen des ‘geneigten’ Lesers an die Kunst des Autors merklich ab, wenn er meint: Vielleicht wirst du, o mein Leser! dann glauben, daß nichts wunderlicher und toller sei, als das wirkliche Leben und daß dieses der Dichter doch nur, wie in eines matt geschliffnen Spiegels dunklem Widerschein, auffassen könne.36
Die Macht des Autors reicht folglich nicht weiter als zum Entwurf eines verzerrten, dunklen Spiegelbildes. Was die Brechungen des Optischen und die erzählperspektivische Brechung mit dem Schrecken der Autonomie zu tun haben, wird sich gleich erweisen. Doch zunächst zu den Menschenschöpfern in dieser Geschichte. Nathanaels Vater – mit seinem verlängerten Arm, dem Advokaten und Kinderschreck Coppelius – ist wohl schon ein solcher Schöpfer als Alchimist in einem Laboratorium, wo er möglicherweise schon dem Geheimnis des Lebens auf der Spur ist. Auf das Wort ‘möglicherweise’ kann nicht verzichtet werden, da es für diese Laboratoriumsszene nur einen unsicheren Zeugen gibt, nämlich den ebendort, in diesem alchimistischen Labor durch Coppelius’ AugenraubDrohungen traumatisierten Nathanael, der seinen Sinneseindrücken an jenem Abend selbst nicht trauen kann. Schließlich schreibt er im ersten Brief an Lothar: “Mir war es als würden Menschengesichter ringsumher sichtbar” (DS, S. 17). Der Vater jedenfalls ist einerseits dargestellt als ein Mensch mit Familienbezügen, als einer, der im Kreis der Familie lebt. Aber dieser Mensch 35
U. a. Wolfgang Preisendanz: Eines matt geschliffnen Spiegels dunkler Widerschein. E.T.A. Hoffmanns Erzählkunst. In: E.T.A. Hoffmann. Hg. von Helmut Prang. Darmstadt 1976. S. 270–291. Vor allem S. 283. Schmitz-Emans: Einführung. S. 117f. Wenn Schmitz-Emans, ebd. S. 120, die Erzählstimme als unzuverlässigen Erzähler charakterisiert, dehnt sie m. E. diesen Begriff aber zu sehr: Hoffmanns namenloser Erzähler ist zwar nicht allwissend, aber keineswegs unzuverlässig und unlauter, das heißt: Seine Darstellung wird nicht durch verschiedene Signale des Textes als unglaubwürdig charakterisiert, sehr wohl aber als perspektivisch begrenzt, als unvollständig informiert. 36 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 3. Hg. von Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen. Frankfurt/M. S. 11–49. Hier S. 27. Im Folgenden im Text nachgewiesen mit der Sigle DS und der Seitenzahl.
83 zieht sich gelegentlich aus diesen bindenden Bezügen abrupt zurück, weist brutal die Ansprüche, die seine Kinder an ihn stellen, ab und forscht in einem geschlossenen, der Familie nicht zugänglichen, ja verbotenen Raum. Die gebundene Vaterfigur experimentiert also, könnte man sagen, mit der Rolle des autonomen, das heißt des aus tradierten, auch familiären Bindungen befreiten Subjekts.37 Zumindest aus der Perspektive des jungen Nathanael versuchen sich der Vater und Coppelius, seine dämonische Doppelung, an der Schaffung artifizieller Körper und Gesichter. Ihrer Kunst fehlen nur die Augen. Aber der Vater, dieses versuchsweise autonome Subjekt, beeindruckt seine Umgebung vor allem durch sein Gehetztsein. Seine alchimistischen Versuche, die Natur zu überlisten, göttergleich zu schaffen, verlaufen für ihn wie für Frankenstein letal. Auch Nathanael versucht sich als Schöpfer: Er versteht sich als Künstler, als Dichter und gehört zu den so vielen Hoffmann’schen traumatisierten Künstlerfiguren. Auch er ist Menschenschöpfer. Einerseits als Dichter, denn alle Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die nicht nur Silben ohne Sinn aneinander reihen oder allenfalls von Tieren bevölkerte Landschaften präsentieren, erschaffen, wenn sie Menschen auftreten lassen, diese Menschen, und wir als Leser und Leserinnen erwecken sie mit unserer Phantasie zum Leben. Schon in dieser Hinsicht ist der etwas ungelenke Autor Nathanael Menschenschöpfer. Wenn er später ein Perspektiv zu Gesicht bekommt und mit diesem Perspektiv die Puppe Olimpia, wird er zu deren eigentlichem ‘Animateur’. Denn belebt ist Olimpia durch die Augen, durch Nathanaels Augen, verlängert durch das Perspektiv. Wenn der kunstvolle Automat später von seinen beiden Schöpfern Coppola/Coppelius und Spalanzani im Streit auseinander gerissen wird, wirft Spalanzani dem hinzustürzenden Nathanael die Augen der Puppe entgegen und spricht zu ihm die auf den ersten Blick rätselhaften Worte: “die Augen Dir geraubt”. Diese Worte machen durchaus Sinn: Schließlich gelten die Augen in dieser Geschichte als das belebende Moment toter Automaten. Die belebenden Augen konnte nur Nathanael der Puppe Olimpia zur Verfügung stellen, denn erst Nathanaels begehrender Blick – samt seiner narzisstischen Phantasie – hat sie belebt. So ist auch er zu einem ihrer Schöpfer geworden. Kittler, Drux und andere weisen darauf hin, wie sehr die Schilderungen aus Nathanaels Kindheit eine bürgerliche Erziehung zur Selbstkontrolle und zum Lustaufschub aufscheinen lassen.38 Auch damit wird das autonome Subjekt als Schein, als täuschendes Artefakt entlarvt. Es ist nichts
37
Vgl. dazu Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2. S. 24. Friedrich A. Kittler: ‘Das Phantom unseres Ichs’ und die Literaturpsychologie. E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan. In: Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Hg. von Friedrich A. Kittler und Horst Turk. 1. Aufl. Frankfurt/M. 1977. S. 139–166. Hier S. 159ff. Drux: Marionette Mensch. S. 97ff. 38
84 weiter als ein Geschöpf der bürgerlichen Erziehung, eine Marionette an den unsichtbaren Drähten internalisierter gesellschaftlicher Regeln.39 Wer autonomer Schöpfer eines androiden Automaten sein will, beansprucht die höchste Form von Macht über dieses Objekt. Das Objekt ist nicht nur Gegenstand der Aktivität des Subjekts, es ist gar von ihm geschaffener Gegenstand, es schuldet sein ganzes Dasein diesem Schöpfer. Gegenüber magisch belebten Marmorstatuen und Lehmfiguren kann das Verhalten eines von einem Uhrwerk getriebenen Automaten zudem als weitaus berechenbarer gelten. Eine Maschinen-Frau als Liebesobjekt scheint so der größtmöglichen Kontrolle durch ihren männlichen Schöpfer zu unterliegen, schließlich unterliegt ihr Funktionieren einem “maschinalen Zwangszusammenhang”.40 Olimpia ist im “Sandmann” zunächst ein von Nathanaels Phantasie abhängiges Geschöpf, er kann ihren kargen Wortschatz und ihren leeren, den Betrachter spiegelnden Blick nach seinen narzisstischen Wünschen auslegen. Sie wird zu seiner Wunschmaschine.41 In ihrem Verhalten berechenbar wie ein Uhrwerk, spiegelt sie doch all das wieder, was Nathanaels künstlerische und sexuelle Phantasie begehrt. Nathanael ist somit scheinbar in einer äußerst glücklichen Lage: Ihn umgeben Clara als die mütterliche, häusliche und durch Erziehung und rationale Vernunft domestizierte Frau auf der einen Seite und Olimpia als die “un-heimliche”,42 die verführerische, die von fern, mit Hilfe des Fern-Glases begehrte Frau auf der anderen Seite. Wenn die verführerische, aber erschreckende Frau jedoch ein lebloser Automat ist, sollte auch diese nicht domestizierte Frau der männlichen Herrschaft unterliegen. Doch E.T.A. Hoffmanns plot lässt Nathanaels Männerphantasie scheitern: Olimpias Mechanik taugt nicht zur wilden Undomestizierten, und Nathanael verliert jede Kontrolle über seine Beziehungen und sein Leben – bis hin zur vollkommenen Machtlosigkeit, bis zu seinem Todessturz vom Turm. Denn dieser Sturz ist kein Freitod im buchstäblichen Sinn, kein Zeichen von allerletzter Autonomie, sondern Nathanael handelt genarrt von verzerrter Wahrnehmung, durch den ‘Augenraub’ für die Belebung Olimpias blind geworden für die Gegebenheiten seiner Umwelt und getrieben von seinen traumatischen Erinnerungen. 39
Zu E.T.A. Hoffmanns “Der Sandmann” als Dichtung der “Krise der Subjektivität” vgl. vor allem Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2. S. 19–33. Schmidts Analyse des “Sandmann” überzeugt in ihrer Konsequenz, dass die Erzählung die Krise einer sich autonom gerierenden, schöpferischen Subjektivität anschaulich mache. Problematisch an Schmidts Analyse ist aber, dass er die Namen von Coppelius und Coppola und die Figur der Olimpia ausschließlich als Assoziationen, Visionen und Auditionen Nathanaels liest und die Mehrdeutigkeit des “Sandmann” damit unzulässig reduziert. 40 Vgl. zum Begriff Sutter: Göttliche Maschinen. S. 15. 41 Vgl. zum Begriff u. a. Klaus Theweleit: Männerphantasien. 1 ⫹ 2. Unveränderte Taschenbuchausgabe, erweitert durch ein Nachwort. München – Zürich 2000. S. 370. 42 Kremer: E.T.A. Hoffmann. S. 81.
85 Das bei aller Rebellion letztlich doch gelassene Sitzen des Goethe’schen Menschenschöpfers Prometheus kann Nathanael nicht übernehmen. Das geruhsame, sesshafte Leben auf dem Landsitz, der schon zur Verfügung steht, bleibt ihm verwehrt. Nachdem er zur Todesgefahr für Clara wird, stürzt er sich, gehetzt von Coppelius, Coppola oder seinen Einbildungen, vom Turm zu Tode. Dieser radikal aus sich selbst schöpfende Blick des Künstlers ist immer wieder als das Künstlerideal der Romantik gefeiert worden. Mit ihrem – immer auch ironisch verspielten – Kult des ‘serapiontischen Prinzips’ betreiben auch einige von Hoffmanns Erzählungen eine Selbstfeier des solipsistischen Dichters.43 Auch die poetologischen Reflexionen des Erzählers im “Sandmann” erinnern an die entsprechenden Maximen der Serapions-Brüder. In der Figur des Nathanael im “Sandmann” gilt dieses Prinzip aber durchaus nicht als produktiv, sondern als destruktiv.44 Auch Coppola und Spalanzani, die beiden eigentlichen Automatenbauer, handeln letztlich destruktiv und zerstören ihr Werk, die wie auch immer belebte Puppe Olimpia. Destruiert wird in diesem Nachtstück aber auch das autonome Schöpfersubjekt überhaupt. Destruiert wird es schon durch die Multiplikation der Schöpferfiguren: Es sind verschiedene, keinem kann das Meisterwerk eines verführerischen Automaten allein gehören, keiner kann den Anspruch erheben, Olimpias alleiniger ‘Autor’ zu sein. Darüber hinaus wird das Konzept emphatischer Autorschaft durch die Fragilität der Perspektive auf der inhaltlichen Ebene, sprich: durch das Thematisieren der trügerischen Wahrnehmung, und durch das Gebrochensein der Erzählstruktur zumindest ironisiert. Der Text erhält ein Eigenleben – sein Autor, der Schöpfer, steckt unauffindbar hinter verschiedenen Textmaschinen. Auch auf der Ebene der Rezeption setzt diese Verunsicherung der Autonomie sich fort: Zwar eröffnet die Multiperspektivität der Geschichte eine Freiheit der Deutung, die lange Interpretationsgeschichte weist schließlich vor allem darauf hin, dass im “Sandmann” nichts eindeutig ist. Aber gleichzeitig ermöglicht beim ersten Lesen das Schauerliche und bei allen weiteren Lektüren die Dichte der Motivvariationen und -verschiebungen kein entspanntes Zurücklehnen im Lesesessel, keine intellektuelle Distanz zu Darstellung und Dargestelltem, sondern wir hetzen dem Geschehen und der Hoffmann’schen Sprachvirtuosität höchst unautonom hinterher. Wenn Nathanael durch Missverständnisse, Assoziationsketten, metonymische Verschiebungen und sein Wörtlich-Nehmen von sprachlichen Bildern als Dichter und Mensch scheitert, weil er der Sprache nicht 43
Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2. S. 9–19. Zu den darstellungs- und rezeptionsästhetischen Implikationen des serapiontischen Prinzips vgl. Uwe Japp: Das serapiontische Prinzip. In: E.T.A. Hoffmann. Text ⫹ Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1992. S. 63–75. Auf ein ironisches Spiel der Texte mit dem Prinzip weisen beide Veröffentlichungen nicht hin. 44 Vgl. vor allem Schmidt: Geschichte des Genie-Gedankens. Bd. 2. S. 19–33.
86 Herr wird, sondern sich ihr als Opfer ausliefert,45 stößt “Der Sandmann” die Lesenden unweigerlich in Nathanaels Lage.46 Gerade weil der Text immer wieder produktive Unruhe erzeugt, ist seine Deutungsgeschichte so lang. Wer allerdings wie viele Interpreten zwischen Freud (1919) und Preuß (2003)47 in seiner Lektüre die Vieldeutigkeit stillstellt und die Erzählung aus einem Punkt heraus deuten will, der verfällt in eine andere Rezipientenrolle, die im “Sandmann” auch schon vorgebildet ist: Wenn der glücklose Dichter Nathanael seiner Verlobten Clara das Schauergedicht über die von Coppelius blutig gestörte Hochzeit vorliest, lässt die Zuhörerin jeden Enthusiasmus vermissen. Sie reagiert tatsächlich als kalter Automat, der nicht in der Lage ist, die literarischen oder zumindest therapeutischen Qualitäten des Gedichts zu erkennen. Was sich ihrer Alltagsvernunft nicht unterordnen lässt, weist sie als wahnsinnig und unsinnig zurück und wünscht sie ins Feuer.48 Olimpias Belebung durch Nathanaels Betrachtung kann zudem als Allegorie des Lesens49 verstanden werden, zumindest des serapiontischen, des enthusiastisch verlebendigenden Lesens. Denn wenn der Einsiedler Serapion behauptet, ihn hätten Ariost, Dante und Petrarca besucht, dann scheinen dem leidenschaftlichen Leser die Autoren leibhaftig zu
45
Claudia Liebrand: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E.T.A. Hoffmanns. Freiburg 1996. 46 Der Erzähler beginnt seine eigene Darstellung des Geschehens mit einer Ansprache an den Leser: “Vielleicht gelingt es mir, manche Gestalt, wie ein guter Portraitmaler, so aufzufassen, dass du es ähnlich findest, ohne das Original zu kennen” (DS, S. 27). Kittler: Das Phantom unseres Ichs. S. 163, weist darauf hin, dass das einzige Bild, das uns das Original erkennen lässt, ohne dass wir je das Original gesehen haben, unser Spiegelbild ist. Auch insofern sind die impliziten Lesenden und Nathanael eng aufeinander bezogen. In Nathanael erblicken die Lesenden ihr Spiegelbild. 47 Karin Preuß: The Question of Madness in the Works of E.T.A. Hoffmann and Mary Shelley. Frankfurt/M. u. a. 2003. 48 Über wenige Aspekte des Textes herrscht in der Hoffmann-Philologie so große Einigkeit wie über die Interpretation der Reaktion Nathanaels auf Claras kühle Rezeption seines Gedichts: Dass er Clara als Automaten verkenne, dadurch den letzten Bezug zur Wirklichkeit verliere und somit reif für die Liebe zum Automaten Olimpia werde, ist die herrschende Meinung (vgl. u. a. Liebrand: Aporie des Kunstmythos. S. 94). Doch auch diese Stelle ist keineswegs eindeutig: Der Erzähler berichtet schließlich, dass Nathanael in diesem Gedicht zwar seine “düstre Ahnung” (DS, S. 31) formuliert, aber diesen Inhalt einem Formzwang unterlegt. So bemerkt Clara durchaus, dass Nathanael sich ruhiger und weniger geängstigt verhält, während er an dem Gedicht geschrieben hat. Der Text lässt offen, ob Nathanael am Schreiben, am Leben und an der Liebe scheitert, weil er die Außenwelt verkennt – eine solche Sicht nimmt Claras Perspektive ein – oder weil die Außenwelt, personifiziert in Clara, seine Dichtung verkennt. 49 Vgl. Miller: Versions of Pygmalion. Vgl. zum “Sandmann” u. a. Nikolai Vogel: E.T.A. Hoffmanns Erzählung “Der Sandmann” als Interpretation der Interpretation. Frankfurt/M. u. a. 1998 (⫽Münchener Studien zur literarischen Kultur in Deutschland Bd. 28) und Schmitz-Emans: Einführung. S. 121.
87 begegnen.50 “Der Sandmann” verunsichert sein Lesepublikum, will es in Nathanaels Lage versetzen, hält es zum Narren und führt ihm im Spiegel der Olimpia-Nathanael-Beziehung die Manipulierbarkeit des Lesevorgangs vor Augen. Schreiben und Lesen erweisen sich im “Sandmann” nicht als Vorgänge einer gelassenen eigengesetzlichen Schöpfung: Der häufige Wechsel vom erzählerischen Präteritum zum Präsens51 belebt das Erzählte, lässt das Lesepublikum ‘miterleben’ und unterläuft die Möglichkeit des Erzählers, durch zeitliche Distanz Souveränität über das Erzählte zu gewinnen und das Lesepublikum an dieser Souveränität zu beteiligen. Hoffmanns “Der Sandmann” lässt so auf ganz verschiedenen Ebenen Autonomieansprüche scheitern. Eine weitschweifige Schauergeschichte um Menschenschöpfung und versuchte Autonomie ist auch Philippe-Auguste, Comte de Villiers de L’IsleAdams L’Ève future. Der Roman wurde 1886 auf französisch publiziert. Eine Vorversion findet sich 1880/81 als Fortsetzungsroman in Zeitungen unter dem Titel L’Ève nouvelle.52 Die erste deutsche Übersetzung von Annette Kolb erschien im Jahr 1909 unter dem Titel Edisons Weib der Zukunft.53 Seit einigen Jahren genießt L’Ève future geradezu Kultstatus in kultur- und literaturwissenschaftlichen Analysen des Motivs vom künstlichen Menschen.54 In seinem Laboratorium in Menlo Park sitzt ein gewisser Erfinder Edison und gleitet allmählich in eine traumartige, unwirkliche Stimmung ab. Die phantastische Aura, die diesen Edison umgibt, entsteht vor allem durch die Schilderung der technischen Apparaturen und Gerätschaften in seiner Werkstatt. Wie der reale Edison ist auch der Roman-Edison ein genialer Erfinder von Gegenständen, die 50 E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Hartmut Steinecke et al. Bd. 4. Hg. von Wulf Segebrecht unter Mitarbeit von Ursula Segebrecht. Frankfurt/M. S. 9–1199. Hier S. 33. 51 Schroeder: Die Rede vom Farbenglanz des inneren Bildes. S. 252–254. 52 Vgl. zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte Jacques Noiray: “L’Ève future” ou le laboratoire de l’Idéal. Paris 1999. S. 15–30. Vor allem S. 25. 53 Inzwischen gibt es eine deutsche Neuübersetzung: Auguste Villiers de l’Isle-Adam: Die künftige Eva. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort von Manfred Gsteiger. Zürich 2004. 54 Hinweise auf diesen oder Interpretationen zu diesem Roman finden sich u. a. in Evelyn Annuß: Maske und Maschine. Künstliche Frauen in Texten von Hoffmann, Villiers und Lem. In: Literatur für Leser 20 (1997). H. 1997. S. 95–107. Rudolf Drux (Hg.): Menschen aus Menschenhand. Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov. Stuttgart 1988. S. 198–209. Geier: Fake. S. 109–121. Peter Gendolla: Anatomien der Puppe. Peter Gendolla: Die lebenden Maschinen. Zur Geschichte der Maschinenmenschen bei Jean Paul, E.T.A. Hoffmann und Villiers de l’Isle Adam. Marburg 1980. Roland Innerhofer: Die technische Modernisierung des künstlichen Menschen in der Literatur zwischen 1800 und 1900. In: Nach dem Menschen. Der Mythos einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur. Hg. von Bernd Flessner. Freiburg 2000. S. 69–99. Hier S. 89–93. Vgl. dazu in diesem Band Carola Hilmes: Literarische Visionen einer künstlichen Eva.
88 elektrischen Strom nutzen, die Informationen speichern, Daten übertragen und Bilder projizieren können. Die Effekte solcher technischen Artefakte – Lichtblitze, Töne aus den verschiedensten Gegenständen, photographische Abbildungen – erzeugen eine Stimmung des Unheimlichen. Den einsamen, gedankenversunkenen fiktiven Edison besucht ein etwas exzentrischer, snobistischer junger Mann mit dem Namen Lord Ewald. Der Lord erweist sich als lebensmüde: Denn er liebt ein ‘monstre bourgeois’, eine “déesse bourgeoise”.55 Alicia, so heißt diese Dame von monströser Bürgerlichkeit, hat das Lieblingsmotto “mais pas les étoiles”,56 was Annette Kolb treffend übersetzt hat mit “nur keine Überspanntheiten”.57 Ein solches Bekenntnis zu den Wonnen der Gewöhnlichkeit ist für Lord Ewald und wohl auch für seinen Schöpfer Villiers de L’Isle-Adam, den bretonischen Adligen aus der Pariser Bohème, unerträglich. Doch der Lord entkommt nicht den Fängen seines Begehrens, denn die zugleich geliebte und verabscheute Alicia ist wunderschön. Im Roman wird ihre äußere Gestalt mit der Venus Anadyomene, der schaumgeborenen Venus, und der Venus Victrix, der siegreichen Venus, verglichen, und die Fiktion behauptet, eine solche Statue befinde sich im Louvre. Da dort aber keine gleichnamige Statue ausgestellt wird, gerät die Gestalt Alicias somit in der Phantasie der Lesenden in die Nähe der bekanntesten Venus-Statue des Louvre, der Venus von Milo. Lord Ewald konfrontiert Alicia mit ihrem marmornen Eben- oder Vorbild. Mit fröstelndem Schaudern stellt die lebendige Frau die Ähnlichkeit mit dem Marmorbild fest – ein Schaudern, das bei den Lesenden den Gedanken an all die belebten Venusstatuen der Literaturgeschichte genauso evoziert wie ein Vorausahnen des Fortgangs der Geschichte. Schließlich wird Alicias Gestalt in Villiers Geschichte ja tatsächlich zum Vorbild einer künstlichen Frau. Denn Edison kann dem todessüchtigen, enttäuschten Liebhaber Alicias nur dadurch neuen Lebensmut geben, dass er ihm einen Pakt vorschlägt: Lord Ewald, dem sich Edison verpflichtet fühlt, bleibt am Leben, wenn der geniale Erfinder für ihn eine künstliche Frau schafft. Sie wird Hadaly genannt, dies sei, so Edison, das persische Wort für Ideal.58 Die ideale Frau Hadaly verdankt das perfekte Äußere Alicia, deren Körper für Lord Ewalds Idealfrau nachgebildet wird, und sie verdankt es Edisons Fähigkeiten einer skulpturschaffenden, also räumliche Nachbildungen erlaubenden Art der Photographie. Über die künstliche Anatomie lässt sich Edison im Gespräch mit Lord Ewald ziemlich langatmig aus. Das der natürlichen, so gewöhnlichen Alicia haushoch überlegene Innenleben im metaphorischen Sinne schuldet die künstliche Frau Edisons Fähigkeiten der Speicherung von Tönen. 55 Auguste Villiers de L’Isle-Adam: L’Ève future. In: Ders.: Oeuvres Complètes. Bd. 1. Genève 1970. S. 5–475. Hier S. 73. 56 Ebd. S. 91. 57 Auguste Villiers de L’Isle-Adam: Edisons Weib der Zukunft. München 1909. S. 83. 58 S. 152. Vgl dazu auch die Anm. 70. S. 485 in Villiers: Die künftige Eva.
89 Das menschenähnliche Funktionieren, Agieren und Sprechen der Figur wird zudem von einem weiblichen Medium ermöglicht, das in einem geheimnisvollen Halbschlaf oder hypnotisierten Zustand in unterirdischen Räumen unter Edisons Labor lebt und sich in Hadaly auf nicht erklärte und auch von Edison nicht rational erklärbare Weise auflöst. Schließlich ist Villiers de L’Isle-Adam ein entschiedener Gegner des französischen Positivismus. Auch in seinem Roman über einen amerikanischen Ingenieur und sein Schaffen entfaltet er seine Vorstellung, dass es mehr zwischen Himmel und Hölle gebe, als menschliche Augen zu sehen und menschlicher Verstand zu erklären vermögen. Der Ingenieur Edison kann in seinem Roman nur dadurch zu einer Leitfigur werden, dass er sich nicht nur mit handfesten naturwissenschaftlichen Experimenten und materiellen technischen Konstruktionen befasst, sondern auch einen Zugang zu Welten jenseits konkret nachprüfbarer, sichtbarer Ergebnisse besitzt. Der Schöpfer Edison und sein Auftraggeber Ewald schließen im Roman, wie schon erwähnt, einen Pakt über das Erschaffen der künstlichen Frau: Durch die den einzelnen Kapiteln beigefügten Motti knüpft dieser Pakt an Goethes FaustMephisto-Pakt an und an den Teufelspakt von Karl Maria von Webers Oper Der Freischütz (1821). Edisons Tat – und Ewalds Mittäterschaft – ist in der Selbstwahrnehmung der beiden explizit eine prometheische Tat: “Je ne m’ appelle point Prométhée, mais, tout simplement, lord Celian Ewald, – et je ne suis qu’un mortel.” – so äußert Lord Ewald seinen Zweifel, ob er als normaler Sterblicher eine solche prometheische Tat aushalten könne.59 Aber Edison antwortet: “tout homme a nom Prométhée sans le savoir – et nul n’échappe au bec du vautour”.60 Die prometheische Schöpferkraft gerät in diesem Roman somit deutlich in ambivalentes Licht: Einerseits ist L’Ève future die Selbstfeier eines (un)bürgerlichen Künstler- und Schöpfersubjekts, das der Welt ungeniert seinen Stempel aufdrücken will. Andererseits aber ist bei Villiers mit der Prometheus-Figur untrennbar der Teufelspakt verbunden – und der göttlichen Bestrafung entgehen die Prometheus-Adepten so wenig wie ihr mythisches Vorbild: Das Erschaffen eines künstlichen Menschen ist in der Ève future wie im “Sandmann” und im Frankenstein verbunden mit Einsamkeit und Tod. Denn Hadaly, seine künstliche Idealfrau, hätte der Lord immer nur in der Einsamkeit seines schottischen Landsitzes genießen können. Darüber verständigen sich Edison und sein Kunde. Menschen ohne Ewalds liebenden, belebenden Blick hätten wohl doch schnell gemerkt, dass Hadaly eine reichlich künstliche Eva ist. Und in dem Moment, in dem Hadaly als AliciaDoppelgängerin belebt wird, stirbt das halbschlafende Medium Edisons. Auch Hadaly und Alicia überleben nicht: Lord Ewald schifft sich nämlich mit einer für die Reise ruhiggestellten Hadaly in einem sargartigen Schrankkoffer, der 59 60
Villiers: L’Ève future. S. 135. Ebd.
90 im Gepäckraum des Schiffes verstaut wird, nach Europa ein. Auf dem gleichen Schiff befindet sich auch Alicia. Das Schiff sinkt, zum Gepäckraum kann der Lord nicht mehr vordringen. Lord Ewald überlebt, die Damen nicht. Dass seine Trauer ausschließlich Hadaly gilt, überrascht innerhalb der Logik der Geschichte kaum. Am Ende des Romans schließt sich der Kreis: Edison versinkt erneut in Träumereien, doch diese sind jetzt ausgesprochen melancholisch.61 Ein Triumph, eine endgültige Befreiung von Zwängen, dauerhafte Autonomie oder die tatkräftige Sesshaftigkeit des Goetheschen Prometheus ist somit allen modernen Prometheus-Figuren dieser drei Schauergeschichten nicht vergönnt. Das Subjekt, das sich autonom wünscht, aber in Einsamkeit und Beziehungsunfähigkeit zugrunde geht, ist verkörpert durch Frankenstein, durch diverse Männer bei Hoffmann und durch Edison und seinen Lord. Das autonome Subjekt zeigt sich dabei immer als eines, das über ein anderes als Objekt verfügen will: Die Autonomie des Subjekts führt über die Macht über ein Objekt: Frankenstein betrachtet von Anfang an Elisabeth, den holden Engel, die ihm als Ehefrau zugedachte Gespielin seiner Kindheit, als sein Eigentum. Nathanael und die anderen Hoffmann’schen sich selber fesselnden Prometheus- Figuren versuchen sich als Manipulateure anderer Menschen, darin liegt ihr Versuch, sich als autonom zu beweisen. Auch Edison und Lord Ewald verfügen über Alicia, Hadaly und das weibliche Medium ganz nach Belieben. Und dennoch misslingt all diesen Prometheus-Figuren die Selbstinszenierung als autonomes Subjekt. Das ungebundene, das autonome Subjekt enthüllt sich in diesen Geschichten als Schein und als Schrecken. In den schauerlichen Geschichten nach 1800 erweist sich Autonomie also schon als aporetisch. Alle drei Geschichten führen zudem unmissverständlich vor Augen, dass das autonome, ungebundene schöpferische Subjekt kein Konzept für jeden und jede ist. Die ‘anderen’, die Monstren, die Fremden, die Frauen, auch die Maschinen, die sind davon ausgegrenzt, sollen nur als Objekte die männlichen, meist bürgerlichen, oft künstlerischen Subjekte stützen. Und doch können sie deren Absturz nicht verhindern. Die Nachtstücke von der Schaffung künstlicher Menschen zeigen den Schrecken der Autonomie, einer Autonomie, die ansonsten gerade in der Sattelzeit um 1800 noch weitgehend sich selbst feiert, ja in dieser Zeit gerade erst zum eigentlichen Leitbild aufsteigt.62 Dass dieses Leitbild trotz E.T.A. Hoffmanns und Mary Shelleys Invektiven noch das ganze 19. Jahrhundert im europäisch geprägten Raum handlungsmächtig ist, erweist am Ende des Jahrhunderts Villiers L’Ève future mit den prometheischen Versuchen eines amerikanischen Erfinders und eines englischen Lords. 61
Noiray: L’Ève future. S. 36. Zum autonom gedachten Subjekt in der Romantik vgl. die Einleitung des Herausgebers in Inventing the Individual. Romanticism and the Idea of Individualism. Ed. by Larry H. Peer. Provo 2002. 62
Carola Hilmes
Literarische Visionen einer künstlichen Eva The literary visions of a New Eve always remain connected with the old story of Adam and the fall of man. The Fin-de-siècle Eves in Villiers de l’Isle-Adam and Angela Carter presented in this essay show different conceptualisations of femininity. While the French author in his novel L’Ève future (1886) discusses the construction of a technological Eve, the postmodern English novel deconstructs our well known theories on femininity in a highly ironic manner. The Passion of New Eve (1977) already is puzzled with gender trouble. Furthermore the new hybrid figures, the monsters and artificial creatures can be linked to Donna Haraways vision of a cyborg-world transcending gender.
1. L’Ève future (1886) von Villiers de l’Isle-Adam Eva steht als Synonym für die Frau, die den Mann durch ihre Verführungskünste in Schwierigkeiten bringt. Dabei wird der Bogen gespannt von der biblischen Eva-Figur bis zu ihrer Wiederkehr als Femme fatale in der nachromantischen Literatur. In Villiers’ Roman L’Ève future baut der berühmte amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison zum Wohle der Menschheit eine künstliche Frau, die über alle erotischen Reize verfügt, die einen Mann beglücken können, ohne dass eine Beziehung mit ihr in irgendeiner Weise für den Mann gefährlich sein könnte. Die ideale Frau ist die ewige Verführerin. Der Prototyp einer solchen Eva der Zukunft ist die Androide Hadaly, was auf Iranisch ‘Ideal’ bedeutet und im Hebräischen ‘Eitelkeit’ oder ‘Nichtigkeit’ heißt.1 In den geheimen unterirdischen Laboratorien Edisons führte sie bereits eine Schattenexistenz, als Lord Ewald bei seinem Freund erscheint und ihm von seiner unglückseligen Liebe zu einer Sängerin erzählt. Nach einigem Zögern gehen die beiden Männer einen Pakt ein, und sie beschließen, eine künstliche Frau ins Leben zu rufen. In dem melancholischen englischen Lord hat Edison einen geeigneten Probanden für sein Experiment gefunden. Die Folgen seiner geheimen Künste aber entziehen sich gegen Ende des Romans immer weiter seiner Kontrolle. Schließlich zerstören die Naturgewalten den an die künstliche Eva geknüpften Traum einer glücklichen Zukunft. Aber beginnen wir noch einmal von vorn. Edison fordert in blasphemischer Weise Gott heraus. In dieser Romanfigur kehren Prometheus, Faust und 1 Villiers de l’Isle-Adam: Œuvres complètes. Hg. von Alan Raitt u. Pierre-Georges Castex unter der Mitarbeit von Jean-Marie Bellefroid. Paris 1986 (⫽Bibliothèque de la Pléiade). Bd. 1. S. 1449; im Weiteren abgekürzt mit der Sigle LEF.
92 Mephistopheles gleichermaßen wieder.2 Edison, der eine zweite, künstliche Eva schafft, maßt sich die Position des Schöpfers an.3 Dadurch wird er selbst zum Künstler. Er ist jedoch kein Originalgenie, nicht der alleinige Urheber der Androiden, denn zu ihrer Herstellung werden viele verschiedene Handwerker und Ingenieure benötigt. Was sie gemeinschaftlich schaffen, ist allerdings etwas qualitativ Neues, noch nie Dagewesenes.4 Die Kopie, also das künstlich Hergestellte, soll paradoxerweise das Original, ein lebendiges Vorbild, übertreffen. Die Frage nach dem Ursprung wird durch diese literarische Konstruktion ausgehebelt.5 “La fausse Alicia [i.e. Hadaly] semblait donc plus naturelle que la vrai.” (LEF S. 985) Im Falle der Frau ist die technisch hergestellte Kopie besser als das leibhafte Original. Die Technik wie übrigens auch die Kunst – bereits die Skulptur der Venus victrix im Louvre (vgl. LEF S. 796 und 809) übertrifft das reale Vorbild – verbessern beziehungsweise überbieten die Natur, zumindest wenn es um die Modellierung des weiblichen Körpers geht. Geschlechterneutral nämlich sind solche literarischen Schöpfungsmythen keinesfalls. Bei der Produktion der künstlichen Frau, “cette Eve future” (LEF S. 877), überlagern und ergänzen sich alte und neue Künste und Techniken. Tradierte Schöpfungsmythen erfahren dabei eine grundlegende Modifikation. Hadaly wird zum Protoypen der Frau der Zukunft, ein Modell also, nach dem zukünftig der gewünschte Frauentyp individuell ausgewählt und dann fabrikmäßig hergestellt werden kann. Insofern fungiert die Androide als Bild für den Menschen im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In diesem Punkt ist die Hellsichtigkeit des französischen Romanciers bemerkenswert. Bei Villiers ahmt nicht die Kunst das Leben nach, sondern das Leben soll der Kunst nachgebildet sein. Das ist ästhetizistisches Programm. Auf einem avancierten Stand der Technik aber, und das ist neu, verwandelt sich die Technik selbst zum künstlerischen Medium und greift so direkt ins Leben ein. Das ist visionär im 2
Die vielen intertextuelle Bezüge in Villiers Roman werden durch Übercodierung mehrdeutig. Bereits durch die allen Kapiteln vorangestellten Motti wird das deutlich. Goethes Faust etwa wird gleich im Vorwort an die Leser zitiert. Zur Interpretation und Einordnung des Romans vgl. Deborah Conyngham: Le Silence éloquent. Thèmes et structure de “L’Ève future” de Villiers de l’Isle-Adam. Paris 1975. John Anzalone (Hg.): Jeering Dreamers. Essays on “L’Ève future”. Amsterdam 1996. 3 “Enfin, (…) je prétends pouvoir (…) faire sortir du limon de l’actuelle Science Humaine un Être fait à notre image, et qui nous sera, par conséquent, CE QUE NOUS SOMMES A DIEU.” (LEF S. 836). 4 “Cette copie, disons-nous, de la Nature, – pour me servir de ce mot empirique, – enterrera l’original sans cesser de paraître vivante et jeune. Cela périra par un coup de tonnerre avant de vieillir. C’est de la chair artificielle, et je puis vous expliquer comment on la produit” (LEF S. 831). 5 Bei dieser Denkfigur zeichnet sich so etwas wie die Geburt der Dekonstruktion aus dem Geiste des Ästhetizismus ab.
93 Hinblick auf unsere heutige Biotechnologie und Robotik. L’Ève future ist der erste literarische Cyborg, ein Zwitterwesen aus Mensch und Maschine.6 Knapp die Hälfte des Romans, der fast ausschließlich aus Dialogen besteht, handelt von den technischen Konstruktionsbedingungen der Androide. Detailgenau erklärt Edison seinem staunenden Freund den neuesten, dem zeitgenössischen Publikum noch unbekannten Stand der Technik und die daraus entstehenden wunderbaren Möglichkeiten. Der moderne Wissenschaftler wird als Magier apostrophiert, “le sorcier de Menlo Park” (LEF S. 765). Für die Leserinnen und Leser ist die verbale Herstellung der künstlichen Eva, dieser neuen, nun nicht mehr mit der Sünde behafteten Frau, zuweilen etwas ermüdend. Die Machbarkeit des Gesagten ist ohnehin schwer zu beurteilen. Villiers Roman, der zu den Vorformen im Genre der Science-fiction gerechnet wird, handelt von der Wiedergewinnung der wahren Natur durch die fortgeschrittene Technik und vom Scheitern dieses Unternehmens, was noch ein kritisches Licht wirft auf den Fortschritt und die Illusion des Menschen (i.e. der Männer) über sich selbst. Der weibliche Körper als diskursives Experimentierfeld zeigt dabei sowohl philosophische als auch ästhetische Paradoxien auf. Um wirkliche Frauen geht es den Herren ja gar nicht. Die erste Fassung des Romans trug den Titel L’Andréide-paradoxale d’Edison (vgl. LEF S. 1450). Villiers interessierte sich für metaphysische Fragen wohl eher als für eine phantastische Technikgeschichte. Dass er die Frage nach Erkenntnis in einem höheren Sinne im Medium der Literatur und nicht in der Philosophie abhandelt, zeigt einen Wechsel an: Die Metaphysik findet ihr Exil in der Ästhetik.7 Die von Männern konstruierte und ganz auf die männlichen Bedürfnisse hin abgestimmte Androide bei Villiers ist notwendig eine Frau. Das zeigt sich vor allem darin, dass die künstliche Eva als eine sekundäre und reaktive Figur vorgestellt wird. Nur als solche ist sie überhaupt konstruierbar. Mit der Natürlichkeit fehlt Hadaly die Möglichkeit zur Individualität. Sie ist weder ursprünglich noch ganzheitlich angelegt, und es fehlt ihr die Möglichkeit zu selbstbestimmtem Handeln, zur Autonomie. Dass die Androide diese Mängel erkennt und darüber betrübt ist – auch die künstliche Eva will um ihrer selbst willen von Lord Ewald geliebt werden –, macht sie so menschlich wie unheimlich. Die Wissenschaft im Bunde mit der Magie gebiert Monster. Bei aller Faszination für die schönen Seiten der Technik erzählt Villiers seine Geschichte nicht zuletzt zur Warnung der Leser und enthüllt dabei die Ambivalenzen des Begehrens. 6
Vgl. Marie Lathers: Fin-de-siècle Eves in Villiers de l’Isle-Adam and Angela Carter. In: Literature and the Bible. Hg. von David Bevan. Amsterdam 1993. S. 7–27. Hier S. 9. Lathers versteht hier Cyborg nicht als kybernetischen Organismus, sondern in einem metaphorischen Sinne. Das wirft ein interessantes Licht auch auf die anderen belebten Kunstfiguren der Literaturgeschichte. 7 Vgl. Dietrich Mathy: Von der Metaphysik zur Ästhetik oder Das Exil der Philosophie. Untersuchungen zum Prozeß der ästhetischen Moderne. Hamburg 1994.
94 Das von Hadaly ausgehende beziehungsweise ihr inkorporierte Glücksversprechen erweist sich als (selbst)zerstörerisch. Schließlich verbrennt der Sarg, in dem die Androide reist, und das Schiff, auf dem sie nach Europa gebracht wird – es trägt den verräterischen Namen The Wonderful –, sinkt. Geschlechtsneutral sind solche literarischen Schöpfungsmythen keinesfalls. Die bekannteste analoge Konstruktion eines als Ideal geplanten Mannes im 19. Jahrhundert stammt von Mary Shelley. Ihr moderner Prometheus heißt Dr. Frankenstein, seine wissenschaftlichen Experimente, die romantischen Spukgeschichten entlehnt sind, konfrontieren den Romanhelden auf drastische Weise mit den Folgen seines Handelns und der Hybris seines Denkens.8 Während in der weiteren Rezeption der Name des Schöpfers auf sein Geschöpf übergeht, trägt das Monster in Shelleys Roman noch durchaus menschliche Züge – erst als ihm ein Platz in der Gesellschaft verwehrt wird, reagiert es bösartig. So viel Handlungsspielraum hat Villiers’ künstliche Eva nicht. Sie war nur für die Liebe geschaffen. Dafür aber gibt es keinen Platz mehr in der modernen, zunehmend technisierten und entfremdeten Welt. Villiers’ Zeitdiagnose ist zutiefst pessimistisch. Auch von misogynen Zügen ist sein Roman nicht frei, was sich vor allem darin zeigt, wie die Protagonisten über die Frauen verfügen beziehungsweise sich diese Verfügungsgewalt anmaßen und sich so die Rolle des deutlich überlegenen Geschlechts zuschreiben. Für die heutigen Leserinnen und Leser ist auffällig, dass der weibliche Körper im Roman als ein vor allem sprachlich hergestellter erscheint. Dadurch erweist sich der Körper nicht mehr als von der Natur Gegebenes, Unveränderliches, sondern als gesellschaftlich und kulturell Konstruiertes, und zwar von den Protagonisten der Geschichte Fabriziertes. Das fünfte Buch des Romans seziert die Androide im wahrsten Sinne des Wortes: Augen, Haare und Haut, Lippen, Zähne und Geruch werden nicht nur detailliert beschrieben, sondern in ihrer Herstellbarkeit genau analysiert. “Continuons donc l’anatomie de votre belle morte!”, sagt Lord Ewald zu Edison, “je me rends à votre discours.” (LEF S. 919) In perfekter Weise ersetzt die künstliche Frau das von den Männern gesuchte und gewünschte Rätsel der Weiblichkeit.9 Es läuft hinaus auf die Anatomie einer schönen Leiche. Der Roman enthüllt so mortifizierte Weiblichkeit als das von Männern fabrizierte Ideal der Frau.10 Hadaly verkörpert äußere und innere Schönheit, genauer gesagt die künstlich hergestellte Harmonie von beiden. Aber während ein (steriler, künstlicher) 8
Vgl. Marie-Helene Huet (Hg.): Monstrous Imagination. Cambridge/Mass. 1993. Insbes. S. 129–162. Siehe auch die Beiträge von Britta Herrmann und Eva Kormann in diesem Band. 9 Vgl. das Kapitel “L’Androsphynge”. LEF. S. 983ff. 10 Vgl. Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990. Elisabeth Bronfen: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik. München 1994.
95 Körper und ein (männlicher) Geist verbunden werden, bleiben die Positionen von (lebendigem) Leib und (weiblicher) Seele merkwürdig ungeklärt. Die in der christlichen Tradition erfolgte Abtrennung der Seele von aller Körperlichkeit – dazu zählen vor allem die Sexualität, später auch die Krankheiten – ist folgenschwer. Die lebendige Einheit von Leib und Seele wird nun als das Andere und Fremde erfahren. Deshalb wird es ausgegrenzt und erscheint als deformiert. An Rolle und Zurichtung des weiblichen Körpers lässt sich das ablesen. Anders als die Frauenfiguren des Romans bleiben die männlichen Figuren, Edison und Lord Ewald, merkwürdig körperlos. Der eine wird vorgestellt als großer Geist und skrupelloser Wissenschaftler sowie als zärtlicher Vater. Dabei ist unklar, ob es sich bei seinen Kindern um künstliche oder natürliche Kinder handelt. Von der Mutter dieser modernen amerikanischen Familie jedenfalls ist nie die Rede. Der andere wird als ausgesprochen schöner Mann apostrophiert (vgl. LEF S. 790) und als Melancholiker gezeigt; von Lord Ewalds genauem körperlichen Befinden erfahren wir nichts. Diesen beiden einander entgegengesetzten Männertypen wird noch Mr. Anderson, der bürgerliche Kaufmann, gegenüber gestellt. Die Konstruktion der Körper schließt offensichtlich die Leibhaftigkeit aus. Die Eva der Zukunft, “la créature nouvelle, électro-humaine” (LEF S. 877), ersetzt die ideale Geliebte, nicht die Mutter. Sexualität und ihre Folgen bleiben unberücksichtigt. Hadaly ist paradoxerweise eine Frau ohne Geschlecht, denn Sex mit der Androide ist nicht vorgesehen. Der Kunstkörper ist steril, die Liebe platonisch. Als technischer Apparat durchbricht Hadaly ohnehin die Geschlechterdifferenz. Sie ist, worauf wiederholt hingewiesen wird,11 geschlechtslos wie die Engel; “cette Ève future” (LEF S. 877) ist vor allem Imaginations-Maschine. Die künstliche Eva ist eine “souveraine machine à visions” (LEF S. 862). Auf perfekte Weise inkarniert sie die Welt der Träume und des Geistes. Nicht nötig hier noch einmal zu sagen, dass es sich um die Träume der Männer und die von ihnen erdachte Wissenschaft handelt. Die Wiederkehr des Imaginären in der Technik hat, und das verdeutlicht der Roman eindringlich, viel Erschreckendes: Am Ende steht immer wieder der Tod. Alles andere ist Wunschdenken, Wahn, “Illusion pour Illusion” (LEF S. 842). Die Beziehung zwischen Mensch und Maschine thematisiert “die Reproduktion des Selbst durch die Reflexion im Anderen”.12 Diese Ausgangsthese von Donna Haraway in ihrem Manifest für Cyborgs wird durch die Lektüre von Villiers’ L’Ève future bestätigt. Der Roman nimmt so die Durchlässigkeit von science und cultural studies vorweg. Auch die im Roman entworfene frühe 11
Mehrfach wird die ideale Frau mit der Figur des Engels verglichen (LEF. S. 823 u. 988); bereits die Idealität der Androide weist auf das Angelische der künstlichen Eva. 12 Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt/M. – New York 1995. S. 34.
96 Vision einer “Welt ohne Gender” wird imaginiert als ein Ausbruch aus der Heilsgeschichte,13 der durch Namen und Motive jedoch stark der biblischen Vorlage und der sie begründenden Tradition verhaftet bleibt. Bei Villiers wird diese Zukunftsvision als Kritik an Fortschritt und Rationalität intendiert und als schönes, technoides Horrorszenario präsentiert. Die Paradoxien einer solchen Welt werden auf die Androide verschoben und äußern sich als ihr inhärente Rätselhaftigkeit. Wer spricht? Ist es Sowana, die mysteriöse Bildhauerin, oder Mrs. Anderson, die Stimme der Frau des anderen Freundes von Edison? Im Roman wird Sowana einmal als “non de Sommeil” (LEF S. 774) von Mrs. Anderson bezeichnet. Die später hinzugefügte Figur der Bildhauerin wahrt allerdings ihr Geheimnis,14 und so bleibt die Suche nach der Seele, die im Roman eindeutig weiblich konnotiert ist, ungeklärt. Die Androide, von der eine unheimliche Wirkung ausgeht, da sie sich verhält wie ein Mensch, konfrontiert uns mit dem Anderen unseres Selbst, letztlich mit dem Tod.15 Er ist nicht zu besiegen. Bei Villiers besitzt die technisch avancierte Form des Automaten keine Zukunft. Am Ende des Romans wird die Androide vernichtet. Diese ästhetizistische Vision eines Cyborg ist rückwärtsgewandt, denn mit seiner künstlichen Eva stellt der französische Symbolist noch einmal die Frage nach der Seele des Menschen angesichts ihres drohenden Verlustes in der modernen Welt. Die ideale Frau der Zukunft ist eine Maschine, Produkt sich perfektionierender instrumenteller Vernunft. Aber auch Hadaly träumt von Ganzheitlichkeit und Liebe. Die Dysfunktionalität und Uneinschätzbarkeit dieser Figur lassen ihre Konstruktion ebenso wie die ihr selbst zugewiesenen Wünsche äußerst fragwürdig erscheinen. Dadurch zeichnen sich widerständige Lesarten ab, die ihrerseits aber nicht verkörpert und mit neuen Namen belegt werden. Der Mythos von der durch technologischen Fortschritt wieder herstellbaren Einheit, der dem Traum des Menschen von Frieden und Glück zugrunde liegt, scheitert unwiderruflich. Insofern ist die Bilanz des französischen Ästhetizismus radikal, denn die Beziehung von Natur und Kultur wurden konsequent verkehrt. Dadurch zeichnet sich dann auch deren Neudefinition in der Ferne
13
Vgl. ebd. S. 34. Vgl. Jürgen Barkhoff: Magnetische Fiktionen. Literarisierung des Mesmerismus in der Romantik. Stuttgart – Weimar 1995. Bis ins 20. Jahrhundert hinein rangen okkulte und spiritistische Praktiken um ihre Anerkennung als Wissenschaft; besonders bei Künstlern und Literaten erfreuten sich solche Überlegungen großer Beliebtheit. 15 Vgl. Sigmund Freud: Das Unheimliche (1919). In: Ders.: Studienausgabe. Bd. IV: Psychologische Schriften. Frankfurt/Main 1982. S. 241–274. Freuds Überlegungen zum Unheimlichen sind mit Bezug auf E.T.A. Hoffmanns Erzählung “Der Sandmann” (1816) entwickelt. Villiers Roman kennt und nennt als einen berühmten Vorläufer die Puppe Olimpia und erwähnt den “Homme au sable!” (LEF S. 769). 14
97 ab: Chimärenwesen, die die Einzigartigkeit des Menschen bezweifeln. Sie werden zum Personal späterer Romane.
2. The Passion of New Eve (1977) von Angela Carter Dieses Buch ist ein wilder Mix aus Schauerroman, Postmoderne und Pornographie. Grenzüberschreitung und Travestie bilden die thematischen Schwerpunkte. Identitäten werden permanent unterlaufen. Evelyn, ein junger englischer Literaturdozent, ist ein typischer Vertreter westlicher Kultur: weiß, männlich, Mittelklasse. Der Roman erzählt von seinen ungeahnten Selbstbegegnungen in der neuen Welt. Ein apokalyptisches New York, die Wüste, schließlich Kalifornien und der Pazifik sind die einzelnen Stationen. Eve/lyn durchquert die USA im Auto. Der Roman ist auch eine Reisebeschreibung, die einem Roadmovie ähnelt, da Carter erstaunlich viele Anleihen beim Film macht. Der Roman erweist sich geradezu als postmoderner Bildungsroman. Die Wüste ist die Landschaft “that matches the landscape of my heart”.16 Hier wird Evelyn von einer futuristisch gekleideten Frau auf einem Sandschlitten gefangengenommen und, nachdem sie ihm die Insignien seiner bürgerlichen Identität genommen hat – “my driver’s licence, my travellers’checks, my passport” (PNE S. 45) –, wird er nach Beulah gebracht, der Stadt im Innern der Erde, wo eine heilige Frau herrscht, Mother. Ihr Symbol ist der zerbrochene Phallus, ein Zeichen, das im Roman leitmotivisch wiederkehrt. Beulah, die Stadt der Frauen, ist ein Ort, an dem Gegensätze gleichzeitig existieren, “a complicated mix of mythology and technology” (PNE S. 48). Hier bei diesem unterirdisch lebenden Amazonenvolk erlebt Evelyn, ganz und gar unfreiwillig, eine zweite Geburt. Die stets nur Mutter genannte und als Göttin verehrte Frau – sie ist eine übergroße Schwarze mit einer Doppelreihe von Brüsten, “a sacred monster” (PNE S. 59) – ist im bürgerlichen Beruf Chirurgin. Mit ihrem Skalpell macht sie aus Evelyn Eve. Schnell sind da einfach ein paar Buchstaben vom Namen abgetrennt.17 The plastic surgery that turned me into my own diminutive, Eve, the shortened form of Evelyn, this artificial changling, the Tiresias of Southern California, took, in all, only two months to complete. (PNE S. 71)
Neben den vielen unterschiedlichen mythologischen Bezügen – an einer späteren Stelle wird die Neue Eva mit Venus verglichen (PNE S. 107) – illustriert der Roman eine Reihe von populären psychologischen und kulturwissenschaftlichen 16
Angela Carter: The Passion of New Eve (1977). London 1985. S. 41. Im Weiteren abgekürzt mit der Sigle PNE. 17 In der deutschen Übersetzung wird aus dem englischen Literaturdozenten Evan durch den chirurgischen Eingriff Eva; die Differenz beträgt hier also nur einen Buchstaben, ein kleiner, aber entscheidender Unterschied. Vgl. Angela Carter: Das Buch Eva. Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Joachim Kalka. Baden-Baden/Zürich 1996.
98 Theorien. Ihnen gilt die besondere erzählerische Leidenschaft der Autorin.18 In The Passion of New Eve erzählt Angela Carter die Geschichte von der Frau als kastriertem Mann, die Sigmund Freud in seiner Psychologie der Geschlechter vertritt, wobei er das Weibliche nicht nur als Defekt, sondern als Infekt begreift.19 Freuds ‘psychologischer Roman’ von der Frau als kastriertem Mann wird in der erfundenen Geschichte von Angela Carter aus der Perspektive einer Betroffenen erzählt.20 So verkehren sich die Verhältnisse von Theorie und Praxis, männlich und weiblich, Wissen und Erfindung. In der Stadt der Frauen offenbart sich, dass “der Mythos etwas Hergestelltes, nichts Vorgefundenes” (PNE S. 56) ist. In Beulah ist Biologie nicht Schicksal, und zwar obwohl auch moderne Vorstellungen von Biologie mythische Züge annehmen können. “Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man gemacht”, hatte Simone de Beauvoir schon 1949 in ihrer Buch Le deuxième sexe erläutert. Evelyns Geschlechtsumwandlung wird ergänzt durch eine ‘Psychochirurgie’ aus Hollywoodfilmen, unzähligen Bildern von der Jungfrau mit dem Kinde, Videos aus dem Tier- und Pflanzenreich sowie den Berichten über Verstümmelungen der Frauen in aller Welt, “the horrors my old sex had perpetrated on my new one” (PNE S. 73). Diese mediale Umprogrammierung funktioniert nicht ganz so gut wie der chirurgische Eingriff und die Manipulation durch weibliche Hormone (vgl. PNE S. 75), denn ein Sieg des Körpers über den Geist lässt sich nicht so leicht erringen. Moderne Technologien beschleunigen zwar den Fortschritt in der Biologie ebenso wie in den Medien, das menschliche Bewusstsein aber hinkt dieser Entwicklung deutlich hinterher. Selbst auf die negativen Wirkungen der Kulturindustrie ist nicht immer Verlass. Der Roman bringt alle etablierten Kategorien ins Schwanken. Beim ersten Blick in den Spiegel erkennt sich Evelyn nicht; die Kastration als Begründung der Subjektivität – eine These, die Lacan in der Nachfolge Freuds aufstellt – funktioniert nicht: But when I looked in the mirror, I saw Eve; I did not see myself. I saw a young woman who, though she was I, I could in no way acknowledge as myself, for this 18
Vgl. Anna Katsavos: An Interview with Angela Carter. In: Review of Contemporary Fiction 14 (1994). Nr. 3. S. 11–17. Hier S. 14. 19 Vgl. Renate Schlesier: Konstruktionen der Weiblichkeit bei Sigmund Freud. Frankfurt/Main 1981. Zu Beginn des Romans wehrt sich Evelyn gegen “das langsame Delirium der Weiblichkeit”, gegen Passivität und Narzissmus der Frauen, von denen er sich nur allzu willig hat anstecken lassen (vgl. PNE S. 37). Das aber treibt ihn seinem weiteren Romanschicksal entgegen: der Kastration und Umwandlung zur Frau. 20 “The castrated female body, a pivotal image in Freud’s narratives of sexual difference, strikes Carter as a powerful ideological tool for inscribing and so ensuring women’s inferiority.” (Jean Wyatt: The Violence of Gendering. Castration images in Angela Carter’s The Magic Toyshop, The Passion of New Eve, and ‘Peter and the Wolf ’. In: Angela Carter. Hg. von Alison Easton. New York 2000. S. 58–83. Hier S. 59.)
99 one was only a lyrical abstraction of femininity to me, a tinted arrangement of curved lines. (PNE S. 74)
Die Neue Eva hat, pathetisch gesprochen, den alten Adam hinter sich gelassen, ist aber in ihrem neuen Körper noch keineswegs heimisch (vgl. PNE S. 75). Evelyn erkennt sich im Spiegel als andere. Wenn dies in einem Roman ‘tatsächlich’ geschieht, zeigt das Dilemma der Subjektivität – die traumatische Erfahrung der Gespaltenheit des Ich – seine komisch-satirische Seite. Die Künste der großen Mutter haben Evelyn zum Wunschbild der Frau umgearbeitet: They had turned me into the Playboy center fold. I was the object of all the unfocused desires that had ever existed in my own head. I had become my own masturbatory fantasy. And – how can I put it – the cock in my head, still, twitched at the sight of myself. (PNE S. 75)
Welche Rolle der Spiegel für die Konstitution des Selbst spielt, führt Angela Carter in Anlehnung und Abwandlung Lacans gleich mehrfach vor. Evelyn erkennt sich im Spiegel als andere, als Eve, als einen neuen Körper, den er/sie in Zukunft als eigenen bewohnen muss. Die Differenz zwischen Selbst- und Spiegelbild ist auch für Leilah, die junge Geliebte Evelyns, konstitutiv, die Nacht für Nacht sich vor dem Spiegel für ihre Auftritte als Nackttänzerin zurechtmacht. So verwandelt sie sich in eine andere. Verblüffend ist nun, dass Leilah die Existenz des eigenen Spiegelbildes dabei annimmt, das heißt, ihr ikonographisches Bild erhält einen ontologischen Status. Diese Erfahrung und Verwandlung hat sie dem männlichen Gegenüber voraus. Leilah, ‘die Blüte der Nacht’, ist eine andere als die Alltags-Leilah. Weiblichkeit und Männlichkeit sind nicht einfach biologisch bestimmt, sondern müssen mühsam erarbeitet werden,21 sind also in hohem Maße gesellschaftlich und kulturell vorgeprägt. Gender geht als logische Kategorie dem biologischen Geschlecht voran: Auch der Sex ist von der jeweiligen Erscheinungsform des Geschlechts abhängig. Diese verstörende Einsicht führt nicht nur bei Angela Carter zu Irritationen. Mit “Gender Trouble” ist die Romanhandlung treffend umschrieben.22 Turbulent geht es zu in The Passion of New Eve und zuweilen ziemlich drastisch.23 So wird die Protagonistin in ihre neue Rolle als Frau durch Vergewaltigungen eingeübt. Hier kritisiert Carter Unterdrückung und 21
“Her beauty was an accession. She arrived at it by a conscious effort” (PNE S. 28), heißt es über Leilah, und von Sophie, der Amazone, die den Romanhelden gefangen hat, erfahren wir: “To be a man is not a given condition but a continuous effort” (PNE S. 63). 22 Vgl. Judith Butler: Gender Trouble (1990), dt.: Das Unbehagen der Geschlechter. Aus dem Amerikanischen von Kathrina Menke. Frankfurt/Main 1991. 23 In seinem Nachwort zu Das Buch Eva hebt Joachim Kalka die “drastische Vulgarität” Carters als besonderes Stilmittel hervor (in Carter: Das Buch Eva. S. 220).
100 Ausbeutung weiblicher Sexualität. Das geht über ein bloßes Unbehagen am Geschlecht deutlich hinaus. Die Neue Eva, eine Frau ohne ein eigenes substantielles Ich, bewegt sich in einem merkwürdig geschichtslosen Raum, wobei die Erinnerungslosigkeit die Identitätslosigkeit begründet. “Even my memories no longer fitted me, they were old clothes belonging to somebody else no longer living.” (PNE S. 92) Die Neue Eva, eine Frau ohne Erinnerung, ist jedoch kein völlig neues, unschuldiges Wesen – ein unbeschriebenes Blatt, wie man so sagt –, sie markiert weder das ganz Andere noch einen Neuanfang, sie ist vielmehr entstanden mit Hilfe neuester medizinischer Technologien und zusammengesetzt aus einer Vielzahl aus der Tradition bekannter, biblischer, literarischer und cineastischer Versatzstücke. Insofern verkörpert die neue, künstliche Frau die Macht wissenschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Symbole. Angela Carter nimmt in The Passion of New Eve eine semiologische Inspektion vor, die die Arbeiten und Analysen Roland Barthes produktiv weiterführt. Wie Barthes unterzieht auch Carter die bekannten Bilder und Embleme unserer Alltagskultur einer kritischen Relektüre. In postmoderner Manier werden dabei high and low culture gemischt. New Eve fungiert folglich als Inkarnation der Popularkultur, die die traditionellen Figuren medial aufbereitet und die alten Geschichten von Liebe und Krieg immer wieder neu auflegt. Am Ende der Historie, von der im Roman viel die Rede ist, gewinnt die Mythologie neuerlich an Bedeutung. Deren Einschätzung aber bleibt nun den Leserinnen und Lesern selbst überlassen. Angela Carter ist eine auch in feministischen Kreisen umstrittene Autorin.24 Das schöne, böse Spiel mit den Versatzstücken der Tradition und unserer Alltagskultur allerdings wird von ihr bravourös inszeniert. “The best defence against a social myth is, perhaps, another myth: by telling the old stories differently”.25 Gegen einen Mythos hilft nur ein anderer Mythos.26 Von Beginn an geistert eine mysteriöse Figur durch den Roman: Tristessa de St. Ange,27 ein Hollywoodstar, Inbegriff der schönen, rätselhaften Frau, eine mythisch Liebende und Leidende. Ihre große Zeit war in den vierziger und 24
Carter schreckt auch vor einer Satire feministischer Positionen nicht zurück. Ihre Romane sind auf Polarisierung angelegt, was in der Forschung kontrovers diskutiert wird. Zwar wird der biologische Essentialismus, auch der der Feministinnen, scharf kritisiert, aber um den Preis, sexuelle Identität ganz aufzugeben und ausschließlich zu einer performativen Angelegenheit zu machen; vgl. Sarah Gamble: Angela Carter – Writing from the Front Line. Edinburgh 1997. S. 125. 25 Wyatt: Violence of Gendering. S. 58. 26 Hans Blumenberg: Die Arbeit am Mythos. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979; insbes. “Gegen Gott nur ein Gott” (S. 433ff.). 27 “Her name itself whispered rumours of inexpressible sadness; the lingering sibilants rustled like the doomed petticoats of a young girl who is dying.” (PNE S. 122)
101 frühen fünfziger Jahren. Jetzt ist sie nurmehr die Glamour Queen für Queers.28 “Solitude and reverie,” sagt Tristessa. “That is a woman’s life.” (PNE S. 78) Mit diesem Sehnsuchtsprogramm lockt die Traumfrau die Menschen ins Kino, wo sie in immer neuen Rollen das Stück vom schönen Sterben spielt. Die Realität aber sieht anders aus. Als Eva dem Star ihrer/seiner Kindheit in dessen Glashaus in der Wüste wirklich begegnet, ist er/sie neuerlich fasziniert von Tristessa, die hier ganz zurückgezogen lebt, ein Schatten ihrer selbst, umgeben von den berühmten Toten Hollywoods als Wachsfiguren. “She lived in her own mausoleum.” (PNE S. 112) Unwillkürlich fühlt man sich erinnert an den Film Sunset Boulevard (1949) von Billy Wilder, in dem Gloria Swanson eine einstige Stummfilm-Diva spielt, die in ihrer verwahrlosten Villa von einem Comeback träumt und sich den Phantombildern der Vergangenheit hingibt. Auch Tristessa, der lebende Mythos der Traumfabrik, ist eine solche Untote, eine “wunderbare Leiche” (vgl. PNE S. 124), “she looked far more of a ghost” (PNE S. 122). Im Roman erreichen Travestie und Verwirrung in der Begegnung mit der Filmikone der Weiblichkeit ihren Höhepunkt, denn die mehrdeutige Frau aus Celluloid – “the ambiguous woman” (PNE S. 122) – ist in Wirklichkeit ein Mann – a “poor bound, female man” (PNE S.128), wie es im Roman ironisch heißt. Tristessa, ein Transvestit – das war das bestgehütete Geheimnis Hollywoods. That was why he had been the perfect man’s woman! He had made himself the shrine of his own desires, had made of himself the only woman he could have loved! If a woman is indeed beautiful only in so far as she incarnates most completely the secret aspirations of man, no wonder Tristessa had been able to become the most beautiful woman in the world, an unbegotten woman who made no concessions to humanity. (PNE S. 128f.)
In Tristessa, “dem sinnlichen Produkt der Mythologie des Vorstadtkinos” (vgl. PNE S. 129), begegnet die Neue Eva ihrem Zwilling – das aber ist nun selbst ‘phantasy of gender’. Beide Figuren führen ein synthetisches Leben, das selbstauferlegte des Stars beruht auf dem Schein, das erzwungene des Protagonisten auf den technischen Künsten der plastischen Chirurgie. Die Analogien des Helden und der Heldin sind verblüffend: Eva ist Tristessas “inverted mirror image”,29 ihre Verbindung allerdings hat etwas erstaunlich Verqueres. Im Roman wird sie zelebriert als kitschiges Melodram, dem eine vulgäre Komödie vorangegangen war.30 Die “Eva der Technik” (PNE S. 146), geboren aus abgelegtem 28
Außerdem ist Tristessa das Objekt des blindwütigen Hasses von Zero (vgl. PNE S. 91ff.). Gamble: Angela Carter. S. 128. 30 In der Wiederholung werden im Roman bestimmte Motive bzw. Konstellationen variiert. So etwa die vulgäre Komödie, in der die Neue Eva und der Transvestit Tristessa als Brautpaar verkleidet werden, wobei die Travestie verdoppelt wird: Eva ist 29
102 Fleisch (PNE S. 143), und der größte Damenimitator der Welt, “the greatest female impersonator in the world” (PNE S. 144) – jetzt ein wahnsinniger alter Mann mit langem weißem Haar, eine fast biblische Figur, wie der Vergleich mit dem alttestamentarischen Propheten Hesekiel zeigt (vgl. PNE S. 145) – verbinden sich im Liebesakt zum “großen platonischen Hermaphroditen” (vgl. PNE S. 148). Auch in dieser Wüsten-Szene werden wieder alle Register von Liebe, Lust und Tod gezogen.31 The Passion of New Eve ist auch ein Buch über die Leidenschaft fürs Kino und die Vorliebe der Autorin für triviale Mythen. Die “Eva der Technik” (“the technological Eve in person”, PNE S. 146) sowie viele andere Figuren des Romans sind merkwürdige Zwitter- und Doppelwesen: der Hermaphrodit, der blinde Seher, der Transvestit. In grotesker Manier werden sie als Freaks dargestellt. Das Widersprüchliche, Verzerrte und Entstellte dieser Figuren ist deutlich. Ihr Wesen ist nicht die Verwandlung im Sinne der Metamorphose, sondern die Verkleidung. Dadurch wird das ehemals Symbolische zum bloßen Zeichen, das Pathos zur Groteske.32 Auf unterschiedliche Weise führen dies Tristessa und die Neue Eva vor, denn die Masken von Männlichkeit und Weiblichkeit werden übereinandergelegt. Der neue Körper von Eva ist die ins Fleisch geschnittene Maske. Ihre Weiblichkeit ist ein Konditionierungsprogramm, dem sie nur ungenügend gerecht wird. Tristessa produziert demgegenüber die perfekte Illusion durch die völlige Negation des Körpers. Beide Formen der Travestie und Verwandlung sind radikal. Ein Jenseits der Geschlechterdifferenz, worauf der Roman mit den beiden Figuren abzielt, zeigt sich somit lediglich als Negativbild. Der reine Schein und der heile Körper sind gleichermaßen unmöglich (außerdem gehören sie unterschiedlichen Welten an und sind deshalb ohnehin unvereinbar). Immer wieder arbeitet der Roman mit neuen Paradoxien, personalisiert und verschiebt sie. Die im Roman entworfenen hybriden Figuren, die Chimären und Monster, lassen sich als un/an/geeignete Andere (inappropriate/d others) im Sinne Donna Haraways lesen.33 Doch das programmatische, fast bekenntnishafte Sprechen der amerikanischen Biologin und Wissenschaftstheoretikerin ist von der Bräutigam, Tristessa die Braut, d.h. beide übernehmen ihre alten Rollen. So wird über die Realität ein Schein gelegt, der nun als solcher erkennbar, aber auf keinen verlässlichen Grund hin durchsichtig ist – alles Verkleidung (vgl. PNE S. 133ff.). 31 “When I was a man, I could never have guessed what it would be like to be inside a woman’s skin, an outer covering which records with such fidelity, such immediacy, each sensation, however fleeting.” (PNE S. 148f.) Hier wird nun das, was angeblich als das mythologische Geheimnis der weiblichen Sexualität gilt, ausgeplaudert; auch in dieser Hinsicht gleichen Eva und Tristessa Teiresias, dem blinden Seher Griechenlands, der im Roman mehrfach zum Vergleich herangezogen wird. 32 Vgl. Heather Johnson: Textualising the Double-gendered Body. Forms of the Grotesque in The Passion of New Eve. In: Angela Carter. Hg. von Easton. S. 127–135. 33 Haraway übernimmt den Begriff von Trinh Minh-ha, der amerikanisch-vietnamesischen Filmemacherin und feministischen Theoretikerin; vgl. Donna Haraway: Monströse
103 Parodie und Spott Angela Carters unterschieden – den konventionellen Zuordnungen entsprechend gehören Wissenschaft und Literatur kategorial anderen Bereichen an –,34 und doch sind sie Verbündete, wenn es um die Kritik patriarchaler Traditionen bei der Konzeptionalisierung von Weiblichkeit und Männlichkeit, der unterschiedlichen Geschlechterrollen sowie dem mit den konventionellen Oppositionen operierenden Denken geht. Die “Eva der Technik” kann als feministischer Cyborg gelesen werden. Eve/lyn, der zur Frau umgebaute Mann, fungiert als Trickster. Angela Carter hält sich auf der Grenze von Science-fiction und Fantasy. Ihr Roman ist “speculative fiction”,35 Elaine Jordan nannte ihn ein ‘Demythologisierungsprojekt in aufklärerischer Absicht’. Durch die in eine phantasmagorische Romanpraxis gekleideten postmodernen Theorien wird die Erzählung auf amüsante Weise instruktiv.36 Das zuweilen Drastische und Obszöne darf man allerdings nicht scheuen; es fungiert als ein wirkungsvolles Korrektiv.
3. Eva und die Leidenschaft der Zukunft Die Geschichten der neuen, künstlichen Eva handeln von der Macht wissenschaftlicher, kultureller und gesellschaftlicher Symbole, wobei die mediale Vermittlung besonders reflektiert wird. Deshalb die endlosen Dialoge über das technisch Machbare bei Villiers und die vielen cineastischen Versatzstücke bei Carter. Der französische Symbolist ist dabei vor allem an metaphysischen Fragen und an der Kunst interessiert. Es geht ihm zum einen um das Verhältnis von Körper, Geist und Seele, zum anderen um die völlige, nun auch die neuesten Techniken zu Hilfe nehmende Ästhetisierung des Lebens; eine Entwicklung, die ganz aus der Perspektive der männlichen Figuren beschrieben und als ein tödliches Phantasma enthüllt wird. Die postmoderne Autorin verfährt ähnlich, wenn sie aktuelle kulturhistorisch relevante Theorien in einen phantasmagorischen Roman übersetzt, wobei sie vor allem mit Klischees und Brüchen arbeitet. In durchaus parodistischer Weise werden viele der Mythen unseres Alltag vorgeführt. Die genaue Position der Autorin ist dabei nicht immer klar auszumachen, doch diese Verunsicherung hat Methode. Die Geschichte der Neuen Eva ist ein postmoderner Bildungsroman mit einer charakteristischen Mischung aus high and low. Das Kino spielt dabei Versprechen. Coyote-Geschichten zu Feminismus und Technowissenschaft. Hamburg/ Berlin 1995. S. 11–80. Hier S. 20f. 34 Ob sich die ironische Sprechweise Haraways der literarischen Groteske annähert, wäre gesondert zu untersuchen. 35 Vgl. Elaine Jordan: Enthralment. Angela Carter’s speculative fictions. In: Plotting Change: Contemporary Women’s Fiction. Hg. von Linda Anderson. London 1990. S. 19–40. 36 Vgl. Christina Britzolakis: Angela Carter’s fetishism. In: Textual Practice 9 (3) 1995. S. 459–475. Hier S. 460.
104 eine wichtige Rolle, denn hier treffen Magie und Technik zusammen. Villiers musste für eine solche Begegnung noch den Somnambulismus bemühen, dunkle, geheimnisvolle Kräfte, die in der künstlichen Eva wiederkehren. Carter betreibt demgegenüber eine zweischneidige Renaturalisierung dieses Vorgangs, denn in ihrem Roman ersetzt zum einen die Chirurgie die Magie. Zum anderen macht sie das Kino – die Lust am Sehen, die glamouröse Inszenierung der Körper und das Spiel mit den Versatzstücken der Tradition (den alten Geschichten von Liebe und Krieg) – zum Erkenntnismedium. The Passion of New Eve zeigt die Macht der Bilder und ihre Ambivalenz. Eine eindeutige, sichere Lesart der Gesichter, der Körper, der Ereignisse und Episoden ist heute unmöglich geworden. Die daraus resultierende Verunsicherung der Wahrnehmung bezeichnet nicht nur Verlust und Mangel, sondern eröffnet neue Perspektiven visueller Lust, auch den Spaß an der Maskerade, dem inszenierten Tabubruch und unmotivierten Rollenwechsel, den harten Schnitten. Während Villiers in seinem der Science-fiction zuneigenden Roman mit L’Ève future eine Vision vom Menschen im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit entwirft, akzentuiert Carter in der dem Kino entlehnten Geschichte der Neuen Eva den “Gender Trouble”, die Allgegenwart der Bilder und die ihnen eingeschriebene Vieldeutigkeit. Die im Film, vor allem in der Science-fiction, geschaffenen Mutanten, Menschmaschinen, Cyborgs und anderen Freaks werden in The Passion of New Eve auf ihre kulturgeschichtliche Vorgeschichte hin befragt. In ihrem Roman schaltet Carter die Illusionsmaschine des Kinos ein zur Verständigung über die sich ankündigenden Innovationen der Biotechnologie und als Projektionsfläche modernen Selbstverständnisses. Dadurch schafft sie einen kritischen Reflexionsrahmen, einen Container, in dem die Scherben der zerbrochenen Spiegelbilder gesammelt werden. Und hier überlagern sie sich auch zu neuen, monströsen Versprechen. Angela Carter ist in ihrem Roman unterwegs zu anderen “Auffassungen des verkörperten menschlichen Selbst”.37 Das Buch Eva ist im spekulativen Futurum geschrieben, das rasch vom biotechnologischen Zeitalter eingeholt zu werden droht. “Natürliche Artefakte” wie die OncoMaus oder Dolly gehören als preisgekrönte neue Tierarten bereits zu unserer Realität. Angekommen ist die künstliche Eva in der schönen neuen Welt allerdings noch nicht, und das ist vielleicht auch gut so.38 Als subversive Figur jedenfalls besitzt “the technological Eve in person” eine große Sprengkraft.39 37
Kathryn Pauly Morgan: Schönes neues Baby – schöne neue Mütter – schöne neue Welt. In: Die Philosophin, 13. Jg. (2002). Heft 25. S. 11–35. Hier S. 17. 38 Vgl. ebd. S. 31. 39 Vgl. Carola Hilmes: Die neue Eva. Überlegungen zu Literatur, Weiblichkeit und Technik. In: dies., Skandalgeschichten. Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte. Königstein/Ts. 2004. S. 81–123.
Marianne Vogel
“Einfach Puppe!” Die Wachspuppe in der Wirklichkeit und in der Imagination in Romantik und Moderne1 Wax figures have been used for many purposes and as their functions have changed, so has their role in literature. Important developments concerning wax figures took place in the Romantic period and again in the Modernist period. These practices were reflected and transformed in literature, for example in the novels of Jean Paul, and in texts of Walter Benjamin and other authors respectively. In this article, it is shown how these authors articulated the loss of masculinity and male identity through the use of wax figures. In the case of Jean Paul, who mainly used male wax figures, they symbolize – amongst other things – the powerless Self, impotent masculinity. In the case of Walter Benjamin and others, who were fascinated by female wax figures, they symbolize the powerful Other, mighty femininity.
Im breiten Spektrum der künstlichen Menschen hat die Wachspuppe ihren eigenen Platz. Sie existiert nicht wie beispielsweise Golems und Alraunen lediglich in der Imagination, sondern auch als Artefakt, und als literarisches Motiv weist sie in der europäischen Kultur eine sehr lange Tradition auf. Trotz der Tatsache, dass die Wachspuppe zu ihrer Herstellung wenig technische Kenntnisse und Materialien erfordert, haben ihre alltagsweltlichen Funktionen sich im Laufe der Jahrhunderte stark verändert, was sich selbstverständlich auch auf ihre Verwendung in der Literatur ausgewirkt hat. Im Folgenden wird anhand einiger Beispiele aus der Romantik und der Moderne untersucht, wie die Verflechtung von Wirklichkeit und Literatur aussieht, das heißt wie bestimmte Praxen bezüglich Wachspuppen literarisch ein- und umgesetzt werden. Zudem wird auf die Frage eingegangen, welche Problemkomplexe anhand des literarischen Wachspuppenmotivs zur Sprache gebracht werden. Bereits in der Antike wurde Wachs für die Herstellung von Totenmasken und ganzen Wachskörpern benutzt, die die verstorbene Person darstellen sollten.2 In West-Europa wurde Wachs bis zur Barockzeit – vor allem für Totenmasken – gleichfalls für Jenseitsrituale verwandt. Bei dieser Funeralplastik standen zum einen Vergänglichkeit und das memento mori im Mittelpunkt, zum anderen gerade das Umgekehrte: Unvergänglichkeit und ewiges 1
Mit Dank an Prof. Dr. Rudolf Drux (Köln) für einige hilfreiche Ergänzungen. Vgl. für die Entwicklung von Wachsfiguren u. a. Charlotte Angeletti: Geformtes Wachs. Kerzen, Votive, Wachsfiguren. München 1980; Hannes König: Panoptikum. Vom Zauberbild zum Gaukelspiel der Wachsfiguren. München 1962; Julius von Schlosser: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch. Hg. von Thomas Medicus. Berlin 1993. 2
106 Leben.3 Die funerale Herkunft wird bis heute erinnert, denn Wachs wird in Bezeichnungen wie “wachsbleich” oder “ein wächsernes Gesicht” immer noch mit Starre und Tod assoziiert. Wichtiger ist bei der Wachspuppe allerdings, dass sie durch ihre Herkunft sowohl mit Tod als auch mit Leben verknüpft ist. Sie ist eine Projektionsfläche für fundamentale Hoffnungen und Ängste, weil in ihr die Unterschiede zwischen beiden Bereichen zerfließen; die Wachspuppe ist scheinlebendig, aber als Repräsentation eines Menschen ist sie auch nur scheintot. In der Barockzeit wurde Wachs “vom Zaubermittel zum Täuschungsmaterial”.4 In dieser Zeit entstanden Fürstenbilder, freie Bildplastiken aus Wachs, die täuschend echt sein mussten. So schuf zum Beispiel Justin Psolmayer in Wien Wachsabbildungen von Leopold I. und dem Schwedenkönig Gustav Adolf.5 Mit dem Wechsel der Wachspuppen vom Jenseits ins Diesseits ging ebenfalls eine Demokratisierung einher. Diese Entwicklung beinhaltete, dass sich Mitte des 18. Jahrhunderts bereits ein allgemeiner Besitz von Wachsfiguren – teils in Gestalt von Imitationen wirklicher Menschen, teils in Gestalt von Phantasiefiguren oder so genannten Idealen – an Höfen als Zeichen des Standes fand. Auch das höhere Bürgertum begann Mitte des 18. Jahrhunderts, Wachsabbildungen von sich anfertigen zu lassen, wenngleich dies meistens Büsten, Gesichtsreliefs oder Miniaturen waren. Damit wurde die Herstellung von Wachsfiguren kommerziell interessant, was sich unter anderem dadurch zeigte, dass Annoncen für Bossierungen in Wachs im damals relativ neuen Medium der Zeitung erschienen.6 Sowohl diese gleichzeitige Demokratisierung als auch die Kommerzialisierung, die jeweils Teil eines breiteren Modernisierungsprozesses waren, wurden ebenfalls im neuen Phänomen des Wachsfigurenkabinetts ersichtlich. Der Franzose Antoine Benoist zählte zu den ersten, der im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts in Paris einen öffentlich zugänglichen Wachsfigurensalon schuf. Im 18. Jahrhundert verbreitete sich das Wachsfigurenkabinett schnell; berühmt war beispielsweise dasjenige des Hofstatuarius Müller-Deym in Wien. Solche Kabinette blieben ein Ort des – hauptsächlich feudalen – Persönlichkeitskultes, wurden aber auch ein Ort der Belehrung, der Unterhaltung und des Schauderns. Diese zwei Hauptfunktionen konnten in ein und demselben Kabinett, oft in zwei separaten Zimmern oder Abteilungen, zusammengefasst sein. Daneben gab es auch Spezialkabinette. So besaß 3
Des Weiteren existierte eine umfangreiche Votivplastik, auf die hier nicht eingegangen werden kann. 4 König: Panoptikum. S. 45. 5 Ein anderes berühmtes Beispiel für ein wächsernes Fürstenbild ist das Friedrichs des Großen, vgl. für ein Foto dieser Wachsfigur Schlosser: Tote Blicke. S. 84. 6 Vgl. König: Panoptikum. S. 84.
107 Philippe Curtius in den 1780er Jahren in Paris das Cabinet Palais Royal, das Adelsfiguren für ein adliges Publikum zeigte, sowie ein Kabinett für das “niedere” Volk, genannt “Cave des grands voleurs”.7 In dieser Entwicklung war Curtius’ Nichte Marie Goltz, später Marie Tussaud (1761–1850), eine Übergangsfigur. Zwar befolgte sie die Tradition der Abbildung von Fürsten und Adligen, doch schuf sie auch Wachsporträts von bürgerlichen Intellektuellen (unter anderem von Benjamin Franklin und Voltaire) und initiierte nach der Französischen Revolution – anfangs unfreiwillig – eine völlig neue Praxis. Als eine der bekanntesten Pariser Wachsbossiererinnen, die auch die königliche Familie abgebildet hatte, wurde sie während der Revolution gezwungen, Totenmasken der Guillotinierten zu machen. Diese wurden im Wachsfigurenkabinett ausgestellt, wo sie von unzähligen Menschen besichtigt wurden.8 Marie Tussaud zog 1802 nach Großbritannien und bereiste mit ihrer Wachsfigurensammlung, von der die Totenmasken zunächst einen wichtigen Teil bildeten, die Städte. 1835 bezog sie ein festes Gebäude in London. Tussaud formte das Wachsfigurenkabinett am Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem Unternehmen um, das auf modernen kommerziellen Prinzipien basierte. Es zog große Zuschauermassen an und war für alle Schichten zugänglich.9 Die oben skizzierten Entwicklungen wirkten sich auch auf die literarische Darstellung von Wachsfiguren aus. Ein gutes Beispiel dafür ist der Schriftsteller Jean Paul (1763–1825), der in der Zeit der Französischen Revolution anfing, Wachspuppen in seinen Texten auftreten zu lassen.10 Interessanterweise ließ Jean Paul sich von beiden damals üblichen Praxen inspirieren: einerseits 7
Vgl. über den Hintergrund der Schauerfunktion – die Legitimation des Schauderns und der Schaulust am Schrecklichen gegen Ende des 18. Jahrhunderts – z.B. Gabriela Holzmann: Schaulust und Verbrechen. Eine Geschichte des Krimis als Mediengeschichte (1850–1950). Stuttgart – Weimar 2001. In literarischer Hinsicht steht diese Problematik in den romantischen Theorien und in der romantischen Literatur natürlich ebenso im Mittelpunkt. 8 Dieses Wachsfigurenkabinett hatte ihr Onkel, Philippe Curtius, aufgebaut. Marie Goltz wurde zunächst seine Mitarbeiterin; nach seinem Tod im Jahre 1794 war sie Alleinerbin der Wachsfigurensammlung. 9 Vgl. dazu u.a. Uta Kornmeier: Denkmal in Wachs. Madame Tussaud’s Exhibition als Monument. In: Kritische Berichte. Zeitschrift für Kunst-und Kulturwissenschaften. (27) 1999. H. 2. S. 40–54. 10 Auch Zeitgenossen Jean Pauls setzten Wachsfiguren in ihrer Prosa ein, auf die hier weiter nicht eingegangen wird. Man denke u.a. an die Novelle Die Wachsfigur (1818) von Friedrich Laun (Ps. von Friedrich August Schulze, 1770–1849) und die Nachtwachen (1804) Bonaventuras (Ps. von Ernst August Klingemann, 1777–1831). Vgl. zu Bonaventura zum Beispiel Liselotte Sauer: Marionetten, Maschinen, Automaten. Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik. Bonn 1983. vor allem S. 123ff.
108 von der Praxis der feudalen Illusionskunst am Hof und der privaten Wachsabbildungen, andererseits von der Praxis des Wachsfigurenkabinetts.11 Obwohl der Autor bereits in einigen frühen Texten eine Wachsfigur – für Kommerell “Hausrat aus der Trödelkiste des Zeitalters”12 – auftreten lässt, sind solche Figuren in Die unsichtbare Loge, Hesperus und Titan am auffälligsten. Die Kritik an der Hofwelt, die bei Jean Paul bekanntlich ein stets wiederkehrendes Thema ist, wird in allen drei Romanen unter anderem mit Hilfe von Wachspuppen formuliert. Im ersten Roman, Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung (1793, Niederschrift ab 1791), hat Ottomar, der unter dem starren Scheerauer Hofleben leidet, in seinem Schloss Wachspuppen von geliebten, zum Teil gestorbenen Menschen aufgestellt. Sein Freund Gustav, dessen Abbildung auch dabei ist, erlebt die Puppen erschaudernd als “Spiele und Nachäffungen des Todes”.13 Ottomar selbst sieht keinen wirklichen Unterschied zwischen Menschen und Wachspuppen, weil ihn das deprimierende Menschenleben und der Mangel an Kontakt zwischen menschlichen Seelen bedrücken. Für ihn f ängt erst nach dem Tod das Leben an; seiner Meinung nach würden im Himmel “die Menschen aller dieser Wachs-Leichname wohnen.”14 Insgesamt ist der Scheerauer Hof in Die unsichtbare Loge die Ursache dafür, dass Ottomar das irdische Leben als “tot” betrachtet und dass seine Sehnsüchte weit darüber hinausgehen.15 Der Untertitel (ursprünglich der Haupttitel) des Romans, “Mumien”, macht die große Bedeutung der auftretenden Wachspuppen zusätzlich klar. Dass der Untertitel sich auf diese bezieht, geht unter anderem aus Ottomars Bezeichnung seiner Wachspuppen als “die wächsernen Mumien”16 hervor. Das Wort “Mumien” stammt übrigens aus dem Persischen und bedeutet “Wachs”, da die persischen und babylonischen Völker wichtige Tote mit Wachs überzogen. In Hesperus oder 45 Hundsposttage. Eine Lebensbeschreibung (1795, Niederschrift ab 1792) wird der Protagonist Viktor in Wachs abgebildet; dies macht ein gerade aus Scheerau angereister Wachsbossierer, der dort 11
Jean Paul verarbeitete in seinem Werk auch andere künstliche Menschen wie z.B. Maschinenmenschen, Marionetten und Holzpuppen, die in diesem Rahmen unberücksichtigt bleiben müssen. Vgl. für eine Analyse zum Beispiel Sauer: Marionetten, Maschinen, Automaten. 12 Max Kommerell: Jean Paul. Frankfurt am Main 31957. S. 304. 13 Bd. 1. S. 321. Dieses Zitat und alle weiteren Romanzitate entstammen der Ausgabe: Jean Paul. Werke. Hg. von Norbert Miller. Mit einem Nachwort von Walter Höllerer. München 1960. 14 Ebd. S. 420. 15 Vgl. dazu auch Jean Pauls “Vorrede zur zweiten Auflage”, in der er alle “Bilder des irdischen Vorüberfliegens und Verstäubens” in seinem Roman hervorhebt. 16 Miller: Jean Paul. Bd.1. S. 420.
109 Wachspuppen von Reichsständen und Gelehrten – also vom Hof abhängigen Berufstätigen – hergestellt hatte. Aufs Neue entsteht eine negative Verbindung zwischen Hof und Wachs: Wer in Wachs abgebildet ist, ist abhängig, unfrei und der feudalen Willkür unterworfen. So wie Gustav in der Unsichtbaren Loge ängstigt Viktor sich vor Wachspuppen und vor dem Wachsbossierer. Dieser sei ein “Menschen-Zimmermeister, der uns mit schauerlichen Widerscheinen unsers kleinen Wesens umringt.”17 In seinem Leben am Flachsenfinger Hof kommt Viktor sich danach immer mehr als hohl und tot vor und hält vor dem “Wachs-Viktor”18 schließlich eine Leichenrede auf sich selbst. Auch in Titan (1800–1803, Niederschrift 1797–1802) steht ein Hof im Mittelpunkt. In einer wichtigen Szene entlarvt der Erzieher des jungen Albano, Schoppe, die Hohlheit am Pestitzer Hof, indem er einen festlichen Maskenball mit einem mechanischen Holzpuppenkasten nachahmt. Dadurch durchschaut Albano den realen Maskenball plötzlich: Er sieht ein “hüpfende[s] Wachsfigurenkabinett”, das “die Einsamkeit des Menschen zu verdoppeln”19 scheint. Der “wächserne” Hof ist auch in diesem Fall eine moralische und existenzielle Gefährdung des Protagonisten, der wie Gustav und Viktor im Laufe der Zeit immer mehr unter Druck gerät. Dies wird dadurch unterstrichen, dass Albano im Palast, in dem er aufgewachsen ist, eine Wachsabbildung von sich findet, was ihn ängstigt.20 Sein Erzieher Schoppe hält die Wachsfigur gleichfalls für bedrohlich; er betrachtet sie als eine “Maschine”,21 die Albano determiniert und im negativen Sinne beeinflusst. Schoppe wird später mehrmals mit einem Wachsfigurenkabinett konfrontiert, deren Gestalten ihn rufen und unter denen er dann auch sich selbst “bossiert und poussiert”22 antrifft. Er wird allmählich geisteskrank und stirbt.23 Alles in allem artikulieren die drei Romane eine umfassende Kritik am Feudalismus und an der Hofwelt. Jedes Mal wird die traditionelle, vorbarocke Verbindung von Wachs und Tod bemüht, um dieser Kritik Ausdruck zu verleihen. Bekanntlich interessierte Jean Paul sich sehr für die Französische Revolution, obwohl er kein Befürworter eines revolutionären Umsturzes war und eher utopisch als konkret politisch dachte. Dies kann ein zusätzlicher Grund für den Autor gewesen sein, den Hof mit Wachs und Tod in Zusammenhang zu bringen, da man sich die Wachsmasken adliger Guillotinierter
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Miller: Jean Paul. Bd. 1. S. 711. Ebd. S. 768. 19 Ebd. Bd. 3. S. 244. 20 Ebd. S. 671. 21 Ebd. S. 703. 22 Ebd. S. 766. 23 Vgl. für kurze Analysen der Wachspuppen in der Unsichtbaren Loge, Hesperus und Titan auch Sauer: Marionetten. S. 93ff. 18
110 nicht nur in Pariser Wachsfigurenkabinetten, sondern auch in Wanderausstellungen in Deutschland anschauen konnte.24 Darüber hinaus findet sich in diesem Wachspuppenmotiv Jean Pauls eine Kritik an allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Hofwelten in Die unsichtbare Loge, Hesperus und Titan werden als materialistisch, kalt und berechnend dargestellt. Sie ähneln großen, seelenlosen Maschinen, in denen die Menschen zu Rädchen reduziert sind, und die die männlichen Hauptpersonen jedes Mal ernsthaft gefährden. Damit scheint eine Furcht vor dem fortschreitenden Modernisierungsprozess ausgesprochen zu werden, einem Prozess, in dem das Nützlichkeits-, Markt- und Popularisierungsdenken zunahm und auch der sich erweiternde literarische Markt nach kommerziellen Prinzipien organisiert wurde. Jean Paul lässt sich somit als Teil der neuen kulturtragenden Schicht auffassen, die sich von dieser Kommerzialisierung und Demokratisierung abgrenzte, und die romantische Lösung wählte: den kritischen Rückzug, wobei die Phantasie im Vordergrund steht und Kunst als Freiraum innerhalb der Gesellschaft erscheint. Nicht umsonst gelingt es den Protagonisten Gustav, Viktor und Albano in den drei Romanen, dem Hof und ihren Wachsabbildungen25 zu entkommen – während Freunde wie Ottomar und Schoppe untergehen – und eine utopische Welt in Form einer Insel oder eines arkadischen Ortes zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist das Geschlecht der Protagonisten und Wachspuppen wichtig. Obwohl einige weibliche Wachsfiguren vorkommen, konzentrieren sich die Romane völlig auf die männlichen Hauptpersonen und ihre Wachsimitationen. Die unsichtbare Loge, Hesperus und Titan stellen Jungen und junge Männer dar, die heranwachsen und in den Gefahren des Lebens ihren Weg finden müssen. In diesem Sinne sind sie Erziehungs- und Bildungsromane, die von werdender Männlichkeit handeln. Sie untersuchen die Frage, wie es gelingen kann, Mann zu werden und sich als männliches Subjekt zu behaupten. Eine wichtige Funktion der Wachspuppen ist dabei erstens, den jungen Mann auf Vergänglichkeit, ewiges Leben und höhere Werte hinzuweisen. Zweitens ist der Aspekt der Imitation bedeutsam. Die Protagonisten müssen ihre Wachsabbildungen überwinden, weil die Wachspuppe das Ich ersetzt: Eine Wachspuppe zu sein, heißt machtlos und unterworfen sein, sie
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Dies galt auch für guillotinierte Revolutionäre. Z. B. wird in Friedrich Launs Novelle Die Wachsfigur eine Wanderausstellung von Wachsfiguren in München beschrieben, auf der u.a. die Totenmaske oder Gestalt Robespierres zu sehen ist. Die Novelle ist aufgenommen in der Anthologie Die lebendige Puppe. Erzählungen aus der Zeit der Romantik. Hg. von Rudolf Drux. Frankfurt am Main 1986. S. 133–174, hier S. 139. 25 Die Gefährdung des männlichen Ichs wird nicht nur durch Wachspuppen, sondern u.a. auch durch Spiegel und Doppelgänger symbolisiert.
111 symbolisiert eine Kastration.26 Auf diese Weise thematisieren die Wachspuppen in Jean Pauls Romanen eine Problematik der Romantik die der männlichen Identität und männlichen Selbstbehauptung in einem zugleich als absolutistisch und modern-materialistisch verstandenen Zeitalter. Im 19. Jahrhundert nahm die Wachspuppe als Artefakt nach wie vor an Kommerzialisierungs- und Popularisierungsprozessen teil. Nachdem sie auch bei breiteren bürgerlichen Schichten in Form von Gesichtsreliefs, Miniaturen u.ä. eingezogen war, wurde sie alsbald vom neuen Medium der Fotografie verdrängt. Dagegen wusste sie sich im Wachsfigurenkabinett zu behaupten, wenngleich sie dort eine ähnliche Statusverschiebung und Popularisierung erlebte. Wachsfigurenkabinette waren im 19. Jahrhundert zu einem bekannten Vergnügen für die großen Massen geworden, die in einer einfacheren Fassung ebenfalls fester Bestandteil von Jahrmärkten waren. In diesem Kontext überlebte die Wachspuppe, auch in der Imagination. Im 20. Jahrhundert entstanden viele Texte und Filme, in der Wachsfigurenkabinette eine Rolle spielten. Was die Moderne betrifft, ist etwa Gustav Meyrinks 1907 erschienenen Erzählband Das Wachsfigurenkabinett. Sonderbare Geschichten interessant, wovon die Titelgeschichte im Schaubudenmilieu spielt. Ein anderes Beispiel ist der Stummfilm Das Wachsfigurenkabinett (1924) von Paul Leni, wofür Henrik Galeen das Drehbuch schrieb. Das Element des Gruselns bzw. Horrors, also die bekannte Ambivalenz von Tod und Leben, ist dabei meistens wesentlich.27 Auffällig ist indes, dass die Wachspuppe ab dem Ende des 19. Jahrhunderts – also als sie ihren Platz in den Bürgerhäusern endgültig verloren hatte – eine neue Funktion bekam, indem sie in den Geschäften als Schaufensterpuppe erschien.28 Seit den 1870er Jahren stellte der Franzose Fred Stockman als einer der ersten Schaufensterpuppen her, mit dem Ziel, diese so menschenähnlich wie möglich zu machen. Anf änglich waren nur die Gesichter und Hände aus Wachs, doch wurde die Schaufensterpuppe durch die Modeveränderungen nach 1900 zunehmend eine vollständige Wachspuppe. Alsbald wurde sie kommerziell 26 Mit Bezug zu den Wachspuppen spielen andere philosophische und literaturtheoretische Aspekte auch eine Rolle. Auffällig sind etwa Jean Pauls Kritik an der idealistischen Philosophie bzw. der Mächtigkeit des Subjekts und der geistigen Kraft sowie seine kritische Distanz zur romantischen “Nachtseite” – dem Gruseligen, Geheimnissvollen –, die von den Wachspuppen repräsentiert wird. 27 Vgl. ferner z.B. Ernst Bloch: Leib und Wachsfigur. In: ders.: Fabelnd denken. Essayistische Prosa aus der “Frankfurter Zeitung”. Tübingen 1997. Was Filme anbetrifft, ist außerhalb Deutschlands The mystery of the wax museum (1933) des Amerikaners Michael Curtiz (Drehbuch von Don Mullally) ein berühmtes Beispiel. 28 Vgl. u.a. Tag Gronberg: Beware beautiful women. The 1920s shopwindow mannequin and a physiognomy of effacement. In: Art History 20 (1997). H. 3. S. 375–397; Nichole Parrot: Mannequins. London – New York 1982; Sara K. Schneider: Vital mummies. Performance design for the show-window mannequin. New Haven – London 1995.
112 produziert; am berühmtesten für seine Modelle war der Franzose VictorNapoléon Siégel, der in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit Stockman fusionierte und unter anderem Fabriken in Madrid, New York, Kopenhagen und Amsterdam besaß. Freilich blieb es ein Problem, dass die Puppen sehr schwer waren – circa 100 bis 130 Kilo, so dass man sie bei der Dekoration von Schaufenstern nicht leicht umplatzieren konnte. Ferner brachen vor allem die Finger sehr leicht ab, und bei starkem Sonnen– oder Lampenlicht fingen die Puppen zu schmelzen an. Trotzdem, und trotz der Konkurrenz von neuen Materialien nach dem Ersten Weltkrieg, blieb Wachs in der Zwischenkriegszeit für Schaufensterpuppen das beliebteste Material. In Berlin zog die wächserne Schaufensterpuppe um 1900 ein. Eine wichtige Voraussetzung dafür war, dass man damals angefangen hatte, Passagen und Kaufhäuser zu bauen. Zu den frühesten Berliner Passagen gehörten die Kaisergalerie (1871–1873 erbaut) und die Lindengalerie (1891–1892 erbaut). Die ersten Kaufhäuser entstanden kurz nach 1900 am Leipziger Platz und am Wittenbergplatz, 1907 wurde das Kaufhaus des Westens in der Tauentzienstraße erbaut.29 Diese offensive Zurschaustellung von Waren, die Verführung zum Konsum, war neu. Deshalb verwundert es nicht, dass dies die Imagination anregte, wobei die Wachspuppen in den großen Schaufenstern besonders viel Aufmerksamkeit auf sich zogen. Obwohl es natürlich auch männliche Schaufensterpuppen gab, galt die Aufmerksamkeit vor allem den weiblichen Puppen. Außerdem ist zu betonen, dass die weibliche Einbildungskraft sich zwar mit Wachspuppen beschäftigte – die neue Schaufensterkultur war auch deshalb so erfolgreich, weil es die neue Zielgruppe der weiblichen Berufstätigen gab –, sie aber an erster Stelle Objekt der männlichen Faszination waren. Jean Paul hatte sich hauptsächlich auf männliche Wachspuppen gerichtet, weil er die männliche Ich-Werdung und die männliche Selbstbehauptung problematisierte. Dagegen war im Denken der Moderne das Weibliche zunehmend ein bedrohlicher Faktor geworden, was unter anderem auf weibliche Wachspuppen projiziert wurde. Exemplarisch hierfür sind unter anderem die Texte Walter Benjamins, insbesondere das Passagen-Werk. Anhand dieser Schriften soll hier ein assoziativer Gedankenkomplex aufgezeigt werden, von dem viele Elemente ebenfalls bei anderen Schriftstellern zu finden sind. Im Passagen-Werk wird die Passage als Symbol für die moderne, Waren produzierende und konsumierende Kultur betrachtet. Wesentlich ist meines Erachtens, dass die Passage für Benjamin in mehreren Hinsichten weiblich 29
Vgl. Annelie Lütgens: Passantinnen/Flaneusen. Frauen im Bild großstädtischer Öffentlichkeit der Zwanziger Jahre. In: Die Neue Frau. Herausforderung für die Bildmedien der Zwanziger Jahre. Hg. von Katharina Sykora, Annette Dorgerloh, Doris Noell-Rumpeltes und Ada Raev. Marburg 1993. S. 107–118; Schaufenster. Die Kulturgeschichte eines Massenmediums. Hg. von Tilman Osterwold. Stuttgart 1974.
113 konnotiert ist. So ist er gefesselt von der Vertauschung von Exterieur und Interieur bei Passagen, sie erinnern ihn an “Häuser oder Gänge, welche keine Außenseite haben – wie der Traum”.30 Eine solche Assoziation weist eine Furcht vor Gefangensein, vor labyrinthischem Herumirren auf. Da das Interieur, das Haus, traditionell der weibliche Bereich ist, schwingt hier auch eine Furcht, vom Weiblichen gefangen zu werden, mit. Diese Verbindung wird zum Beispiel expliziter artikuliert in einer Bemerkung über die Ähnlichkeit von Passagen mit den “Hallen, in denen man Radeln lernte. In diesen Hallen nahm das Weib seine verführerischste Gestalt an: als Radlerin.”31 Zudem wird in diesem Zitat die sexuelle Seite von Weiblichkeit hervorgehoben. Wie sehr Weiblichkeit und Sexualität bei Benjamin verschmelzen, geht – wie bekannt – aus seiner Faszination für Prostituierte hervor. Nun würde man Prostituierte dem Passagen-Werk zufolge, genau wie weibliche Wachspuppen, speziell in Passagen finden. So liest man über erstere: Die Passage ist nur geile Straße des Handels, nur angetan, die Begierden zu wecken. Es ist darum gar nicht rätselhaft, daß die Huren sich ganz von selber dahinein gezogen fühlen. Weil nun in dieser Straße alle Säfte stocken, wuchert die Ware an den Häuserfronten und geht neue und phantastische Verbindungen, wie die Gewebe in Geschwüren ein.32
Über die Schaufensterpuppen heißt es beispielsweise: “Sie sind die wahren Feen dieser Passagen – käuflicher und gebrauchter als die lebensgroßen”.33 Das bedeutet, dass die Passage mit käuflicher und bedrohlicher – man denke an die “stockenden Säfte” und “Gewebe in Geschwüren”, die auf Impotenz und tödliche Krankheit verweisen – Weiblichkeit verbunden ist, wobei die Schaufensterpuppen noch käuflicher sind als die lebendigen Frauen. Das Wort “Feen” bedeutet in diesem Kontext dann auch nicht Harmlosigkeit. Solche Puppen tragen ja Modekleidung, und Mode sei “die Parodie der bunten Leiche, Provokation des Todes durch das Weib”.34 Besonders in Passagen funktioniere die Mode als der “Umschlageplatz zwischen Weib und Ware – zwischen Lust und Leiche”.35 Und damit ist der Kreis geschlossen und ist man wieder beim Ausgangspunkt der Passage als Symbol für die Waren produzierende Kultur. Im Passagen-Werk findet sich somit ein kompliziertes Knäuel, dessen Fäden “Passage”, “Interieur”, “Weiblichkeit”, “Wachspuppe”, “Mode”, “Ware”, “Begierde”, “Hure”, “Angst” und “Tod” heißen. Dieser fast als 30
Bd. 1. S. 513. Dieses Zitat und alle anderen Zitate entstammen der zweibändigen Suhrkamp Taschenbuchausgabe von 1982. NF 200. 31 Ebd. S. 111. 32 Bd. 2. S. 993. 33 Ebd. S. 847, vgl. auch S. 1045. 34 Bd. 1. S. 111. 35 Ebd. vgl. auch Bd. 2. S. 1000.
114 klassisch-männlich zu bezeichnende Problemkomplex prägt Benjamins Passagen-Werk und zeigt eine zugleich als faszinierend und bedrohlich empfundene Weiblichkeit sowie eine tiefe Verunsicherung des männlichen Ichs.36 Bei anderen Literaten trifft man auf eine ähnliche Obsession. Ludwig Sternaur zum Beispiel erwähnt die Verbindung von weiblicher Schaufensterpuppe, Verführung, Sexualität und Tod in seinem Artikel “Puppen wie Du und ich” (1932/33). Darin schreibt er: Man darf ihnen nicht zu nahe treten, sich nicht mehr an sie verlieren, als der flüchtige Augenreiz, den sie gewähren (…). Es sind tote Puppen und bleiben es und Galathee mag in ihrer rosigen Frische und in ihrem Spitzenflitter noch so verführerisch lächeln, kein Pygmalion wird sie, auch mit heißesten Küssen nicht, zum Leben erwecken.37
In diesen Sätzen tritt besonders stark ein Gefühl männlicher Machtlosigkeit und weiblicher Unnahbarkeit und Dominanz hervor. Mit etwas mehr Distanz schreibt Franz Hessel in seinem Artikel “Eine gef ährliche Straße” (1929), der von einer Besichtigung der Berliner Schaufensterpuppenfabrik Edmund Böhm & Co. berichtet: “Mit spitzen Mündern fordern sie Dich heraus, schmale Augen ziehen sie, aus denen der Blick wie Gift tropft.” Die weiblichen Puppen würden “eine kühle Mischung von Frechheit und Distinktion” besitzen, “der Du Armer nicht wirst widerstehen können. Alle verachten sie uns Männer furchtbar. Sie bestaunen nicht, was so ein Mann alles, alles denken kann. Sie durchschauen uns”.38 Obwohl Hessel einen ironischen Stil verwendet, schwingt auch hier die Furcht vor einem Verlust männlicher Superiorität und ein Unbehagen an einer als abschreckend erfahrenen Weiblichkeit mit. In der männlichen Imagination vereinigt die weibliche Wachspuppe viele Dichotomien in sich, wodurch sie ein angstbesetztes Zwitterding wird.39 Sie ist 36
Benjamin sah durchaus die verheißungsvolle Seite der modernen konsumierenden Kultur. Doch sticht in der Kombination mit Weiblichkeit die bedrohende (obgleich faszinierende) Seite hervor. 37 Zitiert nach Katharina Sykora: Auf der Schwelle der Moderne. Osmose von Weiblichkeit und Großstadtraum in der Schaufensterfotografie. In: Feministische Studien.(17) 1999. H. 2. S. 15–31. Hier S. 19. 38 Zitiert nach ebd. S. 27. Sykoras Interpretation, die männliche Irritation sei hier überwunden und der Autor trete wieder als Souverän auf, übersieht meiner Meinung nach das starke Unbehagen, das den Text ebenfalls gestaltet. Vgl. für eine ähnliche Thematisierung männlicher Machtlosigkeit Hessels Erzählung “Pantomime”, in der Colombine ihren Bewunderer Pierrot abweist und einen schönen Jüngling aus Wachs knetet, der dann von Venus lebendig gemacht wird (in: Franz Hessel: Ermunterungen zum Genuß sowie Teigwaren leicht gefärbt und Nachfeier. Kleine Prosa 1926–1933. Berlin 1999. S. 9–14). 39 Dichotomien prägen z.B. auch den anonymen Artikel “Einfach Puppe!” (1932), in der die Hauptfrage ist: “Lebt sie? Oder lebt sie nicht?” (erwähnt in Esther Ruelfs: Mannequin
115 tot und lebendig, kalt und warm, echt und falsch, verführerisch und abstoßend, lockend und bedrohlich, Objekt und mächtiges Subjekt. Dies zeigt das Ausmaß, in dem “the mannequin involved not only economic but also psychic investments.”40 Die Schaufensterpuppen scheinen einerseits die “Neue Frau” zu symbolisieren, andererseits die weiblich konnotierte Großstadt, vor allem in ihren negativen Facetten: In vielen zeitgenössischen Texten werden Kälte, Werteverlust, Sittenlosigkeit, Kommerzialisierung, Masse, Chaos usw. thematisiert.41 Das alles erf ährt das männliche Subjekt als das “Andere” und somit Weibliche, was ihn als Subjekt und in seinen traditionellen Auffassungen von Männlichkeit bedroht. Die Wachspuppe hat als Artefakt also eine rasante Entwicklung im Kontext des Modernisierungsprozesses durchgemacht, wobei Merkmale wie Demokratisierung und Kommerzialisierung hervorstechen. Anhand einiger Textbeispiele wurde dargelegt, dass sie in der männlichen Imagination gleichfalls mit solchen – und anderen – Merkmalen behaftet auftaucht. Die Autoren zeigen sich namentlich beunruhigt durch den Männlichkeitsverlust, der in ihren Augen damit einhergeht. Sowohl bei Jean Paul als auch in der Moderne funktioniert das Wachspuppenmotiv in diesem Rahmen. Es wird dafür eingesetzt, Authentizität, Freiheit, (Geschlechter-)Normen sowie den Kampf um das Subjekt-Sein zur Sprache zu bringen. Diese Begriffe werden männlich definiert, denn in beiden Fällen wird um das Überleben des männlichen Subjekts gebangt. Bei Jean Paul symbolisierte die Wachspuppe das machtlose Selbst: machtlose, kastrierte Männlichkeit. In der Moderne symbolisiert sie die mächtige Andere: mächtige, dominante Weiblichkeit. Die Wachspuppe ist somit viel mehr als “Einfach Puppe!”, wie der Titel eines anonymen Artikels aus dem Jahre 1932 lautete.42 In beiden Fällen wird versucht, Männlichkeit zu definieren und zu produzieren, entweder direkt, oder indirekt über das Weibliche. Wo dies bei Jean Paul noch durch ein Entweichen zu arkadischen Orten gelang, scheint man in der Moderne in eine Sackgasse, eine Benjamin’sche Passage, geraten zu sein.
oder Model? In: Puppen Körper Automaten. Phantasmen der Moderne. Hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora. Köln 1999. S. 336–337) sowie Karl Schenker: Mannequins oder Wachspuppen? (1925), zitiert in Sykora: Schwelle der Moderne. S. 23–24). 40 Gronberg: Beware beautiful women. S. 391. 41 Eine Verbindung von Masse und dem “Girl”, das gerade wegen ihres massenhaften Auftretens faszinierte, findet sich z.B. in Fritz Gieses: Girl-Kultur. München 1925. Vgl. für eine Geschlechteranalyse von Masse u.a. Bernd Widdig: Männerbünde und Massen. Zur Krise männlicher Identität in der Literatur der Moderne. Opladen 1992. 42 Bernd Widdig: Männerbünde und Massen.
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Annette Bühler-Dietrich
Zwischen Belebung und Mortifizierung: Die Puppe im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé Doll and puppet are recurrent motifs in Rilke’s oeuvre. In his letters to Lou AndreasSalomé as well as in his literary works around 1914, dolls figure literally and metaphorically. Initially, they are the topic of Rilke’s 1914 essay “Dolls”, an essay that sets out to pay tribute to the doll maker Lotte Pritzel’s wax dolls. Yet, when Rilke turns to childhood memory, the memory of dolls turns out to stand in for a repressed memory of sexuality, the body, and maternal relations. In his letters to Lou Andreas-Salomé, this condensation of affects in the doll becomes more distinct. Delineating the function of dolls in Rilke’s writing, this article also discusses the dynamics of Rilke’s correspondence as well as the famous cooperation between puppet and angel in the fourth Duino Elegy.
Das Motiv der Puppe gehört zu den wichtigen wiederkehrenden Motiven im Werk Rilkes. Mit der Niederschrift des Aufsatzes “Puppen: Zu den Wachspuppen von Lotte Pritzel” und der vierten Duineser Elegie findet es im Zeitraum 1914–1915 besondere Aufmerksamkeit. Auch im Briefwechsel zwischen Rilke und Lou Andreas-Salomé erscheint in diesen Jahren das Bild der Puppe wiederholt. Das Motiv der Puppe im Werk Rilkes wurde bereits verschiedentlich von der Forschung behandelt.1 Hier ermöglicht es die Analyse des Briefwechsels, die Puppe als Ort wechselnder Funktionalisierungen und Besetzungen zu beleuchten. Dabei führt die Interferenz des Briefwechsels mit den literarischen Arbeiten Rilkes zu folgenden Schwerpunkten: 1. Die Puppe: Anrede als orientierende Wiederholung. 2. Der Leib als Puppe. 3. Die Puppe als Objekt der Furcht. Da die Puppe im Werk Rilkes mit Marionette und Engel kontrastiert, werde ich dieses Bezugsfeld in einem vierten Punkt analysieren. Im Aspekt der Belebung des unbelebten Puppenkörpers scheinen in Rilkes Konstruktion der Puppe Remineszensen des Pygmalion-Mythos auf. In der Verschiebung der Belebung von der Puppe zur Briefpartnerin Lou AndreasSalomé wird die Puppe sprachbegabt. Weibliche Sprache entsteht jedoch als Echo des männlichen Sprechers und wird als eigenständige nur eingeschränkt wahrgenommen. Damit wird schließlich die Frau mortifiziert. Gleichzeitig 1
Siehe dazu Jakob Steiner: Das Motiv der Puppe bei Rilke. In: Kleists Aufsatz über das Marionettentheater. Studien und Interpretationen. Hg. von Helmut Sembdner. Berlin 1967. S. 132–170, und Anthony Stephens: Rilkes Essay “Puppen” und das Problem des geteilten Ich. In: Rilke in neuer Sicht. Hg. von Käte Hamburger. Stuttgart 1971. S. 159–172.
118 bleibt auch der männliche Sprecher von der Trennung von Sprache und Körper affiziert, indem ihm selbst die Einheit beider verloren geht.2
I. Die Puppe: Anrede als orientierende Wiederholung Im März 1914 erscheint Rilkes Aufsatz über die Wachspuppen Lotte Pritzels, die er im Jahr zuvor in einer Münchner Ausstellung betrachtet hatte. Diese feingliedrigen Künstlerpuppen mit der “an Beardsley erinnernde[n] Physiognomie”3 bilden jedoch nur Anlass und Rahmen des rilkeschen Textes. Ausgehend von den Wachspuppen, die “dem Einsehen, der Teilnehmung, der Lust und dem Kummer des Kindes entwachsen”4 sind, wendet sich Rilke in “Puppen” den Kinderpuppen und dem Verhältnis des Kindes zur Puppe zu, das er vom Verhältnis zu den Dingen unterscheidet.5 Denn Kind und Puppe bewegen sich in einem Kraftfeld, das von Ermächtigung, Bemächtigung und Angst strukturiert ist und in dem der Moment der Trennung Liebe in Hass umwandelt. Der einfachste Verkehr der Liebe ging schon über unsere Begriffe hinaus, mit einer Person, die etwas war, konnten wir unmöglich leben und handeln, wir konnten uns höchstens in sie hineindrücken und in ihr verlorengehen. Der Puppe gegenüber waren wir gezwungen, uns zu behaupten, denn wenn wir uns an sie aufgaben, so war überhaupt niemand mehr da. Sie erwiderte nichts, so kamen wir in die Lage, für sie Leistungen zu übernehmen, unser allmählich breiteres Wesen zu spalten in Teil und Gegenteil, uns gewissermaßen durch sie die Welt, die unabgegrenzt in uns überging, vom Leibe zu halten. (Puppen S. 4: 687–688)
In der Konstellation von Kind, Puppe, Person, Welt und Leib ist es die Puppe, die den Abstand zwischen Kind und Leib auf der einen, Person und Welt auf der anderen Seite schafft. Statt des drohenden Verlusts des Noch-Nicht-Ich im menschlichen Gegenüber – ein Zustand, den Kristeva für die Zeit vor und noch während des Spiegelstadiums benennt6 – ermöglicht die Puppe die 2
Zum Verhältnis von Sprache, Körper und Geschlecht als seit dem 18. Jahrhundert virulente Problemkonstellation siehe Gerhard Neumann: Pygmalion. Metamorphosen des Mythos. In : Pygmalion. Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur. Hg. Von Mathias Mayer und Gerhard Neumann. Freiburg 1997. S. 11–60. 3 Wilhelm Michel: Puppen von Lotte Pritzel. In: Deutsche Kunst und Dekoration 27 (Okt. 1910–März 1911). S. 329–338, hier S. 329. 4 Rainer Maria Rilke: Puppen. Zu den Wachspuppen von Lotte Pritzel. In: Werke: Kommentierte Ausgabe in 4 Bdn. Hg. von Manfred Engel, Ulrich Fülleborn, Horst Nalewski und August Stahl. Bd. 4: Schriften zur Literatur und Kunst. Hg. von Horst Nalewski. Darmstadt 1996. S. 4: 685–692, hier S. 685. Hinfort zitiert mit “Puppen” im Text. 5 Zu Rilkes Wahrnehmung der Dinge siehe Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes. In: Rilke in neuer Sicht. Hg. von Käte Hamburger. Stuttgart 1971. S. 83–157. 6 Siehe dazu Julia Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. Paris 1983.
119 Konstituierung des Subjekts in der Veräußerung. Als nicht selbst signifizierender Körper wird die Puppe zum Ersatzleib des Kindes, an dem Welt ausagiert wird, so dass das Kind trotz der Spaltung in Teil und Gegenteil intakt bleibt. Als bedeutungsleerer Körper aber wird die Puppe zum Reagenzglas der Welterfahrung: Wie in einem Probierglas mischten wir in ihr, was uns unkenntlich widerfuhr, und sahen es dort sich färben und aufkochen. Das heißt, auch das erfanden wir wieder, sie war so bodenlos ohne Phantasie, dass unsere Einbildung an ihr unerschöpflich wurde. (Puppen S. 4: 688)
Erst im Medium der Puppe wird Welt zu einem Erkennbaren. Hierin ist die eine Konnotation der Puppe bei Rilke benannt: Sie ist Medium der Erkenntnis des Ich und der Welt, eine Bedeutung, die Rilke in “Laß dir, daß Kindheit war” wieder aufnimmt, wenn er schreibt: Stunden geständigen Spiels, da das Kind an dem neidlos drüben geschaffenen Du sich erprobte und abhob – und sich erfuhr, seine Kräfte an zweie verteilend, seinen ihm selber so neuen nachwachsenden Vorrat.7
Die Puppe als neidloses Du, als Du ohne Begehren,8 ermöglicht eine Anrede im Dienste der Orientierung.9 Diese Funktion aber erfüllen auch die Briefe an Lou Andreas-Salomé. Sie sind “mein erster Versuch, zur Besinnung zu kommen –”,10 von Lou Andreas-Saloméerwartet Rilke, dass sie Deutliches erkenne, Ordnung, Sinn in seinen Gedanken schaffe,11 denn “Du weißt und begreifst” (LAS S. 336). Die erklärenden, seit 1911 psychoanalytisch informiertenBriefe Lou AndreasSalomés leisten in ihrer Analyse von Form und Inhalt der Rilke’schen Briefe eben diese erwartete Ordnung und Orientierung – jedoch ohne dass sie Rilkes Situation ändern.12 Indem Lou an den Anfang ihrer Briefe die affektive Reaktion stellt, den
7 Rilke: Laß dir, daß Kindheit war. Werke. Bd. 2: Gedichte 1910–1926. Hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn. S. 186–187 und S. 578–579 (Entwurf), hier S. 2: 578. Rilke schreibt die Kindheitselegie zur Zeit der Wiederveröffentlichung des “Puppen” ’-Aufsatzes, woher sich die Wiederaufnahme des Motivs ableiten mag. 8 In “neidlos” echot noch die “Neigung”, die zwei Zeilen vorher im Gedicht erwähnt ist: “nein: mit der Neigung des Kinds, mit dem, was es annahm.” Rilke: Laß dir, S. 2: 578. 9 “Wir orientierten uns an der Puppe.” Rilke: Puppen S. 4: 690. 10 Rainer Maria Rilke / Lou Andreas-Salomé: Briefwechsel. Hg. von Ernst Pfeiffer 2. Aufl. Frankfurt/M. 2001. S. 322. Hinfort zitiert mit der Sigle LAS. 11 Vgl. LAS S. 329 und “siehst Du meinem Geschreibe irgendwas Deutlichers an, so, bitte, rathe.” LAS S. 348. 12 “[K]önnt ich’s nur von Dir aus sehen eine Sekunde”, (LAS S. 336) antwortet Rilke auf Lous Analyse seiner Situation vom 27. Juni 1914 (LAS S. 334–336).
120 Brief Rilkes als nährende Frucht ergreift13 oder zu Tränen veranlasst wird (LAS S. 326),14 hebt sie eine leibhafte Reaktion hervor, in die sie die intellektuelle Antwort einbettet. Obwohl sie Rilke derart als erwiderndes Du gegenübertritt und eben nicht als stumme Puppe, bringt die affektive Unterordnung unter die Worte Rilkes jenen Effekt des im Reagenzglas kenntlich Werdenden hervor. So sind die Briefe Lou Andreas-Salomés aus diesem Zeitraum die Metaebene zu Rilkes Briefen, doch ohne dass er in seinen Antworten darauf Bezug nähme.15
II. Der Leib als Puppe Auffallend ist die in sich widersprüchliche Bestimmung der Puppe im “Puppen”Aufsatz. Erfüllt sie in der oben benannten Funktion die in der Subjektwerdung nur durch sie leistbare Aufgabe der Orientierung, die feindliche Außenwelt vom Leib haltend, so ist sie im Rückblick nichts als ein “Fremdkörper”: Wenn man sich dieses alles gegenwärtig machte und man fände im selben Augenblicke – sie unter einem Haufen teilnahmsvollerer Dinge hervorziehend – eine unserer Puppen: sie würde uns fast empören durch ihre schreckliche dicke Vergeßlichkeit, der Haß, der, unbewußt sicher immer einen Teil unserer Beziehungen zu ihr ausmachte, schlüge nach oben, entlarvt läge sie vor uns da, als der grausige Fremdkörper, an den wir unsere lauterste Wärme verschwendet haben; als die oberflächlich bemalte Wasserleiche […]. (Puppen S. 4: 687)
Diese Verurteilung der Puppe im Konditionalis ist nur möglich aufgrund der “Vergeßlichkeit” der Puppe, eines “Verrats”, der sie unheimlich macht. In ihrer scheinbaren Vergesslichkeit deutet sie auf die Kehrseite der Deckerinnerung hin. Dies führt zu einer zeitlosen Furcht, mit der die Puppe besetzt ist. Nicht argumentativ einholbar, erschüttert sie die Ebene der Artikulation selbst: “Daß wir dich dann aber doch nicht zum Götzen machten, du Balg, und nicht in der Furcht zu dir untergingen, das lag daran, will ich dir sagen, daß wir dich gar nicht meinten” (Puppen S. 4: 690). In der Satzbewegung wiederholt sich der Prozess der Abgrenzung, in welchem aus dem “Wir” das “Ich” emphatisch heraustritt. In der direkten Anrede der Puppe, die auf ihre Hülle reduziert ist, äußert sich der zuvor nur hypothetische Hass vor dem “grausigen Fremdkörper”. Dass im Kern dieses Umschlags von Liebe in Hass die Furcht liegt, die die Liebe ersetzt, zeigt sich
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“Lieber Rainer, so nahm ich auf, was heute von Dir kam: wie Jemand einen Obstbaumzweig zu fassen bekommt und die Frucht an die Lippen […].” LAS S. 360. 14 LAS S. 326. 15 Mit Kristeva gesprochen nimmt Lou hier die für den Analytiker bestimmende Position des Vaters der individuellen Vorgeschichte ein und situiert sich damit nicht im Register des Begehrens. Vgl. Julia Kristeva: Freud et l’amour – la malaise dans la cure. In: Histoires d’amour. Paris 1985. S. 31–74.
121 schließlich in der Wortfügung “Furcht zu dir”, die noch die verdeckte Liebe in der Präposition evoziert.16Als “Balg”, “Fremdkörper”, “Wasserleiche”, aus “unzurechnungsfähige[m] Stoffe” (Puppen S. 4: 688) bestehend ist die Puppe aus der Perspektive des Verrats abjekt durch ihre schiere Körperlichkeit. Als toter Körper droht sie, mit ihrer Leblosigkeit das Subjekt zu infizieren (Vgl. Puppen S. 4: 689). “Undurchdringlich” (Puppen S. 4: 685) ist sie ein Körper aus ‘Außen’, der, Einfühlung verunmöglichend, das Subjekt auf sich selbst zurückwirft.17 In den Briefen von 1914 fasst Rilke den eigenen Körper in den Termini der Puppe und macht ihn für seine Verpuppung18 verantwortlich: […] so komm ich mir, so wie ich da stehe, wieder um ein Weiteres schwerer vor, undurchdringlicher, toter. […] Mein Körper ist wie eine Falle geworden, dort wo er früher aufnahm und weitergab, schnappt er zu und schließt ein; eine Oberfläche voller Fallen, in denen gequälte Eindrücke absterben, ein starres unleitendes Gebiet. (LAS S. 339)19
In den Briefen an Lou Andreas-Salomé häufen sich in dieser Zeit Rilkes Klagen über seinen Körper, den er mit diätetischen Maßregeln vergeblich zu beeinflussen versucht (LAS S. 344 ff ), der sich aber als ebenso unzurechnungsfähig und unberechenbar wie die Puppe erweist. Während auf der einen Seite der Körper verpuppt, löst er sich auf der anderen Seite ins ‘Außen’ auf: Ich bin auch so heillos nach außen gekehrt, darum auch zerstreut von allem, nichts ablehnend, meine Sinne gehn, ohne mich zu fragen, zu allem Störenden über […]. (LAS S. 337)20
In einem Zustand, der den früheren ungeschiedenen des “Puppen”-Aufsatzes in seiner negativen Konnotation in der Beschreibung wiederholt, fehlt die Puppe als Drittes, die Welt “vom Leibe” haltend.21 Zu einem Ende kommt dieser Zustand 16 Auch die nicht mehr ins Reine geschriebenen Verse von “Laß dir, daß Kindheit war” benennen das Fremdwerden der Puppe als Verrat im Versagen der lyrischen Sprache: “Aber auf einmal geschiehts … Was? Wann? – Namenlos, Abbruch - / Was? – der Verrat… .” S. 2: 579. 17 Rainer Nägele schreibt dazu: “As mere stuffing, Werg remains pure exteriority even when it is ‘inside’ because it is an unmetaphorized, untransfigured interior.” Rainer Nägele: Puppet Play and Trauerspiel. In: Theater, Theory, Speculation. Walter Benjamin and the Scenes of Modernity. Baltimore 1991. S. 1–17, hier S. 25. 18 Ich verwende den Ausdruck “Verpuppung” im Folgenden für ein Puppe-Werden des Subjekts, ohne die Aufhebung der Verpuppung in der Verwandlung zu implizieren. 19 LAS S. 339. 20 Zu den verschiedenen Weisen des Weltbezugs Rilkes siehe Stephens: Rilkes Essay Puppen. 21 Dieser negativ konnotierten Beziehung zur Umwelt steht das von Rilke gesuchte Eingehen in das dingliche oder kreatürliche Gegenüber entgegen. Siehe dazu Stephens: Rilkes Essay Puppen, und Hamburger: Phänomenologische Struktur.
122 vorübergehend erst, nachdem Rilke die zehnte Duineser Elegie beendet hat: “Jetzt weiß ich mich wieder. Es war doch wie eine Verstümmelung meines Herzens, daß die Elegieen [!] nicht da-waren [!] (idem)” (LAS S. 445). Noch am zeitlichen Anfang der Elegien (s.o.) steht die mit deren Vollendung vorübergehend überwundene Klage: [I]ch kränke mich so unendlich seit ein⬍ig⬎er Zeit, nehm mir alles zu Herzen: es geht ja zum Glück nicht hinein, aber es ist, wie wenn man einer Puppe zu essen giebt, man steckt ihrs nur vors Gesicht, am Ende sieht sie doch ganz satt und überdrüssig aus. (LAS S. 268)
Damit aber lässt sich für Rilke folgende Konstellation ablesen: Indem das Kind sich und die Welt erkennt im Gegenüber der Puppe, konstituiert es sich als Ich. Die Puppe fungiert so als Instanz der Trennung von Noch-Nicht-Subjekt und Noch-Nicht-Objekt und ist damit der Sprache homolog.22 Verschoben auf die Puppe ist aber auch die Abgrenzung von der Mutter. Wie in der Beziehung zwischen Mutter und Kind Nähe in Bedrohung, Liebe inAbwehr, Heimliches in Unheimliches umschlägt, so wird diese Konstellation in der Puppen-Erinnerung im Verhältnis zur Puppe verschoben ausagiert.23 Dass diese Verschiebung stattfindet, belegt die Beschreibung der Mutter, vor der Rilke “graut” und die “selber leer wie ein Kleid, gespenstisch und schrecklich” (LAS S. 146) ist. Lou AndreasSalomé schreibt über die Mutter-Beziehung Rilkes, diesen Brief zitierend: “Sein Abscheu enthielt Verzweiflung durch den Zwang, sich in der Mutter ins höhnisch Verzerrte zu spiegeln.”24 Wie in der Puppenerinnerung kehrt der Aspekt der Verzerrung des Eigenen zum “grausigen Fremdkörper” wieder. An die Stelle des jubilierend aufgenommenen Spiegelbildes der Ermächtigung tritt die erschreckende Fratze, die die Verkennung entlarvt.25 Wenn nun die Puppe von außen nach innen verlagert und, reduziert auf den Aspekt ihrer Stofflichkeit, zur Metapher des Körpers wird, tritt an die Stelle des betrachteten Reagenzglases das Auffüllen des Subjekts mit Werg.26 Diese Erfahrung jedoch kann nicht erinnert werden, die Puppenerinnerung fungiert als Deckerinnerung, auf die die körperliche Erfahrung des Ich-Verlustes verschoben wird. Als Deckerinnerung für die Überwältigung des Subjekts durch 22
Siehe dazu Julia Kristeva: “Noms de Lieu”. In: Polylogue. Paris 1977. S. 467–491. Zu der Abgrenzung von Mutter und Kind, die dem primären Narzissmus vorhergeht und diesen begleitet siehe Kristeva: Pouvoirs de l’horreur. Paris 1980. 24 Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick. 1951. Frankfurt a. M. 1994. S. 137. 25 Zu den Aspekten Ermächtigung und Verkennung siehe Jacques Lacan: Le stade de miroir comme formateur de la fonction du Je. In: Écrits. Paris 1966. S. 93–100. 26 Vgl. LAS, S. 329. Nägele liest die Bemerkung Rilkes im Brief vom 20. Juni 1914 als Acting out im psychoanalytischen Sinne: “The essay leads to a theatrical staging, an unlimited, excessive acting out of a scene in which the subject enters the puppet phase.” Nägele: Puppet Play. S. 24. 23
123 das bedrohliche Abjekte des Körpers und der Mutter stellt sich gleichzeitig in der Verdichtung eine Beziehung zwischen beiden her. Dagegen – und man könnte sagen: deswegen – erinnert Rilke in seinen Briefen auch die Zeiten körperlicher Widerstände verkehrend als Zeiten paradiesischer Einheit mit sich selbst – im Unterschied zu den gerade durchlebten. So schreibt er im Mai 1926 an Marina Zwetajewa, er leide an Unzustimmungen des Leibes, die mich um so ratloser machen, als ich mit ihm, seit einer gewissen Wendung meines Daseins (die, um 1899 und 1900 mit meinem Wohnen in Rußland zusammenfiel), ohne Arzt, in einer so vollkommenen Übereinstimmung zu leben gewohnt war, daß ich ihn oft für ein Kind meiner Seele hätte halten können: leicht und brauchbar, wie er war, und mitnehmbar bis ins Geistigste hinein […].27
Wie in der Wortfügung “Unzustimmungen des Leibes” sichtbar wird, ist es noch hier die fehlende Antwort, die den Leib der Puppe annähert und zum Problem wird. Positionsgleich erlauben die Puppe und die Elegien das Sich-Wissen des Subjekts. Fehlt das Gedicht, wird die feindselige Abgrenzung gegen den verdörrenden Mangel28 auf die Puppe relegiert. Wie das leere Papier hängt sie von Phantasie ab – einer Phantasie, die auch den veräußerten, verstofflichten Körper kartographiert, wie Rilkes Symptome zeigen. Werg und Werk sind so in einer Ersetzungsrelation, die noch das Werk auf seine Materialität zurückführt. Lou Andreas-Salomé konstatiert derart eine Einheit in der Sprache, die sich sonst nur in der Puppe bildet: [S]ondern ebenso fortwährend wie dir schlecht und elend ist, findest Du Äußerungen dafür, die, so wie sie sind, ganz unmöglich sind, ohne daß irgendwo in Dir in eins zusammenliefe, in Ein Erleben, was Du als so getrennt fühlst und auseinandergerissen in Nach-außen-entfliehendes und nach innen Verkrochenes mit leerer, selbstverlassener Mitte dazwischen. Diese Worte die Du davon sprichst […] sind ja nichts anderes als Werk, Werk, Zustandekommen tiefster Einheiten in Dir! (LAS S. 342)
III. Die Puppe als Objekt der Furcht Im dritten der Drei Briefe an einen Knaben, die Lou Andreas-Salomé im Februar 1914 an Rilke sendet, befasst sie sich mit dem Verhältnis von Leib und Seele. Sie spricht vom “Doppelverhältnis zu unserer eigenen Leiblichkeit”,29 27 Marina Zwetajewa: Ausgewähte Werke. Bd. 3: Briefe. Hg. von Edel Mirowa-Florin. Übers. von Monika Tantzscher und Andreas Weihe. München 1989. S. 111. 28 “[E]s ist arg dürr in mir”, schreibt Rilke 1919. LAS S. 381. 29 Lou Andreas-Salomé: Drei Briefe an einen Knaben. In: Das “zweideutige Lächeln der Erotik”: Texte zur Psychoanalyse. Hg. von Inge Weber und Brigitte Rempp. Freiburg i. B. 1990. S. 53–86, hier S. 75.
124 das zuerst mit dem Heranwachsen in der Bemächtigung des eigenen Körpers schwinde, jedoch mit der Entwicklung des Geistigen wieder akut werde Je mehr man ein Ich wird, je gesammelter man sich als ein solches erfaßt, desto mehr ersteht nicht nur die Welt als ein Gegenüber, ein Außerhalb, sondern auch unser eigner Leib wird uns als der unsere in letztem Sinne wieder fragwürdig.30
Dennoch beharrt Andreas-Salomé auf der notwendigen Einheit mit dem Leiblichen, das vom Menschen abgelehnt werde, “weil wir ihn [den Leib, A. B.-D.] nicht tragen wie ein natürliches Gewand um jedes unserer innern Glieder, sondern wie ein Gespenst, das uns auf den Schultern hockt, während unsere Seele friert.”31 Obgleich Rilke auf diese Drei Briefe, die er nach der Abfassung des “Puppen”-Aufsatzes erhält, wiederholt eingeht, kommentiert er den dritten, von Sexualität handelnden Brief nicht.32 Stattdessen echot das Bild des Gespenstes im Antwortbrief an Lou vom 20. Juni 1914, wo es sich als Komplementärgestalt der Puppe erweist: “um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie noch nie, auszuleben: bis einem jeden Morgen der Mund dürr war vom Werg […]” (LAS S. 329). Eine Woche später bezieht Lou ihre Thesen der Drei Briefe direkt auf Rilkes Aufsatz. In einer genauen Überblendung von Rilkes Gedicht “Narziss” und “Puppen” stellt sie die Ersetzungsrelation zwischen Puppe, Spiegelbild und Leib heraus, die in der Ersetzung Puppe-Leib die Briefe Rilkes weiterhin prägt (LAS S. 334–336).33Stellt man noch einmal das Gedicht neben
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Andreas-Salomé: Drei Briefe. S. 85. Andreas-Salomé: Drei Briefe. S. 86. 32 Lou Andreas-Salomé schickt die Briefe am 16. Februar 1914 an Rilke, der am 20. Feb. von der Lektüre berichtet. Der “Puppen”-Aufsatz entstand bereits zu Anfang des Monats. Zu Rilkes Reflexion der Drei Briefe (vor allem des zweiten Briefes) in Rilkes achter Elegie siehe Gerald Stieg: Rivalité entre mère et monde …. Les Trois lettres à une jeune garçon de Lou Andreas-Salomé et les Élégies de Duino de Rilke. In: Rilke et son amie Lou Andreas-Salomé à Paris. Hg. von Stéphane Michaud und Gerald Stieg. Paris 2001. S. 111–126. 33 Lou Andreas-Salomé integriert dieses Gedicht später in ihren Aufsatz “Narzissmus als Doppelrichtung” (1922) und fokussiert dort wie hier das Verhältnis von Allsein und Vereinzelung: “Aber man bedenke, daß der Narkißos der Sage nicht vor künstlichem Spiegel steht, sondern vor dem der Natur: vielleicht nicht nur sich im Wasser erblickend, sondern auch sich als alles noch, und vielleicht hätte er sonst nicht davor verweilt, sondern wäre geflohen? […] Wie dies beides sich bindet in eins: Glück und Trauer, das sich selber Entwendete, das auf sich selbst Zurückgeworfene, Hingegebenheit und eigene Behauptung: das würde ganz zum Bild nur dem Poeten.” Hier erscheint dann in einer Fußnote zum Aufsatz ein Auszug aus Rilkes Gedicht, bei dem Andreas-Salomé aber u. a. die letzte Strophe weglässt. Lou Andreas-Salome: Narzissmus. In: Das “zweideutige Lächeln der Erotik”. S. 191–222, hier S. 197–198. 31
125 den “Puppen”-Aufsatz, so fällt eine weitere sprachliche Beziehung auf: das Verhältnis von Frucht und Furcht. Anagrammatisch zusammengehörend, ist ihre Relation eben eine der Vertauschung. So heißt es: Nachgiebige Mitte in mir, Kern voll Schwäche, der nicht sein Fruchtfleisch anhält. Flucht, o Flug von allen Stellen meiner Oberfläche. […] War dies mein Bild in ihrem Augenscheine? // Hob es sich so in ihrem Traum herbei zu süßer Furcht? Fast fühl ich schon die ihre. Denn, wie ich mich in meinem Blick verliere: ich könnte denken, daß ich tötlich sei.34
In der buchstäblichen Ersetzung von “Frucht” zu “Flucht” zu “Flug” trennt sich das Fruchtfleisch vom lyrischen Ich, das sich nun im Wasser erblickt und daran die zitierten Fragen anschließt. Das Spiegelbild, auf das deiktisch, “dies”, gezeigt wird, verdichtet, was unter dem anfänglichen “dies” der ersten und zweiten Strophe das vom “Kern” Fortstrebende bezeichnet.35 Von der ursprünglichen Frucht behält in diesem Prozess die Furcht nur noch das Epithet “süß”. Am Ende der Veräußerung steht der Blick, der in der Nebeneinanderstellung der Fassungen dem Spiegel (“an meinen Blick”) wie dem Betrachter (“in meinem Blick”) zuordenbar ist. Er ist tödlich/tötlich für das betrachtende wie angeblickte Ich. Der reziproke Blick, der das Eigene unbekannt macht, erzeugt schließlich wie die Puppe Furcht, in der man “untergeht” (vgl. Puppen S. 4: 690), so dass nicht die Puppe, sondern das Subjekt, den Narziss-Mythos erfüllend, als “Wasserleiche” (Puppen S. 4: 687) zurückbleibt. Ins Wortfeld der Furcht gehört differenzierend auch der Begriff der Angst, von der es in der Kindheitselegie heißt: Aber die Angst! Sie erlernt sich auf einmal im Abschluß, den das Menschliche schafft, das undichte. […] Vom Rücken huscht sie es an überm Spielen, das Kind, und zischelt Zwietracht ins Blut […]36
34 Rilke: Narziss. In: Werke, S. 2: 56. Die Fassung in LAS, S. 287–288 bietet in den letzten Zeilen Varianten: “denn wie ich mich an meinen Blick verliere, / ich könnte denken, daß ich tötlich sei.” LAS, S. 288. Da Rilke hier statt ‘tödlich’ “tötlich” setzt, kann auch das Ich dem Tod anheim gegeben, tödlich, sein. 35 Das Gedicht wechselt vom umarmenden Reim der Strophen 1–3 und 7 zum Kreuzreim in 4–6, der mit seinen Enjambements eine Bewegung des Auseinanderbrechens aufzeigt, die der umarmende Reim der letzten Strophe nur scheinbar bewältigen kann. 36 Rilke: Laß dir. S. 2: 187.
126 “Undicht”, ein seltsames Epithet des Menschlichen, evoziert zum einen die dichte Dicke der Puppe als ihr Gegenteil.37 Zum anderen erscheint es in der auffallenden Kursivierung der Negationssilbe “un” als Zitat Rudolf Kassners, dessen Schriften Rilke gelesen hat.38 Bei Kassner kennzeichnet das Undichte den modernen Menschen, der von innerer Zerstreuung, Gesetzlosigkeit und Angst geprägt ist und dem gegenüber der antike Mensch Maß und Größe besaß.39 Bei Rilke wird diese Angst genealogisch bestimmt – “sie erlernt sich auf einmal im Abschluß”.40 Dieser Abschluss ist genderspezifisch: Im dialogischen dritten Abschnitt des Gedichts steht das Wissen der Mutter um die Welt – “Mir hats die Erde vertraut, wie sie’s treibt mit dem Keim” – dem Ausschluss des Mannes entgegen im Vokativ “Männlicher! ach, wer beweist dir die trächtige Eintracht” 41. In einem dazugehörigen Paralipomenon heißt es dann: “Die Puppe. Versuchung”.42 In dieser Beiordnung wird die Puppe zu Schlange und Eva und darin als weiblich gekennzeichnet. Als weiblich tritt sie auch in “Puppen” auf, wenn Rilke sie mit Danaë vergleicht und sie als “nachlässig, selbstgefällig, unrein, […] offen hinschlafend” (Puppen S. 4: 586) bezeichnet – Adjektive, die statt der Puppe vielmehr das Bild der Prostituierten prägen. Schließlich verleugnet Rilke aber die Sexualität der Puppe, wenn er über Pritzels Puppen bemerkt, sie seien “[g]eschlechtlos wie die Kinderpuppen selbst es waren” (Puppen S. 4: 692). Denn weder die Kinderpuppen in ihrer Beschreibung Rilkes noch die Puppen Pritzels können als geschlechtslos gelten. Dies wird bei einem Blick auf Fotografien der lasziven, homoerotischen weiblichen Puppen Pritzels deutlich und bleibt auch in einer anderen Besprechung ihrer Arbeiten nicht unerwähnt: “Lotte Pritzels Puppen sind Farbenarrangements voll eines delikaten erotischen Sinnes”43, “sie sind die reinsten weiblichen Wesen, von denen mir zu träumen je erlaubt wurde”44. 37
Die Puppe ist “undurchdringlich und in dem äußersten Zustand von vorweggenommener Dickigkeit unfähig, auch nur einen Tropfen Wasser an irgend einer Stelle einzunehmen […].” Puppen S. 4: 685. 38 Rilke war seit 1910 mit Kassner befreundet. 39 “Wer ist ihm noch nicht begegnet, diesem untypischen, unsatten und undichten Geschöpf mit dem überhitzten Blick, dieser Kreatur ohne Sinnlichkeit mit der wollüstigen Fratze, diesem Menschen voll von Gegensätzen, Brüchen und ohne Spannung.” Rudolf Kassner: Von den Elementen der menschlichen Größe. Frankfurt/M. 1954. S. 9. Siehe besonders die Kapitel “Der indiskrete Mensch” und “Der Kreis”. 40 Steiner schreibt dazu: “Das Ich-Bewußtsein ist immer auch das Bewußtsein der Fremdheit alles andern. Und in die Kluft zwischen Subjekt und Objekt tritt an die Stelle des Vertrauens die Angst.” Steiner: Puppe. S. 145. 41 Rilke: “Laß dir”. S. 2:187. 42 Rainer Maria Rilke. Sämtliche Werke. Hg. von Ernst Zinn. Frankfurt a. M. 1966. S. 2: 460. 43 Wilhelm Michel: Puppen. S. 330. 44 Ebd. S. 338.
127 Die Verleugnung von sexueller Differenz und Sexualität im “Puppen”-Aufsatz, die sich mit der Furcht vor der Puppe verbindet, sowie die einsetzende sexuelle Differenz als Einbruch der Angst in der ‘Kindheitselegie’ führen schließlich die Furcht vor der Puppe und die Furcht vor dem eigenen Leib wieder zusammen: Der sexualisierte Körper ist das bedrohliche Außen des dichterischen Ich: Die letzten Monate dort war ich schon der, der ich jetzt mehr und mehr geworden bin, ein mir Unbekannter, so unbekannt, daß ich mich manchmal, Momente lang, auf einen außer mir verlasse, der ‘Ich’ sein müßte, jenes andere, auch im Trüben irgendwie tiefer versicherte Ich, als das ich mich doch sonst zuverlässig erfuhr. (LAS S. 479)
Von seiner Krankheit und ihren Symptomen, die sich schließlich als akute Leukämie enthüllt und an der Rilke Ende Dezember 1926 stirbt, berichtet er Lou Andreas-Salomé Ende Oktober desselben Jahres. Sie deutet in ihrem Antwortbrief diese Symptome explizit psychoanalytisch und führt sie eben auf Rilkes Sexualität zurück – eine Deutung die, wie sie weiß, den Adressaten nicht zuverlässig erreicht und den Appell benötigt: “Rainer, lies weiter” (LAS S. 482). 1933 dann schreibt Lou Andreas-Salomé im Brief an Eva Cassirer-Solnitz: Ich kann einfach nicht weiterschreiben. Ich habe dennoch noch nichts abgeladen, – in mir sitzt es dick und will nicht leichter werden. // Denn Rainer starb ‘trostlos’.45
Hier setzt sich das Bild der Puppe in ihren Brief hinein fort. Lou Andreas-Salomé wird in diesem Bild selbst zur Puppe, die mit all dem “Vertraulichen” (Puppen S. 4: 690) Rilkes aufgefüllt ist und die nun nicht weiterschreiben kann, weil ihr Versuch einer Erwiderung ungehört blieb. Diesen Zustand bricht sie schließlich im briefähnlichen Nachtrag zum Lebensrückblick “April, unser Monat Rainer –” von 1934 auf. Ihre Wahl der Briefform und der persönlichen Anrede in diesem Gedenkbrief an Rilke stellt abschließend und resümierend die Kommunikation wieder her, indem sie ihn direkt anspricht und gleichzeitig seine Positionen und Aussagen in ihren Brief aufnimmt, den sie darin zum Ort des Dialogs macht.
IV. Puppe und Marionette In “Puppen” führt Rilke neben der Puppe differenzierend die Figur der Marionette ein: Es könnte ein Dichter unter die Herrschaft einer Marionette geraten, denn die Marionette hat nichts als Phantasie. Die Puppe hat keine und ist genau um so viel weniger als ein Ding, als die Marionette mehr ist. (Puppen S. 4: 689) 45 Zit. nach Ernst Pfeiffer: “Denn Rainer starb ‘trostlos’ ”. Eine Betrachtung. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch im Auftrag der Görres-Gesellschaft 23 (1982). S. 297–304. hier S. 300.
128 Zu Prominenz kommt die Marionette in der vierten Elegie, die die Marionette – die hier immer “Puppe” genannt wird – als Gegenmodell zum Tänzer etabliert und von der es heißt: “Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel. / Dann kommt zusammen, was wir immerfort / entzwein, indem wir da sind. […]”46 Steiner spricht deswegen von “zwei extrem verschiedene[n] Gestalten”, die das Puppen-Motiv bei Rilke angenommen habe. Er unterscheidet zwischen einer angsterfüllten Figuralisierung der (Spiel)-Puppe, die er letztlich auf die androgyne Erziehung des jungen Rilke zurückführt,47 und der Marionette, die ihm eine neue Ästhetik kennzeichnet, die die Elegien formulieren: “Es gibt keine Tiefe hinter dem vollkommenen Äußeren, das reine Form ist und in der Bewegtheit des Kunstwerks eingesehen werden kann.”48 Was als Problem im Briefwechsel aufscheint, die Trennung von Außen und Innen, die Veräußerung als Verlust der inneren Welt, wäre dann gelöst. Im “Puppen”-Aufsatz lässt sich jedoch Rilkes Differenzierung in Puppe und Marionette als Figur der Abwehr lesen, die sich wiederum im Zusammenhang mit der Problematisierung interpersonaler Beziehungen findet: Nachdem Rilke die Antwortlosigkeit49 der Puppe mit dem Gefühl, nicht zu lieben zu sein verbunden und das “heillos[e] [W]eiterwirke[en]” (Puppen S. 4 689) der Puppe konstatiert hat, befreit er den Dichter von der Wirkkraft der Puppe und wendet sich beschwörend der Marionette zu: “Es könnte ein Dichter unter die Herrschaft einer Marionette geraten […].” Dagegen äußert sich im Brief an Lou Andreas-Salomé im Juni 1914, nach der Trennung von Benvenuta (Magda von Hattingberg), eben das Weiterwirken der Puppe, wenn Rilke die Schuld für die gescheiterte Beziehung nicht Benvenuta, sondern sich selbst zuweist und darin auf die Adjektive zurückgreift, die die Puppe kennzeichen: [E]insehen müssend diesmal, daß keiner mir helfen kann, keiner; und käme er mit dem berechtigtesten, unmittelbarsten Herzen und wiese sich aus bis an die Sterne hinan und ertrüge mich, wo ich mich noch so schwer und steif mache, und behielte die reine, die unbeirrte Richtung zu mir, auch wenn ich ihm zehnmal den Liebesstrahl breche mit der Trübe und Dichte meiner Unterwasser-Welt […]. (LAS S. 322, Hervorhebung A. B.-D.)50
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Rilke: Duineser Elegien. In: Werke Bd. 2. S. 199–234, hier S. 2: 212. Hinfort zitiert mit der Sigle DE. 47 Vgl. Steiner: Motiv Puppe. S. 133–134. 48 Ebd. S. 167. 49 “Zu einer Zeit, wo noch alle bemüht waren, uns immer rasch und beschwichtigend zu antworten, war sie, die Puppe, die erste, die uns jenes überlebensgroße Schweigen antat, das uns später immer wieder aus dem Raume anhauchte, wenn wir irgendwo an die Grenze unseres Daseins traten.” (Puppen S. 4: 689). 50 Wie in den Adjektiven hier die Ephiteta der Puppe wiederkehren und Rilke im Zustand der Verpuppung zeigen, so weist auch die spätere Bezeichnung als durchgefallener Schüler der “Schmerz-Classe” auf die entwicklungsgeschichtliche Nähe zum Puppenspiel.
129 Im Briefwechsel mit Annette Kolb differenziert er schließlich wie folgt: [I]ch habe kein Fenster auf die Menschen, endgültigerweise. Sie geben sich mir nur so weit, als sie in mir selbst zu Worte kommen. […] Was zu mir vom Menschlichen redet, immens, mit einer Ruhe der Autorität, die mir das Gehör geräumig macht, das ist die Erscheinung der Jungverstorbenen und unbedingter noch, reiner, unerschöpflicher: die Liebende […] Sie treten in mir auf sowohl mit der Deutlichkeit der Marionette (die ein mit Überzeugung beauftragtes Äußeres ist) als auch als abgeschlossene Typen […].51
Die Marionette, phantasiebegabt, gibt sich (“sie geben sich mir”), ohne Forderungen zu stellen. Wie die Liebende aber muss sie “ausgehalten” werden: “Ich will / den Balg aushalten und den Draht” (DE S. 2: 211).52 Doch die Herrschaft der Marionette, die die “reine Form”53 herbeiführt,54 ist temporär und weicht schließlich der Puppe. Statt die Marionette bzw. die Liebende auszuhalten, verwandelt der Rilke der Briefwechsel seine Briefpartnerinnen in die eingangs genannten Orientierungshilfen.55 Die Folge aber ist das Scheitern der Beziehung, mit dem sich die Verpuppung wiederum auf den Schreiber, Rilke, rückwendet.56 Die Marionette ist “mit Überzeugung beauftrag[t]”. Überzeugt aber will der Briefschreiber Rilke nicht werden. Von “Überzeugung” ist dann in der vierten Elegie nicht mehr die Rede. Stattdessen schaut hier das Ich so lange, bis sein Schauen den Engel herbeizwingt, “um mein Schauen / am Ende aufzuwiegen” (DE S. 2: 212). Doch “ein jeder Engel ist schrecklich” (DE S. 2:201 und 2: 205), so schrecklich, dass Rilke diesen Satz anfangs der ersten und der zweiten Elegie schreibt. Für den darin aufgerufenen Zusammenhang zwischen
51
Rilke: Brief an Annette Kolb vom 23. Januar 1912, zit. nach Steiner: Motiv Puppe. S. 157. 52 Im Malte schreibt Rilke über Goethe: “Diese Liebende ward ihm auferlegt, und er hat sie nicht bestanden. Was heißt es, daß er nicht hat erwidern können? Solche Liebe bedarf keiner Erwiderung, sie hat Lockruf und Antwort in sich; sie erhört sich selbst. Aber demütigen hätte er sich müssen […].” Rilke: Malte Laurids Brigge. In: Werke. Bd. 3: Prosa und Dramen. Hg. von August Stahl. Frankfurt 1996. S. 3: 453–635, hier S. 3: 598–599. 53 Steiner: Motiv Puppe. S. 167. 54 Die Zeit mit Benvenuta verknüpft Rilke mit dieser Erfahrung der reinen Form, wenn er schreibt: “und eine jede [Stelle der Vergangenheit] nahm, gleichsam landschaftlich schuldlos, eine reine Sichtbarkeit an” (LAS, S. 323). Zu Rilkes Beziehung zu Magda von Hattingberg siehe Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit Benvenuta. Hg. von Magda von Hattingberg, Vorwort und Anmerkungen Kurt Leonhard. Esslingen 1954. 55 Dies lässt sich auch am Briefwechsel mit Benvenuta beobachten, in dem die Briefe Rilkes zumeist sehr viel länger sind als die ihren und sie Teil seiner Briefphantasie wird. 56 Vgl. dazu den zitierten Brief an Lou nach der Trennung von Benvenuta.
130 Schönem und Schrecklichem zitiert der Stellenkommentar von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn einen weiteren Brief Rilkes, in dem es heißt: […] il n’y a certainement rien qui ressemble plus au sacrifice que cette terrible volonté de l’Art. Qu’elle est tenace, qu’elle est insensée! Tout ce que les autres oublient, pour se rendre la vie possible, nous allons toujours le découvrir et l’agrandir même; c’est nous les véritables réveilleurs de nos monstres, auxquelles nous ne sommes pas assez opposés pour devenir leurs vainqueurs; […] ce sont eux, ces monstres, qui retiennent ce surplus de force, indispensable à ceux qui se doivent surpasser.57
Wenngleich Rilke hier über die Kunst und die Erinnerung als Quelle der Kunst spricht, evoziert die Beschreibung des Verhältnisses von Künstlersubjekt und erinnertem Ungeheuer eben das Verhältnis von Subjekt und Puppe, wie es im “Puppen”-Aufsatz dargelegt wird. Zwischen dem Schrecklichen des Engels und der Puppe zeigt sich so eine Kontinuität, die die Entgegensetzung von Engel und Puppe als Gegenüberstellung von “[r]eine[m] Innen und reine[m] Außen”58 zur scheinbaren macht. Erst das Zusammenspiel scheinbarer Polaritäten führt schließlich ein Schauspiel herbei, das den Zuschauer einer Leere aussetzt, die nicht mehr vom Schauspieler verborgen wird.59 In dieser Strukturgleichheit von Engel und Puppe aber verschwindet die Opposition von Puppe und Marionette.60 Käte Hamburger erklärt das Schreckliche als das, “was wir nicht mehr fassen und darum nicht mehr ertragen können”.61 In der 47. Aufzeichnung 57
Brief an Merline vom 18.11.1920, zit. nach Rilke: Werke S. 2: 626. Hervorhebung A. B.-D. 58 Rilke: Werke S. 2: 650. Die Langfassung heißt: “Im glücklichen Augenblick kommt es so zum Zusammenspiel von Puppe als absolutem Objekt (hier also: des physischen, materiellen Teils des Ich) und dem Engel als absolutem Subjekt (allen Bereichen des inneren Lebens: Gefühlen, Gedanken, freier Kreativität). ebd. S. 645. Zur Abgrenzung Puppe-Marionette siehe auch ebd. S. 646. 59 Zur Figur des Dritten bzw. zum Schauspieler vgl. Malte S. 3: 467/468 und DE, S. 2: 211 60 Im Unterschied zu Steiner betont auch Käte Hamburger die Nähe von vierter Elegie und Puppenaufsatz. Vgl. Käte Hamburger: Rilke. Eine Einführung. Stuttgart 1976. S. 123. Unterstützung für die Strukturgleichheit von Puppe und Engel bietet auch Stephens, wenn er über den Engel sagt: “[E]in Gegenstand wird geformt, der seinen Schöpfer übertrifft, ja ihn ‘beugt’; dabei behält das Ich aber paradoxerweise die Oberhand […]” – ein Prozess, den dann Stephens in den Elegien darlegt und der angesichts der oben aufgezeigten Strukturgleichheit auch auf die Puppe zutrifft. Anthony Stephens: “Alles ist nicht es selbst”: Zu den Duineser Elegien. In: Rilkes Duineser Elegien. Hg. von Ulrich Fülleborn und Manfred Engel. Bd. 2: Forschungsgeschichte. Frankfurt a. M. 1982. S. 308–348, hier S. 334. 61 Hamburger: Phänomenologische Struktur. S. 121. Hamburger weist auch auf die unterschiedliche Konzeption des Engels in den Elegien und dem späteren HulewiczBrief, der metasprachlich die Bedeutung der Engel zu erklären sucht, hin. Siehe ebd. S. 121–122.
131 Maltes verknüpft Malte Furcht und Kraft und benennt eine Konstellation der Veräußerung und Entzweiung: Wir haben keine Vorstellung von dieser Kraft, außer in unserer Furcht. Denn so ganz unbegreiflich ist sie, so völlig gegen uns, daß unser Gehirn sich zersetzt an der Stelle, wo wir uns anstrengen, sie zu denken. Und dennoch, seit einer Weile glaube ich, daß es unsere Kraft ist, alle unsere Kraft, die noch zu stark ist für uns.62
Darin nimmt diese Konstellation aber das oben aufgezeigte Verhältnis SubjektPuppe bzw. Subjekt-Engel auf. Strukturgleich stehen so Kraft, Puppe, Engel, Kunst – Werg und Werk – nebeneinander. Stille und Leere gilt es darin auszuhalten, wie es die “Unzustimmungen”63 sind, die Rilke an seinem eigenen Leib verzweifeln lassen. Die vierte Elegie ließe sich somit in ihrer Bejahung von Äußerlichkeit und Leere als Utopie lesen, die die beschwörende Hinwendung zur Marionette in “Puppen” wieder aufnimmt und ein Aushalten der Antwortlosigkeit inszeniert.
V. Schluss Als Antwort auf Lou Andreas-Salomés verlorenen Brief zum “Puppen”Aufsatz schreibt Rilke: “Aber ist es nicht furchtbar, daß man, ahnungslos, so etwas hinschreibt, unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd […]” (LAS S. 329). Das Bild der Puppe, in “Puppen” von einer charakteristischen Ambivalenz geprägt, verdichtet zwei unterschiedliche Besetzungen. Auf positive Weise fungiert die Puppe als Medium der Orientierung des sich formenden Subjekts, welches die Puppe affirmiert. In dieser Linie ist sie mit der Sprache, dem Werk und dem menschlichen Gegenüber als Briefpartner beziehungsweise als Analytiker verbunden. Auf negative Weise ist die Puppe das Bild, in dem Leib, Sexualität und Mutter verdichtet sind, und welches als furchtbesetzt erfahren wird, weil es das Ich zu überwältigen droht. In der Figur der Marionette und im Zusammenspiel mit dem Engel wird diese Furcht in der vierten Elegie zur positiv besetzten Artikulation von Kraft verschoben, die ausgehalten werden muss. Da diese positiven und negativen Besetzungen innerhalb des Bezugsfeldes wandern, ist es schließlich allein das gelungene Werk, das das Ich garantiert: “Jetzt weiß ich mich wieder” (LAS S. 445).
62
Rilke: Malte. S. 3: 571. In derselben Aufzeichnung findet sich die Verknüpfung von Puppe, Tod und Furcht, wenn das in der Straßenbahn sterbende Mädchen entpersonalisiert zu “dem Ganzen” wird, das “wie eine Puppe hin und her” (S. 3: 569) gezogen wird und vor dem Malte sich fürchtet. 63 Marina Zwetajewa: Ausgewählte Werke. Bd. 3. S. 111.
132 Indem Rilke den Briefpartner zum Orientierungsmittel reduziert, macht er eine Verpuppung des affektiv besetzten Briefpartners möglich, die auf das Subjekt als eines, das nicht geliebt werden kann, zurückwirkt. Rilkes Klage über die fehlende Antwort lässt sich dann im Zusammenhang der Kommunikationsstruktur des Briefwechsels jedoch auch als fehlendes Zuhören lesen: In der Beschriftung des Anderen mit dem Eigenen kann das Subjekt die Antwort des Anderen nicht mehr wahrnehmen. Trotz der Beredtheit Lou Andreas-Salomés und auch Magda von Hattingbergs wird die tatsächliche Korrespondenz vom Topos der stummen Frau überblendet. Ihre “Stummheit” generiert die exzessive Textproduktion Rilkes, die gleichzeitig belebt wie mortifiziert.
Gudrun Wedel
Kunst – Gefühl – Kommerz: Puppen in der Autobiographie von Käthe Kruse (1883–1968) Käthe Kruse was and still is famous for her dolls. Even today they are highly regarded for their artistic qualities. In her autobiography she showed her versatility and creative spirit through her numerous roles in life: actress, mother of seven children, doll maker, writer, painter, photographer and founder of a successful enterprise. She pointed out that creating life-like qualities in her dolls, above all, was to delight and stimulate children’s imagination in play. Less well-known but just as true-to-life were her display dummies, which she made herself for several years. In her autobiographical children’s book she mixed stories of her life with fictional stories of her dolls and dummies, constantly crossing the line between reality and fantasy, also by combining text and photographs. Käthe Kruse was able to convey her non-conventional life to a middle-class audience with conventional ideas of family life.
Seit Generationen sind es vor allem Puppen, mit denen Mädchen spielerisch ihre künftige Rolle als Hausfrau und Mutter einüben können. Diese kleinen künstlichen Menschen erhalten oft einen festen Platz in der Erinnerung und später auch in der Autobiographie. Die wohl bekannteste Puppenmacherin in Deutschland, Käthe Kruse, hat in ihrem Buch Das große Puppenspiel, das sich erst auf den zweiten Blick als Autobiographie erweist,1 ihre Erfahrungen mit Puppen beschrieben. Sie hat neue Typen von Spielpuppen erfunden und sie in ihren Werkstätten mit großem Erfolg produziert. Weniger bekannt ist, dass sie daneben auch bewegbare Schaufensterpuppen herstellte. Käthe Kruses vielseitiges Schaffen lässt sich aus verschiedenen Perspektiven betrachten, von denen die Folgenden herausgegriffen werden: Erstens wird nach den künstlerischen Einflüssen auf ihre Puppenkreationen und auf ihre Publikationen gefragt; zweitens sind die Kommunikationspraktiken zu untersuchen, mit denen sie das Publikum für sich einnahm und zum Kauf ihrer Puppen anregte; drittens wird einbezogen, wie sie mit Qualitätsstandards und vielfältigen Werbestrategien den kommerziellen Erfolg ihres Familienbetriebes sicherte. Der Blick auf diese drei Bereiche macht sichtbar, wie die Erfolgsgeschichte der ‘KätheKruse-Puppen’ funktionierte. 1 Käthe Kruse: Das große Puppenspiel. Mit 46 Abbildungen. Heidelberg 1951. Manuskriptbetreuung Bernhard Zebrowski [163 S.]. Eindeutig ist demgegenüber der Nachdruck u.d.T. Das große Puppenspiel. Mein Leben. Duisburg 1992 (21996). 1982 gab die Tochter Sofie Rehbinder-Kruse die Autobiographie mit Kürzungen, Erweiterungen, Textveränderungen und teilweise anderen Fotos heraus: Käthe Kruse: Ich und meine Puppen. Freiburg i.Br. 1982. 233 S. (Herder-Taschenbuch 934).
134 Der Lebensweg von Käthe Kruse ist die Karriere einer unbürgerlichen Frau, er wird kurz vorgestellt. Dann wird anhand ausgewählter Passagen in der Autobiographie gezeigt, wie sie die Herstellung der ersten Puppe als eine Art Schöpfungsgeschichte inszenierte und wie sie dabei Text und Abbildung einsetzte. Anschließend geht es um Käthe Kruses Puppenproduktion und- philosophie. Es folgt das Thema Schaufensterpuppen, wobei an einem Beispiel die für Käthe Kruse charakteristische Verlebendigung von Puppen gezeigt wird. Käthe Simon kam am 17.9.1883 in Breslau zur Welt und wuchs in ärmlichen und bedrückenden Verhältnissen auf, denn ihre Mutter war eine arme, ledige Näherin, der Vater ein bereits verheirateter städtischer Beamter. Mehrere Erlebnisse, die sie in Berührung mit Tod und Sterben brachten, überschatteten zudem ihre Kindheit. Unmittelbar nach der Schulzeit begann sie eine Ausbildung zur Schauspielerin, und bereits mit 17 Jahren erhielt sie ein Engagement am LessingTheater in Berlin.2 Erste Bühnenerfolge brachten sie mit den Künstlerkreisen im “Café des Westens” in Kontakt. Hier lernte sie den Bildhauer Max Kruse kennen und ging mit ihm eine Liebesbeziehung ein. Er war fast 30 Jahre älter, geschieden und hatte vier Kinder. 1902 wurde Maria Speranza, das erste Kind aus dieser Verbindung, geboren, und Hedda Somin, so der Künstlername der jungen Schauspielerin, gab das Theaterspielen auf. Es folgten die Töchter Sofie und Johanna, dann die Söhne Michael, Joachim, Friedebald und 1921 als letztes Kind Max, später ein bekannter Autor von Kinderbüchern.3 Nach kleinen Anfängen mit der Puppenproduktion in Berlin gründete Käthe Kruse 1912 eine größere Werkstätte in Bad Kösen. Sie florierte und bildete zunehmend die Lebensgrundlage der großen Familie; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie in Donauwörth weitergeführt. Das Paar hatte erst 1909 geheiratet4 und führte auch danach ein eher unbürgerliches Familienleben, denn der Ehemann behielt sein Atelier in Berlin bei und besuchte von da aus seine Familie in Bad Kösen. Auch in späteren Jahren lebte die ganze Familie nur zeitweise zusammen, da mehrere Kinder ihre Schulzeit in Internaten und Privatpensionen verbrachten. Trotzdem blieb der 2
Käthe Kruse debütierte am 25.8.1900 am Lessing-Theater als Tochter Käthe des Baumeisters Friedrich Lukas in Die Sklavin von Ludwig Fulda, vgl. Kruse: Puppenspiel. S. 31f. 3 Max Kruse [junior] verfasste z.B. Der Löwe ist los. Freiburg i.Br. 1952 und Urmel aus dem Eis. Reutlingen 1969. 4 In der Autobiographie erwähnt Käthe Kruse ihre Heirat nicht, sie geht allerdings ausführlich auf Max Kruses Vorstellungen von freier Liebe und seine Freundschaft mit Gabriele Reuter, der ledigen Schriftstellerin mit Tochter ein, vgl. Kruse: Puppenspiel. S. 46. Im autobiographischen Text über das Jahr 1911 taucht der Name Käthe Kruse zum ersten Mal auf in “Käthe-Kruse-Puppen”, vgl. Kruse: Puppenspiel. S. 78; das Heiratsdatum ist dem Anhang S. 158 entnommen in: Max Kruse [senior]: Ein Lausejunge aus gutem Haus. Kindheit im alten Berlin. Mit unveröffentlichten Zeichnungen des Bildhauers. Nachwort von Dr. Brigitte Hüfler. Skulpturengalerie. Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz Berlin. Bearbeitung Sofie Rehbinder-Kruse. Freiburg i.Br. 1983.
135 Familienzusammenhalt eng, zumal fast alle Kinder als Erwachsene für den Familienbetrieb arbeiteten. Als Käthe Kruse um 1950 ihre Autobiographie verfasste, stand ihr umfangreiches biographisches Material zur Verfügung,5 und sie konnte auf 50 Jahre Publikumserfahrung zurückblicken: Sie hatte Theaterrollen bühnenwirksam gestaltet, Vorträge vor Publikum und im Rundfunk gehalten, auf Ausstellungen, Messen, Geschäftsreisen und mit Katalogen Werbung für ihre Puppen gemacht, und sie führte immer noch einen umfangreichen privaten und geschäftlichen Briefwechsel. Im Lauf der Jahre hatte sie eine wirkungsvolle Geschichte über die näheren Umstände geformt, die sie zur Puppenherstellung brachten. Max Kruse, ihr Sohn, schreibt in seinen Kindheitserinnerungen darüber: “Die Geschichte, wie sie zu ihren Puppen kam, mußte immer und immer wieder berichtet werden. Bei jedem Interview, in allen Zeitungen, im Rundfunk. Bei jeder Gelegenheit. Auch wir Kinder mussten sie erzählen, sie verfolgte und verfolgt uns bis ins Alter.”6 Zunächst hält sich die Autorin, wie in vielen Autobiographien üblich, im Großen und Ganzen an die Chronologie ihres Lebenslaufs. Das gilt auch für die zahlreichen Abbildungen im Text.7 Ungewöhnlich sind allerdings die verschiedenen Darstellungsebenen im Text und bei den Bildern. Im Text lässt Käthe Kruse das Lesepublikum an ihren Überlegungen bei der Niederschrift der Autobiographie teilnehmen, und sie wendet sich direkt an Leser und Leserinnen. Auf dieser Metaebene stimmt sie ihr Publikum auf ihre eigene Erzählweise ein, indem sie sich schrittweise der vermuteten Regeln von konventionellen Autobiographien entledigt. Sie schreibt zum Beispiel: “In jeder besseren Selbstbiographie wird – vielleicht in Befolgung einer geheimnisvollen und nur den zünftigen Selbstbiographen bekannten Regel – des Augenblicks gedacht, bis zu dem die früheste Erinnerung zurückreicht.”8 Nachdem sie als derartig ‘zünftige’Autobiographen Heinrich Zille, Wladimir Korolenko und Wilhelm von Kügelgen und damit ausschließlich männliche Autoren vorgestellt hat, setzt sie sich selbst ins Licht: “In meiner frühesten Jugenderinnerung sehe ich mich auf meinem kleinen Stühlchen […] sitzen und in das grüne Blattwerk vieler Bäume 5
Käthe Kruse schreibt darüber: “Ich habe immer die Gewohnheit gehabt, mir vor mir selbst Rechenschaft zu geben. Nicht daß ich Tagebuch geführt hätte. Aber eine unendliche Fülle von Notizen, Aufzeichnungen, Betrachtungen, literarischen Versuchen, Zeichenskizzen, Aquarellen und Fotos liegen in meinen Schubladen als Zeugnisse aller Stationen meines Lebens.” Kruse: Puppenspiel. S. 37. 6 Max Kruse [junior]: Die versunkene Zeit. Bilder einer Kindheit im Käthe-KruseHaus. Stuttgart 1983. S. 11. 7 Vgl. dazu Monika Schmitz-Emans: Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Allgemeine Überlegungen zur Beziehung zwischen Texten und Bildern. In: Das visuelle Gedächtnis der Literatur. Hg. von Manfred Schmeling und Monika Schmitz-Emans. Würzburg 1999 (Saarbrücker Beiträge zur Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft 8). S. 17–34. 8 Kruse: Puppenspiel. S. 11.
136 schauen.”9 Im Folgenden malt sie die Düsternis ihres Außenseiterdaseins als nichteheliches Kind in ärmlichen Verhältnissen aus. Gleichzeitig erzeugt sie aufgrund unterstellter Lesererwartungen einen Spannungsbogen, der eine ‘Schöpfungsgeschichte’ zum Höhepunkt hat: Er setzt bei der düsteren Kindheit an, die in der Erzählung einen biographischen Tiefpunkt besitzt. An dieser Stelle wechselt Käthe Kruse die Textebene und bringt – frühzeitig platziert – Puppen ins Spiel: Ich weiß, ich darf jetzt nicht weitererzählen, bevor ich eine Frage beantwortet habe! Es ist die Frage, die mir immer, immer wieder gestellt wird … ‘Ganz gewiß haben Sie, Frau Professor, doch schon als kleines Mädchen eine Leidenschaft für Puppen gehabt und alles vergessen, wenn Sie mit Ihren Puppen spielten?’ Erstens bin ich nicht ‘Frau Professor’, sondern nur die Frau eines Mannes, der um seiner Verdienste willen den Professortitel erhielt. Und zweitens … Ich muß immer lachen über die verdutzten Gesichter der Fragesteller, wenn ich ihnen sagen muß, daß ich in meiner Jugend mit Puppen gar nichts im Sinne hatte. Perdita hieß der taillierte Lederbalg mit den schlenkrigen Beinen und dem scheußlich starren, blöden Puppengesicht, der mir an meinem achten Geburtstag […] in den Puppenwagen gelegt wurde. Ich fand sie greulich.10
Damit ist klar, dass sie die ärmlichen Verhältnisse später weit hinter sich gelassen hat und dass Puppen für sie nicht nur das übliche Spielzeug für Mädchen darstellten, sondern dass es mit ihnen eine besondere Bewandtnis hatte. Sie berichtet dann – wieder der Chronologie folgend – von ihrer Schulzeit und Theaterlaufbahn. Das anschließende Kapitel über ihre Zeit in Berlin leitet sie mit folgendem Texteinschub ein: Was redet sie nur immerfort vom Theater, die Puppen-Kruse? höre ich Sie fragen. Wann kommen endlich die Puppen! Haben Sie, bitte, noch ein klein wenig Geduld. Die Puppen kommen schon, bald. Sie sind schon beinahe in Sicht.11
Danach wechselt sie wieder auf die Textebene ihrer Lebensgeschichte. Etwas später eröffnet sie dem Lesepublikum, was sie von den Autobiographieregeln hält: “Man hat mir gesagt, wenn man seine Lebensgeschichte schreibe, müsse man sich streng an die Wahrheit halten. Gräßlich ist das.”12 Sie berichtet dann über die ersten Jahre mit Max Kruse, die Geburt der ersten Tochter Maria Speranza und die Suche nach einem Ort, an dem die zweite Tochter geboren werden sollte. Jetzt, unmittelbar bevor sie die entscheidende Situation beschreibt, durch die sie zum Puppenmachen kam, löst sie sich von den sie einengenden 9
Kruse: Puppenspiel. S. 11; sie saß da inmitten der Aufregung und Unordnung des Umzugs in eine andere Wohnung. 10 Kruse: Puppenspiel. S. 19f. 11 Kruse: Puppenspiel. S. 36. 12 Kruse: Puppenspiel. S. 52.
137 Autobiographieregeln und geht gleichzeitig zum vertraulicheren “euch” über, wenn sie ihre Leser und Leserinnen anspricht: Ich trat in einen ganz neuen Abschnitt meines Lebens. So muß man sich wohl ausdrücken, wenn man seine Lebensgeschichte schreibt. Es ist ein schweres Unterfangen, – ich habe es schon früher gesagt. Was jetzt kommt, habe ich kommen sehen. Ich habe keine Lust mehr, so zu schreiben, wie ‘man seine Lebensgeschichte schreibt’. Jetzt will ich auf meine eigene Weise weitererzählen; es wird ein wenig kunterbunt durcheinander gehen, aber, es wird mir, und vielleicht auch euch, Freude machen. Der Schauplatz der nächsten Jahre waren die Schweiz und Italien.13
Vorbereitet durch eine ausführliche Schilderung über ihr Leben in Ascona und bei den Lebensreformern auf dem Monte Veritá beginnt sie mit ihrer Lieblingsgeschichte.14 Sie erzählt, wie die dreijährige Maria, Mimerle genannt, ihr dabei zusah, wie sie sich als Mutter um das neugeborene Schwesterchen kümmerte. Mimerle hatte nun einen Weihnachtswunsch an den Vater: […] Mimerle wünschte sich keine Puppe, sondern ‘ein Kind, wie Du und die Mutter Maria’ Ich schrieb’s dem Vater nach Berlin. Und der versuchte, ein geeignetes Kind für Mimerle aufzutreiben. Aber er fand’s nicht, und er schrieb mir zurück: ‘Nee, ick koof Euch keene Puppen. Ick find’se scheißlich. Wie kann man mit einem harten, kalten und steifen Dings mütterliche Gefühle erfüllen. Macht Euch selber welche! – Eine bessere Gelegenheit, Dich künstlerisch zu entwickeln kannst Du Dir gar nicht wünschen.’ Nun, der Beginn dieser meiner neuen künstlerischen Entwicklung sah primitiv aus. Ich nahm ein Handtuch, füllte seine Mitte mit (warmem!) Sande, machte Knoten aus den Ecken (das wurden die Arme und Beine) und band in ein Stückchen Längsseite des Handtuches eine Kartoffel. Das war der Kopf. Mit einem abgebrannten Streichhölzchen erhielt er Augen, Mund, und Nasenlöcher, – Mimerle war glücklich und liebte ihre bambina abgöttisch. – Und ich sah gleich, was sie daran liebte, und warum: Es war so schön schwer! Sie hatte was zu schleppen.15
Unmittelbar vor Beginn dieser ‘Schöpfungsgeschichte’ mit ihren Anspielungen auf die Bibel ist im Text die vierte Sequenz von Abbildungen platziert.16 Die zwei Personenfotos und die drei Wiedergaben von Kunstwerken stehen in losem Zusammenhang mit dem folgenden autobiographischen Text. Sie stellen jedoch 13
Kruse: Puppenspiel. S. 60. Käthe Kruse: Die künstlerische Charakterpuppe. In: Das Goldene Buch der Mädchen. Hg. von Alice Fliegel. Berlin 1928. S. 199–203. Mit vier Fotos: hinter S. 200 eine Porträtaufnahme von Käthe Kruse sowie das Foto einer Puppe: “Das Illusionsbaby. Eine Käthe Kruse Puppe, die in Gestalt und Schwere einem Säugling nachgebildet ist und zum Unterricht benützt wird.” Hinter S. 64 zwei Fotos von Käthe Kruse-Puppen. 15 Kruse: Puppenspiel. S. 66. 16 Kruse: Puppenspiel. Die Abbildungen Nr. 12. bis Nr. 16 befinden sich zwischen S. 64 und 65. 14
138 mehr als bloße Illustrationen dar.17 Das erste ganzseitige Personenfoto zeigt Käthe Kruse stehend und en face, mit dem etwa einjährigen Mimerle auf dem Arm und vor neutralem Hintergrund.18 Bildthema wie Form erinnern stark an Marienstatuen19 und stimmen damit auf die im Text folgende ‘Schöpfungsgeschichte’ ein, die jedoch – und das ist ungewöhnlich – eine Frau als Schöpferin präsentiert.20 Die Bildunterschrift lautet “12. Beginn des Familienalbums: Mit der ersten Tochter Mimerle” und verstärkt insofern den im Text beschriebenen Eintritt in einen neuen Lebensabschnitt. Allerdings liegt die Betonung nun auf Familie und damit auf dem den Frauen in der Gesellschaft zugewiesenen Handlungsraum. Der Hinweis auf das Familienalbum signalisiert zudem, dass neben den bereits früher erwähnten schriftlichen Aufzeichnungen zum eigenen Leben21 eine parallele Sammlung von Familienfotos existierte, wie es sie in ähnlicher Form wohl auch in vielen Haushalten ihres Publikums gegeben haben wird.22 Das folgende halbseitige Porträtfoto zeigt Käthe Simon und Max Kruse etwa 1903 als Paar in Brustformat. Bedeutsam ist die unter die Bildunterschrift 17
Gerard Genette geht auf Abbildungen als Paratexte aufgrund der riesigen Bildermenge und der erforderlichen technischen und ikonographischen Kompetenzen nicht ein; vgl. Gerard Genette: Paratexte. Mit einem Vorwort von Harald Weinrich. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/M. – New York 1989. Hier S. 387. Inwieweit die Kombination von Text und Bild in Autobiographien ein vielfältigeres Bild von AutobiographInnen herstellt, hat Susanne Blazejewski für literarische Autobiographien untersucht. Susanne Blazejewski: Bild und Text – Photographie in autobiographischer Literatur. Marguerite Duras’“L’Amant” und Michael Ondaatjes “Running in the Family”. Würzburg 2002. 18 Vgl. Abb. 1. Vermutlich handelt es sich um eine Atelieraufnahme. Der Fotograf war Franz Linkhorst, Berlin; vgl. die Angabe im Verzeichnis der Abbildungen in Kruse: Puppenspiel. S. 6. In der Autobiographie-Ausgabe von 1982 ist das Foto verkleinert und als Brustbild verkürzt auf dem Umschlag des Taschenbuchs wiedergegeben, mit Käthe Kruses Namenszug als Überschrift. Für die Druckgenehmigung der Fotos in diesem Band möchte ich der Käthe-KrusePuppen GmbH in Donauwörth danken. Die Abbildungen 1 bis 3 entstammen Käthe Kruse: Das große Puppenspiel. Mit 46 Abbildungen. Heidelberg 1951. Die Quelle für die Abbildung 4 ist Käthe Kruse: Kuddelmuddel. Plaudereien von Kindern, Puppen und Tieren. Duisburg 1991. 19 Zur unschuldigen, “unbefleckten” Mutterschaft nach dem Modell von Madonna und Christuskind als erzieherisches Vorbild für bürgerliche Mädchen vgl. Katharina Sykora: Unheimliche Paarungen. Androidenfaszination und Geschlecht in der Fotografie. Köln 1999. Hier S. 114. 20 Vgl. den Beitrag von Rudolf Drux in diesem Band. 21 Siehe oben Anmerkung 5. 22 Zur engen Korrelation von ‘Haushalt mit Kindern’ und ‘Besitz eines Fotoapparates’ und den Funktionen der Fotografie für die Familie vgl. Pierre Bourdieu: Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede. In: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Hg. von Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Robert Castel, Jean-Claude Chamboredon, Gérard Lagneau und Dominique Schnapper. Frankfurt/M. 1983. S. 25–84. Hier S. 31. S.a. Susan Sontag: Über Fotografie. 15. Aufl. Frankfurt/M. 2003. Hier S. 14.
139 gesetzte Zeile “Aufgenommen von Käthe Kruse”, die auf den Fotografiervorgang mit Selbstauslöser hinweist – eine in Autobiographien bemerkenswerte Darstellungsebene. Käthe Kruse präsentiert sich damit als ambitionierte Fotografin.23 Das halbseitige Bild darunter gibt ein Aquarell von Käthe Kruse wieder, das Max Kruse von hinten beim Skizzieren in Forte dei Marni zeigt. Käthe Kruse inszeniert sich hier auf wenigen Buchseiten und in Text und Bild als eine vielseitige Schöpferin: als Mutter und Puppenmacherin, als Erzählerin und Schriftstellerin, als Fotografin und Malerin. Mit diesem eindrucksvollen Spektrum von Fähigkeiten relativiert sie quasi nebenbei die traditionelle Festlegung auf die weibliche Rolle der Hausfrau und Mutter. Diese Vielseitigkeit ihrer Interessen und Fertigkeiten lässt sie in der Autobiographie trotz des dominanten und von ihr erwarteten Puppenthemas immer wieder durchscheinen. Das kann erklären, weshalb sie das letzte Kapitel der Autobiographie mit dem überraschenden Satz beginnt “Nein, ich bin nicht die ‘Puppen-Kruse’ ”.24 und es damit schließt, dass sie sich wieder einmal am Anfang einer Arbeit sieht.25 Nach dem Erfolg der primitiven Handtuchpuppe ging Käthe Kruse daran, haltbarere und schönere Spielpuppen für ihre kleinen Töchter zu entwickeln. Aus dem kulturellen Vorrat religiöser Bilder und Figuren stammte das Modell für den ersten festeren Puppenkörper: Sie verwendete einen Gipsabguss des segnenden Christusknaben des Verocchio, dann einen Fiamingo-Kopf als Vorlage;26 später waren es Porträtbüsten noch lebender Menschen. Zur Zeit von Käthe Kruses Experimentierphase mit Puppen war Deutschland mit seiner Puppenproduktion noch auf dem Weltmarkt führend.27 Porzellankopfpuppen hatten zwar Hochkonjunktur, sie bekamen aber in den Jahren nach 1900 Konkurrenz: Schon länger produzierte Margarete Steiff Tiere aus Filz,28 und 1907 stellte sie auf der Leipziger Messe Puppen aus Filzstoff vor.29 In München präsentierte die frühere Porträtmalerin Marion Kaulitz 1909 die von ihr entwickelten Charakterpuppen mit naturalistischen und individuellen 23
Käthe Kruse erhielt nach der Geburt der ersten Tochter zu Weihnachten 1902 einen Fotoapparat. Sie fotografierte ab da viel und entwickelte die Fotos auch selbst, vgl. die Autobiographie-Ausgabe 1982. S. 73. 24 Kruse: Puppenspiel. S. 154. In der (posthum) bearbeiteten Ausgabe von 1982 ist der Satz allerdings in sein Gegenteil verkehrt und heißt dort: “Ja, ich bin die Puppen-Kruse.” S. 225. 25 Kruse: Puppenspiel. S. 161. 26 Andrea del Verocchio, Renaissance-Bildhauer aus Florenz. Kruse: Puppenspiel. S. 66. Francois Duquesnois, genannt Fiamingo, Renaissance-Bildhauer. Kruse: Puppenspiel. S. 73. 27 Georgine Anka und Ursula Gauder: Die deutsche Puppenindustrie 1815–1940. Stuttgart 1978. Hier S. 44. 28 Anka und Gauder: Puppenindustrie. S. 318. 29 Lydia Richter: Geliebte Käthe-Kruse-Puppen gestern und heute. 5. Aufl. München 1990. Hier S. 9.
140 Gesichtern.30 Ebenfalls in München kreierte Lotte Pritzel um 1911 ihre lasziv und morbid wirkenden Wachspuppen, die später die Tänzerinnen Niddy Impekoven und Anita Berber inspirierten.31 Diese Künstlerpuppen waren nicht als Kinderspielzeug gedacht, sondern eher als Sammelobjekte für die Vitrine. Für Käthe Kruse kam die Wende zur professionellen Puppenherstellung 1910, als ihre kunsthandwerklichen Puppen bei der Ausstellung “Spielzeug aus eigener Hand” im Warenkaufhaus Hermann Tietz (Hertie) in Berlin durchschlagenden Erfolg hatten (Vgl. Abb. 2). Ein nächster Schritt war der Großauftrag über 150 Puppen von einer Firma in den USA, und 1912 gründete Käthe Kruse ihre eigene Werkstätte in Bad Kösen. Dass Käthe Kruse ihre teuren Spielpuppen so erfolgreich verkaufte, beruhte zu einem guten Teil auf ihrer geschickten Öffentlichkeitsarbeit. So propagierte sie ihre Vorstellungen von einer guten Puppe mündlich und schriftlich: 1926 veröffentlichte sie zum Beispiel in Velhagen und Klasings Monatsheften in der Rubrik “Vom Schreibtisch und aus der Werkstatt” den Artikel “Meine Puppen”.32 Wie unbeirrbar sie zu ihrer Auffassung stand,33 lässt sich daraus entnehmen, dass sie lange Passagen des Artikels wörtlich in ihre Autobiographie von 1951 aufnahm. Sie schreibt darin: […] was ist eine Puppe, auf die einfachste Formel gebracht? Die Puppe muß etwas zum Liebhaben sein. Das ist ihr Sinn und Zweck. […] Anfassen wollen wir, was uns zarte, liebevolle Empfindungen erweckt. Und daraus folgt, daß Fühlen und Anfühlen dasselbe sind.34
Sie fügt allerdings hinzu, dass dieser Gedanke nicht von ihr stamme, sondern von ihrem Ehemann, dem Bildhauer. Er hatte etwa zur gleichen Zeit seine Überlegungen zur Wirkung der plastischen Form veröffentlicht35 und kam darin zu dem Ergebnis, dass alle Form sich an die Hand, nicht an das Auge wende. Und das wiederum habe Einfluss auf die Entwicklung des Gefühlslebens, denn nur 30
Anka und Gauder: Puppenindustrie. S. 51. Ingrid Stilijanov-Nedo: Fundstücke. In: Lotte Pritzel 1887–1952. Puppen des Lasters, des Grauens und der Ekstase. Katalog des Puppentheatermuseums im Münchener Stadtmuseum. Ausstellung vom 30.1.–29.3.1987. Hg. von Editha Mock und Wolfgang Till. O.O.u.J. [München 1987]. S. 71–74. Hier S. 73. Lotte Pritzel war bekannt und befreundet u. a. mit Rainer Maria Rilke, Hans Bellmer (ebenfalls Puppen-Künstler), Emmy Ball-Hennings, Klabund, Oskar Kokoschka, Erich Mühsam, Franziska zu Reventlow; vgl. “Freunde und Bekannte” in: Lotte Pritzel. S. 93–96. 32 Käthe Kruse: Meine Puppen. In: Velhagen und Klasings Monatshefte 40 (1925/26) 1. S. 337–341. [mit 8 Zeichnungen von Puppen]. 33 Käthe Kruse war mit ihren Stoffpuppen richtungsweisend im Unterschied zu dem ruinösen Nostalgie-Trend in der deutschen Puppenindustrie, so Anka und Gauder: Puppenindustrie. S. 86. 34 Kruse: Puppenspiel. S. 89. 35 Max Kruse [senior]: Ein Weg zu neuer Form. München [1925]. 31
141 richtige Formen erwecken richtige Gefühle. Für Käthe Kruse erklärte das ihre Beobachtung, dass eine nicht-schöne, aber weiche Puppe geliebt werden könne, eine schöne, aber harte und kalte Puppe dagegen für das Kind tot bleibe.36 Diese richtige Form zu finden, hing von geeigneten Vorlagen ab. Der Ehemann, die Tochter Sofie, die ebenfalls Bildhauerin war, sowie der zeitweise Stiefschwiegersohn Igor von Jakimow stellten Porträtbüsten her, die dann als Modelle für die Puppenköpfe dienten – mehrere Puppentypen hatten den Sohn Friedebald zum Vorbild. Auch die Puppenkörper besaßen menschliche Proportionen. Allerdings waren die Körper geschlechtsneutral geformt: Ob es ein Puppenjunge oder ein Puppenmädchen werden sollte, legten erst die Frisur, die Kleidung und der Name fest. Der Verzicht darauf, weibliche und männliche Geschlechtsorgane nachzubilden, vereinfachte die Herstellung und öffnete einen breiten Absatzmarkt, ging aber auf Kosten der angestrebten Natürlichkeit von Puppen. Käthe Kruses Verdikt gegenüber “Naturalismus” und “Realistik” und von “Übertreibungen” in der zeitgenössischen Kunst, die sie als “Panoptikum, Wachsfigurenkabinett, Schreckenskammer – abstoßend und furchterregend”37 bezeichnete, lässt sich jedoch nicht ohne weiteres auf ihre private Einstellung gegenüber Sexualität beziehen, die sie liberal auffasste;38 eher kommt hier ihre Abneigung gegenüber allem, was sie an Tod und Sterben erinnerte zum Ausdruck. Die Mimik der Puppen sollte freundlich neutral sein, damit sie zu möglichst unterschiedlichen Sielsituationen passte. Hinsichtlich der handwerklichen Ausführung ihrer Puppen war Käthe Kruse unerbittlich in ihren Qualitätsansprüchen. So erlaubte sie es ihrem Sohn Max in der Nachkriegszeit nicht, den unter seiner Leitung produzierten großen Bestand von Puppen als “Original Käthe-Kruse-Puppen” zu verkaufen, weil diese nicht das von ihr erwartete Qualitätsniveau erreichten.39 Käthe Kruses Kritik an den konventionellen Puppentypen fiel vernichtend aus. So schrieb sie zum Beispiel über die Gelenkpuppe: “wie überaus abstoßend sind diese zusammengeschraubten Gliedmaßen, dieses häßliche Gemisch von realistischen Mätzchen und tatsächlichem Unvermögen.”40 Falsches Material lehnte sie ab, wie das harte und kalte Porzellan oder das leichte Zelluloid: “Eine Zulluloidpuppe [sic] ist kein Baby, sie ist Luft.”41 Ein besonderer Greuel waren ihr indessen alle mechanischen Vorrichtungen, die eine Puppe mit einem 36
Kruse: Puppenspiel. S. 90. Kruse: Puppenspiel. S. 92. 38 So ihr verständnisvolles Verhalten hinsichtlich der Liebesbeziehung ihres Sohnes Max zu Miriam, vgl. Max Kruse [junior]: Die behütete Zeit. Eine Jugend im KätheKruse-Haus. Stuttgart 1993. Hier S. 250f. 39 Max Kruse [junior]: Die verwandelte Zeit. Der Aufbau der Käthe-Kruse-Werkstätte in Bad Pyrmont. Duisburg 1996. Hier S. 122f. 40 Kruse: Puppenspiel. S. 91. 41 Kruse: Puppenspiel. S. 92. 37
142 Minimum an Beweglichkeit ausstatteten wie Schlafaugen und Laufwerk oder eine Mamastimme. Die Bewegbarkeit und Dynamik einer Käthe-Kruse-Puppen sollten ausschließlich von der Phantasie und der Aktivität der damit Spielenden abhängen. Die Puppe sollte für das Kind etwas sein, “was seine Phantasie laufen läßt.”42 Für geschmacklose Puppen waren nach Käthe Kruses Ansicht die Produzierenden und der Handel verantwortlich und nicht das Publikum. Sie hielt es für “unternehmungslustig” und “denkfaul”, aber auch für “leicht zu lenken” und somit für qualitätsvolle Produkte zu gewinnen.43 Um ein möglichst großes Publikum mit ihren Puppen bekannt zu machen, verfasste sie nicht nur Texte, sondern begann schon früh, mit Fotos für ihre Puppen zu werben.44 Das konnten “Starfotos” einzelner Puppen oder thematisch arrangierte Szenen sein. Abgesehen von Verkaufskatalogen und -prospekten wurden diese Fotos sowohl als Postkarten45 als auch in Puppen-Bilderbüchern verbreitet.46 Postkarten und Bilderbücher waren beliebte Geschenke, besonders wenn eine teuere KätheKruse-Puppe unerschwinglich blieb. Schließlich avancierten Käthe-Kruse-Puppen zu Akteuren in Kinderbüchern von anderen Autorinnen.47 Das alles steigerte den Bekanntheitsgrad der Puppen, prägte deren charakteristisches Aussehen dem allgemeinen Gedächtnis ein und hob sie dadurch aus der Masse des Marktangebots. Der Namenszug “Käthe Kruse”48 wurde zum Markenzeichen. Wie schon die Spielpuppen arrangierte Käthe Kruse auch ihre Schaufensterpuppen zu aufwendig dekorierten, lebensechten Szenen. Den Anfang machte 1928 ein Auftrag des Kaufhauses Oberpollinger in München, dem sie zum Muttertag Puppen in Kindergröße liefern sollte.49 Käthe Kruse entwickelte aus ihren 42
Kruse: Meine Puppen. S. 338. Kruse: Meine Puppen. Zitierte Begriffe s. S. 337. 44 Zum Beispiel das Foto “Kindliche Szene mit Puppe I” aus dem Jahr 1911, abgedruckt in: Richter: Käthe-Kruse-Puppen. S. 21. Vgl. dazu Katharina Sykoras Analyse eines Werbefotos, das Xanti Schawinsky von zwei Käthe-Kruse-Puppen 1930 gemacht hat, in: Sykora. Paarungen. S. 115–117 mit Bild. 45 Zum Beispiel Postkarten mit den Puppen “Ilsebill” und “Friedebald” aus den 1930er Jahren, abgedruckt in: Richter: Käthe-Kruse-Puppen. S. 57. 46 Zum Beispiel: Das Käthe Kruse Bilderbuch. Text von Max Jungnickel. München [1925] (Dietrichs Münchener Künstler Bilderbücher 4); Käthe Kruse: Bei Spiel und Sport. Ein neues Bilderbuch. München 1929 (Dietrichs Künstler-Bilderbücher). 47 Sophie Reinheimer: Die wunderbare Puppenreise. Mit Illustrationen von Ingeborg Haun. München 1985. Zuerst um 1934. Erzählt wird die Geschichte von Anneliese und ihren Käthe-Kruse-Puppen; vgl. dazu Max Kruse [junior]: Die versunkene Zeit. S. 203. Karin Schrey: Ringelrosenpuppenreigen. Abenteuer einer Käthe-Kruse-Puppe. Duisburg 1995. 48 Der Namenszug “Käthe Kruse” wurde auf die linke Fußsohle der Puppen gestempelt. Seit 1923 war er als Schutzmarke in Deutschland registriert, vgl. Anka und Gauder: Puppenindustrie. S. 229. 49 Vgl. Richter: Käthe-Kruse-Puppen. S. 102. Fotos S. 108. – Zur Geschichte von Schaufensterpuppen in Berlin vgl. den Beitrag von Marianne Vogel in diesem Band. 43
143 Spielpuppen die Schaufensterfiguren, die aufgrund eines bewegbaren Skeletts in unterschiedliche lebensechte Stellungen gebracht werden konnten. Das Arbeitsgebiet Schaufensterfiguren behandelt sie in ihrer Autobiographie als letztes großes Thema (Vgl. Abb. 3). Ausführlich geht sie darauf ein, welche künstlerischen Anforderungen Dekorateure zu erfüllen hatten, um für künftige Konsumenten natürlich wirkende Szenarien in einem Schaufenster zu gestalten: die eines Bildhauers, um natürliche Körperhaltungen zu formen; die eines Malers, um ein Bild zu komponieren und die Figuren in einen inneren Zusammenhang zu bringen; schließlich die eines Dichters, um Stimmungen und Gefühle zu erzeugen.50 Dass bei diesem Aufwand der geschäftliche Erfolg ausbleiben musste, wundert nicht. Die Produktion der Schaufensterpuppen wurde deshalb Ende der 1950er Jahren eingestellt. Schaufensterfiguren als Akteure in einem Buch sind sicher selten. Aber in ihrem autobiographischem Kinderbuch “Kuddelmuddel” erzählt Käthe Kruse Geschichten von sich und ihren Kindern, von ihren Puppen und Schaufensterfiguren, von ihren Tieren und von Apparaten.51 Es ist ein Fototext,52 der Autobiographisches mit Fiktivem mischt und in dem Text und Bilder eng aufeinander bezogen sind. Dass Käthe Kruse nicht beabsichtigte, Kinder zu verwirren oder zu verunsichern, geht aus ihren einleitenden Sätzen hervor. Vor allem bereitete sie junge Leser und Leserinnen darauf vor, dass es an der Einbildungskraft der Erzählerin liege, wenn die Puppen und Apparate – zum Beispiel der Fotoapparat Otto – in der Erzählung lebendig würden.53 Käthe Kruse setzt in diesem Buch vielfältige Strategien des Verlebendigens ein. Ein Beispiel dafür ist die Fotografie mit der Bildunterschrift “Puppendame Marie schreibt einen Brief ” (Vgl. Abb. 4).54 Sie zeigt die Schaufensterpuppe Marie, das Ebenbild von Käthe Kruses ältester Tochter Maria, beim Schreiben. Doch erst bei genauerem Hinsehen ist zu erkennen, dass es sich um eine Puppe handelt. Das liegt am technischen Verfahren der Fotografie, das “einen Augenblick einfriert”.55 Dadurch wird der Verwechslung von Frau und Puppe eine 50 Kruse: Puppenspiel. S. 160f.; ähnlich über die Wirkungsweise des Ambientes bei Werbefotos Gérard Lagneau: Optische Tricks und Gaukelspiel. In: Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Hg. von Pierre Bourdieu, Luc Boltanski, Robert Castel, Jean-Claude Chamboredon, Gérard Lagneau und Dominique Schnapper. Frankfurt/M. 1983. S. 164–184. Hier S. 180. 51 Käthe Kruse: Kuddelmuddel. Plaudereien von Kindern, Puppen und Tieren. Mit 34 Aufnahmen aus der Werkstatt der Verfasserin. 2. Aufl. der unveränd. Neuausgabe der 9. Aufl. Duisburg 1991. Zuerst 1935. 52 Blazejewski: Bild und Text. S. 59. 53 Kruse: Kuddelmuddel. Hier S. 5. 54 Kruse, Kuddelmuddel, letzte Fotosequenz hinter S. 52. 55 Esther Ruelfs: Mannequin oder Model? In: Puppen, Körper, Automaten. Phantasmen der Moderne. Hg. von Pia Müller-Tamm und Katharina Sykora. Köln 1999. S. 336–337. Hier S. 336.
144 Dauer verliehen, wie sie in der Realität nur sehr kurz Bestand hätte: “Auf paradoxe Weise wird die erstarrte Puppe durch den starren Blick des Kameraauges verlebendigt.”56 Aber auch das Ambiente, vor allem die Beleuchtung, lässt die Puppendame lebendig wirken. Im Text verstärken der persönliche Name Marie und der Hinweis auf ihre Aktivität des Schreibens diesen Effekt. Dass es sich dabei um einen Brief handelt, der an die lesenden Kinder gerichtet und zudem im Buch abgedruckt ist, erzeugt einen Illusionsraum, der die realen Grenzen zwischen Lesenden, erzählender Autorin und schreibender Puppendame unscharf werden lässt. Gesteigert wird diese komplexe Kommunikationsstruktur noch durch die Mischung von Themen, die auf verschiedenen Realitätsebenen angesiedelt sind. Besonders deutlich zeigt das der Beginn des Briefes: ‘Liebe Kinder’, schreibt sie [die Puppendame Marie, GW], ‘ich bin sehr glücklich hier, denn ich sehe bestimmt sehr hübsch aus, und dann ist man immer glücklich. Ganz einerlei, ob man ein Mensch ist oder nur eine Puppe. Es ist natürlich nicht der beste Grund zum Glücklichsein, aber ich habe auch noch andere. Jochen, einer von Maxls großen Brüdern, den Ihr zwar noch nicht kennt, der Euch aber das Bild auf dem Einband dieses Buches gemalt hat, der macht mir immer so hübsche Kleider. Aber denkt nicht, daß ich nur an oberflächliche Dinge denke! O nein. Ich würde zum Beispiel furchtbar gern richtig schreiben können, so wie Ihr, und jemand richtig helfen können, so wie Ihr! Es ist doch eigentlich gar nicht hübsch, nur eine Puppe zu sein, wenn man beinahe so aussieht wie ein Mensch. […]’57
Die Autorin Käthe Kruse erweist sich auch hier als phantasievolle Grenzgängerin zwischen Realität und Fiktion, für die es keine medialen Barrieren zu geben scheint. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Käthe Kruse sich bei der Herstellung ihrer Puppen erfolgreich an die Familien- und Weiblichkeitsvorstellungen eines bürgerlichen Publikums anpasste, ohne ihre eigenen ästhetischen Ideale aufzugeben. Ihr Lebensweg indessen entsprach kaum dem für Frauen geltenden traditionellen Leitbild., was durch die Beliebtheit ihrer Puppen und ihre geschäftlichen Erfolge in den Hintergrund trat. Den Kontakt zum Publikum hielt sie mit Hilfe multimedialer Inszenierungen, in denen sie die künstlerischen und handwerklichen Qualitäten ihrer Puppen propagierte. Ihre Puppen sollten beglückende Gefühle und Liebe wecken, die Phantasie beflügeln und die damit spielenden Kinder erziehen. Für diese Ziele überschritt sie Grenzen unterschiedlichster Art, oft – aber nicht immer – bewusst. Ihr Sohn Max Kruse charakterisierte sie deshalb als eine gefühlsbetonte, humorvolle Person, die das Wunder fertig brachte, “auf eine vollkommen artifizielle Art naiv, und auf vollkommen naive Weise artifiziell zu sein.” 58 56 57 58
Ruelfs: Mannequin oder Model? S. 336. Kruse: Kuddelmuddel. S. 63–67. Kruse [junior]: Versunkene Zeit. S. 79.
Abb. 1. Beginn des Familienalbums: Mit der ersten Tochter Mimerle
Abb. 2. Die allerersten Käthe-Kruse-Puppen
Abb. 3. Im Kreise ihrer Geschöpfe
Abb. 4. Puppendame Marie schreibt einen Brief
Cathy S. Gelbin
Das Monster kehrt zurück: Golemfiguren bei Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration1 Golem figures have long signified the inside/outside position of Jews in the Germanspeaking lands. This article traces the re-emergence of the Golem trope in the writings of Benjamin Stein, Esther Dischereit and Doron Rabinovici, who construct the android as a symbol of the Jewish cultural renaissance in contemporary Germany and Austria. In the past a trope of destruction, memory and return, the Golem now serves to represent both the Jewish Second Generation as the embodied memory of the Shoah and the powerful renewal of European Jewry beyond the national and political confines of Wall-time Europe.
Seit zweihundert Jahren greifen Autoren in Zeiten gravierender historischer und sozialer Veränderungen vermehrt auf die Figur des Golem zurück, die von der mittelalterlichen Kabbalah inspiriert, jedoch bereits in Torah und Talmud2 angelegt ist. Ihre jüngste Popularität in den Werken junger jüdischer Autoren symbolisiert nicht nur den Schritt der jüdischen Nachkriegsgeneration in das kulturelle Rampenlicht, sondern auch die breitere Wiederbelebung jüdischer Kulturen im Kontext des sich seit 1989 neu ordnenden Europa. Christliche Romantiker entlehnten die literarische Trope des Golem aus der jüdischen Volkstradition. Erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts auch bei jüdischen Autoren zunehmend populär, verkörpert der Golem seit langem die ambivalenten Außen- und Innenperspektiven auf Juden in den deutschsprachigen Ländern. Eine polnisch-jüdische Legende mit einem ständig wachsenden Golem erreichte das deutsche Publikum 1714 durch Johann Jacob Schudts Jüdische Merkwürdigkeiten.3 Schudts Version wurde 1808 von Jakob Grimm aufgegriffen, gefolgt 1812 von Achim von Arnims und 1822 von E.T.A. Hoffmanns 1
Die englische Erstfassung dieses Beitrages erscheint voraussichtlich 2005 unter dem Titel: The Monster Returns: Golem Figures in the Writings of Benjamin Stein, Esther Dischereit and Doron Rabinovici. In: Jewish Writing in Austria and Germany Today. Hg. von Hilary Herzog, Todd Herzog und Benjamin Lapp. New York. Ich danke dem Berghahn Verlag für die freundliche Genehmigung zum deutschen Wiederabdruck. 2 Der Begriff “Golem” erscheint zum ersten Mal in Psalm 139:16 und konnotiert dort eine formlose Masse. 3 Vgl. Eveline Goodman-Thau: Golem, Adam oder Antichrist – Kabbalistische Hintergründe der Golemlegende in der jüdischen und deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwischen Magie und Trope. Hg. von Eveline Goodman-Thau et al. Tübingen 1999. S. 105f. Die polnische Legende entstand um 1600 und schreibt die Erschaffung eines Golem dem Rabbi Elijahu Baalschem von Chelm zu. Sie ging der Verbindung der Golemtradition mit dem Prager Rabbi Jehuda Löw (Maharal) voraus, die erst Mitte des 18. Jahrhunderts entstand.
146 Versionen.4 Das Auftreten der Golemtrope als Inbegriff von Juden als ‘Anderen’ deutet die zeitgenössische Ablehnung der Judenemanzipation in jener Phase an, in der die 1812 gewonnenen Bürgerrechte für die preußischen Juden allmählich rückgängig gemacht wurden.5 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich der Golem in eine Figur gespenstischer Erinnerung gewandelt. Diese Assoziationen verdankten sich großenteils Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht “Die Golems” von 1844 und fanden ihren vorläufigen Höhepunkt in Gustav Meyrinks zuerst 1915 veröffentlichtem Roman Der Golem.6 Der radikale Zusammenstoß von jüdischer Assimilation und wachsendem Antisemitismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlug sich in der wachsenden Popularität von Golem- und verwandten Figuren nieder,7 darunter Max Brods Tycho Brahes Weg zu Gott (1915), Paul Wegeners GolemFilm (1920) und Fritz Langs Metropolis (1927). Während der ersten beiden Dekaden nach der Shoah nahmen sich jüdische Autoren vermehrt der maßgeblich von Droste-Hülshoff und Meyrink geprägten Bedeutung des Golem als Gestalt gespenstischer Erinnerung an. Wie Dagmar Lorenz zeigt,8 figurieren der Golem und sein Schöpfer, Rabbi Löw, bei Leo Perutz (1953), Friedrich Torberg (1968) und Frank Zwillinger (1973) als Zeichen der Erinnerung sowohl an die ausgelöschte jüdische Gemeinschaft der Vorkriegszeit als auch an die Shoah selbst.9 Nach einer Periode der Latenz 4
Vgl. Jakob Grimm: Kleinere Schriften. Bd. IV. Berlin 1869. S. 22, Achim von Arnim: Isabella von Ägypten, Kaiser Karl des Fünften erste Jugendliebe. Stuttgart 1997, und E.T.A. Hoffmann: Die Geheimnisse. Frankfurt a.M. 1996. 5 Howard Malchow zufolge widerspiegeln die britischen Monsterfiguren des 19. Jahrhunderts, darunter Mary Shelleys eventuell von der Golemsage inspirierter Roman Frankenstein, die zeitgenössischen Ängste vor ethnischer und kultureller Heterogenität im Zeitalter der bevorstehenden Emanzipation der schwarzen Sklaven in den britischen Kolonien. Vgl. H.L. Malchow: Gothic Images of Race in Nineteenth-Century Britain. Stanford: University Press 1996 und Elaine Graham: Representations of the post/human: Monsters, Aliens and Others in Popular Culture. New Brunswick 2002. S. 85. 6 Annette von Droste-Hülshoff: Die Golems. In: Werke und Briefe. Bd. I: Lyrik: Epische Dichtungen. Hg. von Manfred Jäckel. Leipzig 1976. S. 639–641. 7 Vgl. Peter Demetz: Die Legende vom magischen Prag. In: Transit. Europäische Revue 7 (1994). S. 142–161. 8 Dagmar Lorenz: Transcending the Boundaries of Space and Culture: The Figures of the Maharal and the Golem after the Shoah – Friedrich Torberg’s Golems Wiederkehr, Leo Perutz’s Nachts unter der steinernen Brücke, Frank Zwillinger’s Maharal, and Nelly Sachs’s Eli. Ein Mysterienspiel vom Leiden Israels. In: Transforming the Center, Eroding the Margins: Essays on Ethnic and Cultural Boundaries in German-Speaking Countries. Hg. von Dagmar Lorenz und Renate S. Posthofen. Columbia 1998. S. 285–302. 9 Leo Perutz: Nachts unter der steinernen Brücke. Wien 2000; Friedrich Torberg: Golems Wiederkehr. In: Golems Wiederkehr und andere Erzählungen. München 1977. S. 137–185; Frank Zwillinger: Maharal. Schauspiel in 5 Akten. In: Geist und Macht. Vier Dramen. Österreichische Dramatiker der Gegenwart. Hg. von Friedrich Geyer. Wien 1973.
147 kehrt der Golem nun aufs Neue in den Werken junger jüdischer Autoren zurück. Benjamin Stein (1995), Esther Dischereit (1996) und Doron Rabinovici (1997) interpretieren den mit der Kabbalah begonnenen ethischen Diskurs um den Golem und seine nichtjüdische Besetzung als Ausdruck der Unheimlichkeit der Juden.10 In ihren Werken kehrt der Golem zurück als Zeichen der Zerstörung jüdischen Lebens und der Erinnerung an die Shoah, aber auch der machtvollen Erneuerung der europäisch-jüdischen Kultur seit 1989.
I. Benjamin Stein: Das Alphabet des Juda Liva Benjamin Steins Roman Das Alphabet des Juda Liva (1995) verhandelt durch das Golemthema die seit den achtziger Jahren zunehmende Entfremdung der ostdeutschen Zweiten Generation von den kommunistischen Idealen der Eltern. Mit Komik erzählt Stein die Geschichte seines Protagonisten Alexander Rottenstein und des mysteriösen Jacoby alias Nathan ben Gazi als moderne Variante des falschen Messias Schabbatai Zwi aus dem 17. Jahrhundert, der seiner Exekution durch Konversion zum Islam entging, und seines Propheten Nathan von Gaza. Auf Jacobys Kassettenaufnahmen gestützt, verfolgt Steins Erzähler die fantastische Transformation Rottensteins vom jungen Ost-Berliner “Goi” zum kabbalistischen Messias über seine Reisen nach Berlin, Prag, Budapest, Jerusalem und zurück. Die Präsentation dieser Geschichte in der Form eines sich in der Lektüre nur langsam erschließenden Mosaiks widerspiegelt das Stückwerk von Rottensteins Familiengeschichte und zwingt, die scheinbar unzusammenhängenden Teile der Erzählung eigens zusammenzusetzen. Der kabbalistische Gedanke des Tikkun (Heilung), der Zusammensetzung der die Emanation göttlichen Lichts enthaltenden, nach Adams Sünde zerbrochenen Gefäße wird so in den Akt des Geschichtenerzählens und -lesens selbst übersetzt. Gershom Scholem hat die mystische Erfahrung als essentiell “unbestimmt und unartikuliert” beschrieben,11 Aspekte, die auch die kabbalistische Konzeption des Golem kennzeichnen. Der stumme Androide ist weder Mensch noch Tier, jedoch auch nicht tote Materie. Er existiert im Raum zwischen Leben und Tod, so wie nur der erste Buchstabe des in sein Amulett eingravierten Wortes emeth (Wahrheit) dieses von meth (Tod) unterscheidet. Die mystische Natur der künstlichen Schöpfung setzt Rottensteins spirituelle Transformation durch seine Begegnungen mit dem Golem in Prag in den Jahren 1987 und 1991 in Bewegung. Rottensteins surreales Erwachen als der Messias in Prag, angetrieben von der Schwellenfigur des Golem, evoziert und verkehrt die 10
Benjamin Stein: Das Alphabet des Juda Liva. München 1998; Esther Dischereit: Als mir mein golem öffnete. Passau 1996; Doron Rabinovici: Suche nach M. Frankfurt a.M. 1999. 11 Gershom Scholem: Zur Kabbalah und ihrer Symbolik. Frankfurt a.M. 1973. S. 19.
148 Tiersymbolik in Kafkas “Verwandlung”.12 Wo Kafkas ‘hybrides’ Insekt den inneren Verfall des sich assimilierenden Westjuden symbolisieren mag,13 verweist Steins Golem auf die Abkehr des Protagonisten vom Assimilationsprozess und seine Behauptung einer traditionellen jüdischen Identität. Im Androiden erkennt Rottenstein seine Gestalt im kabbalistischen Sinn, das heißt sowohl sein profanes Selbst in der materiellen Welt als auch sein mystisches Potential.14 Steins halbwüchsiger Golem, im Alter von zwölf auf der Schwelle zur religiösen Initiation in das Judentum durch die Bar Mitzwah, widerspiegelt Rottensteins von der Assimilation konditioniertes, noch unentwickeltes ethisch-jüdisches Selbst und signalisiert seine mystische Transformation. So verweist die Zahl Zwölf auch auf die von Rottensteins Ur-Urgroßvater vollzogene Abkehr vom Judentum im zweiten Buch des Romans, das den Titel “Die zwölf Einfachen oder Vom Bruch der Gefäße” trägt. Der Kabbalah zufolge symbolisieren zwölf Buchstaben des hebräischen Alphabets niedere Ausdrucksformen der menschlichen Existenz wie Sexualität, Zorn und Schlaf. Stein assoziiert die Assimilation mit jener niederen Ebene des menschlichen Potentials indem er die Geschichte seines Protagonisten bis zu seiner Verwandlung in die “untere” bzw. ‘reale’ Welt des Romans verlegt. Allerdings scheint der Siegeszug des Kapitalismus nach 1989 keine Alternative zu den falschen Verlockungen kommunistischer Ideale zu bieten. Stattdessen bildet die Konsumgesellschaft, die mit der westlichen Spaßgeneration nach Prag gelangt, lediglich die letzte Manifestation der ‘realen’ Welt, die Rottenstein zum Zweck des Tikkun überwinden muss. Während der Schwellencharakter des Androiden auf die politische Transformation Europas verweist, die sich im Zeitraum der zwei Begegnungen Rottensteins mit dem Golem entfaltet, signalisiert der Golem auch Identitätswiderspruch des Protagonisten als “der jüdischste Goj, den die Welt je gesehen hat”15 Wie sein Freund Jacoby höhnisch erinnert, gilt Rottenstein aufgrund seiner gebrochenen jüdischen Genealogie nach rabbinischem Recht nur als “deutscher Goj”,16 eine Konstruktion, die eine entscheidende Rolle für den Vollzug der mystischen Erlösung im Roman spielt. Der Gedanke der mit einem Makel 12 Franz Kafka: Die Verwandlung. In: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt a.M. 1995. S. 56–99. 13 So argumentiert Ritchie Robertson, dass “Die Verwandlung” die konfliktbeladene kulturelle und soziale Zwischenstellung von Kafkas jüdischer Generation widerspiegelt, die sich im Gegensatz zu den Eltern bereits stärker assimiliert hatte. Vgl. Kafka. Judaism, Politics, and Literature. Oxford 1985. S. 85. 14 Gershom Scholem untersucht den Gedanken der kabbalistischen ‘Gestalt’, die gleichzeitig auf die Taten einer Person in der materiellen Welt und ihr höheres Selbst verweist. Vgl. Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Frankfurt a.M. 1977. S. 249ff. 15 Stein (Anmerkung 10). S. 249. 16 Ebd.
149 behafteten Herkunft des Messias findet sich auch in der Kabbalah, derzufolge jener entweder vom Sünder Adam über David in seine gegenwärtige Manifestation reinkarniert sein oder gar als neue, noch nicht im Volk Israel zirkulierte Seele erscheinen würde.17 Obwohl Steins ‘hybrider’ Messias das in traditionellen jüdischen Gemeinden verbreitete Beharren auf ethnischer und religiöser Homogenität konterkariert, fällt diese Konstruktion gleichzeitig auf die oftmals mit dem Golemthema verbundene negative Einschreibung ethnischer, kultureller und religiöser Grenzüberschreitungen zurück. Wo Arnims weiblicher Golem als Ebenbild der niederländisch- ‘zigeunerischen’ Isabella deren Liebschaft mit einem tugendhaften Christen zerstören soll, figurieren ein hinterlistiger, mit einem Knopf statt eines Herzens ausgestatteter Kabbalist und sein griechisch-deutscher Androide in Hoffmanns Geheimnisse als die negativen Seiten eines hybridisierten Orients. Auch Meyrinks Golem widerspiegelt den körperlichen, moralischen und sexuellen Verfall der ethnisch heterogenen Bewohner des ehemaligen Ghettos, während Wegeners Film-Golem das destruktive Potential christlich-jüdischer Vermischungen postuliert.18 Entsprechend der häufigen Assoziation von ‘Hybridität’ mit sexueller Überschreitung19 symbolisiert der Golem auch Rottenscheins sexuelle Verfehlungen. Der Begriff des Golem ist in der Vergangenheit auch mit “Embryo” übersetzt worden,20 eine Konnotation, die Scholem zwar zurückweist,21 die möglicherweise jedoch aus der ursprünglichen Bedeutung des Wortes als “formlose Masse” abgeleitet ist. Der Golem, der sowohl die Masturbation des halbwüchsigen Rottenstein als auch die vom erwachsenen Protagonisten unwissend verursachte Schwangerschaft verkörpert, steht letztendlich ein für Steins Konstruktion von ungezügelter Maskulinität als Zeichen der makelhaften menschlichen Natur. Denn in der Welt der ‘Wirklichkeit’ missbrauchen und verlassen die männlichen Romanhelden die sie liebenden Frauen, eine Kette von Verrat, die diese durch die Verbrennung ihrer abgefallenen Liebhaber gewaltsam rächen werden. 17
Scholem (Anmerkung 14). S. 201 und 211. Vgl. Cathy S. Gelbin: Narratives of Transgression, from Jewish Folktales to German Cinema: Paul Wegener’s Der Golem, wie er in die Welt kam (The Golem: How He Came into the World, 1920. In: Kinoeye. New Perspectives on European Film 3.11 (13 October 2003). 19 Vgl. Christina von Braun: “Die ‘Blutschande’. Wandlungen eines Begriffs: Vom Inzesstabu zu den Rassegesetzen. In: Die schamlose Schönheit des Vergangenen. Zum Verhältnis von Geschlecht und Geschichte. Frankfurt a.M. 1989. S. 81–112, sowie Cathy S. Gelbin: An Indelible Seal: Race, Hybridity and Identity in Elisabeth Langgässer’s Writings. Essen 2001. S. 13–30. 20 Wilhelm Gesenius: Hebräisches und aramäisches Wörterbuch über das alte Testament. Berlin: F.W.C. Vogel 1962. S. 142. 21 Gershom Scholem (Anmerkung 11). S. 212. 18
150 In den jüdischen Feuerengeln Miriam, Lydia und Eva sowie in dem weiblichen Engel des Todes manifestiert sich im Text eine höhere Symbolik auf Erden, während das weibliche Prinzip in der ‘höheren Welt’ abwesend ist. Auch die kabbalistische Vorstellung von der Torah als eine den Mystiker lockende, doch sich dann verbergende Frau sah das Weibliche als Vermittlerin der Gottheit, ein insbesondere die Schechinah kennzeichnender Aspekt. In der Tat rekurrieren Steins übernatürliche weibliche Figuren mit ihren gleichzeitig erhabenen und zerstörerischen Eigenschaften auf die Figur der sowohl gütigen als auch strafenden Schechinah als den weiblichen Aspekt Gottes, der dem jüdischen Volk ins Exil folgte. Steins geschlechterdifferenzierte Darstellung der ‘höheren’ und ‘niederen’ Welten transportiert die traditionelle jüdische Vorstellung des Göttlichen in der männlichen Symbolik, welche das Weibliche lediglich vermitteln oder in seinen negativen Aspekten verkörpern kann. Weibliche Figuren auf der Ebene des Symbolischen fungieren entweder als destruktiv oder katalysieren die Verwandlung von Rottensteins unethischer männlicher Natur, ohne selbst in den Bereich des Göttlichen einzutreten. Der Golem signalisiert somit auch die Überwindung des mit dem weiblichen Prinzip assoziierten Exils, welches die Söhne Israels vom männlichen Gott entfremdet. In den weiblichen Feuerengeln und dem vom Todesengel bewohnten Park mit den Aschenwegen, der Rottensteins Vorfahren vor dem Tod erscheint, konfiguriert der Roman so in problematischer Weise die Shoah als göttliche Strafe für die Assimilation.
II. Esther Dischereit: Als mir mein Golem öffnete Im Gegensatz zu Steins Roman signalisiert das Golemthema bei Esther Dischereits die Unmöglichkeit, nach der Shoah nahtlos an jüdische und deutsche Kulturformen der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Dischereits Gedichtband Als mir mein Golem öffnete hinterfragt die Bedingungen kollektiver jüdischer Erfahrung in Deutschland nach der Shoah. Der Golem steht hier für eine kollektive jüdische Erfahrung entsprechend der Beobachtung Gershom Scholems, dass der Androide der jüdischen Volkslegende als Symbol “des jüdischen Volkes selber […] gedeutet werden [mag]”.22 Gleichzeitig verweist diese Figur bei Dischereit auf die Besonderheiten weiblich-jüdischer Identität.23 In der Tat hat die Golemfigur seit ihrem Eintritt in die literarische Arena wiederholt der Rekonfiguration weiblicher Subjektivität gedient, beginnend
22
Gershom Scholem (Anmerkung 11). S. 259. Vgl. Itta Shedletzky: Eine deutsch-jüdische Stimme sucht Gehör – Zu Esther Dischereits Romanen, Hörspielen und Gedichten”. In: In der Sprache der Täter. Neue Lektüren deutschsprachiger Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur. Hg. von Stephan Braese. Opladen: Westdeutscher Verlag 1998. S. 199–225. 23
151 mit ihrer negativen Einschreibung in Arnims Isabella von Ägypten. Unlängst haben ähnlich Dischereit Autorinnen aus dem anglo-amerikanischen Bereich wie Marge Piercy (1991), Ellen Galford (1993) und Cynthia Ozick (1997) das Golemthema aufgegriffen,24 um die sich im ausgehenden 20. Jahrhundert verändernden Koordinaten von jüdischen Geschlechter- und sexuellen Identitäten darzustellen. Die in der Golemfigur angelegte Heterogenität ermöglicht es diesen Autorinnen, multiple Alteritäten in den Kontext eines jüdischen Kollektivs einzubetten, das seine zentralen Symbole aus der europäisch-jüdischen Erfahrung bezieht. Wie Dischereit anderswo bemerkt, läuft diese kollektive Erfahrung dem feministischen Impetus der Geschlechterdifferenzierung zuwider: Vom Genozid an den Juden hatte gesprochen werden sollen als von einem Mord an Millionen Jüdinnen [sic] und Juden. Obwohl wir alle Frauen waren, konnten wir Jüdinnen uns hier zu dieser sprachlichen Korrektheit nicht bereit finden, weil wir angesichts der NS-Rassenpolitik jeden Unterschied des Geschlechts ausgelöscht fanden. Es war für die Tötung nicht von Belang, ob einer Mann oder Frau gewesen war. […] Wir waren Juden und immer Juden gewesen und die vor uns auch. Es war uns so, als ob das dünne Band, das uns mit Eltern und Großeltern und den unbekannten Anderen verband, wegen eines anderen Ziels zerschnitten würde.25
Dischereits Bestehen auf einer kollektiven Geschichte anstelle einer geschlechtsspezifischen Erfahrung von jüdischen Frauen und Männern während der Shoah muss als strategische Zurückweisung einer feministischen Geschlechtertrennung der NS-Opfer gelesen werden. Insbesondere Joan Ringelheim argumentierte in den neunziger Jahren, dass die nationalsozialistische ‘Endlösung’ zwar das gesamte europäische Judentum zum Tode verurteilte, die Ausbeutung der Arbeitskraft junger jüdischer Männer diesen jedoch eine verlängerte Chance des Überlebens ließ.26 Im Gegensatz dazu wurden jüdische Frauen, insbesondere wenn sie Kinder bei sich hatten, in der Regel sofort nach ihrer Ankunft in den Vernichtungslagern in die Gaskammern geschickt. Dem winzigen Überrest der europäischen Juden zugehörig, weist Dischereit den Gedanken einer Geschlechtsspezifik während der Shoah zurück. Stattdessen betont sie durch die Golemfigur die kollektive jüdische Erfahrung von Verfolgung und Ermordung, um so eine fragile Verbindung zu den in der 24
Marge Piercy: He, She and It. New York: Fawcett Crest 1993; Ellen Galford: The Dyke and the Dybbuk. Seattle, Washington 1993; Cynthia Ozick: The Puttermesser Papers. New York 2000. 25 Esther Dischereit: Der kubistische Blick. Wer schreibt eigentlich, wenn ich schreibe? In: AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen in Deutschland. Hg. von Cathy Gelbin et al. Königstein/Ts. 1999. S. 240–241. 26 Joan Ringelheim: Verschleppung, Tod und Überleben. Nationalsozialistische Ghetto-Politik gegen jüdische Frauen und Männer im besetzten Polen. In: Nach Osten. Verdeckte Spuren nationalsozialistischer Verbrechen. Hg. Theresa Wobbe. Frankfurt a.M. 1992. S. 135–160.
152 Shoah verlorenen Generationen und der Minorität der Überlebenden zu konstruieren. Während Dischereits Lyrik die Wiederaneignung jüdischer Vorkriegstraditionen als unmöglich konfiguriert, kann sie durch den Golem ihr eigenes Schreiben in den Zusammenhang einer gebrochenen Tradition jüdischer Lyrik in der deutschen Sprache stellen. In ihren in der Sprache der Täter geschriebenen Werken besteht sie auf sprachlichen und inhaltlichen Formen, die die aus der Shoah resultierenden Brüche aufzeigen. Die Zweite Generation mag jüdische Rituale als Form des kulturellen Widerstandes gegen die anhaltende Furcht vor der Vernichtung praktizieren: “Übe das Tales tragen / […] / schütze dich vor der Hand, die über die Buchstaben streicht”, diese Gesten bleiben jedoch hohl, denn “Niemand kann sich den G’tt / wie ein Bonbonglas kaufen”.27 Im ersten Gedicht erscheint der Golem dem lyrischen Ich als verkörperte Erinnerung an die Shoah: “Ich saß / vor deiner Tür / als mir mein Golem / öffnete”.28 In der zweiten Zeile wechselt das lyrische Ich jedoch offensichtlich in die Perspektive des Golem, der von einer anonymen Anderen zerstört wird: “führte mich / abseits / und strich / mir die Zeile / aus” (ibid.). Hierbei scheint es sich um die lyrische Adressatin zu handeln, die am Ende des Gedichtes Staub fegt, wohl die Überreste des zerfallenen Golem. Die grammatischen Mehrdeutigkeiten und vielen Zeilenumbrüche in Dischereits Lyrik widerspiegeln den Zusammenbruch von Sprache und von Sinneszusammenhängen allgemein durch die vom Golem verkörperte Shoah. Dischereits ambivalente Besetzung des Golem sowohl als Agent der Zerstörung einerseits als auch ihr Opfer andererseits suggeriert eine von innen her stattfindende Vernichtung ähnlich dem Genozid, der eben jener Kultur entsprang, an der die deutschsprachigen Juden teilgenommen hatten. Die lyrische Adressatin symbolisiert so den deutschen Verrat am jüdischen Vorkriegstraum von der ‘deutsch-jüdischen Symbiose’ sowie, in ihrem radikalen Verschwinden in der zweiten Gedichtzeile, die Unmöglichkeit eines Dialogs über die Gräben des Genozids hinweg. Die Bildlichkeit dieses Gedichts bezieht ihre Assoziationen aus der von Droste-Hülshoff und Meyrink entscheidend mitgeprägten Trope des Golem als unheimlichem Doppelgänger der Erinnerung. Dischereit evoziert jedoch auch die jüdischen Ikonen der Nachkriegslyrik in der deutschen Imagination jüdischer Kultur. In Nelly Sachs’ erstmalig 1949 in der Sternverdunkelung veröffentlichtem Gedicht “Golem Tod” erscheint der Golem als Symbol des Verfolgers, jedoch auch der Unzerstörbarkeit und Heiligkeit des jüdischen Volkes. Sachs’ Golem integriert letztendlich den tödlichen Widersacher – das seine Arme “mit falschem Segen” öffnende Skelett – und sein Opfer – Gottes verlorene Braut Israel – in den Gedanken göttlicher Erlösung, “denn nicht 27 28
Esther Dischereit (Anmerkung 10). S. 10. Ebd.: 5.
153 kann Geschaffenes ganz zugrunde gehn – / und alle entgleisten Sterne / finden mit ihrem tiefsten Fall/immer zurück in das ewige Haus”.29 In ähnlicher Weise postuliert auch Paul Celans Lyrik die jüdische Hoffnung auf Erlösung im Angesicht des Mordes, jedoch indem der Messianismus selbst in Frage gestellt wird. Celans 1963 im Band Die Niemandsrose erschienenes Gedicht “EINEM, DER VOR DER TÜR STAND” spielt auf die Golemtradition an.30 Der anonyme, vor der Tür stehende Andere mag der Golem sein, der der Volkserzählung nach seine Zerstörungsorgie am Vorabend des Schabbat entfachte31 oder, wie Derrida argumentiert, gar der die Ankunft des Messias ankündigende Prophet Elijahu.32 Bereits Neumann verweist auf die messianische Polarität des Gedichtes zwischen äußerster Bedrängnis und dem erstickten Schrei nach Erlösung,33 eine Kafkas Anspielung auf den Golem in “Das Stadtwappen” ebenfalls kennzeichnende Dualität.34 Celans abgebrochener Anruf an den Rabbi Löw in der letzten Gedichtzeile suggeriert den grausamen Aufeinanderprall von jüdisch-messianischer Hoffnung mit der als spirituelle und physische Reinigung der deutschen Volkes konzipierten nationalsozialistischen Vernichtung der Juden. Die messianischen Assoziationen des vor der Tür Stehenden und seine Verwandtschaft mit dem Widersacher, “dem / im kotigen Stiefel des Kriegsknechts / geborenen Bruder”35 finden ihr Echo in der Polarität von Dischereits Golemfigur. Dischereits Anspielungen auf den Kanon jüdischer Lyrik nach der Shoah karikieren die obszöne Stilisierung jüdischer Dichterinnen wie Nelly Sachs und Rose Ausländer zu Ikonen der Versöhnung,36 sowie die bundesdeutsche Fetischisierung jüdischer Kultur in den neunziger Jahren überhaupt. Der golemBand der Dichterin proklamiert die Wiederaneignung des lyrischen Mediums durch die jüdische Nachkriegsgeneration, eine Tradition, die Hans Magnus Enzensberger zufolge mit Sachs als der “letzte[n] Dichterin des Judentums in 29
Nelly Sachs: Golem Tod. In: Das Leiden Israels. Eli. In den Wohnungen des Todes. Sternverdunkelung. Frankfurt a.M. 1996. S. 118–119. 30 Paul Celan: EINEM, DER VOR DER TÜR STAND. In: Gedichte in zwei Bänden. Frankfurt a.M. 1975. S. 242–243. 31 Peter Horst Neumann: Zur Lyrik Paul Celans. Eine Einführung. Göttingen 1990. S. 44–51. 32 Jacques Derrida: Shibboleth. For Paul Celan. In: Word Traces. Readings of Paul Celan. Hg. von Aris Fioretos. Baltimore 1994. S. 3–72. 33 Peter Horst Neumann (Anmerkung 31). S. 48. 34 Franz Kafka: Das Stadtwappen. In: Sämtliche Erzählungen (Anmerkung 12). S. 306–307; vgl. auch Goodman-Thau (Anmerkung 3). S. 114. 35 Paul Celan (Anmerkung 30). S. 242. 36 So zeigt Annette Bühler-Dietrich, wie insbesondere Sachs von ihren nichtjüdischen deutschen Kritikern für einen Versöhnungsdiskurs in Anspruch genommen wurde, obwohl sich die Brüche ihrer poetischen Sprache einer Befriedung der Shoah sperren. Vgl. Annette Bühler-Dietrich: Auf dem Weg zum Theater. Else Lasker-Schüler, Marieluise Fleißer, Nelly Sachs, Gerlind Reinshagen, Elfriede Jelinek. Würzburg 2003.
154 deutscher Sprache”37 verlöschen würde. Der mehrheitsdeutschen Aneignung von Sachs, Ausländer und Celan zum Zweck der Aussöhnung und des Dialogs sucht Dischereits Lyrik zu entgehen, indem sie sich der Möglichkeit des Dialogs verweigert. Itta Shedletzky hat für Dischereits sprachlichen Stil den Ausdruck “Mutterland Wort” in Anspruch genommen.38 Nicht zufälligerweise prägte ausgerechnet Rose Ausländer diesen Ausdruck in ihrem 1978 erschienenen Gedicht “Mutterland”, um einen vom Völkermord an den Juden unberührten sprachlichen und weiblichen Ort zu behaupten: Mein Vaterland ist tot sie haben es begraben im Feuer Ich lebe in meinem Mutterland Wort.39
Im Gegensatz dazu verweigert sich Dischereits golem-Band nicht nur der Möglichkeit eines solchen durch Sprache und Geschlecht nicht korrumpierten Ortes, sondern auch der Rückkehr zu lyrischen und kulturellen Traditionen vor der Shoah. Im zweiten Gedicht ihres Bandes kehrt der Golem in der Form des lyrischen Ichs zurück, nun jedoch ein “golem” [sic] anstelle des Golem: Ich wurd als golem euch geboren noch fünfzig Jahr und später.40
Die sprachliche Form dieses “golem” verweist auf die Dezimierung der jüdischen Bevölkerung durch den Völkermord, jedoch auch auf das dominante Nachkriegsbild von Juden als einer Masse namenloser Opfer, eine den Deutschen nach dem Genozid anhaftende Schuld. Die Zusammenwürfelung arabischer, deutscher und jiddischer Wörter wie in “Chabibi / mein waibele”41 widersteht jedoch auch der Konstruktion von homogenen sprachlichen und kulturellen Identitäten, die sich auf die jüdische Erfahrung berufen. Dischereits sprachliche Strategie reflektiert die jüdischer Identität nach der Shoah inhärente Entfremdung und Brüchigkeit, und parodiert den Versuch der jüdischen und nichtjüdischen Zweiten Generation, sich jüdische Traditionen anzueignen. 37
Thomas Sparr: Nelly Sachs. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Hg. von Andreas B. Kilcher. Stuttgart 2000. S. 503. 38 Itta Shedletzky (Anmerkung 23). S. 201. 39 Rose Ausländer: Mutterland. In: Sanduhrschritt. Frankfurt a.M. 2001. S. 94. 40 Esther Dischereit (Anmerkung 10). S. 6. 41 Ebd. S. 13.
155 Die Jiddischismen des Gedichtes evozieren die deutsche Klezmermode der neunziger Jahre, karikieren jedoch auch den Rückgriff junger Juden auf die vernichtete osteuropäisch-jüdische Kultur zum Zweck der eigenen Identitätskonstruktion. So stellt “Chabibi” (arabisch für “mein Liebling”) den Flirt junger Juden mit der jüdischen Tradition als Tanz mit dem Dibbuk dar,42 wie der Golem eine untote, mit den mythologisierten Traditionen der jüdischen Vergangenheit assoziierte Figur: tanzen chassiden in dein Herz keine Mesuse an deiner Tür Mespochen schneiden dein Haar daß es mit dem dibbuk tanze43
Durch die fehlende Mesuse44 sowie den unsicheren genealogischen Bezug, angedeutet in der entstellten Transliteration des jiddischen Wortes für Familie (Mischpoche), besteht Dischereit auf der inhärent gebrochenen und nur teilweise möglichen Form solcher Aneignungen. Sowohl die jüdische Erfahrung allgemein und jüdisch-weibliche Subjektivität insbesondere sind demzufolge nach der Shoah von Fragmentierung gekennzeichnet. Indem Dischereit in “Chabibi” auf die Außenseiterposition von jüdischen Frauen innerhalb der jüdischen und nichtjüdisch-deutschen Kontexte hinweist, vollführt sie hier eine problematische Aneignung der Position der arabischen ‘Anderen’innerhalb der jüdisch-arabischen Konstellation. Im Gegensatz dazu weist Dischereit in Gedichten wie “Deutsches Lied” und “Ich esse meinen Namen” die Vereinahmung der Position der ‘Anderen’ innerhalb der deutsch-jüdischen und der männlich-weiblichen Begegnung zurück.45 Ihre geschlechtspezifische Konstruktion der deutsch-jüdischen Beziehung enthüllt die jüdische Kultur der Gegenwart, einschließlich Dischereits eigener Arbeit, prägenden obszönen Konstellationen von ‘Deutschen’und ‘Juden’, Macht und Ohnmacht. So bemerkt sie anderswo: Vor einem deutsch-deutschen Publikum jüdisch zu schreiben hat einen lästerlichen, einen prostituierenden Zug – wie das Ausziehen einer Frau vor den Augen der Männer. Ich weiß es. Aber ich sehe keine Alternative.46 42 Der jüdischen Volkstradition zufolge ist ein Dibbuk die Seele eines Toten, die sich einem Lebenden anhaftet. 43 Esther Dischereit (Anmerkung 10). S. 13. 44 Mesuse (Jidd.): ein mit einem Torahvers versehenes Amulet, das an den rechten Türpfosten angebracht wird. 45 Esther Dischereit (Anmerkung 10). S. 16 und 53. 46 Esther Dischereit: Kein Ausgang aus diesem Judentum. In: Übungen jüdisch zu sein. Frankfurt a.M. 1998. S. 16–35, hier S. 34.
156 Die Versuche der jungen jüdischen Generation, die wie ein Golem auf der Schwelle zwischen dem Mord und einer lebendigen Gegenwart existiert, “ein bißchen Aleph”47 zu wollen, das heißt Fragmente jüdischer Tradition für sich in Anspruch zu nehmen, bezeugen lediglich den Tod jener Kultur, die der physischen Gegenwart von Juden Geist einhauchte. Obwohl diese Konstruktion Juden in der Opferposition zu fixieren scheint, lassen andere Schriften Dischereits auch eine positive Lesart von Fragmentierung zu: als einen bewussten Akt des Widerstehens neuer kultureller und politischer Hegemonien, darunter die von Israel an den Palästinensern praktizierte Politik der Ausgrenzung, Gewalt und Vertreibung.48
III. Doron Rabinovici: Suche nach M. Ähnlich wie bei Stein und Dischereit verhandeln Doron Rabinovicis Anspielungen auf die Golemtradition die Suche junger Juden nach einer jüdischen Identität, die gleichzeitig das Gedenken an das europäische Judentum und seine Kontinuitäten einschließt. Darüber hinaus jedoch verkörpert die Golemtradition bei Rabinovici auch die Notwendigkeit einer über den Genozid hinausweisenden, selbstbestimmten Identität in der jüdischen Zweiten Generation. Sein Roman Suche nach M. (1997) bedient sich der heterogenen Tradition literarischer Arbeiten über den Golem als Doppelgänger-Figur der unheimlichen Erinnerung und als Symbol der Wiederkehr. Titel und Thema von Rabinovicis Roman evozieren Fritz Langs Film M. – Eine Stadt sucht einen Mörder (Deutschland 1931), der ebenso persönliche Rache gegenüber der legalen Verfolgung von Mordtaten abwägt. Rabinovicis Roman greift auch Motive von Meyrinks Golem-Roman auf, dessen Doppelgängerthema ebenfalls in Anspielung auf das Genre der Kriminalgeschichte erzählt wird. Des Weiteren zitiert Rabinovicis Collage zunächst scheinbar unzusammenhängender, sich dann jedoch zum Roman zusammenfügender Geschichten Leo Perutz’ 1953 erschienenes Werk Nachts unter der steinernen Brücke, das durch die Figur des Maharal (Rabbi Löw) des ermordeten europäischen Judentums gedenkt.49 In Rabinovicis Roman durchstreifen zwei unheimliche Figuren, ein Frauenmörder und eine vermummte Figur namens Mullemann, das Wien der Nachkriegszeit. Nicht nur gemahnt Mullemanns “sibirische Erscheinung”50 an Meyrinks Golem von asiatischem, d.h. “mongolischem Typus”,51 wie letzterer erscheint jener auch jeweils als Phantom, Puppe oder Verhüllter. Rabinovicis wie 47 48 49 50 51
Ebd. S. 9. Dischereit 1998. S. 34 Vgl. Leo Perutz und Dagmar Lorenz (Anmerkungen 8 und 9). Doron Rabinovici (Anmerkung 10). S. 159. Ebd. S. 48.
157 ein Golem stimmlose, hektisch über Morsesignale kommunizierende Mumie wird letztendlich als Dani Morgenthau, Sohn jüdischer Überlebender, enthüllt. Der Inschrift des Golem ähnlich hat sich Danis Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit förmlich in seinen Körper eingeschrieben. Wann immer er mit den verborgenen Verbrechen seiner Umgebung konfrontiert wird, bricht auf seiner Haut ein entstellendes Ekzem als Zeichen der Wahrheit aus und macht die Bandagierung seines gesamten Körpers erforderlich. Wie bei Dischereit transportiert das Golemmotiv in Rabinovicis Roman die wie ein Ungeheuer umgehende Schuld für die Verbrechen der Shoah, für die die jüdische Zweite Generation als sichtbares Zeichen einsteht. Rabinovici postuliert jedoch auch die nur begrenzt mögliche Identifikation der Zweiten Generation mit den Wunden, die den Eltern zugefügt wurden und die Subjektivität der Nachgeborenen behindern. Danis enge Bindung an die Eltern verpflichtet ihn, die Erinnerung an die Ermordeten zu verkörpern, denn von Geburt an war er seinen Eltern als Reinkarnation verschiedener Verwandter, als Wiederkehr in mehrfacher Gestalt erschienen, Triumph und Rückerstattung dessen, was zerstört und umgebracht worden war. […] Dani Morgenthau sollte die Wiederauferstehung der Juden, ihres Glaubens, Denkens und ihrer Würde sein.52
Um seine Eltern vor weiterem Schmerz zu schützen, verzichtet Dani auf jegliche Rebellion und lebt fortan im emotionalen Zwischenraum zwischen den Lebenden und den Toten. Der in Mulle Gehüllte symbolisiert die Einnistung des von den Eltern erlebten Traumas in den Körper des Nachgeborenen, denn als Kind hatte Dani den Erinnerungen seines Vaters gelauscht, während sich die Fäden des väterlichen Unterhemdes in seinem Mund sammelten.53 In Mullemanns larvenhaftem Körper wird die verstummte Subjektivität der Zweiten Generation angesichts des Schmerzes der Eltern als vorübergehender Zustand postuliert, soll die Zweite Generation die historischen Wunden des jüdischen Kollektivs transzendieren können. Im Roman kann sich dies nur ereignen, nachdem Mullemann die Schuldigen zu Gericht gebracht hat. Auch Rabinovici verweigert sich so einer einfachen Aussöhnung zwischen der Nachfolgegesellschaft der Täter und den Generationen der NS-Opfern. Rabinovici konstruiert den Körper der jüdischen Nachkriegsgeneration als ein die Erinnerung konservierendes Relikt, das gleichwohl den Tod transzendiert. So erinnert der Vermummte den Freund Arieh an altägyptische Mumien, deren fossilisierte Körper die Vergangenheit konservieren. Um Mullemann zu ergründen, wickelt sich Arieh selbst ein Stück Mull um den Kopf und erinnert sich dabei an die Tefillin (Gebetsriemen), die er anlässlich der Bestattung 52 53
Ebd. S. 71. Ebd. S. 24ff.
158 seines Vaters gelegt hatte. Jene die Inschrift der drei Buchstaben des Gottesnamens Schaddai tragenden Riemen hatten, ähnlich dem ebenfalls mit drei Buchstaben beschrifteten Amulett des Golem, Spuren auf Ariehs Haut hinterlassen. Wie die auf einander verweisenden Akte des Mullwickelns und Tefillin-Tragens suggerieren, hat das Gedenken an die Shoah in der Zweiten Generation traditionelle Formen jüdischer Kultur ersetzt. Im Gegensatz zur jüdischen Tradition bedeutet jedoch das Gedenken an die Shoah nicht eine selbstbestimmte, stattdessen eine von außen aufgezwungene Einschreibung in den Körper der Zweiten Generation, die sich nach dem Genozid mit der Leere des Gottesgedankens konfrontiert sieht: “Wir, unsere ganze Generation, wir wurden alle mit einer blauen Nummer auf dem Arm geboren! Alle! Sie mag unsichtbar sein, aber sie ist uns eintätowiert; unter die Haut”.54 Die textlichen Verweise auf die Golemtradition verdeutlichen das Behaftetsein der Nachgeborenen mit der tödlichen Vergangenheit sowie das daraus herrührende eigene Identitätsvakuum. Wie in Steins Roman fungiert auch hier ‘das Weibliche’ als das erlösende Prinzip: Die Begegnung mit der nichtjüdischen Sina, die Danis Ekzem erfolgreich heilt, ermöglicht es dem Sohn von Überlebenden, seine Vermummung abzulegen und die Täter der Gerechtigkeit zu übergeben.
IV. Jüdische Identität im vereinigten Europa Bei Stein, Dischereit und Rabinovici signalisiert das Golemmotiv die Einschreibungen der tödlichen Vergangenheit in den Körper der jüdischen Nachgeborenen. Rabinovici besteht jedoch auch auf der utopischen Heilung dieser Wunden innerhalb der ehemaligen Dichotomien von Juden und den der Dominanzgesellschaft zugehörigen Nichtjuden, eine Lösung, die sowohl Stein als auch Dischereit verwerfen. Die Fortsetzung der Golemtradition durch Autoren der jüdischen Nachkriegsgeneration in den neunziger Jahren signalisiert die kulturellen, politischen und geographischen Bezugspunkte der jüdischen Nachgeborenen im Kontext der sich ausweitenden Europäischen Union. Jüdische Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland bilden heute aufgrund der Einwanderung aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion die einzige wachsende jüdische Bevölkerung weitweit. Gleichzeitig erstreckt sich die Renaissance jüdischer Kultur über gesamt Ost- und Westeuropa, auch wenn beispielsweise die Wiener Gemeinde aufgrund der Kürzung staatlicher Gelder zum Zeitpunkt der Arbeit an diesem Artikel von der Schließung bedroht ist. Das Entstehen einer jungen jüdischen Kulturszene bezeugt diese Renaissance ebenso wie die Lancierung neuer europaweiter Zeitschriften, so unter anderem des in Berlin herausgegebenen 54
Ebd. S. 219.
159 Golem-Magazins oder der Londoner Zeitschrift Jewish Renaissance. Insbesondere das “Diaspora Manifest”, das die Berliner Gruppe jüdischer Künstler Meshulash (Dreieck) 2002 im Golem-Magazin veröffentlichte, formuliert eine neue, sich auf eine gemeinsame Geschichte jenseits nationaler Begrenzungen begründende jüdische Kultur: Historisch gesehen, gehören wir nicht zu einem bestimmten europäischen Land. […] Wir sind alle Nachkommen der Überlebenden der Shoah, aber wir finden unseren Zusammenhang vielmehr im lebenden Judentum von heute. […] Wir definieren uns als dritte Säule des Judentums neben Israel und den USA.55
Gerade die Golemtrope eignet sich aus ihrer nationale Grenzen überwindenden Geschichte der Verhandlung einer neuen europäisch-jüdischen Identität im ausgehenden 20. Jahrhundert und zu Beginn einer neuen politischen Ära. Die Golemfigur ermöglicht es jungen jüdischen Künstlern, den Widerstand, die Kontinuität und die Wiederbelebung jüdischer Kultur in Europa nach dem Völkermord und dem Verschwinden der ideologischen Barrieren des Kalten Krieges zu postulieren. Des Weiteren erlauben es die biblischen, talmudischen und kabbalistischen Ursprünge dieser Trope, die gemeinsamen Wurzeln aschkenasischer, sephardischer und nahöstlich-jüdischer Kulturen zu betonen. Der Golem dient jungen jüdischen Künstlern so der Proklamation einer erneuerten, in der Vergangenheit oftmals von Juden in den USA und Israel diskreditierten Diaspora-Präsenz auf dem historischen Boden der Shoah, aber auch eines jüdischen Kollektivs über die Grenzen der Kontinente hinweg.
55
Diana Pinto: Diaspora Manifest. In: Golem. Europa-jüdisches Magazin 3 (2002). S. 96.
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Birte Giesler
Phantasmen der Prokreation im Kontext der neuen Reproduktionstechnologien – utopischer Raum für neue Konzepte von Gender und Autorschaft? – Carl Djerassis Komödie Unbefleckt ‘Unbefleckt’ is a comedy about the current state of infertilization medicine. Focusing on the social and emotional impacts of these new technologies the drama entangles the subject of assisted reproduction with a dispute on authorship. While the characters of the play point out that infertilization technology will push women’s liberation forward and lead to a revolution of gender ratio, the following analysis demonstrates that the comedy reproduces the old dream of male self-creation using a questionable mixture of new technologies and gendered, bodily, and dualistic metaphors of the 18th century. The happy ending represents the traditional imaginary gender dualism of the socially and bodily autonomous male and the female being affiliated to physicality and nature.
Reproduktionsmedizin greift in die Vorgänge der Fortpflanzung ein, ist also der Bereich der Medizin, der sich mit der Geschlechtlichkeit des menschlichen Körpers beschäftigt. Deshalb ist in der Reproduktionsmedizin das spannungsreiche Verhältnis zwischen Entwicklungen in der Biomedizin einerseits und den biologischen und sozialen Dimensionen der Kategorie Geschlecht andererseits besonders deutlich zu spüren. So ist Carl Djerassis Unbefleckt, ein Theaterstück, das den aktuellen Stand der Fertilisationstechnik thematisiert, zugleich eine Komödie über bestehende wie über zukünftige Geschlechterverhältnisse. Bemerkenswerterweise verknüpft das Theaterstück die unterschiedliche Involviertheit der Individuen in die Vorgänge von Fortpflanzung und Geburt mit einem Streit um die Zuschreibung von Autorschaft. Unbefleckt ist ein Vier-Personen-Stück. Die im Personenverzeichnis kurz charakterisierten Figuren der Handlung sind Dr. Melanie Laidlaw, eine amerikanische Reproduktionsbiologin, “in den späten Dreißigern”, ihr Geliebter Menachem Dvir, ein israelischer Atomingenieur, “40–50” Jahre alt, Dr. Felix Frankenthaler, ein amerikanischer Infertilitätsspezialist “zwischen Ende 30 und Anfang 50” sowie Adam, ein “junger Teenager”.1 Die Dramenhandlung ist durch einen Prolog und einen Epilog gerahmt. Der Prolog spielt im Jahr 2014, der Epilog im Jahre 2011. Die Binnenhandlung, der Hauptteil der Fabel, spielt in den USA in den Jahren 1997 bis 1998. In ihrem Mittelpunkt 1
Vgl. das Personenverzeichnis im deutschsprachigen Stückabdruck: Carl Djerassi: Unbefleckt – Stück in zwei Akten. Übers. von Bettina Arlt. Zürich 2000. S. 7. Im Folgenden wird mit der Sigle U mit Seitenzahl abgekürzt zitiert.
162 steht Dr. Melanie Laidlaw, die fiktive Erfinderin des ‘ICSI’-Verfahrens,2 die ‘ihre biologische Uhr’ ticken hört und sich in der ambivalenten Situation wiederfindet, einerseits eine unabhängige und erfolgreiche Wissenschaftlerin zu sein und sich andererseits eine Familie zu wünschen. Deswegen entwendet sie ihrem Geliebten ohne dessen Wissen Sperma für einen Selbstversuch. Da sich Melanie und der verheiratete Menachem nur in größeren zeitlichen Abständen bei wissenschaftlichen Tagungen oder Kongressen sehen, ist es für Melanie nicht schwierig, das erfolgreiche, tatsächlich zur Schwangerschaft führende Experiment von ihrem Freund unbemerkt durchzuführen. Es ist das erste Mal, dass ICSI beim Menschen angewendet wird. Melanie ist im Labor allerdings nicht allein. Mit ihr zusammen arbeitet ihr Kollege Dr. Felix Frankenthaler. Er weist seine Kollegin, die seiner Meinung nach dabei ist, sich zur Schöpferin aufzuschwingen, kritisch auf die psychosozialen Folgen einer Technik hin, die Sexualität, soziale Beziehungen und Fortpflanzung voneinander abkoppelt. Trotz aller ethischen Bedenken ist Frankenthaler als Forscher an der neuen Erfindung aber ernsthaft interessiert, und er möchte unbedingt an ihr teilhaben. Umso erstaunter ist er, als er unter dem Mikroskop erkennt, dass das von Melanie ausgesuchte Sperma von einem Mann stammt, der ohne Rückgriff auf assistierte Befruchtung eindeutig zeugungsunfähig ist. Als Melanie ihm verrät, dass die Eizellen ihre eigenen, für einen Selbstversuch gedachten sind und die Spermien von ihrem zeugungsunf ähigen Geliebten stammen, sieht Frankenthaler den Erfolg des Experiments in Gefahr. Um die Erfolgschancen des Erstversuchs zu erhöhen, fügt er dem Versuchsmaterial in der Petrischale – von Melanie unbemerkt – ein paar Spermien von sich hinzu. Da erst die schwangere Melanie davon erfährt, weiß die Biologin schließlich selbst nicht, wessen Kind sie austrägt. Nach einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr und Felix, bei der sich die beiden darüber streiten, wer von ihnen als Autor(in) der wissenschaftlichen Publikation zur Neuerfindung zeichnen darf, rächt sich Melanie für Frankenthalers Tat, die beide wegen ihres wissenschaftlichen Rufs nicht publik machen können, indem sie den Artikel über ICSI ausschließlich unter ihrem Namen bei einer renommierten Fachzeitschrift einreicht. Als der zwischenzeitlich geschiedene Menachem von den Geschehnissen erfährt, bekennt er sich zu seinem Sohn, unabhängig davon, ob er nun der biologische Vater ist oder nicht. Die genetischen Fingerabdrücke der beiden potentiellen Väter werden unausgewertet in einem Briefumschlag aufbewahrt. Adam, der Sohn, wird diesen Briefumschlag anlässlich seiner Bar Mitzvah öffnen. Die Frage, wer der genetische Vater von Adam ist, lässt das Drama offen.
2
‘ICSI’ ist die Abkürzung für Intracytoplasmatische Spermiuminjektion, das Verfahren, bei dem eine Spermiumzelle direkt in eine Eizelle injiziert wird.
163 Djerassis Theaterstück hat einen realen historischen Bezugspunkt, der allerdings zeitlich sieben Jahre vor dem fiktiven Geschehen der Kernhandlung des Dramas und räumlich in einem anderen Land liegt: Im Jahr 1992 haben vier Naturwissenschaftler der Universität Brüssel in der medizinischen Zeitschrift Lancet einen aufsehenerregenden Beitrag veröffentlicht. In ihm gaben sie die erfolgreiche Befruchtung einer menschlichen Eizelle durch ein einzelnes Spermium mittels direkter Injektion unter dem Mikroskop und anschließende Rückführung der Eizelle in die Gebärmutter bekannt.3 Mittlerweile ist das ICSI-Verfahren die wirksamste Waffe gegen männliche Unfruchtbarkeit. Laut Vorbemerkung der im Jahr 2000 erschienenen deutschen Ausgabe des Dramentextes sind bereits über 10000 ICSI-Babies auf die Welt gekommen.4 Die direkte Injektion eines einzelnen Spermiums in die Eizelle stellt eine neue Dimension der künstlichen Zeugung menschlichen Lebens dar. ICSI verhilft nicht nur Männern zur Vaterschaft, die mit traditionellen Mitteln der In-vitro-Fertilisation zeugungsunfähig sind. Nun ist es auch möglich, dass Frauen nach der Menopause noch Mutter werden können, wenn sie sich in jungen Jahren Eizellen entnehmen und einfrieren lassen. Außerdem ist es möglich, etwa mit den Eizellen und Spermien von Toten biologische Waisen zu zeugen. Durch die gezielte Auswahl von Keimzellen kann das Geschlecht des Kindes festgelegt werden. Auch wenn das ‘Material’ in den Reagenzgläsern und Petrischalen der High-Tech-Labore nach wie vor menschlich, also ‘natürlich’ ist, hat die Fertilisationsbiologie mit der Entwicklung des ICSI-Verfahrens einen Punkt erreicht, an dem sie – zusammen mit der Gentechnik – die technische Zeugung genetisch selektierter oder sogar manipulierter Menschen ermöglicht.5 Djerassis Text setzt deutlich Bezüge zu den künstlichen Menschen in der Literatur. Der In-vitro-Mediziner trägt den Namen Frankenthaler und stellt damit fast einen Namensvetter des Menschenmachers aus Mary Shelleys berühmtem Roman Frankenstein or the Modern Prometheus aus dem Jahr 1818 dar. Der Bezug wirkt nachgerade übermarkiert, indem der Autor den aufgebrachten Menachem sagen lässt: “Aber dein Freund, […] wie heißt er 3
Vgl. Gianpiero Palermo, Hubert Joris, Paul Devroey und André C. Van Steirteghem: Pregnancies after intracytoplasmic injection of single spermatozoon into an oocyte. In: Lancet – a Journal of British and Foreign Medicine, Surgery, Obstetrics, Physiology, Chemistry, Pharmacology, Public health and News 340 (1992). H. 8810. S. 17f. 4 Vgl. U 5. Statistische Zahlen zum Thema künstliche Befruchtung liefert z.B. auch das Informations- und Beratungsforum zu ungewollter Kinderlosigkeit unter ⬍http:// www.gyn.de/kinderwunsch/pid.php3⬎ (17.11.2004). 5 Vgl. dazu Giselind Berg: Beziehungen im Kontext der Reproduktionsmedizin – Vortrag zur Tagung: Akte XY – Zur Diskussion um die genetische Frühdiagnostik. St. Virgil, Salzburg am 23. und 24.1.2004. S. 11f. Unter: ⬍http://www.virgil.at/ downloads/berg.pdf⬎ (17.11.2004).
164 noch?… Frankenstein –”. (U S. 81) Während Shelleys Frankenstein ein hässliches namenloses Monstrum schafft, konstruiert Djerassis Text einen spannungsreichen Widerspruch durch die Namenreferenz des ICSI-Geschöpfes auf die biblische Schöpfungsgeschichte. Das ‘Monster’ aus Frankenthalers Invitro-Labor trägt nicht nur ein menschliches Antlitz, sondern heißt auch noch wie die menschliche ‘Krone der Schöpfung’: Adam. Der künstlich gezeugte Mensch wird damit eindeutig als menschliches Wesen bezeichnet. Indem er den Namen des ersten Menschen trägt, deutet er aber gleichzeitig auf das Aufkommen einer neuen Spezies und einer neuen Ära. Mit seinem ‘Science-in-theatre’-Konzept nutzt der Autor einerseits die Theaterbühne, um die Technik der Reproduktionsmedizin einem breiteren Publikum zu veranschaulichen und so letztlich einen Beitrag zur Überbrückung der Kluft zwischen den ‘zwei Kulturen’ zu liefern.6 Gleichzeitig sollen die mit der neuen Technologie verbundenen ethischen Probleme thematisiert werden.7 Das Bühnenstück erzeugt durch eine Videoinstallation, die ein unter dem Mikroskop gefilmtes ICSI-Verfahren demonstriert, eine Art ‘mediale Ästhetik’. Sie bringt die Verknüpfung von Körperlichkeit und Medialität im Zeitalter der biotechnologischen Reproduzierbarkeit des Menschen auf den Punkt: Wo in der Natur ‘alles’ mit einem körperlichen Akt anfängt, beginnt in Unbefleckt ‘alles’ mit einem medial vermittelten Akt der Apparate. Im Zentrum des Interesses steht dabei die ironische Reflexion der möglichen Auswirkungen auf das Verhältnis der Geschlechter. So ist die Handlung des Stücks mit Geschlechterklischees wie zum Beispiel der Zuordnung der Wissenschaft zum Mann aufgeladen. Zu Melanies’ Selbstversuch etwa meint ihr Laborkollege: Frankenthaler: Es wird Zeit, daß du aufhörst, mehrere Rollen gleichzeitig zu spielen. Melanie: Was für Rollen denn? Frankenthaler: Die Rolle der Frau, die besessen von der Idee ist, Kinder zu bekommen – etwas, das ich jeden Tag in meiner Praxis sehe –, und gleichzeitig die Rolle der ehrgeizigen Wissenschaftlerin. […] Als Wissenschaftlerin willst du berühmt werden. […] Aber die Eile, mit der du jetzt deine eigene Mutterschaft vorantreiben willst, 6
Vgl. Carl Djerassi: Foreword – Bridging the Two Cultures. In: ders.: An Immaculate Misconception – Sex in an Age of Mechanical Reproduction. London 2000. S. ix–xi. Hier S. xi. 7 Vgl. Chloe Veltman: Carl Djerassi from pill to quill – An award-winning chemist takes his science to the stage. In: American Theatre 19 (2002). H. 6, S. 53–54. Hier S. 54. Zu Djerassis Konzepten von ‘Science-in-fiction’ und ‘Science-in-theatre’ vgl. außerdem Carl Djerassi: ICSI – Sex im Zeitalter der technologischen Reproduzierbarkeit. ICSI – Sex in an Age of Mechanical Reproduction. Weinheim 2002. S. 9–13; ders.: Naturwissenschaft auf der Bühne. In: Ders.: This Man’s Pill – Sex, die Kunst und Unsterblichkeit. Aus dem Amerikanischen von Ursula-Maria Mössner. Wien 2001. S. 197–219 und die entsprechenden Links auf der Homepage des Autors unter ⬍http:// www.djerassi.com⬎.
165 trübt dein wissenschaftliches Urteilsvermögen. Und da komme ich als dein Kollege ins Spiel, um die Lage sachlich zu betrachten. (U S. 53. Hervorhebung i. O.)
Und nach der Geburt des Kindes sagt Melanie, als stünden beide Bezeichnungen in einem Widerspruch: “Schließlich bin ich in erster Linie Mutter und dann erst Wissenschaftlerin.” (U S. 100) Außerdem bemühen die Figuren ständig stereotype geschlechtliche und sexuelle Metaphern, um das Geschehen im Labor zu beschreiben. So bezeichnen sie ein sich besonders schnell bewegendes, aktives Spermium als “Macho” (U S. 41), eine Eizelle als “richtige Schönheit” (U S. 42), die geglückte Injektion des Spermiums als “fabelhafte Penetration” (U S. 43) und die innerhalb von fünf Minuten wieder verheilende Eimembran als “fast unberührt […], beinahe jungfräulich” (U S. 44). Am Ende wird der ohnehin schon kompromittierte Frankenthaler in Anspielung auf seine Mithilfe an Melanies Selbstversuch mit der Bezeichnung “entlassene Hebamme” vollends lächerlich gemacht. (U105) In der kulturgeschichtlichen Tradition sind die Fiktionen vom künstlichen Menschen männlich besetzt, erscheint der Schöpfer des künstlichen Menschen doch so gut wie immer als Mann.8 So lässt sich die Kulturgeschichte des künstlichen Menschen nicht nur allgemein als Reflexion des ewigen Rätsels des Lebens deuten, sondern auch als konsequente Fortführung des männlichen Traums von der (Selbst-)Zeugung ohne Sexualität und Befruchtung.9 In Djerassis Drama fällt auf, dass eine Frau als Schöpferin auftritt. Ihr Handeln wird direkt als Hybris thematisiert: Frankenthaler: Tut mir leid, daß ich zu spät komme. Melanie: […] Zieh dir einen Kittel an. Frankenthaler: […] Hat dir schon mal jemand gesagt, daß man sonntags nicht arbeitet? Melanie: Felix. Hier geht’s nicht um Religion, sondern um Wissenschaft. Frankenthaler: Das glaubst du. Wenn die Sache klappt, wird man dir garantiert vorwerfen, daß du Gott spielst. (U S. 39, Hervorhebung i. O.)
Auffällig ist auch, dass Djerassis Schöpferin ihr Handeln einerseits strikt von einem sexuellen Vorgang abhebt. Auf die Frage, ob es sich bei ICSI um “eine unbefleckte Empfängnis” handele, antwortet sie: “[…] das ist gar nicht so falsch. Schließlich gab es weder ein Eindringen in die Vagina noch sonst einen sexuellen Kontakt.” (U S. 45) Im nächsten Moment bezeichnet sie ihren Selbstversuch aber metaphorisch als sexuellen Akt, bei dem sie sich als männlich inszeniert: “Der einzige Stecher […] war ich selber, als ich die dünne 8
Vgl. Rudolf Drux: Frankenstein oder der Mythos vom künstlichen Menschen und seinem Schöpfer. In: Der Frankenstein-Komplex – Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen. Hg. von Rudolf Drux. Frankfurt a. M. 1999. S. 26–47. Hier S. 40. 9 Vgl. Drux: Frankenstein. S. 44.
166 Nadel in die Eizelle gepikst habe, um das Spermium dort abzulegen! […] Ein weiblicher Stecher!” (U S. 45) Kreisen die literarischen Fiktionen vom künstlichen Menschen auch um den Traum einer (männlichen) ‘Parthenogese’, spricht die Hauptfigur in Unbefleckt dies explizit aus: “Was ich gemacht habe, ist wie Sex mit sich selber haben und dabei schwanger werden.” (U S. 52) Djerassis Drama verbindet das reale Geschehen in der Fortpflanzungsmedizin mit der literarischen Motivgeschichte vom künstlichen Menschen und formalen Versatzstücken der Verwechslungskomödie. Letzteres signalisiert im Original schon der Titel. Beim Originaltitel An Immaculate Misconception handelt es sich um ein Wortspiel von ‘immaculate conception’ (‘unbefleckte Empfängis’) und ‘misconception’ (Missverständnis, falsche Auffassung, Irrtum), das mit der Mehrdeutigkeit jongliert, die offen lässt, ob das Falsche empfangen wird, oder ob das ganze Geschehen falsch und ein Irrtum ist. Djerassis Melanie Laidlaw ist die fiktive Erfinderin und eine überzeugte Verfechterin der ICSI-Technologie. Dabei vertritt sie nach eigener Einschätzung speziell die Belange von Frauen: Melanie: […] ist dir auch klar, was das für die Frauen bedeutet? […] Mit ICSI könnten wir endlich die biologische Uhr überlisten. […] Mir geht es bei ICSI nicht um Ruhm … sondern um Mutterschaft. […] Mutterschaft ganz allgemein. Denk doch mal an all die Frauen… meistens berufstätige… die das Kinderkriegen verschieben, bis sie Ende 30 oder sogar Anfang 40 sind. Zu dem Zeitpunkt ist die Qualität ihrer Eizellen… ihrer eigenen Eizellen… nicht mehr so, wie sie zehn Jahre vorher war. […] Mit ICSI könnten solche Frauen auf ihr Sparkonto von gefrorenen jungen Eizellen zurückgreifen und somit eine weitaus bessere Aussicht auf eine normale Schwangerschaft in ihrem späteren Leben haben. […] Frankenthaler: In ihrem späteren Leben? Pause Heißt das, über die Wechseljahre hinaus? Melanie: Du machst doch auch aus Männern in den Fünfzigern noch erfolgreiche Spender –. Frankenthaler: Warum also nicht auch Frauen! Ist das dein Ernst? Melanie: Ich sehe nicht ein, warum Frauen diese Möglichkeit nicht haben sollten… wenigstens unter bestimmten Umständen. (U S. 19–22, Hervorhebung i. O.)
Mit Hilfe von ICSI wäre ‘Biologie’ – folgt man Melanies Argumentation – also endgültig kein ‘Schicksal’ mehr. Melanie zufolge bringt die neue Technik gerade Frauen eine zuvor nicht da gewesene “reproduktive Autonomie”.10 Während die Figuren des Stücks der technischen Neuerung auf Seiten der Frauen vor allem soziale, das Rollenverhalten betreffende Auswirkungen zusprechen, sehen sie beim Mann in erster Linie eine Veränderung der 10 Den Begriff “reproduktive Autonomie” übernehme ich von der Medizinethikerin Eva Schindele. Vgl. Eva Schindele: Weibliche Lebensentwürfe im Kontext von Fortpflanzungsmedizin und Pränataldiagnostik. In: Die Genkontroverse. Grundpositionen – Mit der Rede von Johannes Rau. Hg. von Sigrid Graumann. Freiburg i. Br. u. a. 2001. S. 52–66. Hier S. 59.
167 biologischen Funktion. Dabei wird auch die Möglichkeit gentechnischer Selektion der Nachkommen angesprochen: Frankenthaler: Tja, wenn das funktioniert… dann wirst du nicht nur berühmt… sondern berüchtigt. […] Na gut… Dann hätten wir also eine neue Befruchtungsmethode. […] Das heißt, Männer sind dann nur noch Spender eines einzelnen Spermiums? Melanie: Was ist daran schlecht, wenn nicht mehr die Quantität zählt, sondern die Qualität? […] Jeder der entstehenden Embryos wird genetisch geprüft, und der beste wird wieder in die weibliche Gebärmutter zurückgeführt. Wir erhöhen lediglich die Chance auf ein gesundes Kind, indem wir nichts dem Zufall überlassen. Ehe du dich versiehst, wird das 21. Jahrhundert zum ‘Century of Art’ erklärt. […] Der Wissenschaft der A-R-T… […] der Assistierten Reproduktions-Technologien. Junge Männer und Frauen legen ihr persönliches Reproduktionskonto an, das aus lauter gefrorenen Spermien und Eizellen besteht, und wenn sie ein Baby wollen, gehen sie zur Bank und heben ab. Frankenthaler: Und sobald sie ihr Konto angelegt haben, lassen sie sich sterilisieren? Melanie: Genau. Wenn meine Voraussage stimmt, wird Empf ängnisverhütung bald überflüssig sein. Frankenthaler: ironisch Aha. Und die Pille landet im Museum […] … im ‘Museum of 20th century ART’. […] Laidlaws schöne neue Welt. Kurze Pause Ehe du dich versiehst, stehen alleinstehende Frauen Schlange, um durch ICSI zu den Amazonen des 21sten Jahrhunderts zu werden. (U S. 22–24, Hervorhebung i. O.)
Die verminderte Bedeutung der biologischen Potenz des Mannes wird von Frankenthaler nicht nur sofort mit einem Machtverlust der männlichen Hälfte der Menschheit gleichgesetzt. Eine reproduktiv autonome Frau hat für ihn gar etwas Kriegerisches. Eine Gesellschaft, in der Frauen ihr Leben lang potent sind und über ihre Fortpflanzung autonom entscheiden, kann sich Frankenthaler offenbar nur als Amazonenstaat, in dem die männlichen Samenspender wenig zu lachen haben, vorstellen. Der Entstehung eines solchen Feindbildes angesichts der fertilisationstechnologischen Entwicklung versucht Melanie Laidlaw entgegenzuwirken: Melanie: Amazonen! Denk lieber an die Frauen, die nicht den richtigen Partner gefunden haben… oder die sich von ihrem derzeitigen Partner trennen wollen… oder die einfach ein Kind haben wollen, bevor es zu spät ist… mit anderen Worten… an Frauen wie mich. (U S. 24)
Melanie Laidlaw vertritt hier nicht nur die Haltung des Autors, die sich Carl Djerassis zahlreichen Medieninterviews entnehmen lässt.11 Sie repräsentiert auch die Auffassung vieler Anbieter der betreffenden Technologien, dass nämlich die Neuerungen der Reproduktionsmedizin die Situation von Frauen verbessern würden. Frauen werden künftig eigenständig Kinder planen, Karriere 11
Vgl. z. B. den Interview-Abdruck in der Zeitschrift von ProFamilia: Gespräch – “Sex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit” [Interview mit Carl Djerassi von Ruth Kuntz-Brunner]. In: ProFamilia Magazin 27 (1999). H. 2. S. 2–3. Hier S. 2.
168 und Kinder selbstbestimmt vereinbaren können. Dass Reproduktionsmedizin vor diesem Hintergrund vor allem eine “Sozialtechnologie” darstellt,12 scheint auch Frankenthaler sofort zu erkennen. Alles andere als spontan begeistert, fürchtet er allerdings vor den Fertilisationskliniken Schlange stehende moderne ‘Amazonen’. Er wertet die sozialen Folgen des biotechnologischen Fortschritts in erster Linie als einen Machtgewinn der Frauen. Während der Fertilisationsspezialist angesichts der neuen Methoden erschrocken konstatiert, dass “Männer […] dann nur noch Spender eines einzelnen Spermiums” seien (U S. 22), fühlt sich der unfreiwillige Samenspender Menachem sogar persönlich gedemütigt: “Du hast mich […] erniedrigt, und zwar wie es schlimmer nicht mehr geht: Du hast mich auf ein jämmerliches Spermium reduziert […].” (U S. 84) Während die Männerfiguren sich beleidigt oder bedroht fühlen, weil die Wissenschaftlerin den Mann auf seine Biologie reduziert, begründet Melanie ihr Handeln biologistisch: “Ja, wahrscheinlich war ich unbewußt tatsächlich hauptsächlich auf einen Samenspender aus. Aber das ist bei weiblichen Säugern ganz normal… und nicht nur bei den Menschen.” (U S. 68) Während Biologismus und Reduktion auf die geschlechtlichen, körperlichen Funktionen Argumentationsstrategien sind, mit denen traditionell Frauen festgeschrieben werden, deutet das komödienhafte Geschehen um die künstliche Befruchtung mit ICSI auf unterschiedlichen Ebenen auf eine Verschiebung im Machtverhältnis der Geschlechter. Die starke, triumphierende Melanie Laidlaw scheint als ‘Gewinnerin’ aus dem Intrigengewirr des Stücks hervorzugehen. Nach heftigen Diskussionen, wer für die naturwissenschaftlich-technische Neuerfindung in der Fachpresse namentlich zeichnen darf, erpresst sie ihren Kollegen und macht sich zur Alleinautorin der Fachpublikation über das neue biomedizinische Verfahren. Ihren Kollegen erwähnt sie lediglich in der Danksagung als technischen Assistenten – ohne akademischen Titel. Im komödienhaften Kontext liegt darin vor allem eine Spitze gegen die Machtkämpfe im Wissenschaftsbetrieb; wo Arbeit von Frauen allzu oft nicht in Erscheinung tritt, wird hier ‘der Spieß einmal umgedreht’. Dass sich am Ende alles um die Frage nach der Autorschaft der Fachpublikation dreht, kann aber auch als ein weiter reichender Zusammenhang gedeutet werden. Donna Haraway plädiert in ihren wissenschaftshistorischen Essays dafür, Wissenschaft als eine Form des ‘Geschichtenerzählens’ aufzufassen. Die moderne Naturwissenschaft sei eine ‘Erzählpraktik’, die die Definitionsmacht der Deutungsmuster von Wirklichkeit besitze.13 Die in den Naturwissenschaften 12
Vgl. Schindele: Weibliche Lebensentwürfe. S. 54. “[…] biology tells tales about origins, about genesis, and about nature. […] all scientific statements are historical fictions made facts through the exercise of power […].” Vgl. Donna Haraway: Simians, Cyborgs, and Women – The Reinvention of Nature. New York 1991. S. 72, 78. 13
169 und vor allem in den modernen Technowissenschaften Forschenden seien als ‘Autoren’ der “narratives, and stories of nature”14 deshalb quasi autorisiert zu definieren, was als ‘wahr’ gelte.15 Vor diesem Hintergrund bekommt der Streit um das ICSI-Verfahren und die weibliche Autorschaft zusätzliches Gewicht. Der vordergründigen Aussage des Theaterstücks zufolge autorisieren die neuen Reproduktionstechnologien ‘die Frauen’, so dass sich das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern umkehrt. Lassen sich die aktuellen Entwicklungen so interpretieren? Ist dies die Entwicklung, die Unbefleckt auf der Bühne demonstriert? Oder deutet die Tatsache, dass die im Zentrum des Geschehens liegende technische Erfindung in die unmittelbare Gegenwart der Entstehung des Textes verlegt, in der Fiktion also gewissermaßen ‘das Rad noch einmal erfunden’ wird, bereits an, dass das Theaterstück weitaus weniger progressiv ist, als es auf den ersten Blick erscheint? Auch innerhalb ‘der Frauenbewegung’ besteht keineswegs Einmütigkeit darüber, wie die Neuerungen der Gen- und Reproduktionstechnologien bewertet werden sollen. Fordert die eine Seite im Namen ihres Rechts auf Selbstbestimmung die reproduktive Freiheit, die modernen Methoden und Technologien wie auch die damit verbundenen Selektionsmöglichkeiten voll nutzen und ausschöpfen zu können, so hält die andere Seite dem entgegen, dass die durch die neuen Fortpflanzungstechniken gegebene “reproduktive Autonomie” eine Scheinselbstbestimmung sei, weil die Entwicklung der Technologien sowie ihr Einsatz keineswegs durch die (betroffenen) Frauen selbst kontrolliert werden könnten.16 Die Sozialwissenschaftlerin und Medizinethikerin Eva Schindele plädiert angesichts des Arguments, dass die Reproduktionsmedizin Frauen mehr Selbstbestimmung bringe, dafür, dass “die modernen Reproduktionstechnologien im Kontext weiblicher Lebensentwürfe diskutiert werden”17 müssen. Die Reproduktionsmedizin bringe den Frauen keine zusätzlichen Freiheiten, sie werde vielmehr bereits heute dazu genutzt, um “soziokulturelle und gesellschaftsbedingte Probleme individuell zu lösen”.18 Die modernen Reproduktionstechnologien führen, so Schindele, lediglich dazu, dass Frauen mit ihren individuellen Körpern einen strukturellen gesellschaftlichen Mangel ausgleichen helfen, wobei überkommene 14
Ebd., I. Vgl. Donna Haraway: “Wir sind immer mittendrin” – Ein Interview mit Donna Haraway. In: Dies.: Die Neuerfindung der Natur – Primaten, Cyborgs und Frauen. Frankfurt a. M. – New York 1995. S. 98–122. Hier S. 105f. 16 Vgl. Stephanie Streif: Die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien – Der Griff nach der Frau. In: Freiburger FrauenStudien 2 (1996). H. 1. (Frauenalter – Lebensphasen). S. 87–98. Hier S. 94f. 17 Vgl. Schindele: Weibliche Lebensentwürfe. S. 52. 18 Ebd. S. 54. 15
170 Genderkonzepte eher verfestigt als aufgelöst werden. Ungewollte Kinderlosigkeit sei oft eine Folge davon, dass die Familiengründung aufgeschoben werde, was wiederum eine Folge gesellschaftlicher und infrastruktureller Rahmenbedingungen sei, die Familie und Beruf für Frauen schwer vereinbar machten.19 Diese mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf werde – so Schindele weiter – durch die technische Entwicklung der In-vitro-Fertilisation nicht gemindert, sondern verstärkt: Hormonell manipuliert, sei die einzelne oftmals völlig gesunde und aufgrund der Unfruchtbarkeit des Partners behandelte ‘Patientin’ sehr abhängig von einem hochtechnisierten Ablauf, dessen nicht geringe gesundheitliche Nebenwirkungen und Risiken in den einschlägigen Informationsmaterialien systematisch kaschiert oder heruntergespielt würden.20 Mit einer Erwerbstätigkeit sei eine Fruchtbarkeitsbehandlung “kaum kompatibel”.21 Dass die Reproduktionsmedizin geeignet ist, Kinderwunsch und Berufsbiografie für Frauen besser vereinbar zu machen, darf also bezweifelt werden, wenn die weibliche Hälfte der fruchtbarkeitsbehandelten Paaren bereits während der IVF-Behandlung dazu tendiert, vom Arbeitsmarkt zu verschwinden und nach der (erfolgreichen) Behandlung genau die Probleme hat, denen sie durch das Aufschieben der Familiengründung aus dem Weg gegangen ist. Reproduktionsmedizin stellt auf dem gegenwärtigen Stand traditionelle Geschlechterrollen und überkommene Muster geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung nicht in Frage. Martha E. Gimenez argumentiert sogar: “In diesem Kontext wirkt IVF verstärkend auf den Prozess zurück, Frauen als Mütter zu konstruieren.”22 Der vermeintliche Fortschritt entpuppt sich für die weibliche ‘Hälfte der Menschheit’ eher als dessen Gegenteil: Der Anteil an und 19
Hierbei sind nationale Unterschiede bemerkenswert, wird in den einzelnen Staaten doch nicht nur von öffentlicher Seite unterschiedlich auf die Anforderungen von Kindererziehung und -betreuung reagiert, sondern auch unterschiedlich großzügig mit assistierter Befruchtung umgegangen. So liegt das in der biomedizinischen Debatte eher als ethischer Bedenkenträger bekannte Deutschland, wo ungewollt kinderlosen Paaren sehr schnell und auf Kosten der Krankenversicherung “die High-Tech-Zeugung angeboten” wird, bei einer “der niedrigsten Geburtenzahlen im Weltvergleich […] bei der Zahl der High-Tech-Laborbefruchtungen an der Weltspitze.” Vgl. Schindele: Weibliche Lebensentwürfe. S. 58. Dabei wird die künstliche Befruchtung wie in den meisten Ländern ausschließlich verheirateten Paaren zur Verfügung gestellt. Vgl. Margaret Gibbon: Diskurse der Unfruchtbarkeitsbehandlung – Ein französischenglischer Vergleich. In: Freiburger FrauenStudien 2 (1996). H. 1. (Frauenalter – Lebensphasen). S. 75–85. Hier S. 75. 20 Vgl. Gibbon: Diskurse der Unfruchtbarkeitsbehandlung. S. 79–82. Vgl. dazu auch Streif: Die neuen Gen- und Reproduktionstechnologien. S. 87–89. 21 Vgl. Schindele: Weibliche Lebensentwürfe. S. 59. 22 Vgl. Martha E. Gimenez: Die Heraufkunft der kapitalistischen Fortpflanzungsweise – Umbrüche der Reproduktion im 21. Jahrhundert. In: Das Argument 43 (2001). H. 4/5. (Geburt des Biokapitalismus). S. 657–670. Hier S. 659.
171 die Auswirkung von den Prozeduren sind so ungleich verteilt, dass die Reproduktion mehr denn je zur Sache der Frauen wird. Der als weiblich identifizierte Körper erscheint mindestens so sehr wie zuvor als ‘Schicksal’. Dies bedeutet auch weiterhin: Frauen müssen sich – vor oder auch nach der Menopause – zwischen Beruf und Familie entscheiden. Gewandelt haben sich im Zeitalter der nanotechnologischen Miniaturisierung höchstens die Techniken zur ‘Eroberung des Körpers’. Die Reproduktionsmedizin wird zur Absicherung der klassischen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung benutzt. Mittels Biopolitik wird die auf ‘geschlechtsspezifische Arbeitsteilung’ ausgerichtete gesellschaftliche Infrastruktur zur in den individuellen Leib eingeschriebenen ‘Intrastruktur’ – als “letzte politische Form einer Domestizierung, mit der jetzt – als Fortführung der genetischen Manipulation der Tiergattungen und der Dienstbarmachung der sozialen Verhaltensweisen des Menschen – das Zeitalter der verinnerlichten Komponenten anbricht.”23 Thomas Lemke hat zu Recht darauf hingewiesen, dass der aktuelle biomedizinische Diskurs mit seinem ‘Genfetischismus’24 überhaupt dazu tendiert, “geschlechtliche Differenzen und Asymmetrien biowissenschaftlich zu verankern.”25 Wo reproduktive und prokreative Prozesse radikal der Ideologie der herrschenden Ökonomie unterworfen werden, könnte die Sprachregelung von Samen-Banken und Eier-Konten treffender kaum sein. Die jeweils neueste Technik und die rechtlichen Bedingungen schreiben ‘Frauen’ auf Körperlichkeit und Mutterschaft fest. So macht Frankenthaler der Erfinderin der neuen Technik unumwunden klar: “Aber darüber hinaus muß dir […] klar sein, daß von dem Moment an, wo die Embryos wieder in deiner Gebärmutter sind, ich das Sagen habe.” (U S. 53) So zeigt das ästhetische Dramen- und Theaterspiel etwas von den aktuellen Entwicklungen in Technik und Gesellschaft, das das Werbematerial der Medizintechnik nicht erzählt, und das zudem der in den Medieninterviews vertretenen Meinung des Autors widerspricht. Die Textintention von Unbefleckt unterläuft den Optimismus der Figuren. Nicht der Erfolg als Wissenschaftlerin führt letztlich zur Alleinautorschaft der Frau. Als würde durch ICSI das Mutterrecht durchgesetzt, wird Melanie Laidlaw zur Alleinautorin, weil sie als betroffene (gleichsam vergewaltigte, U S. 104f ) Schwangere und Mutter moralisch im Recht zu sein scheint. Wie bereits der sprechende Name der Protagonistin signalisiert (“Laidlaw” bedeutet ins Deutsche übersetzt eine Wortkombination aus “flach gelegt” und “Gesetz”), 23
Vgl. Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers – Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München 1994. S. 108f. 24 Vgl. Donna Haraway: Genfetischismus. In: Das Argument 43 (2001). H. 4/5. (Geburt des Biokapitalismus). S. 601–614. 25 Vgl. Thomas Lemke: Die Gene der Frau – Humangenetik als Arena der Geschlechterpolitik. In: Feministische Studien (2004). H. 1. (Inszeniert – konstruiert – imaginiert). S. 22–38. Hier S. 23.
172 wird die Wissenschaftlerin radikal auf den Objektstatus festgeschrieben. Neben dem sprechenden Figurennamen liefert der Text gleich zu Beginn, als die Figur im Figurenverzeichnis eingeführt wird, in der Regieanweisung das Klischee einer ‘Männerphantasie’ per se: Außer dem ungefähren Alter (das auffällig weit unter den äußerst vagen Altersangaben für die Männerfiguren liegt) wird angegeben, wie die weibliche Figur auszusehen habe: “schlank, sportlich gebaut, mit schönen Beinen” (U S. 7). Unbefleckt thematisiert die Umstände von Fortpflanzung und Geburt an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert. Dabei gipfelt der Wirrwarr um die technisierten Reproduktionsvorgänge explizit in einem Streit um “die Frage nach der Autorenschaft” des Fachzeitschriftenbeitrags (U S. 90). Indem der Text Zeugungsvorgänge und die Diskussion von Autorschaft, also die ‘Zeugung’ von körperlichen und von kulturell-geistigen Produkten explizit miteinander verknüpft, zitiert er ein in der westlich-modernen Kultur einschlägiges Imaginationsmuster: die anthropologische Urszene von ‘Urheberschaft’ schlechthin [wird] zum Inbild jeder Art von künstlerischer und intellektueller Produktion […]: Zeugung und Geburt. Die Vorstellung, daß die Entstehung kultureller Leistungen in Analogie zur natürlichen Prokreation erfolge, gehört zu den Kernbeständen der europäischen Kulturgeschichte.26
Djerassis ‘Science-in-theatre’ wiederholt jedoch nicht nur den kulturgeschichtlichen Analogieschluss von künstlerisch-intellektueller und biologischer Zeugung. Durch das zentrale Motiv vom künstlichen Menschen und die Anspielung auf Shelleys einschlägigen Klassiker setzt das Drama indirekt Kunst und Naturwissenschaft erkenntnistheoretisch in eine Beziehung zueinander und erklärt naturwissenschaftliche Ergebnisse zu Produkten kreativen Kunstschaffens. Im 19. Jahrhundert steigt der antike Kulturinitiator und Menschenschöpfer Prometheus bekanntlich zur populärsten Figur der antiken Mythologie und zu einer beliebten Allegorie für den (autonomen) Künstler auf.27 Indem Shelley das Bild vom schöpfenden Künstler auf den Wissenschaftler überträgt, nimmt sie eine radikale Interpretation der zeitgenössischen Naturwissenschaft vor: “If Frankenstein, as scientist, is ‘the modern Prometheus’, then science too is creative.”28 – Frankenthaler als postmoderner Prometheus, dem eine “Amazone des 21sten Jahrhunderts” die kreative Potenz abspricht? 26
Vgl. Christian Begemann: Der Körper des Autors – Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik. In: Autorschaft – Positionen und Revisionen. Hg. von Heinrich Detering. Stuttgart – Weimar 2002. S. 44–61. Hier S. 44f. 27 Vgl. Matthias Pötzsch: ‘Groß beginnet ihr Titanen’ – Variationen des PrometheusMythos um 1800. In: Die Geschöpfe des Prometheus – Der künstliche Mensch von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Rudolf Drux. Bielefeld 1994. S. 49–57. Hier S. 51. 28 Vgl. Mary Shelley: Frankenstein or the Modern Prometheus. Edited with an Introduction and Notes by M.[ichael] K. Joseph. Oxford 1998. S. XII.
173 Im Kontext der genieästhetischen Auseinandersetzung um die Urheberschaft kultureller und künstlerischer Leistungen ist die genderspezifische Belegung der in Djerassis Stück zitierten Phantasmen besonders auffällig: Ausgehend von der unterschiedlichen Beteiligung einzelner Individuen an generativen Prozessen wird das ‘Weibliche’ auf die Fähigkeit, neue und eigenständige Lebewesen hervorzubringen, festgelegt. Auf der anderen Seite wird – über die symbolische Verschiebung der prokreativen Kräfte der in die Ferne gerückten geliebten Frau – die eindeutig ‘männliche’ Kompetenz konstruiert, durch Selbstzeugung und Selbstgeburt zum autonomen Künstler zu werden, der, sich selbst befruchtend, autonome Kunstwerke schafft.29 Die Komödie Unbefleckt macht die heterosexuellen Einschreibungen in das Konzept vom (männlichen) Autor durch die Brüche in der geschlechtsspezifischen Umkehrung des Konzepts sichtbar. Hier macht sich eine weibliche Figur zur Autorin, indem sie – mit Hilfe eines fernen Geliebten – das kulturell wirksame Imaginationsmuster der Verknüpfung von Kunst- und Kulturschaffen, Erotik und Sexualität, Zeugung, Geburt und Autorschaft zitiert und konsequent inszeniert, indem sie am Ende nicht nur metaphorisch gebiert. Geschlecht und Zweigeschlechtlichkeit werden als ‘Maskeraden’ erkennbar. Etwa zeigt der Aktivität und Aggressivität anzeigende “weibliche Stecher” Eigenschaften, die üblicherweise einer ‘männlichen’ Identität zugeschrieben werden. Mittels des zum Werkzeug gemachten fernen Geliebten befruchtet er sich physisch selbst, trägt die Schwangerschaft aus, bringt ein Kind zur Welt und tritt am Ende als Autorin an die Öffentlichkeit. ‘Autorschaft’ wird als eine ein Macht- und Besitzverhältnis beschreibende Funktion erkennbar.30 Die Frage nach der Autorschaft ist die Frage nach der Zuschreibung: Wer darf als Ursprung des Erfundenen gelten? Während in den ästhetischen Debatten um 1800 Kunstwerke zu ‘Kindern’ stilisiert werden,31 wird Melanies ‘ICSI-Baby’ durch das Walter Benjamins berühmten Aufsatz alludierende Motto “Sex im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit” als (post-)modernes Kunstwerk ohne Aura markiert.32 Dabei bleibt die diskursive “Anbindung an die maßgebliche Norm der bürgerlichen Kultur, die ‘Natur’ ”33 erhalten. Galt die diskursive Anbindung an die ‘Natur’ ohnehin in erster Linie für Weiblichkeitsvorstellungen und den als ‘weiblich’ belegten Körper, fällt in
29
Vgl. Begemann: Der Körper des Autors. S. 49f, 60. Vgl. Gerhard Plumpe: Autor und Publikum. In: Literaturwissenschaft – Ein Grundkurs. Hg. von Helmut Brackert und Jörn Stückrath. Reinbek bei Hamburg 1992. S. 377–391. Hier S. 378–385 sowie Michel Foucaults initialzündenden Beitrag Was ist ein Autor? In: Michel Foucault: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer. Frankfurt/M. u. a. 1988. S. 7–31. 31 Vgl. Begemann: Der Körper des Autors. S. 52. 32 Vgl. Djerassi: Unbefleckt. S. 5. Im Original bildet die Anspielung sogar den Dramenuntertitel. 33 Vgl. Begemann: Der Körper des Autors. S. 55. 30
174 Unbefleckt auf, dass die Trennung von Genealogie und sozialen Beziehungen nur auf der männlichen Seite thematisiert wird, obwohl in der außerliterarischen klinischen Empirie die Leihmutterschaft weibliche Fortpflanzung und Schwangerschaft entkoppelt hat. Während die kulturelle Norm der Zweigeschlechtlichkeit üblicherweise im Rekurs auf die ‘Natur’ verschleiert wird, zeigt sich in Djerassis Komödie gerade an der ‘natürlichsten Sache der Welt’, dass die dargestellte Biologie kulturelle Muster reproduziert: Alles, was über Sex gesagt werden kann, wird unter den Bedingungen des jeweils herrschenden gender-Diskurses gesagt, und eröffnet keinen Zugang zu einer diskursunabhängigen, dem Diskurs vorgelagerten Welt an sich.34
Seit dem Entwurf vom genialen Kunst- und Kulturschaffenden gehört auch die Aufwertung der sozialen gegenüber der biologischen Vaterschaft zur Rede über Prokreation und Kreation, wofür Lessings Nathan ein frühes und prominentes Beispiel in der Theatergeschichte darstellt.35 Eben diese Bewertung der unterschiedlichen Ebenen von Vaterschaft ist Djerassis Theaterstück zu entnehmen. Die Frage nach der genetischen Herkunft wird zum unaufgelösten Endpunkt der ganzen Handlung, also mit immenser Bedeutung aufgeladen, um gleichzeitig vom sich selbst zum Vater erklärenden Mann als Nebensache abgetan zu werden (U S. 87). Auf der ‘weiblichen’ Seite geschieht – den außerliterarischen technologischen Realitäten zum Trotz – das Gegenteil. Die biologische Anbindung der Frau wird nicht in Frage gestellt, obwohl Eizellen in der Petrischale genauso austauschbar sind. Djerassis “weiblicher Stecher” erscheint am Ende als Karikatur eines (aus) sich selbst Schöpfenden. Die geniale Forscherin erscheint am Ende als mit zahlreichen Klischees belegt und radikal auf den Leib zurückgeworfen. So verweist das Geschehen um die übertölpelte Autorin gleichermaßen auf den logozentrischen Irrwitz, die Emanzipation vom Körper zu postulieren, wie auf die Unhintergehbarkeit der Kultur. Die Rede über Natur ist immer schon Kultur. Der Biologie ist die Kategorie Gender inhärent. “ ‘The’ body comes in genders.”36 Natur und Kultur erscheinen gleichursprünglich.37
34 Vgl. Hilge Landweer: Generativität und Geschlecht – Ein blinder Fleck in der sex/gender-Debatte. In: Denkachsen – Zur theoretischen und institutionellen Rede vom Geschlecht. Hg. von Gesa Lindemann und Theresa Wobbe. Frankfurt a. M. 1994. S. 147–176. Hier S. 164. 35 Vgl. Begemann: Der Körper des Autors. S. 52. 36 Vgl. Judith Butler: Bodies that matter – On the discursive limits of “sex”. New York und London 1993. S. IX. 37 Vgl. Regine Gildemeister, Angelika Wetterer: Wie Geschlechter gemacht werden – Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie. Hg. von Gudrun-Axeli Knapp und Angelika Wetterer. Freiburg i. Br. 1992. S. 201–254. Hier S. 216.
Tanja Nusser
Reproduktive Un-/Ordnungen. Überlegungen zu kulturellen Darstellungen biomedizinischer und kybernetischer Reproduktion New reproductive technologies challenge the configuration of the traditional family. In this new context NRT conceived children take a hybrid position. These children are the product of a material as well as of a mental act. In the case of some technologies this leads to multiple parental positions. The metaphor of the cyborg-fetus conceptualizes this hybridization through technical interventions as a fusion of organic and technologic dimensions. In the wake of Haraway’s theses a somewhat utopian potential is ascribed to the new reproductive technologies. However, if one considers the consequences that follow the merging of cybernetics and bio-reproductive technology, namely the implication of the double artificial creation, as it is imagined in recent films among others, rather challenging questions are to be raised.
Will man auf die Frage, woher die Kinder kommen, nicht mit dem überholten Bild des Storches antworten, so hat sich auch die Beschreibung des biologischen/ sexuellen Aktes der Prokreation schon lange als überholt erwiesen, insofern als die Fortpflanzung/Befruchtung von Sexualität getrennt werden kann. Die mit bestimmten Technologien einhergehende Aufspaltung beziehungsweise Multiplikation der Mütter- und Väterfiguren in soziale, genetische und biologische Elternteile ist ein bekanntes Thema, die Technifizierung und Entfremdung des ehemals als natürlich, biologisch verstandenen Reproduktionsakts sei deshalb nur kurz erwähnt.1 Doch mit diesen immer weiter fortschreitenden 1
Vgl. zum Beispiel Sarah Franklin und Helena Ragone (Hg.): Reproducing Reproduction, Kinship, Power, and Technological Innovation. Philadelphia 1998. S. 1–14. Charis M. Cussins: “Quit Sniveling, Cryo-Baby. We’ll Work Out Which One’s Your Mama!” In: Cyborg Babies. From Techno-Sex to Techno-Tots. Hg. von Robbie Davis-Floyd und Joseph Dumit. New York – London 1998. S. 40–66. Erica Haimes: Recreating the Family? Policy Considerations Relating to the ‘New’ Reproductive Technologies. In: The New Reproductive Technologies. Hg. von Maureen McNeil et al. London 1990. S. 154–172. Mark Rose: “Mothers and Authors. Johnson v. Calvert and the New Children of Our Imagination”. In: The Visible Woman. Imaging Technologies, Gender, and Science. Hg. von Paula Treichler et al. New York. London 1998. S. 217–239. Gerburg Treusch-Dieter: Analyse des Bundesgesetzes über die medizinische Fortpflanzungshilfe beim Menschen. In: Die Kontrollierte Fruchtbarkeit. Neun Beiträge gegen die Reproduktionsmedizin. Hg. von Eva Fleischer und Ute Winkler. Wien 1993. S. 65–80. Karen Wright: Human in the Age of Mechanical Reproduction. In: Discover. (01. Mai 1998). htttp://www.britannica.com/bcom/magazine/article/0,5744,45516,00.html – gesehen am 07. April 2000.
176 Möglichkeiten der Intervention durch die neuen Reproduktionstechnologien (NRT) in die biologische Reproduktion sowie der Transformation und dem ‘re-de-sign’ der reproduktiven Körper werden sowohl Definitionen von Sex, Gender und Sexualität als auch die Definition von Verwandtschaftsbeziehungen und die Konstruktion, was eine Familie bildet, in Frage gestellt, aber auch immer wieder neu bestätigt.2 Dass diese Ablösung aus dem “Bereich der Tradition” 3 als Bedrohung durch die/den hybriden NachfolgerIn aufgefasst werden kann, liegt unter anderem darin begründet, dass ihre/seine Zuordnung zum Vorhergegangenen nicht mehr eindeutig festlegbar ist, und nicht darin, dass die technologischen Interventionen in den biologischen oder sozialen, mütterlichen oder väterlichen Körper eingreifen und diesen verändern. Zwar rufen die Eingriffe die Angst vor Zugehörigkeitsverlusten und das Bedürfnis nach Definitionen hervor. Aber erst das geborene Kind als ‘Resultat’ markiert die hybride Situation. Es wird zum Zeichen, dass die ehemals als stabil wahrgenommene genealogische Ordnung ins Wanken geraten ist beziehungsweise sich im Umbruch befindet. Es wird die Auflösung traditioneller Werte, aber auch der Hybrid-Status des Kindes beschworen. Im Begriff des
2
Ich beziehe mich bei diesem Gedanken auf die Ausführungen von Adele Clarke: “Modernity, Postmodernity & Reproductive Processes ca. 1890–1990 or, ‘Mommy, where do cyborgs come from anyway?’ ”. In: The Cyborg Handbook. Hg. von Chris Hables Gray. New York – London 1995. S. 139–155. Clarke argumentiert, dass diese Infragestellung als postmoderner Zugriff auf den Körper begriffen werden muss. In diesem Sinne grenzt sie die NRT (neuen Reproduktionstechnologien) von den alten RT ab, die sie als ein Vorgehen definiert, das in Anlehnung an industrielle Produktionsverfahren eine größere Kontrolle über reproduktive Prozesse, Standardisierung, Effizienz, Spezialisierung Professionalisierung und technologische Entwicklung anstrebt. Die RT haben zwar eine ‘Befreiung’ von den reproduktiven Konsequenzen zur Folge, betonen aber nichtsdestoweniger immer noch das heterosexuelle kleinfamiliäre Modell als Nukleus der (re)produktiven Gesellschaft. Zu diesen RT gehören u.a. die verschieden Verhütungsmethoden, aber auch Ultraschall. 3 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ⬍dritte Fassung⬎. In: Ders.: Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. 1.2. Frankfurt/Main 1991. S. 471–508. Hier S. 477: “Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises.” (Kursivierung im Original.) Carl Djerassi greift die Benjamin’schen Überlegungen zum Kunstwerk auf, um auf die ethische Dimension von ART (Assistierende Reproduktionstechniken) – die Lösung der Schwangerschaft und die Geburt des Kindes aus traditionellen Fortpflanzungszusammenhängen – zu verweisen, vgl. Carl Djerassi: “Der entmachtete Mann. Die Reproduktionsmedizin macht Frauen unabhängiger vom starken Geschlecht. Ein Essay über Sex im Zeitalter der technisierten Fortpflanzung”. In: Die Zeit 27 (01. Juli 1999). S. 28.
177 Cyborg-Fötus4 oder -Babies wird zwar immer noch mit distinkten Bereichen oder Entitäten argumentiert, aber gleichzeitig die (wenn auch strategische) Verschmelzung von Mensch und Maschine postuliert. Damit jedoch kann der durch Reprotechnologien entstandene Mensch das politische Potential verkörpern, das Donna Haraway den Vorstellungen ihres Cyborgs eingeschrieben hatte. Haraways Beschreibung des Cyborgs “as a cybernetic organism, a hybrid of machine and organism, creature of social reality as well as a creature of fiction”5 gewinnt in den Diskussionen um die ‘Reprokinder’ insoweit eine Bedeutung, als dass diese ihren Entstehungsprozess als biotechnologische Reproduktion und zudem als kulturelle Reproduktionsleistung ausstellen. Den Reprokindern haften also im gleichen Maße mythisch-religiöse und sozialgesellschaftliche Dimensionen an.6 Somit schreibt sich in die durch reproduktionstechnologische Eingriffe entstandenen Menschen nicht unbedingt eine neue Ordnung ein, die die Vorstellung einer originären Einheit verabschiedet, sondern die Entstehung der Kinder kann als materieller und imaginärer Akt verstanden werden, der eine eindeutige genealogische Zuordnung verhindert. Ausgespielt werden in den Körpern zwei Modelle der Entstehung – eine geistige/kreative und die materielle/ biologische –, um so eine Ordnung entweder zu stabilisieren oder zu verschieben und/oder auch neu zu etablieren, aber auf jeden Fall um eine imaginäre Einheit zu produzieren. Der Körper des ‘Sprösslings’ wird demnach zu dem ‘Ort’, an dem die drohende neue Ordnung juristisch ver- und abgehandelt wird. Damit aber wird das Kind bekanntermaßen zum Hoffnungsträger einer Zukunft, die aus einer Gegenwart nach traditionellen (Vor-)Bildern modelliert wird: Das Hybride des Kindes, das auf den repromedizinischen Interventionen basiert, wird in diesen Bemühungen eingeebnet. Versucht wird, diese mit Hilfe der neuen Reproduktionstechnologien entstandenen Kinder in traditionelle familiale Konstellationen einzubinden und somit die technisch induzierten Schwangerschaften und Geburten als ‘natürliche’ zu situieren. Damit aber wird die Möglichkeit einer Grenzverschiebung oder auch die Auflösung der dichotomischen Konstruktion von Natur/Technik, Natur/Kultur, die auf der imaginären (und realen körperlichen sowie familiären) Ebene stattfindet, auf der symbolischen und realen Ebene der Gesetze negiert. Das Modell der Kleinfamilie als Träger des Staates wird ‘reanimiert’, indem unter anderem 4
Den Begriff Cyborg-Fötus habe ich entliehen von Monica J. Casper: “Fetal Cyborgs and Technomoms on the Reproductive Frontier. Which way to the Carnival?” In: The Cyborg Handbook. Hg. von Chris Hables Gray. New York – London 1995. S. 183–202. 5 Donna J. Haraway: “A Cyborg Manifesto. Science, Technology, and SocialistFeminism in the Late Twentieth Century”. In: Dies.: Simian, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature. New York 1991. S. 149–181. Hier S. 149. 6 Ebd. Bes. S. 150.
178 bekannte und erprobte ‘Erzählmuster’ benutzt werden, deren Zentrum immer wieder die glückliche Kleinfamilie bildet. Auf der Ebene des reproduktionstechnologischen Diskurses etabliert sich also der Versuch, diese Interventionen in einen Horizont einzubinden, der es ermöglicht, das Künstliche als Natürliches (und in dem Kind auch als Eigenes, Verwandtes) zu verhandeln. Anders verhält es sich in literarischen und filmischen Auseinandersetzungen mit den Reproduktionstechnologien, die sowohl auf traditionelle Erzählmuster zurückgreifen als auch das disruptive Potential dieser Eingriffe in die genealogische Ordnung betonen.
Matrizen, Klone, Codes und Informationen Befassen sich die meisten literarischen Texte mit den aktuellen reproduktionstechnologischen Möglichkeiten oder mit Zukunftsentwürfen antizipierter technischer Verfahren der Reproduktion, insbesondere dem Klonen,7 das strenggenommen nicht als reproduktive ‘Fortpflanzung’ begriffen werden kann, so zeigt sich, dass im Medium Film die Auseinandersetzung mit den biotechnologischen Entwicklungen nicht allein auf die verschiedenen Varianten der künstlichen Reproduktion beschränkt ist. Zwar thematisieren und verbreiten Hollywood-Filme der letzten Jahre repromedizinische und biotechnologische Entwicklungen,8 in denen einerseits Geschlechterstereotypen produziert, aufgegriffen, bestätigt oder auch verworfen werden und andererseits Bilder nicht nur von reproduktionstechnologischen Möglichkeiten entworfen, sondern die Machbarkeit des Menschlichen (im Sinne des Klonens, aber auch genetischer und pränataler Eingriffe und Umformungen, schlicht des ‘Wunsch- oder Traumbabys’) als zweite Schöpfung thematisiert werden. Aber diese ‘Schöpfungsgeschichten’ um die künstlich induzierten Schwangerschaften und künstlichen Geburten werden inhaltlich auch an das Thema der künstlichen 7
Um nur kurz einige Titel zum Thema Klonen zu nennen: Aldous Huxley: Brave New World (1932), obwohl es in diesem Roman nicht um das Klonen, sondern das Bokanowsky-Verfahren der Knospung geht; Ira Levin: The Boys from Brazil (1976); David Rorvik: In His Image (1978); Fay Weldon: The cloning of Joanna May (1989); Michel Houellebecq: Les particules élémentaires (1998); Charlotte Kerner: Blueprint Blaupause (1999). 8 Beispielhaft möchte ich für filmische Darstellungen künstlicher Reproduktion nur einige Hollywood-Produktionen der letzten Jahre anführen: Gattaca: USA 1997, Regie: Andrew Niccol; Alien Resurrection: USA 1997, Regie: Jean-Pierre Jeunet; Star Wars: Episode II – Attack of the Clones: USA 2002, Regie: George Lucas. Verwiesen sei aber auch auf The Handmaid’s Tale: USA/Deutschland 1990, Regie: Volker Schlöndorff, eine filmische Adaption des gleichnamigen Romans von Margaret Atwood, und auf die Anfang des Jahres 2004 gelaufene deutsche Kinoproduktion Blueprint: Deutschland 2003, Regie: Rolf Schübel, nach dem gleichnamigen Jugendroman Charlotte Kerners.
179 Menschen geknüpft; wie beispielsweise in den zwei neueren Filmen The Matrix9 (1999) der Brüder Wachowski und Teknolust10 (2002) von Lynn Hershman-Leeson, in denen zwei unterschiedliche Technologien ‘verschaltet’ werden: Kybernetik und Bio- bzw. Reproduktionstechnologie. In doppelter Weise wird die Künstlichkeit der Menschen betont und somit auf zwei unterschiedlichen Ebenen die Frage danach gestellt, was Menschlichsein bedeutet beziehungsweise wie es definiert werden kann. Es geht an dieser Stelle nicht um einen interpretatorischen Vergleich oder eine nähere Inhaltsanalyse der beiden Filme. Ich nehme sie bzw. ihre Darstellung von Reproduktion(stechnologien) zum Anlass, um mich im weiteren Verlauf damit auseinander zu setzen, wie die biotechnologische Reproduktion mit Vorstellungen von Computern, dem World Wide Web und der Virtuellen Realität verknüpft wird und welche impliziten Vorannahmen diese kulturellen Imaginationen von Reproduktion erst ermöglichen. In The Matrix werden die Menschen in einem ektogenetischen Kokon11 gezüchtet,12 um als Batterien für Maschinen zu dienen, die Ende des 20. Jahrhunderts durch die Entwicklung der AI (Artificial Intelligence), “[a] singular consciousness that spawned an entire race of machines”,13 entstanden. Die Menschen verbringen ihr Leben ‘ungewusst’, passiv im Kokon liegend in der Virtuellen Realität und werden intravenös gefüttert, um dann, wenn sie ihr ‘Verfallsdatum’ erreichen, abgetrieben und ‘geerntet’ zu werden. In Teknolust wird die Verknüpfung der beiden Technologiebereiche als ein Klonungsprozess imaginiert. Die Protagonistin Rosetta Stone14 klont sich, indem sie den Computer mit ihrer DNA speist15 9
Matrix, The: USA 1999, Regie: Larry und Andy Wachowski. Teknolust: USA 2002, Regie: Lynn Hershman-Leeson. 11 Der Begriff der Ektogenese geht zurück auf J.B.S. Haldanes Entwurf einer künstlichen Gebärmutter in den 1920 Jahren. Vgl. J.B.S Haldane: “Daedalus or Science and the Future. A Paper read to the Heretics, Cambridge, on February 4th, 1923”. In: Haldane’s Daedalus Revisited. Hg. von Krishna R. Dronamraju. Oxford u. a. 1995. S. 23–50. 12 Wie Morpheus im Film sagt: “There are fields, endless fields where human beings are no longer born; we are grown.” Siehe Larry und Andy Wachowski: The Matrix. The shooting Script. New York 2001. S. 40. 13 Ebd. S. 39. 14 Der Name kann als Anspielung auf den Rosetta-Stein begriffen werden, der es ermöglicht, hieroglyphische, demotische (alt-ägyptische Umgangssprache) und griechische Texte zu entziffern und zu ‘transkodieren’. Über ihren Namen verweist die Protagonistin somit schon auf ihren erfolgreichen Versuch, den genetischen Code (CGTA – die sogenannten Bausteine des Lebens) und den digitalen Code ineinander zu übersetzen und solchermaßen Klone ihrer selbst zu produzieren. 15 In ähnlicher Weise hatte Lynn Hershman-Leeson in ihrem Spielfilm Conceiving Ada (USA/Deutschland 1997) die DNA als kommunikativen Agenten imaginiert, mit dem die Computer-Forscherin Emmy Coer über das WWW Kontakt mit Ada Lovelace herstellt. 10
180 und solchermaßen, wie es im Film heißt, drei SRA’s (Self Replicating Automatons) entstehen, die sich ganz im Sinne von Vorstellungen über Artificial Life (AL) verhalten. Artificial Life wird von Katherine Hayles folgendermaßen charakterisiert: “[…] to evolve spontaneously in directions the programmer may not have anticipated. The intent is to evolve the capacity to evolve.”16 Die AI-Forschung, auf die The Matrix sich bezieht, kann als Versuch begriffen werden, in Maschinen eine der menschlichen vergleichbare Intelligenz zu produzieren; der Mensch ist sozusagen immer noch der Maßstab. Die als Nachfolgerin bezeichnete AL-Forschung hat sich dahingehend entwickelt, dass AL von einigen TheoretikerInnen insofern eine Autonomie zugesprochen wird, als Systeme des Artificial Life, wie sie in Teknolust imaginiert werden, die Fähigkeit besitzen, zu existieren und eine nicht vorherbestimmbare Welt entstehen zu lassen. Dies bedeutet, dass der relativ große Sprung zwischen Programmen, die sich in einem Computer reproduzieren, und lebenden Organismen in der AL-Forschung durch evolutionäre Narrationen geschlossen/ verkleinert wird. Die Narrationen “map the programs into evolutionary scenarios traditionally associated with behavior of living creatures. The narratives translate the operations of computer codes into biological analogous that make sense of the program logic.”17 Dies geschieht, indem die binäre Logik als ein “high drama of a Darwinian struggle for survival and reproduction”18 inszeniert und die Maschine zum Modell für das Verstehen des Menschen wird. Um zu den Filmen zurückzukehren: In The Matrix lässt sich mit den Technologien der IVF (In-Vitro-Fertilisation), der künstlichen Gebärmutter und AI immer noch der Mensch als Maß beziehungsweise Modell für die Entwicklung sehen. Evolution wird somit zu einem Konzept, das zwischen biologischen und kulturellen Ansätzen thematisiert wird.19 Der evolutionäre 16
N. Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics. Chicago – London 1999. S. 11. 17 Ebd. S. 225. Vgl. insgesamt das 9. Kapitel zu den Narrationen von AL. Wenn AL als Organismen konzipiert werden, dann geschieht dies, indem Körper in einem metaphorischen Sinne verstanden werden; die Organismen/Kreaturen sind ihre Codes (ebd., S. 229). 18 Ebd. S. 225. 19 Ich spreche hier von einer kulturellen Evolution in Anlehnung an die durchaus problematische Definition Julian Huxleys. Er geht davon aus, dass der Mensch in die Phase der psychosozialen Evolution eingetreten ist, in der “der Geist über der Materie thront und Quantität der Qualität untergeordnet ist.” (Julian Huxley: “Die Grundgedanken des evolutionären Humanismus”. In: Der evolutionäre Humanismus. Zehn Essays über die Leitgedanken und Probleme. Hg. von ders. München 1964. S. 13–69. Hier S. 35.) Ich lege an dieser Stelle Wert auf diesen Evolutionsbegriff, da es meiner Meinung nach in The Matrix zwar um die Verhandlungen über die Mensch-Maschine-Konstellation geht, diese aber unter dem Paradigma geführt werden, dass der Mensch qua seines Geistes diese Technik beherrschen und sich über seine menschliche (biogenetisch bedingte) ‘Verfasstheit’ erheben kann.
181 Sieger ist gewissermaßen der Mensch, der sich als (über-)natürlich dann erweist, wenn er (in der Figur Neos) die Maschinen als Teil seiner selbst inkorporiert, sich über die Menschen gleichsam religiös erhebt, in seinem Körper die ‘Verschaltung’ von Genetik und Kybernetik betreibt und als Cyborg diese beherrscht. In Teknolust wird mit den Techniken des Klonens und AL die Maschine zum Maßstab und die technische Evolution wird gegen die biologische ausgespielt. Aus Sicht der Klone ist die evolutionäre Entscheidung allerdings schon zu ihren Gunsten gefallen, da sie eine Verbesserung der Schöpfung darstellen. Sie stellen allein deshalb eine Verbesserung dar, weil Menschen, wie der Klon Marine feststellt, nicht über Selbstreparaturmechanismen verfügen, ihre Maschinen nicht verstehbar sind. Die in den beiden Filmen unterschiedlich inszenierten Verbindungen der beiden Technologien setzen (wenn auch nur indirekt) eine Entwicklung voraus, die unter anderem auf den Macy-Konferenzen (1943–1954) mit dem Austausch zwischen Kybernetik und Genetik begonnen hat20 und die die Begriffe des Codes und der Information zu Leitparadigmen in den Techno- und Lebenswissenschaften werden ließ. Beide Filme sind somit an Grenzziehungsverfahren beteiligt, in denen sowohl der Status des Natürlichen als auch des Technischen/Künstlichen im Bereich der Kybernetik und der Biowissenschaften ausgehandelt wird; hierbei geht es letztlich (und dies ist nichts Neues) um die Naturalisierung technischer Interventionen, aber auch um die Technisierung des Natürlichen. Der von Norbert Wiener und Claude Shannon geprägte Begriff der Information – “eine exakte quantitative Maßeinheit für die Komplexität linearer Codes”21 – schien sehr vielversprechend für die Disziplin der Biologie, da “die DNA offenbar als linearer Code funktionierte”22. Die Beschränkung dieses theoretischen Modells wurde allerdings schon sehr bald offensichtlich. Schließlich darf der Informationsbegriff, da “im technischen Sinne Information ein Maß für die Freiheit bei der Auswahl einer Botschaft darstellt”23, nicht mit der Bedeutung verwechselt werden. Dennoch konnte der Terminus ‘Information’, seines technischen Inhalts entleert, zur “Metapher einer Metapher, zu einer Bedeutung ohne Referent”24 werden und “rechtfertigte die […] Erwartung, 20
Vgl. Hayles: How We Became Posthuman. Bes. 1. und 3. Kapitel. Evelyn Fox Keller: “Sprache und Naturwissenschaft. Genetik, Embryologie und der Gen-Diskurs.” In: Dies.: Das Leben neu denken. Metaphern der Biologie im 20. Jahrhundert. München 1998. S. 19–63. Hier S. 37. 22 Fox Keller: Sprache und Naturwissenschaft. S. 37. 23 Lily E. Kay: “Wer schrieb das Buch des Lebens? Information und die Transformation der Molekularbiologie”. In: Objekte, Differenzen und Konjunkturen Experimentalsysteme im historischen Kontext. Hg. von Michael Hagner et al. Berlin 1994. S. 151–179. Hier S. 166. 24 Lily E. Kay: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? München – Wien 2001. S. 178. 21
182 daß biologische Information im Lauf der Entwicklung nicht zunimmt: sie ist im Genom bereits vollständig enthalten.”25 Außerdem wurde der Begriff des Programms aus den Computerwissenschaften in die Biologie transferiert. Zunächst wurde eine Analogie zwischen dem genetischen Material und dem Magnetband eines Computers hergestellt,26 später wurden Programme dann als “mehrschichtige und verzweigte Entitäten”27 verstanden. Der Informationsbegriff allerdings birgt, darauf verweist Katherine Hayles, das Potential der Entkörperung. Das in den Wissenschaften dominierende Konzept der Information setzt keine Materie voraus und ermöglicht es, Maschinen/Automaten und Menschen gleichzusetzen.28 Unterstützt wurde die Entwicklung durch John von Neumanns Modelle selbst-reproduzierender Automaten.29 Die konzeptionelle Austauschbarkeit von Mensch und Maschine in von Neumanns Theorie und der Informationsbegriff in Wieners und Shannons Ansatz führte zur “Herausbildung eines neuen Vererbungsdiskurses”,30 der die Lesbarkeit, den Schriftcharakter des Codes betont und gleichzeitig die Information von der materiellen Basis loslöst. Dies bedeutet: “information could become free-floating, unaffected by changes in context.”31 Die Definition von Information als unabhängig von der Materie ermöglicht erst die Vorstellung des Cyborgs als Entität, bei der zwischen den einzelnen ‘Teilen’ die Informationen fließen können. Dieses Informationsmodell spielt allerdings in den kulturwissenschaftlichen Konzeptionen der Cyborg-Babies keine große Rolle, da in diesen (in Nachfolge des Haraway’schen Ansatzes) der Begriff des Cyborgs in einem sehr weiten Sinn verwendet wird, um die nicht weiter theoretisierte symbiotische Fusion von organischem Leben und technologischen Systemen zu bezeichnen.32 Folgt man aber den technowissenschaftlichen Überlegungen zum Cyborg, und figuriert dieser nicht nur als Metapher für den technowissenschaftlichen Zugriff auf den menschlichen Körper, so kann argumentiert werden, dass die kulturwissenschaftlichen TheoretikerInnen, die die NRT als postmodern werten und 25
Fox Keller: Sprache und Naturwissenschaft. S. 38. Vgl. Evelyn Fox Keller: Das Jahrhundert des Gens. Frankfurt/Main – New York 2001. S. 108. 27 Ebd. S. 116. 28 Vgl. bspw. Hayles: How We Became Posthuman. S. 2; Ulrike Bergermann: “Informationsaustausch. Übersetzungsmodelle für Genetik und Kybernetik”. In: Techniken der Reproduktion. Hg. von dies et al. Königstein 2002. S. 35–49. Hier S. 35. 29 Vgl. zur Bedeutung von Wiener, Shannon und von Neumann für die diskursive Verschränkung von Kybernetik und Lebenswissenschaften Kay: Wer schrieb das Buch des Lebens. S. 11–178. 30 Kay: Wer schrieb das Buch des Lebens. S. 159. 31 Hayles: How We Became Posthuman. S. 19. 32 Vgl. zu dieser sehr weiten Verwendung des Begriffs des Cyborg-Babies beispielsweise den Sammelband Cyborg Babies. From Techno-Sex to Techno-Tots. Hg. von Robbie Davis-Floyd und Joseph Dumit. New York – London 1998. 26
183 den hybriden Status des Kindes im Begriff des Cyborg-Fötus oder -Kindes betonen, ebenso wie die RegisseurInnen von The Matrix und Teknolust von einem nicht artikulierten Informationsmodell ausgehen, das zwar eine Verschmelzung von Mensch und Maschine annimmt, dies aber nur auf der Basis einer imaginären ‘Entkörperung’. Wird, wie schon oben betont, die genealogische Ordnung durch NRT in Frage gestellt und zeichnet sich ein postmoderner Zugang auf den Körper ab, so muss die Imagination des Cyborgs als Verschmelzung von Kybernetik und Genetik beziehungsweise Mikrobiologie und Reprotechnologie im menschlichen Körper als posthuman begriffen werden. Doch mit einem posthumanen Körpermodell müsste nicht nur der Begriff der Genealogie, sondern auch der Begriff der Evolution neu gedacht werden. Schließlich muss grundlegend gefragt werden, wie eine Evolution der Technik konzipiert werden kann, wenn sie nicht als darwinistischer Kampf narrativiert wird. Besitzen technische Maschinen ihre eigene evolutionäre Dynamik,33 und wie wären die unterschiedlichen Evolutionsmodelle (von Mensch und Maschine) im menschlichmaschinellen Körper zu denken? Die Komplexität des denkbaren Evolutionsbegriffs wird beispielsweise in Teknolust veranschaulicht, wenn die Protagonistin Rosetta Stone, auf die Frage der Klone nach ihren eigenen Kindheitsbildern, im Computer das Programm ‘Recipe-Files’ aufruft, in dem die bildliche Darstellung der Spaltung der DNA in RNA begleitet wird von der Aussage, dass die Pixel mit Geist gefüllt wurden. Oder wenn in The Matrix die Matrix (das globale Informationsnetz, das die virtuelle Welt sozusagen erst ermöglicht) ihre etymologische Bedeutung der Gebärmutter erfüllt, die den Menschen sowohl kybernetisch als auch biotechnologisch herstellt.34 33
Vgl. Belinda Barnet: “Technical Machines and Evolution”. In: Ctheory. An International Journal of Theory, Technology, and Culture. Hg. von Arthur und Marilouise Kroker [http://www.ctheory.net/text_file.asp?pick⫽414 gesehen am 12. April 2004.]; siehe grundlegend die 1964/65 zuerst veröffentlichte Auseinandersetzung mit dem Evolutionsbegriff in der Technik von André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt/Main 1988. 34 Und diesen nie, so könnte man argumentieren, aus der Eingebundenheit, aus der mütterlichen Dyade entlässt. Der solcherart nie ‘richtig’ geborene Mensch bleibt immer Teil eines Systems, das weiblich codiert, seine ‘Menschlichkeit’ im Sinne einer Eigenständigkeit in Frage stellt. (Vgl. hierzu Sabine Schülting: Manuskript des Einführungsvortrags zur Ringvorlesung Gender Studies – Studies that Matter? Versuch einer Bestandsaufnahme. FU Berlin, 28. Oktober 2003.) Damit befindet sich The Matrix allerdings in einer Traditionslinie, die bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreicht, und in der immer wieder (bei jeder neuen Technologie oder Interventionsmöglichkeit, nicht zuletzt in den Diskussionen um das Klonen) die Widernatürlichkeit dieser Eingriffe, die Verletzung der Menschenwürde und -rechte und der Status des Menschseins an sich zur Disposition gestellt wurden sowie die Hybris der Manipulation von Menschen bis hin zur Erschaffung derselben verurteilt und gleichzeitig christliche (und d.h. alt- und neutestamentarische) Bilder aufgerufen wurden.
184 Was aber wäre das Posthumane? Der Begriff des Posthumanen fungiert in verschiedenen theoretischen Ansätzen ganz allgemein als eine “Chiffre für neue Subjektivierungsweisen”35, die sich auf den Humanismusbegriff zwar abgrenzend beziehen, dennoch dichotomische Kategorisierungen (zum Beispiel Innen/Außen, Materie/Information) erneut vornehmen. Ich greife in diesem Kontext wiederum eine der Definitionen Katherine Hayles auf, die für die Darstellung der Verschmelzung von kybernetischen Maschinen und menschlicher Biologie in den beiden Filmen relevant ist: […] the posthuman view configures human being so that it can be seamlessly articulated with intelligent machines. In the posthuman, there are no essential differences or absolute demarcations between bodily existence and computer simulation, cybernetic mechanism and biological organism, robot teleology and human goals. […] The posthuman subject is an amalgam, a collection of heterogeneous components, a material-informational entity whose boundaries undergo continuous construction and reconstruction.36
Diese Definition trifft im Bereich fiktionaler Darstellungen auf eine Unzahl von Veröffentlichungen und Filmen zu, die den/die Cyborg, den technisch aufgerüsteten, mit Prothesen ausgestatteten, ‘überreizten Menschen’37 zum Thema nehmen. Indessen fußen diese Vorstellungen immer noch auf einem Materiebegriff, der zwar der Spaltung von Geist und Körper unterliegt, aber keine Entkörperung vornimmt: Diese Imaginationen der Prothesen-Menschen können als eine “Kolonisierung der Organe und Eingeweide des menschlichen Körpers” begriffen werden, “wobei die Invasion der Mikrophysik diejenige der Geophysik zum Abschluß bringt.”38 Allerdings, und dies zeigen The Matrix und Teknolust sehr genau, sind die Phantasien einer Verschmelzung mit Maschinen als kolonisatorischer Akt und prothetische Erweiterung des Körpers/ der Materie nur denkbar, weil das Konzept der Information als Grundlage dieser Erweiterung ausgeblendet wird. Diese Ausblendung liegt auch dem metaphorischen Sprechen über die durch Reproduktionstechnologien entstandenen Kinder als Cyborg-Kids zu Grunde. Es zeigt sich, dass beide Narrativierungen – die filmischen Erzählungen über die kybernetisch modellierten Mensch-Maschinenverschmelzung und die
35
Susanne Lettow: “Vom Humanismus zum Posthumanismus? Konstruktionen von Technologie, Politik und Geschlechterverhältnissen”. In: Turbulente Körper, soziale Maschinen – Feministische Studien zur Technowissenschaftskultur. Hg. von Jutta Weber und Corinna Bath. Opladen 2003. S. 47–64. Hier S. 55. 36 Hayles: How We Became Posthuman. S. 3. 37 Paul Virilio: “Vom Übermenschen zum überreizten Menschen”. In: Ders.: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München – Wien 1994. S. 108–144. 38 Ebd. S. 108.
185 Metapher des Cyborg-Babies oder -Kinds – einer Logik Rechnung tragen, die in erstaunlichem Maße auf einem Denkmodell basiert, das zwar die Auflösung oder Infragestellung dichotomischer Kategorien wie Geschlecht, race, Innen und Außen, Materie und Geist, aber auch der genealogischen Ordnung postuliert, diese Kategorien jedoch erneut festschreibt, indem es grundlegend zu überdenkende oder neu zu definierende, mit dieser Konzeptualisierung verbundene Kategorien (wie technische Intervention, den Informationsbegriff, Entkörperung, aber auch technische Evolution) in der Figur der MenschMaschinenverschmelzung nicht thematisiert. Dies bedeutet letztlich, dass der scheinbar postmoderne Diskurs der NRT in seiner posthumanen Form – figuriert in dem Cyborg-Fötus oder -Kid – daran beteiligt ist, die drohende Auflösung von biologischen Verwandtschaftsbeziehungen und der Kleinfamilie sowie Definitionen von Sex und Gender in ein narratives Gerüst einzubinden, in dem wieder nur dichotom argumentiert werden kann. Damit taucht in dem Diskurs der Cyborg-Kids, indes auf verschobener Ebene, die unterschlagene binäre Logik des Codes als Zeichen wieder auf.
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Frank Degler
Scheintod. Das Spiel mit den digitalen Körpern In digital media the end of the realistic view on the body images is near, because they are now seen as what they are – only the images of a body. The effect of this process on the audiovisual dispositiv can’t be overrated, particularly in the case of the multitude of death bodies in digital media which are presented with a childish delight – perhaps the core of a new kind of narration. Obviously the physical existence of the heroes and sheroes is not a sympathetical and fragile, but only (opposing the strategies of immersion, used by the game-designers) a provisional one – for the purpose of being erased over and over again. Based on the supposition, that the adaequatio between image and reality isn’t persuasive any more, the following text analyses the computergame and movie Tomb Raider and other movies that are influenced by the problems of representation in digital media, from Tron and War Games up to Lola rennt and Matrix.
Je weniger komplex und damit je leichter auch wieder herstellbar die vorangegangene Konstruktion ist, um so eher gestatten wir (uns) die Lust an der Destruktion – nicht umsonst ist der Turm aus Bauklötzen das zentrale Beispiel für die kindliche Unschuld von Werden und Vergehen. Nun wird aber im digitalen Zeitalter auch das Bild des menschlichen Körpers zu einem ganz einfach wieder aufrufbaren Artefakt: Bei Spielen mit dem Computer werden diese simulierten Körper, die Avatare, in deren Gestalt sich die Spielenden durch die virtuellen Welten bewegen, mit eben dieser kindlichen Lust an Verlust und Fragmentierung immer wieder ihrem digitalen Untergang preisgegeben – ist ihre Wiederauferstehung aus dem Datenspeicher doch gesichert. Durch diese freie Verfügbarkeit künstlicher, digitaler Körper wird aber möglicherweise die würdevolle, festgefügte Gebundenheit menschlicher Existenz an einen einmalig gegebenen biologischen Körper ins Experimentelle und Vorläufige verschoben und damit nachhaltig in Frage gestellt. Ist es im Steampunk à la Jules Vernes oder H. G. Wells der Prototypus des wahnsinnigen Wissenschaftlers, der mit allen Insignien des Absurden und schönen mechanischen Apparaturen aus Messing und Mahagoni ausgestattet als Ausnahmeerscheinung elektromechanische Monster erschafft, stellt sich die Frage nach dem Status künstlicher Körper im Zeitalter der Digitalität erneut und umso drängender: sind doch die künstlichen Menschen der Screendesigner auf nahezu jedem PC Normalität. Der vorliegende Text will den Mechanismen der Derealisierungstendenz dieser Körper/ –bilder/ –simulationen nachgehen, insbesondere deren Tode, die erzählerisch (mit kinderleichter Geste) inszeniert werden. Offenbar wird ihre
188 Existenz1 nicht als sympathetisch erlebbare, fragile Körperlichkeit wahrgenommen, wie dies noch im Spielfilm der Fall war. Dort galt bisher (aller Tricktechnik zum Trotz), dass die Bilder auf eine physische Realität verweisen, wie gestellt auch immer die Szenerie oder die Gefühle gewesen sein mögen. Insbesondere die Stars in ihrer Körperlichkeit schienen ein garantierbares Verbindungsglied zur wirklichen Welt zu sein. Dieses Repräsentationsverhältnis gerät aber durch den Übergang von analogen zu digitalen Bildmedien in eine Fundamentalkrise, denn für digitale Technologien ist die Frage nach einer adaequatio nicht mehr sinnvoll zu stellen. Während also die Filmaufnahmen von Angelina Jolie in Tomb Raider (USA 2001) noch auf ein reales Arrangement von Menschen und Material am Ort und zum Zeitpunkt der Filmaufnahmen verweisen, bezieht sich die Figur im Film zugleich (durch ihr Aussehen, ihre Aufmachung und auch durch die charakteristische Künstlichkeit, die ihren Bewegungen verliehen wurde) auf die virtuelle Computerspielheldin Lara Croft (Tomb Raider. I – V. Eidos: 1996–2000). Mit diesem ersten virtuellen Star ist aber auch eine neue Bildlichkeit des Menschen (hier: der Frau) entstanden – eine Körperlichkeit, die frei programmierbar ist, da sie nur sekundärer Lichtreflex einer einheitlichen digitalen Vor-Schrift auf der Ebene der Software ist, wo Bilder, Texte und Töne im selben Format prozessiert werden. Weil aber die Bilder des Figurenkörpers nicht mehr auf die Welt verweisen, setzen sie zugleich neue Spielräume der kulturellen Recodierung von Körperlichkeit frei, denen im vorliegenden Text weiter nachgegangen werden soll. In welchem Ausmaß die formalen Funktionsbedingungen des Mediums Auswirkungen auf die erzählten / erspielten Inhalte haben, soll an der Rolle der re-produzierbaren Körperlichkeit im Computerspiel / Spielfilm Tomb Raider und davon ausgehend an weiteren Spielfilmen aus dem Spannungsfeld Digitalität – Realität untersucht werden. Als Arbeitshypothese kann dabei schon jetzt formuliert werden, dass im Zuge der Computerspielästhetik insbesondere ein Körperzustand – gerade auch im Film – eine fundamentale Neuinterpretation erfährt: der Tod.
I. Tomb Raider Lara Croft ist nicht nur die erste virtuelle Heldin, sie ist zugleich auch schon die Verkörperung des idealen Stars – denn in ihrer Gestalt ist die paradoxe Oberflächlichkeit, die den Star ausmacht, zum formalen Prinzip erhoben worden. 1
Dies ist um so erstaunlicher, als es sich im Fall von Lara nicht um einen Körper handelt, dessen Existenzform ins Fantastische verschoben wird, wie z.B. die fleischgewordene bricolage von Frankensteins Monster.
189 Außerhalb ihrer Existenz auf dem Bildschirm hat sie keine, weshalb sie in Allem vollständig von ihren Schöpfern und Managern abhängt, die ihr Gestalt und Handlungsfähigkeit erst verleihen. Lady Crofts Formbarkeit ist damit auch ganz wörtlich zu verstehen: Was im Fall eines menschlichen Stars meist eher eine metaphorische Redeweise ist, nämlich dessen vollständige Formung durch seine ‘Macher’, wird im Bereich virtueller Körperlichkeit im Sinne des tatsächlich frei verfügbaren Datenmaterials neu ausbuchstabiert. Gerade Laras Körper (insbesondere ihre Oberweite) tritt von Folge zu Folge den immer weniger zu übersehenden Beweis der vollständigen In-Formierbarkeit des weiblichen Stars an. Aufgrund der Kameraperspektive, die immer ein wenig hinter der Spielfigur schwebend, auch deren Körper ständig im Blick behält, sind solche Gestaltungsdetails überaus relevant: Eine Folge der Kameraperspektive sind nämlich auch die – durch die dauerhafte Bildschirmpräsenz der Figur – eröffneten Potentiale medialer Wirksamkeit, da durch die immens langen visuellen Aufmerksamkeitszeiten, die das Markenzeichen ‘Lara Croft’ auf sich versammelt, hohe Wiedererkennungswerte erzielt werden. Auch in anderen medialen Kontexten bieten sich somit Möglichkeiten, den virtuellen Starruhm zu nutzen und wechselseitig zu verstärken. In der Computerspielserie stirbt Lara Croft ebenfalls und zwar in scheinbarer Verletzung der Regeln des Starsystems am Ende des vierten Teils der Spielserie Tomb Raider (“Grabräuber”) – wobei die Regeln aber dann doch ganz genau befolgt werden. Ihr Tod war selbstverständlich nicht endgültig, sondern wurde im Jahr 2002 durch ihre digitale Wiederauferstehung revidiert: Der Körper der Grabräuberin ist zwar verschüttet worden, sie wird aber aus ihrem Grab wieder gerettet – und zwar im übernächsten, dem sechsten Teil. (Aus der ökonomischen Perspektive der Firma Eidos darf das Grab gerade nicht zum Grab des Zeichens des Körpers der Grabräuberin werden.) Auch bei den Adaptionen des Computerspiels für das Kinodispositiv ist der Tod das zentrale Thema. Im ersten Teil kreist die Filmhandlung zentral um die Weigerung der Hauptfigur, den Tod als eine endgültige Grenze zu akzeptieren: Neben der langjährigen ritualisierten Trauer am Todestag ihres Vaters gibt es im Kinofilm Briefe und Nachrichten, die vom Toten noch in der Vergangenheit abgeschickt wurden und die lebende Tochter erst jetzt erreichen. Weiterhin wird mit größtem Begründungsaufwand (der auch vor Elementen der Phantastik nicht zurückschreckt) eine temporale Ausnahmesituation konstruiert, in der ein ‘Medium’ im engsten Wortsinn sogar den direkten Kontakt von Lebender und Totem ermöglicht. Und schließlich wird am Ende sogar ein Toter (wenn auch gerade nicht der Vater) wieder zum Leben erweckt. Alle diese Momente der Entdifferenzierung von Leben und Tod müssen im Rahmen der linearen Logik einer Filmerzählung allerdings mit hohem narrativem Aufwand realisiert werden, während die strukturell gleiche temporale Verschiebung im
190 Computerspiel unter dem Menü–Punkt “Speichern unter” zum Standardrepertoire der Nutzungsmöglichkeiten gehört. Eine weitere Veränderung vom Film zum Computerspiel betrifft die Körperlichkeit des schauspielenden Stars, die im Film (zumindest bisher) bei aller Tricktechnologie doch eine verlässliche Relationierung von abgefilmtem Realitätsausschnitt und gezeigten Bildern zu garantieren schien. Die sichtbaren SchauspielerInnen blieben trotz der übrigen Inszeniertheit des Films echte Personen. Bei der Verfilmung eines Computerspiels besteht übrigens die interessante Aufgabe gerade darin, dass die Darstellung möglichst künstlich wirken muss beziehungsweise möglichst schematisch, das heißt, möglichst genau den Schemata des Bewegungsrepertoires der jeweiligen virtuellen Figur entsprechend. So wurden etwa im Spielfilm Tomb Raider insbesondere die vielfältigen Kampfszenen sehr genau anhand der Bewegungsmöglichkeiten der Spielfigur choreographiert. Dass die Schauspielerin Angelina Jolie, die im Film Tomb Raider Lara Croft darstellt, ein wirklicher – also kein künstlich, digital erzeugter – Mensch ist, dass sie auch außerhalb der Kulissen ein reales Leben führt, bestimmt in einem wohl nicht zu unterschätzenden Ausmaß auch die Rezeptionshaltung gegenüber den Bildern. Eine wichtige Folge davon scheint insbesondere der Umstand zu sein, dass (so die These) aufgrund der realen Körperlichkeit der Darstellerin auch der Tod der verkörperten Figur in der Logik der Filmerzählung als ein tendenziell nicht–reversibles Ereignis angesehen wird. Dass dies nur scheinbar eine Selbstverständlichkeit ist, zeigt der mediale Vergleich mit dem Computerspiel, in dem ‘verstorbene’ digitale Körper ohne Hemmungen immer wieder aus dem Datengrab auferstehen dürfen, ohne dass die narrative Logik der Spielgeschichte darunter leiden würde.
II. Computer/Spiel/Filme Die dargestellte Derealisierung des künstlichen Körpers von Lara Croft, der einer beständigen Dialektik von Destruktion und Rekonstruktion unterworfen ist (und gerade so die Unsterblichkeit des ersten weiblicher Computerspielstar sichert), ist Teil einer größeren Entwicklungstendenz. Der intermediale Verbund von Spielfilm und Computerspiele thematisiert spätestens seit Anfang der achtziger Jahre in verstärktem Maße den Bereich der Computerspiele, aber auch die Thematik des Spiels im Allgemeinen. Ein Ansatzpunkt der Realisierung dieses Spannungsfeldes ist dabei auffällig häufig die Frage nach der Stellung des menschlichen Körpers im kulturellen Raum einer fortschreitenden Digitalisierung. Das Spektrum reicht von der körperlichen Bedrohung der menschlichen Spezies durch einen computergesteuerten Atomkrieg bis hin zur geistigen Gefangennahme der Menschheit in einem Simulationsprogramm, in dem Körper nur noch in Form digital produzierter Effekte wahrnehmbar sind.
191 In War Games (USA 1982) wurde noch eine tödliche Bedrohung als ein in allerhöchstem Maße irreversibler Schrecken thematisiert, nämlich in Gestalt des thermonuklearen, globalen Atomkriegs. Dieser GAU wird beinahe durch einen jungen Hacker ausgelöst, der glaubt, in den Computer einer Software– Firma eingedrungen zu sein. Dort will er ein neues Computerspiel testen, noch bevor es auf dem Markt ist. Tatsächlich hat er sich ausgerechnet in den Rechner des Pentagon eingehackt, der die Interkontinentalraketen steuert. Das zentrale Spannungsmoment des Films besteht darin, dass einerseits der Hacker nicht weiß, dass seine Spiele möglicherweise reale Auswirkung haben, während sich andererseits die Militärs nicht sicher sind, ob die Lichtpunkte, die sie auf ihrem Riesenbildschirm sehen, auf reale russische Atomraketen verweisen – oder ob doch alles nur ein Spiel ist, so wie es der junge Hacker glaubt. Die moralische Botschaft des Films wird dann vom Computer formuliert, der sich damit als lernfähiger erwiesen hat als die Politik des kalten Krieges: Es gibt Spiele, bei denen es nur einen einzigen Zug gibt, mit dem man gewinnen kann, nämlich den: nicht zu spielen. Während War Games davon handelt, was die außenweltliche Entsprechung der Lichtpunkte auf dem Bildschirmen ist, kehrt Tron (USA 1981) die Frage um: Was repräsentiert die Benutzer–Oberfläche der Computer von deren Innerem? Erzählt wird die Geschichte der Programme, die in einem Computer ‘leben’, wobei die Fiktion entworfen wird, dass das, was wir auf dem Bildschirm lediglich als ein Spiel wahrnehmen, im Inneren des Prozessors ein Kampf auf Leben und Tod ist. Das unterlegene Programm wird gelöscht, und dieser Tod ist ein endgültiger. Die Figur, aus deren Perspektive der Film erzählt wird, ist ein Programmierer, dessen Körper de–materialisiert und ins Innere eines Computers eingespeist wird – aus der Perspektive der ‘analogen’ Wirklichkeit betrachtet, könnte man sagen: Er stirbt. Sein digitaler Geist muss nun in dieser Welt der Spiele unter den Programmen überleben, sonst würde auch er ‘gelöscht’. Die Erfolgsgeschichte endet damit, dass der Held nicht nur die Welt des Computers vom bösen Master–Programm befreit, sondern er auch glücklich aus seiner digitalen Scheinexistenz ins körperliche Da–Sein zurück ‘gebeamt’ wird. Sowohl Tron als auch War Games behandeln die Sphäre des Computers als etwas potentiell Gefährliches, wobei es gerade die Computerspiele sind, die das Misstrauen wecken: Hinter der Oberfläche der blinkenden Punkte lauern im Inneren Abgründe gequälter Programme, die in grausamen Spielen massenhaft einen endgültigen Tod sterben; und im Außen der realen Welt lagern Atomraketen, die von Programmen kontrolliert werden, die möglicherweise nicht zwischen Spiel und Ernst unterscheiden können und im schlimmsten Fall den globalen und endgültigen Tod der Menschheit auslösen könnten. Nicht von Computerspielen, sondern von Spielen allgemein und betrügerischen Rollenspielen im Besonderen handelt House of Games (USA
192 1987). Eine Psychoanalytikerin wird von Trickbetrügern in ein sich immer weiter verzweigendes Spiel verwickelt, dessen zentrales Moment die wachsende Ununterscheidbarkeit von Realität und Täuschung ist. Immer wenn die Heldin glaubt, ein Spiel durchschaut zu haben, muss sie feststellen, dass das jeweilige Spiel als Gesamtes wiederum nur ein Element eines größeren Spiel war. Als diese Staffelungen durch immer neue Rahmen so verwickelt werden, dass sich die Heldin in diesen Spielen nicht mehr orientieren kann, durchbricht sie dieses Gewebe in einem überraschendem Ende mit einem Schlag: Sie erschießt den manipulativen ‘Spielleiter’. Dieses physische Ende ist dann auch end-gültig, nicht hintergehbar und damit auch das Ende des Spiels. Zehn Jahre später wird in The Game (USA 1997) ein ähnliches Szenario entwickelt, wobei die Schlusspointe hier darin besteht, dass der Tod nicht das Ende des Spiels bedeutet, sondern gerade Ziel des Spiels ist. Denn der (nur halb freiwillige) Spieler wird in dessen Verlauf von der (hier übrigens weiblichen) Spielleitung systematisch in den Selbstmord getrieben. Wirklich ist dabei allerdings nur der Wunsch des Helden zu sterben, fast vollständig fingiert dagegen sind die Gründe und vor allem die Szenerie, in der er den Entschluss fasst – weshalb sein Sprung vom Hochhausdach sanft in einem Luftkissen und in einem neuen Leben endet. Auch bei der filmischen Thematisierung (nicht computergestützter) Rollenspiele ist also die Tendenz zu beobachten, den Tod eher als eine vorläufige Option, als einen möglichen Spieleinsatz zu behandeln und immer weniger als einen ultimativen Schlusspunkt. Ein Film, der diese Optionalität des eigenen Todes sehr konsequent ausspielt, ist Tom Tykwers Lola rennt (BRD 1998), der sich dem Videoclip und dem Computerspiel zunächst ästhetisch annähert. Vor allem wird auf der narrativen Ebene das Grundprinzip (früher) Computerspiele umgesetzt – eine Münze: drei Leben. Das Scheitern wird dabei zum Äußersten getrieben – am Ende der ersten Runde stirbt Lola, am Ende der zweiten Manni. In beiden Fällen wird der Tod aber von den Figuren selbst nicht akzeptiert, sondern verbal wieder aufgehoben: “‘Aber ich will nicht. Ich will nicht weg.’ […] ‘Stop.’ ”2 – woraufhin die Zeit für einen neuen Versuch wieder zurückgedreht wird. Dies ist in der Logik des Kinofilms nur eine mühsam herstellbare exzentrische Ausnahme, während es für das Medium Computerspiel durch das ‘Save–As’ / ‘Speichern unter’ gerade “der ‘eigentliche’ Modus seines Funktionierens”3 ist. Der Tod einer Spielfigur soll zwar einerseits immer wieder verhindert werden, dies geschieht aber im Rahmen eines Settings, das diesen Tod auf dem Bildschirm immer wieder deutlich sichtbar macht. Die erkenntnistheoretische Unüberschreitbarkeit der Grenze zwischen Leben und 2
Tom Tykwer: Lola rennt. Hg. von Michael Töteberg. Reinbek bei Hamburg 1998. S. 61. 3 Slavoj Ziek: Isolde rennt. In: Lettre international 51 (2000). S. 105–109. Hier S. 105.
193 Tod ist es aber gerade gewesen, die den großen Erzählungen der bürgerlichen Subjektivität ihren verlässlichen Rahmen einer Ästhetik der Selbstvergewisserung verleihen konnte. Die Sphäre des Todes war dabei eine Tabuzone, die zu verletzen wenigstens einer rituellen Rahmung (etwa in dionysischen Inszenierungen) bedurfte. Diese Ästhetiken der Überschreitung des thanatologischen Verbots haben ihr Ziel aber immer in der schlussendlichen Re–Konstituierung des Tabus; wobei es genau dieses Prinzip ist, das von den Computerspielen systematisch unterlaufen wird. Die Pro–Gramme, die Vor–Schriften der Spiele erzeugen eine (schon rein quantitativ begründete) Destabilisierung der Differenzsetzung von Leben und Tod. Das beobachtete Sterben kann dabei nicht mehr identifikatorisch als kathartische Reinigung des Subjekts erfahren werden, das mit Furcht und Zittern seinem eigenen Dasein zum Tode gewahr wird. Begreift man das Modell des Spiels als Verbindungsglied zwischen den interaktiven und den audiovisuellen Erzählungen, wird die zentrale Rolle der Rahmung deutlich, die auch Luhmann im Zusammenhang massenmedialer Unterhaltung besonders betont: Ebenso wie beim Spiel kann die Unterhaltung voraussetzen, daß der Zuschauer, anders als im eigenen Leben, Anfang und Ende beobachten kann, weil er schon vorher und noch nachher erlebt. Also gliedert er, gleichsam automatisch, die Zeit der Unterhaltung aus der ihn selbst angehenden Zeit aus.4
Um diese Stabilität der Grenze zwischen Spiel und Nicht–Spiel, Fiktion und Faktizität zu sichern, muss das erzählte / gespielte Ereignis als Ganzes und Begrenztes erlebbar sein. Nur wenn es innerhalb des Rahmens zumindest prinzipiell ein Ende (zum Beispiel den Tod einer Figur) zu erleben gibt, ist die narrative Sphäre als geschlossener Komplex gewahrt. Die Spezifik des Computerspiels besteht nun darin, dass es die Logik des Spiels zwar einerseits erzwingt, Verletzungen zu vermeiden, dass sie andererseits aber eine stoische Haltung gegenüber der körperlichen Verletzlichkeit und Sterblichkeit des virtuellen Helden oder der Heldin erfordert. Ihre Tode verweisen ja auch gerade nicht mehr auf ein endgültiges Ende, sondern im Gegenteil auf die Wiederauferstehung aus dem digitalen Speicher. Konnte die mediale Logik von Büchern und Filmen die Endlichkeit des Daseins nahelegen – ein Ende, hinter dessen letzter Seite die Leere erscheint – vermitteln die Computerspiele eine zirkuläre Perspektive der ewigen Wiederkunft der zerstückelten Götter und getöteten Heldinnen, die immer neu geboren werden und deren Dasein vom Tod nicht letztgültig zu beenden ist. Computerspiele decouvrieren die Begrenztheit unseres Daseins als ideologische Setzung, indem sie die scheinbar unhintergehbare Differenz von Leben und Tod systematisch unterlaufen und erzählerisch neu produktivieren. 4
Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2. Aufl. Opladen 1996. S. 98.
194 Gesteigert wird dieser Trend allerdings noch, wenn das Thema des Spiels / Rollenspiels im Kontext der virtuellen Spiel–Realität thematisiert wird. Denn hier kann die Frage nach der Unterscheidbarkeit von digitalem Schein und analoger Realität (gerade auch mit den Mitteln des filmischen Mediums) in scharfer Weise neu formuliert werden: So wird etwa in eXistenZ (USA 1999) das Motiv des Spiels im Spiel immer weiter auf die Spitze getrieben und bis zum bitteren Ende durchgehalten. Der letzte Satz lautet daher folgerichtig: “Tell me the truth: Are we still in the game?” (1h, 29 min). Wie in The Game ist der Tod das Ziel des Computer–Spiels, allerdings ist es der Tod der Mitspieler, die dann nämlich ausgeschieden sind. Die Grenze vom Leben zum Tod zu überschreiten, bedeutet innerhalb dieser Szenerie also lediglich, aus diesem Spiel auszuscheiden, um auf einer niedriger–stufigen Ebene aufzuwachen. Eine Folge dieser konsequenten Staffelung von Spielen im Spiel besteht darin, dass es im Rahmen von eXistenZ keinen endgültigen Tod mehr gibt, – sondern das Ereignis des Sterbens immer nur darauf verweist, dass man erwacht. Gerade diese Konstruktion ist es, über die auf der Ebene der Spielhandlungen eine erbitterte Auseinandersetzung geführt wird. Die Software–Firmen sehen sich den Angriffen radikaler Spielegegner ausgesetzt, die sich ‘Freunde der Realität’ nennen und die die virtuelle Realität mit dem (nicht ganz von der Hand zu weisenden) Argument bekämpfen, dass eine sinnvolle Existenz nur möglich ist, wenn zwischen Spiel und Nicht–Spiel unterschieden werden kann. Wäre sogar der eigene Tod immer nur als kontingentes Ereignis zu denken, sind keine sinnstiftenden, von der Schwere des einmaligen Da–Seins zum Tode getragenen, menschlichen Handlungen mehr möglich. Gegen diese übersemiotisierte Welt des Spiels setzen die ‘Freunde der Realität’ den heiligen Ernst der terroristischen Tötung. ‘Spiel oder Nicht–Spiel’ ist auch die Frage in Matrix (USA 1999), wobei dieser filmische Entwurf in der Dimension der behaupteten Täuschung noch weiter geht. Die gesamte Menschheit ist in einer von ihr nicht wahrnehmbaren Illusionswelt gefangen. Wie in Platons Höhle sehen wir alle – und der Film bezieht sein reales Publikum mit ein – nur die digitalen Schatten des wahren Seins, von feindlichen Maschinen erzeugte “Simulacra and Simulations”.5 Wobei der Film die Frage systematisch durchdekliniert, welches Gewicht der Tod hat, wenn ‘Alles’ eine Simulation ist; denn dann ist die Simulation ‘alles’, und damit könnte auch der Tod in der Simulation de facto real und endgültig sein – auch wenn er eigentlich nur simuliert ist. Diese erste Variante wird gleich zu Beginn des Films präsentiert: Normale Polizisten scheinen ganz normal zu sterben, obwohl das Publikum merkt, dass mit dieser Welt etwas nicht 5
So der Titel einer im Film zu sehenden Textsammlung Jean Baudrillards. Vgl. Andy Wachowski und Larry Wachowski: The Matrix. Skript. Chapter 3. Int. Neo’s Apartment. (DVD – Matrix. Warner Home Video: 1999. [Z5 17737])
195 stimmt: “[…] your men are already dead.”6 So lautet die Prophezeiung des Agenten Smith, die sich durch Trinity auch prompt erfüllt, indem sie die Polizisten tötet, die schlicht nichts davon wissen, dass sie in der Matrix leben – sie sterben einfach. (Ebenso wie dann auch später Cypher und Dozer in der realen Realität des Schiffes sterben.) Was wir allerdings zunächst als reale Welt mehr oder weniger akzeptiert haben, wird dem Helden als die illusionäre Seite der Matrix präsentiert. Das was er als den normalen Prozess des Sterbens erlebt hat, war lediglich der Effekt, dass der Geist (von der digitalen Illusion getäuscht) glaubt, reale Verletzungen erlitten zu haben und daher dann auch der Körper in der realen Welt stirbt: “The body cannot live without the mind.”7 Diese Lektion gibt Morpheus seinem Schüler, nachdem dieser bei einem Kampf mit ihm innerhalb der Matrix verletzt wurde und auch in der realen Welt noch körperliche Schmerzen hat. Interessant ist dabei, dass dieser Kampf zwischen Neo und Morpheus nicht nur vom Kinopublikum, sondern auch von den übrigen Widerständlern auf einem Monitor beobachtet wird: “Everyone is […] watching the fight, like watching a game of Mortal Kombat.”8 Das Drehbuch benennt hier exakt den blinden Fleck der fiktionalen Konstruktion, der in der Frage besteht, welcher Status dem Avatar zugeschrieben wird – ist er nur ein visueller Effekt auf einer Bildschirmoberfläche beziehungsweise innerhalb einer dreidimensionalen interaktiven Simulation; oder ist die Abhängigkeit eines realen menschlichen Körpers von der Unversehrtheit seiner virtuellen Projektion nicht Grund genug diese zu schonen? Die Widerständler betrachten den Kampf jedenfalls so, wie sie auch ein völlig folgenloses – weil nichts repräsentierendes – Computerspiel beobachten würden. Aber nicht nur der Körper kann nicht ohne den Geist, auch der Geist kann ohne den Körper nicht leben: Cypher als Cyber–Judas verrät die Gruppe an die Agenten und tötet ihre realen Körper, wobei sich ihre in der Matrix gefangenen Avatare beim virtuellen / realen Sterben zusehen müssen. Diese geschlossene Form vollständiger wechselseitiger Repräsentation von Virtualität und Realität, in der sich der Tod vom Innen ins Außen und vom Außen ins Innen abbildet, wird nur von zwei Ausnahmeerscheinungen durchbrochen: Neo und den Agenten. Der Film erzählt die Geschichte von Neos Berufung zum Auserwählten, der die virtuelle und die reale Welt retten soll. Seine Erweckung führt über den mythologisch vorgezeichneten Umweg seines Todes und seiner Wiederauferstehung: Neo wird innerhalb der Matrix getötet, und auch sein realer Körper außerhalb ist zeitweise tot. Dieser Tod wird allerdings von
6 7 8
Wachowski: The Matrix. Chapter 1. Ext. Heart o’ the City Hotel – Night. Wachowski: The Matrix. Chapter 16. Int. Main Deck. Wachowski: The Matrix. Chapter 15. Int. Main Deck.
196 Trinity nicht akzeptiert, sondern durch die tautologische Konstruktion des Mythos wieder außer Kraft gesetzt: The Oracle, she told me that I’d fall in love and that man, the man I loved would be the One. You see? You can’t be dead, Neo, you can’t be because I love you.9
Neos Geist war innerhalb der Matrix davon überzeugt, dass ihn die Kugeln des Agenten getötet haben. Und nur weil der reale Körper den Geist braucht, um Leben zu können, ist er auch in der Realität gestorben. In einer Umkehrung des Dornröschen–Motivs kann ihn Trinity davon überzeugen, dass er nicht tot sein kann, sein Geist also noch lebt und damit auch der Körper keinen Grund hat, “den Geist aufzugeben”: Neo erwacht, und diesmal ist er in der Lage, auch innerhalb der Matrix deren Charakter einer täuschenden Oberfläche zu erkennen – er ist in ihr und zugleich außen. Er sieht den Programmcode, der die virtuelle Realität erzeugt, und er ist fähig, ihn zu verändern, wodurch es ihm nun auch gelingt, einen Agenten nachhaltig zu besiegen. Die Agenten sind als Programme die zweite Ausnahmeerscheinung der Matrix, denn sie besitzen weder einen realen Körper noch eine dauerhafte virtuelle Präsenz. Statt dessen können sie als frei flottierende Zeichen jeden virtuellen Körper innerhalb der Matrix ‘übernehmen’ und beim Tod des ‘Wirts’ (wie ein Computer–Virus oder wie die Spielenden von Computerspielen) von einem neuen Körper Besitz ergreifen. Im narrativen Schema des Films sind die Agenten gewissermaßen die ‘Monster’ des Spiels, die Figuren, die bedenkenlos getötet werden können, da sie ja nur Programme sind und zudem unsterblich. Die Agenten repräsentieren in Reinform die beiden zentralen Momente des digitalen Körper– und Todesbewusstseins: die Derealisation (es sind nur Programme) und die Iteration (sie stehen immer wieder auf). Genau um ihm diese beiden ‘Spiel’–Prinzipien zu vermitteln, muss Neo das “Agent training program” durchlaufen – in dessen Verlauf sich eine schöne Frau in einem roten Kleid plötzlich in Agent Smith verwandelt und mit seiner / ihrer Pistole auf Neo zielt: The Matrix is a system, Neo, and that system is our enemy. [..] [The training program is] designed to teach you one thing; if you are not one of us, you’re one of them. [..] That means that anyone that we haven’t unplugged is potentially an Agent.10
Der Auserwählte, Neo, erhält hier die terroristische Basislektion: Wer keiner von uns ist, gehört zum System, ist potentiell einer von ihnen und damit legitimes Ziel. Durch den Kunstgriff der Instanz ‘Agenten’ kann der Film dieser brutalen Logik den Schein der Legitimität verleihen. Das Phantasma Matrix 9 10
Wachowski: The Matrix. Chapter 35. Int. Main Deck. Wachowski: The Matrix. Chapter 17. Ext. City Street – Training Program – Day.
197 rechtfertigt die terroristische Guerrilla–Taktik; wobei aber interessanterweise nur uniformierte Männer getötet werden und keine Zivilisten, schon gar nicht eine Frau in einem roten Kleid, obwohl es doch sie war, an deren Verwandlung die ideologische Legitimität des ‘Wir oder Sie’ demonstriert wurde. Mit dem Agenten–Trainings–Programm wird in Matrix ganz nebenbei und auf eine unerträglich affirmative Art und Weise die Logik einer ‘Wir gegen das System’–Haltung reproduziert und eine ideologisch höchst fragwürdige Pauschal–Legitimation zur Tötung ‘der Anderen’ auf dem medialen Effekt digitaler Repräsentation von Körpern aufgebaut. Der Film konnte dies so widerspruchslos, weil er sich scheinbar innerhalb der Logik des Computerspiels bewegt und seine Derealisierungs- und Iterationsmechanismen im Sinne einer veränderten Wahrnehmung des Todes ausnutzt: Es sind nur Scheintode, die gezeigt werden – gestorben wird an anderer Stelle.
III. Schluss Die Derealisierung digitaler Ersatzkörper im Computerspiel erzeugt eine Rezeptionssituation, in der es möglich wird, den Tod soziokulturell wieder ins Spiel zu bringen. In Computerspielen verweisen die sichtbaren Körper nicht mehr auf eine ‘reale’ Realität, sondern werden als künstlich erzeugte, urbildlose Simulationen wahrgenommen. Diese künstlichen Menschen werden zum Spieleinsatz, der bedenkenlos und mit kindlicher Destruktionslust geopfert wird. Zudem sind die Spiele von einer narrativen Struktur der Iteration geprägt – das heißt, dass die Spielenden in immer neuen Versuchen ihre Handlungsmöglichkeiten testen können, bis sie schließlich das programmierte Schema erfüllen. Dabei erleben sie immer wieder sowohl den Tod der gesteuerten Figur als auch deren Auferstehung aus dem Datenspeicher. Diese beiden basalen Dispositionen des Computerspiels sind Grundlage einer gegenüber dem linearen Spielfilm (oder auch Roman) fundamental veränderten Rezeptionsbedingung visueller Sterbeszenen: Der Tod von Figuren wird weder körperlich noch narrativ als eine endgültige Grenze, sondern als ein notwendiger und reversibler Spieleinsatz behandelt. Die künstlichen Körper des Computerspiels erzeugen eine Tendenz zur derealisierenden Inszenierung, die auch das gesamt–kulturelle Verständnis von Tod und Leben nachhaltig beeinflusst: “Tell me the truth: Are we still in the game?”
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Elke Brüns
Matrix: Erlösung von Körper und Geschlecht? The avatar is not only a literary, but even more so a cinematic phantasm. The very film image itself confronts the spectators with ‚artificial humans’ as their doubles. The last two decades of the 20 th century faced humanity with the challenges of bio-technology, life science and virtuality. Therefore, it comes as no surprise that many cinematic creations dealt with the alleged dangers, but also with the desires for empowerment and redemption associated with the avatar. In my contribution, I investigate the link of body and gender in a Christian-inspired phantasm of redemption, Larry und Andy Wachowski’s Matrix-trilogy.
Mit THE MATRIX kam 1999 pünktlich zum Jahrtausendende ein Film in die Kinos, der sich als Blockbuster nicht nur massenhafter Zuschauergunst, sondern auch größter philosophischer Wertschätzung erfreute. Das noch im gleichen Jahr am Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe veranstaltete Symposion INSIDE THE MATRIX1 attestierte dem Film höchste Qualitäten: Elisabeth Bronfen sprach von einem “epochalen Schwellenfilm”,2 Carl Hegemann konstatierte einen “frühen Beitrag zur Philosophie- und Sozialgeschichte des nächsten Jahrhunderts”;3 Peter Sloterdijk sah “die philosophische Erlösung vom Schein von einer Erlösung durch den Schein”,4 Boris Groys “eine adäquate Verfilmung der Frankfurter Schule und ihrer kritischen Theorie”,5 während für Slavoji Ziek “schlichtweg der Lacansche
1
Symposium Inside The Matrix. Zur Kritik der zynischen Virtualität am 28. Oktober 1999, veranstaltet vom Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe, vom Europäischen Institut des Kinofilms Karlsruhe und von bluebox, Freundeskreis Schauburg e.V. Vorträge, Statements, Interventionen, Diskussionen. Veranstaltungsort war das ZKM-Medientheater. 2 Vgl. Elisabeth Bronfen: Philosophie der Matrix. In: Der Schnitt 17 (2002). ‹http://schnitt.com/site/rubriken/thema/content/philosophie_der_matrix/sheet_index. html›. Abgerufen am 10.05.02. 14:01. 3 Carl Hegemann: Autopoetische Schöpfungsmythen. Inside THE MATRIX. Zur Kritik der zynischen Virtualität. Symposium in Karlsruhe, ZKM am 28.10.99. Abstracts und Statements. Unter ‹http://on1.zkm.de/htmlInterfaces/discussionGroup/msgReader$300›. Abgerufen am 14.11.02. 15:30. 4 Peter Sloterdijk: Die kybernetische Ironie. In: Der Schnitt 17 (2002). ‹http://www. schnitt.de/themen/artikel/philosophie_der_matrix__die__-die_kybernetische_ironie. shtml›. Abgerufen am 10.05.02. 14:11. 5 Boris Groys: Das Ganze ist unwahr. In: Der Schnitt 17 (2002). ‹http://www.schnitt. de/themen/artikel/kolumne_groys_-_das_ganze_ist_unwahr.shtml›. Abgerufen am 10.05.02. 14:03.
200 ‘große Andere’ ”6 in Szene gesetzt wurde. Der zweite Teil der Matrix-Trilogie, Matrix Reloaded (2003), wurde denn auch durch den kurzen Auftritt von Cornel West, Professor für Philosophie und Vordenker der Afroamerican Studies, geadelt. West vertrat, so könnte man sagen, als Filmzeichen die vielen wissenschaftlichen Beiträge, die sich zwischenzeitlich auf der entsprechenden Website der Produktionsfirma Warner Bros. unter dem Menüpunkt “philosophy” zu THE MATRIX angesammelt hatten.7 Die Geschichte um den Programmierer und Hacker Thomas Anderson, der erkennen muss, dass er in einer komplett simulierten Realität lebt, während sein künstlich erschaffener Körper den mittlerweile weltbeherrschenden Maschinen als Mittel der Stromerzeugung dient, traf als Zukunftsvision offenbar den Nerv der Zeit. Der Film wirkte um so verstörender, als die titelgebende Matrix – die simulierte Realität –, die als Gefängnis des Geistes den in Batterien gehaltenen Menschen als perfide Versklavungsmaschinerie direkt in die Hirne eingespeist wird, unsere Welt am Ende des letzten Jahrtausends ist. Dieser geniale Kunstgriff, der seinen literarischen Vorläufer in Stanislaw Lems Der futurologische Kongreß von 1972 hat, greift das Unbehagen an der Virtualisierung und der Derealisierung der Umwelt auf: Das Vertrauteste ist Schein, Lüge, Simulation. Nicht zufällig versteckt Anderson, der nächtens als Hacker Neo sein Unwesen treibt, seine illegale Programm-Ware denn auch in einem Exemplar des Buches Simulation und Simulakrum von Jean Baudrillard. In THE MATRIX findet zudem die alte Furcht, von den selbstgeschaffenen Geschöpfen, den Maschinen, besiegt zu werden, im Zeitalter der Postbiologie ihren zeitgemäßen Ausdruck: Hier ist die Vision der Extropiker, das menschliche Gehirn in Rechner upzuloaden, in umgekehrter Richtung zur apokalyptischen Realität geworden.8 Thomas Willmann hat die Gründe für den Erfolg von THE MATRIX summiert: Es war ein Film, der einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, der wie ein Traumfänger bündelte, was damals in unserer Global-Kultur herumschwirrte und es Slavoj Ziek: Die zwei Seiten der Perversion. In: Der Schnitt 17 (2002). ‹http:// www.schnitt.de/themen/artikel/philosophie_der_matrix__die_-_die_zwei_ seiten_der_ perversion.shtml›. Abgerufen am 10.05.02. 14:08. 7 Vgl. ‹http://whatisthematrix.warnerbros.com/› Leider haben die Regisseure, die Brüder Wachowski, im Anschluss mit dem zweiten und dritten Teil der Matrix-Trilogie nurmehr einen “philosophischen Salat” (Dreyfus) zustande gebracht. Vgl. dazu das Spiegel-Interview mit Hubert L. Dreyfus unter ‹http://www.spiegel.de/kultur/kino/ 0,1518,276007,00.html›. Abgerufen am 29.11.03. 13:46. 8 Zu den Visionen der Extropiker vgl. Barbara Becker: Cyborgs, Robots und “Transhumanisten” – Anmerkungen über die Widerständigkeit eigener und fremder Materialität. In: Was vom Körper übrig bleibt – Körperlichkeit – Identität – Medien. Hg. von Barbara Becker und Irmela Schneider. Frankfurt/M. 2000. S. 41–69. 6
201 in Zusammenhänge brachte, die ebenso aufregend neu wie plötzlich völlig selbstverständlich schienen. […] Die Diskurse der Postmoderne und des Poststrukturalismus zur Virtualität, die schwerelose, balletthafte Ästhetik des Hong Kong-Actionkinos – beides hatte es schon seit Jahrzehnten gegeben. Aber vermengt mit film noir, Lack & Leder-Fetisch, ‘Alice in Wonderland’, christlicher Heilslehre, Animae-Anleihen, fotografischen Tricks aus der Videoclip-Kiste, angepopptem Techno, präsentiert mit adoleszentem Gefühl für Coolness, […] war es THE MATRIX vorbehalten, all das erstmals auch an ein Massenpublikum zu verkaufen, ohne die Insider zu vergraulen und mit genug Prätention im Gepäck, um auch die Akademiker und Feuilletonisten heftig zu beschäftigen.9
Auch die für einen Blockbuster obligatorische Liebesgeschichte, die sich hier zwischen Trinity und Neo entspinnt, ist zunächst alles andere als neu. Im Unterschied zu ihren zahllosen filmischen Vorläufern aber bleibt sie in THE MATRIX auffällig verhalten, fast keusch.10 Das erste Treffen des späteren Liebespaares zitiert klassische Konventionen der boy-meets-girl-Geschichte: Als Neo, der Kontakt zum Rebellen Morpheus sucht, während des anberaumten konspirativen Treffens auf Trinity trifft, scheint sein gereizter Tonfall – er hat, so wörtlich, einen “Kerl” erwartet – sein Begehren nur unzureichend zu verhüllen. In diesem Sinne hat auch Elisabeth Bronfen den Film verstanden: “Nahtlos geht Neos Verlangen, das Rätsel der Matrix zu lösen, über in sein Begehren, diese Frau zu besitzen.”11 Doch stellt sich hier die Frage, ob es sich mit dieser Deutung nicht vielmehr um eine Projektion handelt, die auf der nicht zuletzt filmhistorisch konditionierten Wahrnehmung beruht, derzufolge das erste Treffen zweier attraktiver gegengeschlechtlicher Protagonisten – zumal wenn es leicht aggressiv verläuft – den Beginn einer Liebesgeschichte signalisiert? Jenseits dieses Deutungsmusters ist die Szene als Symptom für die dem Film zugrunde liegende Phantasie lesbar: Neo ärgert sich wirklich, dass er statt eines Mannes eine Frau trifft. Und dies nicht etwa, weil er eigentlich homo- statt heterosexuell wäre, sondern weil der Film weniger die Lust, einen Körper und damit ein Geschlecht zu haben, in Szene setzt als das Gegenteil: die Last von Körper und Geschlecht. In der wirklichen Welt jenseits der Simulation – an Bord des Rebellenschiffs Nebukadnezar – geht es auffällig asketisch zu. Die Kleidung der Bordmitglieder changiert optisch zwischen Ökobauernhof und Mönchszelle; die 9
Thomas Willmann: Matrix Revolutions – Es fährt ein Zug nach nirgendwo.… Unter ‹http://www.artechock.de/film/text/kritik/m/marevo.html›. Abgerufen am 12.02.04. 17:03. 10 Dass Matrix Reloaded, wie Fritz Göttler in seinem Artikel “Zahlen rieseln für Rekorde” in der Süddeutschen Zeitung vom 19.05.2003 berichtet, in den USA “wegen Sex und Gewalt, ein R-Zertifikat verpasst bekommen” hat, was bedeutet, dass Jugendliche unter 17 nur in Begleitung von Erwachsenen den Film ansehen dürfen, zeigt einmal mehr, dass es weniger um Sexualität als um nackte Körper geht. 11 Elisabeth Bronfen: Heimweh – Illusionsspiele in Hollywood. Berlin 1999. S. 532.
202 Nahrung, ein grauer Brei, verspricht keinen sinnlichen Genuss, sondern ist einfach ein künstliches Substrat aller Substanzen, die der Körper braucht. Sexuelles Begehren verkörpert hier allenfalls der Verräter Cypher, als dieser sich einmal anzüglich beschwert, dass Trinity ihm im Unterschied zum neuen Bordmitglied Neo nie das Frühstück ans Bett gebracht hätte. Ein kurzer Disput über die Rolle der Sexualität entspinnt sich, als das adoleszente Bordmitglied Mouse dem Neuzugang Neo erklärt, dass er in eines der Übungsprogramme eine Frau mit Sex-Appeal eingebaut habe, und ihm ein ‘date’ mit der Schönen vorschlägt. Prompt wird Mouse von den Bordmitgliedern zurechtgewiesen. Doch lässt er sich nicht beirren und fordert Neo auf, nicht auf die anderen zu hören, da erst der Trieb den Menschen zum Menschen mache. Eine im Rahmen dieses Films und letztlich auch der Matrix-Trilogie wahrlich revolutionäre Botschaft, deren Schicksal es ist, ungehört zu verhallen. Diese Behauptung scheint allerdings mit der Eröffnungsszene von Matrix Reloaded (2003) auf den wortwörtlich ersten Blick widerlegt: Ekstatisch tanzende Massen in der Menschenstadt Zion – von einem Kritiker treffend als “Love Parade für den Erlöser”12 bezeichnet – bilden den Hintergrund einer SexSzene, in der nun auch Neo und Trinity handgreiflich werden. Tatsächlich ist dieses Bild aber geschlechtertechnisch genauso wenig anschlussfähig an das im ersten Teil der Trilogie entwickelte Assoziationsnetz, wie Matrix Reloaded insgesamt als völliger Bruch mit THE MATRIX erscheint. Der zweite Teil der Trilogie wurde entsprechend von der Kritik als völlige Enttäuschung gewertet, die nur nachträglich dadurch abgemildert wurde, dass der dritte Teil, Matrix Revolutions (2003), noch einfallsloser und verquaster daherkam. Doch knüpft Matrix Revolutions immerhin insofern wieder an THE MATRIX an, als sich hier die im ersten Teil der Trilogie angelegte Erlösung von Körper und Geschlecht vollendet. In seiner Interpretation von THE MATRIX hat Slavoj Ziek die provozierende These aufgestellt, dass das Publikum ausgerechnet die Versklavungsphantasie – also das Bild der in den Waben gezüchteten und zur Stromerzeugung gehaltenen Menschen – unbewusst am meisten genieße: Warum braucht die Matrix menschliche Energie? Die rein energietechnische Lösung ist natürlich bedeutungslos: Die Matrix hätte leicht eine andere, 12
Michael Althen schreibt zutreffend in seiner Besprechung “Da lachen die Franzosen: The Matrix Reloaded” in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.05.2003): “Wir sehen also Jünger in der unterirdischen Rebellenstadt Zion, die ihm zur Begrüßung Gaben bringen und ihm zu Ehren eine Art Love Parade aufführen, während er endlich auf einem Altar seine Partnerin Trinity (Carrie-Ann Moss) begatten darf. Und wenn er damit fertig ist, erwartet man fast, dass er Blinde heilt oder übers Wasser wandelt, aber statt dessen muss er Dialoge führen, die so sperrhölzern wirken wie die Kulissen. Irgendwann hofft man, er möge seinen Text wenigstens singen und die Sache endlich in jene moderne Version von ‘Jesus Christ Superstar’ überführen, die diese Geschichte ohnehin nahelegt.”
203 zuverlässigere Energiequelle finden können, die nicht dieses äußerst komplexe Arrangement einer für Millionen von Menschen zu koordinierenden Virtuellen Realität erfordert hätte. Die einzig logische Antwort ist folgende: Die Matrix lebt vom menschlichen Genuß – und da wären wir wieder bei der grundlegenden These Lacans, daß der große Andere selbst, alles andere als eine anonyme Maschine, den stetigen Rückfluß des Genusses braucht. Auf diese Weise sollten wir den vom Film präsentierten Stand der Dinge umkehren: Was der Film als Bewußtwerdung unserer wahren Situation darstellt, ist letztlich das genaue Gegenteil – die fundamentale Phantasie, die uns am Leben erhält.13
Doch die der Versklavungsszene zugrunde liegende fundamentale Phantasie des Films visualisiert nicht nur ein geleugnetes Begehren, sondern auch die aktuelle Angst vor der Gen- und Reproduktionstechnologie: Menschen werden, wie Morpheus erläutert, nicht mehr gezeugt und geboren, sondern gemacht. Diese künstlich erzeugten Menschen brauchen natürlich weder Körper noch Geschlecht, um sich fortzupflanzen.14 Tatsächlich dient ihr Körper auch lediglich der Wärmeerzeugung und – einmal abgestorben – als flüssige Nahrungsquelle für die Lebenden: Soylent Green lässt grüßen. Im strengen Sinne repräsentiert der in seiner Wabe verkoppelte Neo also kein Sexualwesen, da die Entwicklung einer psychischen Triebrepräsentanz an Sozialität und damit an das Leben in der menschlichen Gemeinschaft gebunden ist. Dementsprechend müsste Neos Neugeburt an Bord der Nebukadnezar auch mit seiner Sexuierung einhergehen. Dieser Eintritt in die symbolische Ordnung scheint sich in der Wiederauferstehungsszene in THE MATRIX zu vollziehen. Als einige Bordmitglieder in der Matrix unterwegs sind, um das Orakel zu besuchen, werden sie von Agenten aufgespürt. Neo wird von Agent Smith mit mehreren Kugeln Ziek: Perversion. Den Bezugstext bildet Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. In: Schriften. Bd. 1. Weinheim – Berlin 1986. S. 61–70. 14 Zum Motiv des künstlichen Menschen vgl. René Simmen (Hg.): Der mechanische Mensch – Texte und Dokumente über Automaten, Androiden und Roboter. Eine Sammlung. Zürich 1967; Klaus Völker (Hg.): Künstliche Menschen – Dichtungen und Dokumente über Golems, Homunculi, Androiden und liebende Statuen. München 1971; Rudolf Drux (Hg.): Menschen aus Maschinenhand – Zur Geschichte der Androiden. Texte von Homer bis Asimov. Stuttgart 1988; Helmut Swoboda: Der künstliche Mensch. München 1967; John Cohen (Hg.): Golem und Roboter – Über künstliche Menschen. Frankfurt/M. 1968; Herbert Heckmann: Die andere Schöpfung – Geschichte der frühen Automaten in Wirklichkeit und Dichtung. Frankfurt/M. 1982; Rudolf Drux (Hg.): Die Geschöpfe des Prometheus – Der künstliche Mensch von der Antike bis zur Gegenwart. Ausstellungskatalog. Bielefeld 1994; Frank Wittig: Maschinenmenschen. Würzburg 1997; Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen und Gabriele Jatho (Hg.): Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Kontrollierte Körper. Berlin 2000 sowie Gisela Febel und Cerstin Bauer-Funke (Hg.): Menschenkonstruktionen – Künstliche Menschen in Literatur, Film, Theater und Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 2004 (Querelles: Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung. Bd. 9). 13
204 niedergeschossen. Gemäß der Logik von Körper und Geist – stirbt der in die Matrix eingeloggte Geist, so auch der an Bord verkabelte Körper – ist Neos irdisches Schicksal besiegelt. Doch Trinity, die auf der Nebukadnezar geblieben ist, rebelliert gegen den Tod des Geliebten: Sie gesteht dem Toten, dass ihr vom Orakel prophezeit worden sei, dass sie den Auserwählten lieben werde. Da sie ihn, Neo, liebe, könne er mithin nicht tot sein. Tatsächlich steht Neo in der Matrix vom Boden auf und kämpft mit Smith, den er – zumindest vorläufig – besiegt. Trinitys Liebeserklärung und der nachfolgende zarte Kuss sind indes alles andere als erotisch oder gar sexuell. Diese Szene, in der sich Trinitiy über den tot in seinem Stuhl liegenden Neo beugt, ruft ikonographisch vielmehr die Pietà – und damit den toten, in Marias Armen liegenden Christus – in Erinnerung. Obwohl die Beziehung Maria und Jesus psychoanalytisch als ödipale gedeutet wurde, ist sie doch, wie Albrecht Koschorke betont, ursprünglich keine sexuelle: “Die Evangelien enthalten nicht das geringste Anzeichen eines regressiven Wunsches Jesu nach der Vereinigung mit der Mutter; im Gegenteil. Derartige Phantasien kommen in der christlichen Ikonographie erst viel später zum Zuge.”15 Im Kontext der vielfältigen christologischen Bezüge der MatrixTrilogie16 erweisen sich Trinitys Kuss und Neos Wiederauferstehung in THE MATRIX als das zentrale ikonographische Bild, das das Phantasma einer Leugnung von Körper und Geschlecht auf der Geschlechterebene in Szene setzt. Dass Trinitys Kuss, der Neos Wiederauferstehung initiiert – und zwar ganz wörtlich, denn Neo steht in der Matrix vom Boden auf – eben keine Sexuierung bedeutet, wird sofort im Anschluss deutlich. Neo nimmt die special agents nicht mehr als enkodierte männliche Erscheinungen wahr, sondern sieht sie als Code, als Zahlengeflimmer. In Umkehrung zur Verführung im Paradies erkennt hier nicht ein neuer Adam seine Eva – und damit sich selbst als Sexualwesen –, sondern Geschlecht als Konstruktion. Mit dem Kuss und der Resurrektion wird Neo nicht nur endlich zum Erlöser, es ist auch der Moment, in dem das männliche Geschlecht zerfällt. Nach seiner Wiederauferstehung von den Toten ist Neo in imitatio christi verdammt, das Anagramm seines Namens zu werden: Er wird The One, der Auserwählte und Einzige, und den kann man sich – mit einer Ausnahme – schlecht als Teil eines liebenden Paares vorstellen. Die markante und kulturhistorisch wirksame Ausnahme bildet hier erneut die Liebe zwischen Jesus Christus und Maria: Denn Trinitys Liebeserklärung evoziert im Kontext der
15
Albrecht Koschorke: Die Heilige Familie und ihre Folgen – Ein Versuch. Frankfurt/M. 2000. S. 210. 16 Zu den Neo/Christus-Analogien vgl. Matrix a Messiah Movie. ‹http://awesomehouse. com/matrix/parallels.html›. Abgerufen am 10.10.02. 9:07.
205 Pietà-Zitation nicht das Bild der sinnlichen Liebe – des Eros –, sondern das der übersinnlichen Liebe: Agape.17 Diese Liebeskonzeption wurzelt im paulinischen Verständnis einer göttlichen Liebesgabe, die im Opfer des Sohnes gründet: Diese eröffnende Gabe ohne vorausgesetzte Gegengabe ist jedoch […] das Opfer eines Leibes. Die Liebe erfüllt sich in einem zwar provisorischen, aber nichtsdestoweniger empörenden, wahnsinnigen, unstatthaften Tod. Diese Liebe hat nicht die Ewigkeit, sondern die Wiederauferstehung im Auge […].18
Doch scheint gerade Trinitys Weigerung, Neos Tod zu akzeptieren, der hier vorgeschlagenen Deutung einer Figuration der Mutter Gottes zu widersprechen, denn Maria begehrt trotz ihres Schmerzes um den Verlust ihres Sohnes aus Einsicht in den Erlöserplan Gottes nicht gegen die Opferung Jesu auf.19 Tatsächlich weigert sich Trinity im ersten Teil der Matrix-Trilogie allerdings nur deshalb Neos Tod zu akzeptieren, weil Neo sich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht als der Auserwählte begreift und sein Tod mithin noch nicht der Opfertod des Erlösers wäre. Das Ende von THE MATRIX ist offen. Neo wendet sich in der Matrix per Telefon an seine Zuhörer – “ihr da draußen” – und verkündet die Vision einer Welt ohne Regeln und Gesetze. Wie alles ausgeht, sei von den Entscheidungen der Angesprochenen – filmimmanent den Menschen in der Matrix, rezeptionsästhetisch von den Zuschauern im Kino – abhängig. Neo selbst kehrt im Schlussbild des Films aber nicht auf die Nebukadnezar zurück, “um die Liebesphantasie Trinitys zu genießen”, sondern “kostet die Ikone des Heilands […] am eigenen Leibe buchstäblich aus”:20 Er fliegt aus der Matrix in den Himmel. Erst im dritten Teil der Trilogie tritt der Maschinen-Gott als deus ex machina auf, dem sich Neo opfert. Es zeigt sich, dass auch Neo Teil des Programms war – das Gegenstück zu Agent Smith. Smith, die Kontroll-Funktion des Programms, hat sich zwischenzeitlich selbst hundertfach dupliziert und ist dabei, außer Kontrolle zu geraten. Er strebt nicht nur die Herrschaft in der Matrix, sondern auch diejenige über das Maschinenimperium an. In Matrix Revolutions fliegt Neo, mittlerweile durch Kampfhandlungen erblindet, mit Trinity deshalb zum Gott der Maschinen, dem er einen Friedensschluss vorschlägt, denn nur er könne Smith vernichten. Hier nun ist auch Trinity bereit, Neo und sich selbst zu opfern, oder mit den Worten eines Fans gesagt: Sie ist bereit zu sterben, denn beiden ist bewusst, dass der Auserwählte nicht mehr von der Quelle zurückkehren wird. Würde Trinity am Leben bleiben, so wäre das für 17
Zum Unterschied von Eros und Agape vgl. Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe. Frankfurt/M. 1989. S. 134ff. 18 Ebd. S. 136. 19 Vgl. ebd. S. 211. 20 Bronfen: Heimweh. S. 549f.
206 Neo ein Hindernis, sich für den Frieden und den Neustart der Matrix zu opfern. So stirbt nicht nur Neo für diesen Zweck, sondern auch Trinity ist dazu bereit.21
Tatsächlich trägt Trinity ihren Namen zu recht, wurde doch auch die Mutter Gottes ausgehend von der göttlichen Liebe, der Agape, zunehmend als Dreiheit gedacht: als Mutter, Tochter und Gattin Jesu. Dieses im Marienkult entfaltete Verständnis basiert auf der Opferung des Leibes, die als Liebesgabe gedacht wird und auf der Entsexualisierung des Eros beruht. Indem die Matrix-Trilogie dieses Bild- und Affektrepertoire aufruft, muss ihr misslingen, was sie inszenieren will: eine klassische Liebesromanze zwischen Mann und Frau. Hier sei ein Fan zitiert, dessen einzige Kritik an Matrix Revolutions die Liebesbeziehung zwischen Neo und Trinity ist: Eigentlich weiß der Zuschauer ja, dass sie sich lieben, aber es wird dennoch andauernd erwähnt und gezeigt und bewiesen. Es ist ähnlich wie mit der Sex-Szene in Reloaded – ihre Beziehung wirkt trotz aller Bemühungen immer noch klinisch und konstruiert.22
Anders gesagt: Dem Film gelingt es nicht, das Paar Trinity und Neo als sexuierte Wesen zu zeigen. Matrix handelt vorgeblich von posthumanen Visionen, tatsächlich aber inszeniert er eine prähumane Phantasie. Neo lebt nach seiner Rettung aus dem Batterien-Verwertungs- und Verblendungszusammenhang auch an Bord der Nebukadnezar im eigentlichen Sinne als asexueller Kaspar Hauser weiter, eine Existenzform, aus der er sich – gefangen im christlichen Erlösermythos – nicht befreien kann. Umsonst hat ihn Mouse darauf aufmerksam gemacht, dass erst der Trieb den Menschen zum Menschen mache. Es ist eine der vielen Paradoxa des Films, das gerade das Bordmitglied mit dem Namen, der sowohl ein Tier als auch ein technisches PC-Zubehör signifiziert, die Differenz formuliert, die den Menschen sowohl vom Tier als auch von der Maschine unterscheidet.23 Damit stellt sich die Frage: Wer ist in diesem Film eigentlich der künstliche Mensch? Auf den ersten Blick die special agents – und allen voran Agent
21
‹http://www.starhtml.de/matrix/artikel_dummies.html›. Fanpage ‹http://www.sphaerentor.com/matrix/index.php?file⫽browser.php&id⫽41›. Abgerufen am 14.02.04. 9:17. Auch Althen: “Franzosen” konstatiert nur einen erotischen Moment in Matrix Reloaded: “Und dann kommt der Auftritt von Monica Bellucci […]. Sie verkörpert in der sterilen Welt dieses Films tatsächlich jene Poesie des Fleisches, die vorher nur in trockenen Worten beschworen wird.” 23 Filmhistorisch knüpft die Szene mit Mouse damit an den Film Odyssee 2000 an, der ebenfalls die Position des Menschen zwischen Tier und Maschine verhandelt. Vgl. dazu Marie-Luise Angerer: Vom Raum der Zeit und der Zeit des Vergessens – Zu Stanley Kubricks 2001 – A Space Odyssey. In: Odysseen 2001 – Fahrten – Passagen – Wanderungen. Hg. von Walter Erhart und Sigrid Nieberle. München 2003. S. 132–140. 22
207 Smith – als moderne Form des Datenstroms.24 Doch der künstliche Mensch ist in diesem Film nur in der Matrix und damit im Bereich der Simulationen sichtbar. Er agiert also auf der Ebene der Vorstellungen und ist damit auch als Phantasie zu begreifen.25 Der künstliche Mensch ist in der Matrix-Trilogie der Mensch selbst, der von seinen eigenen Kreationen – den Maschinen – unterworfen wurde. Neo ist tatsächlich ein Erlöser: Als Einlösung der fundamentalen Phantasie eines Lebens jenseits der Sexuierung erlöst von der Last und der Lust, einen Körper und damit ein Geschlecht zu besitzen. Die Trilogie setzt damit eine Entlastungsphantasie in Szene, die ihren Ursprung im christlichen Mythos hat. Der Beziehung von Trinity und Neo ist deshalb auch nicht als Gegenbild einer möglichen natürlichen Prokreation gegen die im Film verhandelte Angst von der “Menschenzüchtung” konzipiert, sondern reaktualisiert vielmehr die Konstellation der Heiligen Familie, die ihre Fortsetzung in der aktuellen Reproduktionstechnologie findet: Der Körper der christlichen Jungfrau war für die Gläubigen Beweisstück eines Gegenentwurfs gegen den sexuellen Prokreatismus der Welt. Aus dieser Perspektive rückt Marias Empfängnis des Heiligen Geistes in den Ausgangspunkt all jener nichtsexuellen Produktionsweisen und zölibatären Maschinen, die in erklärtem Wettstreit mit der geschlechtlichen Fortpflanzung stehen und die von den kulturellen statt natürlichen Schöpfungsmächten Zeugnis ablegen. […] Das Technische und das Übernatürliche bilden in diesem Zusammenhang keinen Gegensatz. Sie sind durch die gemeinsame Opposition zur Welt des Geschlechts miteinander verbunden und gehen zahllose narrative Legierungen ein.26
Diese fundamentale Phantasie der Leugnung von Körper und Geschlecht ist in der Matrix-Trilogie auf den neusten (kino)technischen und theoretischen Stand gebracht und affirmiert damit auch – entgegen der in ihr ebenfalls verhandelten Angst gegen Virtualisierung und Derealisierung – die phantasmatische Auflösung der Geschlechtsidentitäten im virtuellen Raum: Der enge Zusammenhang von Perversion und Cyberspace ist heute ein Gemeinplatz. Perversion kann als Verteidigung gegen das Motiv ‘Tod und Sexualität’ verstanden werden, gegen die Gefahr der Sterblichkeit ebenso wie gegen die zufällige Verhängung sexueller Unterschiede.27 24
Vgl. dazu Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Kontrollierte Körper. Hg. von Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen und Gabriele Jatho. Berlin 2000. 25 Vgl. Georg Seeßlen: Traumreplikanten des Kinos. In: Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Hg. von Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen und Gabriele Jatho. Berlin 2000. S. 13–36. 26 Koschorke: Heilige Familie. S. 219. 27 Ziek: Perversion.
208 Denn am Ende erweist sich Neo als Bestandteil und Retter der Matrix, die einen Neustart erlebt.28 Um mit einem – der Logik der Matrix-Trilogie vielleicht entsprechenden – Paradox zu schließen: Die drei Filme zeigen einmal mehr, dass Science fiction – seiner avantgardisch-futuristischen Thematik entgegen – ein konservatives Genre ist.29 Die Matrix-Trilogie kann die Ängste, die Reproduktionstechnologien, die Visionen des Postbiologismus und des Transhumanismus erzeugen, nur in Schach halten, indem sie eine quasi prähumane Lösung bietet, die im Rückgriff auf die christliche Mythologie genau das beschwört, was der Film als aktuelle technologische Herausforderung zu bekämpfen vorgibt: das Ende des sexuellen Menschen im Zeichen seiner künstlichen Reproduzierbarkeit. Diese Rückkehr zu den desexuierten Körpern hat ein Kritiker drastischer als Mangel des letzten Teils der Trilogie formuliert: “Und gerade in Anbetracht dessen, dass es sich hier eigentlich um den Höhepunkt, den Endkampf der Matrix-Trilogie handeln sollte, kommt auch das bodenlos hodenlos daher.”30
28 So wurde das einigermaßen verwirrende Ende der Trilogie zumeist verstanden. Diese Interpretation macht vor allem auf dem christologischen Fundament Sinn. 29 Vgl. Kino des Utopischen. Geschichte und Mythologie des Science-fiction-Films. Hg. von Bernhard Roloff und Georg Seeßlen. Reinbek 1980. 30 Willmann: Es fährt ein Zug.
Claudia Gremler
Androiden und (Anti)feminismus in The Stepford Wives Amongst the large number of films that deal with the theme of androids Bryan Forbes’ The Stepford Wives (1975) is noticeable for its focus on questions of gender and the relationship between the sexes. Mixing elements of the thriller and horror genres with farce and comedy The Stepford Wives was the first American mainstream film to deal explicitly with Women’s Lib. Unlike Ira Levin in his much more ambivalent novel that the film was based on, Forbes and his actors deliberately set out to make a feminist satire, and according to some critics succeeded in producing an important document of second wave feminism which soon acquired cult status. However, it also provoked a number of negative reactions from feminists. A closer inspection reveals that the satirical element of the film is indeed not prominent and frequently counteracted, at times facilitating a misogynist rather than a feminist interpretation. This is mainly due to the ending of the film which implies the murderous elimination of the female protagonist. Unlike all other cinematic and literary works that feature androids The Stepford Wives shows the successful creation of artificial life which does not backfire. In addition, the film which clearly categorises itself as a thriller and horror movie, and specifically alludes to the tradition of threatened yet strong female characters in these genres, at the same time defies this convention in favour of a seemingly misogynist ending. Thus the way in which The Stepford Wives refuses to comply with the traditions of both the android theme and the horror genre, involuntarily serves to undermine its intention as a feminist social satire.
Wie zu Recht betont worden ist, sind “Homunculus und Golem, Frankensteins Monster und Alraune, mechanische Puppe und Maschinenmensch Grundfiguren, von denen das Kino nicht mehr loskommt.”1 In der Tat hat sich der Film von seinen Anfängen bis heute ebenso fasziniert gezeigt von der Vorstellung der künstlichen Menschenerschaffung wie Literatur und Mythos vor ihm, und FilmemacherInnen haben die Thematik vom künstlichen Menschen wiederholt und in vielen Variationen gestaltet. Ähnlich wie bei der literarischen Behandlung dieses Motivfeldes gibt es in diesen Filmen einige wiederkehrende Elemente und Konstanten, die besonders auch die Erschaffung einer künstlichen Frau betreffen. Bei der Herstellung des künstlichen Menschen lässt sich in der Regel ein Machtgefälle beobachten. “Das anthropomorphe Kunstgebilde” ist gewöhnlicherweise “als Knecht gedacht”, “auf den unangenehme und beschwerliche
1
Inge Degenhardt: Zwischen Hybris und Bedrohung. Zur Attraktivität der künstlichen Menschen im Film. In: Die Geschöpfe des Prometheus. Der künstliche Mensch von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. von Rudolf Drux. Bielefeld 1994. S. 87–93. Hier S. 87.
210 Arbeiten abgewälzt werden”2 – eine Rollenzuteilung, die sich im Film von Wegeners Golem bis zu Blade Runner und Terminator verfolgen lässt3 – und sein Schöpfer ist zugleich auch sein Herr und Meister, der über die Kreatur nach Gutdünken verfügt. Dieser Kontrollanspruch gegenüber dem Geschöpf zeigt sich besonders deutlich im Verhältnis der “Kunstmenschenmacher”4 zu den von ihnen geschaffenen künstlichen Frauen. “Die männliche Schöpfung der Maschinenfrau”, wie sie unter anderem Langs Metropolis zeigt, stellt sich “als äußerster Akt der Beherrschung der Natur durch die Technologie”5 dar. Das beabsichtigte Resultat ist ein “Frauensurrogat”, das dem Mann die Illusion gibt, “die weibliche Sexualität zu beherrschen”,6 und ihm zugleich ermöglicht, sich auf übertragene Weise die eigentlich weibliche Fähigkeit des Gebärens anzueignen. Diese Phantasie, die eines ihrer Urbilder im Mythos von Pygmalion hat, der sich eine künstliche Frau schuf, weil keine lebendige Partnerin seinem Ideal entsprach, ist immer auch satirisch-humoristisch verarbeitet worden, unter anderem in Jean Pauls kurzem Text Einfältige aber gutgemeinte Biographie einer angenehmen Frau von bloßem Holze, die ich längst erfunden und geheiratet habe, in dem er – ähnlich wie E.T.A. Hoffmann in der Figur der Olimpia im Sandmann – die Weiblichkeitskonventionen der patriarchalischen Gesellschaft bloßstellt und “die Automatenhaftigkeit der Frau als Angriffsziel der Satire”7 benutzt. In der Filmgeschichte gehört besonders Lubitschs Verwechslungskomödie Die Puppe in diese Tradition, in der Geschlechterverhalten karikiert und “stereotype Rollen- und Verhaltensmuster entlarvt werden”.8 Neue Aktualität gewann der alte männliche “Wunsch nach einer sanftmütigen, sexuell passiven Frau”9 und die Vision von der künstlichen, als Substitution ihres als rebellisch empfundenen natürlichen Vorbildes geschaffenen Frau, als die Neue Frauenbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts männliche Privilegien und weibliche Diskriminierung in Frage stellte und sich energisch gegen jede Form der Kontrolle des Mannes über die Frau wandte. 2
Rudolf Drux: Frankenstein oder der Mythos vom künstlichen Menschen und seinem Schöpfer. In: Der Frankenstein-Komplex. Kulturgeschichtliche Aspekte des Traums vom künstlichen Menschen. Hg. von Rudolf Drux. Frankfurt/M. 1999. S. 26–47. Hier S. 40. 3 Vgl. Thomas Koebner: Herr und Knecht. Über künstliche Menschen im Film. In: Der Frankenstein-Komplex. S. 119–137. 4 Drux: Frankenstein. S. 40. 5 Degenhardt: Zwischen Hybris und Bedrohung. S. 90. 6 Rudolf Drux: Die Geschöpfe des Prometheus. Zur künstlerischen Gestaltung und technischen Verwirklichung eines Mythems. In: Die Geschöpfe des Prometheus. S. 15–25. Hier S. 24. 7 Lieselotte Sauer: Marionetten, Maschinen, Automaten – Der künstliche Mensch in der deutschen und englischen Romantik. Bonn 1983. S. 236. 8 Degenhardt: Zwischen Hybris und Bedrohung. S. 88. 9 Ebd. S. 88.
211 1975 nahm sich das Hollywood-Kino mit der Verfilmung von Ira Levins Roman The Stepford Wives (1972) dieser Thematik an. In dem unter der Regie des Briten Bryan Forbes entstandenen Werk, das von Kritikern als “the first American film to deal explicitly with women’s liberation”10 bezeichnet wurde, wird die fiktive Kleinstadt Stepford als eine Zuflucht für von der Frauenbewegung gebeutelte Ehemänner beschrieben, die hier in einem gepflegten Zuhause hingebungsvoll umsorgt werden. Der Einsatz von Technologie ermöglicht diese künstliche Idylle, denn den Männern von Stepford ist es gelungen, Maschinenfrauen zu entwickeln: Androiden, die lebenden Frauen täuschend ähneln und darauf programmiert sind, vorbildlich den Haushalt zu führen und die sexuellen Wünsche der Männer zu erfüllen. Wie dem Publikum des Films nach und nach klar wird, sind alle Männer in Stepford eingeweiht in diese Vorgänge und haben sich in der wohl überlegten Absicht in Stepford niedergelassen, ihre eigene widerspenstige Ehefrau durch einen solchen gehorsamen Roboter ersetzen zu lassen. Diese Perspektive, die Sicht der Männer, ist allerdings implizit und offenbart sich erst am Ende des Films. Es ist eine utopische Vision, eine Realität gewordene Männerphantasie, die sich hier präsentiert, aber zugleich ist es eine Dystopie aus der Sicht der Ehefrauen, die systematisch ermordet werden, um ihren synthetischen Nachahmungen Platz zu machen. Diese nach Geschlechtern getrennte Sichtweise ist zentral für die Interpretation von The Stepford Wives. Im Film herrscht der Blickwinkel der Frauen vor, aus deren Sicht sich die Handlung in Form eines Furcht einflößenden Enthüllungsdramas entwickelt, und im Roman wird sogar fast ausschließlich aus weiblicher Perspektive erzählt. Die Hauptfigur ist Joanna Eberhart, eine junge Frau, die ahnungslos mit ihrer Familie nach Stepford gezogen ist und nach und nach ihre Situation und die Gefahr, in der sie sich befindet, begreift. Diese bewusste Fokussierung auf die klassische Figur des weiblichen Opfers, das einer unheimlichen Bedrohung ausgeliefert ist, bedingt, dass The Stepford Wives neben dem Genre des Science Fiction, dem es verständlicherweise zugeordnet worden ist,11 auch mit Berechtigung in die Kategorie des Horrorfilms eingeordnet werden kann.12 Die Gattung des Horrorfilms gilt ebenso wie der Science Fiction als ‘männliches’ Genre13 und weist in mehrfacher Hinsicht traditionell misogyne 10
Herbert J. Gans: The Stepford Wives. Killing off Women’s Liberation. In: Social Policy 6 (1975). H. 1. S. 59–60. Hier S. 59. 11 Vgl. u.a. Per Schelde: Androids, Humanoids, and Other Science Fiction Monsters – Science and Soul in Science Fiction Films. New York – London 1993. S. 223–224; J[ay] P[aul] Telotte: Science Fiction Film. Cambridge 2001. S. 50. 12 Vgl. u.a. ‹http://www.stomptokyo.com/genre-index.html#horror›. 13 Vgl. u.a. Telotte: Science Fiction Film. S. 49 zu Science Fiction; Carol J. Clover: Her Body, Himself – Gender in the Slasher Film. In: The Dread of Difference – Gender and the Horror Film. Hg. von Barry Keith Grant. Austin 1996. S. 66–113. Hier S. 72 zu Horror.
212 Elemente auf, dessen auffälligstes Beispiel die bereits erwähnte zentrale Gestalt des weiblichen Opfers darstellt. Besonders im Subgenre des so genannten Slasherfilms, der deutlich frauenfeindliche Tendenzen zeigt, steht die Figur des hilflosen Mädchens im Mittelpunkt, das zumeist vergeblich versucht, seinem männlichem Verfolger und einem brutalen Tod zu entkommen.14 In diesem klassischen Horror-Szenario scheint Joanna eindeutig die Position des Opfers einzunehmen. Aus der Perspektive der Männer von Stepford spielt sie jedoch vielmehr die Rolle der zweiten konstitutiven Figur des Horrorfilms:15 Sie ist das Monster. Die klassische Gestalt des bedrohlichen Ungeheuers kann viele verschiedene Formen annehmen und verkörpert, wie feministische Forschungsbeiträge zum Horror-Genre nachgewiesen haben, nicht selten eine Form monströser Weiblichkeit, die bekämpft wird.16 Die Handlung in The Stepford Wives steht, aus der Perspektive der Männer, in dieser Tradition. Die emanzipierte Frau, so muss man annehmen, gilt den Männern von Stepford als Monster, das es zu kontrollieren und schließlich zu beseitigen gilt, wenn die gefährdete patriarchalische Ordnung aufrechterhalten beziehungsweise wieder hergestellt werden soll. Der Film zeigt die kaltblütig geplante und erfolgreich durchgeführte Vernichtung des als bedrohlich wahrgenommenen Weiblichen mit technologischen Mitteln und stellt deutlich Bezüge her zu der im Science-Fiction häufig zu beobachtenden “technologically oriented misogyny […], which perceives female sexuality as a predatory menace”.17 Weiblichkeit erscheint in The Stepford Wives als Bedrohung der gesellschaftlichen Vorherrschaft des Mannes im Allgemeinen und der Zerstörung der patriarchalischen häuslichen Idylle im Besonderen. Durch den Einsatz von (männlichem) technologischem Wissen18 wird erbarmungslos gegen diese ‘Bedrohung’ vorgegangen und ihre künstliche Substitution durchgeführt. Das Publikum erfährt, dass es in Stepford einmal einen aktiven Women’s Club gab, der allerdings vor einiger Zeit geschlossen wurde. Stattdessen wird Stepford jetzt von der erst kürzlich etablierten und offensichtlich als Reaktion auf die Frauenbewegung gegründeten Men’s Association dominiert, zu der 14
Vgl. Clover: Her Body, Himself. S. 66. Vgl. Noëll Carroll: Horror and Humor. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 52 (1999). S. 145–159. Hier S. 147–148. 16 Vgl. Barbara Creed: Horror and the Monstrous-Feminine. An Imaginary Abjection. In: The Dread of Difference. S. 35–65. Hier S. 42. 17 Paul Coates: The Gorgon’s Gaze. German Cinema, Expressionism, and the Image of Horror. Cambridge 1991. S. 89. 18 Die Männer von Stepford setzen die in ihren technischen Berufen erworbenen Kenntnisse bei der Gestaltung der Androiden ein. Vgl. Ira Levin: The Stepford Wives. London 1998. S. 93–94. 15
213 Frauen keinen Zugang haben und der alle einflussreichen Männer im Ort angehören. Joanna sagt über sich: “I messed a little bit with Women’s Lib in New York” und beweist so, dass sie – wie auch ihre Freundin Bobbie, ihre einzige Verbündete in Stepford – die emanzipierte Lebenseinstellung der modernen Frau verkörpert. Joanna war vor ihrer Eheschließung ganztägig berufstätig, sie versucht jetzt, sich eine Karriere als freiberufliche Fotografin aufzubauen, erwartet, dass ihr Mann Walter sich an der Hausarbeit beteiligt und weist zu seinem Missfallen selbstbewusst darauf hin, dass sie bereits sexuell aktiv war, bevor sie ihn kennen lernte.19 Aus der Sicht der Männer in Stepford versuchen Frauen wie Joanna und Bobbie, die Selbstbewusstsein und eine gewisse Unabhängigkeit verkörpern, Grenzen im Verhalten der Geschlechter zu übertreten, die nach patriarchalischer Überzeugung nicht verletzt werden sollten. Unerlaubte Grenzüberschreitungen sind auch ein zentrales Charakteristikum des Monströsen.20 Die Frau wird auf diese Weise zum Monster stilisiert, das es zu beseitigen gilt. Die Männer von Stepford wehren sich gegen die subjektiv empfundene Bedrohung, indem sie die Frauen durch ihre eigenen Kreaturen ersetzen, die sie vollständig kontrollieren können und die eine in ihren Augen ideale, unterwürfige Weiblichkeit verkörpern. Aus Joannas Sicht stellt sich die Situation verständlicherweise ganz anders dar. Erst spät begreift sie, dass es sich bei ihren putzbesessenen Nachbarinnen, die stets um das körperliche Wohl ihrer Ehemänner besorgt sind, sich nur für die Pflege ihres Hauses und ihrer Familie interessieren und jedes längere Gespräch vermeiden, nicht um Frauen, sondern um künstliche Nachbildungen handelt, und reagiert mit Entsetzen. Aus Joannas Perspektive ist daher nicht sie selbst monströs, sondern die von den Stepford-Männern, diesen Nachfahren von Pygmalion und Frankenstein, geschaffenen Kunstfrauen mit ihrer beunruhigend artifiziellen Perfektion verdienen diese Bezeichnung. Je nach Kontext klingen die inhaltsleeren Äußerungen dieser Androiden wie das Echo von Werbeslogans für Haushaltsprodukte21 oder Phrasen aus
19
Auf Walters Frage: “Did you ever make it in front of a log fire?” antwortet sie: “Not with you.” Vgl. Anna Krugovoy Silver: The Cyborg Mystique. “The Stepford Wives” and Second Wave Feminism. In: Women’s Studies Quarterly 30 (2002). S. 60–76. Hier S. 72. 20 Vgl. Carroll: Horror and Humor. S. 152; Nina Lykke: Between Monsters, Goddesses and Cyborgs. Feminist Confrontations with Science. In: The Gendered Cyborg. A Reader. Hg. von Gill Kirkup et al. London – New York 2000. S. 74–87. Hier S. 77. 21 So entwickelt sich unter anderem auf Joannas mühsam organisiertem Frauentreffen, bei dem sie eigentlich einen gedanklichen Austausch über Alltagsbelastungen und Eheprobleme geplant hatte, die Diskussion unversehens zu einem sendereifen Werbespot für die Sprühstärke der Marke “easy-on”: “It must save me half an hour a day at least. You’ll never run short of time again. I guarantee it. […] If time is your enemy make friends with easy-on” sagt eine von Joannas Nachbarinnen begeistert.
214 Pornofilmen.22 Der künstliche erotische Enthusiasmus und die grenzenlose sexuelle Verfügbarkeit der Puppen sowie die Tatsache, dass die Androiden zwar ihren lebendigen Vorbildern auf verblüffende Weise ähneln, zugleich aber subtil geschönt sind, um sie einem impliziten Pin-Up-Ideal anzunähern, lassen sie einerseits in ihrer Künstlichkeit als nicht Fleisch, sondern Synthetik gewordene Männerfantasie lächerlich erscheinen.23 Andererseits trägt jedoch gerade ihre so offensichtlich seelenlose Artifizialität dazu bei, dass sie tatsächlich monströs erscheinen und insbesondere Joannas Entsetzen erregen, die in ihnen ihre eigene zukünftige Auslöschung erblickt. Interessanterweise bildet diese nach Geschlechtern gespaltene Perspektive des Films zwei bedeutende Sichtweisen der Problematik des künstlichen Menschen ab, wie sie im Film erscheint. Aus der Perspektive der Männer von Stepford stellt sich “der mythische Traum von der artifiziellen Erzeugung und Nachahmung des Menschen”24 dar, von dem schon Viktor Frankenstein inspiriert war. Die Frauen hingegen erleben die “Kunstfigur als Verdopplungsphänomen” in einer “Welt der totalen Simulation” – wie sie sich später besonders deutlich in Ridley Scotts Blade Runner präsentiert – und müssen erfahren, dass die “Unterscheidbarkeit […] von Natürlichem und Künstlichem […] radikal in Frage gestellt” ist.25 Obwohl Joanna und Bobbie das domestizierte Verhalten der Frauen von Stepford missbilligen und beunruhigend finden, erkennen sie nicht den wahren Grund für das Benehmen ihrer Nachbarinnen. Nicht einmal nachdem sie die auffällige Verwandlung ihrer Bekannten Charmaine von einer ihrem Mann gegenüber sehr kritischen Frau in eine außerordentlich gefügige Ehefrau erlebt haben, die plötzlich vom Sex mit ihrem unattraktiven Gatten nicht genug bekommen kann, ahnen sie, was hinter dieser Veränderung steckt (Ironischerweise erlangte die Schauspielerin Nanette Newman, die sich in ihrer Rolle als Carol in dieser Szene mit den Worten “I’ve just been tempted so many times to try easy-on” zu Wort meldet, später ihren größten öffentlichen Bekanntheitsgrad durch regelmäßige Auftritte in englischen Werbesendungen für den marktbeherrschenden Spülmittelhersteller.) 22 Als Joanna und Bobbie versehentlich den ältlichen, unattraktiven Apotheker von Stepford beim Geschlechtsverkehr mit seiner bildschönen Ehefrau belauschen, hören sie die Frau laut stöhnen und die folgenden Sätze seufzen: “Oh yes, yes. Nobody has ever touched me the way you touch me. Oh, you’re the best, Frank, oh God, are you the best. You’re the king, Frank, you’re the champion, oh, you’re the master!” 23 In diesen Szenen, die sich nicht auf den Roman stützen, zeigt der Film vereinzelt Züge einer Farce. Dieser Tendenz folgt das im Juni 2004 in den amerikanischen Kinos angelaufene komödiantische Remake (Regie: Frank Oz, Buch: Paul Rudnick), das im Gegensatz zur Romanvorlage und zu Forbes’ Film die “horror-movie implications” des Stoffes zugunsten seiner “comic possibilities” aufgibt, A. O. Scott: Living in Suburbia, Married to a Machine. In: The New York Times (11.06.2004). 24 Degenhardt: Zwischen Hybris und Bedrohung. S. 87. 25 Ebd. S. 92–93.
215 und dass Charmaine bei einem angeblichen Wochenendurlaub mit ihrem Mann gegen einen Androiden ausgetauscht wurde. Statt dessen macht Bobbie das Trinkwasser, in dem sie ungewöhnliche Mineralien oder Chemikalien vermutet, für die gehorsame, reinlichkeitsfanatische Verhaltensweise der Frauen in Stepford verantwortlich. Anders als im Roman, der signifikanterweise die Frauen von Stepford niemals eindeutig als Kunstmenschen entlarvt, enthält der Film zwei deutliche Konfrontationsszenen zwischen Joanna und den monströsen Androiden. In der ersten dieser beiden Szenen besucht die endlich misstrauisch gewordene Joanna ihre Freundin Bobbie, die inzwischen auch gegen eine Puppe ausgetauscht worden ist, schneidet sich absichtlich mit einem Küchenmesser in den Finger und fordert Bobbie auf, das Gleiche zu tun, um ihr zu beweisen, dass sie blutet, dass sie ein Mensch ist und – in deutlicher Anspielung auf die Menstruation26 – dass sie eine Frau ist. Die Puppe weigert sich, und Joanna rammt ihr das lange Messer gezielt in den Unterleib. Aber es fließt kein Blut, statt einer Gebärmutter hat Joanna offenbar die Elektronik der Maschine getroffen, die nun immer den gleichen Satz und die gleichen Bewegungen wiederholt. Joanna flieht entsetzt, ihr schrecklicher Verdacht hat sich bestätigt, Bobbie ist verschwunden und an ihre Stelle ist “a sterile, unnatural nonwoman”27 getreten. Kurz darauf kommt es zur zweiten Konfrontation, bei der Joanna auf ihre eigene Ersatzfigur trifft. Der Schock, dass sich ihre schreckliche Ahnung tatsächlich bestätigt hat und das entfremdende Entsetzen, einer lebensecht wirkenden künstlichen Kopie von sich gegenüber zu stehen – allerdings, dem Ideal der Männer von Stepford entsprechend, mit deutlich größeren Brüsten – ist an sich schon ausreichend dafür, dass Joanna ihr Gegenüber als Monstrosität begreifen muss. Hinzu kommt, dass sich die Puppe in einem Raum befindet, in dem die Männer Joannas Schlafzimmer detailgetreu nachgebildet haben. Auf indirekte Weise ist das Ungeheuer, wie es klassisch ist für den Horrorfilm,28 in Joannas Heim, und zwar in den intimsten Raum, eingedrungen. Um den letzten Zweifel auszuräumen, wer hier das Monster ist – zumindest aus Joannas Perspektive, die auf implizite Weise auch diejenige des Publikums ist – besitzt die noch nicht völlig fertig gestellte Puppe ein besonders unheimliches Merkmal: Ihr fehlen die Augen. Diese Darstellung des leeren Blickes, die erneut die essentielle Leblosigkeit des Androiden betont, greift ein Motiv auf, das häufig bei der Gestaltung der Thematik vom künstlichen Menschen in Film und Literatur zu beobachten ist. 26
Vgl. Silver: The Cyborg Mystique. S. 70. Ebd. S. 70. 28 Vgl. Harvey Roy Greenberg: “King Kong”: The Beast in the Boudoir – or, ‘You Can’t Marry That Girl, You’re a Gorilla!’ In: The Dread of Difference. S. 338–351. Hier S. 340. 27
216 So spielen die Augen als Zeichen der Unterscheidung zwischen wirklichen Menschen und verwirrend lebensecht erscheinenden Androiden beziehungsweise Automaten sowohl in Mary Shelleys Frankenstein als auch in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann eine bedeutsame Rolle. Das Monster in Shelleys Roman entsetzt seinen Schöpfer nicht zuletzt durch “his watery eyes”, die sich in der Farbe kaum von den Augenhöhlen des Ungeheuers zu unterscheiden scheinen, so dass Frankenstein sich schaudernd fragt, ob man sie überhaupt Augen nennen dürfe.29 Im Sandmann bildet die Augenthematik bekanntlich einen zentralen “Motivkomplex”,30 und Nathanels Entsetzen, als er bemerken muss, dass die von ihm verehrte Olimpia in Wahrheit ein “seelenlose[r] Automat”31 ist, beginnt mit der Beobachtung: “Olimpias toderbleichtes Wachsgesicht hatte keine Augen, statt ihrer schwarze Höhlen”.32 Einerseits hebt dieser Makel des ansonsten perfekten Androiden also seine Monstrosität hervor. Darüber hinaus deutet die in den fehlenden Augen von Joannas Doppelgängerin verkörperte Leblosigkeit aber auch auf Joannas Schicksal, ihren Tod, voraus. Sie wird durch dieses unmenschliche Duplikat ersetzt werden, das am Ende der Szene die hilflose Protagonistin mit einem ironischerweise typisch weiblichen Gegenstand, einer Strumpfhose, tötet. Der Verlust des Lebens wird auf diese Weise mit dem Verlust des Blickes gleichgesetzt, einer verständlicherweise im Film zentralen Kategorie. Seit Laura Mulveys einflussreichem Aufsatz “Visual Pleasure and Narrative Cinema” ist der Rolle des Blickes vor allem in der feministischen Filmforschung eine besonders große Bedeutung beigemessen worden, und die Frage, inwieweit die weiblichen Figuren im Film selbst im Besitz des “active investigating gaze”33 oder nur das Objekt des männlichen Blickes sind,34 ist grundlegend für eine 29
Mary Shelley: Frankenstein. In: Three Gothic Novels. Hg. von Peter Fairclough. London 1968. S. 318–319. Vgl. auch Lykke: Between Monsters. S. 76. Interessanterweise entschloss sich Kenneth Branagh in seiner Frankenstein-Verfilmung die Menschlichkeit des von allen geächteten und sich vor den Menschen versteckenden Monsters durch die in Großaufnahme hervorgehobene Lebendigkeit seiner spähenden Augen auszudrücken. Vgl. Heike Jestram: Mythen, Monster und Maschinen. Köln 2000. S. 88. 30 Rudolf Drux: E.T.A. Hoffmann: “Der Sandmann”. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1994. S. 59. 31 Sauer: Marionetten, Maschinen, Automaten. S. 232. 32 E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann. In: Sämtliche Werke in 6 Bänden. Hg. von Walter Müller Seidel. München 1960. Bd. I. S. 359. Zu anderen Texten, in denen die Verbindung “Auge und Automat” eine Rolle spielt – u.a. Eichendorffs Marmorbild – vgl. Drux: Erläuterungen und Dokumente. S. 143–168. 33 Clover: Her Body, Himself. S. 93. 34 Vgl. Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: The Sexual Subject – A “Screen” Reader in Sexuality. London – New York 1992 (Screen). S. 22–33; Linda Williams: When the Woman Looks. In: The Dread of Difference. S. 15–34.
217 genderorientierte Filmanalyse. Das trifft besonders auf den Horrorfilm zu, ein Genre, in dem es für das Opfer lebenswichtig sein kann, Zusammenhänge im wahren Sinne des Wortes zu durchschauen. In The Stepford Wives wird Joanna gleich zu Beginn des Films als Fotografin vorgestellt, und ihr Blick durch die Kamera wird implizit den männlichen Blicken entgegensetzt, denen sie ausgeliefert ist, besonders deutlich in der Szene, als Zeichnungen von ihr angefertigt werden, die sich später als Entwürfe für den Androiden herausstellen, der sie ersetzen soll. Allerdings scheitert Joanna letztendlich bei ihrem Versuch, rechtzeitig hinter das grausige Geheimnis von Stepford zu kommen. Als ihre Freundin Bobbie gegen eine Puppe ausgetauscht wird, ahnt Joanna nichts, sondern macht zur gleichen Zeit Fotos von ihren und Bobbies spielenden Kindern – naive Abbildungen einer Idylle, deren Gefährdung sie erst begreift, als es zu spät ist.35 Der leere Blick ihrer künstlichen Doppelgängerin verbildlicht also auch Joannas eigene Unfähigkeit zu sehen und zu erkennen. Obwohl dieser Film in den meisten Publikationen, die sich mit Fragen der Geschlechterproblematik im Film, insbesondere im Science Fiction, befassen, geradezu als Standardbeispiel angeführt wird,36 gibt es kaum Untersuchungen, die sich detailliert mit The Stepford Wives auseinandersetzen. In der bisher einzigen längeren Interpretation deutet Anna Krugovoy Silver den Film als “an important document of second wave feminism”,37 das zeige, wie sich das Gedankengut der Neuen Frauenbewegung in die amerikanische mainstream culture eingeschrieben habe. Silver geht besonders darauf ein, wie der Film die Problemfelder von Hausarbeit, Rolle der Frau in der Kleinfamilie und Kontrolle der Frau über ihren Körper aufgreift.38 Sie weist jedoch auch darauf hin, dass die Reaktionen des weiblichen Publikums bei der Premiere des Films eher negativ waren und dass insbesondere führende Vertreterinnen der Frauenbewegung, wie Betty Friedan, den Film kritisierten, weil er ihrer Meinung nach ein “rip-off ”, das heißt eine billige Imitation oder Verfälschung der Bewegung und ihrer Ziele, darstellte.39 Aus Interviews, die als Bonusmaterial auf der DVD
35 Dieses Motiv lässt sich natürlich filmisch besonders gut darstellen, ist aber auch im Roman gestaltet, wo Joanna ebenfalls daran scheitert, mit der Kamera hinter das gut gehütete Geheimnis von Stepford zu kommen. Sie wird von der Polizei dabei ertappt, wie sie unerlaubterweise das Gebäude der Men’s Association ablichten möchte. Vgl. Levin: The Stepford Wives. S. 41–43. 36 Vgl. u.a. Schelde: Androids, Humanoids. S. 223–224; Telotte: Science Fiction Film. S. 50. 37 Silver: The Cyborg Mystique. S. 73. 38 Vgl. Silver: The Cyborg Mystique. S. 60. 39 Vgl. Judy Klemesrud: Feminists Recoil at Film Designed to Relate to Them. In: The New York Times (26.02.1975).
218 des Films enthalten sind,40 geht hervor, dass sowohl die Darstellerinnen als auch der Regisseur den Film als Gesellschaftssatire und Angriff auf patriarchalische Strukturen und misogynes Verhalten verstanden sehen wollten. Forbes zeigt sich bis heute sehr gekränkt über die negativen Reaktionen bei der Premiere und erinnerte sich noch 1998 ungern daran, wie er von “a seriously deranged militant libber”41 mit einem Regenschirm geschlagen wurde. Es ist jedoch nicht verwunderlich, dass es zu solchen Reaktionen kam, denn obwohl der Film, wie es ein Rezensent ausdrückte, “aspires to be a women’s lib parable”,42 lässt er sich nicht nur in der Tat als sensationalistische Trivialisierung von zentralen feministischen Vorstellungen verstehen, sondern kann sogar auch als Parodie auf die Ideen der Frauenbewegung interpretiert werden. Silver bestreitet diese These allerdings. Sie ist der Ansicht, dass die deutliche Form, in der The Stepford Wives Bezug nimmt auf klassische Texte der Frauenbewegung, wie Friedans The Feminine Mystique (1963) (das im Roman sogar explizit genannt wird),43 bedinge, dass man “Forbes’s dystopic vision of suburban America” nicht als Parodie auf feministische Theorien sehen könne.44 Im Gegensatz zu Forbes und den SchauspielerInnen des Films beteuert Levin, der bereits in Rosemary’s Baby (1967) erfolgreich die “wife-in-peril plotline”45 eingesetzt hatte, sein Roman sei nur als “a good thriller” geplant gewesen und habe sich aus seinem Interesse an den gesteigerten technischen Möglichkeiten der letzten Jahrzehnte entwickelt. Es überrasche ihn, dass man The Stepford Wives als “a critique of marriage, of suburban living, of feminism, of anti-feminism, of housework, of men, of women, of American culture” gelesen habe.46 Der Roman lässt jedoch in der Tat unterschiedliche Lesarten zu, besonders was seine feministische beziehungsweise antifeministische Aussage betrifft. Obwohl sein deutlich misogyner Inhalt in Verbindung mit der absurden und technisch unmöglichen Vorstellung, man könne problemlos und unbemerkt die gesamte weibliche Bevölkerung einer Kleinstadt durch Roboter ersetzen, die
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Bryan Forbes: The Stepford Wives. Silver Anniversary Edition – Anchor Bay Entertainment 2001. 41 Bryan Forbes: Introduction. In: Ira Levin: The Stepford Wives. London 1998. S. v–vii. Hier S. vii. 42 Richard Schickel: Women’s Glib. In: Time (03.03.1975). S. 1–2. Hier S. 2. 43 Vgl. Levin: The Stepford Wives. S. 35. 44 Vgl. Silver: The Cyborg Mystique. S. 63. 45 Michael Wilmington: Movie Review: “The Stepford Wives”. In: The Chicago Tribune (08.06.2004). 46 Zitiert in Mary McNamara: The Art of Darkness. In: The Los Angeles Times (22.09.2002).
219 Interpretation der Handlung als Satire nahe legt, drängt sich bei Levins parodistischen Feminismusbezügen auch immer wieder der Eindruck auf, dass diese tatsächlich als ironische Seitenhiebe gegen die Neue Frauenbewegung intendiert sind und dass der Autor insbesondere Friedans Kritik der gesellschaftlichen patriarchalischen Verhältnisse, die zum als stupide empfundenen Alltag vieler Frauen führen, als larmoyant oder gar unberechtigt verurteilt. Dazu trägt besonders die Abwesenheit eindeutig satirisch-humoristischer Episoden bei, denn anders als im Film fehlen im Roman farcenhafte Elemente wie das bereits zitierte Gespräch über Sprühstärke. Am deutlichsten jedoch drückt sich Levins unentschiedene Haltung gegenüber der Frage nach der Berechtigung feministischer Gesellschaftskritik dadurch aus, dass das Buch im Gegensatz zum Film seinem Publikum niemals bestätigt, dass die Frauen von Stepford tatsächlich Roboter sind. Der Showdown des Films, in dem Joanna Dale Coba, den Leiter der Men’s Association und führenden Kopf dieses entsetzlichen ‘Austauschprogramms’, zur Rede stellt und er ihr den Androiden zeigt, der sie selbst ersetzen wird, fehlt im Roman. Trotz einiger deutlicher Indizien bleibt im Buch die Möglichkeit bestehen, dass Joanna sich alles nur einbildet – sogar das viel sagende Wort “hysterical”47 fällt. Diese Ambiguität wird im Roman vor allem durch die Steuerung der Erzählinstanz erreicht. Die Entscheidung, die Handlung fast bis zum Ende ausschließlich aus Joannas Perspektive zu berichten, führt dazu, dass die Lesenden nur die Informationen besitzen, die Joanna zugänglich sind, und bewirkt eine starke Identifikation des Publikums mit der Hauptfigur. Einerseits wird so der weiblichen Perspektive der Vorrang vor der männlichen gegeben, die Vorgänge in Stepford erscheinen als existenzbedrohende, der Invasion of the Body Snatchers vergleichbare Monstrosität, nicht als Wirklichkeit gewordene Utopie. Andererseits bedeutet im vollständig subjektiv erzählten Roman das Fehlen einer überzeugenden Gegenperspektive, die nur schwach in der Äußerung eines der Männer “We don’t want robots for wives. We want real women”48 aufscheint, erneut, dass die gesamte Handlung in Frage gestellt und zur Horrorvision einer überreizten Frau degradiert wird. Erst auf den letzten Seiten, nachdem Joanna vergeblich versucht hat, Stepford zu verlassen, und auf ihrer vergeblichen Flucht von den Männern eingeholt worden ist, wechselt die Perspektive und geht auf die nächste Frau über, die neu nach Stepford gezogen ist. Obwohl dieses geschickte narrative Manöver die Schlussfolgerung, dass die Figur, die die neue Nachbarin als Joanna wahrnimmt, ein bewusstseinsloser Android sein muss, nahe legt, bleibt die letzte Gewissheit aus. Auf diese Weise fängt der Roman auch geschickt den
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Levin: The Stepford Wives. S. 82. Ebd. S. 106.
220 möglichen Vorwurf auf, dass viele Aspekte des Lebens in Stepford auch im Rahmen eines Science Fiction schlicht unglaubwürdig seien, denn gerade die mangelnde Plausibilität eröffnet zugleich die Interpretation, dass sich Joanna alles nur eingebildet habe. In der eindeutigen Darstellung des Films hingegen gibt es von Anfang an vereinzelte Szenen, in denen das Publikum die zwielichtigen Machenschaften der Männer beobachten kann, und die Androiden sind zunehmend klar als solche gekennzeichnet. Außerdem streitet Coba, anders als die Männer im Roman, Joanna gegenüber nichts ab, sondern antwortet auf ihre fassungslose Frage nach dem Grund des mörderisch-misogynen Handelns der Männer nur selbstbewusst: “Because we can”. Obwohl der Film also im Gegensatz zum Roman nicht die Interpretation offen lässt, dass die Schrecken von Stepford nur Joannas Einbildung entsprungen sind, sondern ihr Entsetzen ernst nimmt, ist auch Forbes letztlich nicht konsequent in seinem Entwurf. Ein Hauptgrund für die negativen Reaktionen vieler Zuschauerinnen dürfte nicht nur das diffuse Gefühl gewesen sein, dass Stepford tatsächlich den Fantasien vieler Männer entsprach – oder entspricht49 – sondern besonders das für Feministinnen enttäuschende Ende des Films. Die Identifikationsfigur Joanna ist planmäßig vernichtet und gegen einen Roboter ausgetauscht worden, im Hintergrund sieht man sogar das nächste Opfer, das bereits eingetroffen ist. Dem schrecklichen Treiben der Männer, so scheint es, wird niemals Einhalt geboten werden. Man könnte sagen, dieses Ende, das die Hoffnungen des Publikums enttäuscht, verstärke die bewusst satirische Aussage des Films. In der Tat stellt die Schlussszene der sich geregelt und harmonisch durch den Supermarkt bewegenden künstlichen Frauen den visuellen Höhepunkt des Films dar, der auch das konsumkritische Element der Thematik noch einmal vollendet ikonographisch abbildet. Gleichzeitig widerspricht der Ausgang der Handlung jedoch nicht nur den Handlungsmustern des Motivs vom künstlichen Menschen in Mythos und Literatur, sondern auch dezidiert den Konventionen sowohl des Science 49
Sowohl Ira Levin als auch der Schauspieler Peter Masterson, der die Rolle von Walter Eberhart übernahm, bedauerten in unabhängigen Äußerungen (Levin in einem Gespräch mit der Los Angeles Times, Masterson in einem auf der DVD enthaltenen Interview), dass das im Film entworfene Stepford nicht extrem genug gewesen sei, weil die Frauen lange Kleider und nicht ihre Körper zur Schau stellende Hotpants trugen. Diese Bemerkung zeugt wohl nicht nur von einem Bedürfnis, dem satirischen Stoff deutlichere Züge einer Farce zu verleihen, wie es in der Neuverfilmung von 2004 offenbar erreicht ist, sondern lässt auch erkennen, dass, wie Naomi Wolf meint, die Vision der Stepford Wives immer noch eine aktuelle Männerfantasie darstellt. Vgl. McNamara: The Art of Darkness; Naomi Wolf: Do Men Still Long for Stepford Wives? In: The Daily Telegraph (10.02.2003).
221 Fiction als auch des Horror-Genres. Es ist typisch für die Darstellung der Erschaffung eines künstlichen Menschen, wie sie im antiken Mythos und in der Folgezeit in der phantastischen Literatur behandelt wurde, dass sich Komplikationen ergeben. Der Umstand, dass sich der männliche Schöpfer skrupel- und bedenkenlos über die göttliche Instanz hinwegsetzt und der Frau ihre natürliche Rolle als Gebärende streitig macht, rächt sich gewöhnlich.50 Das gilt auch für die Darstellung dieses Motivs im Film. In Paul Wegeners Film entwickelt der aus Lehm geschaffene Golem “destruktive Kräfte, die sich auch gegen seinen Schöpfer, den Menschen, richten”, in Metropolis “entzieht sich die entfesselte Sinnlichkeit der Maschinenfrau jeglicher Kontrolle und führt in die Katastrophe”51 und in Blade Runner bedrohen die täuschend echten und lernfähigen Androiden die Existenz der zunehmend unterlegenen Menschen, ihrer Schöpfer. Nicht nur in Frankenstein kann man beobachten, dass “am Ende die tödliche Feindschaft zwischen Schöpfer und Geschöpf ” steht und “der Akt faustischer Hybris folgerichtig die Strafe nach sich [zieht]”,52 vielmehr kann man mit Recht sagen: In geradezu allen filmischen Darstellungen der Thematik “dominiert die Angst vor dem Geschaffenen, wird die gotteslästerliche, hybride Tat der Schöpfung bestraft.”53 The Stepford Wives stellt in dieser Hinsicht eine interessante Ausnahme dar. Das Experiment richtet sich nicht gegen die männlichen Wissenschaftler, es kommt zu keinem Aufstand der Androiden, lediglich zu einigen leicht kontrollierbaren Fehlfunktionen,54 die offenbar so einfach zu reparieren sind wie ein technisch weniger anspruchsvolles kaputtes Haushaltsgerät. Kurz vor dem Ende betont der Film noch einmal seine eindeutige Abhängigkeit von der Horror-Tradition. Die Szene, in der Joanna mit ihrer künstlichen Doppelgängerin konfrontiert wird, spielt sich in einem alten, dunklen Haus während eines heftigen Gewitters ab und verweist eindeutig auf die Schöpfungsszene aus James Whales Frankenstein-Verfilmung und ihre vielen Nachahmungen. Das Entsetzen, das das belebte Ungeheuer in seinem Schöpfer Frankenstein auslöst, wird hier jedoch absichtlich ausgespart. Diese bewusste Negierung der Konventionen des Science-Fiction-Monster-Films und des Horror-Genres lässt sich noch in anderer Hinsicht beobachten. Einige Merkmale des Films zeigen seine deutliche Verwandtschaft zum Horror-Subgenre des Slasherfilms. Hier ist vor allem die Szene mit dem Messer zu nennen, die dem 50 Vgl. u.a. Hans Richard Brittnacher: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt/M. 1994. S. 300. 51 Degenhardt: Zwischen Hybris und Bedrohung. S. 90. 52 Ebd. S. 91. 53 Ebd. S. 90. 54 Nach einem Autounfall benimmt sich Carol, Joannas synthetische Nachbarin, etwas auffällig, aber dieser Schaden kann anscheinend leicht behoben werden.
222 Roman entsprechend ursprünglich als Joannas Todesszene geplant war,55 und Joannas dramatische vergebliche Flucht durch die dunklen Flure der Men’s Association, die sich im Film anschließt. Wie Carol J. Clover gezeigt hat, gehört es zu den zentralen Konventionen des Slasherfilms, dass eine weibliche Figur, das so genannte Final Girl, die Verfolgung durch den Killer überlebt.56 Dieses Final Girl, das normalerweise “intelligent, watchful, levelheaded” ist und dem es meistens als einziger Figur gelingt, aus ihren Beobachtungen Schlussfolgerungen zu ziehen und die Gefahr zu erkennen, in der sie sich befindet,57 ist gewöhnlich gleichzeitig die Hauptfigur und besitzt einige typische Charakteristika, zu denen besonders eine jungenhafte Ausstrahlung und ein normalerweise männlich konnotierter Name gehören.58 The Stepford Wives enthält eine Figur, auf die diese Beschreibung zutrifft, aber sie ist bezeichnenderweise sowohl ihrer Rolle als Überlebende als auch ihrer Position als Hauptfigur beraubt. Es ist zunächst nicht Joanna selbst, die misstrauisch wird, sondern ihre Freundin Bobbie, der als erster auffällt, dass alle Frauen in Stepford sich verändern, wenn sie vier Monate dort verbracht haben. Aus dieser Erkenntnis zieht Bobbie den Schluss, dass sie mit ihrer Familie so schnell wie möglich umziehen muss. Auch Bobbie erkennt jedoch nicht, dass ihr von ihrem Ehemann Gefahr droht, und es gelingt ihr nicht mehr, Stepford zu verlassen, bevor auch sie von ihrem Mann zu einem romantischen Wochenende eingeladen wird, von dem sie buchstäblich ‚wie ausgewechselt’ zurückkehrt. Anstatt die schrecklichen Vorgänge in Stepford zu überleben, wozu ihre Eigenschaften als Final Girl sie eigentlich prädestinieren, dient sie im Buch als Werkzeug für Joannas Auslöschung und spielt im Film nicht mehr als die Rolle eines Katalysators, der Joanna erst die Augen öffnet, als es bereits zu spät ist. Indem sowohl im Roman als auch im Film die Kräfte triumphieren, die die Auslöschung der Identifikationsfigur erreicht haben, wird die Existenz einer kritischen Botschaft in Frage gestellt und die offenbar erwünschte Deutung des Films als feministische Gesellschaftssatire in Zweifel gezogen. Silvers Interpretation des Films als feministisches Dokument in der Tradition engagierter Literatur macht es sich etwas zu einfach. Es findet in The Stepford Wives zwar zweifellos eine Auseinandersetzung mit zentralen Anliegen der Neuen Frauenbewegung statt, aber es lässt sich kein eindeutiges feministisches Engagement erkennen. Vielmehr muss man Ella Taylor zustimmen, die betont, dass die
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Vgl. Levin: The Stepford Wives. S. 111–112. Vgl. Clover: Her Body, Himself. S. 86. Vgl. Clover: Her Body, Himself. S. 90. Vgl. ebd. S. 86.
223 unheimliche Atmosphäre, die der Film als Thriller entfaltet, sich hauptsächlich aus einer Quelle speist: “an […] ambivalence toward the very women’s movement it sought to champion”.59 Abschließend lässt sich sagen, dass The Stepford Wives sich der alten Thematik vom künstlichen Menschen und ihrer tradierten Variante von der Erschaffung einer artifiziellen Frau annimmt – unter Bezugnahme auf aktuelle Entwicklungen und Konflikte in der Beziehung der Geschlechter, wie sie in den siebziger Jahren vor dem Hintergrund der Neuen Frauenbewegung zu spüren waren. Roman und Film sind sowohl als feministisch als auch als antifeministisch verstanden worden, und besonders die unaufgelöste Ambiguität des Romans lässt letztlich beide Interpretationen zu. Gleichzeitig reflektiert die aus weiblicher und männlicher Sicht unterschiedlich bewertete Handlung die beiden dominanten Deutungsmuster, die das Motiv vom künstlichen Menschen in der Geschichte des Films erfahren hat. Sowohl das Verlangen, künstliches Leben zu erschaffen, als auch die Angst vor Kontrollverlust und die Furcht, möglicherweise am Ende selbst durch einen Androiden ersetzt zu werden, spiegeln sich in The Stepford Wives.
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Ella Taylor: The Stepford Wives. In: LA Weekly ‹http://www.laweekly.com/ film/film_results.php?showid ⫽ 2976› (17.06.2004).
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Silke Arnold-de Simine
Ich erinnere, also bin ich? Maschinen – Menschen und Gedächtnismedien in Ridley Scotts Blade Runner (1982/1992) In Ridley Scott’s science fiction film Blade Runner (1982/92) the androids do not only fight for a self-determined future but also for a past, that is considered characteristic of ‘true’ human beings. Yet a careful analysis of Scott’s films reveals that it is not the possession of memories that provides an exact distinction between humans and robots. For, Blade Runner constantly emphasises the role of media such as photography, film and literature in the conception of memory. Against the background of contemporary theories that stress the imaginary character of memory the ‘authenticity’ of a lived past is questioned and thus the border between human and android becomes very vague. A second aspect highlighted in this article is the gendered nature of the relation between the male/human creator and the female/articifial creation in Blade Runner that places the film in a long tradition of automatons and artificial people.
I. Einleitung Die Frage, wo Natur aufhört und Künstlichkeit bzw. kulturelle (Über-)Formung beginnt, ist nicht nur innerhalb der Gender Studies umstritten. Auch in den Natur- und Technikwissenschaften muss diese Grenzziehung, wie die in regelmäßigen Abständen auflebenden Diskussionen um die Gentechnologie oder die Künstliche Intelligenz zeigen, immer wieder neu ausgehandelt werden. Dabei melden sich Stimmen aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zu Wort, so etwa Vertreter der Kirchen oder der Politik. Diese Diskussionen münden letztlich immer in die Frage, was den Menschen eigentlich von anderen (Lebe-)Wesen unterscheidet. Diese Frage ist im Laufe der Zeit unterschiedlich beantwortet worden. Als Distinktionsmerkmale hat man wahlweise die Seele und die Empfindungsfähigkeit angeführt, aber auch den Intellekt, die Sprache, Kreativität und Originalität, Selbstbewusstsein als Vorstellung der eigenen Identität, Willens- und Handlungsfreiheit oder die Fähigkeit zu ethischem Handeln. In diesem Zusammenhang ist in den letzten beiden Jahrzehnten ein Kennzeichen in den Mittelpunkt gerückt und zum Leitmotiv der Kulturwissenschaften avanciert: das Gedächtnis. Das subjektive und mehr noch das kollektive Gedächtnis befähigen demnach zu einer identitätsstiftenden Aktualisierung der Vergangenheit, die es uns erlaubt, ein moralisches Verhältnis zu dieser Vergangenheit zu entwickeln, das über das Bestreben nach einer rein faktenbezogenen Rekonstruktion hinausgeht. In Ridley Scotts Blade Runner (USA 1982, Director’s Cut 1992) werden diese Funktionen des Gedächtnisses gleich auf mehreren Ebenen thematisiert
226 und mit Themen wie Moral, Identität und der Frage nach dem, was den Menschen ausmacht, verknüpft: Auf der Ebene der Handlung und des Settings1 wird ein Zukunftsszenario entworfen, in dem Androiden als die Sklaven der Menschen existieren. Durch ein selbstreferentielles Verweisspiel der verschiedenen Filmfassungen untereinander werden voneinander abweichende Deutungen dieses Szenarios angeboten. Und schließlich zitieren die Filmfassungen Genremerkmale, Motive aus der Geschichte des künstlichen Menschen und christlich-mythologische Symbole, die sie als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses voraussetzen und aufrufen. Es geht um die Frage, inwiefern Erinnerungen an eine Vergangenheit, die wir nicht persönlich erlebt haben und die uns nur medial vermittelt wurde, unsere individuelle und kulturelle Identität ausmachen und inwiefern diese unverzichtbar sind für die Ausbildung von Moralität und damit auch eines Gemeinwesens. Das Bewusstsein von und das Bedürfnis nach Vergangenheit (und damit auch Zukunft) bildet zunehmend den Dreh- und Angelpunkt unserer Definition von “Menschlichkeit”. Dazu gehört auch eine veränderte Auffassung von dem, was Erinnerung ist und leisten kann: Der Schwerpunkt liegt nicht mehr auf dem erinnernden Subjekt, sondern auf dem Gedenken als kollektivem moralischen Akt und als Kulturleistung, was nur gelingen kann, indem die Erinnerungen in permanente Gedächtnismedien, wie etwa die Literatur, die Photographie oder den Film, ‘ausgelagert’ werden.
II. Photographie als Gedächtnismedium In Blade Runner sind die Androiden, die so genannten Replikanten,2 den Menschen so ähnlich geworden, dass sie nur durch ein aufwändiges Testverfahren, den so genannten Voight-Kampff-Test, von ihnen unterschieden werden können. In diesem Test wird mittels unwillkürlicher physiologischer Reaktionen die Fähigkeit zur Empathie und zu (adäquaten) emotionalen Reaktionen auf die Probe gestellt.3 Die Replikanten entwickeln mit der Zeit ein eigenes 1
Vgl. Marshall Deutelbaum: Memory/Visual Design: The Remembered Sights of Blade Runner. In: Literature/Film Quarterly 17/1 (1989). S. 66–72. Deutelbaum weist in seinem Aufsatz darauf hin, dass die Geschichte und Entwicklung der Stadt in den Bauwerken dieses dystopischen Stadtszenarios und ihren Ergänzungen sichtbar bleibt. Die Architektur kann wie ein Palimpsest gelesen werden. Deutelbaum argumentiert überzeugend , dass das “visual design program” des Films auf dem Prinzip der “layered accumulation” basiert. S. 69f. 2 “Replicating” ist ein Begriff aus der Biologie und bedeutet soviel wie einen Organismus, genetisches Material oder eine Zelle exakt zu reproduzieren. 3 Darin kann möglicherweise eine Anspielung auf den so genannten “Turing-Test” gesehen werden, der 1950 von dem Mathematiker Alan Turing entwickelt wurde. In ihm werden Fragen an eine künstliche Intelligenz und an einen Menschen gestellt,
227 Gefühlsleben, doch sie gelten als zu unerfahren, um mit komplexen Gefühlen wie Liebe und Hass umgehen, sich in andere einfühlen und moralische Standards entwickeln zu können, was sie in den Augen der Staatsgewalt gefährlich macht. Daher ist ihre Lebensdauer auf vier Jahre beschränkt und ihre Anwesenheit auf der Erde ein Vergehen, für das sie von einer Spezialeinheit, den so genannten Blade Runners, gejagt und getötet werden. Was die Replikanten also von den Menschen trennt, ist der Mangel an Lebenserfahrung und Erinnerungen. Sie versuchen sich nicht nur eine Zukunft, sondern auch eine Vergangenheit zu schaffen, eine Kindheit, eine Familie, eine Mutter, die sie nie hatten. Entsprechend aggressiv reagiert der Replikant Leon, als er im Voight-Kampff-Test nach seinen Erinnerungen an seine Mutter gefragt wird: Mit den Worten “Let me tell you about my mother”4 erschießt er den Interviewer. “What ‘catches’ the replicant is not the absence of empathy, but rather the absense of a past, the absence of memories.”5 Leon versucht diesen Erinnerungsmangel zu kompensieren, indem er eigene und fremde Amateurphotographien als Nachweis einer Vergangenheit sammelt, die er selbst nur in eingeschränktem Maße besitzt. Photos fungieren als Erinnerungsprothesen, um sich eine nie gelebte Vergangenheit anzueignen. Seine eigenen Photos sind vor allem Schnappschüsse, auf denen der unerfahrene Photograph alltägliche Momente festgehalten hat und auf denen die Abgebildeten teilweise gar nicht oder nur unter Schwierigkeiten erkennbar sind.6 Diese Photos spiegeln die Anteilnahme an dem Aufgenommenen: So dokumentieren Familienphotos den Zusammenhalt dieser Gruppe von Menschen. Wie viel Leon seine “precious photos”7 bedeuten, kann der Zuschauer daran ablesen, dass er unter Lebensgefahr in das von der Polizei überwachte Hotel zurückkehrt, um sie wieder in seinen Besitz zu bringen. Seine Photographien ermöglichen Leon die Orientierung in einer fremden Umgebung: “Wie Fotografien dem Menschen den imaginären Besitz einer Vergangenheit
wobei es die Aufgabe des Testers ist, der nicht weiß, welcher Proband der Computer ist, diesen herauszufinden. Bis heute konnte noch kein Computer diesen Test bestehen. 4 Als Deckard sich später die Tonbandaufnahme des Vorfalls anhört, wird daraus “I’ll tell you about my mother”. Der aufmerksame Zuschauer steht an dieser Stelle vor der Wahl entweder seiner eigenen Erinnerung zu misstrauen oder sich die ursprüngliche Szene noch einmal anzuschauen. 5 Alison Landsberg: Prosthetic Memory. Total Recall and Blade Runner. In: The Cybercultures Reader. Hg. von David Bell und Barbara M. Kennedy. London – New York 2002. S. 190–201. Hier S. 197. 6 Bei näherer Prüfung wird deutlich, dass sich diese Photos in ihrer Komposition an die holländische Genremalerei und hier besonders an Vermeer anlehnen. Vgl. Deutelbaum: Memory/Visual Design. 7 Die Zitate aus dem Film basieren auf dem “reverse-engineered transcript”, vgl. http://www.brmovie.com/Downloads/Docs/BR_Multi-Script_by_Netrunner.doc.
228 vermitteln, die unwirklich ist, so helfen sie ihm auch, Besitz von einer Umwelt zu ergreifen, in der er sich unsicher fühlt.”8 Rachael unterscheidet sich von Leon und den anderen Nexus 6-Modellen, da ihr als neuester Entwicklung versuchsweise autobiographische Erinnerung implantiert (false memory9) wurden, die sie mit einer fiktiven Kindheit ausstatten und es ihr ermöglichen, ihre Erfahrungen narrativ zu ordnen und die Vorstellung einer kontinuierlichen Identität auszubilden. Tyrell erklärt das Experiment folgendermaßen: We began to recognize in them … a strange obsession. After all they are emotionally inexperienced with only a few years in which to store up the experiences which you and I take for granted. If we gift them with a past … we create a cushion or pillow for their emotions and consequently we can control them better.
Darauf erwidert Deckard: “Memories. You’re talking about memories.” Durch diese synthetischen Erinnerungen, die Rachael für authentisch hält, weil sie über ihren Status als Android nicht informiert ist, wird sie “more human than human”.10 Was die perfektionierte Replikantin so “menschlich” macht, ist vor allem die Trauer, mit der sie auf die Einsicht reagiert, dass die Mutter auf ihren Photographien nicht ihre Mutter ist, dass ihre Erinnerungen nicht wirklich ihre eigenen sind, sondern einem fremden Leben angehören, dass sie nicht einzigartig ist, sondern eine Kopie von Tyrells Nichte. Ironischerweise macht sie aber genau das einzigartig – sie ist ein Prototyp, dessen Ausstattung mit Erinnerungsimplantaten sich nicht bewährt hat und der darum wohl auch nicht in Serie gehen wird. Im Unterschied zu den anderen Replikanten fehlen Rachael also nicht die Erinnerungen (an die Kindheit), es mangelt diesen Erinnerungen jedoch an Authentizität, die scheinbar allein authentisches Handeln und Empfinden garantiert. Doch sie selbst wirft die Frage auf, ob eine simulierte Erinnerung sich womöglich in ihrer Auswirkung auf den Erinnernden letztlich in nichts von einer lebensweltlich erworbenen unterscheidet.11 Denn im Ergebnis spielt es keine Rolle, ob Rachael die Klavierstunden hatte oder nicht: Erinnerung ereignet sich in der Gegenwart und für die Gegenwart. Auch die implantierte
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Susan Sontag: Über Fotografie. Übers. aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch. München Wien 1978. S. 15. 9 Die Forschungen von Elizabeth F. Loftus zeigen, dass es auch ohne die in Blade Runner dargestellte Zukunftstechnologie möglich ist, Menschen “Erinnerungen” zu suggerieren, die dann von diesen für authentisch gehalten werden, vgl. Elizabeth F. Loftus: Creating false memories. In: Scientific American 277 (1997). S. 70–75. 10 So lautet der Werbeslogan der Tyrell Corporation, welche die Replikanten herstellt und kommerziell vermarktet. 11 Landsberg: Prosthetic Memory. S. 191.
229 Erinnerung ermöglicht es Rachael, Klavier zu spielen.12 In ihrer Studie zu Familienphotos und -erinnerungen beschreibt dies Kuhn folgendermaßen: Besides in its nature referring to events which cannot be retrieved or fully relived, then, remembering appears to demand no necessary witness, makes no insistence on the presence of the rememberer at the original scene of the recollected event. Remembering is clearly an activity that takes place for, as much as in, the present. Is memory then not understood better as a position or a point of view in the current moment than as an archive or a repository of bygones?”13
Unser aller Identität wird maßgeblich durch Erinnerungen geformt, die nicht unsere eigenen sind, ja sogar durch Erinnerungen an Ereignisse, die wir gar nicht selbst erlebt haben. Dies wird möglich durch Gedächtnismedien, die Erinnerungen in Form von Bildern, Symbolen, Geschichten oder Ritualen überliefern, auch wenn die Zeitzeugen bereits nicht mehr existieren. Im Falle unserer individuellen Vergangenheit sind dies vor allem (Familien-) Photographien. Daher hat man Rachael nicht nur mit Erinnerungen, sondern auch mit den dazugehörigen Photos ausgestattet. Sie versucht, sich ihrer Vergangenheit über Familienphotos zu vergewissern, die sie als Beweis für die Existenz ihrer Mutter und einer gelebten Kindheit ansieht. Das Photo, das Rachael vorweist, zeigt vorgeblich sie selbst auf dem Schoß ihrer Mutter, beide lächeln in die Kamera. Sie sitzen auf einer sonnenbeschienenen, weißen Veranda eines Hauses, das auf eine ländliche Gegend schließen lässt. Nachdem Deckard sich das Photo lange genug angeschaut hat, ‘erwacht’ es – metaphorisch, aber auch wörtlich gesprochen – ‘zum Leben’: die Figuren bewegen sich und man hört die Stimmen von spielenden Kindern im Hintergrund. Das Photo ist also eigentlich gar keines, sondern das Still einer Filmaufnahme, die für einen kurzen Moment in Bewegung gesetzt wird. Deckards Blick aktualisiert die eingefrorene Szene in der Erzählgegenwart, erweckt sie zum Leben, denn Rachaels Photo verweist nicht nur auf ihre eigene Kindheit, sondern konnotiert Kindheit ganz allgemein. Geht man von der Erzählgegenwart des Films aus, also dem Jahr 2019, so müsste das Photo, das Rachael als etwa Sechsjährige zeigt, um das Jahr 2000 entstanden sein. Doch weder die Machart des Photos noch das darauf Abgebildete zeigen Anzeichen des dystopischen Zukunftszenarios, das der
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Kaja Silverman: Back to the Future. In: Camera Obscura 27 (1991). S. 109–132. Hier S. 119. Eine ähnliche Szene findet sich in der Verfilmung von Mary Shelley’s Frankenstein (1994), in der die Kreatur eine Flöte spielt und sich fragt, ob dies sein eigenes Können ist oder dem Gedächtnis einer Person entspringt, aus der er gemacht wurde. 13 Annette Kuhn: Family Secrets. Acts of Memory and Imagination. London – New York 2002. S. 128.
230 Film entwirft und das sich teilweise aus den visuellen Codes des Film Noir14 (einem auf den 1930/40er Jahren basierenden Retro-Look), teilweise aus denen des Science Fiction Genres (Cyberpunk) speist: Von Kleidung und Frisuren zu schließen, stammt das Photo allem Anschein nach aus den 1970er oder frühen 1980er Jahren. Obwohl die Erinnerungen als synthetische und implantierte überführt werden, stellt der Film nie die Frage, ob die dazugehörigen Photos gefälscht sind oder eben nur nicht Rachael, sondern ein anderes Mädchen zeigen. Diese Frage scheint sich zu erübrigen, denn Photos verweisen per se auf etwas, das sie nicht sind. Sie sind Aufhänger, Auslöser oder gar Ersatz für Erinnerungen, über die man als solche gar nicht (mehr) verfügt. Das Gedächtnis ist kein Speicher, sondern Teil unserer Imagination. Erinnerungen sind nicht als solche ‘eingelagert’, sondern werden für die jeweils aktuelle Erinnerungssituation immer wieder als solche neu geschaffen. Sie fungieren als Sinngebungs- und Orientierungshilfe für die Gegenwart, in der sie aufgerufen werden. Das Photo kann auch als memento mori gesehen werden,15 indem es einen Zustand in der Zukunft antizipiert, für den das, was im Bild festgehalten werden soll, bereits der Vergangenheit angehört. Es impliziert den Verlust des Gezeigten, den Versuch, etwas festzuhalten, was nicht festzuhalten ist. Rachaels Photographien stehen wie alle Photographien für eine Absenz und stellen ihre Identität ebenso sehr in Frage, wie sie sie zuvor scheinbar gestützt haben: “photographs may ‘speak’ silence, absence, and contradiction as much as, indeed more than, presence, truth or authenticity; […] they can also be used as a means of questioning identities and memoires and of generating new ones.”16 Der Film thematisiert an keiner Stelle, wie Rachael die Erinnerungen “eingepflanzt” wurden. Er arbeitet jedoch mit den Gedächtnismetaphern des Photos und der Filmsequenz. Diesen veräußerlichten Medien entsprechend sind Erinnerungen nicht ausschließlich dem Einzelnen vorbehalten, sondern auch anderen zugänglich. So hat Deckard offensichtlich Zugang zu Rachaels Erinnerungen, aber auch der Polizist Gaff kann mit einem Einhorn-Origami auf Deckards Tagtraumsequenz eines fliehenden Einhorns anspielen. 14
Mittels des Zitierens dieses Genres ruft der Film auch hier Seherinnerungen des Publikums auf, die er jedoch unterläuft, da er die Gattungskonventionen nicht einlöst: “the film addresses the memory of its audience by working in – and with – a style, film noir, that cannot help but evoke nostalgia. But […] we are contronted by the nostalgia for memory itself, for a memory of something more than a film genre, and for a form of remembering that is something other than a cinematic projection.” Forest Pyle: Making Cyborgs, Making Humans. Of terminators and blade runners. In: The Cybercultures Reader. S. 124–137. Hier S. 131. 15 Sontag: Über Fotografie. S. 21. 16 Kuhn: Family Secrets. S. 154.
231 Neben Leon und Rachael ist Deckard die einzige weitere Figur im Film, die sich über Familien- und Erinnerungsphotos mit der eigenen Identität auseinandersetzt. Deckard ist ein so genannter “Blade Runner” und damit zunächst einmal der Antipode der Replikanten. Der Film legt jedoch nahe, dass Deckard seine Tätigkeit als Blade Runner aufgegeben hat, weil es ihm zunehmend schwer fiel, die diffuse Trennlinie zwischen Menschen und Replikanten zu ziehen, wodurch nicht nur sein Beruf, sondern seine gesamte Identität als Mensch in Frage gestellt wird. Als “der Beste” wird er jedoch gezwungen, diesen letzten Fall zu übernehmen und die auf die Erde geflohenen Replikanten Roy Batty, Leon, Pris und Zora zu jagen. Die Spur, die Deckard verfolgt, führt ihn zu Leons Photos, die ihm als zentrale Anhaltspunkte dienen: “a photograph can be material for interpretation – evidence in that sense: to be solved, like a riddle; read and decoded, like clues left behind at the scene of a crime.”17 Doch im Unterschied zur klassischen Detektivgeschichte scheint Deckard kein Rätsel zur Lösung aufgegeben, die sonst übliche Frage nach dem “whodoneit”, nach der Rekonstruktion der Vergangenheit entfällt. Es geht allein darum, die Replikanten zu finden und zu eliminieren. Warum die Replikanten auf die Erde gekommen sind und damit ihr Leben riskieren, ist für den Polizeiinspektor eine untergeordnete Frage, entwickelt sich für Deckard aber zum zentralen Rätsel ihrer und seiner eigenen Existenz. Der Kontext, in dem Deckard die Photos untersucht, ist vielsagend: Zuvor hatte ihm Rachael das Kinderbild als scheinbaren Beweis vorgelegt. Die folgende Szene zeigt Deckard am Klavier, vor sich aufgereiht, so muss man annehmen, seine eigenen Familienbilder und Leons Photo. Deckards Photos zeigen, wie die Photos der beiden anderen, ausschließlich Menschen und vor allem Frauen. Es sind in schwarz-weiß gehaltene Porträtphotographien und Schnappschüsse, die den geriffelten Rand alter Photographien aufweisen und augenscheinlich aus den 1930er/40er Jahren und teilweise sogar aus dem 19. Jahrhundert stammen. Es kann sich also nicht um Bilder aus Deckards eigener Kindheit handeln, ja er kann die Menschen auf den Photos noch nicht einmal persönlich gekannt haben. Seine Erinnerungen in Bezug auf die Abgebildeten können bestenfalls aus Geschichten stammen, die ihm erzählt worden sind, ebenso wie Rachael eine Geschichte zu ihrem Photo erzählt wurde. Aber im Unterschied zu Rachaels und Leons Photos unterzieht er seine eigenen Photos keiner genaueren Prüfung über die nostalgische und sentimentale Betrachtung hinaus. Leons Photo, das zunächst lediglich als wenig aussagekräftiger Schnappschuss des kaum erkennbaren Roy Batty erscheint, durchforstet Deckard mit Hilfe einer so genannten Esper-Maschine. Während die Vergrößerung eines 17
Kuhn: Family Secrets. S. 13.
232 Photos dieses letzten Endes lediglich in verschwommene Bildpixel auflöst, ermöglicht die Esper-Bildanalyse einen Zugang zu Details, die dem bloßen Auge gewöhnlich verborgen bleiben würden. Die in den Photos festgehaltene Vergangenheit kann betreten werden wie ein Raum und Details können ohne Qualitätsverlust vergrößert werden. Neben der unkenntlichen Hauptperson des Photos, die durch den aufgestützten Arm ihr Gesicht verdeckt, entdeckt Deckard in den Tiefen des Raumes eine Spiegelreflexion von Zhora, einer der vier geflohenen Replikanten. Zur Identifikation benötigt Deckard dieses Photo nicht, da er bereits zu Beginn mit Aufnahmen der Replikanten vertraut gemacht wurde. Die Indirektheit dieses Bildes gibt zu denken: Die schlafende Zhora wird von der verspiegelten Tür eines Schranks reflektiert, die wiederum von einem Konvexspiegel eingefangen wird, der in einem Zimmer hängt, das nur durch eine Türöffnung auf dem Photo zu sehen ist: Was Deckard letztendlich ausdruckt, ist das Abbild einer gespiegelten Reflexion. Unter Reflexion versteht man auch die prüfende Betrachtung, das Nachdenken über Wahrnehmungen und der eigenen Einstellung dazu. Das Bild ist eine Mahnung an Deckard, seine Haltung gegenüber den Replikanten zu überdenken. Der Spiegel galt in der Antike als das Abbild der Seele, dementsprechend haben die Seelenlosen, wie etwa der Vampir, kein Spiegelbild. Die Replikanten dagegen haben diese Abbilder von sich selbst.
III. Film als Gedächtnismedium Der Film basiert zwar auf Philip K. Dicks Roman Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968), rückt das Thema “Erinnerung” allerdings deutlich stärker in den Mittelpunkt als die Literaturvorlage, von der nur die zentrale Handlung übernommen wurde.18 Zudem gibt es mehrere Fasssungen des Films, einen so genannten “Workprint” (1982), den “US Domestic Cut” (1982), den “International Cut” (1982) und den “Director’s Cut” (1992). Durch diese unterschiedlichen Fassungen ergeht geradezu die Aufforderung an den Zuschauer, die Seherfahrungen der jeweiligen Versionen miteinander zu vergleichen und den Abweichungen besondere Bedeutung zuzumessen. Als der Film 1982 in die Kinos kam, musste sich Scott den Wünschen der Produzenten beugen und die Figur Deckards mittels eines als “voice-over” eingeblendeten inneren Monologs als zentrale Identifikationsfigur einsetzen, durch dessen Perspektive die Ereignisse kommentiert werden und in dessen Gedanken und 18
“The book locates the defect [of the replicants] in the lack of empathy; the movie cogently locates the defect in the lack of maturity or developmental experiences which reamin with us through memory.” Marilyn Gwaltney: Androids as a Device for Reflection on Personhood. In: Retrofitting Blade Runner: Issues in Ridley Scott’s Blade Runner and Philp K. Dick’s Do Androids Dream of Electric Sheep? Hg. von Judith B. Kerman. Bowling Green, OH 21997. S. 32–39, hier S. 35.
233 Gefühle die Zuschauer direkten Einblick gewinnen. Zehn Jahre später hat Scott seine “Director’s Cut”-Fassung herausgebracht, in der er diese Auflagen rückgängig gemacht hat. Neben dem Verzicht auf das “voice-over” hat Scott auch das Ende, in dem Deckard und Rachael in eine Art grünen Garten Eden fliegen, im “Director’s Cut” gestrichen. Außerdem wurde Deckards Tagtraumsequenz eines durch einen Wald galoppierenden Einhorns eingefügt.19 Welche der verschiedenen Fassungen nun als Original gelten kann und was Replikat ist, bleibt auch in Bezug auf den Film selbst offen und ist weiterhin Gegenstand von Diskussionen und wissenschaftlichen Abhandlungen. Auch wenn jede Fassung des Stoffes für sich selbst stehen und verstanden werden kann, so eröffnet Scott doch ein Verweisspiel, indem er durch die von ihm vorgenommenen Änderungen auf frühere Lektüre- oder Seherinnerung anspielt und zu Neuinterpretationen des zuvor anders Gesehenen anregt. Dabei macht er den Zuschauer auf Abweichungen von früheren (Seh-)Erinnerungen aufmerksam und überlässt es diesem, nach Antworten auf die dadurch aufgeworfenen Fragen zu suchen. Die Eingriffe des Regisseurs arbeiten sogar gerade darauf hin, diese eindeutige Auflösung zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Der “Director’s Cut” hält Deckards eigenen menschlichen Status absichtsvoll in der Schwebe und nähert ihn damit den Replikanten an, ohne ihn eindeutig als einen solchen zu überführen. Letztlich sprechen ebenso viele Argumente gegen Deckards Status als Replikant wie dafür. Das hat dazu geführt, dass diese im Grunde unentscheidbare Frage zu einem der meistdiskutierten Themen in den Internetforen und den zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln wurde.20 Für Deckards ambivalenten Status werden vor allem folgende Anzeichen ins Feld geführt: Ebenso wie Deckard Rachael davon überzeugt, dass ihre Erinnerungen implantiert wurden, indem er ihr von Kindheitserinnerungen erzählt, zeigt das von dem Polizisten Gaff am Ende des Films vor Deckards Tür hinterlassene Einhorn-Origami, dass er Einblick in Deckards Erinnerungen hat, ist doch der einzige weitere Verweis auf ein Einhorn ein einzig Deckard zuschreibbarer Tagtraum. An mehreren Stellen des Films finden sich Hinweise auf Deckards Selbstzweifel, was seine Identität angeht. So stellt er sich selbst 19
Das Fabelwesen wird in der antiken Überlieferung mit der unsterblichen Thetis identifiziert, die sich der Verbindung mit einem Sterblichen zu entziehen sucht, indem sie sich in ein Einhorn verwandelt. In der christlichen Kunst gilt das Einhorn als Symbol Christi oder der Menschwerdung Gottes. Es kann der Legende nach nur im Schoße einer Jungfrau gezähmt werden. Gert Richter und Gerhard Ulrich: Lexikon der Kunstmotive. Antike und christliche Welt. Gütersloh 1978. S. 85. Hier kann das Einhorn als Menschwerdung Rachaels gelesen werden, die, wie das Fabelwesen, die einzige ihrer Art ist. Es kann aber auch mit Deckard identifiziert werden, der durch die Jungfrau Rachael ‘gezähmt’ wird. 20 Vgl. ⬍www.brmovie.com⬎ und ⬍www.br-insight.com⬎.
234 mit den Androiden auf eine Stufe: “Replicants weren’t supposed to have feelings; neither were Blade Runners”. Er gibt Rachael keine Antwort auf die Frage, ob er sich selbst schon einmal dem Voight-Kampff-Test unterzogen habe. Auch Roy Batty, der Anführer der Replikanten, die auf der Suche nach “mehr Leben” illegal auf der Erde gelandet sind, provoziert Deckard mit der ambiguen Aufforderung: “Show me what you are made of ” und Zhora fragt Deckard: “Are you for real?” Noch bevor Deckard Rachael dem VoightKampff-Test unterziehen kann, nimmt diese ihn darüber ins Kreuzverhör, wie er sich sicher sein könne, noch nie versehentlich einen Menschen “aus dem Verkehr gezogen” zu haben. Der hinzutretende Tyrell fragt scherzhaft, ob dies ein neuer Empathie-Test sei und macht damit noch mal deutlich, was der Test eigentlich abprüft: Denn wenn erst Empathie einen Menschen menschlich macht, geht es nicht um das wie immer geartete ‘Wesen’ des Probanden, sondern vielmehr um die Einstellung zu einem Gegenüber: Die Frage ist also nicht: “Was ist Rachael?”, sondern “Was ist Rachael für mich?” – eine Entwicklung die der Film mit der Figur Deckards nachvollzieht. Zu Beginn hat Deckard keinerlei Empathie gegenüber den Replikanten erkennen lassen und erst mit der Zeit entwickelt er Mitgefühl, ja sogar Liebe. Der Film zeigt also nicht nur die menschlichen Seiten der Replikanten, er führt ebenso sehr Deckards Menschwerdung vor. Offen bleibt auch die Frage, warum Roy Batty gerade Deckard vor dem Tod rettet, wo er doch bis dahin alle Menschen, die ihm nicht mehr weiterhelfen konnten oder ihm gar im Weg standen, erbarmungslos getötet hat. Ist auch das ein Hinweis auf Deckards Replikantenstatus oder beweist Roy Batty damit vielmehr seine Fähigkeit zum Mitgefühl und erweist sich letztlich auch hier als den Menschen überlegen? Wird Deckard am Leben gelassen, um Zeugnis abzulegen? Zu einem früheren Zeitpunkt erklärt Roy Batty dem genetischen Ingenieur der Nexus 6-Augen: “if only you could see what I’ve seen with your eyes!” Denn Roy Batty beklagt nicht nur die Unmöglichkeit, länger leben zu können, sondern den unwiderruflichen Verlust des von ihm Erlebten: “I’ve seen things you people wouldn’t believe … Attack ships on fire off the shoulder of Orion … I watched c-beams glitter in the dark near the Tanhauser Gate. All those moments will be lost in time”. Die Szene legt nahe, dass die Fähigkeit sich zu erinnern, die einen wichtigen Teil der Identität der Androiden ausmacht, ihnen auch hilft, empathische Fähigkeiten auszubilden: Sich an Erlebnisse und Emotionen zu erinnern, die nicht das eigene Ich im Hier und Jetzt betreffen, mit denen man sich aber dennoch identifiziert, schult die Fähigkeit, sich in Andere und Anderes hineinzuversetzen.21 Erinnerung ist also
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Deutelbaum spricht von “the humanizing effects of visual memory” ohne genauer zu erklären, was er darunter versteht, Deutelbaum: Memory/Visual Design. S. 68.
235 eine notwendige Voraussetzung um Mitgefühl und damit Moral zu entwickeln. Die Tragik der Replikanten bestünde also darin, dass ihre (verkürzte) Existenz einem Paradoxon geschuldet ist: Ihre Lebensspanne ist auf vier Jahre begrenzt, weil ihre Unerfahrenheit im Umgang mit den in dieser Zeit ausgebildeten Emotionen sie sonst unberechenbar machen würden. Andererseits nimmt man ihnen damit auch jede Möglichkeit, durch Lebenserfahrung überhaupt erst Moralität auszubilden. Der letzte Satz des “Director’s Cut” ist Deckards Erinnerung an Gaffs Bemerkung: “It’s too bad she won’t live. But then again – who does?”, der die gleichermaßen zeitlich begrenzte Dauer der menschlichen wie auch der androiden Existenz ins Blickfeld rückt. Während die Maschinen herkömmlicherweise als memento mori den Menschen an seine Sterblichkeit erinnern, eben weil sie dieser nicht unterworfen sind, macht die Replikanten gerade die Tatsache, dass die Zeit gegen sie läuft, menschlich. Das Ende der “Director’s Cut”-Fassung zieht in Zweifel, ob die klare Unterscheidung zwischen Menschen und Androiden aufrechterhalten werden kann: Beide haben eine konstruierte Vergangenheit und eine begrenzte Zukunft. Genauso unmöglich ist es jedoch für Deckard und Rachael, diese Grenze einfach zu ignorieren, denn Rachael gilt als Replikantin und ist als solche auf der Erde ganz konkret mit dem Tode bedroht.22 Der Entzug des Happy Ends im “Director’s Cut” lässt dieses umso schmerzlicher vermissen, als es im “International Cut” mit der Flucht ins ‘Paradies’ noch einen Ausweg aus diesem Dilemma versprochen hat.
IV. Das Automatenmotiv als Teil der Literaturgeschichte und des kulturellen Gedächtnisses Sowohl das Buch als auch der Film Blade Runner basieren auf einer langen Tradition des Automatenmotivs und schöpfen aus dem reichen Fundus des kulturellen Gedächtnis, das in diesem Zusammenhang eine Reihe von Motiven ausgebildet hat, welche die zentralen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Schöpfer und Kreatur, Körper und Seele, Mann und Frau veranschaulichen.23 Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts dachte Julien Offray de La Mettrie den Menschen als Maschine Gottes (L’Homme Machine, 1747). Von dort war es nur noch ein kleiner Schritt, die Maschinen als die besseren Menschen zu
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Vgl. Brain Carr: At the Tresholds of the Human Race, Psychoanalysis, and the Replication of Imperial Memory. In: Cultural Critique 39 (1998). S. 119–150. Hier S. 122. 23 Dafür dass Blade Runner selbst zu einem Teil dieses kulturellen Gedächtnisses wird, sorgt seine Archivierung im National Film Register der USA, als einer von 25 “culturally, historically or aesthetically” bedeutsamen Filme, die alljährlich vorgeschlagen werden, um sie der Nachwelt zu überliefern. William M. Kolb: Reconstructing the Director’s Cut. In: Retrofitting Blade Runner. S. 294–301. Hier S. 300.
236 entwerfen. Die neuen Maschinen des Industriezeitalters waren schneller, unermüdlicher und effektiver als die Arbeiter, die von ihnen um Lohn und Brot gebracht wurden.24 Ein Szenario, in dem die Maschinen die besseren Menschen, die Menschen dagegen die schlechten Maschinen der Engel sind, entwirft Jean Paul in seiner Satire Menschen sind die Maschinen der Engel (1785). In diesem Gedankenexperiment unterscheiden sich die Maschinen von den Menschen nur dadurch, dass sie Maschinen zweiter Ordnung, also von Maschinen hergestellte Maschinen sind. Beide ähneln sich darin, dass sie von einer fremden, übergeordneten Macht gesteuert werden. Schon bei Jean Paul ist die klare Abgrenzung zwischen Mensch und Maschine nicht mehr möglich. Er entwirft Szenarios, in denen das Ich-Bewusstsein, “Ideen” und “Erinnerungen”25 nichts anderes als das Resultat von Schwingungen feinster Fibern und damit medial erzeugt sind.26 Die Automaten bilden also nicht nur die äußere Erscheinung der Menschen ab, ihre Mechanik imitiert auch deren Bewegungen sowie ihre kognitiven und kreativen Betätigungen. Wenn etwa Rachael Klavier spielt, unterstreicht diese musische Äußerung scheinbar ihre Menschlichkeit oder Beseeltheit. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Automaten betont dieses Tun jedoch gerade ihre Künstlichkeit, waren doch die bekanntesten Automaten Musik-Automaten, die auf virtuose und fehlerfreie Weise ein Instrument beherrschten, so zum Beispiel Jacques de Vaucansons Querflötenspieler (1738), Henri-Louis Droz’ Harmonium-Spielerin (1773/74) oder Johann Nepomuks und Leonhard Maelzels Trompeter.27 Gleiches gilt für den Androiden Roy Batty, der sich durch das Lösen eines Schachrätsels Zugang zu seinem Schöpfer-Vater verschafft, womit auf einen der berühmtesten “Automaten” angespielt wird: den “Schach-Türken” von Wolfgang von Kempelen (1769). 24
Im Jahre 1784 nahm die erste dampfbetriebene Maschinenspinnerei ihren Betrieb in Deutschland auf. Rudolf Drux: Von der gelenkten Gliederpuppe bis zu den Dampfmaschinen beiderlei Geschlechts. In: Maschinenmenschen. Referate des Triestiner Kongresses. Hg. von Horst Albert Glaser und Wolfgang Kaempfer. Frankfurt/M. u.a. 1988. S. 81–96. Hier S. 84. 25 Jean Paul: Personalien vom Bedienten- und Maschinenmann. Palingenesien, Erstes Bändchen, Achter Reise-Anzeiger (1798). In: Kleinere erzählende Schriften 1796–1801. Sämtliche Werke. Bd. 4/1. Hg. von Norbert Miller. Darmstadt 2000. S. 901–907. Hier S. 907. 26 Roland Innerhofer: Die technische Modernisierung des künstlichen Menschen in der Literatur zwischen 1800 und 1900. In: Nach dem Menschen. Der Mythos einer zweiten Schöpfung und das Entstehen einer posthumanen Kultur. Hg. von Bernd Flessner. Freiburg i.B. 2000. S. 69–99. Hier S. 80. 27 Thomas Macho: Die Träume sind älter als die Erfindungen. Am Beispiel der Hofkammermaschinisten Johann Nepomuk und Leonhard Maelzel. In: Wunschmaschine – Welterfindung. Eine Geschichte der Technikvisionen seit dem 18. Jahrhundert. Hg. von Brigitte Felderer. Wien – New York 1996. S. 45–55. Hier S. 47.
237 Die neue Generation der Replikanten (Nexus 6) ist den Menschen in Kraft und Gewandtheit überlegen und in der Intelligenz zumindest ebenbürtig, die Fähigkeit zur Anteilnahme an den Gefühlen anderer wird ihnen dagegen abgesprochen. Im Voight-Kampff-Test werden sie anhand von grausamen Szenarien, so zum Beispiel anhand leidender Tiere, auf ihre Fähigkeit zum Mitgefühl getestet. Tiere sind jedoch im dystopischen Los Angeles von 2019 nahezu ausgerottet, so dass sie als unerschwinglich gelten und weitgehend durch künstliche Reproduktionen ersetzt werden müssen. Dies macht deutlich, dass sich die Menschen in der Vergangenheit den Tieren gegenüber keineswegs als besonders mitfühlend gezeigt haben, wodurch den Menschen das einzige Kennzeichen, das sie allein von nicht-menschlichen Lebewesen unterscheidet, auch noch abgesprochen werden kann. Offensichtlich dient die Unterscheidung in “menschlich” und “nicht-menschlich” nicht der Humanisierung, sondern vielmehr der De-Humanisierung der Gesellschaft. Die Ausbeutung und Zerstörung der Natur auf der Erde hat erst die Kolonisierung des Weltraums und damit auch die Erschaffung der Replikanten notwendig gemacht. Auch die Replikanten müssen als “nicht-menschlich” klassifiziert werden, da sie nur auf dieser Grundlage als Sklaven in so genannten “off-word-colonies” gehalten und kommerziell ausgebeutet werden können. Nicht die Maschinen werden der Natur entgegengesetzt, sondern vielmehr der Mensch, der das von ihm Geschaffene ebenso ausbeutet wie die Natur. Die “menschliche” Gesellschaft basiert auf der Ausgrenzung und Ausbeutung alles “nicht-menschlichen”: Vielleicht erklärt das den tödlichen Hass, mit dem die Menschen ihre humanen Doppelgänger verfolgen. In deren unterstellter Empathieunfähigkeit erkennen sie ihre eigene Unmenschlichkeit, die sie vor sich selbst verbergen müssen.28
Seit Hesiod sind die künstlichen Menschen, das ausgegrenzte ‘Andere’, überwiegend weiblich.29 Mögliche Ursachen dafür liegen in dem von gekränktem Selbstwertgefühl zeugenden männlichen Gebärneid, der die natürlichen Verhältnisse verkehrt, indem der männliche Wissenschaftler die Frau erschafft. Dadurch wird ein Sieg über die Natur davongetragen, für welche die Frau steht und die nun nachgebildet und kontrolliert werden kann. Seit dem 17. Jahrhundert wurde “die Maschine, die sich einst durch Undurchschaubarkeit und geheimnisvolle Kräfte auszeichnete, […] zum Ideal kalkulierbarer Transparenz.”30 Denkbar wäre auch, darin einen Versuch zu sehen, die als 28 Manfred Geier: Fake. Leben in künstlichen Welten. Mythos – Literatur – Wissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1999. S. 154. 29 Um 700 v.Chr. entwirft Hesoid die mechanisch hergestellte Ur-Frau Pandora. Geier: Fake. S. 71. Die Automaten des 18. Jahrhunderts waren vor allem Frauen- und Dienerfiguren, was sich auch auf die Androiden in Blade Runner übertragen lässt. 30 Geier: Fake. S. 81.
238 gefährlich empfundene weibliche Sexualität in der Sächlichkeit des Automaten zu bannen. Nicht zuletzt äußert sich darin auch immer wieder, satirisch verzerrt oder nicht, die Überzeugung, dass Weiblichkeit an sich künstlich ist und mittels Kostüm und Maskerade hervorgebracht wird, so dass die seelen- und geistlose Frau am leichtesten durch einen rein auf die Materie reduzierten Automaten ersetzt werden kann, ja dieser sogar die Qualitäten der natürlichen Frau übertreffen kann.31 In seiner Satire Einfältige, aber gut gemeinten Biographie einer neuen, angenehmen Frau von bloßem Holz, die ich längst gefunden und geheiratet (in: Auswahl aus des Teufels Papieren, 1789) macht Jean Paul auf die Tatsache aufmerksam, dass die in den Automaten beanstandete Künstlichkeit Teil des zeitgenössischen Weiblichkeitsideal französisch-höfischer Provenienz war. Mehr noch als um eine Maschinensatire handelt es sich dabei um eine Gesellschaftssatire, denn die Vorstellung, dass die Automatenfrau eine “Biographie” besitzt – mit dem emphatischen Bildungsbegriff, den das 18. Jahrhundert damit verband – entspringt allein der Phantasie ihres Schöpfers und Ehemanns, der seine ‘Frau’ seinen Vorstellungen gemäß formt.32 “Im männlichen Wunschbild der Frau verbinden sich Effizienz und Gefügigkeit, Anpassungswille und Verfügbarkeit nicht nur im sozialen und ökonomischen Bereich, sondern auch in der Erotik und im Gefühlshaushalt.”33 In Blade Runner sind die Androiden ebenfalls geschlechtsspezifisch markiert: Es gibt zwar männliche Replikanten, aber auch männliche Menschen, während alle weiblichen Figuren sich als Androide erweisen. Deckard, der den Auftrag hat, alle Replikanten auszuschalten, tötet nur die beiden weiblichen, was einerseits auf das ruchlose seines moralisch nicht zweifelsfrei zu rechtfertigen Tuns verweist, andererseits auf die Angst gerade vor den weiblichen Androiden, die geschaffen wurden, um von dem Mann, ihrem Schöpfer, kontrolliert zu werden, sich dieser Kontrolle aber entziehen und dafür bestraft werden müssen.34 Die weiblichen Replikanten sind materiell gewordene Männerphantasien, so ist zum Beispiel Pris als ein so genanntes “Military/Leisure”-Modell ausgewiesen. Als Wunsch- und Lustmaschinen 31
So zu finden in E.T.A. Hoffmanns und Jean Pauls Erzählungen, bei Auguste Villiers de l’Isle-Adams L’eve future (1886) bis hin zu Fritz Langs Metropolis (1926). 32 Wolfgang Müller-Funk: Die Maschine als Doppelgänger. Romantische Ansichten von Apparaturen, Automaten und Mechaniken. In: Wunschmaschine. S. 486–506. Hier S. 499. 33 Innerhofer: Die technische Modernisierung des künstlichen Menschen. S. 73. 34 Roy Batty stirbt eines ‘natürlichen’ Todes, das heißt zu seinem einprogrammierten Terminationsdatum. Leon wird von Rachael, also einer Replikantin, erschossen, die sich damit gegen ihre ‘eigenen Leute’ wendet und Deckards Partei ergreift. Beide Tode sind weder so blutig noch so drastisch dargestellt wie die Exekution der weiblichen Replikanten.
239 sind sie gleichzeitig Todesmaschinen, die, in den Worten von Polizeichef Bryant, “the beauty and the beast” in einer Person verkörpern. Sie erscheinen künstlicher und puppenhafter als ihre männlichen Pendants: Pris schminkt sich mit weißem Gesicht und schwarzen maskenhaften Augenpartien, um im Automatenkabinett von J. F. Sebastian unerkannt untertauchen zu können. Diese Automaten sind J. F. Sebastians Spielzeuge und dienen zur Belustigung ihres Besitzers.35 In ihrem technischen Stand entsprechen sie der Entwicklungsstufe der Androiden des 18. Jahrhunderts: Sie sind noch keine Arbeitsmaschinen, sondern vielmehr Teil einer höfischen und später auf Jahrmarktniveau abgesunkenen bürgerlichen Unterhaltungskultur. Auch bei Rachaels erstem Auftreten wird vor allem ihre Künstlichkeit betont, die sich in ihrer artifiziellen Frisur, ihrem maskenhaft geschminkten Gesicht, dem kleinen roten Mund und ihrem abgezirkelten und mechanischen Gang ausdrückt.36 Bevor sie von Deckard als Maschine überführt wurde, war Rachael Tyrells ambitionierter Prototyp, seine perfekte Tochter und Jungfrauenmaschine. Die künstliche Eule, nach der Deckard sich bei Rachael erkundigt, kann als Anspielung auf das Attribut der jungfräulichen Athene gesehen werden, die dem Kopf von Göttervater Zeus entsprang. Eulen galten im Volksglauben als Attribute von Hexen, Zauberinnen und Dämonen sowie als Todesvögel,37 aber auch als Symbol der weisen Voraussicht.38 Damit verkörpert die Eule die ambivalenten Anteile Rachaels: Als unbelebt-belebtes Wesen erscheint sie unheimlich und unkalkulierbar, gleichzeitig ist sie von einem Menschen/Mann erdacht und hergestellt, so dass sie von einem solchen auch beherrscht werden können sollte. 35 Wie die Figur J.F. Sebastian war auch E.T.A. Hoffmann “ein begeisterter Sammler von Marionetten und Puppen, der wie ein Kind mit ihnen spielte und sie wie lebendige Wesen behandelte. Er soll selbst Pläne verfolgt haben, künstliche Automaten zu bauen.” Geier: Fake. S. 98. 36 Gleichzeitig spielen ihre Kleidung und Frisur auf die 1930/40er Jahre an, wie auch der gesamte Film auf das Genre des Film Noir verweist. Gemäß dieses Genres verkörpert Rachael die dem Mann gefährlich werdende Frau, die nur auf der Oberfläche harmlos und unschuldig erscheint: “Wary and world-weary detective, shadowy cinematography and shadowy characters, venetian blinds and ceiling fans, dark woman with dark past: but, of course, it’s film noir.” Alien Zone: Cultural Theory and Contemporary Science Fiction Cinema. Hg. von Annette Kuhn. London 1990. S. 145f. 37 Vgl. Sigrid und Lothar Dittrich: Lexikon der Tiersymbole. Tiere als Sinnbilder in der Malerei des 14.-17. Jahrhunderts. Petersberg 2004. S. 110. 38 Athene ist neben der Göttin des klug geführten Krieges auch Schutzherrin der Künste und des Handwerks. Sie gilt als sachkundig im Weben: Als Arachne sich mit der Göttin in einen Wettstreit einließ, wurde sie zur Strafe in eine Spinne verwandelt. Vgl. Reclams Lexikon der antiken Götter und Heroen in der Kunst. Hg. von Irène Aghion, Claire Barbillon und Francois Lissarrague. Übers. und bearb. von Klaus Fräßle. Stuttgart 2000. S. 71f.
240 Rachael ist kein “Lustmodell” und verkörpert daher auch keine bedrohliche Sexualität, sondern fast schon kindliche Unschuld. Als unbeschriebenes Blatt, auf das ihr männlicher Schöpfer Erinnerungen eingetragen hat, kann auch Deckard sie noch formen, indem er ganz bestimmte Erinnerungen in ihr wachruft.39 Da er an Rachael vor allem als sexuellem Wesen interessiert ist, beziehen diese sich auf die Entdeckung des anderen Geschlechts (im Doktorspiel mit dem Bruder) und auf eine Geburtsszene, in der hundert kleinen Spinnen, die aus einem Spinnenkokon vor ihrem Schlafzimmerfenster schlüpften, die Spinnenmutter auffraßen. Deckard zeigt mit seinem zur Schau getragenen Wissen über diese Erinnerungen nicht nur, dass sie Rachael implantiert wurden, sondern auch, dass Erinnerungen immer dazu dienen, eine gegenwärtige Situation, hier das sexuelle Begehren zwischen Mensch und Maschine, zu legitimieren und besser bewältigen zu helfen. Deckard formt Rachael zu dem, was sie für ihn sein soll, indem er ihr nicht nur die Sätze, sondern auch die Gefühle, die dadurch ausgedrückt werden, souffliert. Wie im Pygmalion-Mythos will Deckard die Geliebte in einen Menschen verwandeln, indem er ihr eine gelebte Zukunft ermöglicht und damit zu einer eigenen Vergangenheit verhilft. Gleichzeitig macht er sie dadurch zu seinem Geschöpf. Indem er sein Begehren auf Rachael richtet, wird sie eines geschlechtsspezifischen Personalpronomens würdig erachtet: aus dem “es”40 wird ein “sie”, das heißt, sie wird nicht (nur) zum Menschen, sondern auch und vor allem zur Frau. Indem Deckard diesen Prozess steuert und Rachael darin völlig passiv bleibt, bändigt er die bedrohlichen Ambivalenzen, durch welche die anderen weiblichen Replikanten gekennzeichnet sind. Im Gegensatz zu Rachael ergreifen diese die Initiative und wollen sich ihr “Leben” gewaltsam aneignen. Sie erscheinen gerade im Tod als Wesen aus Fleisch und Blut, die um ihr Leben kämpfen, wobei sie Deckard widerlegen, der sie als “machines” bezeichnet, obwohl der Vorspann sie als “virtually identical to humans” beschrieben hatte. Als Sebastian die Replikanten auf den Status seiner Spielzeuge reduziert, indem er sie bittet, ihm etwas vorzuführen, hält Roy Batty ihm entgegen: “We’re not computers Sebastian, we’re physical” und Pris ergänzt: “I think, therefore I am”.41 Dieses Descartes-Zitat verweist auf dessen Theorien, nach 39 Vielleicht war es sogar Deckard selbst, der ihr diese Erinnerungen während des Voight-Kampff-Tests eingeflößt hat, denn sehr undeutlich hört man Deckards Stimme im Hintergrund, der Teile der Spinnenerinnerung erzählt: “bush outside your window … orange body, green legs”. 40 Deckard fragt Tyrell nach dem an Rachael vorgenommenen Voight-Kampff-Test: “How can it not know what it is?” und bezieht sich damit auf Rachael. 41 Dies ist nicht nur eine Anspielung auf den Philosophen Descartes, sondern möglicherweise auch auf den erstmals 1774 der Öffentlichkeit vorgestellten Kinderautomaten des Uhrmachers und Erfinders Pierre Jaquet-Droz, der an einem Schreibpult saß und unter anderem den Satz schrieb: “Cogito, ergo sum”. Gaby Wood: Living Dolls. A Magical History of the Quest for Mechanical Life. London 2003. S. xiii.
241 denen die natürlichen Körper von Pflanzen, Tieren und Menschen “rein mechanistischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen” und der Mensch nichts anderes als ein von Gott hergestellter komplizierter Automat ist.42 Mit diesem Satz wehrt sich Pris gleich in doppelter Hinsicht gegen ihren Status als das “Andere des Menschen” und das “Andere des Mannes”: Sie findet sich nicht mit dem ihr zugeschriebenen Status des minderwertigen Lebens ab und fügt sich nicht in das Sklavendasein eines auf ihren Körper reduzierten weiblichen Lustobjekts. Was Descartes letztlich nur dem Menschen vorbehalten hat, die Seele, wird auch für die Replikanten in Anspruch genommen. Wenn Roy Batty am Ende stirbt, weil seine Zeit abgelaufen ist, lässt er eine weiße Taube fliegen, die in der christlichen Tradition unter anderem für die menschliche Seele steht, die den Körper im Tod verlässt. Die Augen, denen in Blade Runner eine zentrale Symbolfunktion zukommt, gelten seit der Antike als Fenster zur Seele, während sie bei den Automaten nur die Wünsche und Projektionen des Gegenübers zurückspiegeln, wie etwa bei der Figur der Olimpia in E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann (1816).43 Die Augen der Replikanten werden mehrfach als Spiegel gezeigt: Die erste Ansicht der Stadt ist eine Reflexion in Leons Auge, sowohl in den Augen der künstlichen Eule als auch in Rachaels und Pris’ Augen blitzt ein rotmetallischer Schimmer auf, der sie als Androiden ausweist. Die Künstlichkeit der Augen wird auch dadurch betont, dass die Replikanten das Labor aufsuchen, in dem die Augen hergestellt werden. Die fehlende unwillkürliche Pupillenerweiterung der Augen gilt innerhalb des Voight-Kampff-Tests als wichtiger Indikator für die mangelnde emotionale Reaktion, so dass die Replikanten darüber identifiziert werden sollen. Dementsprechend suchen die Replikanten zuerst den Schöpfer der Augen auf und töten jeden, der ihnen nicht (mehr) von Nutzen ist, indem sie ihm die Augen eindrücken, möglicherweise auch um zu zeigen, das sich dahinter keineswegs die Seele, sondern das Nichts befindet. Der Film zitiert eine Reihe von christlichen Motiven und Symbolen. Er löst aber die damit verbundenen Rezeptionserwartungen, ebenso wie im Falle der Genremerkmale, nicht bruchlos ein, sondern arbeitet mit Inversionen: Deckard und Rachael werden in einer Umkehrung der Situation des ersten Menschenpaares nicht aus dem Paradies verstoßen, sondern fliehen am Ende des “International Cut” in einen grünen Garten Eden. Roy Batty wird mehrfach als Christus-Figur stilisiert, so etwa wenn er sich sterbend einen Nagel durch die Hand treibt, oder durch sein Verhältnis zu seinem Schöpfer Tyrell und durch
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Geier: Fake. S. 82f. Vgl. Silke Arnold-de Simine: Leichen im Keller. Zu Fragen des Gender in Angstinszenierungen der Schauer- und Kriminalliteratur (1790–1830). St. Ingbert 2000. S. 212f. 43
242 die weiße Taube, mit der er assoziiert wird. Gleichzeitig ist er auch Luzifer, der gefallene Engel, der sich gegen Gott auflehnt. Er ist die ad absurdum geführte Figur des “verlorenen Sohnes”, da er sich eben nicht selbst opfert, sondern sein Leben verlängern möchte und dafür den Vater umbringt, der ihm diesen Wunsch nicht erfüllen kann: “What the film leaves us with are allegorical shots severed from the mythological sources, empty allegories that cannot be redeemed by the Christian narrative.”44 Der Film löst das, was die Zuschauer mit diesen christlichen Motiven verbinden, nicht einfach ein, sondern konterkariert es, so dass die Betrachter sich genötigt sehen, ihre Sehgewohnheiten zu hinterfragen.
V. Schluss Der Film provoziert anhand des Motivs des Androiden die Reflexion auf Erinnerung, auf das, was Erinnerungen eigentlich sind, woher sie kommen, was sie leisten können und wie weit man ihnen trauen kann. Die false memoryDebatten suggerieren, dass es so etwas wie ‘wahre’ Erinnerungen geben könnte. Blade Runner zeigt jedoch, dass Erinnerungen keine korrekte Wiedergabe der Vergangenheit sind, sondern Teil unserer Imagination, die uns dazu verhilft, unsere Identität als eine sich durch die Zeit wandelnde und dennoch konstante zu entwerfen, etwas das Deckards ‘Erinnerung’ an ein Einhorn ebenso deutlich macht wie Rachaels Erinnerung an eine Mutter, die es nie gegeben hat. Gleichzeitig machen es allein Erinnerungen möglich, uns das Vergangene, das uns nicht unmittelbar Betreffende, zu vergegenwärtigen und Verantwortung für unser Tun zu entwickeln. Damit wird das (kulturelle) Gedächtnis zu einem unverzichtbaren Teil dessen, was wir als menschlich ansehen.
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Pyle: Making Cyborgs. S. 126.
Florentine Strzelczyk
Maschinenfrauen – Sci-Fi Filme: Reflektionen über Metropolis (1926) und StarTrek: First Contact (1996) Androids and female cyborgs are essential to the repertoire of science fiction films. While the genre has changed significantly since the nineteentwenties, representations of female androids and cyborgs have not. Fritz Lang’s Metropolis (1926) and Star Trek: First Contact (1996) show striking similarities between the conceptualization of the Machine-Maria in Lang’s film and the Borg Queen in Star Trek. While Lang’s MachineMaria expresses early 20th-century fears of female sexuality and machine technology, the character of the Borg Queen is marked by different anxieties about new microelectronic forms of communication that are coded as excessive and uncontainable female sexuality. Lang’s film, then, functions as a blueprint that can be filled with new and changing political content concerning technology and gender.
Science-Fiction-Filme gehören inzwischen zu den anerkannten Studienobjekten der Filmwissenschaft und sind in den letzten Jahrzehnten nicht nur für ihre ästhetische und technische Raffinesse, sondern auch für ihre ideologische Komplexität gewürdigt worden. Das Ende der siebziger Jahre erlebte eine bedeutende Renaissance von Science-Fiction-Filmen, und seitdem sind sowohl die Produktionskapazität als auch die Popularität dieses Genres exponentiell gestiegen.1 1997 wurde in Kanada Space: The Imagination Station etabliert; zu dem 24-Stunden-Programm dieses Kabelkanals gehören Science-Fiction, Science Fact, Spekulation und Fantasy. Gesendet werden neue Science-FictionFilme, Klassiker des Genres sowie Parodien und Fernsehserien. Kurzum, der kanadische Weltraumkanal sowie sein amerikanisches Pendant, Sci-Fi Channel, bieten einen historischen und thematischen Querschnitt durch das Genre. Was dem Konsumenten solcher futuristischer Eskapismen auffällt, ist, welche enormen Veränderungen in technischer und ästhetischer Hinsicht das Genre erfahren hat, während gleichzeitig bestimmte ideologische Tangenten in gleichsam ahistorischer Weise konstant geblieben sind. Darunter sind am auffälligsten Repräsentationen der Maschinenfrau oder des weiblichen Cyborgs. Diese ahistorische Statik reizt zu einem syntagmatischen Vergleich. Als Star Trek: First Contact2 1996 im Kino erschien, drängten sich sofort Parallelen zwischen der Maschinenmaria in Fritz Langs Metropolis3 (1926) und der Borg Queen des Star-Trek-Films auf: Beide Maschinenfrauen bestehen aus einer gepanzerten 1
Vivian Sobchack: Screening Space: The American Science Fiction Film. New Brunswick (NJ) – London 1998. S. 7. 2 Jonathan Frakes: Star Trek: First Contact. 1996. 3 Fritz Lang: Metropolis. 1926.
244 enganliegenden Körperschale, die weibliche Formen abstrakt, ohne Detail stilisiert. Beide Körperpanzer betonen die Brüste und Hüften, und beide weisen durch Klammern und Scharniere auf die Künstlichkeit der zugleich nackten und verhüllten Körper hin. Der weibliche Cyborg, die hybride Verschmelzung von Frau und Maschine, vereinigt Sexualität und Maschinisierung, Weiblichkeit und Technologie auf eine beunruhigende Weise, die seit Langs Metropolis nichts von ihrer Brisanz verloren hat. Der erstmalige Vergleich dieser beiden Filme soll einen Beitrag zur Intertextualität der Maschinenfrau leisten, deren Vorstellung zum festen Bestandteil des Science-Fiction-Universums gehört. Wie Literatur hat auch Film seine Vorbilder und Klassiker, auf die spätere Texte immer wieder verweisen. In diesem Sinne ist Fritz Langs Metropolis nicht nur zu einem Leitbild für die Weimarer Republik geworden, sondern Langs eindringliche Visualisierungen der Stadt der Zukunft oder der Maschinenfrau haben auch den amerikanischen Science-Fiction-Film tiefgreifend beeinflusst – von dem inzwischen selbst zum Klassiker gewordenen Blade Runner (1982)4 bis zu der populären Animations-Fernseh-Serie Futurama.5 Nun ist Science-Fiction von jeher ein hauptsächlich konservatives Genre gewesen, das männliche Fantasien und Ängste vor dem Verlust von Autorität und Kontrolle über eine zunehmend technologische Welt symptomatisch auf die Figur der Frau oder die Vorstellungen von Weiblichkeit überträgt.6 Vivian Sobchack argumentiert in diesem Zusammenhang, dass in ScienceFiction-Filmen die Verbindung zwischen Sex, Fortpflanzung und Frau permanent unterdrückt und die Funktion menschlicher Heterosexualität zugunsten der Eroberung von Raum, der Bekämpfung von Aliens und der Ausbeutung von Wissenschaft und Technik transformiert wird.7 Von Langs Maria, die sich im Laufe von Metropolis von einer engagierten, eigenmächtigen und willenstarken Frau zu einem schwachen, passiven Geschöpf entwickelt, das immer wieder männlicher Hilfe bedarf, über Prinzessin Leia in Star Wars8 zu Ellen Ripley in Alien9 werden Frauen im Handlungsverlauf erzähltechnisch immer wieder unbedrohlich gemacht.10 Männer in Science-Fiction-Filmen, so Sobchack, durchdringen nicht Frauen, sondern den Weltraum: Penetration und Impregnation ohne 4
Ridley Scott: Blade Runner. 1982. Matt Groening: Futurama. 1999–2003. 6 Mary Anne Douane: Technophilia: Technology, Representation and the Feminine. In: The Gendered Cyborg: A Reader. Hg. von Gill Kirkup, Linda Janes, Kathryn Woodward und Fiona Hovenden. London – New York 2000. S. 110. 7 Vivian Sobchack: The Virginity of Astronauts: Sex and the Science Fiction Film. In: Alien Zone – Cultural Theory and Contemporary Science Fiction. Hg. von Annette Kuhn. London – New York 1990. S. 103. 8 George Lucas: Star Wars. 1977–1983. 9 Ridley Scott: Alien. 1979. 10 Sobchack: The Virginity of Astronauts. S. 106. 5
245 Biologie, Sex und ohne das andere Geschlecht. Im textuellen Konflikt mit dem Weiblichen inszenierten Science-Fiction-Filme immer wieder Phasen männlicher Identitätsformation wie “das Verlangen, sich frei zu machen von der biologischen Abhängigkeit von der Mutter und das männliche Selbst als separat und autonom zu konstruieren”.11 Während für Freud Subjektivität durch eine vollständige Trennung von der Mutter entsteht, erklärt Lacan den Beginn von Subjektivität mit dem Eintritt des Individuums in die symbolische Ordnung des Vaters, die die Mutter-Kind Bindung zerstört. Beiden Modellen ist gemeinsam, dass man(n) sich Alterität entgegenstellt oder sie sich unterordnet. Nun stellt aber der weibliche Cyborg, der solche binären Gegensätze von Innen und Außen, Geist und Materie, männlich und weiblich, Individualität und Masse auf beunruhigende Weise in Frage. Die Verdrängung weiblicher Alterität, folgert Sobchack mit Freud, erscheint im Science-Fiction-Film in komplexen Zeichen kodierter Gegenwart, die sowohl männliche Ängste als auch männliches Begehren hervorrufen und in der Maschinenfrau aufeinander treffen. In Metropolis kehrt verdrängte weibliche Alterität in kondensierter sowie verlagerter Bildform und Handlung zum Genre zurück, was die Raumökonomie des Films deutlich macht, die die Stadt Metropolis (meter ⫽ Mutter und polis ⫽ Stadt) als weiblichen ‘Cyborg’ konstruiert. Die überirdische abstraktgeometrische, futuristisch-phallische Architektur der Stadt ist auf einen älteren, unterirdischen Teil der Stadt verpflanzt und mit ihr verwoben: den Katakomben, die durch dunkle, eileiterartig-gerundete Gänge in eine leibesähnliche Höhle münden.12 In ihrer Mitte predigt die wahre Maria mit mütterlichen Gesten allumfassende Versöhnung, um Kopf und Hand, die männlich dominierte Oberstadt mit den feminisierten Arbeitermassen der Unterstadt zu verschmelzen. Solche weiblich kodierten Räume sind für die Filmwissenschaftlerin Barbara Creed Repräsentationen einer archaischen parthenogenetischen Urmutter, deren Identität bedrohende sowie Alterität auslöschende Mütterlichkeit im patriarchalischen Diskurs als “monströse Weiblichkeit” überschrieben und verdrängt wird.13 In diesem Sinne wird der weibliche Raum in Metropolis systematisch verletzt; von der Szene, in der Rotwang der echten Maria durch die Katakomben folgt, wobei ihre Körpergestik und -mimik die symbolische Vergewaltigung ins Bild setzen, bis hin zur falschen Maria, die – als ein Produkt der Ektogenese, der Schaffung von Leben außerhalb des weiblichen Körpers – die beiden Teile von Metropolis, den über- und unterirdischen, den männlichen und weiblichen, miteinander nur in einem Akt totaler Destruktion vereinigen kann. 11
Ebd. S. 108. Roger Dadoun: Metropolis: Mother-City-“Mittler” – Hitler. In: Close Encounters – Film, Feminism, and Science Fiction. Hg. von Constance Penley, Elisabeth Lyon, Lynn Spiegel und Janet Bergstrom. Minneapolis – Oxford 1991. S. 137. 13 Barbara Creed: Alien and the Monstrous Feminine. In: Alien Zone – Cultural Theory and Contemporary Science Fiction. S. 128–141. 12
246 Die Verdrängung von Weiblichkeit im Science-Fiction-Film betrifft nach Sobchack verschiedene Aspekte: das Zeichen (Frau), seinen ideationalen (biologische Differenz) und seinen affektiven Gehalt (Sexualität).14 Wenn Frau als Zeichen verdrängt wird, wird Weiblichkeit oft zum Symbol im Film. Raumexploration, wie Rotwangs Lichtstrahl, mit dem er die Katakomben durchforscht und Maria aufspürt, kann symbolischen Geschlechtsverkehr, hier sogar Vergewaltigung, repräsentieren. Wenn Frauen in ihrer biologischen Differenz im Science-Fiction-Narrativ anwesend sind, wird ihre explosive, bedrohliche Sexualität häufig auf nichtmenschliche weibliche Lebensformen übertragen. Während die echte Maria in Metropolis auf eine Vorstellung von asexueller Mütterlichkeit reduziert wird, projiziert der Film den Affekt des Weiblichen – Sexualität – auf den mechanischen Vamp. Was den weiblichen Cyborg von der Frau unterscheidet, ist in anderen Worten, seine bedrohliche Sexualität. Als Verkörperung männlicher Ängste vor unberechenbarer Weiblichkeit und unerklärlicher Technologie führt die Maschinenfrau Maria eine durch Promiskuität enthemmte, sich männlicher Kontrolle entziehende weibliche Sexualität vor. Die sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert manifestierende Angst vor einer Mechanisierung und Maschinisierung der Welt angesichts einer verspäteten und sich rapide beschleunigenden Industrialisierung verbindet sich, so argumentiert Andreas Huyssen, mit männlichen Ängsten vor Frau und Natur zu einem dichten Bedeutungsnetzwerk, in dem beide immer wieder aufeinander verweisen.15 In der Maschinenfrau erscheinen Technologie und Weiblichkeit als Kultobjekte männlicher Vorstellung und männlichen Begehrens. Dieser Zusammenhang wird am deutlichsten in der hypnotischen Tanzszene, in der die falsche Maria der männlichen Oberschicht von Metropolis vorgeführt wird – eine Szene, die in ihrer Eindringlichkeit und visuellen Ikonographie immer wieder zu neuen Deutungen angeregt hat. Der Cyborg entsteigt einem feucht dampfenden, runden, mit geometrischen Linien verzierten Gefäß, gekleidet in einen schimmernden Mantel, unter dem sie nacktes Fleisch zeigt, das zugleich wie von einem Panzer umgeben ist: Eine am Kopf anliegende metallne Kappe, der sie wie eine Rüstung umgebende aus Kettengliedern geschmiedete Rock sowie die mit metallnen Kappen versehenen Brüste geben dem Vamp das Aussehen einer Gottesanbeterin, des Insekts, das in der Vorstellung vieler Kulturen weibliche Sexualität in ihrer Extremform symbolisiert.16 Marias abgewinkelte Armbewegungen vollführen mechanisch erscheinende 14
Sobchack: The Virginity of Astronauts. S. 110. Andreas Huyssen: The Vamp and the Machine: Technology and Sexuality in Fritz Lang’s Metropolis. In: New German Critique 60 (1993). S. 221–237. Und: R.L Rutsky: The Mediation of Technology and Gender: Metropolis, Nazism, Modernism. In: New German Critique 60 (1993). S. 3–32. 16 Elizabeth Grosz: Animal Sex. In: Sexy Bodies: The Strange Carnalities of Feminism. Hg. von Elizabeth Grosz und Elspeth Probyn. New York 1995. S. 290. 15
247 Tanzbewegungen, ihre rhythmischen Körperkonvulsionen imitieren den Geschlechtsakt, der die auf ihre Augen reduzierten männlichen Zuschauer hypnotisiert. Wie die Gottesanbeterin, die ihren Partner noch während der Paarung enthauptet, um damit ihre Paarungsbewegungen zu intensivieren, ist die falsche Maria eine “Sexmaschine”, deren exzessive Bewegungen den Genuss des angedeuteten Geschlechtsaktes noch zu erhöhen scheinen. Aus feministischpsychoanalytischer Perspektive beschreibt Elisabeth Grosz in dem faszinierenden Band Sexy Bodies: The Strange Carnalities of Feminism die Freud’sche Verbindung zwischen Lust und Tod, die sich um die Funktionen weiblicher Sexualität rankt, wie sie unter anderem in der Vorstellung von der Gottesanbeterin sichtbar werden: Die Fantasie der Vagina Dentata, des nicht-menschlichen Status von Frauen als Androiden, Vampire oder Tiere, die Identifikation weiblicher Sexualität als unersättlich, gefräßig, enigmatisch, unsichtbar und nicht erkennbar, kalt, kalkulierend, instrumental, Kastrator und Dekapitator des Mannes, Verstellung und Fälschung, als allumfassende und alles verschlingende Mutter, die männliche Schwächen ausbeutet.…17
Grosz erklärt solche Repräsentationen als Konsequenzen der Art und Weise, in der männliche Sexualität “als Maß und Repräsentativform aller Sexualitäten und Modalitäten erotischer Begegnungen funktioniert hat”.18 Der Tanz der falschen Maria in seiner maschinenartig mechanisierten Sexualität verspricht jenseits menschlicher Kapazität liegenden, unersättlichen Sex, dessen Befriedigung jedoch den Tod bringt. In der Antiklimax des zuckenden Tanzes nähern sich die befrackten Männer der Maschinenfrau, doch die Kamera gewährt nur den Blick auf die männlichen Hände, die sich ihr gleichsam kopflos entgegenstrecken. Was der weibliche Cyborg verspricht, ist eine erotische Begegnung, in der sich autonome männliche Identität jedoch unweigerlich verlieren muss. Während die Tanzszene den Aspekt der tödlichen Sexmaschine visualisiert, formuliert der Film aber auch weibliche Sexualität als unaufhörlich strömende Lust in Form einer alles verschlingenden, weiblichen Flutwelle. Klaus Theweleit diskutiert bekanntlich in seinen Männerphantasien das in der westlichen Kultur mit Angst besetzte Erlebnis des ozeanischen Strömens als Analogie zur Erfahrung des Sich-Gehen-Lassens im Orgasmus, dessen Fluten die Grenzen zwischen Selbst und Anderem auszulöschen drohen,19 welche nach Freud und Lacan für die Stabilität männlicher Identität so bedeutend sind.20 Marias Tanz ist gleichzeitig 17
Ebd. (Übersetzung von mir). Ebd. S. 293. 19 Klaus Theweleit: Männerphantasien (Bd. 1): Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. München 1985. S. 256–302. 20 Scott Bucatman: Terminal Identity. The Virtual Subject in Postmodern Science Fiction. Durham – London 1993. S. 302. 18
248 der Auftakt zu einem wollüstigen Paarungs- und endlosen Totentanz, der sowohl die Bewohner der Oberstadt als auch die Arbeitermassen in einen Taumel versetzt, in dem sexuelle Ekstase und sinnlose Zerstörung sich gegenseitig aufpeitschen. Sich windend in ekstatischen Körperbewegungen, reitet die falsche Maria wie eine Furie auf den Schultern von Oberschicht und Arbeitern, die Maschinen und Architektur vernichten. Während Metropolis’ Oberschicht tanzend durch die Stadt strömt, sind es besonders die Mobszenen im Film, die visuell als uferlos tobende Weiblichkeit konstruiert sind. Die von Marias sexueller Rage angestachelten Arbeitermassen überfluten mit ihren uniformen Körpern die Unterund die Oberstadt in einer destruktiven Orgie. Langs Film schöpft dabei aus dem Arsenal damals geläufiger Vorstellungen von den Proletariermassen. Theweleit entdeckt solche Ängste vornehmlich in den Tagebüchern und Berichten identitätsbedrohter Freikorps der deutschen Zwischenkriegszeit; die dort beschriebenen Zusammenstöße mit entfesselten fanatischen Arbeiterfluten erhalten dadurch eine sexuell-weibliche Konnotation, dass die Massen von sexuell-aggressiven, phallischen Frauen angeführt schienen.21 In Metropolis wird die wirkliche Überschwemmung durch eine von Maria entfesselte Flut verweiblicht-sexualisierter Menschenmassen eingeleitet, deren Bann erst der Gedanke an asexuelle Mutterschaft unterbricht. Die Eindämmung der verweiblichten Flutwelle geschieht durch die Verbrennung der Maschinenfrau auf dem Scheiterhaufen, deren Vernichtung symbolisch die Ordnung zwischen Mann und Frau und Mensch und Maschine wiederherstellt. Die intertextuellen Verbindungen zwischen dem Klassiker Metropolis und einem seiner vielen nordamerikanischen Epigonen, dem Film StarTrek: First Contact (1996) beziehen sich auf diese Verknüpfung von Technologie und weiblicher Sexualität. Metropolis zeigt Männer, die letztendlich uferlose Weiblichkeit kontrollieren, während Star Trek: First Contact, wie viele ScienceFiction-Filme der neunziger Jahre, die Menschheit als Männer präsentiert, die von einem Ansturm erdrückender Weiblichkeit heimgesucht werde.22 Ist die Maschinenmaria in ihrer physischen Beschaffenheit der stahlharten industriellen Technologie des 20. Jahrhunderts entsprungen, erscheint die Borg Queen als postindustrielles Produkt fluider, mikroelektronischer Schaltkreise, deren Vernetzung das kollektive Bewusstsein der Borg – einer Rasse von Cyborgs – generiert, das die Borg Queen hervorbringt. Die Maschinen des industriellen Zeitalters wurden mit phallischer Kraft assoziiert und mit vigoröser Körperlichkeit vorgeführt. Doch die elektronische Technologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts erzeugt nicht mehr Bilder schierer physischer Potenz wie die der phallischen Maschinenmaria in Metropolis; sie funktioniert 21
Theweleit: Männerphantasien. S. 218. Claudia Springer: Electronic Eros. Bodies and Desire in the Postmodern Age. Austin 1996. S. 154.
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249 passiver und leiser und evoziert weniger maskuline Metaphern als feminine Fluidität.23 Computertechnologie wird deshalb oft mit femininen Metaphern belegt, die die neue zunehmend kabellose Mikroelektronik als fließend und opak beschreiben. Computerbenutzer erleben nicht selten eine psychologische Einheit mit ihrem PC, die Ich-Grenzen ineinander fließen lässt, ein Prozess, der weitgehend mit weiblicher, von ödipaler Individuation weniger abhängigen Subjektivität assoziiert wird.24 Die Konstruktion der weiblichen Androiden in Metropolis und in StarTrek: First Contact zeichnet sich demnach nicht so sehr durch Unterschiede in der Qualität von Weiblichkeit aus, sondern durch unterschiedliche Modalitäten von Technologie, die wiederum dargestellte Weiblichkeit modifizieren. Die weiblich kodierte, mikroelektronische Fluidität, die sich in den Borg materialisiert, wird in StarTrek: First Contact zur Bedrohung für die Menschheit. In der Fernsehserie StarTrek: The Next Generation sind die Borg eine Rasse von Cyborgs, die – teils aus humanoidem Material, teils aus künstlichen Ersatzteilen bestehend – im Kollektiv denken und handeln und die Galaxie erobern, indem sie andere Völker und Rassen assimilieren. Im Kinofilm StarTrek: First Contact versuchen die Borg, zuerst die Enterprise und dann die Erde zu erobern. In der allerersten Einstellung des Films sieht man in Nahaufnahme das Auge von Captain Picard; während die Kamera langsam zurückfährt, gelangt mehr und mehr seiner Umgebung in das Sichtfeld des Zuschauers. Picard erscheint als winziger Teil des Borg-Kollektivs und der Maschinerie eines gigantischen Kubus, der das Äußere des Borgschiffes ausmacht. Versetzt mit Leitungen und Schaltkreisen ähnelt der Kubus der Festplatte eines Computers, dessen innere Arbeitsweise, ungleich den Maschinen des frühen 20. Jahrhunderts, normalerweise verschlossen und undurchsichtig bleibt. Was als die längste und langsamste Rückfahrbewegung der Kamera in der Science-Fiction-Filmgeschichte gilt,25 gibt dem Zuschauer eine Synopse der nachfolgenden Handlung: eine Penetration des Raumes moderner Mikroelektronik, deren innere Prozesse bloßgelegt werden. Wie Metropolis setzt auch Star Trek: First Contact auf eine Raumökonomie, die das Innere des Borgkubus als weibliche Leibeshöhle und monströsen Raum definiert. Verglichen mit der chromglänzenden und stromlinienförmigen Enterprise, deren äußerliche weibliche Kurven durch ihre geometrischklaren Einrichtungen und die autoritär-hierarchischen Strukturen ihrer Bedienung gezähmt erscheinen, ist das Borgschiff, das andockt, um Picards Crew Schritt für Schritt zu assimilieren, dunkel, feucht, geheimnisvoll; eine Leibeshöhle, deren Interieur (92% Luftfeuchtigkeit, erfahren wir gleich zu Beginn des Films) die Qualität von rohem Fleisch und innerem Gewebe besitzt. Wie Nabelschnüre 23 24 25
Ebd. S. 100–102. Ebd. S. 104. Kenneth Turan: Star Trek: First Contact. In: Los Angeles Times 22. Nov. 1996.
250 verbinden unzählige Kabel die Plazenta-ähnlichen Schlafnischen der Borg mit dem kollektiven Mutterleib des Schiffes. Nach Julia Kristeva evozieren solche Bilder Abscheu und Grauen, weil Körperinneres, das nach außen sichtbar wird, die Grenze zwischen Selbst und Anderem bedroht.26 Kristeva argumentiert, dass dieses “Abjekt”, der Prozess des Ausscheidens und Absonderns, sich zuallererst immer auf den mütterlichen Körper bezieht, der sowohl das Innere – Eingeweide, Muskeln, Blut – schützend beherbergt als auch für das Kind das Außen – tote Materie, Ausscheidungen, Exkremente – darstellt.27 Das Borgschiff beherbergt Leben und kreiert Leben, doch brütet es gleichzeitig Verwesung und Tod aus, denn die Kreaturen, die es gebiert, sind graue Maschinenmenschen, die den Tod des männlichen Individuums im Kollektiv der Masse verkünden: alle Borgs sind identisch aussehende männliche Cyborgs. Der lebensspendende Mutterleib ist hier gleichzeitig als ekelerregendes Grab konstruiert und nach Barbara Creed damit eine patriarchalische Aneignung der alles gebärenden archaischen Erdmutter, in der sich die Bedrohung der Auflösung des männlichen Subjekts manifestiert.28 Die Borg Queen erregt gleichzeitig Lust und Grauen dadurch, dass sie ewiges orgasmisches Fluten verheißt, solche Freuden jedoch durch ein für Picard und Data grauenerregendes Leck zwischen Körper und Welt, zwischen Innen und Außen erkauft sind. Die Erscheinung der Borg Queen im Film verschmilzt immer wieder mit dem Halbdunkel des Borgschiffes, durch das sie vielfach vernetzt ist mit dem Bewusstsein seiner Bewohner, deren sexuelles Verlangen sich in ihr potenziert. Ihre allumfassende, unersättliche weibliche Sexualität wird durch ihren feuchten, dunklen, sich windenden Körper visualisiert – ebenso durch den phallisch schwarz-metallnen Schalenanzug, in den ihr Torso von oben an Nabelschnüren hängend hineingelassen und mit Klemmen befestigt wird und der – wie in Metropolis einer Rüstung gleich – die weiblichen Brüste weniger verhüllt als zur Schau stellt. Der Torso besteht aus embryonisch-weißlicher, fast durchsichtiger Haut, die mit einem schleimigen, permanent feuchten Film überzogen ist. Als parthenogenetische Kreatur, die sich permanent selbst gebären kann, verkörpert sie diese genauso erregende wie grauenerregende Vermengung und Umkehrung von Innen und Außen, Selbst und Anderem, Geist und Materie. Mit erotisch rauer Stimme entfaltet sie Visionen, die die Verschmelzung von Mensch und Maschine als ultimatives Ziel ausmalen: biologische Perfektion durch einen unaufhörlichen Zustrom neuer Körper, neuer Erfahrungen, neuen Wissens. Die Borg Queen verheißt phänomenale, gleichsam kosmische Lust, die das Verschmelzen und Zusammenfließen von Körpern, genetischem Material und Maschinenteilen als niemals endendes, niemals zu befriedigendes Begehren beschreibt. Elizabeth Grosz argumentiert in diesem Zusammenhang, dass zwar 26 27 28
Julia Kristeva: Powers of Horror: An Essay on Abjection. New York 1982. S. 7. Kristeva: Powers of Horror. S. 53–54. Creed: Alien and the Monstrous Feminine. S. 128–141.
251 der männliche Orgasmus (mit dem Verständnis von Spannungsaufbau und Entladung) zum Maßstab von Sexualität geworden sei, dass jedoch Lust weder Zweck noch Ziel besitzt, sondern in dem intensiven Zusammenspiel von Körperoberflächen eine niemals zu stillende Flut von Verlangen generiert, in dem körperliche Grenzen verschmelzen, Körperteile ineinander fließen und neue Universen sich eröffnen – eine Form der Selbstentäußerung und Entgrenzung, die genauso grauen- wie lusterregend sein kann.29 In diesem Sinne behaupten Deleuze und Guattari: “We only make love to worlds.” 30 Die männlichen Protagonisten in Star Trek: First Contact, Picard und Data, begegnen dieser fluktuierenden, heterogenen und welterweiternden Existenz mit Lust auf beziehungsweise Abscheu vor einem hybriden Mischlingsdasein. Picard erlebt in einem qualvollen Flashback, wie sein Körper mit Maschinenteilen verseucht wird. Data fühlt sich den Bruchteil einer Sekunde versucht, das Schicksal der Menschheit für einen Streifen Haut einzutauschen, der seinen Maschinenkörper veredelt und ihm Tastgefühl und damit bisher unbekannte und ungeahnte Lust verschafft. Was die Borg Queen als Erscheinung eines fließenden, mikroelektronisch vernetzten Bewusstseins ins Bild setzt, repräsentiert eine alternative Formation von Identität im Unterschied zum Freudschen/Lacanschen Identitätsmodell: Ein Selbst, dessen Grenzen zwischen Innen und Außen, Selbst und Anderem nicht antagonistisch operieren, sondern durch das Alterität wie ein Strom fluktuiert.31 Der Körper wird so zu einer permeablen Struktur, einem fließenden Volumen ohne feste Konturen, dessen physische Fluidität (sexuelle) Begegnungen ermöglicht und erweitert.32 Doch die Kamera räumt der Verkünderin solcher alternativen Universen keine Bilder ein. Statt biologischer Perfektion gewährt sie dem Zuschauer nur die Vision seelenloser, identischer Maschinenmenschen. Ironischerweise wird diese Zombiegemeinschaft uniformer männlicher Massen von den Mitgliedern der Enterprise beharrlich mit biologischen Metaphern femininer Gemeinschaftlichkeit belegt. Die Crew der Enterprise spricht in Anspielung auf die “Queen Bee” (Bienenkönigin) von der Borg Queen und von den Borg als Dronen; das Borgschiff, das aus einem geometrisch-exakten Kubus besteht, wird als “hive”, als Bienenstock bezeichnet, um die durch das Kollektiv bestimmte Sozialform der Borg zu definieren. Diese wird so einer organisch-biologischen Taxonomie unterworfen, die den technologisch komplexen Zusammenhang von 29
Grosz: Animal Sex. S. 284–292. Gilles Deleuze und Felix Guattari: Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia. Übers. von R. Hurley, M. Seem und H.R. Lane. New York 1977. S. 294. 31 Christine Battersby: The Phenomenal Woman: Feminist Metaphysics and the Pattern of Identity. Cambridge 1998. S. 39–49. 32 Catherine Constable: Becoming the Monster’s Mother: Morphologies of Identity in the Alien Series. In: Alien Zone II: The Spaces of Science Fiction Cinema. Hg. von Annette Kuhn. London – New York 1999. S. 191. 30
252 Kommunikation durch mikroelektronische Schaltkreise, durch den die Borg als Gesellschaft funktionieren, als bedrohliche Weiblichkeit dämonisiert. Die ungeheure erotische Begegnung, die die Borg Queen verspricht, ist mehr Diktion als Vision; das dem Filmmedium ureigenste Gebiet – die Macht der Bilder – verwehrt sich weitgehend dieser alternativen Subjektivität und beschränkt sich statt dessen auf die angstbesetzten Visionen männlicher Gegenspieler. Gegenspieler des weiblichen Cyborgs ist nicht, wie in Metropolis, eine jungfräuliche, entsexualisierte weibliche Figur, sondern der ebenso jungfräulichentsexualisierte Android Data, der letztendlich die außer Kontrolle geratene, fluide Kommunikationstechnologie der Borg eindämmt. Wie Commander Data in vielen Folgen der Serie StarTrek: The Next Generation bewiesen hat, ist er weniger Maschine als Übermensch; seine ultramaskulinen Kräfte werden durch seine vorbildhafte Menschlichkeit noch übertroffen. In seinem Streben, Mensch zu werden, ist er der männlichen Subjektivität größter Fan. Als erster Mann erweist er sich als widerstandsfähig gegen die Verführungsversuche der Borg Queen, die ihm mit der Aufgabe seiner positronischen Kodes totale Lust und umfassendes Wissen verspricht. Data rettet die Menschheit, indem er sich von der Versuchung ubiquitärer Telekommunikation lossagen und seine monadische Identität behaupten kann. Star Trek: First Contact spielt so eine als feminin kodierte elektronische TechnoKultur gegen den hypermaskulinen Cyborg aus,33 der als letzte Bastion konventioneller Maskulinität eine stabile Subjektposition aufrechterhält und “damit die Bedeutung des Körpers einem Publikum versichert, das um den Status seiner eigenen Körperlichkeit besorgt ist”.34 Während sich rapide beschleunigende Entwicklungen auf solch diversen Gebieten wie dem genetischen Bioengineering, der medizinischen Technik, der Kommunikationstechnologie oder der Mikroelektronik den Körper zur Schnittstelle von Biologie und Technik machen, thematisieren so kürzlich erschienene Filme wie Terminator 3 (2003)35 die ungeminderte Unsicherheit diesen sich verändernden Parametern unserer Körperlichkeit gegenüber. In Terminator 3 wird die Bedrohlichkeit ubiquitär vernetzter Kommunikationstechnologie wiederum in eine Maschinenfrau verpackt, deren fließende, instabile Körperformen die Fähigkeit beinhalten, durch erotischen Fingerdruck elektronische Schaltkreise anzuzapfen, die daran angeschlossenen Datenbanken der Welt herunterzuladen und für ihre Zwecke zu missbrauchen. Währendessen feiern alternative und intellektuelle Medien den Cyborg als postmoderne politische Utopie einer idealen Gemeinschaft. Seine Hybridität bietet einerseits die Möglichkeit, politische Teilnahme von den gesellschaftlichen
33 34 35
Springer: Electronic Eros. S. 96–97. Bucatman: Terminal Identity. S. 302. Jonathan Mostow: Terminator 3. 2003.
253 Rändern her neu zu formulieren,36 andererseits Differenz ohne Rekurs auf eine biologische oder originäre Einheit neu und deshalb egalitärer zu denken.37 Im Mainstream-Kino des (ausgehenden) 20. Jahrhunderts jedoch ist dem Cyborg kein emanzipatorisches Potential eigen. Wie die siebzigjährige Zeitspanne zwischen Metropolis und StarTrek: First Contact deutlich macht, ist die Figur des Cyborgs ein definierender Topos des Science-Fiction-Genres geworden, weil hier nicht nur Einstellungen zu Technologie verhandelt, sondern auch Konzeptionen dessen hinterfragt werden, was es bedeutet, in unserem Zeitalter ein menschliches, geschlechtsspezifisches und stabiles Subjekt zu sein. Doch die Antworten bleiben anachronistisch konstant: In der oft als amerikanisches Epos beschriebenen Star Trek Serie sind es die Borg, die einem westlichen Fernsehpublikum immer wieder versichern, welche Vorteile traditionelle Auffassungen von Individualität und Sexualität besitzen, verglichen mit den heterogenen Lebensmodellen und hybriden Erfahrungsmustern anderer beziehungsweise anders denkbarer Gesellschaften. Fritz Langs Metropolis wird dabei zu einer Vorlage, deren Fiktionen von Technologie und Gender sich immer wieder auf andere Verhältnisse übertragen und mit anderen politischen Inhalten füllen lassen.
36
Chris Hables Gray: Cyborg Citizen. Politics in the Posthuman Age. New York – London 2001. S. 10. 37 Donna Haraway: A Manifesto for Cyborgs. In: Socialist Review 80 (1985). S. 65–107.
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She Changes by Intrigue.
Irony, Femininity and Feminism. Lydia Rainford
Amsterdam/New York, NY 2005. VII, 252 pp. (Genus 6) ISBN: 90-420-1607-8
€ 52,-/US $ 65.-
Contemporary feminist theorists have implied a special affinity between women and irony because of their ‘double’ relation to the prevailing order of things: both speak from within this order while remaining ‘other’ to it in some way. Irony can be regarded as the obvious mode in which a feminist might speak, as it reflects her relation to the patriarchal structure while refusing to validate the truth of the current sexual hierarchy. She Changes by Intrigue undertakes the first sustained analysis of the parallels between irony, femininity and feminism. By retracing the association of these terms through canonical and contemporary continental philosophy, the book seeks to illuminate a notion of sexual agency that has until now remained shadowy, in spite of its prevalence. Examining the recurrence of the ‘ironic feminine’ in texts by Kristeva, Hegel, Kierkegaard, Irigaray, Derrida and Kofman, it argues that a radical revaluation of the legacy of patriarchal thought in feminism is necessary before irony can be embraced as a feminist strategy. In this context, She Changes by Intrigue offers a new reading of what it means to write as a feminist ‘subject’. This volume will be of interest to students and academics working in the fields of gender studies, continental philosophy and critical / cultural theory. Lydia Rainford is a Lecturer and Junior Research Fellow at St. Hugh’s College, the University of Oxford. She is the co-editor of Literature and Visual Technologies: Writing After Cinema (Palgrave, Macmillan, 2003).
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Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch. Band 31 – 2005.
Begründet von Rudolph Berlinger † . Herausgegeben von Wiebke Schrader, Georges Goedert und Martina Scherbel.
Amsterdam/New York, NY 2005. 409 pp. ISBN: 90-420-1977-8
€ 82,-/ US $ 103.-
Inhalt I Von der Sinnlichkeit der Vernunft Andreas DORSCHEL: Sentimentalität. Über eine Kategorie ästhetischer und moralischer Abwertung Achim LOHMAR: Die Mystifikation ästhetischer Erfahrung Peter NICKL: Philosophie als „scientia affectiva“? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit Paola-Ludovika CORIANDO: „In dieser Skepsis kann niemand leben“. Über Nüchternheit und Enthusiasmus in der Philosophie II Über den schöpferischen Willen Theo MEYER: Kreative Subjektivität bei Nietzsche Kurt MAGER: Subjekt und Geschichte bei Arthur Schopenhauer und Theodor Lessing Edgar FRÜCHTEL: Einige Überlegungen zum Schicksalsbegriff in der Antike Jürgen-Eckardt PLEINES: Tugend zwischen Sittlichkeit und Moral III Zur wahren Schau Jorge Uscatescu BARRÓN: Zur Geschichte der Entgegensetzung des Guten und des Schlechten Thomas Alexander SZLEZÁK: Platonische Dialektik: Der Weg und das Ziel Salvatore LAVECCHIA: Die οµοίωσις θεω in Platons Philosophie IV Buchbesprechung
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Word and Music Studies.
Essays on Music and the Spoken Word and on Surveying the Field. Edited by Suzanne M. Lodato and David Francis Urrows.
Amsterdam/New York, NY 2005. XII, 200 pp. (Word and Music Studies 7) ISBN: 90-420-1897-6
€ 44,-/ US$ 55.-
The nine interdisciplinary essays in this volume were presented in 2003 in Berlin at the Fourth International Conference on Word and Music Studies, which was sponsored by The International Association for Word and Music Studies (WMA). The nine articles in this volume cover two areas: “Surveying the Field” and “Music and the Spoken Word”. Topics include postmodernism, philosophy, German literary modernism, opera, film, the Lied, radio plays, and “verbal counterpoint”. They cover the works of such philosophers, critics, literary figures, and composers as Argento, Beckett, Deleuze, Guattari, Feldman, Glenn Gould, Nietzsche, Schubert, Strauss, Wagner, and Wolfram.. Three films are discussed: Casablanca, The Fisher King, and Thirty Two Short Films About Glenn Gould.
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Loyalty, Dissent, and Betrayal:
Modern Lithuania and East-Central European Moral Imagination. Leonidas Donskis
Amsterdam/New York, NY 2005. XIII, 164 pp. (On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics 4) ISBN: 90-420-1727-9
€ 38,-/ US $ 48.-
Loyalty and betrayal are among key concepts of the ethic of nationalism. Marriage of state and culture, which seems the essence of the congruence between political power structure and collective identity, usually offers a simple explanation of loyalty and dissent. Loyalty is seen as once-and-for-all commitment of the individual to his or her nation, whereas betrayal is identified as a failure to commit him or herself to a common cause or as a diversion from the object of political loyalty and cultural/linguistic fidelity. For conservative or radical nationalists, even social and cultural critique of one’s people and state can be regarded as treason, whereas for their liberal counterparts it is precisely what constitutes political awareness, civic virtue, and a conscious dedication to the people and culture. This book is the first attempt to provide a discursive map of Lithuanian liberal and conservative nationalism. Analyzing the works and views of dissenters and critics of society and culture, we can reveal a mode of being of liberal nationalism as a social and cultural criticism. This volume is of interest for intellectual historians, social theorists, students of East-Central European thought, and anyone interested in Baltic studies and the new members of the EU.
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Grundlegung und Kritik
Der Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte 1794-1802 Dokumentation zur Lektüretagung der Internationalen Schelling-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft in Leonberg 2003
Herausgegeben von Jörg Jantzen, Thomas Kisser, Hartmut Traub Amsterdam/New York, NY 2005. VI, 228 pp. (Fichte-Studien 25) ISBN: 90-420-1667-1
€ 47,-/US $ 59.-
Inhalt: Vorwort der Herausgeber --- Wilhelm G. JACOBS: Einleitung --- Hartmut TRAUB: Über die Freundschaft; Vier Bemerkungen zum Briefwechsel zwischen Schelling und Fichte --- Paul ZICHE: Raumkonstruktion, Deduktion der Dimensionen und idealistische Prinzipientheorie Problemlagen im Fichte-Schelling-Briefwechsel vom November 1800 --- Christian KLOTZ: »Synthesis der Geisterwelt«. Fichtes Systemskizze im Briefwechsel mit Schelling --- Birgit SANDKAULEN: Was heißt Idealismus? Natur- und Transzendentalphilosophie im Übergang zur Identitätsphilosophie Schellings Systemskizze vom 19.11.1800 --- Violetta L. WAIBEL: Fichtes Kritik an Schelling »Alle Wissenschaften sind nur Theile der Wissenschaftslehre« --- Zu Fichtes Briefen an Schelling vom 31. Mai / 7. August 1801 und 15. Januar 1802 --- Lore HÜHN: Die Verabschiedung des subjektivitätstheoretischen Paradigmas. Der Grunddissens zwischen Schelling und Fichte im Lichte ihres philosophischen Briefwechsels --- Petra LOHMANN: Die Funktionen der Kunst und des Künstlers in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes --- Thomas KISSER: Wie kann eine allgemeine Theorie der Wirklichkeit ihre eigene Wahrheit zeigen? Bemerkungen und Fragen zu Struktur und Funktion der Kunst in Schellings System des transzendentalen Idealismus --- Zur Diskussion: Erklärung von Prof Dr. Maciej Potepa --- Editionspraxis in dürftiger Zeit am Beispiel der F. H. JacobiWerkeausgabe Band 3 von Albert Mues --- Vierter Internationaler Kongress der Russischen Fichte-Gesellschaft: »Platon, Machiavelli und Fichte – Die Idee einer gerechten Gesellschaft« vom 26. – 31. Mai 2004 in Ufa (Baschkortostan). Ein Reisebericht von Hartmut Traub --- Rezensionen
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Orientations: Space / Time / Image / Word. Word & Image Interactions 5. Textxet 48 Edited by Claus Clüver, Véronique Plesch, and Leo Hoek. With an Introduction by Charlotte Schoell-Glass. Amsterdam/New York, NY 2005. XVI, 360 pp. ISBN: 90-420-1966-2 € 76,-/US$95,-
Based on papers presented at the Fifth Triennial Conference of the International Association of Word and Image Studies (IAWIS/AERTI) held in 2002 in Hamburg, the twenty-two essays in this volume cover a wide array of intermedial relations and a great variety of media, from medieval architecture to interactive digital art. They have been arranged in sections labeled “History and Identity,” “Cultural Memory,” “Texts and Photographs: Cultural Anthropology and Cultural Memory,” “Mixed-Media Texts: Cartography in Contemporary Art and Fiction,” “Mixed-Media Texts: ‘Yellow-Cover Books’, Artists' Books, and Comics,” “Intermedia Texts: Logotypes,” and “Space, Spatialization, Virtual Space.” Displaying a range of methods and interests, these contributions by scholars from Europe, the United States, and South America working in different disciplines confirm the impression voiced by IAWIS president Charlotte Schoell-Glass in her introduction that “the influence of Visual and Cultural Studies has changed the outlook of many who study the interactions of texts and images”.
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Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ‘novelle’ im 15. und 16. Jahrhundert. Ursula Kocher Amsterdam/New York, NY 2005. 573 pp. (Chloe 38)
ISBN: 90-420-1976-X
Bound € 120,-/ US$ 150.-
More Info: Im allgemeinen gilt Goethe für den deutschen Sprachraum nach wie vor als der Begründer einer deutschen Novellistik, obwohl vermehrt darauf hingewiesen wird, daß es bereits vor ihm Erzähltexte gab, die als Novellen eingestuft werden können. Was theoretisch nicht reflektiert oder zumindest nicht als Phänomen erkannt wurde, wird suggeriert, gab es im deutschsprachigen Raum nicht. Diese Arbeit zeigt, daß in der großen Lücke zwischen 1353, dem Jahr, in dem Boccaccio sein Decameron und damit die erste große nachantike europäische Novellensammlung vollendete, und 1795, dem Erscheinungsjahr von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in der Tat produktive Auseinandersetzungen mit der novellistischen Art des Erzählens nach dem italienischen Muster entstanden. Untersucht und analysiert werden deutschsprachige Transpositionsformen italienischer Novellistik. Die narratologischen Analysen von Texten des 15. und 16. Jahrhunderts machen deutlich, daß die Gattung Novelle nicht über genaue Textmerkmale bestimmbar, sondern mit einer bestimmten Erzählweise verknüpft ist. Damit wird in dieser Abhandlung der Versuch unternommen, eine Textsorte als spezifische, in Diskurse eingebundene Kommunikationsform wahrzunehmen.
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Petrarch’s Canzoniere in the English Renaissance.
A new edition revised and enlarged.
Edited with Introduction and Notes by Anthony Mortimer. Amsterdam/New York, NY 2005. 196 pp. (Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft 88) ISBN: 90-420-1676-0
€ 44,-/ US $ 55.-
Seven centuries after the birth of Petrarch (1304-74) the nature and extent of his influence loom ever larger in the study of renaissance literature. In this revised and expanded edition of Petrarch's Canzoniere in the English Renaissance Anthony Mortimer presents a unique anthology of 136 English poems together with the specific Italian texts that they translate, adapt or exploit. The result, with its revealing juxtapositions of major and minor figures, makes fascinating reading for anyone who wants to get beyond broad generalizations about Petrarchism and see exactly what English poets made of Petrarch's celebrated sequence. Reviewing the first edition, Professor Brian Vickers wrote: "An ideal text-book for university courses in English or Comparative Literature. The critical introduction is a fresh, independent and accurate survey of the role of Petrarchism in the English Renaissance . . . our literary history is being rewritten, more accurately". ANTHONY MORTIMER is Professor of English Literature at the University of Fribourg, Switzerland, and also taught for many years at the University of Geneva. His major interests are in renaissance poetry and in the practice of verse translation. Among his recent publications are: Variable Passions: A Reading of Shakespeare's 'Venus and Adonis' (New York, 2000); Petrarch: Canzoniere (verse translations for Penguin Classics, London, 2002) and, as editor, The Authentic Cadence: Centennial Essays on Gerard Manley Hopkins (Fribourg, 1992) and From Wordsworth to Stevens : Essays in Honour of Robert Rehder (Bern and New York, 2005).
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The Yearbook of the Research Centre for German and Austrian Exile Studies 6
Arts in Exile in Britain 1933-1945: Politics and Cultural Identity. Edited by Shulamith Behr and Marian Malet. ISBN: 90-420-1786-4 € 76,-/ US $ 95.Amsterdam/New York, NY 2005. 377 pp. This volume focuses on the contribution of refugees from Nazism to the Arts in Britain. The essays examine the much neglected theme of art in internment and address the spheres of photography, political satire, sculpture, architecture, artists’ organisations, institutional models, dealership and conservation. These are considered under the broad headings ‘Art as Politics’, ‘Between the Public and the Domestic’ and ‘Creating Frameworks’. Such categories assist in posing questions regarding the politics of identity and gender, as well as providing an opportunity to explore the complex issues of cultural formation. The volume will be of interest to scholars and students of twentieth-century art history, museum and conservation studies, politics and cultural studies, in addition to those involved in German Studies and in German and Austrian Exile Studies.
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Satz und Sinn.
Bemerkungen zur Sprachphilosophie Wittgensteins. Volker A. Munz:
Amsterdam/New York, NY 2005. 302 pp. (Studien zur österreichischen Philosophie 39) ISBN: 90-420-1716-3
€ 60,-/ US $ 84.-
Der vorliegende Band liefert eine umfassende Analyse zum Verhältnis von Sprache und Realität in der Philosophie Ludwig Wittgensteins. Die Untersuchungen konzentrieren sich dabei auf die im Tractatus-Logico-philosophicus entwickelte Idee einer strukturellen Identität zwischen Satz, Gedanke und Sachverhalt, auf die Forderung nach einer phänomenologischen Sprache als Ausdruck unserer unmittelbaren Erfahrungen sowie auf die zentralen Begriffe der grammatischen Regel und ihrer sinnvollen Anwendung. Das Buch versteht sich vor allem als ein Beitrag zur Frage der Beziehung zwischen einem Satz und seinem Sinn, wobei es versucht, besonders die Probleme und Motive zu rekonstruieren, welche im Zusammenhang zu Wittgensteins gewandeltem Sprachverständnis stehen. In diesem Band werden erstmalig auch Auszüge bisher unveröffentlichter Mitschriften von Wittgenstein-Vorlesungen publiziert. Die Aufzeichnungen stammen von Yorick Smythies, einem engen Freund und Schüler Wittgensteins und sind größtenteils aus den Jahren 1937 bis 1939. Darüber hinaus enthält der Text ebenfalls unveröffentlichtes Material aus dem philosophischen Nachlass von Rush Rhees.
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The Baltic States and their Region New Europe or Old? Edited by David J. Smith Amsterdam/New York, NY 2005. VI, 322 pp. (On the Boundary of Two Worlds: Identity, Freedom, and Moral Imagination in the Baltics 3) ISBN: 90-420-1666-3
Paper € 67,-/ US $ 84.-
With EU and NATO membership for the Baltic States now a reality, this volume examines the relationship of the three countries, their constituent peoples and their surrounding region to the wider Europe, both historically and in the period since 1991. In particular, the contributors seek to locate the Baltic area within the manifold debates surrounding the concepts of “new” and “old” Europe, including those occasioned by the current conflict in Iraq. Covering issues of identity, sovereignty, minority rights, security and relations with Russia the work assesses the likely contribution of this region to an enlarged Euro-Atlantic community. It will appeal to specialists and students in the fields of area studies, history, politics and international relations.
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Libuše Moníková in Memoriam. Edited by Brigid Haines and Lyn Marven. Amsterdam/New York, NY 2005. IV, 320 pp. (German Monitor 62) ISBN: 90-420-1616-7
Bound € 68,-/ US $ 85.-
The novelist and essayist Libuše Moníková (1945-1998) made a unique contribution to German, Czech and world literature, writing in German from a distinctly Czech perspective in a manner which can best be described as encyclopaedic and highly intertextual. Positively received abroad, particularly in Germany and the US, her works remained until recently relatively unknown in the land of her birth. This volume, whose appearance marks what would have been the sixtieth anniversary of her birth, is the first in-depth study of the work of this truly European writer. It contains specially commissioned articles by Czech, German, US and British scholars, as well as an appreciation by her friend and fellow writer F.C. Delius, an English translation of one of her last interviews, and the first comprehensive bibliography. The essays range from close readings of a single text, in particular the satirical, picaresque novel Die Fassade and the posthumously published Der Taumel, to surveys of themes, techniques or motifs within her œuvre, for example nation, exile, history and myth, and studies of Moníková’s intertextual references, particularly to film and the work of Arno Schmidt. The contributions emphasise the comic, the personal and the ambiguity in her works, as well as the sheer breadth of Moníková’s interests and sources.
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Refuge and Reality:
Feuchtwanger and the European Émigrés in California Edited by Pól O’Dochartaigh and Alexander Stephan Amsterdam/New York, NY 2005. VIII, 140 pp. (German Monitor 61) ISBN: 90-420-1945-X
Bound € 40,-/ US $ 56.-
This volume brings together papers by scholars from Germany, the USA, France, England and Ireland given at the first International Feuchtwanger Conference, held in Los Angeles in 2003. Some of Lion Feuchtwanger’s novels from his exile in the United States are analyzed here, as are the lives of Lion and Marta Feuchtwanger and their contacts in the German émigré world in California. In addition, two papers focus on aspects of Bertolt Brecht’s and Alfred Döblin’s lives as emigrants in California. This volume is of interest to students of exile studies, of German refuge in the USA and of modern German literature. Pól O’Dochartaigh is Senior Lecturer in German at the University of Ulster, Coleraine, Northern Ireland. Among his recent publications are Germany since 1945 (Basingstoke and New York, 2004) and Julius Pokorny, 1887-1970: Germans, Celts and Nationalism (Dublin, 2004). Alexander Stephan is Professor and Ohio Eminent Scholar and Senior Fellow at the Mershon Center for the Study of International Security at Ohio State University, USA. Among his numerous publications are 'Communazis.' FBI Surveillance of German Emigré Writers (New Haven, 2000; German Stuttgart, 1995), Anna Seghers: 'Das siebte Kreuz'. Welt und Wirkung eines Romans (Berlin, 1997) and Die deutsche Exilliteratur 1933-1945. Eine Einführung (Munich, 1979).
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Im Schatten der Literaturgeschichte Autoren, die keiner mehr kennt?
Plädoyer gegen das Vergessen
Herausgegeben von Jattie Enklaar und Hans Ester unter Mitarbeit von Evelyne Tax Amsterdam/New York, NY 2005. 358 pp. (Duitse Kroniek 54) ISBN: 90-420-1915-8
€ 70,-/US $ 98.-
Schlägt man ein willkürliches Handbuch der deutschen Literatur aus dem 19. Jahrhundert auf, so begegnet man Namen, die nur noch wenige kennen. Eine solche Begegnung kann ein Schock sein. Was hat man nicht alles versäumt? Hat man das Glück, über eine (ur)großelterliche Bibliothek zu verfügen, ist man erstaunt, wenn man außer den Namen etablierter Klassiker, wie Goethe, Schiller, Heine oder Lenau, in weit größerer Zahl Werke antrifft, die der bürgerlichen Bildungstradition des 19. und des anfangenden 20. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt haben, manchmal sogar in zwanzigbändigen, schmucken Ausgaben. Da trifft man auf Namen wie Felix Dahn, Paul Heyse, Waldemar Bonsels, Otto Flake und Otto Roquette. An ihrer Seite treten im 19. Jahrhundert schon andere Autoren in Erscheinung, die den konservativen Kräften entgegenwirkten und sich energisch für eine neue Gesellschaft und eine neue Literatur einsetzten. Im 20. Jahrhundert ist eine ähnliche Entwicklung wahrzunehmen, anfangend mit den Expressionisten, unter denen es auch „Vergessene“ und „poetae minores“ gibt, die an der Geschichte ihrer Zeit aber mit neuer Innerlichkeit teil hatten und einen Ansturm gegen die Grenzen der tradierten Literatur unternahmen. Die Literaturgeschichte sichtet und beseitigt. Ob dieses Sichten und Unsichtbarmachen mit Recht geschehen ist, bildet die Kernfrage dieses Buches.
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