Arndt Büssing Niko Kohls (Hrsg.) Spiritualität transdisziplinär Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit
Arndt Büssing Niko Kohls (Hrsg.)
Spiritualität transdisziplinär Wissenschaftliche Grundlagen im Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit Unter Mitarbeit von Karin Andert Mit 22 Abbildungen und 22 Tabellen
1C
Dr. phil. Niko Kohls Ludwig-Maximilians-Universität München Generation Research Program Humanwissenschaftliches Zentrum Prof.-Max-Lange-Platz 11 83646 Bad Tölz Deutschland und Peter-Schilffarth-Institut für Soziotechnologie Prof.-Max-Lange-Platz 16 83646 Bad Tölz Deutschland
Univ.-Prof. Dr. med. Arndt Büssing Universität Witten/Herdecke Gerhard-Kienle-Weg 4 58313 Herdecke Deutschland
ISBN-13
978-3-642-13064-9
Springer-Verlag Berlin Heidelberg New York
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2126 – 5 4 3 2 1 0
V
Geleitwort Das Thema Spiritualität und Gesundheit ist in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus des wissenschaftlichen und öffentlichen Interesses gekommen. In der Tat zeigen neuere, faszinierende Erkenntnisse der Hirnforschung wie auch der Psychoimmunologie und Psychosomatik auf, wie intensiv der Zusammenhang zwischen Körper und Geist eigentlich ist. Auf diesem Hintergrund erscheinen einige Behauptungen, über die Wissenschaftler vor gar nicht allzu langer Zeit noch milde gelächelt oder aber wahlweise qualvoll die Augen verdreht haben, in einem neuen Licht. Wir wissen mittlerweile beispielsweise, dass Spiritualität und vor allem regelmäßiges spirituelles Praktizieren die Schmerzwahrnehmung erheblich beeinflussen kann und bestimmte Bewusstseinstechniken wie die bekannt gewordene Achtsamkeitsmeditation, Yoga oder Thai-Chi eine Reihe von pathologischen körperlichen und psychischen Symptomen lindern können. Dennoch werden diese Erkenntnisse von vielen am »Mainstream« orientierten Grundlagenforschern kritisch hinterfragt und können zudem mangels akzeptierter Modelle von Klinikern nicht oder nur zögerlich in die Praxis umgesetzt werden. Jedoch glaube ich, dass Aspekte von Spiritualität in unserem Gesundheitssystem zukünftig eine bedeutendere Rolle spielen werden, weil der Anteil der älteren Menschen aufgrund des demographischen Wandels und des medizinischen Fortschritts stetig zunimmt. Aus etlichen Studien, wie zum Beispiel der Berliner Altersstudie, wissen wir, dass das Bedürfnis nach Spiritualität und Fragen der Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit mit steigendem Lebensalter größer werden. Damit ist – um einem Missverständnis vorzubeugen – nicht gesagt, dass jüngere Menschen keine spirituellen Bedürfnisse haben, sondern lediglich, dass sie im Laufe des Lebens eine andere Bedeutung und Bewertung erhalten können. Auf diese veränderten Bedürfnis-, Werte- und Einstellungslandkarten müssen Gesundheitswissenschaften und klinische Praxis aber gleichermaßen eingehen, wenn sie den Erwartungen und Bedürfnissen der zukünftigen Gesellschaft gerecht werden wollen. Aus diesem Grund habe ich mich gefreut, dass ich als Leiter des Generation Research Programs der Universität München und des Peter-Schilffarth-Instituts für Soziotechnologie die Gelegenheit hatte, die konstituierende Auftakt- und die Folgeveranstaltung der Transdisziplinären Arbeitsgruppe Spiritualität und Krankheit in Bad Tölz mit initiieren zu können. Ich hoffe, dass wir damit dazu beitragen konnten, einen Prozess in Gang zu bringen, von dem ich glaube, dass er sehr notwendig ist und von dem ich hoffe, dass er sich in der Zukunft weiterentwickeln wird. Dr. med. Dipl.-Ing. Herbert Plischke
Leiter Generation Research Program/Peter-Schilffarth-Institut für Soziotechnologie Bad Tölz, im März 2011
VII
Inhaltsverzeichnis 1
Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte des Bewusstseins auf der Grundlage eines pragmatischen Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Pöppel
1
3
2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8
Gemeinsamkeit alles Lebendigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Besonderheiten des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Bewusstsein als »Versklavung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6 Der Wunsch sich zu befreien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Meditation als besonderer Befreiungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Neuronale Randbedingungen der Befreiung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Das Bewusstsein ist individuell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Erreichen verschiedener Bewusstseinszustände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3
Europäische Geistesgeschichte, neuere Spiritualität und Wissenschaft . . . . . . . 13 Peter Heusser
4
Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Tobias Esch
4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gesundheit, Verhalten und Autoregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Motivation und Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stress, Salutogenese und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endogenes Morphium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schmerz, Entspannung, Spiritualität und Selbsthilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität – eine experimentelle, integrativ-abgleichende Gegenüberstellung von zwei Definitionen . . . . . . . . . . 37 Ralph Marc Steinmann
5.1 5.2 5.3 5.4 5.5
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein methodischer Vorschlag zur Definition des Spiritualitätsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fallbeispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6
Spirituelle und religiöse Konstrukträume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Stefan Huber und Constantin Klein
6.1 6.2 6.3
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Modell der Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Methode: Abbildung der Dialektik von Sein und Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
24 24 26 27 30 32 34 35
38 40 41 47 49 51
VIII
Inhaltsverzeichnis
6.4 6.5
Das wechselseitige Verhältnis von spirituellen und religiösen Identitäten . . . . . . . . . . . . . 58 Die Konstrukträume pluraler religiöser und spiritueller Identitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
7
»Vermessung des Glaubens« und Geheimnis des Menschseins . . . . . . . . . . . . . . . . 67 Klaus Baumann
7.1 7.2 7.3
Zwischen Spiritualitäts-Boom und religiösen Altlasten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Wie macht Glaube gesund?« – Eine Frage empirischer Forschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religiosität und Spiritualität um der Gesundheit oder um ihrer bzw. der Menschen selbst willen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68 70 71 73
Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Murken, Katja Möschl, Claudia Müller und Claudia Appel
75
8.1 8.2 8.3 8.4 8.5 8.6 8.6.1 8.6.2 8.6.3 8.7
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Theoretischer Hintergrund und Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Items . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der explorativen Faktorenanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Item- und Testkennwerte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse der konfirmatorischen Faktorenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 76 76 81 81 83 83 84 85 88 88 90
9
Spirituelle Erfahrungen und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eckart Ruschmann und Elisa Ruschmann
93
9.1 9.2
Eckart Ruschmann: Spiritualität und Wissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Elisa Ruschmann: Eine strukturelle Konzeption religiös-spiritueller Erfahrung . . . . . . . . 100 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
10
Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Arndt Büssing
10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 10.6 10.7 10.8 10.9 10.10
Wer kontrolliert den Prozess der Gesundung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausdrucksformen der Spiritualität in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiritualität/Religiosität im Kontext von Krankheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Formen der spirituellen Praxis bei Patienten mit chronischen Erkrankungen . . . . . . . . . Zusammenhang zwischen Krankheitsbewertung und Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Glaube an ein Leben nach dem Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Utilitarismus: Spiritualität und Gesundheit bei chronisch Kranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiritualität der Atheisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spirituelle Bedürfnisse chronisch Kranker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
108 110 111 113 114 116 116 118 119 120 122
Inhaltsverzeichnis
IX
11
Emotionale Krankheitsakzeptanz - Ausgangspunkt für seelische Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 Götz Mundle und Edda Gottschaldt
11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6 11.7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Oberbergkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Emotionale Krankheitsakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Evaluation der Emotionalen Krankheitsakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integrale Heilkunst – die Weiterentwicklung des Oberbergkonzeptes . . . . . . . . . . . . . . . . Die Oberberg Stiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Oberberg Akademie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12
Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Niko Kohls und Harald Walach
12.1 12.2 12.3 12.4 12.5 12.6 12.6.1 12.6.2 12.7
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Definitions- und Abgrenzungsproblematik des Begriffs Spiritualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . Methodologische Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spirituelle Erfahrungen und ihre gesundheitlichen Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prävalenz und Phänomenologie spiritueller Erfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eigene Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exceptional Experiences Questionnaire (EEQ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusammenfassung der Forschungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen und religionsgeschichtlichen Kontext: Zwei exemplarische Falldarstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Anne Koch und Karin Meissner
13.1 13.2 13.2.1 13.2.2 13.3 13.3.1 13.3.2 13.3.3 13.3.4 13.4 13.5
Geistiges Heilen: Begriffsbestimmung und religionsgeschichtliche Einordnung . . . . . . Effekte geistigen Heilens aus naturwissenschaftlicher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bisherige Studien zu physiologischen Effekten während einer Kontaktheilung . . . . . . . . . . . . Forschungsstand zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ablauf und Methodik der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Heilungsritual der White-Eagle-Lodge (WEL) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste Ergebnisse anhand zweier exemplarischer Fallbeispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion der psychophysiologischen und sozialwissenschaftlichen Daten. . . . . . . . . . Schlussfolgerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
Spiritualität und Alter – Zielgruppen und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Karin Wilkening
14.1 14.2 14.3
Altersbilder und Interventionsgerontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Positive Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Zielgruppendefinition und Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
126 126 126 127 128 129 130 130
134 135 136 136 137 139 139 140 141 142
147 149 149 149 150 150 151 151 154 159 163 163
X
Inhaltsverzeichnis
14.4 14.5 14.6 14.7
Optimales Altern und Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Normales Altern und Verlusterfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spiritualität bei Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschungsdesiderate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung auf die psychotherapeutische Tätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Liane Hofmann
15.1 15.2 15.3
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Begriffsverwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zum Grad der Auswirkung der spirituellen/religiösen Orientierung des Psychotherapeuten auf dessen psychotherapeutische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einfluss auf Weltanschauung und Menschenbild des Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Entwicklung von psychotherapeutisch förderlichen Qualitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der transpersonale Bewusstseinsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spirituelle/religiöse Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die spirituelle/religiöse Orientierung als Ressource für den Therapeuten . . . . . . . . . . . . . Größere Offenheit, Bewusstheit und Sensibilität hinsichtlich religionsbezogener Inhalte und Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterter Bezugsrahmen, erweiterte Perspektiven, erweiterte Modelle und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beurteilung der Befunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15.4 15.5 15.6 15.7 15.8 15.9 15.10 15.11 15.12
169 170 171 172 172
174 175 176 177 179 180 183 184 185 186 189 191 192
16
Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Renate Ruhland
16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7
Spirituelle Bildung – Relevanz und Zielsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der spirituellen Erwachsenenbildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transpersonales Lernen als Basis für den Aufbau spiritueller Kompetenzen . . . . . . . . . . Professionalität – Qualifikationsanforderungen an spirituell Lehrende . . . . . . . . . . . . . . . Vermittlungs- und aneignungsdidaktische Aspekte von Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualität spiritueller Bildungsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansatzpunkte für die Konzipierung eines modularisierten »Spiritualitäts-Curriculums« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16.8
199 200 201 205 207 209 210 211 212
17
Spiritualität als Ressource in der Altersarbeit – ein intergeneratives Seminarkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Karin Wilkening
17.1 17.2 17.3 17.4
Lernzieldefinition, Zielgruppe und Modulstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Äußere Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Methoden und Material . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Seminarablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216 217 217 218
Inhaltsverzeichnis
XI
17.5
Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221
18
Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen? Meditieren mit kranken Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Brigitte Fuchs
18.1 18.2 18.3 18.4 18.5 18.6
Was ist Meditation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Therapeutische Wirkung von Meditation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worauf gründen die therapeutischen Wirkungen von Meditation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meditation mit Kranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Therapeutische Meditation« mit Kranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
224 224 225 225 226 228 229
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231
XIII
Autorenverzeichnis Appel, Claudia, Dipl.-Psych.
Psychosomatische Fachklinik St. Franziska-Stift Franziska-Puricelli-Str. 3 55543 Bad Kreuznach
[email protected] Baumann, Klaus, Prof. Dr.
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Theologische Fakultät Platz der Universität 3 79098 Freiburg klaus.baumann@theol. uni-freiburg.de Büssing, Arndt, Univ.-Prof. Dr. med.
Universität Witten/ Herdecke, Zentrum für Integrative Medizin Gerhard-Kienle-Weg 4 58313 Herdecke
[email protected] Esch, Tobias, Prof. Dr. med.
Hochschule Coburg Bereich Integrative Gesundheitsförderung Friedrich-Streib-Str. 2 96450 Coburg
[email protected] Fuchs, Brigitte, PD Dr.
Am Unteren Wannenberg 8 86655 Harburg
[email protected] Gottschaldt, Edda, Dr. med.
Oberbergkliniken Charlottenstraße 60 10117 Berlin Edda.gottschaldt@ oberbergkliniken.de
Heusser, Peter, Univ.-Prof. Dr. med., MME (UniBe)
Gerhard Kienle Lehrstuhl für Medizintheorie Integrative und Anthroposophische Medizin Zentrum für Integrative Medizin Fakultät für Gesundheit Universität Witten/Herdecke Gerhard-Kienle-Weg 4 58313 Herdecke
[email protected] Hofmann, Liane, Dr.
Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene Wilhelmstraße 3a 79098 Freiburg i.Br.
[email protected] Huber, Stefan, PD Dr.
Ruhruniversität Bochum Universitätsstraße 150 44780 Bochum
[email protected] Klein, Constantin, Dipl.Psych. Dipl.-Theol.
Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie - Abteilung Theologie Universitätsstraße 25 33615 Bielefeld constantin.klein@ uni-bielefeld.de
Koch, Anne, PD Dr.
Ludwigs-MaximiliansUniversität Religionswissenschaft Geschwister-Scholl-Platz 1 80539 München anne.koch@evtheol. uni-muenchen.de Kohls, Niko, Dr.
Generation Research Program (GRP) der LudwigMaximilians-Universität und Peter-SchilffarthInstitut für Soziotechnologie (PSI) 83646 Bad Tölz
[email protected] Meissner, Karin, Dr.
Ludwig-MaximiliansUniversität München, Institut für Medizinische Psychologie Goethestraße 31 80336 München
[email protected]. de Möschl, Katja
c/o Arbeitsgruppe Religionspsychologie, FPP der Universität Trier Franziska-Puricelli-Str. 3 55543 Bad Kreuznach Müller, Claudia, Dr. rer. nat.
Ärztezentrum am OEZ Hanauer Str. 58 80992 München claudia.christine.mueller@ gmx.de
XIV
Autorenverzeichnis
Mundle, Götz, Prof. Dr. med.
Oberbergkliniken Charlottenstraße 60 10117 Berlin Goetz.Mundle@ oberbergkliniken.de Murken, Sebastian, Prof. Dr.
Arbeitsgruppe Religionspsychologie, FPP der Universität Trier Franziska-Puricelli-Str. 3 55543 Bad Kreuznach
[email protected]
Pöppel, Ernst, Prof. Dr. ML
Humanwissenschaftliches Zentrum (HWZ) der LMU München Goethestr. 31 80336 München GRP/PSI Prof.-Max-Lange-Platz 11 83646 Bad Tölz
[email protected] Ruhland, Renate, Dr.
Sixtusstr. 24 45721 Haltern am See
[email protected]
Plischke, Herbert, Dr. med. Dipl.-Ing.
Ruschmann, Eckart, Univ.-Doz. Dr. phil.
Generation Research Program (GRP) der LudwigMaximilians-Universität und Peter-SchilffarthInstitut für Soziotechnologie (PSI) 83646 Bad Tölz
[email protected]
Grundreuteweg 15 6900 Bregenz Österreich
[email protected] Ruschmann, Elisa, Dipl.-Psych.
Grundreuteweg 15 6900 Bregenz Österreich
[email protected]
Steinmann, Ralph Marc, Dr. phil. MAS
Bergackerstr. 15 F 3066 Stettlen Schweiz
[email protected] Walach, Harald, Prof. Dr. Dr. phil.
Institut für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften Europa Universität Viadrina Postfach 1786 15207 Frankfurt
[email protected] Wilkening, Karin, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych.
Ostfalia-Hochschule für angewandte Wissenschaften Fakultät Soziale Arbeit Salzdahlumer Straße 46/48 38302 Wolfenbüttel
[email protected]
XV
Autorenporträts Appel, Claudia, Dipl.-Psych. – Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin für Verhaltenstherapie am St. Franziska-Stift Bad Kreuznach, von 2005 bis 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Religionspsychologie des FPP der Universität Trier, Bad Kreuznach;
[email protected] Baumann, Klaus, Dr. Theol. Lic. Psych. (BDP) – Psychologischer Psychotherapeut (DFT),
Professor für Caritaswissenschaft und Christliche Sozialarbeit, Theologische Fakultät, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Kath. Priester, Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis. Editorial Board des Online Journals »Religions«; klaus.baumann@theol. uni-freiburg.de Büssing, Arndt, Univ.-Prof. Dr. med. – Professur für Lebensqualität, Spiritualität und Coping
Krankheitsumgang« am Zentrum für Integrative Medizin der Universität Witten/Herdecke. Herausgeber der »Deutschen Zeitschrift für Onkologie« und Editorial Board des Online Journals »Religions«;
[email protected] Esch, Tobias, Prof. Dr. med. – Mediziner, Gesundheits- und Neurowissenschaftler. An der
Hochschule Coburg vertritt er integrative Ansätze zur Förderung von Gesundheit und Wohlbefinden, die grundlegend auf dem Ansatz einer salutogenen und ressourcenorientierten Medizin (Mind-Body-Medizin) basieren und Aspekte von Glauben und Spiritualität einbeziehen. Mitglied eines neurowissenschaftlichen Teams in New York;
[email protected] Fuchs, Brigitte, PD Dr. – Von 1999 bis 2002 Professorin für praktische Theologie an der Universität Fribourg/Schweiz, jetzt Meditationslehrerin und Privatdozentin an der Universität Würzburg;
[email protected] Gottschaldt, Edda, Dr. med. – Fachärztin für Kinderheilkunde und Psychosomatische Medizin, übernahm 1998 nach dem Unfalltod ihres Mannes, Prof. Dr. med. Matthias Gottschaldt, die Leitung der Oberbergkliniken und gründete die Oberberg Stiftung Matthias Gottschaldt (vormals Deutsche Suchtstiftung). 2009 gründete sie die Oberberg Akademie Integrale Heilkunst, dessen Curriculum für Ärzte, Psychologen, Therapeuten und medizinisches Fachpersonal im September 2010 begann;
[email protected] Heusser, Peter, Univ. Prof. Dr. med. MME (UniBe) – Inhaber des Lehrstuhls für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin der Universität Witten/Herdecke. Evaluation anthroposophischer und komplementärmedizinischer Therapieverfahren, Ausbildungsforschung und wissenschaftliche Grundlagen einer ganzheitlichen medizinischen Anthropologie und Medizintheorie;
[email protected] Hofmann, Liane, Dr. phil. Dipl.-Psych. – Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für
Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene (IGPP), Freiburg. Dissertation zum Thema »Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Praxis«. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Möglichkeiten der Einbeziehung von spirituellen/religiösen Faktoren im Rahmen der klinisch-therapeutischen Praxis, Krisen der spirituellen/religiösen Entwicklung, Transcultural Flows of Yoga, Geistiges Heilen und Schulmedizin;
[email protected]
XVI
Autorenporträts
Huber, Stefan, PD Dr. phil, lic. theol. – Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centrum für re-
ligionswissenschaftliche Studien (CERES) der Universität Bochum. Religionspsychologische Grundlagenforschung, interdisziplinär angelegte Studien zur Gegenwartsreligiosität, Pentekostalismus;
[email protected] Klein, Constantin, Dipl.-Psych. Dipl.-Theol. – Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Geschichtswissenschaften, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld. Empirische Erforschung von Religiosität und Spiritualität der Gegenwart, Entwicklung und Verbesserung von Methoden zur Messung der Religiosität sowie Erforschung des Verhältnisses von Religiosität zu körperlicher und psychischer Gesundheit;
[email protected] Koch, Anne, PD Dr. phil. Dipl.-Theol. – Wissenschaftliche Assistentin am Interfakultären Studiengang Religionswissenschaft der LMU München. Interdisziplinäres Forschungsprojekt zu »Spiritiual healing in transcultural tranisitions«;
[email protected] Kohls, Niko, Dr. phil., Dipl.-Psych. – Seit 2008 am Generation Research Program des Hu-
manwissenschaftlichen Zentrums als Samueli Scholar und am Peter-Schilffarth-Institut in Bad Tölz tätig. Aufbau der Arbeitsgruppe »Psychophysiologie des Bewusstseins: Spiritualität, Achtsamkeit, Lebensqualität und Gesundheit«;
[email protected] Meissner, Karin, Dr. med. – Leiterin der Arbeitsgruppe »Experimentelle Psychosomatik und Placeboforschung« am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Placeboeffekte, Psychophysiologie, Zeitwahrnehmung;
[email protected] Möschl, Katja, Dipl.-Psych. – Trainerin im Bereich Gesundheitsförderung. Von Juni 2006 bis
Oktober 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Religionspsychologie der Universität Trier, Bad Kreuznach Müller, Claudia, Dr. rer. nat. – Psychologische Psychotherapeutin, niedergelassen im Ärztezentrum am OEZ in München, ehemalige Mitarbeiterin der Arbeitsgruppe Religionspsychologie des FFP der Universität Trier, Bad Kreuznach;
[email protected] Mundle, Götz, Prof. Dr. med. – Seit 2007 ärztlicher Geschäftsführer der Oberbergkliniken,
seit 2010 Chefarzt der Oberbergklinik Berlin/Brandenburg, Stellvertretender Vorsitzender der Oberberg Stiftung Matthias Gottschaldt (vormals Deutsche Suchtstiftung). Er leitet die im April 2009 gegründete Oberberg Akademie, die ein postgraduales Weiterbildungscurriculum für akademische Berufe aus dem Gesundheitswesen, Ärzte, Psychologen, Therapeuten und medizinisches Fachpersonal anbietet;
[email protected] Murken, Sebastian, Prof. Dr. rer. nat. Dr. phil. habil. – Leiter der Arbeitsgruppe Religions-
psychologie des FPP der Universität Trier. Religionswissenschaftler und Psychologischer Psychotherapeut. Honorarprofessur der Philipps-Universität Marburg, Leitung einer Therapiestation der Psychosomatischen Fachklinik St. Franziska-Stift in Bad Kreuznach;
[email protected]
Autorenporträts
XVII
Plischke, Herbert, Dr. med., Dipl.-Ing. – Arzt und Elektroingenieur, Geschäftsführender
Leiter des Generation Research Program des Humanwissenschaftlichen Zentrums und Geschäftsführer des Peter-Schilffarth-Institutes für Soziotechnologie gGmbH;
[email protected] Pöppel, Ernst ML, Prof. Dr. phil. Dr. med. habil. – Institut für Medizinische Psychologie
und Humanwissenschaftliches Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München; Peter-Schilffarth-Institut für Soziotechnologie und Generation Research Program, Bad Tölz; Parmenides-Center for the Study of Thinking and Art & Science, Pullach im Isartal; ernst.
[email protected] Ruhland, Renate, Dr. phil. Dipl.-Päd. – Arbeitsschwerpunkte in der Erwachsenenbildung und Geragogik: Erziehungswissenschaftliche Implikationen von Spiritualität, Biografiearbeit und spirituelles Coaching, Persönlichkeitsbildung und sinnorientiertes Life-Styling, Empowerment, Salutogenese, Coping und Resilienzförderung;
[email protected] Ruschmann, Eckart, Univ.-Doz. Dr. phil. – Studium der Philosophie, Indologie und Psycho-
logie. Seit 1976 Ausbilder für Beratung. 2002 Habilitation für Philosophie an der Univ. Klagenfurt. Philosophischer Berater und Psychotherapeut (klientenzentriert). 2006 Gründung des »Bodensee-Kolleg«, Bregenz;
[email protected] Ruschmann, Elisa, Dipl.-Psych., Psycholog. Psychotherapeutin – Studium der Malerei und Grafik, der Psychologie und Philosophie. Tätig in Beratung, Psychotherapie, Körperarbeit (F.M. Alexander-Technik) und als Ausbilderin für personzentrierte (werteorientierte) Beratung. 2006 Gründung des »Bodensee-Kolleg«, Bregenz;
[email protected] Steinmann, Ralph Marc, Dr. phil., MAS Gesundheitsförderung und Prävention – Indo-
loge und Public Health-Fachmann, Lehrtätigkeit an Universitäten und Fachhochschulen. Seit 2005 tätig bei Gesundheitsförderung Schweiz, Bern, mit dem Schwerpunkt auf Förderung der psychischen und spirituellen Gesundheit. Betriebliche Gesundheitsförderung, Life Domain-Balance, Generationen- und Alterns-Management, innovative Projekte;
[email protected] Walach, Harald, Dr. phil. Dipl.-Psych. – Professor für Forschungsmethodik der komplementären Medizin und Leiter des Instituts für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Europa Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), Deutschland;
[email protected] Wilkening, Karin, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. – Professorin an der FH Braunschweig/Wol-
fenbüttel (Ostfalia), Fakultät Soziale Arbeit mit Schwerpunkt Angewandte Gerontologie, Humanwissenschaften & Sozialethik (speziell Tod, Trauer und Demenz); seit 1997 Lehrbeauftragte für Gerontopsychologie an der Universität Zürich; Gründungsmitglied der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sowie mehrerer Hospizinitiativen;
[email protected]
1
Editorial
1
2
1
Kapitel 1 • Editorial
Ausgehend vom US-amerikanischen Forschungskontext hat sich seit etwa zwei Jahrzehnten ein zunehmendes Interesse an der inter- und transdisziplinären Erforschung des Zusammenhangs von Spiritualität und Gesundheit entwickelt. Belegt wird dies eindrucksvoll durch die steigende Anzahl wissenschaftlicher Tagungen, Publikationen und Fachzeitschriften, die sich diesem Thema explizit widmen, wie das Journal of Spirituality in Mental Health oder das Journal of Religion, Spirituality & Aging. Vor drei Jahren schlossen sich deutschsprachige Forscher zu einem Netzwerk zusammen und entwickelten eigene Ansätze und Perspektiven. Damit reagierten sie auf die immer wieder artikulierten Zweifel an der Übertragbarkeit von anglo-amerikanischen Forschungsergebnissen auf die europäische Kultur, denn sozial- und gesundheitswissenschaftliche Forschungsergebnisse sind, wie bekannt, in vielen Fällen kultur- und kontextabhängig bestimmt. Gerade der Trend zur Individualisierung und Säkularisierung, der sich in Europa zunehmend bemerkbar macht, wirft die Frage auf, ob Spiritualität und Religiosität im Umgang mit Krankheit eine relevante Ressource für Patienten ist. Mehrere Faktoren sind dabei zu beachten und kritisch zu hinterfragen. Zum einen betrifft es die bisher angewandten Messmethoden und ihre Aussagekraft in Bezug auf die Patienten, zum anderen die wissenschaftlich fundierte Implementierung der Thematik in das Gesundheitssystem und deren Abgrenzung gegenüber Heilsversprechen mit unklarer Evidenz. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, wie eine adäquate Ausund Fortbildung für Angehörige von begleitenden Berufen aussehen könnte. Die Gründung einer deutschsprachigen Arbeitsgruppe im Frühjahr 2008 durch Klaus Baumann, Arndt Büssing, Niko Kohls, Harald Walach und Karin Wilkening hatte zum Ziel, unterschiedliche akademische Professionen, die sich um diese Thematik bemühen, »an einen Tisch« zu bekommen, um das Thema Spiritualität konfessionsneutral und ohne ideologische Einschränkungen wissenschaftlich zu bearbeiten. Daraus entstand die Transdisziplinäre Arbeitsgruppe Spiritualität und Krankheitsumgang (TASK) mit der Durchführung von drei Tagungen namhafter Forscher aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Das Ausmaß des Interesses an diesen Tagungen zeigte sich an der hohen Teilnehmerzahl und äußerte sich während der intensiven Diskussionen im Plenum. In den zahlreichen Workshops war man bemüht, andere Perspektiven jenseits der eigenen Profession nachzuvollziehen und aufzugreifen. Die ersten beiden Veranstaltungen wurden im September 2008 und 2009 auf Einladung des Generation Research Programs des Humanwissenschaftlichen Zentrums der Ludwig-Maximilians-Universität München in Kooperation mit dem Peter-Schilffarth-Institut für Soziotechnologie in Bad Tölz durchgeführt. Das dritte Treffen wurde im September 2010 vom Zentrum für integrative Medizin der Universität Witten/Herdecke ausgerichtet. Alle drei Tagungen waren öffentlich und die Teilnahme von interessierten Personen außerhalb des existierenden Netzwerkes ausdrücklich erwünscht. Die Ausrichtung der Treffen wurde uns durch die finanzielle Unterstützung der TheophrastusStiftung, der Stiftung Helixor und des Peter-Schilffarth-Instituts für Soziotechnologie ermöglicht, wofür wir uns an dieser Stelle im Namen von allen Beteiligten sehr herzlich bedanken. Die Realisierung des vorliegenden Buches konnte im Anschluss an die beiden ersten Tagungen durch die drei oben genannten Institutionen und das Institut Hiscia, die Professor Dr. Werner Maaßen Stiftung und das Samueli Institute USA vollzogen werden. Wir bedanken uns bei allen Beteiligten sehr herzlich für die ideelle und finanzielle Unterstützung. Ebenso danken wir den beitragenden Autoren und Karin Andert, die das Entstehen des Werkes organisatorisch und redaktionell ermöglicht und begleitet hat. Enthalten sind darin viele der Hauptreferate der ersten beiden Treffen und wir hoffen, dass sie zur weiteren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit einer in unserem Gesundheitssystem vernachlässigten Thematik anregen. Sie soll zu einer eigenständigen, durchaus kritischen (europäischen) Perspektive führen. Alle, die bereit sind, an diesem Prozess mitzuwirken, sind herzlich eingeladen, dies zu tun. Mit diesem Buch stehen wir ausdrücklich erst am Anfang eines langen Weges. Freuen Sie sich mit uns über diese ersten Schritte. Arndt Büssing und Niko Kohls Herdecke und Bad Tölz im April 2011
3
Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte des Bewusstseins auf der Grundlage eines pragmatischen Monismus Ernst Pöppel
2
4
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Kapitel 2 • Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte
Menschen und Einzeller sind gar nicht so unterschiedlich, wie man zunächst meinen mag. Sie beide vereint das Prinzip des Lebens: sich dorthin zu bewegen, wo die Lebensbedingungen besser sind. Um den Vergleich zwischen »hier« und »dort« herzustellen, brauchen Menschen und Einzeller Organe, um die Welt wahrzunehmen. Sie brauchen Bewertungssysteme und Kategorien. Aus diesem uralten Erbe, das seit Anbeginn des Lebens per Erbgut weitergegeben wird, resultiert unsere heutige Anbindung des Bewusstseins an die Welt. Sie ermöglicht, dass wir nie den Bezug zu den Anforderungen und Umständen der äußeren Welt verlieren. Da die Anbindung an die Welt automatisch und präsemantisch verläuft, ist die Voraussetzung dafür geschaffen, uns konzentriert einer Sache hinzugeben, zum Beispiel im spirituellen Staunen, im konzentrierten Forschen oder in der zeitlosen Meditation.
Wenn man über »Spiritualität und Gesundheit« nachdenkt, dann muss man sich darüber Klarheit verschaffen, was man eigentlich unter »Bewusstsein« versteht, und ob man bei der Erklärung dessen, was man damit meint, eher eine monistische oder eher eine dualistische Position im Hinblick auf das »Leib-Seele-Problem« einnimmt. Es geht also um epistemologische Transparenz. Ich vertrete die Position eines pragmatischen Monismus oder empirischen Realismus. Um aber nicht als ein »kalter Materialist« missverstanden zu werden, möchte ich einige Worte von Albert Einstein an den Anfang stellen, die auch meine Position bezüglich »Religiosität« kennzeichnen, und die man ohne Bedenken auch auf das beziehen kann, was man unter »Spiritualität« versteht. Albert Einstein schreibt an einer Stelle: »Der Forscher ist von der Kausalität allen Geschehens durchdrungen … Seine Religiosität liegt im verzückten Staunen über die Harmonie der Naturgesetzlichkeit, in der sich eine so überlegene Vernunft offenbart, dass alles Sinnvolle menschlichen Denkens und Anordnens dagegen ein gänzlich nüchterner Abglanz ist.« (Albert Einstein (1981): Mein Weltbild. Ullstein, Frankfurt/Main, S. 17 ff ) Ein anderes Mal sagt er: »Ich behaupte, daß die kosmische Religiosität die stärkste und edelste Triebfeder wissenschaftlicher Forschung ist … Ein Zeitgenosse hat nicht mit Unrecht gesagt, daß die
ernsthaften Forscher die einzigen tief religiösen Menschen seien.« (a.a.O.). Und in seinem Aufsatz »Religion und Wissenschaft« schreibt Einstein: »Wie kann kosmische Religiosität von Mensch zu Mensch mitgeteilt werden, wenn sie doch zu keinem geformten Gottesbegriff und zu keiner Theologie führen kann? Es scheint mir, daß es die wichtigste Funktion der Kunst und der Wissenschaft ist, dies Gefühl unter den Empfänglichen zu erwecken und lebendig zu erhalten.« (a.a.O.). Mit diesen Gedanken und mit der genannten epistemologischen Grundposition ist ein Rahmen vorgegeben, über uns selbst und über das, was man als Bewusstsein bezeichnet, nachzudenken. In einem naturwissenschaftlichen Kontext, doch mit Offenheit dem Rätselhaften gegenüber, sei dies in einem sehr allgemeinen Rahmen versucht. Vor drei bis vier Milliarden Jahren wurde auf dieser Erde das Leben erfunden. Wie dies geschehen konnte, was die treibende Kraft hierfür war, dies bleibt für mich das größte Rätsel. Wie war es möglich, dass aus molekularen Verbindungen etwas entstand, dem wir die Qualität des Lebens zumessen? Es waren einzellige Organismen, die in die Welt hineintraten und die außerordentlich erfolgreich waren. Fragt man sich, wie die einfachsten Organismen organisiert sind, dann stellt man etwas Bemerkenswertes fest: Von Anbeginn des Lebens sind Organismen durch Leistungen gekennzeichnet, die auch uns Menschen kennzeichnen. Wenn man es genau nimmt, dann ist nur wenig im Laufe der Evolution hinzugekommen. Was uns Menschen im Erleben auszeichnet, ist mehrere Milliarden Jahre alt.
2.1
Gemeinsamkeit alles Lebendigen
Auf abstrakter Ebene kann man eine Zelle als einen umschlossenen Raum beschreiben, der einen Ort definiert, in dem Zeit gleichsam »eingefroren« ist. Denn was ist eigentlich die Erbsubstanz? Sie besteht aus chemischen Verbindungen, die Zustände von früher für später festhält oder vorhält, also »einfriert«. In der Erbsubstanz wird etwas festgelegt und aufbewahrt, was in Zukunft benötigt wird oder benötigt werden könnte. Damit dies geschehen kann, damit etwas bewahrt werden kann, muss
2.1 • Gemeinsamkeit alles Lebendigen
ein eigener Raum geschaffen werden, der sich heraushebt aus dem allgemeinen Zerfall. Zellen sind deshalb von einer Membran umschlossen, die sicherstellt, dass die chemischen Abläufe innerhalb der Membran, also in der Zelle, nicht mehr den Gesetzen des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik unterliegen, dass also alles zerfällt. Mit dem Entstehen von Zellen, mit dem Beginn des Lebens auf dieser Erde, geschieht etwas völlig Neues; es findet eine Befreiung statt von der Auslieferung an den Zerfall und den Verfall in der Welt; lebende Organismen schützen sich durch ihre Struktur vor dem Zerfließen in ein ungeordnetes Gleichgewicht, indem sie einen eigenen Raum bilden. Um dieses Ziel zu erreichen, nämlich ein geordnetes Gleichgewicht zu schaffen, eine Homöostase aufrechtzuerhalten, nutzen Lebewesen Operationen, die von Anbeginn des Lebens gelten. Manche einzelligen Lebewesen haben bereits Wahrnehmungen, denn sie können mit bestimmten chemischen Verbindungen in ihrer Membran verschiedene Wellenlängen im elektromagnetischen Spektrum unterscheiden; sie können also »sehen«. Manche einzelligen Lebewesen können sich bewegen, um Orte aufzusuchen, die für die Regulation ihrer Lebensprozesse günstiger sind. Damit ist ein Grundmotiv des Lebens überhaupt angesprochen, nämlich sich immer dorthin bewegen zu »wollen«, wo die Lebensbedingungen besser sind. Ohne zielorientierte Bewegung ist eine solche Ortsverlagerung nicht möglich. Um allerdings ein Ziel zu erreichen, muss vorher eine Bewertung des jetzigen Zustandes erfolgen. Und damit sind wir bei einem weiteren Grundprinzip des Lebens, der Bewertung also. Damit etwas bewertet werden kann, muss eine weitere Operation eingesetzt werden; es muss nämlich ein Vergleich zwischen verschiedenen Zuständen vorgenommen werden. Um jedoch etwas vergleichen zu können, muss etwas verfügbar sein, das verglichen werden kann. Dieses Etwas sind funktionelle Zustände oder auch »Kategorien«. Nur wenn ein kategorialer Zustand bestimmt ist, kann dieser mit einem anderen in Beziehung gesetzt werden, was dann den Vergleich ermöglicht. Hier wird ein weiteres Urmotiv des Lebendigen sichtbar, nämlich etwas in Beziehung zu etwas anderem setzen zu können. Dieses Herstellen und Nutzen
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einer Relation gilt jedoch nur für einen bestimmten Zeitraum, für ein »Zeitfenster«, das für einen jeweiligen Organismus typisch ist, also für einen Einzeller vermutlich anders ist als für den Menschen. Wie groß dieses Zeitfenster jeweils ist, dies ist eine empirische Frage; bei Menschen sind es nur wenige Sekunden, die für Vergleiche genutzt werden, um zu einem angemessenen Urteil zu kommen. Somit lässt sich festhalten: Innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters findet ein Vergleich statt, damit eine Bewertung vorgenommen werden kann, die die Grundlage dafür ist, sich dorthin zu bewegen, wo die Bedingungen vermutlich besser sind. Um die Bedingungen zu kennen, müssen die Ergebnisse der Wahrnehmung genutzt werden. Als biologisches Prinzip ist überdies festzuhalten, dass bereits bei einfachsten Lebensformen »Antizipation« als Kontrollfunktion vorgesehen ist. Wir können also bei der Analyse von Prinzipien des Lebens nicht davon ausgehen, dass die einfachsten Lebensformen nur reaktive Wesen sind. Zielgerichtetes Bewegen (oder Handeln), Bewerten auf der Grundlage gespeicherter und in einem Gegenwartsfenster aufgenommener Information, Wahrnehmen also, einen Zustand in seiner Identität bestimmen und für eine gewisse Zeit festhalten, dies alles in einem umschlossenen Raum, den man »Zelle« nennen kann, sind Grundoperationen von Organismen, die seit Anbeginn der Zeiten gelten, seitdem es also überhaupt Leben auf dieser Erde gibt. Es ist nun bemerkenswert, dass diese Prinzipien, die den Lebenserfolg der einzelligen Organismen garantierten, in der Evolution von Organismen mit Gehirnen noch einmal erfunden wurden. Vor etwa 700 Millionen Jahren entstanden mehrzellige Organismen; einzellige Organismen schlossen sich zu mehrzelligen Verbünden zusammen. Damit diese als Ganzes funktionieren, müssen mehrzellige Organismen ein Informationssystem aufbauen. Diese Notwendigkeit für Informationssysteme ist der Grund für die Entwicklung von Nervensystemen oder Gehirnen. Diese sind erforderlich geworden, um einzelne Zellen, die miteinander gleichsam verklebt wurden, miteinander in einen funktionellen Zusammenhang zu bringen, damit der Organismus sich als Ganzes bewegen oder handeln kann. Es begann die unglaubliche und sich immer mehr beschleunigende Entwicklung neuen Lebens,
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Kapitel 2 • Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte
beschleunigt vor allem durch die sexuelle Fortpflanzung, von mehrzelligen Organismen also; diese Entwicklung erfolgte parallel zu der weiteren Entfaltung des Lebens bei einzelligen Organismen, die immer noch die Welt beherrschen.
2.2
Besonderheiten des Menschen
Machen wir den Sprung vom Einzeller zum Menschen: Wir sehen und hören; wir haben über unsere Sinnesorgane Zugang zu der Welt um uns. Es haben sich in uns und für uns Bewertungssysteme entwickelt, die wir Gefühle nennen. Wir bilden Kategorien, die miteinander in Beziehung gesetzt werden, damit wir einen Vergleich herstellen können. Der Vergleich, die Möglichkeit des Vergleichens, ist nach Meinung mancher die Grundlage von geistigen Prozessen überhaupt. Alle diese Operationen dienen wiederum einer Sicherstellung der Homöostase. In dieser biologischen Betrachtung sind die sogenannten »höheren« Funktionen, auch die komplexen Denkfunktionen, letzten Endes nur Funktionen der Dienstleistung zum Erhalt des homöostatischen Gleichgewichts. Die grundlegenden Operationen des Lebendigen haben sich also entwickelt, damit wir unser Gleichgewicht aufrecht erhalten können. Das Entscheidende ist: Lebensprinzipien sind Erlebensprinzipien. Für die genannten Operationen des Lebendigen verwenden wir aus psychologischer Sicht solche Begriffe wie Wahrnehmung, Gefühl, Absicht, Erinnerung; mit diesen Begriffen beziehen wir uns auf mentale Sachverhalte, die wir üblicherweise mit Bewusstsein in Verbindung bringen. Damit dies alles geschehen kann, ist eine kontinuierliche Informationsverarbeitung, insbesondere Wahrnehmung, notwendig. Die fortlaufende Aufnahme und Verarbeitung von Information stellt für den Organismus den Bezug zur Welt sicher. Durch ununterbrochene Aufnahme von Information über die Sinneszellen, über die »Antennen«, die in die Welt ragen, wird ein Bezug zur Realität sichergestellt, aus dem der Organismus seine ihm eigene Wirklichkeit erzeugt. Unser evolutionäres Erbe ist somit, fortwährend über sinnliche Informationen an die Welt um uns angekoppelt zu sein. Kontinuierliches Wahrnehmen von Innenzuständen und
von Außenereignissen ist schon in die einzelligen Organismen hineinprogrammiert. Jeder lebende Organismus ist derart strukturiert, dass er seinen Innenzustand mit der von außen kommenden Information abgleicht. Der kontinuierliche Abgleich von innen und außen ist also ein Wesensmerkmal des Lebendigen, und zwar auf der Ebene einzelliger Organismen wie auf der Ebene von Organismen, die mit Gehirnen ausgestattet sind. Nun geschah etwas Ungewöhnliches in der Evolution, die insbesondere den Menschen betrifft: Es wurde die Außenperspektive entdeckt (oder erfunden). Es treten Lebewesen in die Welt, wie wir Menschen, die bemerken, dass sie etwas bemerken können, denen also etwas bewusst werden kann, und die wissen, dass ihnen etwas bewusst sein kann. Sie entdecken, dass sie einen Blick haben, also sehen können, und dass damit auch andere sehen oder hören können, sich etwas wünschen oder sich an etwas erinnern können. Man kann sich in andere hineinversetzen. Die neue Erfindung im Lebendigen bewirkt, dass man sich sozusagen neben sich selber stellen kann, dass man sich beobachten kann. Wenn man eine Außenperspektive zu sich selber einnehmen kann, dann ist es möglich, gemeinsam über etwas zu sprechen, gemeinsam etwas zu betrachten, weil beide einen Referenzpunkt außerhalb ihrer selbst einnehmen können. Man kann die eigene Perspektive mit jener anderer vergleichen; man kann das Gleiche und das Verschiedene an anderen erkennen.
2.3
Bewusstsein als »Versklavung«
Doch man entdeckt darüber hinaus, wenn man sich in einer Analyse seiner selbst mit Außenperspektive gleichsam neben sich stellt, dass einem nicht nur etwas bewusst ist, sondern dass einem immer etwas bewusst ist. Und dieses »mir ist immer etwas bewusst« bezieht sich auf Wahrgenommenes, Erinnertes, Gefühltes, Gewolltes oder auch Bedachtes. Durch das Zusammenkommen der möglichen Außenperspektive und der Tatsache, ununterbrochen Information zu verarbeiten, entdecke ich mit Schrecken, dass ich »versklavt« bin. Ich bin in meiner Informationsverarbeitung, in dem, was in meinem Bewusstsein repräsentiert ist, versklavt
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2.5 • Mediation als besonderer Befreiungsversuch
durch das, was innen und außen geschieht. Meine Antennen müssen immer offen sein für die erfolgreiche Regulation der Lebensprozesse. Ich bin nicht frei, und ich kann nicht frei sein, denn diese Versklavung ist Teil meines mir mitgegebenen und aufgegebenen Lebensprogramms. Mein Gehirn ist der Situation ausgeliefert, fortwährend Informationen aufnehmen zu müssen und diese abzuwägen im Hinblick auf das, was gut für mich ist und was nicht so gut für mich ist. Versklavung in diesem Sinne ist ein Wesensmerkmal des Lebens und somit auch des Menschseins. Das Entdecken dieser Versklavung, einer notwendigen Versklavung, ist möglich geworden durch die in der Evolution zum Menschen hinzugekommene Außenperspektive. Versklavung des Bewusstseins bedeutet dann auch, in jedem Augenblick durch Information fremdbestimmt zu sein. Aus dieser Notwendigkeit der Versklavung des Bewusstseins ergibt sich überdies die Frage, was dann eigentlich das Ich bedeutet. Kann man überhaupt von einer Autonomie des Selbst sprechen? Und es ergibt sich die weitere Frage, wie man sich aus dieser Versklavung befreien könnte, nachdem sie einmal erkannt worden ist.
2.4
Der Wunsch sich zu befreien
Ein Versuch der Befreiung aus der Versklavung, also der dauernden Besetztheit des Bewusstseins durch Inhalte, die sich aus Absichten, emotionalen Bewertungen, Erinnerungen oder Wahrnehmungen ergeben, ist zum Beispiel »Unterhaltung«. Dies ist ein durchaus pragmatischer Akt der Befreiung, sich nicht mehr darum zu kümmern, was in einem geschieht, sondern sich gleichsam an andere und anderes abzugeben. Flucht in Arbeit, die Instrumentalisierung seiner Selbst durch Geschäftigkeit, ist ebenfalls eine Weise manchmal geglückter Befreiung aus der Versklavung. Ein anderer Befreiungsversuch ist die Forschung selbst. Man begibt sich in eine Schleife der Selbstreferentialität und untersucht die Gründe, warum es zu dieser Art von geistiger Versklavung kommen musste und wie man ihr vielleicht entgehen könnte. Die Suche nach Selbsttransparenz führt zur Erweiterung des Blickfeldes zum Verständnis der Motivationsstrukturen, die einen beherrschen. Ein Befreiungsversuch ganz
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anderer Art ist durch künstlerische Tätigkeit gegeben; mancher entdeckt die eigene Kreativität und wie man durch diese einer Besetztheit des Bewusstseinsstromes durch Geschehnisse in der Welt entgehen kann.
2.5
Meditation als besonderer Befreiungsversuch
Ein weiterer Befreiungsversuch wird dadurch möglich, dass ich mich in einem gegebenen Augenblick auf das Eine konzentriere, dass ich also durch Konzentration, durch die fokussierte Aufmerksamkeit auf einen Bewusstseinsinhalt, verhindere, dass ununterbrochen etwas durch mein Bewusstsein wandert, das sich meiner Kontrolle entzieht. Die Meditation, in der nur ein Bewusstseinsinhalt im Zentrum steht, ist ein anderer Weg aus der Versklavung des Bewusstseins. Durch den meditativen Prozess versucht man, die evolutionären Randbedingungen, die uns in den kontinuierlichen Strom der Informationsverarbeitung hineinzwingen, damit wir handlungsfähig bleiben, hinter sich zu lassen. Eine wenig bekannte Form der Meditation, die jedem offensteht – sofern man diese überhaupt als Meditation bezeichnen kann –, ist eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Man stellt sich, was jeder schon einmal gemacht hat, Bilder aus seiner Erinnerung vor das innere Auge. Wir haben in unserem episodischen Gedächtnis eine Vielzahl von Bildern aufbewahrt, die wir durch eine Zeitreise in die eigene Vergangenheit aufsuchen können. Dies ist ein psychischer Akt, den jeder bereits gewollt oder ungewollt vorgenommen hat und den man durch Übung stärken kann. Die tägliche Reise in die eigene Vergangenheit ist allerdings mit hoher Konzentration verbunden, doch taucht man aus dieser Übung mit einem Gefühl der Befreiung wieder auf. Mit dieser Form der Meditation nimmt man Kontakt zu sich selbst auf; dies ist in einem durchaus realen Sinn gemeint, denn häufig entdeckt man sich selber in den Bildern der eigenen Vergangenheit; man ist sein eigener Doppelgänger. Indem man sein eigener Doppelgänger ist, bestätigt man sich selbst; die personale Identität wird wesentlich davon getragen, sich selbst in seiner eigenen Vergangenheit sehen zu können. Um Be-
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Kapitel 2 • Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte
freiungsversuche aus der Versklavung des Bewusstseins erfolgreich vorzunehmen, ist es fraglos günstig, dieses von einem festen Ankerplatz des Selbst vorzunehmen. Damit ein solches Doppelgängertum erfahren werden kann, muss ich allerdings eine Dissoziation vornehmen; ich muss mich tatsächlich gedanklich neben mich stellen, also eine Außenperspektive zu mir selber einnehmen, und ich muss es auch wollen, in die eigene Vergangenheit zu wandern. Dies ist dann der analytische Aspekt einer Meditation, nämlich willentlich eine Entscheidung zu treffen, um Kontakt zu mir selber aufzunehmen, also in einen empathischen Bezug zu mir selber zu treten. Hier wird die Komplementarität als generatives Prinzip wirksam, die für alle psychischen Prozesse gilt; der Entschluss zur Kontaktaufnahme mit sich selbst, zur Zeitreise in die eigene Vergangenheit, zur Konzentration auf jeweils nur einen Bewusstseinsinhalt, um der Versklavung des Bewusstseins zu entgehen, ist die notwendige Bedingung dafür, dass ich mich mit Empathie auf mich selbst beziehen kann.
2.6
Neuronale Randbedingungen der Befreiung
Damit ein meditativer Prozess erfolgreicher Befreiung möglich ist, sind gewisse neuronale Randbedingungen zu berücksichtigen, wie vor allem die zeitliche Dynamik unseres Bewusstseins. Die neuronalen Prozesse des Gehirns sind dadurch gekennzeichnet, dass für jeweils kurze Zeitstrecken, für etwa drei Sekunden, ein Gegenwartsfenster geöffnet wird. In aufeinanderfolgenden Segmenten von wenigen Sekunden wird Information, die durch unser Bewusstsein zieht, zu einer Einheit zusammengefasst. In Schritten von wenigen Sekunden »fragt« das Gehirn gleichsam von innen nach außen, was es eigentlich Neues in der Welt geben könnte. Dieser neuronale Mechanismus ist notwendig, damit ich überhaupt Informationen verarbeiten kann, damit ich etwas in meinem Bewusstsein haben kann, damit Identität von etwas als etwas hergestellt werden kann. Damit ich eine Tasse als Tasse sehe, eine Blume als Blume, müssen diese in ihrer Identität hergestellt werden, und
dies ist keine triviale Aufgabe für das Gehirn. Wie dies geschieht, dass also im Abstand von nur wenigen Sekunden jeweils überprüft wird, ob es immer noch die Blume oder die Tasse ist, die ich sehe, ist eines der ungelösten Fragen der Hirnforschung; wir wissen nur, dass es geschieht, doch wir wissen nicht, wie es geschieht. Etwas wird für eine gewisse Zeit in seiner Identität festgehalten, und diese Identität wird bestätigt, oder ein neuer Inhalt, ein Etwas in seiner anderen Identität besetzt das Bewusstsein. Die Komplementarität von Dynamik und Stationarität, das Festhalten an einem Bewusstseinsinhalt und das Zulassen eines anderen Bewusstseinsinhaltes, ist ein Strukturmerkmal unseres Bewusstseins. Diesen natürlichen Fluss des Bewusstseinsstromes versucht man in der Meditation auszusetzen oder zu überwinden. In der Konzentration versucht man, dass Kontinuität erzeugt wird, dass das, was jetzt repräsentiert ist, dasselbe bleibt und nicht von etwas anderem abgelöst wird. Es wird Kontinuität im Bewusstseinsstrom angestrebt, die allerdings den Bauprinzipien unseres neuronalen Gewebes widerspricht. In dem Versuch der Befreiung aus der Versklavung des Bewusstseins muss man also evolutionäre Prinzipien, die unser Angekoppeltsein an die Welt sicherstellen, durchbrechen. Ist man in diesem Akt erfolgreich, dann ist man nicht mehr von dieser Welt. Dass der Befreiungsversuch außerordentlich schwierig ist und vielleicht nie ganz erfolgreich sein kann, ergibt sich aus weiteren Randbedingungen, die die Informationsverarbeitung unseres Gehirns kennzeichnen. Unsere Sprache verführt uns dazu anzunehmen, dass solche mentalen Geschehnisse wie Gefühle, Erinnerungen, Wahrnehmungen, Absichten oder Denkvorgänge jeweils voneinander unabhängige Prozesse sind. Hier werden wir (vor allem in unserem Kulturkreis) durch die Sprache verführt. Weil wir Begriffe wie Bewusstsein oder Gefühl entwickelt haben, die kulturgeschichtlich betrachtet sogar relativ neu sind, gehen wir leichtgläubig davon aus, es gebe in unserem Gehirn Module, die jeweils ein bestimmtes Gefühl oder das Bewusstsein repräsentieren. Eine derartige Annahme einer modulären Repräsentation komplexer psychischer Prozesse und deren Unabhängigkeit voneinander kann auf Grund zahlreicher Erkenntnisse der Neurowis-
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2.7 • Das Bewusstsein ist individuell
senschaften nicht aufrechterhalten werden. Jeder psychische Akt, jede Wahrnehmung, jedes Gefühl, jede Erinnerung, jede Absicht wird neuronal getragen von einem raum-zeitlichen Muster von Aktivitäten. Des Weiteren muss man festhalten, dass aus Gründen der Architektur des Gehirns, insbesondere der strukturellen Nähe aller Nervenzellen, die Abhängigkeit psychischer Prozesse von jeweils anderen vorprogrammiert sind. Jedes Sehen oder Hören ist nur möglich, weil es einen Bezug zu neuronalen Prozessen in den Gedächtnissystemen gibt; jeder Wahrnehmungsakt ist notwendigerweise in eine emotionale Bewertung eingebunden, jede Erinnerung ist immer auch emotional gefärbt; jede Handlungsabsicht, jedes Wollen, ist nur vorstellbar, indem sensorische Rückmeldungen, die zu einer emotionalen Befriedigung führen, mitgedacht werden. Unsere Sprache verleitet uns dazu, die einzelnen psychischen Akte als unabhängige Ereignisse zu betrachten. Diese Denkweise gilt es zu überwinden. Doch indem man diese unzutreffende Denkweise überwindet, wird noch deutlicher, wie schwierig ein Befreiungsversuch aus der Versklavung des Bewusstseins sein muss; es geht eben nicht nur darum, jeweils nur einen bestimmten psychischen Sachverhalt gleichsam in den Griff zu bekommen, weil es diesen gar nicht gibt. Man hat es immer mit dem gesamten Wirkungsgefüge des psychischen Repertoires zu tun. Der Befreiungsversuch aus der Versklavung des Bewusstseins wird des Weiteren durch einen Sachverhalt erschwert, der durch unsere jeweilige persönliche Biografie bestimmt ist. Wir leben eigentlich zwei verschiedene Leben, nämlich eines in den frühen Phasen unserer Biografie, die etwa bis zur Pubertät reicht, für manche Funktionen auch etwas länger, und ein Leben danach. Wir treten in die Welt hinein mit genetischen Programmen von Möglichkeiten, wir sind also nicht »fest verdrahtet« im Hinblick auf unsere Erfahrungsmöglichkeiten. Das gesamte Repertoire des Psychischen durchläuft in den frühen Phasen der Prägung einen Bestätigungsprozess. Nur das, was bestätigt wird, kann zur psychischen Wirklichkeit werden; was nicht bestätigt wird, geht verloren oder lässt sich später nur mühsam wieder erwerben. Mit diesem Prägungsprozess wird eine persönliche Wirklichkeit aufgebaut, die eine Einbettung in den kulturellen
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Rahmen ermöglicht. Die Matrix des Gehirns wird als Struktur durch die Festlegungen überhaupt erst bestimmt. Kultur wird zur Struktur des Gehirns. Hiermit ist ein biologischer Relativismus angesprochen, der besagt, dass wir in unserer neuronalen Informationsverarbeitung auch kulturell versklavt sind.
2.7
Das Bewusstsein ist individuell
Die Kenntnis über die Prägung des menschlichen Gehirns und die Tatsache, dass kulturelle Randbedingungen zur persönlichen Wirklichkeit werden, bestimmt auch den Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikation. Wenn man weiß, dass man in seiner Persönlichkeitsbildung »ausgeliefert« ist, nämlich einmal den genetischen Programmen von Möglichkeiten und dann deren Bestätigung oder Nichtbestätigung in einem kulturellen Rahmen, kann man respektvoll mit anderen umgehen. Einen Bestätigungsprozess durchlaufen zu haben, um eine jeweils eigene persönliche Wirklichkeit zu erzeugen, gilt für jeden Menschen. Der Relativismus, dem wir ausgeliefert sind, gehört zu unserem evolutionären Programm. Damit ist gesagt, dass jeder einzelne seine eigene Landkarte möglicher Bewusstseinszustände in sich trägt, die auf keinen anderen übertragbar ist. Die Inhalte des jeweils eigenen Bewusstseins sind notwendigerweise individuell verankert und sie kommen aus den individuellen Welten eigener Wahrnehmungen, von Gefühlen, Erinnerungen oder Absichten. Solche Inhalte können auch Bewegungsabläufe sein. Hiermit möchte ich mich auch auf das Körperliche beziehen, wie es sich beispielsweise im Sport manifestiert. Jeder Sportler kennt die Situation, sich auf bestimmte Bewegungsabläufe zu konzentrieren. Vor einem Wettkampf, vor einem Spiel, geht man in der Vorstellung bestimmte Bewegungsmuster durch. Diese Erzeugung der mentalen Bilder erfordert große Konzentration, erweist sich aber als außerordentlich wirksam für den danach folgenden wirklichen Bewegungsablauf. Man konnte nachweisen, dass durch die Konzentration auf den vorgestellten Bewegungsablauf der wirkliche Bewegungsablauf erheblich verbessert wird. Bezeichnet man eine solche Konzentration
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Kapitel 2 • Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte
auf einen Bewegungsablauf, die für jede Sportart durch ein typisches Bewegungsmuster gekennzeichnet ist, als Meditation, dann ergibt sich hieraus unschwer die Hypothese, dass die Konzentration auf nicht-motorische Inhalte des Bewusstseins ebenfalls einen erheblichen Nutzen haben könnte. Diese Form einer recht breit definierten Meditation hat im medizinischen Kontext eine erhebliche Bedeutung, wenn wir einmal auf den Schmerz schauen. Wie lässt sich möglicherweise Meditation bei der Bewältigung von chronischem Schmerz einsetzen? Was bisher in der Tat erfolgreich versucht wurde, ist eine Dissoziation herzustellen zwischen dem emotionalen Ausgeliefertsein an den Schmerz und der Außenperspektive zum Schmerz. Wenn es einem gelingt, eine Distanz zu sich selber zu gewinnen und seinen Schmerz aus der Außenperspektive zu betrachten, dann fällt es einem Patienten sehr viel leichter, mit seinem Schmerz umzugehen. Diese Trennung zwischen einer Außenperspektive zu sich selbst und dem Ausgeliefertsein an ein Erleben mag in eine Paradoxie hineinführen; in dem empathischen Bezug, den man zu sich selber hat, also dem Schmerz emotional ausgeliefert sein, und der mentalen Distanz, die man zum Schmerz zu gewinnen sucht, kommt es zu einer nicht auflösbaren Selbstreferentialität. Diese mag man jedoch auch als notwendige Komplementarität bezeichnen. Das Erleben eines Gefühls und das Heraustreten aus dem Erleben, indem das Erleben reflektiert wird, führt stets in eine nicht auflösbare Schleife von Rückbezüglichkeiten. Offenbar spielen in manchen Formen der Meditation des Zen-Buddhismus derartige, nicht auflösbare Paradoxien eine wichtige Rolle; sie sind aus Sicht der Hirnforschung eine geglückte Inszenierung der notwendigen Selbstreferentialität psychischer Prozesse. Eine ganz andere Repräsentation des Meditativen sind für mich selbst Gedichte und häufig bestimmt Gedichtzeilen. Für mich ist das Gedicht »eingefrorene Zeit« von Lebenssituationen, auf die ich mich selbst beziehen kann, indem ich mich mit den Worten des Dichters identifiziere. Wenn ich nachspreche, was jemand schon einmal gesagt und gedacht hat, kann ich aus der Versklavung meines eigenen Bewusstseins heraustreten; indem ich mich mit anderen identifiziere, »sozialisiere« ich gleichsam meine Freude und auch mein Leid.
Solche Zeilen mögen sein: »Er wußte nur vom Tod, was alle wissen«, oder der Schlussgesang aus der Matthäus-Passion: »Wir setzen uns in Tränen nieder«. Solche Zeilen und solche Melodien in seinem Bewusstsein haben zu können, und sich auf diese immer wieder hinwenden zu können, bedeutet für mich die natürliche Form einer Meditation in unserem Kulturkreis.
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Erreichen verschiedener Bewusstseinszustände
Mit diesen Hinweisen beziehe ich mich auf verschiedene Bewusstseinszustände und dies wirft die Frage auf, ob es überhaupt eine Klassifikation von Bewusstseinszuständen gibt. Man kann mit Bedauern feststellen, dass es eine solche Klassifikation oder Taxonomie bisher noch nicht gibt oder auch nicht geben kann. Um jedoch Meditation und deren verschiedene Ausprägungen einordnen zu können, ist es hilfreich, auf die verschiedenen Bewusstseinszustände zu verweisen, die man bisher identifiziert hat. Man kommt hierbei auf eine große Zahl qualitativ verschiedener Bewusstseinszustände, wobei manche von diesen als Meditation bezeichnet werden können. Verschiedene solcher Bewusstseinszustände seien im Folgenden benannt, wobei ich zunächst auf Zustände hinweise, die oberflächlich betrachtet Zustände des NichtBewussten sind, bei denen man jedoch Bewusstheit nicht ausschließen kann. In den frühen Phasen nach dem Einschlafen durchlaufen wir eine Periode des sogenannten Tiefschlafes, der für die körperliche Erholung wichtig ist, der aber befreit ist von solchen neuronalen Prozessen, die sicherstellen, immer noch auch an die Welt um uns angekoppelt zu sein. Insbesondere unser auditives System ist während des Schlafs für Ereignisse der Welt um uns relativ offen. Neben diesem Tiefschlaf, gekennzeichnet durch sogenannte Deltawellen im EEG, gibt es einen anderen Schlaf, der typisch ist für spätere nächtliche Phasen des Schlafens, in der wir vermutlich ebenfalls keine Träume haben, unsere Sinnessysteme aber recht offen sind für Informationen, die von außen kommen können. Eine dritte Phase des Schlafes ist der sogenannte REM-Schlaf, gekennzeichnet durch
2.8 • Erreichen verschiedener Bewusstseinszustände
schnelle Augenbewegungen (REM – rapid eye movements), der verbunden ist mit Träumen, und der somit einen eigenständigen Bewusstseinszustand repräsentiert. Ein weiterer Bewusstseinszustand kann paradoxerweise als der absolute Zustand von »NichtBewusstsein« bezeichnet werden, nämlich die Narkose. In der Narkose wird zwar Information über die Sinnessysteme aufgenommen, doch kommt es auf Grund der Unterbrechung der neuronalen Informationsverarbeitung zu einem »zeittoten Zustand«, weil Information wegen der Narkose nicht mehr integriert werden kann. Man wacht aus einer solchen Narkose auf, ohne den Eindruck zu haben, dass Zeit vorübergegangen sei. Dieser Zustand des verlorenen Angekoppeltseins an die Welt gilt aber nur für bestimmte Areale des Gehirns; es ist bisher nicht bekannt, wie das limbische System, das beteiligt ist an der emotionalen Regulation, oder die hormonelle Regulation, beeinflusst werden. Ein weiterer Bewusstseinszustand, der durch Narkosemittel provoziert werden kann, wird durch Ketamin bewirkt, das häufig in der Notfallmedizin eingesetzt wird. Während solcher Narkosen kann es zu »bad dreams« kommen, also stark negativ getönten emotionalen Zuständen, die man nur schwer überwindet. Dies sind also bereits mehrere qualitativ verschiedene Bewusstseinszustände, wenn man bereit ist, unbewusste Zustände, in denen mentale Prozesse nicht explizit werden, bei der Aufzählung zu berücksichtigen. Ich komme dann zu anderen Bewusstseinszuständen, die wir mit dem Wachbewusstsein in Beziehung setzen. Hierbei muss zunächst ein neurobiologischer Sachverhalt hervorgehoben werden, dass wir nämlich aufgenommene Informationen jeweils zu Gegenwartsinseln von bis zu drei Sekunden zusammenfassen. Der Bewusstseinsstrom ist zeitlich gegliedert, indem jeweils Wahrnehmungsprozesse, Erinnerungsbezüge oder Handlungsabsichten auf einer Bühne der Gegenwart von wenigen Sekunden inszeniert werden. Wenn ich mit jemandem in einen kommunikativen Bezug trete, wenn also die »Gegenwarten« der Partner einem gemeinsamen Zeitfenster angehören, stellt sich ein empathischer Bezug her. Dieses »unmittelbare Bewusstsein«, wie es sowohl in der japanischen Philosophie (Kitaro Nishida) als auch
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in der westlichen Tradition der Psychologie (William James) diskutiert wurde, ist Ausdruck dieser Form des Bewusstseins. Ein wesentliches Merkmal des Bewusstseins im empathischen Bezug ist, dass es frei ist von einem reflexiven, üblicherweise retrospektiven oder auch antizipativen Aspekt. Der gelungene empathische Bezug dieser Form des Wachbewusstseins, gekennzeichnet durch die absolute Konzentration auf den anderen, kann ebenfalls als eine Form von Meditation gedeutet werden. In diesem Bewusstseinszustand schreibt man dem anderen unreflektiert Bewusstheit zu; ich habe für diese Situation den Begriff »Pygmalioneffekt« gewählt; wenn man mit jemanden die Gegenwart teilt, mit ihm eins ist, wird er notwendigerweise ein Teil meiner Selbst, und ich schreibe ihm Leben und Erleben zu. In der Tradition des westlichen Denkens wird üblicherweise das explizite Denken als Referenzpunkt von Bewusstheit angesehen. Dieser rationale Bezug, der sich in der retrospektiven oder antizipativen Reflektion zeigt, tritt aus dem gegenwärtigen Erleben heraus. Dieses Denken ist ermöglicht durch die Außenperspektive und trägt entscheidend zur Aufklärung dessen bei, was wir unter Bewusstsein verstehen. Diese Form des Denkens, gekennzeichnet durch einen intentionalen Bezug zu bestimmten Sachverhalten des Bewusstseins ist aber nur eine Form des Bewusstseins. Diese Form des abstrahierenden Bewusstseins ist von jener des empathischen Bezugs qualitativ verschieden. Doch gilt es, die beiden Bewusstseinszustände nicht gegeneinander auszuspielen; für die Erzeugung von Selbsttransparenz nutzen wir das Eine und lassen das Andere geschehen. Die Versklavung des Bewusstseins erleben wir besonders dann, wenn wir in einen emotionalen Zustand hineingeraten, der außerhalb unserer Kontrolle liegt. Es scheint mir sinnvoll zu sein, diese jeweiligen Zustände von Ärger, Angst, Wut, Ekel, Überraschung, Freude, Lust oder Schmerz als jeweils eigenständige Bewusstseinszustände zu kennzeichnen. Und besondere Bewusstseinszustände treten dann auf, wenn Störungen des Gehirns vorliegen. Bestimmte Störungen des Denkens bei manchen schizophrenen Erkrankungen sind qualitativ zu unterscheiden von anderen, die etwa durch lokale Störungen des Gehirns bedingt
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Kapitel 2 • Wie wir gemeint sind: Neurowissenschaftliche und evolutionstheoretische Aspekte
sind, in denen die Einheit des Erlebens nicht mehr hergestellt werden kann. In Zuständen eines herannahenden epileptischen Anfalls ist wiederum ein anderer Bewusstseinszustand gegeben; manchmal scheinen subjektiv berichtete Erleuchtungsphänomene mit pathologischen Veränderungen zusammenzuhängen. Die Einnahme von Drogen oder spezifische Ausfälle im Gehirn führen jeweils zu verschiedenen Ausprägungen des Bewusstseins. Es ist allerdings nur schwer nachzuvollziehen, dass für manche solcher Bewusstseinszustände der Begriff »erweitert« verwendet wird; »anders« wäre hinreichend. Wenn man sich auf die Erweiterung des Bewusstseins bezieht, wird ein normatives Maß eingeführt, das jeweils wegführt von dem biologischen Maß, wie wir nämlich mit unserem evolutionären Erbe eigentlich gemeint sind. Bei dieser unvollständigen Übersicht der verschiedenen Zustände des Bewusstseins kommen schließlich auch jene beiden Zustände des Bewusstseins hinzu, die in der Meditation eine besondere Rolle spielen, nämlich einerseits die fokussierte Konzentration auf einen Inhalt, der bei erfolgreicher Meditation offenbar zu entschweben scheint, so dass sich das Gefühl der Zeitlosigkeit einstellen mag, und demgegenüber die kontrollierte und konzentrierte Außenperspektive, bei der die gedanklichen Inhalte in ihrem Vorübergehen beobachtet und beachtet werden. Für beide Formen der Meditation gilt aber, dass die neuronalen Prinzipien nicht überwunden werden können, die uns von Natur aus mitgegeben sind. Insbesondere die zeitliche Gliederung der Informationsverarbeitung stellt einen neuronalen Rahmen bereit, innerhalb dessen der meditative Prozess eingespannt bleibt. Ich möchte sogar die These aufstellen, dass erst durch die Komplementarität dieser zeitlichen Strukturierung des Bewusstseinsstroms, die automatisch und prä-semantisch erfolgt, und der inhaltlichen Besetzung der Gegenwartsinseln des Bewusstseins eine vorübergehende Befreiung aus der Versklavung des Bewusstseins möglich wird. Anmerkung: Eine ausführlichere Erörterung der hier angesprochenen Sachverhalte und Überlegungen findet man in meinen Büchern: »Grenzen des Bewusstseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit?«, Insel Verlag, Frankfurt, 1997, oder in: »Der Rahmen. Ein Blick des Gehirns
auf unser Ich«, Hanser Verlag, München, 2006. Der hier vorliegende Beitrag ist eine erweiterte Version meines Aufsatzes: »Bewusstsein als Versklavung – Meditation als Befreiungsversuch«, erschienen in: Michael von Brück (Hrsg.) »Religion. Segen oder Fluch der Menschheit«, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Frankfurt, 2008, S 173–195.
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Europäische Geistesgeschichte, neuere Spiritualität und Wissenschaft Peter Heusser
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Kapitel 3 • Europäische Geistesgeschichte, neuere Spiritualität und Wissenschaft
Ein Hauptcharakteristikum neuerer Spiritualität und Religiosität ist das Bedürfnis nach persönlicher spiritueller oder religiöser Erfahrung, im Unterschied zur bloßen Lehre, an der allein sich sonst der Glaube entzünden konnte. So spricht der Theologe Prof. Halbfas aus Tübingen in einem Festvortrag für die Theologische Fakultät der Universität Luzern von 2004 mit dem bezeichnenden Titel »Traditionsabbruch. Zum Paradigmenwechsel im Christentum« von einer neuen »Ausrichtung, welche die christliche Religiosität nicht in der Bereitschaft aufgehen sieht, zu glauben, was die Kirche zu glauben vorschreibt, sondern zu einer personalen Reife zu kommen, welche die traditionelle Religiosität auf die eigenen Erfahrungen bezieht«. Diese Bemühung einer »Erkenntnis Gottes auf dem Weg eigener Erfahrung«, die durchaus im Sinne einer »cognitio dei« im Sinn von Thomas von Aquin zu verstehen sei, werde allmählich zum »entscheidenden Kriterium« der neuen spirituellen Bewegung. Die Zeitgenossen wollen »wissen« und in »Eigenverantwortlichkeit leben« (Halbfas 2004). Damit ist nichts Geringeres beschrieben als der allmähliche Paradigmenwechsel von einer lehrmäßigen und autoritativen zu einer empirisch erkennenden Spiritualität, die den Menschen in religiösen oder spirituellen Dingen frei macht. Die neuere Spiritualität führt in diesem Sinn nicht, wie manchmal geglaubt oder sogar gehofft wird, zu einer Abkehr vom Impuls der Aufklärung, der die Befreiung des Menschen in die moderne Wissenschaftlichkeit hinein möglich gemacht hat, sondern ganz im Gegenteil, zu einer Fortsetzung dieser Aufklärung in das Gebiet der Spiritualität und Religiosität hinein, wie beispielsweise Lessing das schon vor über 200 Jahren gefordert hat. Und ebenso wenig wie die naturwissenschaftliche Aufklärung letztlich gegen den Geist des Christentums war – das kann man höchstens von der materialistischen Interpretation ihrer Ergebnisse sagen sowie von dem dadurch entstandenen Reduktionismus, wie er bis heute die Medizin prägt –, ebenso wenig ist die Entwicklung einer auf Erfahrung und Vernunft beruhenden erkennenden Form von Religiosität und Spiritualität gegen den Sinn des Christentums. Denn Christus selbst sagt in Johannes 8,32: »Und ihr werdet die
Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird Euch frei machen«. So ist es im Sinn einer größeren geistigen Entwicklungsperspektive nichts als plausibel, dass viele der heute verbreiteten spirituellen Praktiken auf das systematische Erwerben von spirituellen Erfahrungen abzielen bzw. dass die Menschen nach solchen Praktiken suchen. Und es gibt bekanntlich ein enormes Spektrum esoterischer Methoden, die auf solche Erfahrungen abzielen, Methoden aus allen möglichen Kulturen. Kulturell hat dieser Umstand in Europa zu einer Entfernung des spirituellen Lebens von den institutionalisierten christlichen Glaubensbekenntnissen geführt. Diese haben durch die hervorragende Ausbildung des aristotelischen Denkens in der mittelalterlichen Scholastik die Rationalität der späteren Naturwissenschaft vorbereitet, aber das erkennende Wissen des Menschen auf das Gebiet des Naturwissens verwiesen, die geistig-religiösen Dinge allein dem Glauben an die überlieferte Offenbarung anheim gestellt und das Erwerben von eigenständigen spirituellen oder religiösen Erfahrungen und Erkenntnissen bei den Gläubigen grundsätzlich abgelehnt. Dadurch ist im Verhältnis zu den heutigen Bedürfnissen im traditionellen europäischen Christentum ein gewaltiges Defizit entstanden, und so rekurrieren viele Suchende auf spirituelle Methoden aus vorchristlichen und außereuropäischen Kulturen, bis dahin, dass auch von christlichen Priestern, Pastoren oder Ordensangehörigen selbst solche außereuropäischen und vorchristliche Methoden erlernt, praktiziert und in Kursen als Schulung angeboten werden, ein an sich erstaunlicher Vorgang. Viele von diesen Methoden haben auch primär keinen direkten Bezug zur modernen Rationalität und Wissenschaftlichkeit, die sich aus der angedeuteten Geistesgeschichte Europas entwickelt hat. Das ist auch nicht verwunderlich, entstammen sie doch noch Kulturen und Bewusstseinsverfassungen, in denen einerseits das natürliche Vorhandensein oder das systematische Erwerben von spirituellen Erfahrungen eine Selbstverständlichkeit war – man denke nur etwa an die ägyptischen oder griechischen Mysterienschulen –, und in denen andererseits das intellektuelle Denken noch nicht den Ent-
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wicklungsstand und die Bedeutung hatte, die es in der Bewusstseinsentwicklung seit dem Ursprung der intellektuellen Kultur bei den griechischen Philosophen und insbesondere bei Aristoteles bis hin zur neueren Aufklärung und zur modernen Wissenschaftlichkeit erst allmählich gewinnen konnte. Und so sind Religiosität und Spiritualität bis vor kurzem fein säuberlich von der Wissenschaft abgetrennt geblieben. Aber dabei muss und kann es im natürlichen Entwicklungsgang nicht bleiben. So hat die Wissenschaft unter dem Eindruck des Ungenügens der einseitig naturwissenschaftlich-technischen Ausrichtung der Medizin und aufgrund der Einsicht in die mögliche Bedeutung von Spiritualität und Religiosität für die Patienten damit begonnen, die soziodemographischen, psychologischen und medizinischen Bedingungen und Auswirkungen von Spiritualität und Religiosität zu untersuchen und die Ergebnisse für die medizinische und psychologische Praxis und für die Seelsorge fruchtbar zu machen. Diese Forschung ist zunächst noch in einem gewissen Sinne pragmatisch, insofern sie sich nicht so sehr mit den Inhalten von Spiritualität beschäftigt, als vielmehr mit ihrer praktischen und gesundheitsbezogenen Nutzbarmachung, insbesondere im Westen. Das ist an sich ein erfreulicher Prozess, da auf diese Weise die Wissenschaft begonnen hat, sich mit einem Gebiet zu beschäftigen, das für das Menschsein von fundamentaler Bedeutung ist, das aber während der Zeit des Aufstrebens der Naturwissenschaft fast vollständig vernachlässigt, ja für obsolet gehalten worden ist. Dabei sollte aber die inhaltliche Seite der Spiritualität nicht vernachlässigt werden. Denn der Gewinn, den der Hilfesuchende aus der Religion und Spiritualität gewinnen möchte, ist oft vom Inhalt abhängig, so z. B. bei Fragen nach dem Sinn der Krankheit oder des Lebens, bei den Lebenslasten von Schuld und Sühne, bei den Vorgängen von Leiden und Sterben, bei den Fragen nach dem Leben nach dem Tod, nach wiederholten Erdenleben und anderes mehr. Da nun die verschiedenen religiösen oder spirituellen Lehren, denen sich die Menschen zuwenden, Antworten auf solche Fragen bereithalten, stellt sich – nicht nur von einem wissenschaftlichen Gesichtspunkt aus – schon auch die Frage nach
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der Gewissheit entsprechender Inhalte und damit letztlich auch die Frage nach der Erkennbarkeit solcher Inhalte. Diese Frage stellt sich spätestens dann, wenn man bemerkt, dass das Aufsuchen von spirituellen und religiösen Erfahrungen das Entscheidende ist, um das es letztlich bei der neueren Spiritualität geht. Damit ist auch inhaltlich gesehen die Frage nach der Wissenschaftsfähigkeit von Spiritualität gestellt. Wie sich diese Frage innerhalb der neueren Geistes- und Wissenschaftsgeschichte Europas entwickelt hat, möchte ich im Folgenden unter einem bestimmten Gesichtspunkt darstellen. Ich möchte dabei am Schluss auch einen Blick auf die Anthroposophie als Geisteswissenschaft werfen, weil diese sich im angedeuteten Sinn als eine spirituelle Wissenschaft gebildet hat, zu vielen praktischen Konsequenzen im Sinne der Medizin führt, aber in ihrer wissenschaftlichen Basis und Intention bisher öffentlich kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Insoweit Erfahrung bzw. Wahrnehmung bewusst wird, ist sie prinzipiell der gedanklichen Durchdringung fähig; und sie wird damit potenziell wissenschaftsfähig. Daher, wenn es tatsächlich so ist, dass nicht nur von vielen Menschen zunehmend spirituelle oder religiöse Erfahrung angestrebt wird und sich bei gar nicht so wenigen Menschen sogar spontan auftretende und zum Teil sehr weit gehende spirituelle Erfahrung geltend macht – was man als Arzt ja durchaus im Verlauf seines Berufslebens beobachten kann –, so ist damit das Thema spirituelle oder geistige Wissenschaft gestellt. Gibt es spirituelle Wissenschaft, die sich auf spirituelle, geistige Empirie stützt, wie müsste diese beschaffen sein und welchen Zusammenhang hätte sie mit der Naturwissenschaft? Ich möchte dieses Thema auf eine Weise behandeln, die vielleicht etwas ungewohnt ist, die aber zeigen soll, dass die in Frage stehende spirituelle Wissenschaft viel näher bei der Naturwissenschaft steht und mit ihr viel enger zusammenhängt, als man erwarten mag. Bei Betrachtung der europäischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte ist nicht zu übersehen, dass es für die Wissenschaft nicht nur die sinnliche Empirie der Naturwissenschaft gibt, sondern auch eine geistige Empirie, und dass sich aus der Naturwissenschaft selbst die Forderung nach einer dieser
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Empirie entsprechenden Geisteswissenschaft ergibt. Das wird paradoxerweise schon aus dem Wesen der Naturwissenschaft heraus selbst deutlich, obwohl man sich darüber selten Rechenschaft ablegt. Denn wenn wir als Wissenschaftler Naturgesetze eruieren oder mathematisch denken, leben wir als Denkende in einem rein geistigen Element, eben in dem Gesetz, und dieses Gesetzmäßige ist der Natur selbst inhärent. So schrieb Walter Heitler, ein damals bekannter Physiker an der ETH Zürich:
» Ein mathematisch formuliertes Gesetz ist etwas Geistiges. Wir können es so nennen, weil es menschlicher Geist ist, der es erkennt. Der Ausdruck Geist mag heute, wo ein überbordender Materialismus seine zum Teil recht üblen Blüten treibt, nicht sehr populär sein. Aber eben deshalb müssen wir uns darüber klar werden, was Naturgesetz und Naturerkenntnis ist. Die Natur folgt also diesem nicht-materiellen geistigen Element, dem Gesetz. Folglich sind auch geistige Elemente in der Natur selbst verankert. (Heitler 1972, S. 14)
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Dabei ist unter Geist zunächst nichts anderes zu verstehen als eben das Geistige in der Form des Gesetzmäßigen, der Idee, des reinen Gedankens. Aber das ist schon ein rein geistiges Erlebnis und es ist für die Frage nach einer spirituellen Wissenschaft und für das Verständnis des Folgenden von der größtmöglichen Bedeutung, sich dieses Erlebnis innerlich empirisch klar zu machen. Jeder Naturwissenschaftler, ja überhaupt jeder denkende Mensch kennt selbstverständlich diese Form geistiger Empirie aus eigener Erfahrung. Doch die Bedeutung dieses Erlebnisses macht man sich in der Regel deswegen nicht klar, weil man in der Nachfolge von Kant und Popper die Denkgewohnheit angenommen hat, Gedanken des Menschen für ein subjektives Produkt des Menschen zu halten, für bloß subjektive Ordnungskriterien, die benötigt werden, um die Welt, die uns empirisch als Wahrnehmung gegeben ist, mental zu ordnen. Die Gesetzmäßigkeiten werden dabei zwar als Geist anerkannt, aber nur mit Bedeutung für das Subjekt, nicht für das Objekt. Diese Auffassung nannte man in der Zeit der Hochscholastik den Nominalismus. Johannes Roscellin (1050–1123)
und Wilhelm von Occam (1300–1349), von dem der Ausdruck stammt, sind bekannte Vertreter dieser Position, in der Neuzeit eben Kant und Popper, die modernen Konstruktivisten und evolutionären Erkenntnistheoretiker und andere. Ihnen gegenüber stehen die Ideen-, Universalien- oder Gesetzes-Realisten. Dazu gehören Plato (427–347 v. Chr.) und Aristoteles (384–324 v. Chr.) im Altertum, Anselm von Canterbury (1033–1109), Albertus Magnus (um 1206–1280) und Thomas von Aquin (1225–1274) im Mittelalter, Nikolaus von Kues (1441–1464) und Baruch Spinoza (1632–1677) im Beginn des neueren naturwissenschaftlichen Zeitalters, F.W.J. Schelling (1775–1854), G.W.F. Hegel (1770–1831), J.W. Goethe (1749–1832) und F. Schiller (1759–1805) in der Epoche des Deutschen Idealismus, Rudolf Steiner (1861–1925), Nicolai Hartmann (1882–1950) und Alfred North Whitehead (1861–1947) sowie die Physiker Werner Heisenberg (1901–1976) und Walter Heitler (1904–1981) im 20. Jahrhundert, und heute die Philosophen Dieter Wandschneider (geb. 1938) in Wien und Vittorio Hösle (geb.1960) in Notre Dame, Indiana. Diese Denker machen darauf aufmerksam, dass die Idee, das Gesetz unabhängig ist vom individuellen menschlichen Geist, der dieses Gesetz denkt. Als empirisch und objektiv kann dieses Denkerlebnis deswegen bezeichnet werden, weil es tatsächlich als objektiv Gegebenes erlebt wird. Man kann sich das innerlich empirisch klar machen, indem man den inneren passiven Widerstand zum Erleben bringt, der sich dann bemerkbar macht, wenn man den Versuch anstellt, das Gesetz anders zu denken, als es an sich selber ist. Eine Primzahl zum Beispiel lässt sich nicht durch eine andere Zahl teilen, ohne dass ein nicht mehr ganzzahliges Ergebnis resultiert. Jeder Versuch, die Primzahl so zu denken, dass ein ganzzahliges Ergebnis entsteht, misslingt. Es lässt sich nur denken, wie sie an sich selber ist. Die Ausdrücke »Gesetzmäßigkeit« und »Notwendigkeit« sind Ausdruck dieser Tatsache. Es ist bildhaft gesprochen wie bei einer Felswand aus Granit, die man gerne mit seinen Händen und Armen zurechtbiegen möchte. Es geht nicht. Sie macht durch den passiven Widerstand, den sie unserer Kraft entgegensetzt, ihre Objektivität, ihr reales Sein geltend. Vergleichsweise ebenso macht sich das Gesetzmäßige, Ideelle der Welt unserem
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geistigen Be-Greifen, unseren Denkanstrengungen gegenüber als ein in sich bestehendes, reales Objektives, geistiges Sein bemerkbar. Das ist einfach ein innerlich-empirisches Erlebnis. Das Gewahrwerden der Gesetzmäßigkeit als eine objektive, in sich bestehende Entität, also eine innere empirische geistige Erfahrung, und zwar nicht eine irrationale, mystische, trübe geistige Erfahrung, die man auch schlecht in Worte kleiden kann, sondern eine höchst rationale, bewusstseinsklare, wissenschaftsgemäße. Schon die Naturwissenschaft beruht auf dieser geistigen Erfahrung, wenn sie nicht nur durch die Sinne die Wahrnehmungswelt erfahren, sondern auch deren Gesetze aufdecken will. Der Wissenschaftler nimmt durch diese geistige Erfahrung teil am objektiven Weltgeist, wie Hegel sagt. Das ist in gewisser Weise trivial, aber es bleibt nicht trivial, wenn man sich die Konsequenzen bewusst macht, die sich daraus ergeben. Denn die Tatsache, dass die Welt draußen nach diesen Gesetzen geordnet ist, wie auch der Physiker Heitler sagt, macht uns auf ein wichtiges Problem aufmerksam, das uns dann zu einer anderen, lebendigeren Form von geistiger Erfahrung führen kann, als es die abstrakte der bloßen Gedanken ist, die jedermann kennt und die der heute nach geistiger Erfahrung Suchende ganz gewiss nicht sucht. So sind beispielsweise die Sonnenblumenkerne auf dem Blütenteller der Sonnenblume nach einem Gestaltungsgesetz geordnet, das mathematisch einer Fibonacci-Serie folgt. Fibonacci war ein Mönch des 13. Jahrhunderts, der diese Gesetzmäßigkeiten rein innerlich abstrakt, durch Mathematisieren, entdeckt hat. Aber dort draußen in der Natur sind die Gestaltungsgesetze nicht bloß die unlebendigen, höchstens einen passiven Widerstand liefernden Abstrakta, sondern höchst aktive, wirkende, lebendige Entitäten. Denn wenn die substanzielle Welt wirklich nach bestimmten abstrakten Gesetzen geordnet ist, dann muss das faktische Ordnen durch eine entsprechende Wirkkraft geschehen sein, und da der Stoff bei dieser Ordnung das Gesetznehmende, das Ordnungsgesetz aber das Gesetzgebende darstellt, muss das Gesetz selbst mit Kraft verbunden sein. Es handelt sich in der Natur um aktive, wirkende, kraftende Gesetze, wie das im 20. Jahrhundert z. B. auch von den Physikern David Bohm und David Peat mit dem Konzept der
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sog. »active Information« vorgeschlagen worden ist (Bohm 1990; Peat 1999). Das Problem ist lediglich, dass diese Kraft, ja überhaupt alle Kräfte in der Natur, im menschlichen Organismus und im Kosmos, im gewöhnlichen Bewusstsein nicht wahrgenommen werden, sondern rein denkerisch als ein Postulat aus der Tatsache des Bewirkten als existierend bloß erschlossen werden können. So ist es mit allen Kräften, von denen schon die Naturwissenschaft redet. Das Gesetzmäßige des Wirkens ist uns aufgrund des Bewirkten zugänglich, das Wirken selbst verbirgt sich dem gewöhnlichen Bewusstsein, es ist »okkult«. Und das ist auch der Grund, warum wir empirisch zunächst nur von dem Geistigen sprechen können, das sich uns durch eine sinnliche Ausdrucksform offenbart, aber nicht von einem Geistigen, das einen über die sinnliche Welt hinausgehenden rein spirituellen Bestand haben mag, und ferner, dass wir das uns zugängliche Geistige zunächst nur als ideelles Abstraktum, aber nicht als konkret wirkenden lebendigen, realen Geist erfahren können. Und doch wird dieser Geist, der lebendige, spirituelle, heute von den Menschen gesucht. Nehmen Sie nun an, es gäbe über das gewöhnliche Bewusstsein hinausragende Bewusstseinsformen, in denen dieses der Natur, der menschlichen Organisation, den kosmischen Geschehnissen zugrunde liegende Geistige durch konkrete Erfahrung wahrgenommen werden könnte, auch in Zustandsformen, die von einer sinnlichen Offenbarungsform unabhängig wären, aber in einer Klarheit, wie sie sonst auch im denkenden Bewusstsein waltet, und nehmen Sie an, es könnte das also Wahrgenommene seinen Gesetzen nach ebenso begriffen werden, wie das in der Naturwissenschaft für die sinnlichen Wahrnehmungen der Fall ist, dann hätten Sie eine spirituelle Wissenschaft, die auf ihrem Wahrnehmungsgebiet der Naturwissenschaft analog wäre und die auch Gegenstand der akademischen Wissenschaften sein könnte. Eine solches Wahrnehmen und eine solche Form von Wissenschaft sind in der europäischen Geistes- und Wissenschaftsgeschichte tatsächlich zu verzeichnen. Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) hat in seiner Philosophie klar darauf hingewiesen, dass es im wissenschaftlichen Bewusstsein nicht nur die abs-
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trakte, d. h. die ideelle Form von geistiger Erfahrung gibt, der sich Hegel vornehmlich zugewendet hat, sondern auch eine konkrete, lebendige, dass nämlich vom Denker auch das Wirken, die Tätigkeit eines Geistigen wahrgenommen, angeschaut werden könne, und dass das zunächst das wichtigste geistige Erlebnis sei, um eine höhere geistige Anschauungsform auszubilden. Das Anschauungserlebnis dieses wirkenden, tätigen Geistigen, das Fichte meint, kann man sich innerlich empirisch klar machen, wenn man sich den Unterschied zwischen dem abstrakten Denkinhalt und der konkreten, lebendigen Denktätigkeit bewusst macht. In seiner Wissenschaftslehre von 1797 nennt er dieses Anschauen der eigenen Denktätigkeit in ihrem Vollzug die »intellektuelle Anschauung«:
» Dieses dem Philosophen angemuthete Anschauen seiner selbst im Vollziehen des Actes, wodurch ihm das Ich entsteht, nenne ich intellectuelle Anschauung. Sie ist das unmittelbare Bewußtseyn, daß ich handle, und was ich handle; sie ist das, wodurch ich etwas weiß, weil ich es thue. Daß es ein solches Vermögen der intellectuellen Anschauung gebe, läßt sich nicht durch Begriffe demonstrieren, noch, was es sey, aus Begriffen entwickeln. Jeder muss es unmittelbar in sich finden, oder er wird es nie kennenlernen. (Fichte 1871, S. 463)
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Und das Vermögen zu dieser geistigen Anschauung ist wie ein neues, d. h. höheres Sinnesorgan, durch das Inhalte erblickt werden, die demjenigen unzugänglich sind, der nur das sinnliche Anschauen kennt. So sagt Fichte in seinen Vorlesungen zur Wissenschaftslehre von 1813:
» Diese Lehre setzt voraus ein ganz neues inneres Sinneswerkzeug, durch welches eine neue Welt gegeben wird, die für den gewöhnlichen Menschen gar nicht vorhanden ist. (Fichte 1834, S. 4)
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Auch F.W.J. Schelling (1775–1854) ist der Auffassung, dass die Fähigkeit zu solcher Anschauung die Voraussetzung dafür darstellt, von einer übersinnlichen Welt überhaupt etwas wissen zu können:
»
Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. (Schelling 1856/57, S. 318)
«
Und Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772– 1801), der J.G. Fichte intensiv studiert und ihn auch persönlich kennengelernt hatte, war der Auffassung, dass Fichtes »intellektuelle Anschauung« die erste Form einer höheren, denkend-anschauenden Erkenntnis sein könnte, die noch anderes zu Tage fördern könnte als die eigene geistige Tätigkeit, was aber alles so wahrnehmen müsste, wie das eigene denkende Ich erlebt wird, nämlich als ein Tätiges:
»
Es wäre wohl möglich, dass Fichte der Erfinder einer ganz neuen Art zu denken wäre – für die die Sprache noch keinen Namen hat. Der Erfinder ist vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument. […] Es ist […] wahrscheinlich, dass es Menschen giebt und geben wird – die weit besser Fichtisiren werden als Fichte!
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»
Man sollte alle Sachen, wie man sein Ich anschaut, betrachten – als eigene Thätigkeit. Mit dem Ich geht es nur am leichtesten – das ist der Anfang, das Princip dieses Gebrauchs. (Novalis 1960, S. 524)
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Dieses geistige Anschauen und zusätzlich das denkerische Durchdringen des geistig Angeschauten war ein Hauptthema der Philosophie von Ignaz Paul Vital Troxler (1780–1866) (Heusser 1984), der in Jena Medizin und bei Schelling und Hegel Philosophie studiert hatte und der gegenüber Schellings Naturphilosophie zum Beispiel deutlich machte, es genüge nicht mehr, den Geist in der Natur bloß zu denken, sondern man müsse lernen, ihn empirisch anschauen zu lernen. So beschrieb er es als das Problem des Lebens, dass man die Existenz seines Wirkens zwar fordern, aber nirgends empirisch wahrnehmen könne (Troxler 1925); und er forderte deshalb, dass ein Sinn ausgebildet werden müsse, den er entsprechend seinem Objekt »Vitalsinn« nannte (Troxler 1808, S. 2). Und die auf solcher Wahrnehmung basierende, vorerst lediglich geforderte Wis-
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senschaft nannte er nicht »Biologie«, sondern – wie schon der Titel dieser Schrift besagt – »Biosophie«. Als Arzt war Troxler jedoch deutlich, dass für die medizinische Anthropologie nicht nur das Rätsel des Lebens wie schon bei der Pflanze, sondern auch dasjenige von Seele wie bei Tier und Mensch und darüber hinaus beim Menschen das Rätsel seines Geistes zu lösen sei. So war für ihn der Mensch nicht bloß ein physisch-materieller Körper mit lebendigen, seelischen und geistigen Eigenschaften, sondern eine viergliedrige Wesenheit, gleichermaßen bestehend aus dem physischen »Körper«, dem »Leib«, der auch das Leben beinhaltet, ferner aus »Seele« und »Geist« (Troxler 1921). Solchen Grundvorstellungen gemäß versuchte er eine medizinische Anthropologie zu skizzieren, in welcher der Aufbau, die physiologischen Funktionen und pathologischen Prozesse nicht einfach als Folge physischer Wechselwirkungen, sondern als Ausdruck eines harmonischen oder disharmonischen Zusammenwirkens von physisch-körperlichen, lebendig-leiblichen, seelischen und geistigen Kräften in einem Organ oder Organsystem verstanden werden (Heusser 1984). Und die Entwicklung eines Erkennens schwebte Troxler vor, welches das Wirken dieser übersinnlichen Kräftesysteme auf ihrem Gebiet nach demselben Prinzip zu erforschen vermag, das auch für die Erkenntnis auf dem Gebiet der naturwissenschaftlichen Anthropologie gilt: durch entsprechendes Wahrnehmen und durch Begreifen des Wahrgenommenen (Troxler 1942). Daraus ergibt sich für Troxler die Perspektive einer höheren Wissenschaftsform, die er schon 1828 in seiner »Naturlehre des menschlichen Erkennens« und im darauffolgenden Jahr in seiner dreibändigen »Logik« die »Anthroposophie« nennt (Troxler 1944; Troxler 1829). Eine geisteswissenschaftliche Anthroposophie, ganz nach naturwissenschaftlichem Vorbild:
» Doch es wird eine Zeit kommen, und sie ist nahe, wo die Anthroposophie die Naturerscheinungen des Geisterreichs im Menschen dem Geiste erklären wird, wie die Physik den Regenbogen dem Gesicht und die Äolsharfe dem Ohr wirklich auseinandersetzt. (Troxler 1944, S. 114)
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Für die Medizin würde eine solche Entwicklung die Konsequenz haben, dass nicht nur die physisch-sinnliche Empirie, sondern auch die geistige Erfahrung zur Erkenntnis von Krankheitsursachen und Erklärung von pathologischen Prozessen herangezogen werden müssten, wie Troxler schon in einer frühen Schrift bemerkte:
» Wer nicht mit einem geistigen Blicke solche Krankheiten in ihrer Geburtsstätte zu erreichen, anzuschauen, und von ihr aus zu verfolgen vermag, wird sie gewiss in der Leiche nicht erkennen – er mag in den Eingeweiden wühlen, und schauen, riechen, schmecken, fühlen und tasten, und er wird höchstens die Residuen erloschener Prozesse finden.
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» Es forderte daher eine Art ganz höherer Forschung dazu, um die Ursache an sich […] ausfindig zu machen. Überhaupt werden sich die Ärzte in ihrer Aetiologie solcher Krankheiten noch weit über ihre bisherigen Ansichten erheben müssen«. (Troxler 1806, S. 27, S. 21)
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Man muss sich klar machen, dass Troxler damals, kurz vor Anbruch der moderneren naturwissenschaftlichen Epoche mit Du Bois-Reymond und anderen, mit solchen Ideen noch auf ein hohes Interessen vieler seiner Zeitgenossen traf und dass Troxler eine weit herum bekannte, hoch geachtete Persönlichkeit war. Seine »Logik« von 1829 z. B. führte 1830 zu seiner Berufung als Professor für Philosophie an die Universität Basel. Als Hegel 1831 in Berlin starb, wurde Troxler als einer der möglichen Nachfolgekandidaten vorgeschlagen. Und bei der Gründung der Universität Bern 1834 wurde Troxler zu deren erstem Professor für Philosophie ernannt. Troxler wurde damals von den Staatsbehörden in Bern auch dazu bestimmt, die Eröffnungsrede der Universität Bern zu halten. In seinen schon im darauffolgenden Wintersemester 1834/35 führte er aus, dass die Philosophie als eine bloß im Gedanken lebende Wissenschaft in den Systemen von Schelling und Hegel ihren Höhepunkt erreicht habe. Insbesondere in Hegels System des »reinen, nicht an der Erscheinung haftenden Gedankens« habe die Philosophie ihre »höchste und letzte Entwicklungsstufe« erreicht (Troxler 1942, S. 290); und
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die jetzt anstehende »Reform der Philosophie« dürfe nicht mehr in »diese oder jene Systematik« gesetzt werden, sondern erfordere »ein eigentümliches höheres Organ des Bewusstseins und der Erkenntnis« (ebd., S. 81). Rudolf Steiner (1861–1925) hat dann um die Wende zum 20. Jahrhundert in der Weiterführung dieser Zielsetzungen des Deutschen Idealismus, der empirischen Erkenntnismethodik Goethes und des klassischen Universalienrealismus eine solche empirische Geisteswissenschaft als »Anthroposophie« erkenntniswissenschaftlich begründet (Steiner 1979; 1978b), eine auf der Denktätigkeit systematisch aufbauende geistige Wahrnehmungsund Erkenntnisfähigkeit methodisch ausgearbeitet (Steiner 1977; 1978a) und inhaltlich bis zu zahlreichen Resultaten geführt, die seither in Medizin, Pädagogik, Landwirtschaft und anderen Lebensgebieten praktisch angewendet worden sind und die in Theorie und Praxis schon wesentlich zur Re-Humanisierung und Spiritualisierung dieser und anderer Lebensgebiete beigetragen haben (Steiner u. Wegman 1991). Was sich beispielsweise als anthroposophisch erweiterte Medizin seit damals entwickelt und bis zu einer Reihe von Spitalgründungen sowie zu einer Universitätsgründung geführt hat, ist die erste historische Verwirklichungsform einer umfassenden medizinischen Wissenschaft und Praxis, die auf einer Ergänzung der empirischen Naturwissenschaft durch eine ebenso empirische spirituelle Wissenschaft beruht, wie sie spätestens seit Johann Gottlieb Fichte in der Wissenschaftswicklung an europäischen Universitäten angestrebt worden ist. Zu dieser Wissenschaftsströmung gehört beispielsweise auch J. G. Fichtes Sohn Immanuel Hermann Fichte (1796–1879), der viele Jahre als Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der Universität Tübingen tätig war und der ebenfalls eine »Anthroposophie« als Fortsetzung der naturwissenschaftlichen und psychologischen Anthropologie in das sonst verborgen bleibende Gebiet einer rein geistigen Wirksamkeit der menschlichen Seele forderte (Fichte 1876). Das kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter besprochen werden. Worauf es aber hier ankommt, ist zu zeigen, dass das, was heute in der Bevölkerung deutlich bemerkbar als Bedürfnis nach empirischer Erfahrung des Geistigen auftritt, in der europäischen Geistes- und
Wissenschaftsgeschichte schon seit etwa 200 Jahren als Bedürfnis und Gegenstand wissenschaftlicher Forschung existent ist und zur Inauguration einer systematischen spirituellen Wahrnehmungs- und Erkenntnismethode geführt hat, die auf der seit den griechischen Denkern im christlichen Abendland entwickelten denkenden Bewusstseinsform und Wissenschaftlichkeit aufbaut und die neben den vorchristlichen und außerwissenschaftlichen Wegen zur Erlangung von spirituellen Erfahrungen einen eigenständigen Weg darstellt.
Literatur Bohm D (1990) Das neue Weltbild. Naturwissenschaft, Ordnung und Kreativität. München, Goldmann Fichte JG (1834) Johann Gottlieb Fichte’s Einleitungsvorlesungen in die Wissenschaftslehre, die transcendentale Logik und die Tatsachen des Bewusstseins. Vorgetragen an der Universität zu Berlin in den Jahren 1812 u.13. Aus dem Nachlass herausgegeben von I H Fichte. Marcus, Bonn Fichte JG (1871) Werke. Herausgegeben von Immanuel Hermann Fichte. De Gruyter, Berlin Fichte IH (1876) Anthropologie. Die Lehre von der menschlichen Seele. Begründet auf naturwissenschaftlichem Wege für Naturforscher, Seelenärzte und wissenschaftlich Gebildete überhaupt. 3. Aufl. Brockhaus, Leipzig Halbfas H (2004) Traditionsabbruch. Zum Paradigmenwechsel im Christentum. Luzerner Universitätsreden 16 : 18–31 Heitler W (1972) Naturwissenschaft ist Geisteswissenschaft. Die Waage, Zürich Heusser P (1984) Der Schweizer Arzt Ignaz Paul Vital Troxler (1780-1866). Seine Philosophie, Anthropologie und Medizintheorie. Schwabe, Basel Stuttgart Novalis (1960) Novalis Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. 2. Aufl. Kohlhammer, Stuttgart Peat FD (1999) Active Information, Meaning and Form. Frontier Perspectives 8 : 49–53 Schelling FJW (1856/57) Schellings sämtliche Werke. Hrsg. von KFA Schelling, Stuttgart Steiner R (1977) Die Geheimwissenschaft im Umriss. 29. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach Steiner R (1978a) Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. 30. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach Steiner R (1978b) Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. 14. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach
Literatur
Steiner R (1979) Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. Mit besonderer Rücksicht auf Schiller. 7. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach Steiner R, Wegman I (1991) Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. 7. Aufl. Rudolf Steiner Verlag, Dornach Troxler IPV (1806) Einige Worte über die grassierende Krankheit und Arneykunde im Kantone Luzern im Jahre 1806, Zug Troxler IPV (1808) Elemente der Biosophie. JG Feind, Leipzig Troxler IPV (1829) Logik. Die Wissenschaft des Denkens und Kritik aller Erkenntnis. 3 Bde. Cotta, Stuttgart Tübingen Troxler IPV (1921) Blicke in das Wesen des Menschen. Nach der Erstausgabe Aarau 1812 neu hrsg. von HE Lauer. Der Kommende Tag, Stuttgart Troxler IPV (1925) Über das Leben und sein Problem. Nach der Erstausgabe von 1806, hrsg. von H Kern und Ch Bernoulli. Niels Kampmann, Celle Troxler IPV (1942) Vorlesungen über Philosophie. Über Inhalt, Bildungsgang, Zweck und Anwendung derselben aufs Leben. Nach der Druckausgabe Bern 1835 neu hrsg. von F Eymann. Troxler Verlag, Bern Troxler IPV (1944) Naturlehre oder Metaphysik. Nach der Erstausgabe 1828 neu hrsg. von Willi Aeppli. Troxler Verlag, Bern
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Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung Tobias Esch
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Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
4.1
Einleitung
Von jeher galt es als hilfreich und geboten, sich mit Gott, den Göttern oder anderen »höheren Wesen« gut zu stellen, um sich beispielsweise ein langes und gesundes Leben zu sichern. In Zeiten der Dominanz eines klassisch naturwissenschaftlichen Paradigmas und infolge der Aufklärung sind Glaubensrituale und religiöse Praxis heute jedoch zunehmend zur Privatsache geworden und in vielen Gesellschaften gänzlich vom Aussterben bedroht. Könnte man meinen. Und dennoch: Ein wachsender Markt an religiösen »Zweigstellen« und HeilsversprecherInnen, an Esoterik und Menschen »auf der Suche« zeigen an, dass das Bedürfnis nach einer Beziehung zu und einem Platz für Gott (…), Religiosität und Spiritualität offenbar ein Urbedürfnis ausdrückt und nicht in gleichem Maße mit dem Niedergang z. B. der europäisch-christlichen Konfessionen an Bedeutung verliert. Und so scheint es gerade in Zeiten der Krise im »Außen« und im »Innen«, wie z. B. auch im Rahmen von Krankheit, Tod und Heilung, eine Hinwendung zu einer spezifischen oder aber einer integralen Spiritualität zu geben und dieses Phänomen scheint etwas sehr Menschliches zu sein. Aus Sicht der Neurobiologie, also der Disziplin, die versucht, biologische Phänomene, Verhaltensweisen und Zusammenhänge in der lebendigen Welt mit Hilfe des Nervensystems – insbesondere also höherer Lebewesen – zu erklären, zu deuten und daraus gegebenenfalls Rückschlüsse auf zukünftige Ereignisse oder therapeutische Möglichkeiten und deren Umsetzung und wahrscheinliche Ergebnisse zu ziehen, sind Phänomene, die sich in der Evolution konserviert und erhalten haben, immer von besonderer Bedeutung. Gerade im zentralen Nervensystem finden wir evolutionsbiologisch alte Anteile, auch beim Menschen, und deren dauerhafte Existenz und Erhaltung zeigt einen offenbar sinnvollen biologischen Mechanismus zum Gesunderhalt und zur Sicherung des Überlebens des Einzelnen und vor allem der Art an. Höhlenzeichnungen aus der Steinzeit und alte Überlieferungen sowie archäologische Funde und moderne Theorien zur Frage, warum beispielsweise der Homo sapiens sapiens dem Homo sapiens neanderthalensis in der Evolution schließlich überle-
gen war, lassen einen wesentlichen Schluss zu: Die Fähigkeit zu glauben und spirituelle Praktiken oder spirito-kulturelle Rituale zu pflegen scheint uralt zu sein und sich erst im Laufe der kulturellen Evolution z. B. in unterschiedliche Religionen und kulturelle Erscheinungsformen aufgespalten zu haben. Und da schließt sich der Kreis: etwas Natürliches und im o. g. Sinn »Gesundes«, das sich in der Evolution durchgesetzt und erhalten hat, kann für die moderne Wissenschaft und Medizin von immenser Bedeutung sein. Es macht also Sinn, derartige Verhaltensweisen aufzudecken, sie im Kontext einer »Evolutionsmedizin« zu interpretieren, zu verstehen und schließlich die molekularen und neurobiologischen sowie die psychosozialen Wurzeln und kulturellen Konsequenzen genauer zu identifizieren und zu ergründen sowie eventuell für den modernen Menschen und die moderne Medizin nutzbar zu machen. Und so lassen sich Phänomene rund um Spiritualität und Glauben heute neurobiologisch untersuchen und erklären, es lassen sich mitunter gar die ebenfalls in der Evolution konstant gehaltenen zugrunde liegenden molekularen Signalwege und Übersetzungen entdecken, welches in der Folge eventuell helfen kann, für diese oft subjektiven Phänomene ein modernes – zuweilen »objektives« – Verständnis zu entwickeln und solcherart möglicherweise verloren gegangenes und durch die Naturwissenschaft zunächst verdrängtes »Urwissen« wieder zu übersetzen und in eine ganzheitliche Heilkunst zu re-integrieren. Dazu benötigt es aber eine entsprechende Kenntnis derartiger Phänomene, ein vorurteilsfreies Herangehen sowie eine akzeptierte naturwissenschaftlich-medizinische Methodik. Ein solches integrales Herangehen wollen wir in diesem Text versuchen, wobei allein schon die Auswahl der betrachteten Aspekte fraglos einen Reduktionismus beinhaltet. Es kann sich also nur um eine Annäherung handeln.
4.2
Gesundheit, Verhalten und Autoregulation
Gesundheit und Lebensqualität (Wohlbefinden) zählen zu den höchsten Gütern, nach denen wir Menschen streben. Allerdings sind beide sehr fragil und fortwährend gefährdet, weswegen ein hoher
4.2 • Gesundheit, Verhalten und Autoregulation
Aufwand betrieben wird, um sie zu fördern und zu erhalten. Gelingt dies nicht, so droht Erkrankung, Siechtum oder gar der Tod. Gesundheit ist ein komplexes und flüchtiges – das heißt dynamisches – Gut, wie es auch schon die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in ihrer bekannten und inzwischen etwas veralteten Definition feststellt: Es muss der Zustand eines umfassenden, ja vollkommenen Wohlbefindens auf körperlicher, geistig-seelischer (psychischer) und sozialer Ebene hergestellt werden, um Gesundheit zu erhalten. Aus diesem Verständnis heraus hat sich das biopsychosoziale Modell der Gesundheit entwickelt. Viele Bedrohungen für die Gesundheit umgeben uns ständig oder sind in uns selbst verankert. Für viele Menschen ist Schmerz eine solche Bedrohung, wobei er von außen zugefügt werden oder auch von innen entstehen kann. Beides kann kurzfristiger Natur sein, aber auch einen chronischen Zustand reflektieren. Und: Schmerzen können auf somatischer – das heißt körperlicher –, aber eben auch auf geistig-seelischer Ebene empfunden werden und stellen so eine besonders potente Herausforderung für den Gesunderhalt im Sinne der WHO dar. Gleiches gilt für das Stressphänomen in einer »aus den Fugen geratenen Welt«, einer Welt, in der vieles akzeleriert und »nicht mehr so ist, wie es einmal war«. Gefährdungen unserer Gesundheit – und damit letztlich Erkrankungen – können sich auf verschiedene Weisen offenbaren und manifestieren: auf der exogenen Umwelt-Umfeld-Ebene (biologischenvironmentale und soziale Umgebung) sowie auf der psychologisch-mentalen bzw. endogenen Ebene. Dabei ist die äußere Umwelt im Sinne einer Analyse (Diagnose) und Handlungsanweisung (Therapie) besonders interessant für soziologische, sozialwissenschaftliche und/oder gesundheitswissenschaftliche Betrachtungen und Annäherungen, da hier die Verhältnisse in den Mittelpunkt gerückt werden (vgl. Verhältnisprävention). Die inneren Einflüsse beziehen sich dagegen fokussiert auf das geistig-seelische Milieu und die angekoppelten kognitiven Prozesse, weswegen es sich hier – im analytisch-therapeutischen Sinn – um eine Domäne von Medizin und Psychologie handelt (vgl. Verhaltenstherapie, Verhaltensprävention).
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4
Betrachtet man die individuellen Auswirkungen und Determinanten von Gesundheit und Krankheit und konzentriert sich dabei insbesondere auf die innere Lebenswelt der Menschen, kommt man nicht umhin, das Verhalten auf kognitiver und behavioraler Ebene mit den kritischen Einflussgrößen »Motivation« und »Emotion« zu analysieren. Hirnphysiologische Vorgänge spielen eine herausragende Rolle, so wie zum Beispiel limbische Belohnungsmechanismen von zentraler Bedeutung für Emotion und Motivation sind (siehe unten). Dabei schließt das herkömmliche biopsychosoziale Modell auf phänomenologischer Ebene solche Prozesse durchaus ein, aber schon bei dem erweiternden Begriff des »Glaubens«, der seinen biologischen Ursprung ebenfalls im limbischen System und den angelehnten Motivationskreisläufen im Hirn hat, stößt man an die Grenzen dieses Modells. Was im Bereich der Medizin (und damit auch der modernen, objektivistischen Gesundheitsmodelle) der sogenannte »Placeboeffekt« ist, kann in anderen, ggf. weniger reduktionistischen Zusammenhängen heute auch eine »Spiritualität« sein, die sich trotz atheistischer Entwicklungen in vielen modernen Gesellschaften – gewissermaßen komplementär – weiter auszubreiten scheint. Glaube und Spiritualität, im limbischen System des Gehirns biologisch verankert, sind aus einem ganzheitlichen Modell von Gesundheit und Krankheitsentstehung gar nicht mehr wegzudenken, was ebenso für die angelehnten Therapiemodelle gilt (siehe unten). So kommt es, dass in einer vielleicht etwas provozierenden, pointierten Erweiterung des oben genannten Modells mitunter vom »biopsychosoziospirituellen« Modell gesprochen wird. Gleiches könnte man für das »biopsychosoziokulturelle« Modell etc. anmerken. Wie wir sehen, scheint es notwendig, sich über die Grenzen und »Auswüchse« grundlegender Gesundheitsmodelle – wie zum Beispiel jenes der WHO – weiterführende Gedanken zu machen. Sichtbares Verhalten, das heißt das, was Menschen denken und tun sowie die Konsequenzen davon, lässt sich analysieren, messen, bewerten und unter Umständen auch verändern. So versucht es die Verhaltensprävention, die im Sinne einer individuellen und angewandten Gesundheitsförderung bemüht ist, »schädliches« Verhalten durch gesunde
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Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
Motivation Verhalten (Handlung) Gehirn Limb. System
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Belohnung
. Abb. 4.1 Der Motivations-Belohnungskreislauf im limbischen System des Gehirns (stark vereinfachendes Schema)
oder weniger »schädliche« Lebensstile zu ersetzen (Lebensstilmodifikation). Oftmals wird hier ein umfassender (ganzheitlicher) und nachhaltiger Eingriff in die unmittelbaren und determinierenden – intimen – Lebensprozesse vorausgesetzt bzw. angestrebt. Doch auf welcher Basis geschieht diese Messung, wie wird eine »erfolgreiche Modifikation« manifest? Wir gehen heute davon aus, insbesondere in den Neurowissenschaften respektive der Neurobiologie, dass jegliche sichtbaren Veränderungen im Verhalten – und damit auch Veränderungen im Sinne einer Bedrohung durch Schmerz oder Stress sowie die darauf ausgerichteten Strategien einer Linderung – eine Analogie oder gar ihren Ursprung in hirnphysiologischen Veränderungen haben. Dabei ist jedoch noch nicht entschieden, woher jene Hirnaktivitäten direktional kommen, welche Ursachen sie letztlich haben und/ oder »was zuerst da war«, aber – und das erscheint uns wesentlich – es muss möglich sein, in einem komplexen und kybernetisch organisierten, autoregulierten System Veränderungen im Verhalten auch auf der motivationalen Ebene, in physiologischen Effekten und Mechanismen sichtbar zu machen. So kommt es, dass wir letztlich an verschiedenen Stellen, aufgrund der Interkonnektivität der Determinanten und der Integration auf der jeweiligen Ebene des einzelnen Organismus, Gesundheit und Krankheit sowie die dahinter stehende Physiologie sichtbar machen können. Am Ende sind es einzelne Hormone, »Messenger« und Moleküle, die die Autoregulation steuern bzw. im Körper – und im Verhalten – übersetzen. Allerdings sind jene molekularen Veränderungen nicht nur Ausdruck der fortwährenden dynamischen Anpassungsvor-
gänge (das heißt Instrumente, Zeichen), sondern, da es sich hier um ein komplexes und nicht-lineares System handelt, sie können möglicherweise auch selbst der Ausgangspunkt von Herausforderung (Beispiel: Trauma, Schmerz, Stress) und Anpassung (Schmerzlinderung, Stressreduktion) sein. Spiritualität und Glaube sind in diesen Kontext einzuordnen.
4.3
Motivation und Belohnung
Motivation, d. h. die Bewegung hin zu etwas (lateinisch »motivare« = in Bewegung versetzen), ist nicht nur ein psychologisches Phänomen. Es hat heute seinen Eingang als fester Bestandteil in gesprächs- und verhaltenstherapeutische Konzepte und verschiedene konkrete Behandlungsformen gefunden. Motivation ist aber auch ein originär medizinisches Thema, denn sie ist eminent wichtig bei Fragen z. B. rund um den Placeboeffekt, bei Appetit und Gewichtsregulation (»appetitive Motivation« = sich auf etwas hinbewegen wollen; im Gegensatz zur »aversiven Motivation« = vor etwas weglaufen, sich von etwas wegbewegen wollen) und bei Belohnungsprozessen ganz allgemein, d. h. in der neurobiologischen Deutung von Ereignissen, Erlebnissen und Erfahrungen. In unserem Gehirn, räumlich an das limbische System angegliedert bzw. dort integriert, existiert ein sog. Motivations-Belohnungskreislauf (. Abb. 4.1). Hier werden Verhaltensprozesse über endogene Motivations-Belohnungsabfolgen gesteuert. Vom Individuum im Moment als günstig eingeschätzte oder erlebte Verhaltensweisen werden über die Ausschüttung autoregulativer Botenstoffe belohnt, was zu einem Wohlgefühl und dem Wunsch führt, das Gezeigte oder Erlebte unmittelbar oder nach Restitution des ursprünglichen Appetits (»Appetenz«) zu wiederholen. Im Falle einer positiven (»appetitiven«) Verhaltensweise erfolgt eine endogene Belohnung u. a. über die Ausschüttung sog. »Glückshormone« (z. B. Dopamin, endogenes Morphium – siehe unten). Dieser autoregulative Kreislauf bedingt, dass gezielte Verhaltensänderungen (auch gewünschte oder medizinische Lebensstilmodifikationen, von außen angestoßen oder begleitet) »Spaß« machen müssen, damit sie
4.4 • Stress, Salutogenese und Glaube
nachhaltig sind. Trotz der prinzipiellen Sättigungscharakteristik solch »belohnender« Verhaltensweisen – d. h. nach Eintritt der Sättigung kann aus dem Appetit eine Gleichgültigkeit werden oder gar bei weiterem Aufrechterhalten eines bestimmten Verhaltens eine Aversion – besitzen viele Motivatoren die Eigenschaft, dass sie unsere natürlichen Feedback-Mechanismen, die beispielsweise eine Sättigung signalisieren, umgehen oder abmildern können. Hier kann es sein, dass über eine direkte Rezeptorstimulation die primären Sinnesorgane »umgangen« werden (vgl. Drogen) oder aber dass über kognitive Prozesse ein Feedbackweg geblockt wird. Beides ist denkbar und insbesondere für die Suchtproblematik im Rahmen der neurobiologischen Motivationsforschung bekannt. Daraus folgt, dass ein endogen als günstig erlebtes Verhalten nicht zwangsläufig auch gesund im medizinischen Sinne sein muss. Insbesondere kann in Stresssituationen ein Appetit, d. h. eine positive Motivation, für Verhaltensweisen aufgebaut werden, die allgemein als ungesund anerkannt sind, wie z. B. das Rauchen oder die exzessive Energie- bzw. Kalorienzufuhr durch Fast-Food. Auch andere »Exzesse«, darunter religiös-exzessive »Glaubenskonstrukte« oder obsessive Praktiken, können hier angeführt werden.
4.4
Stress, Salutogenese und Glaube
Stress gehört zum täglichen Leben und seine Einbindung in moderne Strategien der Salutogenese und Prävention ist unverzichtbar. Dabei hat die Bedeutung des Stresskonzeptes für Gesellschaft, Medizin und Wissenschaft in den letzten Jahren stetig zugenommen. Eine sich ausbreitende Industrialisierung sowie der moderne Tatbestand der Globalisierung haben das Stressphänomen scheinbar zu einem erfolgreichen Exportartikel gemacht. Stress stellt einen motivierenden Zwang dar, einen schicksalhaften oder unerwarteten Reiz (unvorhergesehenes Ereignis), welcher eine flexible Reaktionsweise einfordert: »Ohne Not verändert sich nichts«. Bereits die Vorstellung eines konkreten psychosozialen Konfliktes kann beispielsweise Stressreaktionen hervorrufen, welche – neben den emotionellen Komponenten Angst, Erregung etc.
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4
– auch schematische physiologische Aktivierungsmuster beinhalten können: erhöhte zentralnervöse Noradrenalinspiegel als Teil einer aktivierten Stressantwort verbessern die Lösungsfindung, erleichtern das Trennen von unmittelbar relevanten und irrelevanten Informationen. Solche Effekte im Rahmen kontrollierbarer Stressreaktionen sind von kurzer Dauer und abzugrenzen von unkontrollierbaren Reaktionen, welche bei ausbleibender Problemlösung oder einer Stressoren-»Überdosierung« (bzw. bei pathologischen Stress-Beantwortungsfunktionen) ausgelöst werden können. Die fehlende Kontrollierbarkeit der Stressoren kann jetzt zu einem Überschuss an Stresshormonen führen, worauf eine anfangs erhöhte Bereitschaft zur neuronalen Plastizität (d. h. Flexibilität) deutlich gebremst wird. Schließlich können sogar neurodegenerative Veränderungen auftreten. Werden solche Überreaktionszustände (Hyperreagibilität, Hyperarousal) nicht beendet oder bleiben unkontrolliert, kann es in der Folge zu einem völligen Zusammenbruch des Stress-Beantwortungssystems kommen: eine stumme (d. h. hypoaktive) Stressantwort liegt jetzt vor. Flexibilität, Gedächtnisfunktionen und Lernfähigkeit können bei unkontrolliertem Stress praktisch zum Erliegen kommen, das Auftreten psychischer und somatischer Erkrankungen wird wahrscheinlich. Es muss jedoch betont werden, dass praktisch immer subjektive Möglichkeiten der Einflussnahme auf die geschilderten Mechanismen bestehen. Jene Einflussmöglichkeiten können z. B. im Rahmen verhaltenstherapeutischer oder integrativmedizinischer Behandlungsansätze (u. a. Stressmanagement) herausgearbeitet und entsprechend gefördert werden. So kann ein professionelles Stressmanagement helfen, unkontrollierbare in kontrollierbare Stressantworten zu überführen oder, über subjektive Anpassungsvorgänge, die notwendige Beendigung einer überhöhten Stressphysiologie zu initiieren. Gerade der Einsatz von Entspannungs- und spiritueller Techniken (»Glaube«) als Teil einer therapeutischen Stressreduktion hat sich in diesem Zusammenhang als besonders effektiv erwiesen (siehe unten). Stressmanagement-Techniken enthalten meist Elemente aus den Bereichen a) kognitive Verhaltenstherapie, b) Entspannungstherapie, c) physikalische Therapie (inklusive Bewegungstherapie),
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Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
S t r e s s m a n a g e m e n t – das BERN - Konzept (nach T. Esch)
4
Verhalten Behavior
Æ Angenehme Tätigkeiten und Vergnügen, soziale Interaktion und Unterstützung, kulturell-kreative Aktivitäten, Musik, Kommunikation, Freundschaft und Liebe, positive Motivation und Lebenseinstellung, kognitive Verhaltenstherapie, Zeitmanagement etc.
Bewegung Exercise
Æ Aerobe und anaerobe körperliche Aktivität
Entspannung Æ Meditation, evtl. inklusive Glaube und Spiritualität Relaxation Ernährung Nutrition
Æ Gesunde Ernährung, Nahrungsergänzung/Diät (falls indiziert)
. Abb. 4.2 Das Stressmanagement-Konzept BERN. Wie in etablierten Stressmanagement-Ansätzen und -Programmen – vgl. »Mind-Body-Medizin« (MBMSR – Mind-Body Medical Stress Reduction) – finden wir die Säulen a) Verhalten bzw. Verhaltensund Lebensstilmodifikation (Behavior), b) Bewegung (Exercise), c) Entspannung (Relaxation) und d) Ernährungstherapie (Nutrition). Integraler Bestandteil sind neben dem sozialen Support auch Glaube und Spiritualität. (Nach Esch, 2008)
STRESSMANAGEMENT positives Denken und
Verhalten soziale ausreichend
Unterstützung
Bewegung regelmäßige
Entspannung
Spiritualität und
Glaube
gesunde
Ernährung
. Abb. 4.3 Schematische Darstellung der verschiedenen Säulen des Stressmanagements und ihrer Beziehungen zueinander
d) soziale Unterstützung, e) Ernährungstherapie und f) Spiritualität (. Abb. 4.2, . Abb. 4.3). Ähnlich der Ordnungstherapie bzw. den klassischen Naturheilverfahren werden hier Selbstfürsorge, Eigenkapazität und Ressourcen-Orientierung als wichtige Elemente eines umfassenden therapeutischen Konzeptes mit in die Behandlung eingebunden. Studien konnten verdeutlichen, dass ein professionelles Stressmanagement beispielsweise über die Initiierung durchgreifender Lebensstilmodifikationen positive Effekte im Bereich des Herz-Kreislauf-Systems erzielen kann, manifeste
Pathologien – wie arteriosklerotische Gefäßwandveränderungen – zeigten sich mitunter reversibel. Die verschiedenen Säulen des Stressmanagements sind heute Objekt intensiver Forschung und haben sich zum Teil bereits fest in allgemein anerkannte Therapieschemata zur Behandlung unterschiedlicher lebensstilassoziierter Erkrankungen etabliert. Ein wesentlicher Bestandteil fast aller Stressreduktions-Konzepte sind, wie erwähnt, Entspannungsverfahren. Hiermit sind Techniken gemeint, welche die sog. Entspannungsantwort (relaxation response), das ist der physiologische Gegenspieler der Stressantwort, auslösen können. Diese Techniken – wie Meditation, autogenes Training, progressive Muskelentspannung etc. – lassen sich meist leicht erlernen und sind gut geeignet, im Rahmen eines praktikablen und alltäglichen SelbstfürsorgeRegimes zum Einsatz zu kommen. Zahlreiche Studien haben darüber hinaus die Wirksamkeit von Entspannungs- und Meditationstechniken bei der Behandlung v. a. stressassoziierter Erkrankungen belegt. Hinsichtlich zugrunde liegender physiologischer Mechanismen der Entspannungsantwort scheinen gerade Stress- oder Sympathikusreaktivität-mindernde Aspekte sowie eine mögliche Aktivierung konstitutiver Stickstoffmonoxid-Signalpfade eine wesentliche Rolle zu spielen. Es gibt darüber hinaus Hinweise, dass die Entspannungsantwort auf molekularer Ebene nicht nur mit Stick-
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4.4 • Stress, Salutogenese und Glaube
Verhalten
Positive soziale Beziehungen
Vergnügen
NO
Liebe
Bewegung ZNS-Belohnungsund Motivationsmechanismen
Entspannung
4
Dopamin Acetylcholin Oxytocin
Meditation Spiritualität
Serotonin Glaube
Ernährung
Endocannabinoide (Endorphine) Endogenes Morphium
. Abb. 4.4 Die neurobiologische Integration verschiedener stressreduzierender und gesundheitsförderlicher SelbsthilfePraktiken – inkl. Glaube und Spiritualität – in die ZNS-Belohnungs- und Motivationsmechanismen und die daran gekoppelte molekulare Autoregulation mit Stickstoffmonoxid (NO) als wichtigem Effektormolekül und physiologischem Konvergenzpunkt (Modell)
stoffmonoxid (NO), sondern auch mit der Endocannabinoid-Autoregulation und sogar der endogenen Produktion und Freisetzung von Opioiden und Opiaten (endogenes Morphium) verbunden ist. NO würde in diesem Rahmen einen physiologischen Konvergenzpunkt darstellen, auf welchen verschiedene gesundheitsförderliche Techniken zulaufen. So könnte man, aus dem Blickwinkel der Autoregulation betrachtet, durchaus von der konstitutiven NO-Physiologie als einem molekularen Instrument der Gesundheitsförderung sprechen (. Abb. 4.4). Viele moderne Stressmanagement-Strategien basieren auf dem Konzept der Salutogenese. Das bedeutet letztlich nichts anderes, als dass mehr auf die individuellen Ressourcen und Potenziale, weniger auf die pathogenetischen oder krankmachenden Faktoren geschaut wird. Welche Faktoren erhöhen Resilienz und Widerstandfähigkeit? Was können Menschen – ganz allgemein – lernen von solchen Individuen, die selbst in extremen Belastungssituationen gesund bleiben? Aaron Antonovsky untersuchte seinerzeit solche Individuen und fand die sog. »salutogenen Ressourcen«, d. h. hilfreiche Faktoren, um die Gesundheit zu schützen
(Gesundheitsschutzfaktoren), die Widerstandsressourcen zu stärken und Belastungen zu bewältigen. Menschen, die eine üppige Ausstattung solcher Faktoren besitzen – sei es schon von Geburt an oder danach antrainiert (bewusst oder »zufällig«, auf individuellen Erfahrungen basierend) – haben einen ausgeprägten »Kohärenzsinn«, d. h. sie empfinden ihr Leben als sinnvoll, verstehbar und handhabbar. Andere Autoren, wie Herbert Benson von der Harvard Medical School mit seiner »MindBody-Medizin« oder Susan Kobasa aus New York, betonen ebenfalls die Bedeutung insbesondere der Kontrollierbarkeit von Stress – oder anders ausgedrückt: die Wichtigkeit einer »Nicht-Hilflosigkeit«, also einer grundlegenden Selbstwirksamkeits- und positiven Kontrollüberzeugung. Heute finden sich die oben beschriebenen Eigenschaften »salutogener Persönlichkeiten« bzw. einer ausgeprägten Stressresistenz oftmals subsumiert unter den sog. »C-Begriffen« wieder: Menschen, die wie imprägniert gegen schädliche Folgen von Stress und Belastungen scheinen, empfinden ihr Leben zumeist als grundsätzlich gestaltbar und kontrollierbar (»control«), nehmen Veränderungen (»change«) grundsätzlich als Herausforderung (»challenge«)
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4
Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
und nicht als Bedrohungen wahr, gehen in ihrer Arbeit auf und widmen sich einer Sache ganz oder gar nicht (»commitment«). Dabei sind sie in der Lage, Bezüge zu ihrer sozialen Umwelt herzustellen und sich eingebunden zu fühlen (»closeness« oder »connectedness«). Gerade dieser letzte Punkt hat kulturell oft die Konsequenz, dass Beziehungen auch zu »höheren Instanzen« (Gott, Allah etc.) hergestellt werden, welche sich in der Regel stark stressreduzierend und gesundheitsförderlich auswirken. Das Fehlen solcher spiritueller »Kraftquellen« oder religiösen Bezugspunkte kann, etwas überspitzt, auch als medizinischer Risikofaktor aufgefasst werden. Selbstverständlich muss eine solche Aufzählung unvollständig und vereinfachend sein, d. h. es werden komplexe Phänomene reduktionistisch operationalisiert. Allerdings werden sie auf diese Weise handhabbar, trainierbar und lernbar. Und genau darum bemüht sich ein professionelles Stressmanagement – mit Erfolg. Stressmanagement bedeutet, die Menschen in ihrer individuellen Lebenswelt abzuholen und sie (nicht-direktiv) anzuleiten, auf dem »Gesundheits-Krankheits-Kontinuum«, dem individuellen Zustand zwischen »vollkommen gesund« und »todkrank«, einen kleinen oder aber großen Schritt in Richtung Gesundheit zu gehen, sich dort hinzubewegen (vgl. Definition der Motivation, oben). Hierfür sollen die endogenen Ressourcen, Potenziale und Kompetenzen zur Gesundheitsförderung und Salutogenese entwickelt werden. Dabei ist das Leitmotiv nicht die Kuration, sondern vielmehr Lebensqualität und Selbsthilfekompetenz. Noch vor einigen Jahrzehnten lag dieser Bereich der »Selbstheilungskräfte« jenseits einer fundierten medizinischen Wissenschaft und wurde oftmals – mitunter abwertend gemeint – mit den Begriffen »Aberglaube«, »Glaube« oder »Naturheilkunde« gleichgesetzt. Daran war prinzipiell wenig Falsches, geht es doch um die natürlichen Ressourcen in jedem Selbst, welche für eine verbesserte Gesundheit und Lebensqualität nutzbar gemacht werden sollen. Biologie und Neurobiologie geben heute entscheidende Hinweise auch für die Bedeutung von Glaube und Spiritualität für Gesundheit und Stressresistenz und so ist zu erwarten, dass die Zahl der wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweise in diesem Bereich in den nächsten Jahren stark anwach-
sen wird. Positive Resultate aus der jüngeren Forschung haben dazu geführt, dass die »komplementäre Medizin«, wie die Naturheilkunde (und hier insbesondere die Stressmanagement-Anteile), heute zunehmend im akademischen Kontext genannt werden und sich verstärkt auch in die universitäre Medizin einbringen, als sog. »Integrative Medizin« in Europa oder als »Integrative Medicine« bzw. »Mind/Body Medicine« im angloamerikanischen Raum. Dabei haben gerade die neurobiologischen Erklärungsmodelle rund um den Placeboeffekt und den hirneigenen Motivations- und Belohnungskreislauf zu einem verbesserten Verständnis und einer höheren Akzeptanz geführt. Im Zentrum besonders spannender Entwicklungen stehen derzeit Forschungen zur Spiritualität und religiösen Praktiken und ihre molekularen und neurobiologischen Entsprechungen.
4.5
Endogenes Morphium
In der Vergangenheit sind wir auf eine zunehmende Zahl von Studien gestoßen, die das Vorhandensein von Morphium und seiner Stoffwechselprodukte und Vorstufen bei Tieren, einschließlich den Wirbellosen, belegen, was stark darauf hindeutet, dass dieser chemische Botenstoff von Tieren hergestellt werden kann. Erst kürzlich sind weitere Studien erschienen, die belegen, dass auch Wirbeltier-Zellen und sogar menschliches Gewebe die Fähigkeit haben, Morphium herzustellen (. Abb. 4.5). In der Diskussion um die möglichen Funktionsweisen von endogenen Opiaten werden wir von Wissen geleitet, das in zahlreichen Studien über pharmakologische Reaktionen auf die Darreichung von exogenem Morphium und ähnlichen Substanzen gewonnen wurde. Ein für exogene Opiatverbindungen anscheinend charakteristisches Kennzeichen – beispielhaft veranschaulicht durch ihre bekannten antinozizeptiven Wirkungen – ist, dass sie Reaktionsschwellen unter einer Vielzahl von physiologischen und pathologischen Umständen absenken bzw. herunterregulieren (»Downregulation«). Man kann folglich mit gutem Grund vermuten, dass endogene Opiate auf ähnliche Weise reagieren können, wann immer die Situation es erfordert. Aufgrund umfangreicher Arbeiten und
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4.5 • Endogenes Morphium
Befunde interpretieren wir heute die experimentelle wie auch klinische Wirkung einer endogenen Opiat-Autoregulation tatsächlich als eine im Wesen hemmende oder Minus-Aktivität. Das Vorhandensein von endogenem Opiatalkaloid (das heißt Morphium) im Blutkreislauf und von spezifischen Opiatrezeptoren – zum Beispiel dem μ3-Rezeptor (mu3) – auf Immunozyten, Nervenzellen und anderen Zellen, was sowohl für Wirbellose als auch für Wirbeltiere inklusive dem Menschen inzwischen nachgewiesen wurde, befähigt diese Verbindungen offenbar, direkt an autoimmunregulatorischen Prozessen teilzunehmen. Tatsächlich ist es so, dass einige Studien stimulierende Effekte von Morphium nachgewiesen haben, wobei wir meinen beweisen zu können, dass dies das Ergebnis eines »Rebounds« von der Inhibition sein könnte – dass also die Beobachtungszeitpunkte in den Studien nur die ursprüngliche Downregulation verpasst haben. Man kann sagen, dass die opiatabhängigen bzw. spezifischen Vorgänge weitgehend inhibitorischer Art sind (siehe oben) sowie als neurobiologisches Backup fungieren (siehe unten). Zusätzlich könnten die Opiate im Blutkreislauf zur Gesamtsumme der Übertragungswege und subsequenter Effekte beitragen, die von Signalmolekülen beeinflusst werden, welche das ZNS von verschiedenen Quellen, einschließlich des Immunsystems, erreichen. Es stellt sich nun die Frage, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen die immunsuppressive Aktivität von endogenen Morphinen auf einen Weg gebracht wird, der als positiv für den Organismus bewertet werden kann. Man kann mit gutem Grund vermuten, dass der Bedarf an einem zusätzlichen Kontrollsystem unter Bedingungen entsteht, die besondere Herausforderungen darstellen. Es scheint weitgehende Einigkeit darüber zu bestehen, dass ernste oder lebensbedrohliche Herausforderungen einen Alarmzustand schaffen, der durch die sofortige Ausschüttung von stimulierenden Botenmolekülen (Stresshormone, Opioidpeptide und andere) in Gang gesetzt wird und während dem alle vorhandenen Energien auf die Bewältigung des Notfalls gerichtet werden (Kampfoder-Flucht-Reaktion). Ein solcher Alarmzustand entspricht »Stress« bzw. der physiologischen Stressreaktion. Als ebenso relevant sollte man anerken-
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Opiat-Alkaloide -Morphium HO N
- beim Menschen nachgewiesen - Immun-, Nerven-, HerzKreislaufsystem
O H HO
Me
- Gehirn (ZNS): Belohnungssystem - selektiver Rezeptor
. Abb. 4.5 Endogenes Morphium (chemische Struktur) (Stefano et al. 1993)
nen, dass diese stimulierenden Signale gestoppt werden müssen, sobald sie nicht mehr benötigt werden, um den Organismus für eine nachfolgende Herausforderung wieder vorzubereiten. Ein endogener, morphinartiger Stoff wäre ein geeigneter Kandidat zur Bewältigung einer solchen Aufgabe (siehe unten). Es gibt Hinweise darauf, dass spirituelle oder »Glaubenspraktiken« für ihre neurobiologische Wirksamkeit die physiologische Placeboantwort einbeziehen. Auch hier könnte endogenes Morphium eine Rolle spielen: Placebobehandlungen haben kein eigenes, d. h. intrinsisches oder spezifisches pharmakologisches Potenzial, aber verändern nachweislich das Muster der Gehirnaktivität, insbesondere auch in tieferen Anteilen wie dem limbischen System. Und vieles mehr. Glaube und positive Erwartungen – gekoppelt an positive Erfahrungen oder Konditionierungen aus der Vergangenheit – sind naturgemäß wichtige Zutaten oder gar Voraussetzungen der Placeboantwort. Jene erfahrungsgetriggerten Placebomechanismen scheinen morphinerge Signalübertragungswege einzubeziehen, da beispielsweise eine Reduktion des Placeboeffektes bei Verabreichung von selektiven Opioid-/Opiat-Rezeptorantagonisten wie Naloxon nachgewiesen werden konnte. In Placeboexperimenten unter Einbeziehung bildgebender Verfahren wie der funktionellen Kernspin-Tomografie (fMRI) konnte z. B. gezeigt werden, dass die Erwartung einer Schmerzlinderung im Mittelhirn im Bereich der periaquäduktalen grauen Substanz (PAG) mit einer deutlichen Aktivierung einhergeht, in einem Bereich also, in dem eine hohe
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4
Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
Konzentration von Opiat-Neuronen mit inhibitorischem Einfluss auf die deszendierenden Schmerzbahnen existiert. Morphinerge Neuronen sind weit verbreitet entlang PAG und ihrer Verlängerung sowie den Raphekernen im Hirnstamm, was ebenfalls auf die Beteiligung morphinerger Mechanismen an der Placeboantwort und Schmerzverarbeitung annehmen lässt. Morphium selbst konnte in eben diesen Bereichen zwischenzeitlich mittels verschiedener Verfahren nachgewiesen werden (Gaschromatografie, Massenspektrometrie etc.), wobei die meisten Studien zum direkten Nachweis zur Zeit noch mit Wirbeltieren – insbesondere Nagetieren – durchgeführt werden. Es liegen aber erste Arbeiten hierzu an menschlichem Hirngewebe vor. Der präfrontale Kortex des Gehirns sowie weitere frontale Anteile (z. B. der orbitofrontale Kortex) spielen eine wichtige Rolle bei der Placeboantwort. Jene Bereiche besitzen enge Verbindungen zum limbischen System mit seinen Motivations- und Belohnungskreisläufen bzw. -bahnen, insbesondere auch zum Hippocampus und zum Gyrus cingulus, wo ebenfalls eine hohe neuronale MorphiumImmunoreaktivität experimentell nachgewiesen werden konnte. Diese limbischen (morphinergen) Anteile haben eine Bedeutung bei der Gedächtnis- und Erinnerungsfunktion und sind zusätzlich beteiligt an motivationalen, affektiven und autonom-vegetativen Prozessen, die die Schmerzverarbeitung begleiten. Endogenes Morphium könnte hier die Funktion haben, die Erinnerung an einen schmerzauslösenden Reiz – auf dem Weg der Gesundung (»Backup«) – abzuschwächen. Limbische Hirnregionen sind mit dem präfrontalen Hirn funktionell und neuronal – sowie molekular – eng verbunden. Hier werden Emotionen, Gedächtnis, Glaube, Erwartung, Motivation und Belohnung neurobiologisch integriert und affektive bzw. motivationale Antworten sowie Verhaltensäußerungen und -änderungen generiert. Präfrontale Mechanismen können auch die Opiat-Freisetzung im Mittelhirn triggern. So konnte bei Ratten nachgewiesen werden, dass Morphium entlang der genannten Verbindungen freigesetzt wird und zwar mittels eines Kalzium- und Kalium- (Ca++, K+) abhängigen Mechanismus. Morphium scheint in diesem Kontext die Aufgabe eines endogenen Neurotransmitters (→morphinerge Neuronen) zu haben. Kürz-
lich konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass Morphium zu einer Freisetzung von NO im limbischen System (Hippocampus der Ratte) führt, so dass aus dem Nachweis von endogenem Morphium in den genannten Hirnbereichen, dem Verteilungsmuster der spezifischen mu3- (und mu4-) Rezeptoren und der Tatsache, dass spirituelle Praktiken wie Gebet oder Meditation zur einer Aktivierung der NO-Synthasen und einer erhöhten NO-Freisetzung führen (Nachweis beim Menschen erbracht), abgeleitet werden kann, dass jene Mechanismen und Anteile nicht nur bei der Placeboantwort, sondern gerade auch im Kontext von Glaube und Spiritualität eine wichtige Rolle spielen: Beginnend möglicherweise im präfrontalen Kortex, kommt es über limbische Bahnen und die Einbeziehung morphinerger autoregulativer Neuronen zu einer TopDown-Kontrolle (. Abb. 4.6). Unterstützt wird diese Hypothese durch die Erkenntnis, dass Dopamin ein wichtiger Überträgerstoff beim Placeboeffekt ist und endogenes Morphium enzymatisch aus Dopamin gebildet wird.
4.6
Schmerz, Entspannung, Spiritualität und Selbsthilfe
Die mit Schmerz verbundenen Stressreaktionen stellen eine Gruppe von gemeinsamen physiologischen und molekularen Pfaden dar, die – im Sinne einer gemeinsamen, effektorischen Endstrecke – in Situationen aktiviert werden, die auch eine Verhaltensanpassung erfordern. Diese physiologischen Veränderungen spielen bei schmerzbezogenen Krankheitsprozessen ebenso eine Rolle wie bei der biologischen Entspannungsantwort. Die Entspannungsantwort definiert sich über eine Vielzahl von integrierten physiologischen Mechanismen und Anpassungen, die uniform in Gang gesetzt werden, wenn eine Person repetitiven geistigen oder körperlichen Tätigkeiten nachgeht und dabei auf passive Weise alle ablenkenden Gedanken ignoriert. Man hat nachgewiesen, dass derartige Methoden, wie Hypnose, Meditation, autogenes Training oder schlicht das Hören geeigneter Musiksequenzen, auch die Schmerzwahrnehmung verändern. Darüber hinaus kommt es auch zu physiologischen Veränderungen, einschließlich einer Verringerung des
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4.6 • Schmerz, Entspannung, Spiritualität und Selbsthilfe
Bio-psycho-sozio-spirito- molekulares Modell Stresshormone Opioide/Endorphine Immunsystem+ Upregulation
STRESS
Endogenes Morphium
mu3 Ca++
Backup cNOS-NO
Limbisches System
Downregulation
»Wohlgefühl« ...
- inkl. GLAUBE* und Vertrauen - Spiritualität - Motivation
*z.B. an... Gott, spirituelle Kräfte, Medizin (Placebo), Selbstheilung...
BERN
- Verhalten - Lernen (operant)
. Abb. 4.6 Bio-psycho-sozio-spirito-molekulares Modell der Autoregulation (»Ausschnitt«). Stress und traumatische Erfahrungen oder Belastungen – wie auch intensive Erfahrungen z. B. als Teil einer spirituellen Praxis – führen zu einer Aktivierung der körpereigenen Morphiumproduktion. Als Vorstufe können Stresshormone beteiligt sein sowie das körpereigene Dopamin. Wie in der Placeboantwort – oder auch der physiologischen »Love Response« – können über diese, mit anfänglicher Aktivierung (»antizipatorischer Stress«) und ggf. positiven Erwartungen und Vorfreude einhergehenden Mechanismen im limbischen System des Gehirns molekulare Bewältigungsstrategien angestoßen werden, wobei die postulierte MorphiumNO-Achse als kalziumabhängiger Mechanismus an einen spezifischen Opiat-Rezeptor (mu3) gekoppelt ist und die konstitutiven NO-Synthasen (cNOS) aktiviert. Endogenes Morphium hat die wichtige Funktion, die einmal aktivierten Stressreaktionen wieder »einzufangen« und herunterzuregulieren (Downregulation) sowie das System wieder zum Ausgangswert hinzuführen und zu rekonstituieren (Backup). Dabei sind psychologische Erfahrungen entlang von Wohlgefühl und Entspannung subjektive Anzeiger einer erfolgreichen Regulation und Stressreduktion und verstärken die positive Lernerfahrung
Sauerstoffverbrauchs und der Kohlendioxidelimination (also einer Verlangsamung des Stoffwechsels), einem verlangsamten Puls und einer Senkung des arteriellen Blutdrucks und der Atemfrequenz. Diese Effekte werden in erster Linie von den Katecholamin-Interaktionen mit endogenen Opioiden und Opiaten und der daran gekoppelten konstitutiven NO-Abgabe beeinflusst. Das limbische System im Gehirn, aber gerade auch die vegetativen Steuerungszentren, spielen eine entscheidende Rolle. Auf molekularer Ebene reduziert das freigesetzte NO die Katecholamin- und Stresshormonwirkung durch einen physiologischen Antagonismus. Wir nehmen an, dass die angeborene Fähigkeit der Entspannung mit der angekoppelten Veränderung des Schmerzempfindens als Schutzmechanismus gegen übermäßigen Schmerz fungiert, indem sie den potenziell schädlichen Wirkungen des Schmerzes und dem mit ihm verbundenen Stress entgegenwirkt. Weiterhin bekräftigen diese Ergebnisse die postulierte Verbindung zwischen
Katecholaminen, NO und Schmerz, da die Entspannungsantwort genau über diese Moleküle ihre Wirkungen entfaltet. Zusätzlich hat man nachgewiesen, dass die neurale Sensitivität für StressKatecholamine (Norepinephrin) im Zustand des chronischen Schmerzes physiologisch verringert wird. Interessanterweise verringert auch die Entspannungsantwort die sympathische Reaktivität und die dabei beteiligten autoregulatorischen Moleküle sind genau dieselben, also NO, endogenes Morphium und die Endocannabinoide. In der Tat ist es so, dass das konstitutive NO, wie beschrieben, der Norepinephrin-(Patho-)Physiologie entgegenwirkt. Weiterhin sind die Serotonin- und Dopaminniveaus durch die Anwendung von Entspannungs- und Meditationstechniken ebenfalls beeinflusst. Wir gehen davon aus, dass spirituelle Erfahrungen und Praktiken – wie Gebet, Meditation, Kontemplation (aber auch »Trance«, »Flow« etc.) – insbesondere über die Induktion von Beloh-
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Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
nungsmechanismen und die physiologische Entspannungsantwort schmerz- und stressreduzierend (und damit gesundheitsförderlich) wirken. Damit wird verständlich, dass die Entspannungsantwort bei der Schmerzlinderung eine Rolle spielen kann und dass dieser Effekt auf entscheidende Weise von Katecholaminen und NO bedingt wird. Dies ist in besonderem Maße von Bedeutung, da ein Schmerzreiz möglicherweise auch auf emotionalen Qualitäten beruhen kann, an denen die limbischen Strukturen in Verbindung mit dem zentralnervösen Belohnungssystem beteiligt sind. Dieses System schließt in herausgestellter Weise zum Beispiel dopaminerge und morphinerge Übertragungswege ein, die ihrerseits einen großen Einfluss auf unser emotionales Erleben und unsere Motivation haben und damit unmittelbar auch unser Verhalten modifizieren können: von den Molekülen zum Verhalten – und umgekehrt. Diese verhaltensbezogenen Ansätze haben folglich einen entscheidenden Einfluss auf molekulare autoregulatorische Mechanismen, was uns zur Annahme eines bio-psycho-sozio-molekularen Modells der Autoregulation führt, das Stress- und Schmerzverarbeitung mit umfasst (Abb. 5). Konsequenterweise kann man Moleküle und Verhalten als zwei Seiten derselben Medaille von Schmerzund Stresslinderung bzw. Spiritualität und Glaube betrachten. Dabei bedeutet Spiritualität in diesem Kontext etwa die Fähigkeit, eine Beziehung zu »etwas« außerhalb unserer eigenen körperlichen Existenz bzw. seiner Alltagserfahrung (d. h. außerhalb der Alltagswelt) herzustellen, etwas das »größer« ist als das Selbst und eben »dahinter« steht und das sich unserer Alltagswahrnehmung bzw. herkömmlicher Verfahren der Sichtbarmachung eben jener Erfahrungen weitestgehend entzieht, insbesondere der naturwissenschaftlichen Herangehensweise und Drittpersonen-Perspektive. Man muss daran glauben.
4.7
Schlussfolgerungen
Religiöse und spirituelle Erfahrungen können tief greifend, aufrührend oder aber auch subtil sein. Zumeist sind sie jedoch »privat« (d. h. subjektiv) und nur selten erhalten wir von außen Einblicke
in medizinisch-therapeutische Prozesse und Ergebnisse spiritueller Techniken oder Praktiken, geschweige denn in die dahinter stehenden molekularen und neurobiologischen Abläufe, falls überhaupt »real« (d. h. objektiv) vorhanden. In der Regel haben wir – die Öffentlichkeit, zumal die wissenschaftliche – nur eben jene subjektive Schilderungen aus der Erstpersonen-Perspektive (d. h. des/der »Betroffenen«) zur Hand, um das individuelle Erleben nachzuvollziehen, zu »glauben«, damit etwas anzufangen. Und dennoch gibt es zuweilen gemeinsame Themen, gemeinsame Nenner solcher Schilderungen und Erlebnisse. Eine Frage ist nun, ob sich diese Themen und Gemeinsamkeiten kategorisieren lassen? Und darüber hinaus die Frage, ob es sich bei religiösen und/oder spirituellen Erfahrungen auch um objektive Vorgänge handelt, z. B. um physiologische oder neurobiologische Veränderungen in Gehirn und Körper, die sich messen und zum Beispiel mittels bildgebender Verfahren oder elektrophysiologischer Methoden darstellen und überprüfen, bestätigen lassen? Kann Spiritualität aus der Drittpersonen-Perspektive (d. h. des Wissenschaftlers oder Experiments) gefasst werden und welche Techniken und Messmethoden könnten hierfür zum Einsatz kommen? Ein Ansatzpunkt zur Erhellung der oben stehenden Fragen kann der neurobiologische Zugangsweg sein. Hier gelingt es heute, insbesondere im Gehirn Areale zu identifizieren, die bei der Spiritualität und beim Glauben eine Rolle zu spielen scheinen. Dabei ähneln – oder gleichen – zumindest Teile der neurobiologischen Entsprechungen spiritueller Praxis dem Placeboeffekt, denn sie schließen an zentraler Stelle hirneigene Belohnungs- und Motivationsmechanismen ein. Von besonderer Bedeutung sind hier präfrontale und frontale, besonders aber limbische Anteile und Bahnen des ZNS. Auf molekularer Ebene könnten das hirneigene bzw. endogene Morphium sowie das an seine Ausschüttung gekoppelte konstitutive NO als Effektor eine wichtige Achse darstellen, neben dem Dopamin, was auch erklären würde, warum eine spirituelle Praxis nachweislich einen starken stressreduzierenden Effekt hat – konstitutives NO mindert molekulare Stressprozesse. Interessanterweise wird endogenes Morphium über Vor- und Zwischenstufen aus Dopamin gebildet: hohe Dopa-
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Literatur
minspiegel im Gehirn, wie bei einem starken Placeboeffekt zu beobachten, könnten so über diesen molekularen Mechanismus letztlich auch erhöhte Morphiumkonzentrationen im ZNS bedingen. NO, welches auch über andere Signalwege angestoßen werden kann, antagonisiert Stress auf physiologischer und molekularer Ebene. Subjektiv führt es zu einem Wärme- und Wohlgefühl (Belohnung!) bei geminderter Gereiztheit bzw. einer geminderten »Alarmierung« – sowohl Morphium als auch NO passen in ihrer Wirkweise zu diesem Ergebnis. Aber auch der wohl wichtigste physiologische Gegenspieler der Stressantwort, die sog. Entspannungsantwort, lässt sich durch Entspannungs-, aber auch Meditationstechniken aktivieren. Und diese Techniken wiederum führen unmittelbar zu einer messbaren NO-Ausschüttung (ritualisiertes Beten oder Meditieren führt beispielsweise zu einer Erhöhung des messbaren NO in der Ausatemluft). Erwähnt sei auch, dass das zentrale Bindungs-, Affiliations- und Fürsorgehormon, nämlich Oxytocin, ebenfalls zu einer NO-Freisetzung führt und »opiatähnliche« Effekte auslöst. Wir gehen davon aus, dass solche Bindungserlebnisse, die Oxytocin aktivieren, auch bei religiösen und Meditationsritualen auftreten können. Nicht zuletzt auch aus diesem Grunde finden sich Meditations- und Entspannungstechniken als wichtige Säulen in einem professionellen Stressmanagement-Regime wieder. Wir wissen nicht, ob der neurobiologische Ansatz ausreicht, um auch nur einen Bruchteil der Vorgänge zu verstehen, die das Individuum durchlebt – bewusst oder unterbewusst –, wenn es sich in religiösen Praktiken betätigt und spirituelle Erfahrungen macht. Sicher aber können wir annehmen, dass Ergebnisse aus der Neurobiologie helfen können, subjektive und Erstpersonen-Erfahrungen mit objektivierenden Drittpersonen-Ansätzen zu kombinieren, um aus eben dieser Kombination mehr zu lernen, zu verstehen und gegebenenfalls Ableitungen machen zu können, die für das Wohl der Menschen, gerade auch der gestressten und/ oder Kranken, von Bedeutung sein können und schließlich aus einer Medizin in diesem Bereich eine Öffnung hinein in eine integrale, umfassende Heilkunst bewirken. Da wir im Kontext der Spiritualität Phänomene des Ganzen, des Lebendigen, aber auch des Psychologischen, Sozialen und eben
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der molekularen Autoregulation finden, können wir hier, nicht ganz ernst gemeint, schließlich von einem bio-psycho-sozio-spirito-molekularen Ansatz sprechen.
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Kapitel 4 • Neurobiologische Aspekte von Glaube und Spiritualität: Gesundheit, Stress und Belohnung
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Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität – eine experimentelle, integrativ-abgleichende Gegenüberstellung von zwei Definitionen Ralph Marc Steinmann
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Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
Caminante, no hay camino, se hace el camino al andar. Antonio Machado
5.1
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Einleitung
Bezüglich der Erforschung im Allgemeinen und der Begriffsklärung von Spiritualität im Besonderen besteht ein großer Bedarf. Spiritualität wird zwar in vielen Bereichen des gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens thematisiert, gelebt und erfahren, doch ist bis heute keine Wissenschaft bestimmt, die für deren Erforschung und Vermittlung zuständig wäre. Das Feld darf nicht Pseudo-Esoterikern und Möchtegern-Gurus, Dogmatikern und fragwürdigen Geistheilern überlassen werden, deren Angebote und Praktiken oft undurchschaubar und wenig nachvollziehbar sind (Kommentar Arndt Büssing: »Die u. g. Ausführungen belegen aber deren Tun: Es ist alles nicht fassbar, nur erlebbar – kommt zu mir …«). Eine gemeinverständliche, breit abgestützte Definition von Spiritualität und wichtiger verwandter Begriffe ist Grundlage für den notwendigen Aufbau von »spiritueller Kompetenz«, von »spiritual« und »religious literacy« (Prothero 2007). Der postmoderne Mensch hat seine physischen und kognitiven, technischen und ökonomischen Kompetenzen einseitig zu Lasten seiner emotionalen und sozialen Fähigkeiten ausgebildet. In Bezug auf die spirituelle Dimension seiner Existenz, hinsichtlich seiner Fähigkeit im Umgang mit spirituellen oder pseudo-spirituellen Phänomenen auf dem Esoterik-, Psycho-, Entspannungs- und Wellness-Markt und erst recht bezüglich seiner Befähigung zu transpersonalen Erfahrungen und Bezügen ist er sogar ein Analphabet geworden. In Bezug auf die Entwicklung einer spirituellen Kompetenz können die Spiritualitätsforschung im Allgemeinen und die »Transdisziplinäre Arbeitsgruppe Spiritualität und Krankheit (TASK)« im Besonderen eine wichtige Rolle übernehmen. Schon zum Zweck einer gemeinsamen Arbeitsdefinition müssen diese ein Interesse haben, Spiritualität – und weitere verwandte Kern-Begriffe – näher zu definieren. Wie sollen gemeinsame Ziele formu-
liert und zielführende Maßnahmen getroffen und erreicht werden, wenn der Gegenstand selber und damit verbundene wünschbare Entwicklungen nicht hinreichend und für alle Beteiligten geklärt sind? Dabei dürfen wir uns nicht von unzulässigen Simplifizierungen und Reduktionismen leiten lassen und uns mit einem kleinsten gemeinsamen Nenner zufrieden geben. Es ist ein möglichst großer gemeinsamer Nenner in einer mindestens für den europäischen Kulturraum allgemein verständlichen Sprache zu finden, der den Wissenstransfer und die wissenschaftliche Anschluss- und Unterstützungsfähigkeit der TASK-Aktivitäten fördert und darüber hinaus – im Sinne des Aufbaus einer spirituellen Kompetenz – der allgemeinen Spiritualitätsbildung dient (s. den wegweisenden Beitrag von Ruhland im vorliegenden Band). Eine Definition von Spiritualität ist jedoch nicht nur notwendig, sondern auch schwierig. Der Begriff Spiritualität wird je nach Kultur und Kulturepoche, Weltanschauung und Religion, Wissenschaft und Sozialisation unterschiedlich verwendet. Diese Tatsache spiegelt sich in einer längst nicht mehr überschaubaren Anzahl von Definitionen nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in bildender und darstellender Kunst, Literatur und Musik sowie im alltäglichen gesellschaftlichen und medialen Leben. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Spiritualität führt schnell zur Erkenntnis, dass es leichter ist, das »Spiritualitätsgeschehen« zu beschreiben als »Spiritualität« per se, sui generis zu definieren. Unter »Spiritualitätsgeschehen« verstehen wir die spirituelle Erscheinungsvielfalt, das heißt Prozess und Wirkungen von spiritueller Praxis auf gesunde Menschen einerseits und von spirituellen Interventionen auf Kranke anderseits. Die Auseinandersetzung mit Zeugnissen mystisch geprägter Religiosität, Philosophie und Spiritualität verschiedener Epochen und Kulturräume deutet darauf hin, dass der »spirituelle Kern«, der »spirituelle Ursprung« oder die »spirituelle Wahrheit« (vgl. die philosophia perennis), im Grunde einfacher Natur ist. Im Rahmen des Spiritualitätsgeschehens manifestiert, gespiegelt und wie Sonnenlicht gebrochen im grob- und feinstofflich materialisierten, organischen und anorganischen Universum nimmt Spiritualität jedoch eine kaleidoskopische Erscheinungsvielfalt an.
5.1 • Einleitung
Auf der Ebene des pluralistischen Universums kann Spiritualität nicht anders als aus ebenso vielfältigen Perspektiven in verschiedenster Art und Weise erkannt, erlebt, erfahren und beschrieben werden. Die spirituellen Erscheinungsformen, das Spiritualitätsgeschehen können zwar bis zu einem bestimmten Grad beschrieben, doch letztlich nur durch und in der unmittelbaren, transpersonalen Erfahrung seines Kerns oder Ursprungs verstanden und »enträtselt« werden. Für die Schwierigkeit, nicht nur Spiritualität, sondern auch das Spiritualitätsgeschehen, zu definieren, gibt es zahlreiche weitere Gründe, deren zwei hier skizziert werden. Beide hängen mit erkenntnistheoretischen – eigentlich erkenntnispraktischen – Problemen spiritueller Erfahrung zusammen. An erster Stelle ist die Schwierigkeit sprachlicher Vermittlung spiritueller Phänomene zu erwähnen (Ergänzung Büssing: »im Sinne einer individuell gedeuteten Erfahrung«). Sind spirituelle Inhalte und Erfahrungen überhaupt kommunizierbar? Mit Hilfe von Begriffen aus dem rationalen, durch Zeit, Raum und Ich-Identifikation geprägten Alltagsbewusstsein versuchen wir transrationale, transpersonale Erfahrungen nicht alltäglicher Bewusstseinszustände zu erfassen. Bei unseren Überlegungen setzen wir voraus, dass die Erfahrung transzendenter Bezüge eine spirituelle Kern-Dimension darstellt. Sprache hat konzeptionellen, symbolischen Charakter (Ergänzung Büssing: »sie macht das ‚Unbegreifbare’ scheinbar beherrschbar, in dem sie es begr(e)iflich zu fassen versucht.«). Wie Modelle, Konzepte und Theorien beschreiben sprachliche Konstrukte nicht nur spirituelle, sondern auch alltägliche Erfahrungen lediglich approximativ. Erscheinungsformen spiritueller Inhalte können im rationalen, sprachlichen Bereich annähernd beschrieben werden, nicht jedoch die persönliche Erfahrung begrifflich abgebildeter spiritueller Inhalte selber (Kommentar Büssing: »Die Erfahrung ist näherungsweise beschreibbar, aber nur schlecht die emotionalen Konnotationen – dem Gegenüber fehlt dann leider das ‚tiefe‘ Verständnis, was der Beschreibende denn überhaupt so toll an seiner Erfahrung findet …«). Dies gilt nicht nur für spirituelle Phänomene, doch für diese in besonderem Maß. Beipackzettel beschreiben die Wirkung von Medi-
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kamenten in allen Einzelheiten. Solange der Patient das Medikament nicht selber einnimmt, bleibt die wissenschaftliche Beschreibung für ihn ohne Wirkung (Präzisierung Büssing: »Aus-Wirkung«) und Relevanz, ein reines Konzept. In ihrer erwähnten Kern-Dimension, der Erfahrung transzendenter Bezüge, ist Spiritualität, aber auch das Spiritualitätsgeschehen, in letzter Konsequenz weder begrifflich definierbar, noch über das Medium der Sprache vermittel- bzw. lehrbar, sondern nur erfahrbar. Spirituelle Inhalte und Erfahrungen schließen die Sprach-Dimension nicht grundsätzlich aus (vgl. Gebet, mantra, kōan etc. – Kommentar Büssing: »Das Koan wird zwar als tradiertes Erlebnis erzählt, aber der Zugang erfolgt a-verbal – obwohl bei der Reaktion auch Worte benutzt werden können«). Die Zeugnisse spiritueller Erfahrungen in verschiedenen Kulturen und Epochen weisen aber darauf hin, dass spirituelle Praktiken mit fortschreitender Tiefe sprachliche Hilfsmittel zurücklassen und Sprache an sich in einem äußeren und inneren (mentalen) Schweigen aufgelöst bzw. transzendiert wird, z. B. beim indischen Heiligen und Weisen Ramana Maharshi, 1879–1950 (Steinmann 1981) (Kommentar Büssing: »Das ‚Donnernde Schweigen‘ ist auch in der Zen-Tradition bekannt, es ist aber nur für den Erfahrenden ein Ausdruck …«). Begriffe für die Erfahrung der letzten Wirklichkeit erfüllen die Funktion eines reinen Platzhalters. An zweiter Stelle ist die bereits erwähnte perspektivische, relative Natur menschlicher AlltagsWahrnehmung und -Erfahrung – auch im Bereich außergewöhnlicher Bewusstseinszustände! (Ergänzung Büssing: »Und die subjektive Bewertung, die oft erfolgsorientiert ist …«) – zu erwähnen. Aufgrund unserer Sozialisation, Lebenserfahrung, Kohärenzgefühl und Bewusstseinsstand etc. verfügen wir über eine individuelle Wahrnehmungsund Erfahrungsgrundlage und nehmen eine ganz spezifische Wahrnehmungs- und Erfahrungsperspektive auch bezüglich spiritueller Phänomene ein. Bei unseren Überlegungen gehen wir von einem Prozesscharakter, von einem spirituellen Bewusstwerdungsprozess oder »spirituellen Weg« – besser von »spirituellen Wegen« – aus, die vom relativen zum absoluten Bewusstsein führen. Diese Annahme lässt sich metaphorisch am Beispiel einer Berg-
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Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
Besteigung illustrieren (Ergänzung Büssing: »Und die zehn Ochsen-Bilder im Zen«): Zu Beginn werden unsere Weg-Erfahrungen weit auseinanderliegen. Je weiter wir jedoch Richtung Bergspitze vorankommen, desto stärker nähern sich unsere Erfahrungen auf dem Weg und unsere Sicht des Berges und der Bergspitze einander an. Es bleibt jenen Unentwegten, die nicht aufgeben und es bis auf die Spitze schaffen, vorbehalten, nicht nur aufgrund sprachlicher Beschreibungen oder Überlieferungen zu glauben, sondern unzweideutig zu realisieren, zu erfahren, dass sie bis dahin immer nur eine Teilsicht, eine bestimmte Perspektive des Weges, ihres Weges, des Berges und schließlich der Bergspitze wahrgenommen haben. Alle Bergsteigenden werden dann erkennen, dass zwar die Wahrnehmung aller anderen Bergsteigenden ebenso perspektivisch und partiell ist, doch – als Höhepunkt – gleichzeitig die letztgültige, universelle Erfahrung machen, dass auf der Spitze schließlich alle Bergsteigenden denselben, absolut identischen 360°-Rundumblick haben (Kommentar Büssing: »Und wenn sie oben sind, stellen sie fest, dass sie auch wieder runter in den Alltag müssen …«). Die beiden angeführten Beispiele für die Schwierigkeit und Grenzen einer Begriffsbestimmung von Spiritualität erklären, warum Menschen – auch Wissenschaftler –, die sich seit Jahren oder Jahrzehnten auf einem, ihrem spirituellen Weg befinden, nicht oder nicht immer dieselbe Sprache sprechen (Kommentar Büssing: »Das kann aber auch Elfenbeinturm-Gehabe sein: ‚Schaut auf zu mir, versucht mir nahe zu kommen – Gottgleicher Gipfelstürmer‘ …«). Die perspektivische »Bias« kann nicht völlig neutralisiert, doch durch eine geeignete Methodik entschärft werden, die nachfolgend vorgestellt wird.
5.2
Ein methodischer Vorschlag zur Definition des Spiritualitätsbegriffs
Es wird hier ein methodisches Vorgehen vorgeschlagen, welches möglichst unterschiedliche Perspektiven bzw. definitorische Ansätze in einem möglichst offenen, partizipativen, wissenschaftli-
chen Definitionsprozess integriert. Das Ziel kann nicht eine Definition sein, die einen lückenlosen 360°-Rundumblick abbildet, sondern eine Rahmen- oder Basis-Definition, die zwar mit allen oben diskutierten sprachlichen und konzeptionellen Unzulänglichkeiten behaftet ist, doch die wichtigsten unterschiedlichen Perspektiven abbildet. Die Methodik dient dem Richtziel einer wissenschaftlich anschluss- und allgemein kommunikationsfähigen Begriffsbestimmung von Spiritualität. In diesem Sinne definiert sie die methodischen Voraussetzungen, die eine möglichst neutrale, offene und partizipative Begriffsbestimmung erlaubt, die für möglichst viele Wertesysteme, Wissens-, Bildungsund Erfahrungshintergründe und soziokulturellen Kontexte – mit explizitem Transzendenzbezug – zugänglich und damit mit diesen vereinbar ist. Die Methodik besteht in der systematischen Auswahl, Analyse, Gegenüberstellung und schließlich Integration von jeweils zwei Definitionen in einer einzigen Begriffsbestimmung. Das methodische Vorgehen erfolgt in sechs Schritten: 1. Auswahl von zwei Definitionen 2. Sprachliche Struktur-Analyse der ausgewählten Definitionen 3. Identifikation von Übereinstimmungen, Überlappungen und Abweichungen 4. Überprüfung von Integrationsbedarf, Integrationswürdigkeit und Integrierbarkeit 5. Konzeptionelle und sprachliche Integration der Definitionen 6. Qualitätssicherung: Evaluation, Validierung und Weiterentwicklung Das sechsstufige Vorgehen wird im Rahmen des Anwendungsbeispiels im nachfolgenden Kapitel näher beschrieben. Die Schritte drei, vier und fünf bilden den Kern-Prozess. Der Prozess der integrativ-abgleichenden Gegenüberstellung von jeweils zwei Definitionen ist solange fortzuführen bis das Resultat der Zielsetzung entspricht. Aus diesem Grund ist diese gemessen an den vorhandenen Ressourcen so spezifisch und realistisch als möglich zu bestimmen. So empfiehlt sich ein etappenweises Vorgehen mit Zwischenzielen, zum Beispiel mit a) Arbeitsdefinition, b) unter den beteiligten Wissenschaften/Wissenschaftlern konsolidierte Definition
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5.3 • Fallbeispiel
sowie c) publikationsreife Definition zur allgemeinen Verbreitung. Aus Gründen der Qualität sollte der Definitionsprozess bestimmten allgemeinen und persönlichen Anforderungen genügen: z
Allgemeine Anforderungen
5 Bei der Zielsetzung und Prozessplanung ist grob zu unterscheiden zwischen der Erfassung der Entwicklung des Spiritualitätsverständnisses innerhalb einzelner Kulturräume (vertikaler Einzel-Prozess), der vergleichenden Analyse und Integration des Spiritualitätsverständnisses zeitgleicher Kulturepochen (horizontaler Einzel-Prozess) und schließlich einer Integration sämtlicher Spiritualitätsverständnisse über alle Kulturräume und Kulturepochen hinweg (horizontal-vertikaler Gesamt-Prozess). 5 Bei den Einzel-Prozessen ist nicht entscheidend, möglichst viele Definitionen einander gegenüberzustellen und zu integrieren, sondern möglichst unterschiedliche Perspektiven innerhalb eines Kulturraumes bzw. einer Kulturepoche zu berücksichtigen. 5 Die Qualität eines Gesamt-Definitionsprozesses hängt wesentlich davon ab, ob alle relevanten Wissenschaften, größeren und phänomenologisch bedeutenden Kulturräume sowie die spirituelle Erscheinungsvielfalt innerhalb und außerhalb institutionalisierter Religionen angemessen berücksichtigt worden sind. 5 Im Rahmen des Abgleichungsprozesses ist jede Definition, jede Perspektive bzw. Dimension als gleichwertig zu respektieren und zu tolerieren und damit gleichgewichtig zu behandeln. Jeder Inklusivismus ist zu vermeiden. Es gibt keine »falschen« und »richtigen« Perspektiven, sondern nur verschiedenartige Blickwinkel. z
Persönliche Anforderungen
5 Zu den persönlichen Voraussetzungen gehören insbesondere weltanschauliche Offenheit (Präzisierung Meike Huber: »… Perspektiven offen darzulegen, u. U. auch weltanschauliche Perspektivität oder wissenschaftliche Perspektivität«), interdisziplinäre Ausrichtung und Lernbegierde sowie die Bereitschaft, bekann-
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ten, »sicheren« Grund zu verlassen und sich auf neue Perspektiven, ja auf einen Perspektiven-Wechsel einzulassen. 5 Umgekehrt gehört dazu, eine möglichst sinnvolle Partizipation am Definitionsprozess durch andere Wissenschaftler/-innen nicht nur zu ermöglichen, sondern aktiv zu suchen und zu fördern (s. hierzu den Abschnitt »Fremdevaluation« in 7 Abschn. 5.4). 5 Eine ernsthafte spirituelle Praxis ist selbstverständlich von Vorteil, insbesondere wenn sie andere Perspektiven und Erfahrungen anerkennt und wertschätzt. Weitere, schrittspezifische Anforderungen werden im Rahmen des Fallbeispiels aufgeführt.
5.3
Fallbeispiel
Die oben skizzierte Methodik wird nachfolgend an einem Beispiel im Einzelnen beschrieben und angewendet. z
Schritt 1: Auswahl von zwei Definitionen
Um die Komplexität in Grenzen zu halten, ist empfehlenswert, jeweils nur zwei Definitionen gleichzeitig einander gegenüberzustellen. Die Auswahl der Definitionen entscheidet hauptursächlich über das Ergebnis. Aus Gründen der Terminologie und Vergleichbarkeit sollten die beiden Definitionen kulturell und zeitlich nicht zu weit auseinanderliegen. Gleichzeitig ist natürlich wünschenswert, dass sie sich in mindestens einer wichtigen Dimension unterscheiden. Es sollten nicht nur die Theologie, Geistes-, Sozial- und Gesundheitswissenschaften (neben Medizin und Pflegewissenschaften auch Gesundheitsförderung und Prävention) berücksichtigt werden, sondern grundsätzlich alle wissenschaftlichen Disziplinen, auch die Naturwissenschaften wie Physik oder Neurowissenschaften. Mit Vorteil werden Definitionen berücksichtigt, die bereits das Ergebnis eines wissenschaftlichen Integrationsprozesses sind. Für unseren Zweck sind zwei Definitionen ausgewählt worden, die demselben Sprach- und Kulturraum entstammen und einen vergleichbaren Umfang und Detaillierungsgrad aufweisen. Beide
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Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
Definitionen zielen jedoch darauf ab, das Spiritualitätsverständnis möglichst aller wichtigen Kulturräume und Kulturepochen zu integrieren. Sie stellen damit ein Beispiel für einen horizontal-vertikalen Gesamt-Prozess dar. Die beiden Definitionen stammen von Wissenschaftlern mit unterschiedlichem Bildungs- und Erfahrungshintergrund. Die Erstere entstammt der Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen zwischen Spiritualität und Krankheit, die Zweite erfolgt mehr mit Fokus auf die Wechselwirkungen zwischen Spiritualität und Gesundheit. kDefinition A Autor ist Arndt Büssing, Arzt und Forschungsprofessor am Zentrum für Integrative Medizin der Universität Witten/Herdecke, Komponist und Texter Neuer Geistlicher Lieder sowie Zen-Lehrer. Büssing definiert Spiritualität aufgrund seiner jahrelangen Forschungen vor allem bei chronisch kranken Menschen in Deutschland (Büssing 2006; ders. et al. 2005, 2006, 2007) wie folgt:
»
Mit dem Begriff Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende ihres »göttlichen« Ursprungs bewusst ist (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z. B. Gott, Allah, JHW, Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u. a.) und eine Verbundenheit mit anderen, mit der Natur, mit dem Göttlichen usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/sie sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten, was unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Bezüge hat (Büssing 2008, S. 36, bearbeitet nach Büssing/Ostermann 2004).
«
kDefinition B Autor ist der Verfasser des vorliegenden Artikels, Indologe, Religions- und Gesundheitswissenschaftler (spez. Förderung der psychischen und spirituellen Gesundheit), hauptberuflich Senior Manager bei Gesundheitsförderung Schweiz in Bern; Schüler einer mystischen Yoga-Tradition (Kabir, Guru Nanak). Er hat unter Einbezug deutsch- und
englischsprachiger wissenschaftlicher Literatur acht Dimensionen identifiziert und in folgender Definition verdichtet:
»
Spiritualität kann als positiver Grundwert, als eigene, existentielle Dimension des Menschseins definiert werden, die getragen ist von der Sehnsucht nach Lebenserfüllung und Sinnerfahrung jenseits von Leben und Tod. Sie manifestiert sich in einem individuellen dynamischen Entwicklungsund Bewusstseinsprozess in allen Lebensphasen und Lebensbereichen, in verschiedenen Lebensweisen und Lebensorientierungen und verbindet über die innere Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit mit Umfeld und Umwelt (Steinmann 2008, S. 64).
«
z
Schritt 2: Sprachliche Struktur-Analyse der ausgewählten Definitionen
Für die Gegenüberstellung und Integration ist eine getrennte Analyse der jeweiligen sprachlichen Struktur-Elemente grundlegend. Mangels besserer Alternative erfolgt die strukturelle Unterscheidung in Haupt-, Unter- sowie Unter-Unter-Dimensionen in der Regel anhand der jeweiligen syntaktischen Struktur (Ausnahmen s. u.). Eine detailliertere Strukturierung ist möglich, bringt bei den vorliegenden Definitionen jedoch keinen substantiellen Mehrwert. Beim weiteren Abgleichungsprozess ist natürlich zu berücksichtigen, dass eine HauptDimension nie ohne ihre Unter-(Unter-)Dimension(en) interpretiert werden darf und umgekehrt. Zwecks Übersicht und Referenzierung werden die Haupt-Dimensionen einstellig nummeriert, die betreffenden Unter-(Unter-)Dimensionen eingerückt und zwei- bzw. dreistellig beziffert. kDefinition A Mit dem Begriff Spiritualität wird eine suchende Lebenseinstellung bezeichnet (1) 5 nach Sinn (1.1) 5 und Bedeutung (1.2) bei der sich der/die Suchende ihres »göttlichen« Ursprungs bewusst ist (2)
5 (wobei (…) ein (…) göttliches Sein gemeint sein kann) (2.1.) 5 (sowohl ein transzendentes) (2.1.1)
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5.3 • Fallbeispiel
5 (als auch ein immanentes) (2.1.2) 5 z. B. Gott, Allah, JHW (2.1.3) 5 Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u. a.) (2.1.4) und eine Verbundenheit spürt (3) 5 mit anderen (3.1), 5 mit der Natur (3.2), 5 mit dem Göttlichen (3.3) usw. Er/sie bemüht sich (4)
5 aus diesem Bewusstsein heraus (4.1: vgl. 2 und 3) um die konkrete Verwirklichung (5) 5 der Lehren (5.1), 5 Erfahrungen (5.2) 5 oder Einsichten (5.3), was unmittelbare Auswirkungen hat (6) 5 auf die Lebensführung (6.1) 5 und die ethischen Bezüge (6.2).
Büssings Definition enthält insgesamt 22 Dimensionen. Dabei lassen sich formal 6 Haupt-, 12 Untersowie 4 Unter-Unter-Dimensionen unterscheiden. Die Unter-Dimension 4.1 setzt sich aus den zwei vorangehenden Haupt-Dimensionen 2 und 3 zusammen. Die Dimension 5 – aus syntaktischen Gründen als Unter-Dimension einzustufen – wird aus inhaltlichen Gründen als Haupt-Dimension eingestuft (Kommentar Huber: Diese Dimension ist syntaktisch auch als Hauptdimension begründbar, »da es sich um ein Präpositionalobjekt handelt – also Fortführung des Satzes (4) auf gleicher Ebene«). kDefinition B Spiritualität kann als positiver Grundwert (1), als eigene, existentielle Dimension des Menschseins definiert werden (2), 5 die getragen ist von der Sehnsucht nach (2.1) 5 Lebenserfüllung (2.1.1) 5 und Sinnerfahrung jenseits von Leben und Tod (2.1.2).
5
Sie manifestiert sich (3)
in einem individuellen dynamischen Entwicklungsund Bewusstseinsprozess (4)
5 5 5 5
in allen Lebensphasen (4.1) und Lebensbereichen (4.2), in verschiedenen Lebensweisen (4.3) und Lebensorientierungen (4.4)
und verbindet (5) 5 über die innere Erfahrung (5.1) 5 einer transzendenten Wirklichkeit (5.1.1) 5 mit Umfeld (5.2) 5 und Umwelt (5.3). In dieser verdichteten Version enthält die Definition B 16 Dimensionen: 5 Haupt-, 8 Unter- sowie 3 Unter-Unter-Dimensionen. Hier ist es die Dimension 4, welche in Abweichung von der syntaktischen Regel nicht als Unter-Dimension, sondern ebenfalls aus inhaltlichen Gründen als Haupt-Dimension eingestuft wird (siehe vorangehenden Kommentar von Huber). z
Schritt 3: Identifikation von Übereinstimmungen, Überlappungen und Abweichungen
Eine sorgfältige Analyse (Schritt 2) erleichtert die nun folgenden Kern-Schritte 3, 4 und 5, die die methodische Hauptaufgabe darstellen: Die abgleichende Gegenüberstellung und konzeptionellsprachliche Integration der beiden Definitionen. Der dritte Schritt besteht in der Identifikation von a) übereinstimmenden, b) überlappenden, c) divergierenden bzw. sich gegenseitig ausschließenden sowie d) wechselseitig fehlenden Dimensionen und Aspekten. a. Weitgehende Übereinstimmungen in unserem Fallbeispiel bestehen bezüglich: 5 Suchender Lebenseinstellung nach Sinn und Bedeutung (A1.1/1.2 und B2.1/2.2; in der ausführlichen Definition von B wird die existentielle Sinn-Suche bzw. die Suche nach Antworten auf die letzten Fragen als eigene Haupt-Dimension herausgestellt: Steinmann 2008: 60), und
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Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
5 sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann (A2.1.2) 5 Beispiele für persönliche als auch unpersönliche Gottesvorstellungen (A2.2.1/2.2.2) 5 Der/die Suchende spürt eine Verbundenheit mit dem Göttlichen (A3.3) 5 Er/sie bemüht sich (A4) um die konkrete Verwirklichung der Lehren (…) oder Einsichten (A5.1/5.3) 5 Unmittelbare Auswirkungen auf (…) die ethischen Bezüge (A6.2) B-Dimensionen und Aspekte, die bei A fehlen: 5 Spiritualität kann als positiver Grundwert (1), 5 als eigene, existentielle Dimension des Menschseins definiert werden (2). 5 Spiritualität manifestiert sich in einem individuellen dynamischen Entwicklungs- und Bewusstseinsprozess in allen Lebensphasen und Lebensbereichen (…) (B4.1/4.2).
5 der Verbundenheit mit dem sozialen Umfeld und der Natur (A3.1/3.2 und B5.2/5.3).
5
b. Überlappungen bestehen: 5 zwischen der konkreten Verwirklichung der Erfahrungen (A5.2) einerseits und der Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit (B5.1) anderseits, sowie 5 zwischen dem Bemühen des/der Suchenden um die konkrete Verwirklichung (A5), was unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Bezüge hat (A6.1/6.2), einerseits und der Manifestierung der spirituellen Dimension (B3) in verschiedenen Lebensweisen und Lebensorientierungen (B4.3/4.4) anderseits (vgl. bezüglich Agens den 2. Punkt unter c) unten). 5 Diese letzte Überlappung widerspiegelt sich in der prominenten und gehäuften Nennung des Wortes »Leben« als solches und in verschiedenen Wortkombinationen: In der Definition A scheint das Wort »Leben« in Wortkombination am Anfang sowie am Schluss auf (A1 und A6.1), bei B in Unterbzw. Unter-Unter-Dimensionen insgesamt sechs Mal (B2.1 und B4). c. Divergenzen: 5 Die Definition A verwendet die Begriffe »göttlich« (A2 und A2.1), »das Göttliche« (A3.3) und »Gott« (A2.1.3) relativ häufig und in allen drei Dimensionskategorien, während diese in der Definition B überhaupt nicht vorkommen. 5 Die Definition A benennt den Menschen selber als Agens, wobei explizit beide Geschlechter aufgeführt werden: »der/die Suchende ist sich (…) bewusst, (…) spürt Verbundenheit (…), bemüht sich (…)« (A2, A3 und A4). Demgegenüber geht die Definition B von einem unpersönlichen Agens aus: »Spiritualität manifestiert sich (…) und verbindet (…)« (B3 und B5). d. Wechselseitig fehlende Dimensionen: A-Dimensionen und Aspekte, die bei B fehlen: 5 der/die Suchende ist sich ihres »göttlichen« Ursprungs bewusst (A2)
z
Schritt 4: Überprüfung von Integrationsbedarf, Integrationswürdigkeit und Integrierbarkeit
In diesem zweiten Kern-Schritt sind die vorangehend festgestellten Übereinstimmungen, Überlappungen und Abweichungen je bezüglich Integrationsbedarf, Integrationswürdigkeit (Bedeutsamkeit) und inhaltlicher Integrierbarkeit zu überprüfen. Es ist möglichst wertneutral zu klären, ob die festgestellten Abweichungen und Divergenzen bedeutsam genug sind, um integriert zu werden, und ob sie in konzeptioneller Hinsicht überhaupt integrierbar, das heißt kompatibel sind. Besondere Beachtung ist deshalb den divergierenden und wechselseitig fehlenden Dimensionen und Aspekten zu schenken. a) Weitgehende inhaltliche Übereinstimmungen lassen auf einen starken Konsens zwischen den Definitionen schließen. In unserem Beispiel betrifft dies einerseits die Sinn-Suche, anderseits das Gefühl (A) bzw. die Erfahrung (B) der Verbundenheit mit dem sozialen Umfeld und der Natur. Wo solche Übereinstimmungen vorhanden sind, besteht grundsätzlich kein Integrationsbedarf; allenfalls sind sprachliche Präzisierungen oder Differenzierungen angezeigt.
5.3 • Fallbeispiel
b) Auch Überlappungen deuten auf mindestens teilweise übereinstimmende Dimensionen hin und vergrößern bzw. verdeutlichen den Konsens. Sie betreffen in unserem Fall die konkrete, praktische Erfahrung und Verwirklichung von Spiritualität im Lebensvollzug sowie deren Relevanz für eine ethische Lebensführung. Die nicht überlappenden (Teil-)Dimensionen und Aspekte sind ebenso zu identifizieren und unter den wechselseitig fehlenden Dimensionen aufzuführen (d). Dort wird über ihre Integrationswürdigkeit und Integrierbarkeit zu entscheiden sein. c) Divergierende, sich gegenseitig ausschließende Dimensionen und Aspekte sind an dieser Stelle im Bewusstsein der eingangs aufgestellten Anforderungskriterien argumentativ sorgfältig zu klären. Dies kann aufwändig sein. Zunächst ist festzustellen, ob es sich tatsächlich oder nur scheinbar um gegenseitig sich ausschließende Dimensionen handelt. Aufgrund des perspektivischen Charakters spiritueller Erfahrungen und der Wahrnehmung des Spiritualitätsgeschehens überhaupt dürfte es sich öfters um zwar unterschiedliche, auf den ersten Blick sogar widersprüchliche Aussagen handeln, die jedoch bei näherer Betrachtung komplementäre und gleichberechtigte Perspektiven darstellen! Dies scheint auch auf unser Anwendungsbeispiel in Bezug auf die Verwendung des Gottesbegriffes zuzutreffen. Bei der Definition B sind die Begriffe »göttlich«, »das Göttliche« und »Gott« zwar bewusst vermieden worden, um die anscheinend wachsende Anzahl Menschen, die sich zwar als spirituell bezeichnen, doch mit diesen und verwandten Begriffen nichts (mehr) anfangen können, nicht auszuschließen. Umgekehrt schließt jedoch eine Definition, die diese Begriffe vermeidet, all jene Menschen in vorwiegend christlichen Kulturräumen aus, für die sie aufgrund ihrer religiösen Tradition bis heute eine wichtige Brücke zwischen institutionalisierter Konfession und gelebter Religiosität und Spiritualität bilden. Die Lösung besteht deshalb nicht darin, diese konfessionsgeprägten Begriffe und Vorstellungen durch wertneutralere, weniger vorbelastete Begriffe, wie »das Absolute«, »das Universelle«, »das All-Eine«, die »Ur-Wirklichkeit« oder »wirkliche Wirklich-
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5
keit«, »reines« oder »absolutes (Bewusst-)Sein« etc. zu ersetzen, sondern zu ergänzen. Auf diese Weise wird die Definition dem Anspruch möglichst universaler Gültigkeit gerecht(er). Anders stellt sich die Situation bezüglich persönlich-menschlichem Agens einerseits (Definition A) und unpersönlich-spirituellem Agens (Definition B), der ursächlichen Kraft im Spiritualitätsgeschehen, anderseits dar. Die Position der Definition B gründet auf Aussagen zu spirituellen Erfahrungen, dass spirituelle Bezüge nicht willentlich herbeigeführt, sondern bloß empfangen werden bzw. »widerfahren« können (Steinmann 2008, S. 64, in Bezug auf Renz 2003). Es scheint, dass diese unterschiedlichen Perspektiven als einzige, wenn auch wichtige Divergenz als unauflösbar, das heißt als nicht integrierbar, einzuschätzen sind (Für Huber stellt sich zu diesem Absatz und in Unterstreichung ihres Kommentars in Teil 2 (Perspektivität) »die Frage, ob wir nicht zunächst präziser fassen müssten, was gemeint ist: Wenn Herr Büssing von Gott/göttlichem Ursprung spricht, assoziiere ich damit unter anderem die anthropologische Grundkonstante, nämlich die der Widerfahrnis. Bei Ihnen [Autor] ist diese Dimension der Widerfahrnis unter ‚spirituelle Bezüge‘ gefasst. In Bezug auf den letzten Schritt unter c) stellt sich mir ebenso die Frage: Wie verhalten sich die passiven und aktiven Anteile in ihrer beider Definitionen und auf welchen ‚Ebenen‘ sind sie jeweils angesiedelt«). d) Schließlich sind die wechselseitig fehlenden, sich möglicherweise ergänzenden Dimensionen auf den Integrationsbedarf und ihre Integrationswürdigkeit zu überprüfen. Um den Definitionsprozess und vor allem den Umfang der Definition nicht unnötig aufzublähen, legt sich ein restriktiver Umgang nahe. Handelt es sich um eine notwendige, bedeutsame, sinnvolle, verständlichpräzise Ergänzung? Falls ja: Wo und wie kann sie am besten in die auszuwählende Basis-Definition integriert, das heißt möglichst kohärent mit dieser verknüpft werden? Aus praktischen Gründen wird jene Definition als Grundlage für die Integrationsarbeit bestimmt, bei welcher der geringere Integrationsbedarf besteht: in unserem Fallbeispiel bei der Definition A. Denn unsere Gegenüberstellung in Schritt 3 (d) hat ergeben, dass in dieser Definition
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5
Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
nur drei Dimensionen der Definition B fehlen (umgekehrt deren sechs). Dabei können deren zwei als integrationsbedürftig und integrationswürdig bezeichnet werden. Bei näherer Betrachtung kann auf die schwierige Integration der ethisch-philosophischen Dimension Spiritualität als positiver Grundwert verzichtet werden (Schritt 3 d, Punkt 1). Die positiven Auswirkungen eines spirituellen Bewusstseins auf die Verbundenheit mit dem Leben in allen Formen sowie auf die ethischen Bezüge sind in der Definition A implizit und explizit hinlänglich enthalten. Humanistische Werte wie Dankbarkeit und Verzeihung, Demut und Friedfertigkeit, Freiwilligen-Tätigkeit im Dienste von Gesellschaft und Umwelt etc. müssen nicht zwingend im Zusammenhang mit spiritueller Praxis stehen; unzweifelhaft aber gehören sie zu deren ethischen Effekten. Die spirituelle Praxis kann in ethischen Bezügen ihren sozialen Ausdruck finden. z
Schritt 5: Konzeptionelle und sprachliche Integration der Definitionen
Dieser dritte Kern-Schritt besteht nun in der kunstvollen Aufgabe, die integrationswürdigen und integrierbaren Dimensionen und Aspekte sowohl konzeptionell als auch sprachlich möglichst optimal in die Basis-Definition einzupassen. Dies hat unter weitmöglichster Wahrung der Wertneutralität, der inhaltlichen Bedeutung und des Kontextes zu erfolgen. Dabei sind in unserem Fallbeispiel nicht nur die in der Definition A fehlenden B-Dimensionen zu berücksichtigen, sondern ebenso die als divergent, doch inhaltlich komplementären, Perspektiven erweiternden B-Dimensionen zu berücksichtigen. Im nachfolgenden Integrationsversuch sind die neu integrierten und sprachlich angepassten Elemente kursiv gekennzeichnet: Mit dem Begriff Spiritualität wird eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der/die Suchende seines(1)ihres »göttlichen« Ursprungs und Teilhabe (2) bewusst wird (3) (wobei sowohl ein transzendentes als auch ein immanentes göttliches Sein gemeint sein kann, z. B. Gott, Allah, JHWH (4), Tao, Brahman, Prajna, All-Eines u. a.) und eine Verbundenheit mit anderen, mit der belebten und unbelebten (5) Natur,
mit dem Göttlichen, Absoluten, reinen Sein (6) usw. spürt. Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht er/ sie sich um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten, was unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Bezüge in allen Lebensphasen und Lebensbereichen (7) hat. Damit verbunden ist ein individueller Entwicklungs- und Bewusstseinsprozess, in dem der/ die Suchende sich der spirituellen Dimension seines/ ihres Menschseins als universal, existentiell und sinngebend bewusst wird (8).
kErläuterungen zu den Ergänzungen und Modifikationen:
1. Sprachliche Korrektur bzw. Ergänzung 2. Dadurch wird der Beziehungsaspekt zwischen Mensch und Gott bzw. letzter Wirklichkeit integriert. Damit bleibt offen, ob das Wesen des Menschen selber göttlicher Natur ist. 3. Das gesamte Leben ist ein Prozess. Alles ist im Fluss. Auch Lebenseinstellungen verändern sich. 4. Sprachliche Korrektur: JHWH statt JHW (Anmerkung Huber). 5. Damit wird auch die Tierwelt explizit mit eingeschlossen. 6. Ergänzung im Anschluss bzw. in Konsequenz zur Diskussion und Schlussfolgerung im methodischen Schritt 4c). 7. Die Präzisierung begründet sich dadurch, dass eine spirituelle Lebensführung, spirituelle Erfahrungen, Bezüge, Einsichten etc. nicht auf eine bestimmte Lebensphase oder Lebensbereich beschränkt sind. 8. Mit diesem Satz werden der fehlende Prozesscharakter eines »spirituellen Lebens« sowie die grundlegende spirituelle Dimension menschlicher Existenz – neben der physischen, psychischen und sozialen – ergänzt. Der Schlusssatz schließt den Bogen zum Definitions-Beginn: Spiritualität beginnt mit der Sinn-Suche und findet ihre Erfüllung in der Sinn-Findung bzw. Sinn-Gebung. Diese beiden letzten Begriffe widerspiegeln die einzige unaufgelöste (unauflösbare?) Divergenz zwischen den beiden Definitionen, das heißt zwischen persönlich-
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5.4 • Evaluation
menschlichem und unpersönlich-spirituellem Agens (s. Methodenschritt 4c).
z
Schritt 6: Qualitätssicherung: Evaluation, Validierung und Weiterentwicklung
Dieser abschließende Schritt dient der Qualitätssicherung und besteht aus vier Teil-Aufgaben: der Selbst- und Fremd-Evaluation, der Validierung sowie der systematischen Weiterentwicklung. Im Rahmen dieses Beitrags kann nur eine Selbst- und Fremdevaluation geleistet werden (7 Abschn. 5.4). Die Validierung der Resultate sowie die Weiterentwicklung sollten von einer hierfür zuständigen interdisziplinären Arbeitsgruppe im Rahmen eines systematisch zu planenden Gesamt-Definitionsprozesses erfolgen (7 Abschn. 5.5).
5.4
z
Evaluation
die Feststellung von Abweichungen. Als eine besondere Herausforderung erlebte ich die Diskussion von tatsächlich widersprüchlichen, inkompatiblen oder nur scheinbar, durch die unterschiedlichen Perspektiven begründeten Dimensionen. Als eigentlichen Höhepunkt empfand ich die unterschiedlichen Rückmeldungen der sich beteiligenden KollegInnen sowie die Herausforderung, diese möglichst authentisch und ohne Korrektur oder Kommentierung des eigenen Textes zu integrieren. Rückblickend erscheint mir die Methodik möglicherweise als zu analytisch-formal. Die rigorose Systematik mag zugleich ihre Stärke als auch Schwäche sein. Damit erfüllt sie zwar wissenschaftliche Ansprüche, ist aber zu starr, um den Graubereich mit den feinen Zwischentönen zu erfassen. Das Resultat, die erweiterte Definition Büssings, mag inhaltlich als inkonsistent oder inkohärent, als »Patchwork«, kritisiert werden. Büssing selber deutet im Vorspann zu seiner Definition auf die Schwächen, aber auch Stärken eines solchen Vorgehens hin:
Selbst-Evaluation des Autors
Zu Beginn hatte ich bloß vage Ideen. Das konkrete methodische Vorgehen hat sich erst während der Anwendung Schritt für Schritt ergeben – wie von Antonio Machado eingangs beschrieben:
»
5
Wanderer, es gibt keinen Weg; man findet den Weg, indem man ihn geht.
«
Eine ähnliche Methodik, die in diesem oder einem anderen thematischen Zusammenhang bereits angewandt worden wäre, war mir nicht bekannt (Niko Kohls erinnert der vorgestellte Ansatz an die (Sprach-)Logik des Wiener Kreises). Der Weg hat sich beim Gehen viel komplexer und aufwändiger herausgestellt als in meiner ursprünglichen Vorstellung. Eine Zeitlang war ich mir nicht sicher, ob er überhaupt gangbar ist und zu einem Resultat führen würde. Vorteile der Methodik erkenne ich in der offen-kritischen, gegenseitig sich befruchtenden, neue Sichtweisen eröffnenden Gegenüberstellung und Integration von Definitionen und ihren Dimensionen. Besonders herausfordernd waren die Herausarbeitung von Übereinstimmungen und Überlappungen, dem Konsensbereich, ebenso wie
» Es ist selbstverständlich, dass jeder Versuch, eine möglichst offene Begriffsbestimmung vorzunehmen, zu einem ‚synkretistischen Konglomerat‘ führen muss, das spezifische weltanschauliche Besonderheiten nicht adäquat berücksichtigen kann (Büssing 2008, S. 36).
«
Der Frage, warum in der einen oder anderen Definition eine bestimmte Dimension so und nicht anders dargestellt wird oder warum eine bestimmte Dimension fehlt, wurde nicht nachgegangen. Diese und ähnliche Fragen hätten eine aufwändige Aufarbeitung der Entwicklungsgeschichte der jeweiligen Definition und Auseinandersetzung mit dem kulturell-spirituell-beruflichen Bildungs- und Erfahrungshintergrund der Autoren erfordert. Auch die Anforderung eines möglichst partizipativen Definitionsprozesses konnte aus zeitlichen Gründen nur teilweise erfüllt werden (s. u.). Zu beurteilen, ob das Resultat des Fallbeispiels nützlich ist und ob das methodische Experiment zur Nachahmung bzw. Weiterentwicklung taugt, ist Aufgabe der Fremdevaluation. Sicher ist der eingeschlagene Weg nicht der einzig mögliche und sollte mit anderen Ansätzen kombiniert werden (z. B.
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Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
Buddhistische Philosophie
Psychologie
Motive in der Definition
Kognition
Suche
Emotion
Erfahrung/ Bewusstwerdung
Weisheit (panna)
Kognition
Ethik
Sittlichkeit (sila)
Aktion
Umsetzung
Verbundenheit (meta) Vertiefung (samadhi)
5 . Abb. 5.1 Entwicklungs- und Bewusstseinsprozesse
Bucher 2007; Kohls u. Walach 2006; Ruschmann u. Ruschmann im vorliegenden Band). Meine SelbstEvaluation abschließend, kann nicht genug betont werden, dass jede empirische Definition des Spiritualitätsbegriffs ein approximatives, theoretisches Konstrukt bleibt, das anhand von Begriffen aus dem rationalen Raum transrationale Erfahrungen zu erfassen versucht. Im besten Fall wird dadurch der Schatten, welchen das Licht wirft, aber nicht dieses selber erfasst. Damit verbleiben wir im (realistischen) Rahmen des ersten der drei definierten Bereiche der TASK-»Mission«: der theoretischen Auseinandersetzung (www.grp.hwz.uni-muenchen.de/task/). z
Fremdevaluation
Der Verfasser der Definition A, die sechs Mitglieder der Arbeitsgruppe Begriffe/Definitionen sowie zwei weitere Mitglieder der TASK wurden per EMail eingeladen, den in fortgeschrittener Entwurfsform befindlichen Beitrag generell und bezüglich konkreter Fragestellungen zu evaluieren. Die knapp bemessene, zweieinhalb Wochen umfassende Rückmeldezeit wurde von zwei Kolleginnen und drei Kollegen genutzt. Die Rückmeldungen waren von sehr unterschiedlicher Länge und Detaillierungsgrad. Nur Büssing war eine detaillierte Stellungnahme möglich. Alle Rückmeldungen wurden im Rahmen der Schlussredaktion berücksichtigt. Kommentare, die sich auf spezifische Textstellen beziehen, wurden in Klammern in Kursivschrift aufgenommen. Allgemeine Kommentare werden nachfolgend wiedergegeben. Um den Bezug der Rückmeldungen zur kommentierten Entwurfs-
form zu erhalten, wurde mit wenigen Ausnahmen auf eine Überarbeitung der betroffenen Textstellen verzichtet. Idealerweise sollten die Ergebnisse der Selbst- und Fremdevaluation in persönlicher Begegnung ausgetauscht werden können und in eine allfällige Überarbeitung des Resultates vor dessen Drucklegung einfließen. Im vorliegenden Fall mussten wir uns auf einen elektronischen Austausch beschränken. kFremdevaluation durch Arndt Büssing, Verfasser der Definition A:
»Für die von mir gewählte primäre Definition lassen sich 4 Haupt-Motive herausarbeiten, die nicht unidirektional zu verstehen sind, da Bewusstwerdungsoder Erkenntnisprozesse immer Auswirkungen auf das Verhalten haben und die ‚Weisheitsentwicklung‘ verstärken (‚Weisheit, Einsicht und Praxis gehen Hand in Hand‘). Dies wird durch die Integration des Motivs eines ‚individuellen Entwicklungs- und Bewusstseinsprozesses‘ . Abb. 5.1 deutlicher betont. Es ist meines Erachtens jedoch kein Widerspruch, dass auf der einen Seite spirituelle Erfahrungen gesucht (und evtl. auch gemacht) werden können, dass auf der anderen Seite aber auch spirituelle ‚Einbrüche‘ beschrieben werden, die nicht willentlich herbeigeführt, sondern ‚widerfahren‘ sind, wie es Steinmann (2008, S. 64, in Bezug auf Renz 2003) beschreibt. Beide Perspektiven sind somit zwar konträr, weisen aber darauf hin, dass ein ‚äußeres Wirken‘ das ‚Innere‘ des Suchenden berühren kann, ohne dass es aber einforderbar wäre. Ob dies ein ‚reales Eingreifen‘ im Sinne einer Intervention ist und/oder ein psychologisches ‚Resonanzphänomen‘, muss nicht
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5.5 • Zusammenfassung und Ausblick
geklärt werden. Betont wird dies ebenfalls durch die Einführung des spezifizierenden Begriffes der ‚Teilhabe‘, die gemäß den Erläuterungen Steinmanns offen lässt, ‚ob das Wesen des Menschen selber göttlicher Natur ist‘. Die angesprochene Divergenz zwischen persönlichem, menschlichem und unpersönlichem, spirituellem Agens kann nicht per Definition aufgelöst werden, da sie sich aus guten Gründen einer Verifizierung oder Falsifizierung entzieht. Das Resultat insgesamt ist für mich nachvollziehbar und nützlich. Gerade aufgrund der Unterschiedlichkeit der Blickwinkel erscheint mir der gelungene Kondensierungsprozess um so wertvoller zu sein und ermutigt zur Nachahmung und Weiterentwicklung.« kFremdevaluation durch die Arbeitsgruppe Begriffe/Definitionen und weitere Mitglieder der TASK – Zusammenfassung der eingegangenen Rückmeldungen:
Generell wird der Beitrag und der darin vorgestellte Ansatz als interessant und lohnenswert bewertet, indem er zu einer besseren definitorischen Klarheit führen könne. Renate Ruhland hinterfragt jedoch das Verhältnis zwischen Zeitaufwand der gewählten Methodik und dem erzielten Erkenntnisgewinn. Außerdem stellt sich Ruhland die Frage, ob diese semantische Vorgehensweise, die einen nicht unerheblichen subjektiven Interpretationsspielraum zulasse, nicht ergänzt werden müsste um faktorenanalytische Methoden. Unter Verweis auf Bucher (2007) ermögliche dieses Vorgehen, eine Vielzahl von relevanten Spiritualitätsdefinitionen im Hinblick auf ihre Grunddimensionen eingehend zu untersuchen und auf objektiver Basis eine umfassende integrative Definition von Spiritualität zu entwickeln. Auch meta-analytische Studien zu den Effekten spiritueller Praktiken böten die Möglichkeit, relevante Spiritualitätsdimensionen zu identifizieren. Für Niko Kohls ist die explizite Aufführung von üblicherweise nur implizit vorhandenen Kriterien fruchtbar. Meike Huber findet es wichtig, einerseits noch einmal differenziert zu schauen, wo die Konvergenzen und Divergenzen zwischen den beiden Definitionen liegen, und anderseits die Frage nach dem zugrunde liegenden Menschen- und Transzendenzverständnis zu stellen.
5
Dieser letzte Aspekt wird auch von Florian Jeserich unter Verweis auf einen im Entstehen begriffenen Artikel betont, in dem die Definition B kritisch hinterfragt wird. In Bezug auf die vom Autor postulierte spirituelle Dimension des Menschseins (unabhängig der körperlichen, sozialen und psychischen Dimension) und den spirituellen Wesenskern des Menschen stellt Jeserich die zentrale Frage nach der anthropologischen Verortung und dem zugrunde liegenden Menschen- und Weltbild. Als möglichen Weg für die Arbeitsgruppe sieht Huber die Erhebung und Diskussion unterschiedlicher Konzepte bzw. Definitionen verschiedener Wissenschaftsdisziplinen mit dem Ziel, eine »Synopse« zu erstellen, die die Konvergenzen wie auch Divergenzen sichtbar macht. Offen bleibe dabei die Frage, ob sich für den deutschsprachigen Kontext eine begrenzte Anzahl von Konzepten ausmachen lasse, oder ob diese unüberschaubar ist. Zu diesem Zweck wäre für Ruhland wichtig, einen detaillierten Kriterienkatalog für die Auswahl wesentlicher – auch divergierender – Spiritualitätsdefinitionen in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen zu erstellen und diese in eine vergleichende Untersuchung einzubeziehen.
5.5
z
Zusammenfassung und Ausblick Zusammenfassung
Wie eingangs festgehalten, ist eine Begriffsbestimmung von Spiritualität gleichzeitig notwendig und schwierig. Eine wissenschaftlich anschluss- und kommunikationsfähige Definition ist nicht nur für die Spiritualitätsforschung und die TASK als Legitimation und Grundlage unerlässlich, sondern auch für die Orientierung und Spiritualitätsbildung der breiten Öffentlichkeit dringend nötig. Umgekehrt wird eine Definition durch die unerschöpfliche Erscheinungsvielfalt von Spiritualität und des Spiritualitätsgeschehens, das heißt von spiritueller Praxis gesunder Menschen und von spirituellen Interventionen bei Kranken sowie in unterschiedlichen Kultur- und Zeiträumen, erschwert. Selbst innerhalb ein- und derselben Kultur- und Zeitepoche zeigt sich eine nicht überschaubare Vielfalt von spirituellen Erscheinungsformen. Und in letzter
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5
Kapitel 5 • Zur Begriffsbestimmung von Spiritualität
Konsequenz entzieht sich Spiritualität als Erfahrung sprachlicher Erfassung und Vermittlung und ist nicht – oder wenn überhaupt, nur negativ – definierbar. Zwecks Berücksichtigung und Integration der wichtigsten unterschiedlichen Perspektiven, Wertesysteme, Bildungs- und Erfahrungshintergründe wird eine neue, semantische Methodik eingeführt. Sie besteht in der aufeinanderfolgenden systematischen Auswahl, Analyse, Gegenüberstellung und schließlich Integration von mehreren zentralen Definitionen in einer einzigen Begriffsbestimmung. Der sechsstufige Prozess der integrativ-abgleichenden Gegenüberstellung von jeweils zwei Definitionen wird solange wiederholt, bis das Ergebnis der Zielsetzung entspricht. Entscheidend für die Qualität von Einzel- und Gesamt-Definitionsprozessen sind bestimmte allgemeine, persönliche und prozessspezifische Anforderungen. Dazu gehören der gleichwertige und gleichgewichtige Umgang mit und die angemessene Berücksichtigung aller relevanten Wissenschaften, bedeutenden Kulturräume und institutionalisierten und nicht institutionalisierten Religionen. Zu den persönlichen Voraussetzungen gehören eine interdisziplinäre, weltoffene Ausrichtung, die Förderung von Partizipation durch andere Wissenschaftler/-innen sowie die Bereitschaft, sich mit anderen, neuen Perspektiven auseinanderzusetzen. Die Methodik wird am Beispiel eines horizontal-vertikalen Gesamt-Prozesses illustriert. Dafür sind zwei Definitionen von Spiritualität ausgewählt worden, die zwar demselben Sprach- und Kulturraum entstammen, doch darauf abzielen, das Spiritualitätsverständnis möglichst aller wichtigen Kulturräume und Kulturepochen zu integrieren. Die beiden Begriffsbestimmungen entstammen der Auseinandersetzung mit den Wechselwirkungen zwischen Spiritualität und Krankheit einerseits (Definition A: Arndt Büssing, Mediziner) und Gesundheit anderseits (Definition B: Autor, Gesundheitswissenschaftler). Anhand einer sprachlichen Struktur-Analyse werden zunächst die Haupt- sowie (Unter-)Unter-Dimensionen der beiden Definitionen erfasst. Darauf aufbauend werden in der methodischen Hauptaufgabe inhaltliche Übereinstimmungen und Überlappungen sowie Divergenzen und wechselseitig fehlende Dimensionen iden-
tifiziert. Erstere lassen auf einen mehr oder weniger starken Konsens schließen und betreffen die SinnSuche und das Gefühl bzw. die Erfahrung der Verbundenheit mit sozialem Umfeld und Natur sowie die spirituelle Erfahrung und Verwirklichung im praktischen Lebensvollzug. Demgegenüber sind divergierende Aspekte zunächst dahingehend zu überprüfen, ob es sich aufgrund des perspektivischen Charakters des Spiritualitätsgeschehens tatsächlich oder – wie im Fallbeispiel anhand des Gottesbegriffes gezeigt werden kann – nur scheinbar um gegenseitig sich ausschließende, tatsächlich ergänzende Dimensionen handelt. Als einzige, nicht auflösbare Divergenz stellte sich im Fallbeispiel die Auffassung eines persönlich-menschlichen versus eines unpersönlich-spirituellen Agens heraus. Von den wechselseitig fehlenden Dimensionen werden jene identifiziert, die eine notwendige, bedeutsame, sinnvolle Ergänzung sind, um Definitionsprozess und Definition nicht unnötig aufzublähen. Für die abschließende konzeptionelle und sprachliche Integrationsarbeit wird auf jener Definition aufgebaut, bei welcher der geringere Integrationsbedarf besteht. Im Fallbeispiel werden in der Definition A acht Ergänzungen mehrheitlich inhaltlicher Art vorgenommen und erläutert. Zwecks Qualitätssicherung empfiehlt sich neben der noch ausstehenden Validierung und Weiterentwicklung eine Selbst- und Fremdevaluation. Letztere bestand im Fallbeispiel einerseits in kritischen Rückmeldungen des Verfassers der Definition A, anderseits in solchen der Arbeitsgruppe Begriffe/Definitionen und weiterer Mitglieder der TASK. In der Fremdevaluation wurde der vorgestellte Ansatz insgesamt als interessant, fruchtbar und zum Teil als nachahmenswert und weiterentwicklungswürdig bewertet. Kritisch hinterfragt wurden u. a. das Verhältnis von Aufwand und Ertrag, der Ergänzungsbedarf durch faktoranalytische Methoden sowie das zugrunde liegende Menschen- und Weltbild. Zum weiteren Vorgehen besteht der Konsens, dass aufgrund festzulegender Kriterien wesentliche, auch entgegengesetzte Spiritualitätsdefinitionen unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu identifizieren und einander gegenüberzustellen sind.
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Literatur
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Ausblick
Vorausgesetzt, dass auf der eingeführten Methodik und dem Fallbeispiel aufgebaut werden kann, eröffnen sich für das weitere Vorgehen verschiedene Optionen: 5 In einem weiteren Schritt könnten je möglichst repräsentative, »ausgereifte« Definitionen aus der Perspektive anderer wissenschaftlicher Disziplinen wie Psychologie, Theologie und Philosophie, aber auch Naturwissenschaften (z. B. Physik und Neurowissenschaften) ausgewählt und nach derselben Methodik aufeinander folgend gegeneinander abgeglichen und integriert werden. Angesichts der Anzahl relevanter Disziplinen bzw. Definitionen sowie zwecks zeitlicher Straffung des Definitionsprozesses wären auch mehrere parallel laufende »thematische« Einzel-Definitionsprozesse mit eigener Prozessorganisation denkbar, die sich periodisch austauschen. 5 Zu diesem Zweck wäre die hier experimentell eingeführte Methodik einschließlich Anforderungskatalog (7 Abschn. 5.2) anhand weiterer Fallbeispiele zu validieren, zu präzisieren und weiterzuentwickeln. 5 Zwecks arbeitsteiliger Effizienz und optimaler Zielorientierung wäre ein koordinierter, systematischer, partizipativer Definitionsprozess mit schlanker Prozessorganisation und -Führerschaft erstrebenswert. Die Führung und Koordination des Gesamt- und/oder eines Einzel-Definitionsprozesses könnte eine Aufgabe der Arbeitsgruppe Begriffe/Definitionen der TASK sein. 5 Weitere Aufgaben sind die Erstellung einer Liste von Begriffen, die für die Zwecke der TASK den größten Definitionsbedarf aufweisen, sowie deren Definition in Abstimmung auf die Definition des Grundbegriffs Spiritualität. Fernziel könnte ein publikationsfähiges TASKFactsheet »Begriffe/Definitionen« sein, das die Definitionen der wichtigsten Arbeitsbegriffe der TASK enthält. Da am Begriff Spiritualität kein Weg vorbeiführt, wurde hier mit diesem lediglich ein Anfang gemacht …
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Literatur Bucher A (2007) Psychologie der Spiritualität: Handbuch. Weinheim Büssing A (2006) »Spiritualität« – Worüber reden wir? In: Büssing A, Ostermann T, Glöckler M, Matthiessen PF (Hrsg) Spiritualität, Krankheit und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin. VAS Verlaf füt Akademische Schriften, Frankfurt, S 11–24 Büssing A (2006) Befragungsergebnisse zu spirituellen/ religiösen Einstellungen, Bedürfnissen und Ausübungsformen von Patienten In: Büssing A, Ostermann T, Glöckler M, Matthiessen PF (Hrsg) Spiritualität, Krankheit und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin. VAS Verlaf füt Akademische Schriften, Frankfurt, S 69–84 Büssing A (2008) Spiritualität – inhaltliche Bestimmung und Messbarkeit. Prävention, 31 (2) : 35–37 Büssing A, Ostermann T (2004) Caritas und ihre neuen Dimensionen: Spiritualität und Krankheit. In: Caritas plus. Qualität hat einen Namen. Hrsg. von Patzek M. Kevelaer: Butzon & Bercker Kevelaer, S 110–133 Büssing A, Ostermann T, Matthiessen PF (2005) The Role of Religion and Spirituality in Medical Patients in Germany. Journal of Religion and Health 44 : 321–340 Büssing A, Ostermann T, Matthiessen PF (2007) Distinct expressions of vital spirituality. The ASP questionnaire as an explorative research tool. Journal of Religion and Health 46 : 267–286 Jeserich F (in Bearbeitung) Antonovskys Salutogenesemodell im Kontext der religion-health-conncection-Forschung Kohls N, Walach H (2006) Exceptional experiences and spiritual practice: a new measurement approach. Spirituality and Health International 7 : 125–150 Prothero SR (2007) Religious Literacy: What Every American Needs to Know – and Doesn’t. San Francisco Reiter A, Bucher A (Hg.) (2008) Psychologie – Spiritualität – interdisziplilnär. Dietmar Klotz Verlag, Eschborn Renz M (2003) Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Kreuz Verlag, Freiburg Ruhland R (2011 bzw. im vorliegenden Band) Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität Ruschmann E, Ruschmann E (2011 bzw. im vorliegenden Band) Spirituelle Erfahrungen und Konzepte Steinmann RM (1981) The Nature of mauna and Language in Ramana Mahrshi. The Mountain Path 18 (4) : 199–206 Steinmann RM (2008) Spriritualität – die vierte Dimension der Gesundheit. Eine Einführung aus der Sicht von Gesundheitsförderung und Prävention. Lit Verlag, Wien und Berlin www.grp.hwz.uni-muenchen.de/task/ (Zugriff 26.9.2010)
53
Spirituelle und religiöse Konstrukträume Plurale Konstruktionsweisen religiöser und spiritueller Identitäten im Spiegel der deutschen Daten des Religionsmonitors 2008 Stefan Huber und Constantin Klein
6
6
54
Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
6.1
Einleitung
Spiritualität ist gegenwärtig in aller Munde. Man spricht von spirituellem Bewusstsein, von spirituellem Heilen, von spirituellen Bergtreffen, von spiritueller Partnersuche und von vielem mehr. Vergleiche dazu die Zusammenstellung vielfältigster »Spiritualitaten« bei Bucher 2007 und Grom 2009. Entsprechend zahlreich und bunt sind die impliziten und expliziten Definitionen, die zum Begriff der Spiritualität kursieren (Wiggermann 2000; Köpf 2004; Zinnbauer u. Pargament 2002; 2005). Dabei ist die Rede von Religiosität, die – insbesondere bei bewusster Abgrenzung von Spiritualität – oft als starr, dogmatisch und institutionell gebunden empfunden wird (Zinnbauer, Pargament, Cole, Rye, Butter, Belavich, Hipp, Scott u. Kadar 1997), fast aus der Mode gekommen. In den letzten Jahren ist es aufgrund der Ausbreitung der Rede von Spiritualität als Alternative zum Gebrauch des Religiositätsbegriffs in sozialwissenschaftlichen Erhebungen zunehmend Usus geworden, die untersuchten Personen nicht nur danach zu fragen, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören und als wie religiös sie sich selbst sehen, sondern auch, als wie spirituell sie sich sehen oder ob sie sich eher als religiös, spirituell, beides oder keines von beidem verstehen (Streib 2008; im Druck). In Deutschland ist dies bisher im Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung (2007; 2009) und in der jüngsten Allgemeinen Bundesumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS; GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften 2008) geschehen. Dadurch ist es möglich geworden, die gegenwärtige Verbreitung beider Begriffe abzuschätzen. Dies tun wir in unserem Beitrag auf Basis der Daten des Religionsmonitors. In unserem Beitrag wollen wir uns aber nicht allein mit der Frage beschäftigen, wie verbreitet religiöse und/oder spirituelle Identitäten innerhalb Deutschlands sind, sondern über eine weiterführende typologische Analyse auch untersuchen, wie solche religiösen und spirituellen Identitäten konstruiert werden. Da wir im Rahmen unserer Studie also nicht nach der sozialen Repräsentation bestimmter bestehender Begriffe von Spiritualität oder Religiosität fragen, sondern über die typologische Analyse vielmehr eingehender betrachten
wollen, welche Einstellungen, Erfahrungen und Praktiken mit dem subjektiven Gebrauch der Semantiken von Spiritualität und Religiosität korrespondieren, legen wir unserer Studie kein vorab definiertes Konzept von Spiritualität und von Religiosität zugrunde. Interessierte Leser seien stattdessen auf einschlägige terminologische Übersichten verwiesen: Emblen (1992), Zinnbauer et al. (1997), Pargament (1999), Zinnbauer, Pargament und Scott (1999), Hill, Pargament, Hood, McCullough, Swyers, Larson und Zinnbauer (2000), Fuller (2001), Zinnbauer und Pargament (2002; 2005), Hood (2003), Zulehner (2004), Grom (2009), Utsch und Klein (2011). Der Ausgangspunkt ist stattdessen schlicht, dass es in Deutschland zahlreiche Menschen gibt, die sich als spirituell und/oder religiös bezeichnen – auch wenn sie darunter häufig ganz Unterschiedliches verstehen. Und unsere Studie versucht nun, diese diversen individuellen spirituellen und religiösen Konstrukträume anhand ihrer Ausdrucksformen näher zu erschließen. Für das Erkenntnisinteresse, die individuelle Ausbildung von Religiosität/Spiritualität über persönliche Überzeugungen, Erfahrungen und Praktiken zu erschließen, stehen die Begriffe Konstruktionsweise und Konstruktraum (Huber 2007b; 2008a). Wenn wir von spirituellen und religiösen Konstrukträumen sprechen, dann beziehen wir uns also nicht auf einen theoretischen Begriff der Religiosität/Spiritualität, sondern auf den common sense und fragen nach subjektiven Konzepten. D.h., wenn sich jemand als spirituell bezeichnet, dann fragen wir nicht aus der Perspektive eines normativen Begriffs, ob er »wirklich« spirituell ist, sondern was Spiritualität für ihn oder sie bedeutet bzw. wie sein/ihr spiritueller Konstruktraum aussieht und sich im Erleben und Verhalten niederschlägt. Somit soll in unserem Beitrag also den beiden folgenden Leitfragen nachgegangen werden: 1. Wie ist das wechselseitige Verhältnis der spirituellen und religiösen Identitäten? 2. Welche Konstrukträume korrespondieren mit diesen Identitäten? Unser Aufsatz hat den folgenden Aufbau: Wir gehen zunächst auf das Modell der Religiosität ein, das dem Religionsmonitor zugrunde liegt und das
55
6.2 • Modell der Religiosität
Kerndimensionen
Inhalte Allgemeine Inhalte Basissemantiken theistisch pantheistisch
Spezifische Inhalte (Themen, Einstellungen, Haltungen, Stile)
Intellekt
Interesse an religiösen Fragen* Religiöse Sozialisation*
Religiöse Reflexivität*; Religiöse Suche*; Theodizee*; Sinnsuche
Ideologie (Glaube)
Plausibilität der Transzendenz*
Gottesbilder*; Religiöser Pluralismus*; Religiöser Fundamentalismus*; Theodizeekonzepte; Glaube u Werke; PSI-Glaube
Öffentliche Praxis
Gottesdienst, Gemeinschaftsgebet, Spirituelle Rituale* Religiöse Sozialisation*
Religiöse Zugehörigkeit*; Interreligiöse Praxis; Religiöses Netzwerk
Private Praxis
Gebet*
Meditation*
Religiöse Sozialisation* Erfahrung
Konsequenzen
Zentralität
Du-Erfahrung*
All-Erfahrung*
Religion im Alltag* (Relevanz, Ressourcen- u. Belastungsaspekte) Zentralitätsskala* Religiöse Sozialisation*
6
Gebetsinhalte (z.B. Bitte, Dank, Führung, Vergebung, Angst, Hader), Religiöse Copingstile Religiöse Gefühle*; Themen religiöser Erfahrung (z.B. Ehrfurcht, Hilfe, Geborgenheit, Hader, Schuld, Vergebung, Angst); PSI-Erfahrungen Religion in verschiedenen Lebensbereichen* (Relevanz, Ressourcen- u. Belastungsaspekte) Religiöses und spirituelles Selbstkonzept*
Hinweise: Konstrukte und Indikatoren, die mit einem * markiert sind, sind Bestandteil des Religionsmonitors 2008. Davon werden Befunde zu den grau unterlegten Konstrukten in den folgenden Analysen diskutiert. Indikatoren der kursiv gedruckten Konstrukte konstituieren die Zentralitätsskala. . Abb. 6.1 Modell der Religiosität (Huber 2003, 2008a)
den theoretischen und methodischen Rahmen unserer Überlegungen bildet. In zwei weiteren Abschnitten steht dann die Diskussion empirischer Befunde zu den beiden Leitfragen im Vordergrund.
6.2
Modell der Religiosität
Der Religionsmonitor (Bertelsmann-Stiftung 2007; 2009) ist ein globaler Survey, der 2007 auf allen Kontinenten durchgeführt wurde und fünf religionsgeschichtlich bedeutsame, religiöse Traditionsgeflechte berücksichtigt (Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus). Insgesamt wurden in 21 Ländern, darunter auch Deutschland, über 21.000 Menschen im Rahmen bevölkerungsrepräsentativer Umfragen untersucht. Allein schon aufgrund der Breite seiner Datenbasis ist der Reli-
gionsmonitor (www.religionsmonitor.com) neben dem World Values Survey (www.worldvaluessurvey.org) und den Religionsmodulen des ISSP (www. issp.org) eine erstrangige Ressource für eine global operierende sozialwissenschaftliche Religionsforschung. Die wichtigste theoretische Innovation des Religionsmonitors besteht in der Anwendung eines neuen, stark ausdifferenzierten Modells der Religiosität (vgl. . Abb. 6.1). Dadurch kann erstmals auch im globalen Maßstab differenziert nach inneren bzw. endogenen Strukturen und Dynamiken individueller Religiositäten und sozialer religiöser Felder gefragt werden. Die Systematik des Modells ist interdisziplinär und basiert auf drei Konstruktionsprinzipien: 1. Aus der Religionssoziologie stammt die Frage nach allgemeinen Sozialformen des Religiösen. Darauf bezieht sich als erstes Konstruktions-
56
6
Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
prinzip die Differenzierung zwischen religiösen Kerndimensionen. 2. Aus der Religionspsychologie stammt die Frage nach der Relevanz des Religiösen im kognitiv-emotionalen System der menschlichen Persönlichkeit. Darauf bezieht sich als zweites Konstruktionsprinzip die Differenzierung zwischen qualitativ unterscheidbaren Zentralitätsstufen. 3. Aus Theologie und Religionswissenschaft stammt die Frage nach der Materialität und den darauf aufbauenden Eigenlogiken des Religiösen. Darauf bezieht sich als drittes Konstruktionsprinzip die Differenzierung zwischen allgemeinen und spezifischen inhaltlichen Gestalten. In Bezug auf die allgemeine Gestalt des Religiösen wird im Modell sowohl eine theistische als auch eine pantheistische Basissemantik berücksichtigt. Die wechselseitige Verschränkung dieser Konstruktionsprinzipien und der daraus bestimmbare »Ort« der operationalen Konstrukte ist in der schematischen Darstellung in Abbildung 6.1. veranschaulicht. Das Rückgrat des Modells bilden sechs religionssoziologisch definierte Kerndimensionen der Religiosität: Intellekt, Ideologie (Glaube), öffentliche Praxis, private Praxis, Erfahrung, Konsequenzen im Alltag. Sie bezeichnen allgemeine Sozialformen, in denen religiöses Erleben und Verhalten zum Ausdruck kommen kann. Repräsentative religionssoziologische Studien belegen ihre relative Autonomie (ein Überblick findet sich in Huber 2003). Allein aus diesem Grund ist es unbedingt notwendig, alle sechs Ausdrucksformen zu berücksichtigen, wenn ein gültiges und differenziertes Bild der individuellen und gesellschaftlichen Relevanz des Religiösen gewonnen werden soll. Die sechs Kerndimensionen kommen – wenn auch mit unterschiedlichem Gewicht – in allen religiösen Kulturen vor. Daher bieten sie sich nicht zuletzt auch als allgemeiner Bezugsrahmen und tertium comparationis für interreligiöse Vergleiche an. Die religionssoziologischen Kerndimensionen definieren die ersten sechs Zeilen des Modellschemas in . Abb. 6.1. Ihre Operationalisierung kann nur über bestimmte Inhalte erfolgen, in denen das
Religiöse eine konkrete Gestalt gewinnt. Damit kommt die Expertise von Disziplinen ins Spiel, die sich mit der Materialität des Religiösen beschäftigen, nämlich Religionswissenschaft und Theologie. Bei der inhaltlichen Operationalisierung der Kerndimensionen wird im Modell durchgängig zwischen ihrer allgemeinen Intensität und spezifischen Themen unterschieden. Beispielsweise wird in Bezug auf die religiöse Erfahrung zuerst nach ihrer allgemeinen Intensität in den beiden Grundformen von Du- und All-Erfahrungen gefragt. Erst in einem zweiten Schritt wird das Universum spezifischer Inhalte der religiösen Erfahrung (z.B. Geborgenheit oder Angst) ausdifferenziert. Spezifische Inhalte des Religiösen können in Form von Themen, Einstellungen, Haltungen oder Stilen operationalisiert werden. Voraussetzung der Grundunterscheidung zwischen allgemeiner Intensität und spezifischer inhaltlicher Füllung der Kerndimensionen ist die Definierbarkeit von religiösen Basissemantiken, die in verschiedenen religiösen Kulturen über einen hohen Generalisierungsgrad verfügen. Das Konzept der religiösen Basissemantik bezieht sich auf fundamentale inhaltliche Bestimmungen der Transzendenz, die einen strukturierenden Einfluss auf weitere religiöse Inhalte ausüben und dadurch in der Lage sind, das religiöse Erleben und Verhalten zu organisieren. Im Modell wird diesbezüglich zwischen einer theistischen und pantheistischen Basissemantik unterschieden. Bei einer theistischen Basissemantik wird die Transzendenz in der Gestalt eines »Gegenüber« konstruiert, das im Gebet ansprechbar und in der Lebenspraxis als interaktive Instanz erfahrbar ist. Dadurch erhält die Beziehung zur Transzendenz eine dialogische Struktur. Demgegenüber wird Transzendenz im Rahmen einer pantheistischen Basissemantik in der Gestalt eines alles durchdringenden Prinzips konstruiert, das in kontemplativen Praktiken vergegenwärtigt werden kann und das in der Lebenspraxis als innere Kraft erfahrbar ist. Entsprechend erhält die Beziehung zur Transzendenz eine partizipative Struktur. Aus den gleich gewichteten Messungen der allgemeinen Intensitäten der ersten fünf Kerndimensionen (vgl. die kursiv gesetzten Konstrukte in der linken Spalte in . Abb. 6.1) können schließlich Skalen zur Abbildung der Zentralität der Religiosi-
57
6.3 • Methode: Abbildung der Dialektik von Sein und Bewusstsein
6
. Tab. 6.1 Indikatoren zur Messung der spirituellen und religiösen Identität
. Tab. 6.2 Indikator zur Messung der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft
1
Alles in Allem: Als wie religiös würden Sie sich selbst bezeichnen?*
Darf ich fragen, welcher der folgenden Religionsgemeinschaften Sie angehören?*
2
Einmal abgesehen davon, ob Sie sich selbst als religiöse Person bezeichnen oder nicht, als wie spirituell würden Sie sich selbst bezeichnen?*
1
Christentum
2
Judentum
3
Islam
4
Hinduismus
5
Buddhismus
6
einer anderen Religionsgemeinschaft
7
keiner Religionsgemeinschaft
* Antwortkategorien: gar nicht – wenig – mittel – ziemlich – sehr
tät in der Persönlichkeit abgeleitet werden. Inzwischen liegen drei Versionen der Z-Skala mit 10, 15 und 7 Indikatoren vor (Huber 2003, 2008a). Mit dem Zentralitätskonzept kommt die Disziplin der Religionspsychologie ins Spiel. Eine religionspsychologische Grundfrage zielt auf die Verankerung des Religiösen in der psychischen Organisation einer Persönlichkeit. Idealtypisch können dabei drei Gruppen unterschieden werden. Bei der ersten Gruppe befindet sich das persönliche religiöse System in einer zentralen Position. Aus dieser Position vermögen religiöse Inhalte in die Tiefe der Persönlichkeit zu wirken, zahlreiche Lebensbereiche zu durchdringen und einen autonomen, konsistenten und kontinuierlichen Einfluss auf das allgemeine Erleben und Verhalten auszuüben. Die erste Gruppe kann daher als hochreligiös klassifiziert werden. Demgegenüber befindet sich das persönliche religiöse System bei der zweiten Gruppe nur in einer untergeordneten Position innerhalb der kognitiv-emotionalen Architektur der Persönlichkeit. Religiöse Inhalte kommen im Lebenshorizont zwar vor, aufgrund der untergeordneten Position des religiösen Systems sind von ihnen jedoch keine deutlichen erlebens- und verhaltensbestimmenden Effekte zu erwarten. Religion hat eher den Charakter einer Hintergrundmusik. Diese Gruppe kann als religiös klassifiziert werden. Es bleibt schließlich eine dritte Gruppe, bei der religiöse Inhalte nicht oder nur sporadisch im individuellen Lebenshorizont erscheinen. Die Präsenz des Religiösen bleibt so schwach, dass nicht oder nur in analoger Weise von einem eigenständigen religiösen System in der Persönlichkeit gesprochen werden kann. Diese dritte Gruppe kann als nichtreligiös klassifiziert werden. Mit der Zentralitätsskala können die drei Idealtypen empirisch differenziert werden.
* Nur eine Antwortmöglichkeit.
6.3
Methode: Abbildung der Dialektik von Sein und Bewusstsein
Mit diesem neuen Modell der Religiosität können zahlreiche Facetten von spirituellen und religiösen Konstrukträumen abgebildet werden. Aus der Fülle der Möglichkeiten greifen wir in diesem Beitrag nur einige Konstrukte heraus – sie sind in der Abbildung 6.1 grau unterlegt (. Abb. 6.1). Von diesen Konstrukten vermuten wir, dass sie für eine kontrastierende Untersuchung spiritueller und religiöser Konstrukträume besonders aussagekräftig sind. Im Einzelnen handelt es sich dabei um: z
Spirituelle und religiöse Identität . Tab. 6.1
z
Öffentliche religiöse Praxis (Zughörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft) . Tab. 6.2
z
Private spirituelle/religiöse Praxis (Gebet und Meditation) . Tab. 6.3
z
Spirituelle/religiöse Erfahrungen (»Du«Erfahrungen, Einheitserfahrungen) . Tab. 6.4
z
Gottesbilder (Gott als Person, Gott als Energie) . Tab. 6.5
Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
58
. Tab. 6.3 Indikatoren zur Messung der privaten spirituellen/religiösen Praxis
. Tab. 6.6 Indikatoren zur Messung der religiösen Suche
1
Wie häufig beten Sie?*
1
2
Wie häufig meditieren Sie?*
* Antwortkategorien: nie – seltener – mehrmals pro Jahr – ein- bis dreimal im Monat – einmal in der Woche – mehr als einmal in der Woche – einmal am Tag – mehrmals am Tag. Zur Verrechnung mit weiteren Indikatoren der Zentralitätsskala wird dieses Antwortformat von acht auf fünf Stufen umgerechnet.
6
. Tab. 6.4 Indikatoren zur Messung der spirituellen/ religiösen Erfahrungen 1
Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, dass Gott oder etwas Göttliches in Ihr Leben eingreift?*
2
Wie oft erleben Sie Situationen, in denen Sie das Gefühl haben, mit Allem Eins zu sein?*
* Antwortkategorien: nie – selten – gelegentlich – oft – sehr oft
. Tab. 6.5 Indikatoren zur Messung von Gottesbildern Wie stark stimmen Sie mit den folgenden Vorstellungen von Gott oder dem Göttlichen überein? 1
Gott oder das Göttliche ist wie eine Person, zu der man sprechen kann.*
2
Gott oder das Göttliche ist wie eine Energie, die alles durchströmt.*
* Antwortkategorien: stimme überhaupt nicht zu – stimme eher nicht zu – habe dazu keine feste Meinung – stimme eher zu – stimme voll und ganz zu
z
Wie sehr sind Sie in Ihrer Religiosität auf der Suche?*
* Antwortkategorien: gar nicht – wenig – mittel – ziemlich – sehr
Beantwortung aller Fragen vom Selbstbewusstsein gesteuert, sie sprechen jedoch verschiedene Abstraktionsebenen an. Die beiden Fragen zur religiösen und spirituellen Identität erfordern die höchste Abstraktionsleistung, da sie gewissermaßen nach der Theorie fragen, die ein Individuum von sich als einem religiösen oder spirituellen Menschen hat. Insofern bilden sie das religiös-spirituelle Bewusstsein des Respondenten ab. Demgegenüber haben die meisten anderen Fragen des Religionsmonitors konkretere Gegenstände: Sie fragen nach spezifischen Erlebens- und Verhaltensformen, über die sich Spiritualität und Religiosität äußern können. Beispiele sind die für unsere Analyse ausgewählten Fragen nach der Häufigkeit des Gebets, der Meditation (vgl. . Tab. 6.3) oder nach bestimmten spirituellen/religiösen Erfahrungen (»Du«-Erfahrungen, Einheitserfahrungen; vgl. . Tab. 6.4) und Transzendenzvorstellungen (Gott als Person/ Gott als Energie; vgl. . Tab. 6.5). Auch die Antworten auf diese Fragen sind notwendigerweise über das Bewusstsein vermittelt. Sie bilden jedoch das Bewusstsein von konkreten Facetten des religiös-spirituellen Seins ab. Dadurch wird es möglich, das religiös-spirituelle Bewusstsein, d.h. die religiös-spirituelle Identität, auf das inhaltliche Profil des religiös-spirituellen Seins zu beziehen. Daraus kann wiederum auf unterschiedliche Varianten der sozialen Repräsentation des Begriffs der Spiritualität geschlossen werden.
Religiöse Suche . Tab. 6.6
Der Ausgangspunkt unserer Analysen ist die Messung von Indikatoren der spirituellen und religiösen Identität. Im Schema der . Abb. 6.1 ist sie rechts unten lokalisiert. Die Stärke der religiösen Identität wird im Fragebogen des Religionsmonitors über die erste der beiden Fragen in . Tab. 6.1 erfasst. Unmittelbar danach wird die Frage nach der Intensität der spirituellen Identität gestellt. Zwar wird die
6.4
Das wechselseitige Verhältnis von spirituellen und religiösen Identitäten
Wie sieht nun das wechselseitige Verhältnis von spirituellen und religiösen Identitäten aus? Ausgangspunkt für die Diskussion der diesbezüglichen
6
59
6.4 • Das wechselseitige Verhältnis von spirituellen und religiösen Identitäten
Spirituelle Identität INTENSITÄT
SCHWACH
Antwortskala
Religiöse Identität
SCHWACH MITTEL HOCH
1 2 3 4 5 Summe
MITTEL
HOCH
»gar nicht«
»wenig«
»mittel«
»ziemlich«
»sehr«
1
2
3
4
5
Summe
Typ 1: 43,6%
Typ 2: 3,9%
Typ 3 (S+): 2,0%
49,5%
Typ 4: 19,3%
Typ 5: 13,3%
Typ 6: 3,2%
35,8
Typ 7 (R+): 5,5%
Typ 8: 3,8%
Typ 9 (R/S): 5,4%
14,7
68,4%
21,0%
10,6%
100,0%
Die grau unterlegten Felder enthalten Typen einer konvergenten Konstruktionsweise der religiösen und spirituellen Identität, die weißen Felder Typen einer divergenten Konstruktionsweise der religiösen und spirituellen Identität. Die vier Extremgruppen (Typ 1, Typ 3/ S+, Typ 7/ R+ und Typ 9/ R/S), die im dritten Abschnitt einer eingehenderen Analyse ihrer religiösen und spirituellen Konstrukträume unterzogen werden, sind fett gedruckt. . Abb. 6.2 Neun Typen religiöser und spiritueller Identität
Befunde ist die in Abbildung 6.2 wiedergegebene Struktur (. Abb. 6.2). Sie enthält neun mögliche Konstellationen des Verhältnisses von spiritueller und religiöser Identität. Die Konstellationen sollen im Folgenden als Typen der religiös-spirituellen Identität verstanden werden und sind jeweils durch eine spezifische Kombination der Ausprägungen von spiritueller und religiöser Identität bestimmt, die sich aus der Hermeneutik der fünfstufigen Antwortskala für die Indikatoren der spirituellen und religiösen Identität ergibt (für den genauen Wortlaut der Indikatoren und Antwortkategorien für die spirituelle und religiöse Identität vgl. . Tab. 6.1). Die Semantik der Antwortstufen 1 und 2 (»gar nicht« und »wenig«) impliziert, dass das gemessene Merkmal – in unserem Fall die spirituelle oder religiöse Identität – kaum im Konstruktraum eines Individuums präsent ist. Daher indizieren sie eine schwache Intensität. Demgegenüber folgt aus der Semantik der Antwortkategorien 4 und 5 (»ziemlich« und »sehr«), dass ein Merkmal im Konstruktraum deutlich präsent ist. Entsprechend hoch ist seine individuelle Relevanz und soziale Resonanzfähigkeit. Deshalb ist es sinnvoll, besonders den Gruppen mit solch hohen Ausprägungen eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, was leider
in der empirischen Forschungspraxis häufig zu wenig berücksichtigt wird. Die mittlere Antwortkategorie (»mittel«) markiert schließlich den Übergangsbereich zwischen fehlender und deutlicher Präsenz. Bei dieser Stufe kann ein Merkmal im individuellen Konstruktraum präsent sein, es dürfte meist jedoch eher im Hintergrund bleiben. Auf der Basis dieser Überlegungen zur Hermeneutik der Antwortskala lassen sich die in . Abb. 6.2 enthaltenen Typen nun als unterschiedliche inhaltliche Gestalten der religiös-spirituellen Identität genauer fassen. Beispielsweise ist für den Typ 1 charakteristisch, dass sowohl die religiöse als auch die spirituelle Identität schwach ausgeprägt ist, während im Fall von Typ 9 beide Identitäten eine deutliche Präsenz aufweisen. Im Folgenden sollen die neun Typen sowohl hinsichtlich ihrer inhaltlichen Spezifik als auch hinsichtlich ihrer relativen Verbreitung in Deutschland näher betrachtet werden. In Abbildung 6.2 sind anhand der Repräsentativstichprobe des Religionsmonitors für die bundesdeutsche Bevölkerung (n = 955) die prozentualen Anteile der neun Typen angegeben (. Abb. 6.2). Die Summenwerte zur spirituellen Identität finden sich in der letzten Zeile. Während demnach
60
6
Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
etwa bei zwei Dritteln der deutschen Bevölkerung (68,4%) nur eine geringe spirituelle Identität vorhanden ist, geben 21 Prozent der Befragten eine mittlere Ausprägung der spirituellen Identität an. Gut zehn Prozent weisen hingegen eine deutlich ausgeprägte spirituelle Identität auf. Analog sind die Summen zur religiösen Identität in der letzten Spalte dokumentiert. Im Trend zeigt sich hier das gleiche Resultat wie für die spirituelle Identität: Während der überwiegende Teil (mit 49,5% rund die Hälfte) der Respondenten eine niedrige religiöse Identität angibt, geben knapp 36 Prozent eine mittelgradige Religiosität an. Die kleinste Gruppe bilden mit rund 15 Prozent auch hier diejenigen, bei denen eine hoch ausgeprägte religiöse Identität vorliegt. Bei den folgenden Diskussionen werden diese Summenwerte jedoch eher im Hintergrund stehen, da wir uns im Folgenden auf die neun Typen konzentrieren. Für Typ 1 ist charakteristisch, dass er sich sowohl von einer religiösen als auch von einer spirituellen Identität distanziert. Er umfasst mit über 43 Prozent einen großen Anteil der deutschen Bevölkerung. Im Kontrast dazu stehen die fünf Typen, bei denen zumindest eine der beiden Identitäten hoch ausgeprägt ist (Typ 3 und die Typen 6-9). Zusammen repräsentieren sie etwa 20 Prozent der Bevölkerung. Zwar ist dies deutlich weniger als die Gruppe der weder Spirituellen noch Religiösen, aber immerhin repräsentieren diese Befragten auch ein Fünftel der deutschen Bevölkerung. Die beiden Extremgruppen – marginale vs. hohe Ausprägung der spirituellen und/oder religiösen Identität – konstituieren gewissermaßen die Extrempole der »klassischen Säkularisierungsachse« (Krüggeler 1993, S. 107). Bemerkenswert ist nun die hohe Ausprägung beider Pole. Das lässt darauf schließen, dass das religiös-spirituelle Feld in der Bundesrepublik – zumindest latent – ziemlich stark polarisiert ist. In dieser Struktur schlummern möglicherweise nicht unerhebliche Konfliktpotentiale, die nicht unterschätzt werden sollten. Zu denken ist beispielsweise an die Kontroversen, die Richard Dawkins (2007) Buch »Gotteswahn« ausgelöst hat (Biller 2009; Egan 2009; Langthaler u. Appel 2009; McGrath u. Collicutt McGrath 2008; Robertson 2008; Strasser 2008), oder auch an die internationale Buskampagne »Es gibt wahrscheinlich kei-
nen Gott …«, die in der Bundesrepublik von einer Interessengemeinschaft, zu der u.a. verschiedene Freidenkerverbände (z.B. DFW, DFV, BFG, IBKA, JA) sowie die Giordano-Bruno-Stiftung gehören, durchgeführt wurde. Ein neuer, mitunter militant auftretender Atheismus (Humanistische Akademie e.V. Berlin 2009; Lohfink 2008; Wörther 2008) hat demnach auch in Deutschland ein beachtliches soziales Potential. Neu ist er vor allem deshalb, weil er nicht so sehr an die Tradition des sogenannten »wissenschaftlichen Sozialismus« anknüpft, sondern aus anderen Quellen, vor allem einem biologi(sti)schen Evolutionismus sowie einer (eher neuen) ökonomischen, gepaart mit einer (eher traditionellen) Sozialkritik gespeist wird. Die bisherigen Beobachtungen haben sich auf den Aspekt der Intensität und damit auf die Säkularisierungsachse konzentriert. Im nächsten Schritt soll sich der Fokus nun auf den Aspekt des Inhalts richten. Damit rückt die Problematik der religiös-spirituellen Pluralisierung ins Blickfeld. Zur Strukturierung dieser Problematik ist es sinnvoll, zwischen einer konvergenten und einer divergenten Konstruktionsweise der spirituellen und religiösen Identitäten zu unterscheiden. Von einer konvergenten Konstruktionsweise sprechen wir, wenn beide Identitäten gleich stark ausgeprägt sind. Dies ist beim Typ 1, beim Typ 5 und beim Typ 9, die die Diagonale der . Abb. 6.2 bilden, der Fall. Zur besseren Erkennbarkeit sind sie in . Abb. 6.2 grau unterlegt. Sie umfassen zusammen gut 62 Prozent der Befragten. Demgegenüber ist bei einer divergenten Konstruktionsweise die Intensität einer Identität um mindestens eine Intensitätsstufe höher ausgeprägt. Dies trifft auf alle übrigen Typen, die sich oberhalb und unterhalb der grau unterlegten Diagonale in . Abb. 6.2 finden, zu. Sie decken insgesamt knapp 38 Prozent der Respondenten ab. Diese Kreuztabellierung hat allerdings nicht das vorrangige Ziel, das exakte Verhältnis von Divergenz und Konvergenz bei der Konstruktion spiritueller und religiöse Identitäten zu bestimmen, sondern unterschiedliche Typen der Verhältnisbestimmung zu markieren. In Bezug auf das exakte Verhältnis von Divergenz und Konvergenz führt diese Kreuztabellierung sogar noch zu einer Unterschätzung der Konvergenz, da in den »Grenzfel-
6.5 • Die Konstrukträume pluraler religiöser und spiritueller Identitäten
dern« der divergenten Bereiche (»mittel/schwach« und »mittel/hoch«) auch Fälle enthalten sind, bei denen sich die spirituelle und religiöse Identität nur um eine Stufe auf der Antwortskala unterscheiden. Wird der »Konvergenzbereich« rein mathematisch aus den Fällen berechnet, bei denen sich die beiden Identitäten um höchstens eine Antwortstufe unterscheiden, dann umfasst er 79 Prozent der Auskunftspersonen. Die empirischen Befunde sprechen aber bereits auf Basis einer absoluten Konvergenz (selbe Antwortstufe für spirituelle und für religiöse Identität) für eine Dominanz der konvergenten Konstruktionsweise, da mit den beobachteten gut 62 Prozent die Mehrheit der deutschen Bevölkerung ihre spirituelle und religiöse Identität nicht als Gegensatz konstruiert. Man kann vermuten, dass sie als sich ergänzende oder sogar als weitgehend deckungsgleiche Inhalte wahrgenommen werden. Etwa ein Drittel dieser Gruppe – knapp 19 Prozent – hat auch in einem positiven Sinne eine integrative religiösspirituelle Identität. Diese Gruppe bildet inhaltlich das Zentrum im Feld der religiös-spirituellen Pluralisierung, weil sowohl eine spirituelle als auch eine religiöse Identität in substanzieller Intensität bei ihren Repräsentanten vorhanden ist. Daneben sind andere Akteure präsent, die ihre spirituelle oder religiöse Identität im Kontrast konstruieren. Hier bietet es sich an, von primär spirituellen (oberhalb der grau unterlegten Diagonale in . Abb. 6.2) oder primär religiösen (unterhalb der Diagonale in . Abb. 6.2) Identitäten sprechen. Diese beiden Gruppen sind mit gut neun Prozent bzw. über 28 Prozent im religiös-spirituellen Feld vertreten.
6.5
Die Konstrukträume pluraler religiöser und spiritueller Identitäten
Welche Dynamiken sind nun in dieser Konstellation von Akteuren angelegt? Diese Frage soll nun auf der Basis einer vergleichenden Analyse der inhaltlichen Gestalt ihrer Konstrukträume diskutiert werden. Dabei orientieren wir uns an den Extremgruppen (Typen 1, 3, 7 und 9). Sie sind in der Abbildung 2 in den Ecken lokalisiert und zur besseren Erkennbarkeit fett gedruckt (. Abb. 6.2). Ihre Ana-
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6
lyse verspricht insbesondere zwei hermeneutische Potentiale: Die interessierenden Merkmale sind klar ausgeprägt. Im Fall von Typ 1 fehlen sowohl die spirituelle als auch die religiöse Identität, beim Typ 3 ist die religiöse, beim Typ 7 die spirituelle Identität prägnant. Sie werden deshalb auch als »R+« bzw. »S+« bezeichnet (vgl. . Abb. 6.2). Beim Typ 9 sind schließlich beide deutlich ausgeprägt; er wird darum als Typ »R/S« bezeichnet. Durch die klaren Merkmalskonstellationen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass im Individuum eine deutliche Repräsentation des jeweiligen Konzepts vorhanden ist. Die interessierenden Merkmale werden entweder in klarer Konvergenz oder in klarer Divergenz konstruiert. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das Typische der beiden Konstruktionsweisen charakteristisch sichtbar wird. Die Konstrukträume der vier Extremgruppen werden im Folgenden über ihre Merkmalsprofile erschlossen. In der . Abb. 6.3 definieren die Typen die Zeilen. Die Relevanz eines Merkmals wird über seinen Mittelwert erschlossen – d.h. über seine durchschnittliche Ausprägung in einer Extremgruppe. Damit operieren wir nun auf einer höheren Abstraktionsstufe als bisher. Bei den in Abbildung 3 enthaltenen Merkmalen wird zunächst grundlegend zwischen exogenen und endogenen Variablen differenziert (. Abb. 6.3). Das Kriterium ist die Relation zum religiös-spirituellen Feld. Eine Variable ist exogen, wenn ein Merkmal außerhalb des religiös-spirituellen Feldes definiert ist. Grundlegend für eine solche Definition als exogen sind letztlich die soziologischen Theorien zur funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaften (z. B. Luhmann 1984; 1997). Klassische exogene Variablen sind vor allem Alter, Geschlecht, Bildung und sozioökonomischer Status. Soziologisch sind exogenen Faktoren soziale Bedingungen, die religiöse Bedeutungsproduktion beeinflussen. In einer eher traditionell operierenden Religionssoziologie werden sie deshalb dazu verwendet, Religiosität und Spiritualität zu erklären. Zugleich sind es jedoch auch Aspekte des Lebens, denen ihrerseits eine spirituelle oder religiöse Bedeutung zugewiesen werden kann: Obschon auf Grundlage der Annahmen zur funktionalen Differenzierung zumeist exogen aufgefasst, können gleichwohl
62
Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
Merkmal (Mittelwerte)
6
EXOGEN zum religiösspirituellen Feld
ENDOGEN zum religiös-spirituellen Feld
Alter
Familie
Werte
Öffentliche Praxis
Private Praxis/religiöse Erfahrung
Kinder
Freizeit
Religionsgemeinschaft
Gebet
DuErfahrung
Meditation
Ideologie Einheitserfahrung
Intellekt
Gottesbilder Person
Energie
Religiöse Suche
Range
1884
0-7
1-5
0 = nein, 1 = ja
R+
51,03
1,37
3,97
0,93
4,12
3,06
1,85
2,61
3,96
3,80
2,42
R/S
53,30
1,41
4,04
0,95
4,43
3,82
3,36
3,15
4,17
4,48
3,02
S+
43,21
1,81
4,59
0,70
2,30
2,35
2,76
2,09
2,61
3,41
2,39
Typ1
45,07
1,12
4,16
0,51
1,55
1,55
1,39
1,96
2,42
2,29
1,32
1-5
1-5
1-5
. Abb. 6.3 Merkmalsprofile (Mittelwerte) der vier Extremgruppen T1, S+, R+ und R/S
auch solche Merkmale spirituell/religiös konstruiert werden. Das ist vermutlich umso eher der Fall, je zentraler ein persönliches spirituelles/religiöses Konstruktsystem in der Persönlichkeit eines Menschen ist, da es sich dann umso stärker auch auf anderen Lebensbereiche auswirken sollte. In unserer Analyse sind Alter, Kinderzahl und die persönliche Bedeutung des Werts »Freizeit« als exogene Variablen, die für eine kontrastierende Untersuchung der spirituellen und religiösen Konstrukträume der vier Extremgruppen besonders aussagekräftig sind, eingeschlossen. Gegenüber den exogenen Variablen charakterisieren wir eine Variable als endogen, wenn sie eine Ausdifferenzierung des religiös-spirituellen Feldes darstellt. Dahinter steht der Gedanke, dass das religiös-spirituelle Feld selbst ein komplexes System ist. Von daher sollte zur Erklärung einzelner Phänomene des religiös-spirituellen Feldes nicht nur auf exogene Variablen zurückgegriffen werden, sondern immer auch auf innere Bestandteile des religiösen Systems selbst. Als endogene Variablen sind die eingangs vorgestellten, im Religionsmonitor erfassten Konstrukte Religionszugehörigkeit, Gebets- und Meditationspraxis, spirituelle/ religiöse Erfahrungen, Gottesbilder und religiöse Suche als kontrastive Merkmale in die Analyse eingeschlossen.
Zunächst sollen die empirischen Befunde zu den exogenen Variablen betrachtet werden. Dabei zeigt sich kein durchgängiges Muster: Zwar könnte man auf den ersten Blick versucht sein, den Typ S+ weitgehend aus den exogenen Merkmalen abzuleiten, da sich die Mittelwerte hier stark von den anderen Typen unterscheiden. S+ erscheint als eher »jugendlich«, »familienfreundlich« und »freizeitorientiert«. Dem dürften besonders offene und dynamische soziale Positionen verbunden sein, was intuitiv gut zu dem innovativen Typ S+ zu passen scheint. Einer derartigen Interpretation steht jedoch entgegen, dass sich von allen Mittelwertunterschieden der exogenen Variablen allein der Altersunterschied zwischen den Typen 1 und R/S im Rahmen der post hoc durchgeführten Scheffé-Prozedur einer einfaktoriellen Varianzanalyse (mit den vier Typen als Faktorstufen) als signifikant erweist (mittlere Differenz = 8,23; p = ,009). Alle übrigen Unterschiede lassen zwar Tendenzen erkennen, erreichen aber keine Signifikanz. Daraus lässt sich das Fazit ziehen, dass exogene Faktoren bei der Erklärung religiöser und spiritueller Identitäten nicht überschätzt werden sollten. Sie haben natürlich einen Einfluss, doch die wesentlich stärkeren Faktoren sind unserer Ansicht nach im religiös-spirituellen Feld selbst zu suchen (Huber u. Krech 2009).
6.5 • Die Konstrukträume pluraler religiöser und spiritueller Identitäten
Die Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft kann als niedrigstschwelligste Form öffentlicher religiöser Praxis angesehen werden. Aufgrund des binären Antwortmodus variiert der Mittelwert nur zwischen 0 und 1. An ihm kann die Resonanz einer kirchlich-institutionell vermittelten Semantik abgelesen werden. Er nimmt vom Typ R/S über den Typ R+ zum Typ S+ und zum Typ 1 hin ab. Auffällig ist der große Unterschied von Werten über 0,90 bei den Typen R/S und R+ zu 0,51 bei Typ 1, was ein deutliches Indiz für die Abkoppelung von kirchlichen Bindungen ist. Sowohl der Unterschied zwischen Typ R/S und Typ 1 (mittlere Differenz = 0,44; p < .001) als auch zwischen Typ R+ und Typ 1 (mittlere Differenz = 0,42; p < .001) ist in der post hoc zur einfaktoriellen Varianzanalyse durchgeführten Scheffé-Prozedur deutlich signifikant. Der Typ S+ ordnet sich mit einem Mittelwert von 0,70 dazwischen ein und unterscheidet sich weder von den beiden Typen mit religiöser Identität noch vom Typ 1 signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,18 und 0,26; p zwischen < .239 und .418). Alle folgenden religiösen/spirituellen Merkmale können Werte zwischen 1 und 5 annehmen. Dabei steht der Wert 1 für eine minimale und der Wert 5 für eine maximale Präsenz eines Inhalts im individuellen Konstruktraum. Auch diese Merkmale wurden anhand einfaktorieller Varianzanalysen und post hoc angeschlossener Scheffé-Tests auf Unterschiede zwischen den vier Gruppen geprüft. Das Gebet und religiöse Du-Erfahrungen haben gemeinsam, dass in ihnen ein transzendentes »Gegenüber« konstruiert wird (Huber 2007a; 2008b; 2009). Daher sprechen wir hier von einer theistischen Basissemantik. Diese Semantik ist in den Konstrukträumen der Typen R/S und R+ mit Werten von über 4,00 (Gebet) bzw. über 3,00 (»Du«-Erfahrungen) deutlich präsent – und zwar im Kontrast zum Typ S+ (MGebet = 2,30/MDu-Erfahrung = 2,35). Hinsichtlich der Gebetspraxis unterscheiden sich lediglich die beiden Typen mit religiöser Identität – R+ und R/S – nicht signifikant voneinander (mittlere Differenz = 0,31; p = .379); alle übrigen Mittelwertunterschiede sind hier signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,75 und 2,57; p zwischen < .001 und .007). Im Hinblick auf die »Du«-Erfahrung unterscheiden sich alle vier Grup-
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6
pen signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,71 und 2,27; p zwischen < .001 und .012). Meditation und religiöse All-Erfahrungen haben gemeinsam, dass in ihnen ein partizipativer Zugang zur Transzendenz gesucht wird, der über das eigene Selbst vermittelt ist (Huber 2007a; 2008b; 2009). Daher sprechen wir hier von einer pantheistischen Basissemantik. Bei der Meditation kehrt sich das bisherige Muster um: Sie ist in den Konstrukträumen der Typen R/S (MMeditation = 3,36) und S+ (MMeditation = 2,76) am deutlichsten präsent – diesmal im Kontrast zum Typ R+ (MMeditation = 1,85). Während sich die Typen R/S und S+ bei der Meditationspraxis nicht signifikant voneinander unterscheiden (mittlere Differenz = 0,60; p = .118), sind alle übrigen Mittelwertdifferenzen signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,46 und 1,97; p zwischen < .001 und .009). Diese Umkehrung zeigt, dass eine theistische Basissemantik mit einer religiösen Identität korrespondiert, während für eine spirituelle Identität die Präsenz einer pantheistischen Basissemantik relevant ist. Das ist bis hierher eigentlich nicht besonders überraschend. Interessant ist hingegen, dass dieses Muster bei der Einheitserfahrung nicht mehr funktioniert, da die beiden Typen mit divergenter Identität – S+ (MEinheitserfahrung = 2,09) und R+ (MEinheitserfahrung = 2,61) – eine niedrigere bis mittlere Intensität erkennen lassen, während nur beim integrativen Typ R/S ein Wert > 3,00 vorliegt. Er unterscheidet sich von allen anderen Typen signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,53 und 1,19; p zwischen < .001 und .049), während ansonsten nur noch der Unterschied zwischen den Typen 1 und R+ Signifikanzniveau erreicht (mittlere Differenz = 0,66; p < .001). Dies deutet darauf hin, dass Erfahrungen von All-Einheit nicht exklusiv einer bestimmten Basissemantik zugeordnet werden sollten, umso deutlicher aber bei einer integrativen religiös-spirituellen Identität zutage treten. Die Befunde zu den Gottesbildern bestätigen die religiöse/spirituelle Potenz des integrativen Typus R/S: Sowohl ein personales als auch ein energetisches Gottesbild erzeugt in dieser Gruppe eine sehr hohe Resonanz mit Mittelwerten über 4,00. In diesen hohen Mittelwerten spiegelt sich zudem ein hoher Gewissheitsgrad, der vermutlich in der intensiven privaten Praxis und Erfahrung dieser
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6
Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
Gruppe wurzelt. Auch beim Typ R+ sind beide Gottesbilder in einer substanziellen Ausprägung vorzufinden (MPerson = 3,96/MEnergie = 3,80), während in der Gruppe des Typus S+ lediglich ein energetisches Gottesbild eine hohe Resonanz findet (MEnergie = 3,41 gegenüber MPerson = 2,61). Insofern unterscheiden sich hinsichtlich eines personalen Gottesbildes die beiden Typen R/S und R+ signifikant von den beiden Typen 1 und S+ (mittlere Differenz zwischen 1,35 und 1,75; p zwischen <.001 und .002), nicht jedoch untereinander (mittlere Differenz zwischen 0,19 und 0,21; p zwischen.866 und .945). Beim energetischen Gottesbild sind hingegen alle Mittelwertunterschiede außer demjenigen zwischen den Typen S+ und R+ (mittlere Differenz = 0,39; p = .629) signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,67 und 2,18; p zwischen < .001 und .023). Die Befunde zur religiösen Suche zeigen schließlich dass eine integrative religiös-spirituelle Identität des Typus R/S auch am stärksten mit religiösen Suchbewegungen korrespondiert. Er erreicht als einziger einen Wert > 3,00. Dieses Ergebnis ist durchaus einleuchtend, denn wenn unterschiedliche Praxen, Erfahrungsformen und Gottesbilder zu einem individuell stimmigen Ganzen verknüpft werden sollen, dann erfordert dies eine hohe religiöse/spirituelle Produktivität. Dies spiegelt sich in dem Selbstbild als ein »religiös suchender« Mensch. Dies trifft allerdings tendenziell auch auf den Typ S+ zu, der sich nicht signifikant vom Typ R/S, allerdings auch nicht vom Typ R+, unterscheidet (mittlere Differenz = 0,63 bzw. 0,03; p = .080 bzw. .999). Alle übrigen Differenzen sind hingegen signifikant (mittlere Differenz zwischen 0,60 und 1,70; p zwischen < .001 und .009). Aufbauend auf der Darstellung der einzelnen Merkmalsunterschiede soll nun abschließend noch ein Gesamtvergleich der Profile vorgenommen werden. Zunächst kann hervorgehoben werden, dass der Typ 1 in allen Dimensionen fast keinerlei Resonanz auf religiöse und/oder spirituelle Semantik zeigt. Das ließ sich durchaus erwarten, belegt aber noch einmal die bereits im vorigen Abschnitt geäußerte Hypothese, dass auf der einen Seite der Säkularisierungsachse ein beträchtliches Potential für einen »Neuen Atheismus« vorhanden ist. Die drei anderen Typen sind paradigmatisch für das Feld der religiös-spirituellen Pluralisierung. In
den Befunden zu den endogenen Faktoren zeigt sich, dass die Konstruktionsweise der religiösen oder spirituellen Identität wesentlich von der Resonanz kirchlicher Anbindung und Verkündigung und der Präsenz der beiden Basissemantiken im religiös-spirituellen Konstruktraum abhängt. Das wesentlichste Ergebnis scheint uns allerdings die Erkenntnis zu sein, dass der integrative Typ R/S, der das Zentrum im Feld der religiös-spirituellen Pluralisierung markiert, nicht als ein Übergangstyp verstanden werden sollte, der gewissermaßen nur eine Etappe auf dem Weg vom kirchennahen Typ R+ zum ungebundeneren Typ S+ darstellt. Von einer derartigen »Übergangsform« wäre schließlich zu erwarten, dass eine Abnahme von »Du«-Erfahrungen und einem personalen Gottesbild mit einer Zunahme von All-Erfahrungen und einem energetischen Gottesbild einhergeht – die Mittelwerte sollten demnach dann jeweils zwischen denen der Typen R+ und S+ stehen. Dafür gibt es nach den Resultaten unserer typologischen Analyse jedoch keinerlei empirische Anhaltspunkte. Der Typ R/S erscheint vielmehr als ein eigenständiger, spirituell und religiös zutiefst vitaler Typ. Unserer Ansicht nach wird er deshalb die Zukunft der religiös-spirituellen Pluralisierung am nachhaltigsten prägen. Ob diese Prognose zutrifft, werden weitere Untersuchungen wie die geplanten Folgebefragungen des Religionsmonitors zeigen müssen.
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Kapitel 6 • Spirituelle und religiöse Konstrukträume
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»Vermessung des Glaubens« und Geheimnis des Menschseins Sind gesundheitliche Wirkungen von Spiritualität und Religiosität den Methoden empirischer Forschung zugänglich? Klaus Baumann
7
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Kapitel 7 • »Vermessung des Glaubens« und Geheimnis des Menschseins
Der hier dokumentierte Eröffnungsvortrag des zweiten TASK-Treffens widmet sich grundsätzlichen forschungsmethodischen Fragen. Transdisziplinäre Forschungstätigkeiten zum Bereich von Spiritualität und Krankheit bewegen sich zwischen einem Spiritualitäts-Boom und religiösen Altlasten, die bis heute der Forschung hinderliche Biases erzeugen. Weitere Schwierigkeiten liegen im Gegenstand solcher empirischer Forschung selbst begründet, der es nicht vorrangig um außergewöhnliche Einzelfälle (z. B. »Wunder«) geht, sondern um überzufällige Zusammenhänge, deren Wechselwirkungen und besseres Verständnis. Darum bedarf es in der transdisziplinären Arbeit sowohl eines kritischen Bewusstseins von gesellschaftlichen und individuellen utilitaristischen Funktionalisierungen von Spiritualität und Religiosität und der Ehrfurcht vor dem Geheimnis jedes Menschen in seiner/ihrer irreduziblen Möglichkeit und Offenheit für Transzendenz.
7.1
Zwischen Spiritualitäts-Boom und religiösen Altlasten
Die Begriffe »spirituell« und »Spiritualität« sind inzwischen zu »Edelvokabeln« (Grom 2009b, S. 145) geworden, welche so verschiedene Angebote wie ignatianische Exerzitien oder Tage im Kloster, Wellness-Angebote und Lebensberatung durch Kartenlegen oder Horoskope zieren. »Spirituell« und »Spiritualität« stehen für authentische eigene Erfahrungen, meist verbunden mit einer Emanzipation von institutionalisierter Religion und verfasster Kirche mit ihren Regelwerken und Dogmengebäuden. Neben allgemeinen soziologischen Trends wie Individualisierung, Enttraditionalisierung und Deinstitutionalisierung, kultureller Pluralisierung und Globalisierung kommt in dieser Emanzipationsbewegung im westlichen Kulturkreis in einigen Altersgruppen noch immer ein Befreiungsversuch von »christentümlichen Altlasten« zum Tragen (vgl. u. a. Nauer 2009), die mit Schlagworten gekennzeichnet werden können wie: 5 Leib- und Sexualfeindlichkeit: »ekklesiogene Neurosen« (vgl. Baumann 2007) 5 Droh-Botschaft (»Gottesvergiftung«; vgl. Moser 1976)
5 Mission mit gewaltsamen Mitteln (»Fundamentalismus«, »Intoleranz«, »religiöser Fanatismus«; vgl. Angenendt 2007) 5 Sünden-, Beicht- und Sakramentenfixierung 5 Paternalistische Hirten-Macht, Klerikalisierung und Machtmissbrauch (M. Foucault). Hier kommen dunkle Seiten von Religion in unserem Kulturkreis in den Blick, die sich als belastend und schädlich für Leib und Seele und auf das Leben auswirkten und auswirken können. In der einen oder anderen, meist pauschalen Form assoziieren viele Zeitgenossen gerade auch in akademischen Berufen diesen gewiss unvollständigen »Sündenkatalog« im lebensgeschichtlichen Gepäck der christlichen Kirchen mit Religion und könnten dafür sogar auf den stärksten Ankläger dieser »Sünden« verweisen, die Lehre von Jesus Christus und dem dreifaltigen Gott selbst, der die Liebe ist. Widerstände gegen eine Thematisierung von Religiosität in wissenschaftlichen Diskursen und der Medizin hängen auch mit der wissenschaftsgeschichtlichen Emanzipation von Bevormundungen oder Indoktrinationsversuchen zusammen, die gegen die Freiheit der Forschung und Wissenschaft gerichtet waren und nicht wieder – etwa durch die Hintertür – hereingelassen werden sollen. Diese unerfreuliche Seite von Religion und Kirche ist nicht zu leugnen; sie weckt bis heute Widerstände bei Wissenschaftlern und anderen Rezipienten, damit müssen wir als TASK auch künftig rechnen (vgl. Kissler 2008; Leicht 2001). Demgegenüber ist der Begriff »Spiritualität« fast Mode geworden. Er konnotiert solche Werte wie Authentizität und persönliche Echtheit, innere Freiheit, Achtsamkeit und Friedfertigkeit mit sich, mit anderen, mit der Natur, Offenheit für Transzendenz und Raum für das Geheimnis (vgl. Baumann 2009). Seine Karriere (vgl. für das Folgende v. a. Grom 2009a) wurde neben der anthropologisch verankerten Sehnsucht, die darin zum Ausdruck kommt, in der Wissenschaft ziemlich handfest jedoch auch anders gefördert: Die von John Kenneth Galbraith (1963) angestoßene Lebensqualitätsforschung erkannte neben den Sozial-Indikatoren als objektiven Lebensbedingungen immer mehr das »subjektive Wohlbefinden« als wichtige Komponente. 1971 gab die
7.1 • Zwischen Spiritualitäts-Boom und religiösen Altlasten
White House Conference on Aging der Altersversorgung und -forschung als Ziel »Spirituelles Wohlbefinden« vor. Sie umschrieb das Spirituelle umfassend als »innere Ressourcen des Menschen, zumal sein wichtigstes Anliegen (ultimate concern), den grundlegenden Wert, auf den alle anderen Werte ausgerichtet sind, die zentrale Lebensphilosophie – gleich ob religiös, antireligiös oder nichtreligiös –, die das Handeln einer Person leitet, zudem die übernatürlichen und nichtmateriellen Dimensionen des Menschen« (zit. nach Grom 2009a, S. 13). 1995 nahm die Weltgesundheitsorganisation WHO in ihren Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität (WHOQOL) auch Items zu »Spirituality/Religion/Personal Beliefs« auf. Zur Prävention und Bewältigung von Krankheiten wurden nicht nur die Vermeidung von Risiken (Rauchen, Alkoholkonsum, Stress), sondern auch personale Ressourcen als bedeutsame Faktoren anerkannt, etwa Lebenszufriedenheit, Sinnerfüllung und verschiedene, auch religiös motivierte Bewältigungsformen. Als Sammelbegriff bot sich »Spiritualität« an, ein echter Sympathieträger, der nicht einengt, sondern alle jene miteinander verbindet, die das Seelische, Ideelle, Nichtmaterielle, Übernatürliche ganzheitlich ernst nehmen wollen und sich damit gegen eine reduktionistische, materialistische Sicht von Mensch und Welt stellen. Bernhard Grom (2009a, S. 14) behauptet sogar: »Der Begriff Spiritualität klingt allverbindend, pluralismustauglich und uneingeschränkt positiv.« Psychologen und Sozialwissenschaftler wie auch Mediziner schätzen an diesem Begriff, dass er weiter ist als Religiosität, ja fast ohne Grenzen. Mit dem Ritterschlag durch die WHO konnte »Spiritualität« nun auch legitimer Gegenstand von Forschung werden und mit (öffentlichen) Forschungsgeldern rechnen, über einzelne bedeutende Finanzierungen durch private Stiftungen hinaus. Im wissenschaftlichen Feld impliziert die Thematisierung von »Spiritualität« die Aufgabe, die damit assoziierten Bedürfnisse und Kräfte der Menschen, besonders (aber nicht nur) der Alten und Kranken, zu beachten und ihnen gerecht werden zu wollen. Vorreiter sind die Gerontologie und die Lebensqualitätsforschung. Wir stehen mit unserer Transdisziplinären Arbeitsgruppe Spiritualität und Krankheit TASK in
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diesem weiten Feld von vielfältig schillerndem Spiritualitäts-Boom und religiösen Altlasten. Ich will an dieser Stelle keinen eigenen Definitions- oder Abgrenzungsversuch von Religiosität und Spiritualität vornehmen oder unseren Arbeitsgruppen vorgreifen, wenn ich es auch für Forschungszwecke für sinnvoll halten würde, einen weit gefassten von einem spezifischeren Begriff der Spiritualität zu unterscheiden. Simone Ehm und Michael Utsch (2008, S. 3) formulieren – zumindest für den deutschsprachigen Raum – mehr eine Hoffnung als eine Realität, wo sie für Medizin und Psychotherapie behaupten: »Es gilt heute als professioneller Standard, spirituelle Bedürfnisse und Erwartungen in die Behandlung einzubeziehen.« Ich teile den Wunsch, aber aus meiner Erfahrung heraus nicht die Einschätzung; lieber würde ich von einer neuen Offenheit und vorsichtigem Interesse sprechen, jedoch noch keineswegs von Standards. Im 2009 erschienenen »Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie« (Handbuch der Psychologie Bd. 12), hrsg. von Jürgen Bengel und Matthias Jerusalem, finden Religiosität und Spiritualität oder derartige »Bedürfnisse« von Menschen auf über sechshundert Seiten keine bedeutsame Erwähnung, geschweige denn unter den sechzig Schlüsselbegriffen über die Grundlagen, Konzepte und Anwendungsbereiche der Gesundheitspsychologie. Dies verdeutlicht, dass der evangelische Kölner Theologe und Krankenhausseelsorger Ulrich Eibach (1991, S. 12) noch viel zu oft recht hat: »Der Seelsorge bleibt allenfalls die Aufgabe, die aus den materiellen Fehlfunktionen resultierenden seelischen Belastungen bewältigen zu helfen, sie in ihrem Sinn zu deuten und so tragbar zu machen. Mit der Heilung hat sie jedoch nichts zu tun. Deshalb kommt erst die Therapie, die Medizin, dann die Seelsorge, und diese wird überflüssig, wenn die Therapie gelungen ist. Medizin und Theologie sind ebenso säuberlich geschieden wie Geist und Materie, und mit dem Geist ist auch der Glaube ohnmächtig gegenüber dem Körper. Seelsorge dient allenfalls der Bewältigung der Krankheit, der Beruhigung der durch Krankheit aufgebrochenen Angst der Seele, hat aber – da die Seele ursächlich nichts mit der Krankheit zu tun hat – mit der The-
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Kapitel 7 • »Vermessung des Glaubens« und Geheimnis des Menschseins
rapie nichts zu tun. Die Krankheit hat materielle Ursachen und ist daher materiell zu therapieren.« Die Ausweitung von Palliative Care zu Spiritual Care (vgl. Roser 2007; Baumann 2009a) als multidisziplinärem Anliegen im Krankenhaus – Eckhard Frick (2009) spricht sogar von einem neuen Fachgebiet der Medizin – ist noch ganz im Anfang begriffen. Vergleiche dazu: »Schablonenhaft, aber in der Praxis oft noch zutreffend, lässt sich sagen: Der Seelsorger wird gerufen, wenn ärztlicherseits nichts mehr zu tun ist, ‚wenn nur noch Beten hilft’, vor allem beim Scheitern kurativer Bemühungen. Am deutlichsten ist dies beim Scheitern angesichts des nicht mehr aufzuhaltenden Todes.« (Frick 2009, S. 149).
7 7.2
»Wie macht Glaube gesund?« – Eine Frage empirischer Forschung?
Den Titel »Wie macht Glaube gesund?« geben Ehm und Utsch ihrer Tagungsdokumentation »Zur Qualität christlicher Gesundheitsangebote«. In dieser Formulierung klingt das synoptische JesusWort an: »Dein Glaube hat dir geholfen« (Mk 5,34, zur blutflüssigen Frau, die viele Jahre lang von Arzt zu Arzt ging, mit dem Resultat, dass es ihr immer schlechter ging und sie all ihr Geld verlor). Nach biblischem Zeugnis hat Jesus viele Heilungswunder bewirkt – und wo Menschen ihm wie in seiner Heimat den Glauben versagten, konnte er kaum Wunder wirken (Mk 6,5-6a). Exegetisch betrachtet geht es hier um Einzelheilungen, in denen das gläubige Vertrauen von Menschen zu ihm mit Jesu Wundermacht zusammentreffen. Zur Religion der ersten Christen gehörte das Wundermotiv, das der evangelische Heidelberger Neutestamentler Gerd Theissen (2003, S. 373) so umschreibt: »Alles Geschehen in der Welt ist offen für wunderhafte Ereignisse, die alle Erwartungen durchkreuzen. Nichts ist völlig determiniert.« Sein sehr schönes Buch »Die Vermessung des Glaubens« beginnt der »Zeit«-Journalist Ulrich Schnabel mit dem Bericht von der wundersamen Genesung der französischen Ordensfrau Marie Simon Pierre, die seit 2001 am Parkinson-Syndrom litt und im Juni 2005 nach einer Verschlechterung
kurz zuvor als völlig symptomfrei diagnostiziert wurde. Diese wundersame Genesung führten sie und ihre Mitschwestern auf die Erhörung ihres inständigen Gebetes und die Fürbitte des im April 2005 verstorbenen Papstes Johannes Paul II. zurück. Gott habe dieses Wunder gewirkt, und dies sei – so Schnabel – nach Auffassung der katholischen Kirche eine »Bestätigung der Gegenwart von Gottes Reich auf der Erde«. Ergänzt gehört: Es ist nach katholischer Auffassung allerdings auch nur eines von vielen möglichen Zeichen dieser Gegenwart. Das verweist bewusst auf die Glaubensdeutung als eine keineswegs selbstverständliche oder zwingende Deutung und auf die Deutungsoffenheit des Geschehenen und jeglicher Wirklichkeit (vgl. Schnabel 2008, S. 33–38). Auf den ersten Blick scheint sowohl die Bezugnahme auf Jesu Wort »Dein Glaube hat Dir geholfen« als auch Schnabels Ansatz an einer wundersamen Genesung geeignet für die Beschäftigung mit der Frage nach dem Zusammenhang von persönlicher Spiritualität oder persönlichem Glauben in Bezug auf Gesundheit oder Krankheit. Meines Erachtens jedoch nur auf den ersten Blick. Auch solche Einzelfälle sind interessant für eine eingehende wissenschaftliche und medizinische Untersuchung. Was ist da geschehen in der Leib-SeeleEinheit des geheilten Menschen? Wie verwandt ist mit diesem Geschehen der Placebo-Effekt, die Wirkung des Vertrauens von Patienten, dass sie kompetent gesundheitsförderlich behandelt werden? Tatsächlich geht Schnabel in diesem Sinn einer »Heilkraft der Erwartung« (2008, S. 45) nach. Ich halte diese Fragen (vgl. Bundesärztekammer 2010) und ihre Vertiefung für eine wichtige Forschungsrichtung in unserer TASK, ebenso die Frage von Spontanheilungen: Der Astronom Carl Sagan, 1996 an Krebs gestorben, hat kurz vor seinem Tod ermittelt, dass Experten die Rate für Spontanheilungen bei Krebs auf eins zu zehntausend bis eins zu hunderttausend schätzen. Am Beispiel des französischen Wallfahrtsortes Lourdes zeigte Sagan, dass dort keine Wunderheilungen stattgefunden haben können. Seit den Berichten von der Erscheinung der Jungfrau Maria am Rand der Pyrenäen im Jahr 1858 sind mehr als einhundert Millionen Menschen in der Hoffnung auf Heilung nach Lourdes gepilgert. Die katholische Kirche hat weniger als hun-
7.3 • Religiosität und Spiritualität um der Gesundheit oder um ihrer bzw.
dert Wunderheilungen akzeptiert. Der »Heilerfolg« von Lourdes liege damit weit unter der statistischen Rate erwartbarer Spontanheilungen bei Krebs (vgl. SZ vom 31.03.2007). Was Sagan nicht thematisiert, sind die »Heilerfolge« von inneren Veränderungen der Menschen – durchaus im Sinne von spirituellem Wohlbefinden. Die in der geringen Zahl von Anerkennungen deutliche Skepsis der katholischen Kirche gegenüber Wunderheilungen widerspricht nicht der Möglichkeit von Wundern im Sinn des urchristlichen Wundermotivs, sondern beruht auf zwei anderen theologischen Gründen: Gottes Wirken zeigt sich erstens nicht in außerordentlichem Eingreifen Gottes, sondern geschieht mitten in den Kräften der Schöpfung und ihren Wirkmechanismen. Zweitens sind darum diese Kräfte und Wirkzusammenhänge ganz nüchtern zu erforschen. Hier begegnen sich Schöpfungstheologie und empirische Wissenschaften ganz unkompliziert. Auf die Frage »Wie macht Glaube gesund?« ist darum gerade nicht nach außerordentlichem Wirken übernatürlicher Kräfte zu suchen, sondern nüchtern zu fragen: Wie wirken sich spirituelles und/oder religiöses Erleben und Verhalten auf Gesundheit und Krankheit aus? Dies ist durchaus eine Frage, die empirischer Forschung zugänglich ist. Es handelt sich keineswegs um eine naturalistische Reduktion des »Heiligen«. Diese Frage gilt es geeignet zu operationalisieren, standardisiert zu erheben und in Vorgehen und Ergebnissen für die Fachwelt/Öffentlichkeit zu dokumentieren. Was so kurz formuliert ist, birgt in sich jedoch all jene Schwierigkeiten in diesem Forschungsfeld, die bei weitem noch nicht gelöst sind (vgl. Zwingmann/Moosbrugger 2004), angefangen beim Verständnis von Religion und Spiritualität und geeigneten Fragestellungen und Operationalisierungen. Auch wenn viele Untersuchungen kritisiert werden können (vgl. Sloan 1999, etwa Konfundierung durch unbeachtete Störvariablen oder Verzerrungen durch verschiedene Biases; relativ grobe Fragemuster nach persönlicher Religiosität und Spiritualität), so zeigt sich doch insgesamt als robustes Ergebnis ein schwacher, aber signifikanter Zusammenhang zwischen einer lebensbejahenden Religiosität/Spiritualität und Gesundheit (vgl. Koenig et al. 2001; Plante/Sherman 2001; Büssing et al. 2006; Baumann 2008; 2009). Mit Arndt Büs-
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sing kann man sagen: »Eine spirituelle Grundhaltung beziehungsweise religiöse Praxis scheint in der Tat einen günstigen Einfluss auf den Krankheitsumgang zu haben. ‚Spirituelles Wohlbefinden’ kann zudem insbesondere bei Patienten in finalen Krankheitsstadien vor Depressivität und Verzweiflung schützen. Aber es gibt keine Studie, die valide belegt, dass eine spirituell-religiöse Praxis zu einem längeren Überleben oder gar zu einer Heilung führen könnte« (zit. nach Schnabel 2008, S. 38; vgl. aber die demographische Erhebung von Hummer et al. 1999 zur Lebenserwartung). Tatsächlich wäre das für den Einzelfall zu viel verlangt. Denn statistische Zusammenhänge lassen keine Aussagen über den Einzelfall zu, sondern nur über eine regelmäßige Mehrzahl der Fälle. Sehr spirituelle Menschen können von schwersten Krankheiten geplagt werden – wie Hiob und andere. Und gleichzeitig können diejenigen, welche die Psalmen »Frevler« nennen, sich bester Gesundheit erfreuen und alles im Leben haben.
7.3
Religiosität und Spiritualität um der Gesundheit oder um ihrer bzw. der Menschen selbst willen?
Die Frage, ob und wie Glaube gesund mache, impliziert eine funktionale oder utilitaristische Perspektive. Ich halte eine funktionale Betrachtung und motivationspsychologische Untersuchung von Wirkzusammenhängen für legitim und in der Frage nach den gesundheitlichen Wirkungen von Religion und Spiritualität für zielführend. Welches sind die psychosomatischen Erklärungswege für ihre Wirksamkeit? Grundsätzlich würde ich Harold G. Koenigs Überlegung zustimmen, die er (2008, S. 53) in seinem Buch »Medicine, Religion, and Health« auch als Antwort auf Kritiken formulierte:
» It appears that psychological and social factors influence the physiological systems of the body that are directly responsible for good health and the ability to fight disease.Therefore if religious/ spiritual involvement can be shown to enhance psychological health and social interactions, it is reasonable to hypothesize that religious factors
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Kapitel 7 • »Vermessung des Glaubens« und Geheimnis des Menschseins
may improve physical health as well, doing so by reducing psychological stress, increasing social support, and encouraging positive health behaviors.
«
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Regelmäßige religiöse oder spirituelle Praxis hat einen beachtenswerten gesundheitsförderlichen Effekt (vgl. Mochon u. a. 2008). Dies belegen auch die Achtsamkeitsforschung und der Einsatz von Achtsamkeitsmeditation in therapeutischen Maßnahmen auf vielfältige, robuste Weise. Es werden neuronale, kognitive, emotionale und aktionale Muster gebildet, die der Verbesserung des Wohlbefindens nützen (können). So weit so gut. Stefan Schmidt von der Uniklinik Freiburg macht in einem noch nicht publizierten Aufsatz darauf aufmerksam, dass die Achtsamkeitsmeditation im Westen in der Regel mit einer anderen Bedeutung betrieben wird als im Osten, bei buddhistischer Tradition. Dort ist die Mindfulness Meditation ein Weg der Reinigung hin zur Verwirklichung von Nibbana, im Westen ein Weg zum Coping mit Stress, Krankheit, zur Selbstregulierung, Selbsterkundung und Selbsterfahrung in Verbindung mit einem spirituellen Interesse. Dort ist sie in einem kollektiven (religiösen) System platziert, hier individualisiert und privatisiert. Worauf ich hinaus will: Hier wie in den angloamerikanischen Forschungen zur Religion und Gesundheit haben wir eine starke Funktionalisierung bzw. Unterordnung von Spiritualität/Religiosität unter Gesundheitsinteressen. In Zeiten knapper werdender Finanzmittel im Gesundheitswesen – zumal in den USA – ist es natürlich richtig, an gesunde Verhaltensweisen zu erinnern und Ressourcen zu aktivieren. Doch darf niemandem im Gesundheitswesen ein Nachteil etwa daraus erwachsen, dass er oder sie – scheinbar – weniger religiös oder spirituell praktiziert. Spiritualität, Religiosität und Religion würden Erfüllungsgehilfen mangelnder Solidarität und ungenügender Achtung der Personwürde im Gemeinwesen – das genaue Gegenteil zumindest christlicher Religion. Vergleiche dazu: »So begrüßenswert die beginnende spirituelle Öffnung der Medizin ist – sie beinhaltet auch Gefahren, insbesondere eine utilitaristischmaterialistische Instrumentalisierung der Religion durch den therapeutischen Kurzschluss vom ‚Faith
Factor’ auf die ärztlich ‚verordnete’ Religion. Dieser Kurzschluss verknüpft zwei argumentative Schritte: 1. Religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen korrelieren mit Gesundheits-Outcomes; 2. Ärzte sollten Religion und Spiritualität fördern.« (Frick 2009, S. 146). Die quantitative empirische Forschung zeigt erhebliche konzeptionelle Schwierigkeiten mit der Operationalisierung von dem, was Spiritualität, Religiosität und Religion im Leben von Menschen heißt. Theologie, Religionspsychologie, Kulturanthropologie und -soziologie, aber auch die Neurobiologie und andere Disziplinen müssten hier zusammenwirken (vgl. Emmons u. Paloutzian 2003: multilevel interdisciplinary paradigm). Zugleich haben wir das Problem der Perspektive der dritten Person der Forschenden auf die Probanden – und der Perspektive der ersten Person der Untersuchten in ihrem zutiefst eigenen Erleben und Verhalten. Wie kann die Forschung der idiosynkratischen, d. h. der höchst individuellen religiösen Erfahrung in Erleben und Verhalten des Menschen gerecht werden? Mit nomothetischen Mitteln wird dies kaum gehen (vgl. Lawrence u. Head 2009, S. 279). Das Feld für qualitative Forschungsansätze ist offen und steinig. Dies liegt auch daran, dass viele Menschen ihr religiös-spirituelles Innenleben kaum ausdrücken können – obwohl sie etwas »erfahren haben«, in dem Sinne, wie der Theologe Karl Rahner ganz knapp Mystiker charakterisierte, als er sagte, der Christ von morgen müsse ein Mystiker sein. Ich bin – auch aus meinen Erfahrungen in Seelsorge und psychoanalytischer Psychotherapie heraus – überzeugt, dass viele es sind, die »etwas erfahren haben«, ohne darüber sprechen zu können oder zu wollen, gar in Begriffen der Theologen oder der psychologisch Forschenden. Darüber hinaus ist die Frage, wie dies »Erfahrene« sich in ihrem Leben motivationspsychologisch auswirkt: in ihren Kognitionen, Emotionen und Aktionen. Zu den Kognitionen und Emotionen gehört, welche Vorstellungen von Transzendenz, »Gott« oder dem »All-Einen« jemand wirklich bildet, in mehr oder weniger großer Übereinstimmung zu der religiösen oder spirituellen Gruppe, der er oder sie sich mehr oder weniger zugehörig fühlt. Jeder Mensch entwickelt seine persönlichkeitsspezifische Spiritualität oder Religiosität (vgl.
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Literatur
Winkler 2000). Darin spielen die lebensgeschichtlichen Erfahrungen mit dem Leib und mit wichtigen Bezugspersonen eine bedeutende, aber wiederum höchst individuelle und intime Rolle – so intim, dass vieles in dieser Dynamik unbewusst bleibt. Es ist ja keineswegs so, dass die persönliche Religiosität oder Spiritualität nicht auch bewusst oder unbewusst defensiven oder sogar psychopathologischen Dynamiken dienen kann – und die innere Freiheit und Beziehungsfähigkeit mit einschränkt (vgl. Baumann 2007). Auch Schnabel (2008, S. 252) äußert einen Gedanken in diese Richtung: »Ob und wie sich allerdings eine meditative Praxis auswirkt, hängt sowohl von der jeweiligen Meditationsmethode als auch von der inneren Einstellung des Übenden ab. Manche Praktizierenden mögen im Laufe der Zeit tatsächlich mitfühlender, empathischer und weniger selbstsüchtig werden; bei anderen dagegen kann sich eher eine Art Erleuchtungsdünkel ausbilden, der den Betreffenden nur noch mehr in seine egozentrischen Muster verwickelt. Solche Aspekte sind freilich bislang noch nicht Gegenstand wissenschaftlicher Studien geworden«. Wenn zwei das Gleiche tun, tun sie doch noch lange nicht das Gleiche – für jeden kann es emotional etwas anderes bedeuten. Dies ist das große Feld der christlichen Spiritualitätstradition von der »Unterscheidung der Geister« (in diesem Kontext vgl. die empirische Studie von Rulla et al.). Beides, die Schwierigkeit über spirituelle Erfahrungen (authentisch) zu sprechen und die annähernde Erfassung von ihren individuellen persönlichkeits- und motivationspsychologischen Auswirkungen, wird dort noch besonders erschwert, wo Religion und Spiritualität aus gesellschaftlichem Miteinander und Öffentlichkeit eher verdrängt, ja verpönt und tabuisiert werden, häufig mit einer Fundamentalismus-Keule (vgl. Kissler 2008). Umso wichtiger ist es, mit unserer TASK ein nüchternes, wissenschaftliches und zugleich aufgeschlossenes Austausch-Forum für solche Fragen und Forschungen zu bilden. Wo es wirklich zum Standard würde, dass Patienten in ihren spirituellen Bedürfnissen und Verhaltensweisen in ihrer Behandlung wahrgenommen und diskret ermutigt würden (vgl. Huguelet/ Koenig 2009), würde es wohl auch eher einfacher, eine Sprache zu finden und mehr von der Perspek-
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tive der ersten Person zu erfahren (vgl. Cook et al. 2009). Es könnte in unserer Gesellschaft dann umso mehr die Ehrfurcht vor dem Geheimnis jedes Menschen wachsen. Das Geheimnis birgt das Unverfügbare, das Nicht-Operationalisierbare, das Nicht-Messbare: »Die Kategorie des Geheimnisses birgt das Nicht-Messbare, Nicht-Operationalisierbare, Nicht-Behandelbare – trotz aller Versuche, Spiritual Care dem Medizinbetrieb einzuverleiben. Forschung, Selbsterfahrung und Supervision in Spiritual Care sind heute dringender nötig denn je. Sie werden Patienten, Familien und Gesundheitsberufe jedoch nur bis an die Grenze des Geheimnisses begleiten.« (Frick 2009, S. 153f.). Zum Geheimnis des Menschen gehört trotz aller lebensgeschichtlichen Verletzungen und Brüche und gerade in aller geistig-psychischen und neuronalen Vermittlung, die potentiell empirischer Forschung zugänglich ist, fast unverlierbar die Möglichkeit und Offenheit für Transzendenz. Dieser irreduziblen Freiheits-Möglichkeit oder Offenheit des Menschen kommt aus jüdisch-christlicher Sicht Gott selbst entgegen, um sein geliebtes Ebenbild mit Leben und Liebe zu erfüllen – selbst durch Krankheit und den Tod hindurch. Letzteres entzieht sich definitiv empirischer Forschung.
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7
Kapitel 7 • »Vermessung des Glaubens« und Geheimnis des Menschseins
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Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping Sebastian Murken, Katja Möschl, Claudia Müller und Claudia Appel
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Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
Arbeitsgruppe Religionspsychologie des Forschungszentrums für Psychobiologie und Psychosomatik (FPP) der Universität Trier
8.1
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Zusammenfassung
Der Artikel beschreibt die mehrjährige Entwicklung eines Messinstrumentes zum religiösen Coping und zur Gottesbeziehung durch die Arbeitsgruppe Religionspsychologie des Forschungszentrums für Psychobiologie und Psychosomatik (FPP) der Universität Trier. Dargestellt wird die Entstehungsgeschichte der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping (SGrC), bestehend aus den Skalen »Gefühle gegenüber Gott«, »Verhalten Gottes« und »religiöses Coping«. Die Konstruktion der Skalen, ihre Validierung mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse und die spezifischen Itemstatistiken werden erläutert.
8.2
Einführung
Die Frage, ob und wie Glaube und Religion Menschen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, wurde über viele Jahrzehnte von der deutschsprachigen akademischen Psychologie weitgehend ignoriert oder für irrelevant erklärt. Vereinzelt wurden amerikanische Skalen zur Messung von Religiosität übersetzt und verwendet. Eine eigenständige psychologische Religionsforschung gab und gibt es in Deutschland jedoch nicht. Erst in den letzten Jahren entstanden einige deutschsprachige Instrumente, die Religiosität und Spiritualität abbilden. Religiöse Glaubensvorstellungen sind vom kulturellen Kontext abhängig, weshalb aus dem Amerikanischen übersetzte Items oft die Situation deutscher Glaubender nicht präzise erfassen. Außerdem entwickelt sich die Forschung dahingehend, Religiosität nicht als Ganzes, sondern – je nach Fragestellung und Erkenntnisinteresse – Teilaspekte des multidimensionalen Konstruktes Religiosität zu erheben. Mit der Durchführung eigener Studien und zunehmenden Anfragen anderer Forschergruppen wurde immer deutlicher, dass valide, theoretisch fundierte, deutschsprachige Instrumente zur Erhe-
bung von Religiosität dringend gebraucht werden. Dies führte zu der Überlegung, die bisherigen Vorarbeiten und die bisher eingesetzten und erprobten Skalen unserer Arbeitsgruppe, die immer wieder modifiziert wurden, zusammenzufassen und daraus ein flexibel einsetzbares Instrument mit verschiedenen Skalen zu entwickeln und zu veröffentlichen, das auch in anderen Projekten eingesetzt werden kann. Verschiedene Studien zur Bedeutung von Religiosität sind nur dann vergleichbar, wenn Informationen über die genauen Messmethoden einzelner Variablen vorliegen. Der Entwicklung und Evaluation der endgültigen Skalen wurden Daten verschiedener bereits abgeschlossener Projekte zugrunde gelegt. Dieses Post-hoc-Verfahren ist zwar methodisch als u. U. problematisch zu bewerten, der praktische Forschungsalltag lässt aber nicht immer eine methodisch einwandfreie Planung und Bewertung von Skalen zu. Aus den Versuchspersonen dreier Studien, die zwischen 1994 und 2006 durchgeführt wurden, wurde eine »Konstruktionsstichprobe« gebildet, auf der die Skalenevalutaion basiert. Anschließend wurde diese Stichprobe in einer konfirmatorischen Faktorenanalyse an einer unabhängigen »Validierungsstichprobe« aus einer Untersuchung von 2006/07 kreuzvalidiert.
8.3
Theoretischer Hintergrund und Vorarbeiten
Mit der Zunahme wissenschaftlicher Studien, die den Einfluss von Religiosität auf andere Lebensbereiche, insbesondere auf Gesundheit und Krankheit, messen wollen, steigt auch der Bedarf, Religiosität, Spiritualität oder individuelle Glaubensvorstellungen adäquat zu messen. Trotz der Vielzahl entwickelter bzw. übersetzter Instrumente (vgl. z. B. Dörr 2001; Freund 1994; Winter 2005) gibt es bisher noch kein Standardinstrument zur Messung von Religiosität. Hierfür sind verschiedene Gründe anzuführen: 1. Obwohl Religion oft als kulturell weitgehend universelles Phänomen beschrieben wird, so ist ihre inhaltliche Ausgestaltung doch historisch und kulturell geprägt (vgl. Baider et al. 1999; Holland et al. 1999; Mehnert, Rieß u. Koch 2003; Pargament 1997).
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8.3 • Theoretischer Hintergrund und Vorarbeiten
2. Religion ist ein multidimensionales Phänomen (vgl. Pargament 1986). Es muss demnach differenziert betrachtet werden, welche Dimensionen des Konstruktes Religion für die jeweilige Forschungsfrage interessieren. Es muss im Vorfeld einer Untersuchung klar sein, ob beispielsweise die religiöse Praxis, das Wissen um Religion, die Gottesbeziehung, ein bestimmter Glaubenssatz oder die religiöse Gemeinschaft »wirkt« und deshalb betrachtet werden soll. 3. Die Bedeutsamkeit, die Religiosität hat, muss von ihren Inhalten unterschieden werden (Huber 2003). Die Vorstellung davon, wie Gott ist, sagt noch nichts über die Relevanz aus, die diese Vorstellung für das eigene Leben hat. 4. Je spezifischer ein erhobener Teilaspekt von Religiosität ist, desto eher ist es möglich und sinnvoll, psychologische Modelle vermuteter Wirkzusammenhänge zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund ist es für jede psychologische Religionsforschung entscheidend, ein spezifisches Instrument für jene Fragestellung auszuwählen, die Gegenstand der jeweiligen Forschung ist. Es hat sich dabei bewährt, eine Einschätzung der allgemeinen Bedeutsamkeit von Religion und Glauben (z. B. durch die Zentralitätsskala von Huber 2003) mit Skalen zu kombinieren, die spezifische religiöse Inhalte abfragen, und die Messungen auf die jeweilige Population und Fragestellung abzustimmen. Nach unserer theoretischen Annahme steht im Zentrum christlicher Religiosität die Gottesbeziehung. Unter Nutzung des Wissens um die psychologische Bedeutsamkeit befriedigender Beziehungserfahrungen wurde ein Instrument entwickelt, das sowohl emotionale und kognitive Aspekte der Gottesbeziehung erfasst als auch – in Verbindung mit funktionalen Aspekten von Religiosität – Skalen zum religiösen Coping, d. h. Skalen dazu, wie Gott in konkreten Situationen erlebt wird (praktische Dimension), beinhaltet. Der theoretische Hintergrund verbindet Ergebnisse von Beziehungsforschung, Gesundheitspsychologie und CopingTheorie und wurde bereits an anderer Stelle (vgl. Murken 1998; Petersen 1993) ausführlich diskutiert. Ausgehend von den psychologischen Dimensionen
8
Fühlen, Denken und Handeln beschreiben die Skalen die Frage, wie Gott emotional erlebt, kognitiv konzeptualisiert und im praktischen Umgang mit den Widrigkeiten des Lebens erfahren wird. Dementsprechend gliedern sich die Items des Fragebogens in die folgenden drei Themenbereiche: 1. Gefühle gegenüber Gott (Wie fühle ich Gott?) 2. Verhalten Gottes (Wie stelle ich mir Gottes Handeln vor?) 3. Religiöses Coping (Wie wirkt Gott/der Glaube auf meinen Umgang mit Schwierigkeiten?) Gott wird somit als relationales Gegenüber konzeptualisiert, das emotional erlebt wird und dem Verhaltensweisen und Intentionen zugeschrieben werden. In der psychologischen Tradition knüpft dies an die Bedeutsamkeit befriedigender Beziehungserfahrungen (vgl. z. B. Asendorpf u. Banse 2000) und an die von Pargament ausgearbeitete Theorie des religiösen Copings (vgl. Pargament 1997) an. Die Skalen wurden erstmals in einer Untersuchung von Murken (1998) verwendet und haben sich insbesondere in Studien zu Religiosität und Krankheitsverarbeitung bzw. zu Religiosität und der Verarbeitung kritischer Lebensereignisse bewährt (Müller 2008; Zwingmann, Müller, Körber u. Murken 2008; Zwingmann, Wirtz, Müller, Körber u. Murken 2006). Schaap-Jonker und Mitarbeiter erstellten (Schaap-Jonker, Eurelings-Bontekoe, Verhagen u. Zock 2002) und validierten (SchaapJonker, Eurelings-Bontekoe, Zock u. Jonker 2008) eine ins Niederländische übersetzte Version der Items und wiesen auf ihren Nutzen für praktische Forschungsfragen hin. z
»Gefühle gegenüber Gott«
Über die Skala »Gefühle gegenüber Gott« kann die Gottesbeziehung einer Person erfasst werden. Seit Freud ist die Bedeutung der Gottesbeziehung ein Thema der Psychologie. Freud sah Gott als überhöhte Vaterfigur an. Auch in der Folge beschrieben Psychoanalytiker das Gottesbild als vom Elternbild geprägt, wobei im Besonderen die Rolle der Mutter ins Blickfeld rückte (Rizzuto 1979; Vergote u. Tamayo 1981; Forschungsüberblick bei Murken 1998). In einer eigenen Studie (Murken 1998) postulierten wir – in Anlehnung an Petersen (1993) – 3 Fakto-
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Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
. Tab. 8.1 Übersicht über die Entstehung der einzelnen Skalen Stichprobe 1 1994/95
Stichprobe 2 2003
Stichprobe 3 2004/05
Stichprobe 4 2006
Konstruktionsstichprobe 2006
Validierungsstichprobe 2006/07
Stichprobe
Psychosomatische Patienten
Brustkrebspatientinnen und Kontrollgruppe
Schmerzpatienten
Trauernde
Den Stichproben 1-4 entnommen
Darmkrebspatienten und Kontrollgruppe
Stichprobengröße
N = 465
N = 281
N = 175
N = 60
Gefühle gegenüber Gott
27 Items
14 Items, 5 aus Stichprobe 1, 9 neu
21 Items, 14 aus Stichprobe 1, 6 aus Stichprobe 2, 1 neu
---
Ergebnis
2 Faktoren: Pos. Gefühle, Neg. Gefühle
3 Faktoren: Pos. Gefühle, Neg. Gefühle (auf Selbst bez.), Neg. Gefühle (auf Gott bez.)
3 Faktoren: Pos. Gefühle, Neg. Gefühle (auf Selbst bez.), Neg. Gefühle (auf Gott bez.)
Verhalten Gottes
23 Items
---
15 Items aus Stichprobe 1
Ergebnis
3 Faktoren: unterstützend, herrschend und strafend, passiv
Religiöses Coping
---
N = 661
Erfasste Konstrukte
8
Ergebnis
---
3 Faktoren: unterstützend, herrschend und strafend, passiv
21 Items aus Stichprobe 3 (N = 175)
15 Items
3 Faktoren: Pos. Gefühle, Neg. Gefühle (auf Selbst bez.), Neg. Gefühle (auf Gott bez.)
3 Faktoren: Pos. Gefühle, Neg. Gefühle (auf Selbst bez.), Neg. Gefühle (auf Gott bez.)
15 Items aus Stichprobe 1 und 3 (N = 640)
15 Items
3 Faktoren: unterstützend, herrschend und strafend, passiv
3 Faktoren: unterstützend, herrschend und strafend, passiv
40 Items
34 Items, 22 aus Stichprobe 2, 12 neu
18 Items, übereinstimmend mit Stichprobe 2 und 3
18 Items aus Stichprobe 2, 3 und 4 (N = 516)
12 Items
3 Faktoren: Pos. rel. Coping, Neg. rel. Coping, soz. Unterst.
3 Faktoren: Pos. rel. Coping, Neg. rel. Coping (Strafe), Neg. rel. Coping (Leid)
2 Faktoren: Pos. rel. Coping, Neg. rel. Coping
2 Faktoren: Pos. rel. Coping, Neg. rel. Coping
2 Faktoren: Pos. rel. Coping, Neg. rel. Coping
79
8.3 • Theoretischer Hintergrund und Vorarbeiten
ren, die mögliche Gefühle gegenüber Gott abbilden: »Geborgenheit/Nähe«, »Ablehnende Gefühle« und »Furcht/Schuld« (Stichprobe 1, vgl. . Tab. 8.1). In einer explorativen Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation ließen sich jedoch lediglich zwei Faktoren finden: »Positive Gefühle gegenüber Gott« und »Negative Gefühle gegenüber Gott«. Um weitere Informationen über die Struktur der Gefühle gegenüber Gott zu erhalten, wurde der Fragebogen ergänzt und in einem weiteren Projekt der Arbeitsgruppe Religionspsychologie eingesetzt (Stichprobe 2, vgl. . Tab. 8.1). Dieser Fragebogen enthielt 5 Items aus dem Fragebogen von Murken (1998; 3 positive Gefühle, 2 negative Gefühle) sowie 9 weitere Gefühle gegenüber Gott, die von der Arbeitsgruppe als möglicherweise relevant identifiziert wurden. Eine weitere explorative Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation über die Daten der diesmal nicht nach Religiosität differenzierten Probanden zeigte eine dreifaktorielle Struktur (Varianzaufklärung 74%). Es ergaben sich ein Faktor, der positive Gefühle gegenüber Gott beschreibt, und zwei Faktoren, die unterschiedliche negative Gefühle gegenüber Gott beschreiben. Einer dieser beiden Faktoren bildete mit den Items »Schuld«, »Scham«, »Versagen« eine selbstwertbezogene, passive Komponente ab, während der zweite, negative Gefühle beschreibende Faktor eher auf Gott bezogene, aktivere Gefühle abbildete, wie beispielsweise »Ärger« oder »Zorn«. Um zu überprüfen, ob die Gefühle gegenüber Gott besser durch eine drei- oder zweifaktorielle Lösung abgebildet werden, wurden die vielversprechendsten Items des Itempools aus beiden Untersuchungen zu einer Skala mit 21 Items zusammengefügt. Diese wurden einer weiteren, ebenfalls nicht nach Religiosität differenzierten Stichprobe vorgelegt (Stichprobe 3, vgl. . Tab. 8.1). Auch in dieser Stichprobe bestätigte sich die dreifaktorielle Struktur des Konstrukts »Gefühle gegenüber Gott«. Die drei ermittelten Faktoren klärten 76% der Varianz in den Gefühlen gegenüber Gott auf und lassen sich inhaltlich genauso interpretieren wie in Stichprobe 2. In einer belgischen Studie zum Gottesbild fand eine 17 Items enthaltende niederländische Version des Fragebogens zur Gottesbeziehung Verwendung an einer Validierungsstichprobe von 804 teilweise psychotherapeutisch behandelten Personen
8
(Schaap-Jonker et al. 2008). Auch hier fanden sich die drei oben beschriebenen Faktoren. z
»Verhalten Gottes«
Einen anderen Aspekt der Gottesbeziehung bildet die Skala »Verhalten Gottes« ab, die Verhaltensweisen beschreibt, die die Gläubigen Gott zuschreiben. Es handelt sich also um die kognitive Dimension der Gottesbeziehung bzw. um die subjektive Theologie der Gläubigen. Trotz der naturgemäß hohen Interkorrelationen zwischen den Skalen »Gefühle gegenüber Gott« und »Verhalten Gottes« macht die unabhängige Erfassung dieser Dimensionen Sinn, um die den Emotionen zugrunde liegenden Kognitionen erfassen zu können. Dies ist insbesondere für die Anwendung im klinischen Bereich relevant, wenn z. B. in der Seelsorge bestimmte religiöse Kognitionen bearbeitet und thematisiert werden. Petersen (1993) hat die Skala »Verhalten Gottes« in einer 19 Item-Version eingesetzt und drei Faktoren identifiziert: »Hilfreiches und unterstützendes Verhalten Gottes« (Faktor 1), »Herrschen und Strafen Gottes« (Faktor 2) und »Passivität Gottes« (Faktor 3). Die von Petersen verwendete Skala wurde leicht verändert und um einige Items ergänzt (23-Item-Version) in der bereits erwähnten Studie von Murken (1998) eingesetzt (Stichprobe 1, vgl. . Tab. 8.1). Murken konnte an seiner nach Religiosität differenzierten Stichprobe in einer explorativen Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation die von Petersen postulierte dreifaktorielle Struktur bestätigen. Um den Fragebogen auch in anderen Stichproben als kurzes und valides Instrument einsetzen zu können, sollten die drei Skalen mit 11, 7 und 5 Items einheitlich auf 5 Items gekürzt werden. Hierfür wurden die 5 ladungsstärksten Items je Skala ausgewählt. Darüber hinaus sollte an einer weiteren Stichprobe überprüft werden, ob sich die drei Faktoren auch in einer nicht nach Religiosität differenzierten Gesamtstichprobe replizieren lassen würden. Die durch die Kürzung um 8 Items neu entstandene 15-Item-Version wurde dementsprechend in einem weiteren Projekt der Arbeitsgruppe Religionspsychologie eingesetzt (Stichprobe 3, vgl. . Tab. 8.1). Die dreifaktorielle Struktur bestätigte sich auch in dieser nicht nach Religiosität differenzierten Stichprobe, allerdings wiesen die
80
Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
Items »Gott bestraft« und »Gott herrscht« Doppelladungen auf den beiden Faktoren »Hilfreiches und unterstützendes Verhalten« und »Herrschen und Strafen« auf. In der bereits erwähnten belgischen Stichprobe zum Gottesbild (Schaap-Jonker et al. 2008) wurde eine Version mit 16 Items eingesetzt. In dieser Stichprobe fand sich ebenfalls die dreifaktorielle Struktur. z
8
»Religiöses Coping«
Seit Beginn der 1990er Jahre wurde durch die Arbeiten von Kenneth Pargament und seinem Team (z. B. Pargament 1990; Pargament 1998; Pargament et al. 1992; Pargament et al. 1994) das Konzept des religiösen Copings populär. In Anlehnung an das Coping-Modell von Lazarus und Folkmann (1984) werden Religion und Religiosität in den Verarbeitungsprozess verschiedenster Anforderungen miteinbezogen. Religiöse Emotionen, Kognitionen oder Verhaltensweisen, religiöse Gemeinschaft oder religiöse Heilserwartungen können dabei wirksam sein. Im Zuge dieser Forschungen zeigte sich jedoch, dass nicht jede Art religiösen Copings adaptiv im Sinne psycho-sozialer Anpassung ist. Entsprechend entstand die Unterscheidung zwischen »positivem religiösen Coping« (religiöse Merkmale, die die psychosoziale Anpassung eher begünstigen) und »negativem religiösen Coping« (religiöse Merkmale, die die psychosoziale Anpassung eher behindern). Dabei betont Pargament, dass unter den Beschreibungen als »positiv« und »negativ« keine normativen Wertungen verstanden werden, sondern die Beschreibung von Wirkrichtungen im Bezug auf psychosoziale Anpassungsfaktoren. Ausgehend vom umfangreichen Itempool Pargaments (RCOPE; Pargament, Koenig u. Perez 2000) haben wir einen für die deutsche religiöse Situation angemessenen Itempool zum religiösen Coping entwickelt (vgl. Müller 2008, 105–106). Die Konstruktion der Skala erfolgte aufgrund theoretischer Überlegungen zu den Mechanismen, die beim Coping eine Rolle spielen. Diese Mechanismen entstammen unterschiedlichen Bereichen, teilweise mit religionspsychologischem Hintergrund (Verhaltens-, Kohärenz-/Coping-, Kohäsions- und Selbstwerthypothese, vgl. Murken 1998; Schowalter u. Murken 2003), teilweise mit Bezug
zur allgemeinen Copingforschung (Kontrolle, Ressourcenaktivierung, Rumination/depressive Verarbeitung und Selfdisclosure/Selbstöffnung). Die beiden Mechanismen »Emotionale Unterstützung durch den Glauben« und »Strafe« wurden ebenfalls integriert. Insgesamt wurden 10 Mechanismen identifiziert, die für das religiöse Coping eine Rolle spielen. Zu diesen 10 Bereichen religiösen Copings wurden jeweils 2 verhaltens- und 2 erlebensorientierte Items formuliert. Die so entstandene Skala wurde Stichprobe 2 vorgelegt (vgl. . Tab. 8.1). In einer explorativen Faktorenanalyse mit VarimaxRotation über die 40 Items ergaben sich drei Faktoren religiösen Copings: positives und negatives religiöses Coping sowie eine sozial unterstützende Komponente religiösen Copings. Einer weiteren Stichprobe (Stichprobe 3, vgl. . Tab. 8.1) wurden aus dem zunächst entwickelten Copingfragebogen 23 Items vorgelegt (die 11 am höchsten auf dem Faktor »positives religiöses Coping« ladenden Items, die 7 auf dem Faktor »negatives religiöses Coping« und die 4 auf dem Faktor »soziale Unterstützung« ladenden Items), die in Anlehnung an Pargaments Skala um 12 weitere Items verstärkt wurden. Auch in der explorativen Faktorenanalyse mit VarimaxRotation für diese Stichprobe ergab sich ein stabiler Faktor »positives religiöses Coping«. Darüber hinaus ergaben sich drei weitere Faktoren mit einem Eigenwert > 1. Inhaltlich stellten die Faktoren zwei und drei das Konstrukt »negatives religiöses Coping« dar, wobei Ersterer eher die Dimension »strafender Gott« abbildete, während Letzterer die Dimension »Leiden und Geprüftwerden« abbildete. Drei der vier auf dem vierten Faktor ladenden Items wiesen zahlreiche und relativ hohe Doppelladungen mit den übrigen drei Faktoren auf. Daher wurde der vierte Faktor nicht interpretiert. Es zeigte sich, dass die Hinzunahme der 12 Items, die in Anlehnung an Pargament formuliert worden waren, keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn brachte. 8 der neuen Items luden (mit einer Ausnahme) niedriger auf dem Faktor »positives religiöses Coping« als die bestehenden Items aus Stichprobe 2. Die übrigen 4 Items bildeten den nicht zu interpretierenden 4. Faktor. Die Items, die in der für Stichprobe 2 durchgeführten Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation auf dem Faktor »soziale Unterstützung« luden, luden in Stichprobe 3 ausschließlich
81
8.5 • Die Items
auf dem Faktor »positives religiöses Coping«. Aus der zweiten Studie zum religiösen Coping ließ sich folgendes Fazit ziehen: Neue Items brachten keine zusätzliche Aufklärung und der Faktor »soziale Unterstützung« ließ sich nicht replizieren, sondern ging im Faktor »positives religiöses Coping« auf. Um mehr über die Struktur des religiösen Copings zu erfahren, wurden die Daten für die Items, die sowohl in Stichprobe 2 als auch in Stichprobe 3 enthalten waren, zu einer Stichprobe zusammengefügt (nicht in . Tab. 8.1 enthalten). In der durchgeführten Faktorenanalyse fanden sich nun 2 Faktoren: »positives« und »negatives religiöses Coping«. Die 4 Items zur sozialen Unterstützung gingen also wieder im Faktor »positives religiöses Coping« auf. Dementsprechend wurden die Items zur sozialen Unterstützung für die nächste Untersuchung aus dem Itempool entfernt. Auch in dieser Stichprobe (Stichprobe 4, vgl. . Tab. 8.1) bestätigte sich die zweifaktorielle Struktur des Konstrukts.
8.4
Methode
Die hier vorgestellten Skalen wurden – wie oben dargestellt – seit 1994 in verschiedenen Studien eingesetzt und schrittweise optimiert. Tabelle 8.1 zeigt eine Übersicht über die durchgeführten Studien zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping. Die erste Stichprobe besteht aus 465 psychosomatischen Patienten, die in den Jahren 1994 und 1995 befragt wurden. In dieser Stichprobe wurden die Skalen »Gefühle gegenüber Gott« und »Verhalten Gottes« eingesetzt. Im Jahre 2003 wurde eine modifizierte Skala der »Gefühle gegenüber Gott« in einer Stichprobe von Brustkrebspatientinnen und Kontrollpersonen verwendet (Stichprobe 2, N = 281). Zusätzlich wurde eine neu konstruierte Skala zum religiösen Coping eingesetzt, die das religiöse Bewältigungsverhalten der Brustkrebspatientinnen erfasste. In einer 2005/2006 an 175 Schmerzpatienten durchgeführten Studie (Stichprobe 3) fanden alle bisher verwendeten Skalen in abgewandelter und optimierter Form erneut Verwendung. Abschließend erfolgte der Einsatz der Skala »Religiöses Coping« 2006 in einer Stichprobe von 60 Trauernden, die in den letzten Monaten einen nahe stehenden Menschen verloren hatten (Stichprobe
8
4). Tabelle 8.1 (. Tab. 8.1) liefert einen Überblick über die von 1994 bis 2006 durchgeführten Studien und zeigt die Ergebnisse der Studien hinsichtlich der Struktur der untersuchten Merkmale. Die Erfahrungen mit der Verwendung der verschiedenen Skalen in den unterschiedlichen Studien führte zur Entwicklung einer endgültigen Skala zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping. Zu diesem Zweck wurden die Daten der unterschiedlichen Stichproben für die jeweiligen Skalen aggregiert (vgl. . Tab. 8.1, »Konstruktionsstichprobe«), um der endgültigen Skalenkonstruktion eine möglichst heterogene und umfangreiche Gesamtstichprobe zugrunde zu legen. Die so entwickelten Skalen wurden abschließend an einer weiteren Stichprobe (vgl. . Tab. 8.1, »Validierungsstichprobe«) kreuzvalidiert. Tabelle 8.2 (. Tab. 8.2) zeigt die soziodemographischen Merkmale sowohl der Konstruktions- als auch der Validierungsstichprobe. Die Validierungsstichprobe wurde im Rahmen einer Studie zum religiösen Coping bei colorectalem Carzinom erhoben und umfasst sowohl die Untersuchungsgruppe als auch eine altersparallelisierte Kontrollgruppe.
8.5
Die Items
Zur Konstruktion der endgültigen Skala »Gefühle gegenüber Gott« wurden die 21 in Stichprobe 3 verwendeten Items eingesetzt. Für den Einsatz an der Validierungsstichprobe wurden von den Subskalen (vgl. Ergebnisse zu »Gefühle gegenüber Gott«) jeweils die 5 Items mit der höchsten Ladung auf dem entsprechenden Faktor ausgewählt. Der letzte Faktor bestand nur aus 3 Items. Da die Skala einheitlich 5 Items pro Subskala umfassen sollte, wurden den Items »Enttäuschung«, »Ärger« und »Wut« noch die Items »Zorn« und »Verachtung« hinzugefügt. Die so entstandene 15-Item-Version wurde dann an der Validierungsstichprobe kreuzvalidiert. Die Überprüfung der Struktur erfolgte anhand einer konfirmatorischen Faktorenanalyse. Für das »Verhalten Gottes« lagen aus den Stichproben 1 und 3 Daten vor. Die 15 in Stichprobe 3 verwendeten Items waren die mit der jeweils höchsten Ladung auf den 3 Faktoren aus Stichprobe 1. Für die Konstruktionsstichprobe wurden daher die Daten
82
Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
. Tab. 8.2 Soziodemographische Merkmale der Untersuchungspopulationen
Alter
Geschlecht
Familienstand
8 Schulabschluss
Konfession
Konstruktionsstichprobe »Gefühle gegenüber Gott« (N = 175)
Konstruktionsstichprobe »Verhalten Gottes« (N = 640)
Konstruktionsstichprobe »Religiöses Coping« (N = 516)
Validierungsstichprobe (N = 661)
Mittelwert
48.99
42.27
53.04
64.79
Streuung
8.62
10.90
10.35
8.61
Spanne
23–67
17–67
20–83
26–88
männlich
83 (47.4 %)
201 (31.4 %)
96 (18.6 %)
323 (48.9 %)
weiblich
97 (52.6 %)
439 (68.6 %)
420 (81.4 %)
338 (51.1 %)
ledig
19 (10.9 %)
–
57 (11.0 %)
57 (8.6 %)
verheiratet
125 (71.4 %)
–
339 (65.7 %)
432 (65.4 %)
geschieden/ getrennt
26 (14.9 %)
–
66 (12.8 %)
72 (10.9 %)
verwitwet
5 (2.9 %)
–
53 (10.3 %)
97 (14.7 %)
kein Schulabschluss
2 (1.1 %)
12 (1.9 %)
5 (1.0 %)
4 (0.6 %)
Sonderschulabschluss
0 (0 %)
4 (0.6 %)
2 (0.4 %)
0 (0 %)
Haupt-/Volksschulabschluss
110 (62.9 %)
293 (45.8 %)
260 (50.4 %)
245 (37.1 %)
Realschulabschluss/mittlere Reife/ polytechn. Oberschule
36 (20.6 %)
128 (20.0 %)
132 (25.6 %)
162 (24.5 %)
Fachabitur/ Abitur
22 (12.6 %)
84 (13.1 %)
98 (19.0 %)
229 (34.6 %)
Sonstiges
5 (2.9 %)
7 (1.1 %)
17 (3.3 %)
17 (2.6 %)
römisch- katholisch
81 (46.3 %)
286 (44.7 %)
239 (46.3 %)
240 (36.6 %)
evangelisch
57 (32.6 %)
206 (32.2 %)
186 (36.0 %)
264 (40.2 %)
andere christliche
7 (4.0 %)
31 (4.8 %)
20 (3.9 %)
16 (2.4 %)
andere Religionsgemeinschaft
0 (0 %)
5 (0.8 %)
2 (0.4 %)
1 (0.2 %)
noch nie einer Religionsgemeinschaft angehört
5 (2.9 %)
21 (3.3 %)
14 (2.7 %)
7 (1.1 %)
ausgetreten aus Religionsgemeinschaft
24 (13.7 %)
85 (13.3 %)
52 (10.1 %)
128 (19.5 %)
Anmerkung: Differenzen zu 100 % ergeben sich aus fehlenden Angaben.
8
83
8.6 • Ergebnisse
. Tab. 8.3 Mittelwerte und Standardabweichung der Skalen für die Stichproben Skalenbezeichnung
Konstruktionsstichprobe
Validierungsstichprobe
N
Mittelwert
SD
N
Mittelwert
SD
Gefühle gegenüber Gott – positiv
172
2.70
1.29
633
2.97
1.27
Gefühle gegenüber Gott – negativ, auf Selbst bezogen
172
1.92
0.99
630
1.85
0.79
Gefühle gegenüber Gott – negativ, auf Gott bezogen
172
1.91
0.91
629
1.63
0.69
Verhalten Gottes – hilfreich und unterstützend
638
3.04
1.35
631
3.16
1.31
Verhalten Gottes – herrschend und strafend
638
2.12
1.00
635
1.90
0.83
Verhalten Gottes – passiv
637
2.34
0.99
624
2.44
1.01
religiöses Coping – positives
505
2.66
1.33
636
2.55
1.42
religiöses Coping – negatives
505
1.84
0.91
635
1.54
0.81
Anmerkung: Skalenmittelwerte, Angabe erfolgte auf einer fünfstufigen Skala von 1 bis 5 (Gefühle gegenüber Gott: nie bis sehr oft; Verhalten Gottes: gar nicht bis sehr; religiöses Coping: nicht bis völlig).
der beiden Stichproben aggregiert und über die 15 in beiden Stichproben vorliegenden Items eine explorative Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation gerechnet. Auch für diese Skala erfolgte die Überprüfung der Struktur an der Validierungsstichprobe mittels konfirmatorischer Faktorenanalyse. Die Skala »Religiöses Coping« wurde anhand der 18 Items gebildet, die übereinstimmend in den Stichproben 2, 3 und 4 vorlagen (Gründe für variierende Item-Zahl, s. Abschnitt »Religiöses Coping«). Für die endgültige Skalenbildung wurden die unterschiedlich langen Subskalen (11 und 7 Items) den Faktorladungen entsprechend auf 2 mal 6 Items gekürzt und in der Validierungsstichprobe eingesetzt. Auch für diese Skala erfolgte anschließend eine konfirmatorische Faktorenanalyse.
8.6
z
Ergebnisse Deskriptive Daten
Mittelwerte und Standardabweichungen für die einzelnen Subskalen in den beiden Stichproben sind in Tabelle 8.3 (. Tab. 8.3) abgebildet.
8.6.1
Ergebnisse der explorativen Faktorenanalysen
Für die »Gefühle gegenüber Gott« ergab eine explorative Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation die 3 bereits zuvor identifizierten Faktoren. 10 der 21 Items luden mit Faktorladungen von 0.92 bis 0.70 auf dem Faktor »positive Gefühle gegenüber Gott«. 8 der Items luden mit Ladungen zwischen 0.79 und 0.52 auf dem Faktor »negative, auf das Selbst bezogene Gefühle gegenüber Gott«. Die 3 Items mit der niedrigsten Ladung auf diesem Faktor zeigten allerdings Doppelladungen mit dem 3. Faktor. Dieser wurde von 3 Items konstituiert (Faktorladungen von 0.75 bis 0.84), die sich als »negative, auf Gott bezogene Gefühle« interpretieren lassen. Erwartungsgemäß zeigten sich auch in der an der Validierungsstichprobe durchgeführten explorativen Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation 3 Faktoren mit jeweils 5 Items (. Tab. 8.4). Für das »Verhalten Gottes« ergaben sich für die Konstruktionsstichprobe dieselben 3 Faktoren mit denselben Items wie in den beiden Einzelstichproben. Die Faktorladungen reichten von 0.89 bis 0.92 für den Faktor »hilfreich und unterstützend«. Die
84
Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
. Tab. 8.4 Item-Skalenzuordnung
8
Skalenbezeichnung
Itemzahl
Items
Gefühle gegenüber Gott – positiv
5
»Vertrauen«, »Geborgenheit«, »Zufriedenheit«, »Dankbarkeit«, »Liebe«
Gefühle gegenüber Gott – negativ, auf Selbst bezogen
5
»Furcht«, »Versagen«, »Scham«, »Angst«, »Schuld«
Gefühle gegenüber Gott – negativ, auf Gott bezogen
5
»Zorn«, »Wut«, »Verachtung« »Enttäuschung«, »Ärger«
Verhalten Gottes – hilfreich und unterstützend
5
Gott »…gibt Sicherheit«, »…begleitet«, »…gibt Trost«, »…ist verlässlich«, »…beschützt«
Verhalten Gottes – herrschend und strafend
5
Gott »…löst Katastrophen aus«, »…bestraft«, »…schickt zur Hölle«, »…übt Macht aus«, »…herrscht«
Verhalten Gottes – passiv
5
Gott »… überlässt Menschen sich selbst«, »… lässt allem seinen Lauf«, »… mischt sich nicht ein«, »… greift nicht ein«, »… hat kein Interesse an der Welt«
religiöses Coping – positives
6
»Durch meinen Glauben finde ich Trost und Hoffnung.« »Ich fühle mich mit allem, was ich vor Gott bringe, gut bei ihm aufgehoben.« »Mein Glaube gibt mir Sicherheit, wenn ich entscheiden muss, wie ich mich verhalten soll.« »Durch meinen Glauben gelingt es mir, meine Kräfte und Möglichkeiten besser zu aktivieren.« »Mein Glaube hilft mir auch in scheinbar auswegslosen Situationen einen Sinn zu sehen.« »Gott zeigt mir die Richtung für mein Leben.«
religiöses Coping – negatives
6
»Ich frage mich immer wieder, warum Gott mich im Stich lässt.« »Ich frage mich, warum Gott mich so hart prüft.« »Ich frage Gott immer wieder, warum gerade mir so viel Leid geschieht.« »Ich frage mich, ob meine Situation eine Strafe Gottes für meine Fehler ist.« »Gott geht manchmal hart mit mir ins Gericht.« »Manchmal kommt es mir vor, als würde Gott mich strafen.«
Ladungen auf dem zweiten Faktor (»herrschend und strafend«) reichten von 0.70 bis 0.78; für den letzten Faktor (»passiv«) schließlich betrugen die Faktorladungen zwischen 0.64 und 0.80. Auch in der explorativen Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation, die an der Validierungsstichprobe durchgeführt wurde, zeigten sich die 3 Faktoren mit jeweils 5 Items (. Tab. 8.4). Auch für das religiöse Coping ließen sich die beiden angenommenen Subskalen in der Konstruktionsstichprobe finden. Die Faktorladungen reichten hier von 0.86 bis 0.92 für das positive religiöse Coping und von 0.70 bis 0.84 für das negative
religiöse Coping. Die gekürzte 2-mal-6-Item-Version, die an der Validierungsstichprobe eingesetzt wurde, zeigte ebenfalls die zweifaktorielle Struktur mit einer negativen und einer positiven Komponente (. Tab. 8.4).
8.6.2
Item- und Testkennwerte
Die Item- und Testkennwerte der Skalen sind in Tabelle 8.5 (. Tab. 8.5) abgebildet. Die internen Konsistenzen aller Subskalen sind als gut zu bewerten. Die Werte liegen zwischen 0.76 und 0.97 und damit
8
85
8.6 • Ergebnisse
. Tab. 8.5 Item- und Testkennwerte Skala
Faktorladungen (Range) rotiert
Itemtrennschärfe
Itemschwierigkeiten
Cronbachs α
Gefühle gegenüber Gott– positiv
0.89–0.94
0.85–0.92
0.45–0.55
0.96
Gefühle gegenüber Gott–negativ, auf Selbst bezogen
0.72–0.77
0.69–0.73
0.17–0.27
0.87
Gefühle gegenüber Gott– negativ, auf Gott bezogen
0.58–0.89
0.47– 0.77
0.06–0.25
0.84
Verhalten Gottes – hilfreich und unterstützend
0.89–0.90
0.84–0.88
0.52–0.58
0.95
Verhalten Gottes –herrschend und strafend
0.67–0.74
0.45–0.57
0.11–0.31
0.76
Verhalten Gottes – passiv
0.62–0.78
0.47–0.64
0.26–0.40
0.79
religiöses Coping – positives
0.92–0.95
0.89–0.94
0.36–0.42
0.97
religiöses Coping – negatives
0.73–0.88
0.68–0.83
0.10–0.16
0.91
bis auf die Werte 0.76 und 0.79 im mittleren bis hohen Bereich (Bühner 2006). Die Itemschwierigkeiten sind vor allem in den Skalen unzureichend, die ein negatives Gottesbild bzw. negatives religiöses Coping beschreiben. Die Werte sind sehr niedrig (optimale Itemschwierigkeiten um 0.5; pi=.20 bis pi=.80 für brauchbare Items nach Lienert 1989) und weisen damit auf eine Antworttendenz nach unten hin. Verantwortlich hierfür ist vermutlich eine Art »Gott ist gut«-Stereotyp. Trotz der niedrigen Itemschwierigkeiten der Dimensionen »negative Gefühle«, »Verhalten Gottes – herrschend und strafend« und »negatives religiöses Coping« zeigt sich in Studien allerdings immer wieder der starke prädiktive Wert dieser Dimensionen (s. z. B. Exline, Yali u. Lobel 1999; Exline, Yali u. Sanderson 2000; Müller 2008; Murken 1998). Werden Fragestellungen zur Bedeutsamkeit von Religiosität bearbeitet, sollte nicht auf die Miterhebung der negativ konnotierten Bereiche verzichtet werden (vgl. Pargament, Smith, Koenig u. Perez 1998). Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Negativskalen im unteren Bereich nicht mehr optimal differenzieren. Um genügend inhaltliche Breite in den Skalen zu erhalten, wurden alle Items beibehalten. Die ausreichend guten Trennschärfen der betreffenden Items und ihre
Konzeption als Einschätzung von Tendenzen (nicht als »Richtig-oder-falsch-Items«) rechtfertigen diese Entscheidung. Skalen, die ein positives bzw. passives Gottesbild erfassen, weisen die erwünschten mittleren Itemschwierigkeiten und durchwegs hohe Itemtrennschärfen auf. Die hohen mittleren Interkorrelationen der Skalen mit Werten bis zu 0.84 sind auf die inhaltliche Nähe der Konstrukte zurückzuführen (. Tab 8.6).
8.6.3
Ergebnisse der konfirmatorischen Faktorenanalyse
Die vorgestellten Skalenlösungen wurden schließlich einer konfirmatorischen Faktorenanalyse unterzogen, um die Passung des Modells auf empirisch gewonnene Daten abzusichern. Da die einzelnen Variablenfunktionen nicht normalverteilt sind, aber große Stichproben vorliegen, wurde als Schätzfunktion die Weighted-Least-Squares-Schätzung gewählt (Emrich 2004; Reinecke 2005; Stichprobenumfang von mindestens 1.5k(k + 1) mit k = Anzahl der einbezogenen Variablen, Baltes-Götz 1994). Da die untersuchten Subskalen nicht un-
86
Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
. Tab 8.6 Interkorrelation der Skalen Skalenbezeichnung
1
2
3
4
5
6
7
8
1 Gefühle gegenüber Gott – positiv
8
2 Gefühle gegenüber Gott – negativ, auf Selbst bezogen
0.46**
3 Gefühle gegenüber Gott – negativ, auf Gott bezogen
0.16**
0.59**
4 Verhalten Gottes – hilfreich und unterstützend
0.84**
0.39**
0.12**
5 Verhalten Gottes – herrschend und strafend
0.29**
0.50**
0.43**
0.34**
6 Verhalten Gottes – passiv
-0.16**
0.02
0.19**
-0.16**
0.10*
7 religiöses Coping – positives
0.83**
0.39**
0.05
0.77**
0.22**
-0.24**
8 religiöses Coping – negatives
0.25**
0.43**
0.39**
0.22**
0.34**
-0.05
0.29**
* p < .05, ** p < .01
. Tab 8.7 Ergebnisse Konfirmatorischer Faktorenanalysen (Validierungsstichprobe, s. Tabelle 8.1) mit LISREL 8.8 Fit-Indizes
N
df
Χ²
P
SRMR
CFI
RMSEA
»Gefühle gegenüber Gott«
661
87
430.859
< 0.001
0.172
0.990
0.077
»Verhalten Gottes«
661
87
437.910
< 0.001
0.146
0.966
0.078
»Religiöses Coping«
661
53
180.121
< 0.001
0.128
0.996
0.060
Skala
N = Stichprobengröße, df = Freiheitsgrade, Χ² = Chi-Quadrat-Größe, p = Signifikanz, SRMR = Standardized-Root-MeanResidual, CFI = Comparative-Fit-Index, RMSEA = Root-Mean-Square-Error of Approximation
abhängig voneinander sind, wurden in den konfirmatorischen Faktorenanalysen Interkorrelationen der latenten Variablen – im Sinne abhängiger Faktorenmodelle – zugelassen (Interkorrelationen der Subskalen, . Tab 8.6). Die Χ²-Werte (. Tab 8.7) bestätigten den Modellfit nicht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass ein solcher Test bereits ab Stichprobengrößen um N = 200 unangemessen schnell signifikant wird. Somit kann er bei zu großen Stichproben nicht mehr interpretiert werden (vgl. Backhaus, Erichson, Plinke u. Weiber 2003; Emrich 2004). Dementsprechend wurden drei weitere Fit-
Indizes und deren Cut-Off-Werte hinzugezogen (vgl. Bühner 2006). Bezüglich des SRMR (Standardized-Root-Mean-Residual-Index, ≤.11, vgl. Bühner 2006) weisen alle drei Skalenlösungen ungünstige Werte auf. Die Skalenlösungen erfüllen jedoch das Kriterium des CFI (Comparative-Fit-Index, >.90, vgl. Emrich 2004). Ebenso zeigt die RMSEA (Root-Mean-Square-Error of Approximation, 0.05-0.08, vgl. Emrich 2004) bei allen drei Skalen zwar einen mäßigen, jedoch stabilen Fit an (. Tab 8.7). Für eine abschließende Beurteilung einer Faktorenlösung ist neben der Modellgüte auch die
87
8.6 • Ergebnisse
8
. Tab. 8.8 Aufteilung der Items auf die Subskalen (Sub-)Skala
Items
Verhalten Gottes Hilfreiches und unterstützendes Verhalten Gottes
1.1, 1.4, 1.7, 1.10, 1.13
Herrschen und Strafen Gottes
1.2, 1.5, 1.8, 1.11, 1.14
Passivität Gottes
1.3, 1.6, 1.9, 1.12, 1.15
Gefühle gegenüber Gott Positive Gefühle gegenüber Gott
2.1, 2.5, 2.10, 2.12, 2.13
Negative Gefühle gegenüber Gott (bezogen auf Selbst)
2.2, 2.3, 2.7, 2.8, 2.9
Negative Gefühle gegenüber Gott (bezogen auf Gott)
2.4, 2.6, 2.11, 2.14, 2.15
Religiöses Coping Positives religiöses Coping
3.5, 3.6, 3.7, 3.10, 3.11, 3.12
Negatives religiöses Coping
3.1, 3.2, 3.3, 3.4, 3.8, 3.9
. Tab. 8.9 1. Wenn Sie sich Gott vorstellen, fallen Ihnen wahrscheinlich auch Eigenschaften und Verhaltensweisen ein, die Sie mit Gott verbinden. Bitte geben Sie an, wie sehr die einzelnen Aussagen mit Ihren ganz persönlichen Vorstellungen von Gott übereinstimmen Gott …
Diese Aussage stimmt…
gar nicht
wenig
mittel
ziemlich
sehr
1.1 …begleitet
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.2 …bestraft
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.3 …überlässt die Menschen sich selbst
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.4 …beschützt
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.5 …herrscht
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.6 …lässt allem seinen Lauf
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.7 …gibt Sicherheit
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.8 …löst Katastrophen aus
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.9 …mischt sich nicht ein
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.10 …gibt Trost
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.11 …übt Macht aus
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.12 …greift nicht ein
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.13 …ist verlässlich
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.14 …schickt zur Hölle
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
1.15 …hat kein Interesse an der Welt
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
88
Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
. Tab. 8.10 2. Bei den folgenden Fragen geht es um Ihre Gefühle Gott gegenüber. Bitte kreuzen Sie an, wie oft Sie diese Gefühle erleben
8
Wie oft erleben Sie dieses Gefühl Gott gegenüber?
nie
selten
gelegentlich
oft
sehr oft
2.1 Liebe
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.2 Furcht
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.3 Schuld
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.4 Ärger
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.5 Geborgenheit
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.6 Enttäuschung
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.7 Scham
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.8 Angst
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.9 Versagen
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.10 Zufriedenheit
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.11 Wut
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.12 Dankbarkeit
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.13 Vertrauen
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.14 Zorn
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
2.15 Verachtung
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
inhaltliche Plausibilität heranzuziehen (Reinecke 2005). Alle hier vorgestellten Skalen gehen auf eine fundierte theoretische Vorarbeit und umfangreiche praktische Forschungserfahrung zurück. Sie sind theoretisch begründbar und haben sich in der Anwendung bewährt. Die konfirmatorische Faktorenanalyse, die zur statistischen Absicherung durchgeführt wurde, weist ebenso auf einen mittleren Fit zwischen Modell und Datenstruktur hin. Somit kann das Modell tendenziell bestätigt und die statistische Integrität der Skalen, wenn auch nicht ohne Vorbehalte, in Zukunft von Anwendern vorausgesetzt werden.
8.7
geführt, die die affektive, kognitive und praktische Relevanz der Gottesbeziehung einer Person abbilden. Der seperate Einsatz einzelner Subskalen ist grundsätzlich möglich. Die im vorliegenden Artikel erläuterte Evaluation der Skalen sowie ihre Adaption für den niederländischen Sprachraum (Schaap-Jonker et al. 2008), haben die Reliabilität und Validität der Skalen bestätigt. Somit steht nun ein Instrument zur Verfügung, das sowohl für die Forschung als auch – beispielsweise als Screeningtest – für die Praxis geeignet scheint. Es wäre wünschenswert, dass es in vielfältigen Untersuchungen zum Einsatz kommt und so theoretisch wie praktisch weiterentwickelt werden kann.
Diskussion Durchführung
Die schrittweise Entwicklung des Fragebogens zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping hat zur Bildung von 8 Skalen (zusammen 42 Items)
In den . Tab 8.9–8.11 finden sich die Items zu den in diesem Artikel vorgestellten Skalen zur Gottesbe-
8
89
8.7 • Diskussion
. Tab. 8.11 3. Nun geht es darum, genauer zu erfahren, ob Ihr persönlicher Glaube für Ihren Umgang mit sehr schwierigen Situationen eine Rolle spielt. Wenn Ihr Glaube für den Umgang mit sehr schwierigen Situationen keine Rolle spielt, kreuzen Sie bitte immer die Antwort »nicht« an. Bitte schätzen Sie bei den folgenden Aussagen ein, wie stark die jeweilige Aussage zutrifft. Diese Aussage stimmt…
nicht
ein wenig
teilweise
ziemlich
völlig
3.1 Ich frage Gott immer wieder, warum gerade mir so viel Leid geschieht.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.2 Ich frage mich, warum Gott mich so hart prüft.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.3 Ich frage mich, ob meine Situation eine Strafe Gottes für meine Fehler ist.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.4 Ich frage mich immer wieder, warum Gott mich im Stich lässt.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.5 Mein Glaube gibt mir Sicherheit, wenn ich entscheiden muss, wie ich mich verhalten soll.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.6 Durch meinen Glauben gelingt es mir, meine Kräfte und Möglichkeiten besser zu aktivieren.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.7 Mein Glaube hilft mir, auch in scheinbar ausweglosen Situationen einen Sinn zu sehen.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.8 Gott geht manchmal hart mit mir ins Gericht.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.9 Manchmal kommt es mir vor, als würde Gott mich strafen.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.10 Ich fühle mich mit allem, was ich vor Gott bringe, gut bei ihm aufgehoben.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.11 Durch meinen Glauben finde ich Trost und Hoffnung.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
3.12 Gott zeigt mir die Richtung für mein Leben.
❒1
❒2
❒3
❒4
❒5
ziehung und zum religiösen Coping. Je nach Fragestellung können einzelne Skalen (entweder jeweils die drei Subskalen »Gefühle gegenüber Gott« oder »Verhalten Gottes« oder die zwei Subskalen »religiöses Coping«), aber auch der komplette Skalensatz eingesetzt werden (vgl. . Tab. 8.9, . Tab. 8.10, . Tab. 8.11). Abhängig davon, ob die persönliche Beziehung zu Gott oder ein durch die Sozialisation vermitteltes Gottesbild abgefragt werden sollen, empfiehlt es sich unter Umständen, eine Filterfrage einzusetzen. Hierfür würde sich beispielsweise folgende in Anlehnung an das Münchner Motivationspsychologische Religiositäts-Inventar (Grom, Hellmeister et al. 1998) formulierte Frage anbieten: »Wenn Sie an eine übermenschliche, höhere Wirklichkeit glauben, die man verschieden bezeichnen kann, z. B. Gott (Allah, Jahwe), höheres Wesen, Göttliches oder Absolutes, dann beantworten Sie bitte die folgenden Fragen. Wenn Sie nicht an eine
solch übermenschliche, höhere Wirklichkeit glauben, gehen Sie bitte weiter zu Frage x«. Gegen die Verwendung einer Filterfrage spricht, dass auch Menschen, die nicht »an Gott glauben«, eventuell etwas über ihn aussagen können. Zur Auswertung der Skalen: Keine Items sind invertiert und die Subskalenscores werden daher durch das einfache Aufsummieren der einzelnen Itemwerte gebildet (vgl. . Tab. 8.8). Fehlende Werte können dann ersetzt werden, wenn pro Subskala nur ein Item fehlt. Für die Ersetzung fehlender Werte stehen unterschiedliche Prozeduren zur Verfügung, beispielsweise das Ersetzen des fehlenden Wertes durch den Mittelwert des Probanden auf der Subskala oder den Subskalenmittelwert des Items. Die Entscheidung für eines dieser Verfahren obliegt dem Untersuchungsleiter.
90
Kapitel 8 • Entwicklung und Validierung der Skalen zur Gottesbeziehung und zum religiösen Coping
Literatur
8
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91
8
93
Spirituelle Erfahrungen und Konzepte Eckart Ruschmann und Elisa Ruschmann
9
94
Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
Im ersten Teil dieses Textes, der beim zweiten Arbeitstreffen der TASK vorgetragen wurde, skizziert Eckart Ruschmann Möglichkeiten der Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität vor dem Hintergrund philosophischer/wissenschaftstheoretischer Überlegungen und dem Bezug von Theorien/Konzepten zu (spirituellen) Erfahrungen. Im zweiten Teil stellt Elisa Ruschmann einen Erfahrungsbegriff vor, der sich auf religionsphilosophische Konzeptionen sowie einen eigenen Beratungsansatz stützt und versucht, den Zusammenhang von konkreter Erfahrung und ihrer Symbolisierung anhand eines Beispiels aus dem spirituellen Kontext zu veranschaulichen.
9.1
9
Eckart Ruschmann: Spiritualität und Wissenschaft
Bei der Vorbereitung zu diesem Beitrag hatte ich immer wieder meinen ganz persönlichen Prozess mit diesem Thema vor Augen – im Jahre 1969 hielt ich das erste Heft des »Journal of Transpersonal Psychology« in den Händen (damals war ich Assistent am Institut für Grenzgebiete der Psychologie in Freiburg) und war sehr angesprochen von diesem Versuch, Wissenschaft und Spiritualität zu verbinden. Der Herausgeber, Anthony Sutich, benutzte für seine Definition (die schon ein Jahr zuvor publiziert worden war) zentrale Begriffe, von ihm und Maslow formuliert, die auch heute im Kontext der wissenschaftlichen und persönlichen Beschäftigung mit Spiritualität nach wie vor eine wichtige Rolle spielen, u. a. letzte Werte, Gipfel-Erlebnisse, mystische Erfahrungen, Transzendierung des Selbst, Geist (das Spirituelle), Sakralisierung des Alltagslebens etc. (Sutich 1968, S. 77 f.). Ich engagierte mich dann aktiv in diesem Feld, gründete eine »Gesellschaft für Transpersonale Psychotherapie« und erhielt Anfang der 1980er Jahre die Rechte zur Übersetzung und Publikation der Aufsätze des »Journal of Transpersonal Psychology«. Die Art und Weise, wie sich die Konzepte und Theorien in den folgenden Jahren im Kontext der Transpersonalen Psychologie entwickelten, vor allem unter dem Einfluss von Ken Wilber und Stanislav Grof, entsprachen jedoch zunehmend nicht
mehr meinen Vorstellungen von Wissenschaft; ich zog mich dann aus diesem Feld zurück und gab die Herausgabe der deutschen Zeitschrift für Transpersonale Psychologie wieder auf, nachdem 1982/83 der erste Jahrgang erschienen war (vor allem mit Texten der Gründungspersönlichkeiten Maslow und Sutich). Die von Jorge N. Ferrer im Jahre 2002 vorgelegte kritische Bilanz dieser Entwicklung in den ersten Jahrzehnten der entstehenden »Transpersonalen Psychologie« (Ferrer 2002) entspricht in vielen Aspekten dem, was ich damals empfunden hatte, auch wenn ich es zu dem damaligen Zeitpunkt noch nicht so hätte formulieren können – der wissenschaftstheoretische Hintergrund, der für Ferrer eine wichtige Grundlage seiner Kritik darstellt, war zu diesem Zeitpunkt gerade im Entstehen. So kann ich heute besser ausdrücken, was für mich damals so unbefriedigend war, nachdem ich mich in den 1990er Jahren wieder stärker der Philosophie zuwandte (ich hatte Psychologie und Philosophie als Doppelstudium absolviert) und mich mit Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Hermeneutik befasste. Spirituelle Konzepte und spirituelle Erfahrungen sind die wesentlichen strukturellen Aspekte, die das ausmachen, was unter Spiritualität verstanden wird, und gerade der wechselseitige Bezug von »Theorie« (für das Individuum: persönliche Konzepte/Konstrukte/subjektive Theorien etc.) und »Praxis« im Sinne von Erfahrung (für die Wissenschaft: Empirie) wurde im wissenschaftstheoretischen Kontext der letzten Jahrzehnte kritisch reflektiert und mehrfach revidiert und neu formuliert. Auf dieser Grundlage basiert auch der hier vorgelegte Versuch einer strukturellen Erfassung von Spiritualität, im Unterschied zu inhaltlichen Definitionen, die sich zur Beschreibung bestimmter religiöser oder spiritueller Traditionen eignen, sowie für die Darstellung der eigenen, persönlichen (spirituellen) Weltsicht im Sinne einer individuellen Lebensphilosophie. Hierfür ist ein metatheoretischer Hintergrund wichtig und so werden wir uns im Folgenden auf wissenschaftstheoretische und religionsphilosophische Ansätze stützen, die mit unterschiedlichen Theorien aus einer am Erkenntnisvorgang orien-
9.1 • Eckart Ruschmann: Spiritualität und Wissenschaft
tierten Perspektive umgehen. Definitionen von Spiritualität, auch im wissenschaftlichen Kontext, repräsentieren demgegenüber häufig die persönlichen Anschauungen der Autoren oder der religiösspirituellen Tradition, der sie angehören. Für mich ist die Philosophie, in ihrer systematischen Gestalt, ein sehr guter Rahmen für den Bereich des Spirituellen und der Sinnkonstitution insgesamt, mit angemessenen Metakonzepten. Spirituelle, d. h. transzendenzbezogene und säkulare (humanistische) Weltsichten lassen sich unter strukturellem Gesichtspunkt in gleicher Weise hinsichtlich ihrer Hintergrundannahmen insbesondere zur Ontologie, Metaphysik, Ethik und Anthropologie erfassen und beschreiben, die bei den Prozessen der Sinnstiftung eine primäre Rolle spielen. (Dies habe ich in der 1999 veröffentlichten Arbeit »Philosophische Beratung« versucht, mit der ich mich 2002 an der Universität Klagenfurt für Philosophie habilitiert habe.) Metatheoretische Überlegungen sind vor allem deshalb bedeutsam, weil in Definitionen von »Spiritualität« häufig Aspekte humanistischer Sinnkonstitution (z. B. Verbundenheit mit anderen Menschen sowie der Natur) mit einbezogen sind; insofern ist eine klare Abgrenzung von »Sinnressourcen«, die transzendenzbezogen sind, von solchen, die »horizontal« (»diesseitig«, »immanent«) ausgerichtet sind, von Bedeutung, und dafür bedarf es eines philosophischen/ideengeschichtlichen Hintergrundes. Das Interesse am Thema Spiritualität im wissenschaftlichen Kontext hat in den letzten Jahren sehr zugenommen, zugleich wird dadurch aber auch immer deutlicher, wie unterschiedlich die jeweiligen Vorstellungen und damit auch Definitionen sowie Abgrenzungen sind. Gerade für empirische Untersuchungen sind die jeweils zugrunde gelegten Definitionen relevant, wenn man z. B. den Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit erfassen und quantitativ bestimmen will. Anton A. Bucher kommentiert in seiner »Psychologie der Spiritualität« angesichts der von ihm aufgezählten unterschiedlichen Ansätze und Beschreibungen: »Ein so facettenreiches Konstrukt ist empirisch nicht mehr zu bewältigen.« (Bucher 2007, S. 47)
95
9
So möchte ich im Folgenden die Frage in den Mittelpunkt stellen, welche Rolle für das Thema »Spiritualität« Konzepte und Theorien spielen und in welchen Bezug sie zur Erfahrung gestellt werden können bzw. »sollten«. Gerade für eine Abgrenzung von Spiritualität zur Religion bzw. Religiosität spielt der Erfahrungsbegriff eine große Rolle und es wird teilweise die Auffassung vertreten, Religion und Religiosität seien stärker an Konzepten ausgerichtet (in Form von überlieferten Theorien, als Offenbarungsinhalte bzw. theologische Lehrmeinungen), Spiritualität stärker an unmittelbarer Erfahrung, als »spirituelle Erfahrung«. Viele Menschen verstehen sich allerdings, wenn sie danach gefragt werden, als »religiös und spirituell«. Eine scharfe Abgrenzung zwischen diesen beiden Begriffen ist offenbar nicht möglich und so wird meist (so z. B. auch bei Bucher) von einer Überlappung ausgegangen. Das hat Ralph Steinmann in seinem Buch »Spiritualität – die vierte Dimension der Gesundheit« mit dem Bild zweier sich teilweise überlagernder Kreise dargestellt, die für Spiritualität und Religiosität stehen. Damit kann man, so die Interpretation von Steinmann, extrinsische Religiosität (ohne Überlappung mit »Spiritualität«) und intrinsische (spirituelle) Religiosität von einer Form transkonfessioneller Spiritualität unterscheiden, die dann der Einstufung »spirituell, aber nicht religiös« entsprechen würde (Steinmann 2008, S. 66). Gibt es nun so etwas wie »transkonfessionelle Spiritualität«, die frei ist von religiösen (bzw. theologischen) Konzepten und sich ganz auf die eigene, persönliche Erfahrung und ihr unmittelbares Erfassen einer transzendenten Dimension bezieht? (Ich werde etwas später versuchen, diese Frage zu beantworten.) Ken Wilber verwendet für seine Charakterisierung unterschiedlicher Weisen der spirituellen Entwicklung genau die erwähnte Beschreibung »spirituell, aber nicht religiös« als zutreffend für die dritte der von ihm beschriebenen Stufen:
» Sie wollen die unmittelbare Erfahrung jenseits von Worten und Ideen, eine supramentale, trans-rationale, postkonventionelle Spiritualität mit ihrem unmittelbaren Gewahrsein und ihrem
96
Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
strahlenden Bewusstsein. Sie sind tatsächlich spirituell, aber nicht religiös. Und sie behaupten, sich eines nichtdualen, leeren, offenen, weiträumigen, unendlichen, nicht qualifizierbaren So-Seins … unmittelbar gewahr zu sein (Wilber 2009, S. 131).
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9
Unter der Theorie/Erfahrungs-Perspektive betrachtet ist dies ein theoretischer Text, der ein Konzept von Spiritualität entwickelt, basierend auf einer spezifischen Transzendenzkonzeption, die in diesem Text mit folgenden Worten beschrieben wird: Ein nicht qualifizierbares So-Sein, nichtdual, leer, offen, weiträumig, unendlich. Zugleich setzt der Text voraus, dass diese Qualitäten unmittelbar dem Gewahrsein, also der individuellen Erfahrung, zugänglich sind. Liegt hiermit eine angemessene Beschreibung der Weltsicht von Menschen vor, die spirituell, aber nicht religiös sind, so wie Wilber es darstellt? In jedem Fall repräsentiert der Text eine bestimmte Konzeption von Transzendenz – und die genannten Begriffe sind mir aus ganz spezifischen religiösen bzw. philosophischen geistesgeschichtlich bestimmbaren Zusammenhängen vertraut, etwa das Konzept der Nondualität, der geistesgeschichtlich meist mit dem indischen Begriff »advaita« in Verbindung gebracht wird, insbesondere mit seiner Verwendung im sog. Advaita-Vedânta, einer speziellen und besonders extremen Interpretationslinie in der Vedânta-Tradition. Auch der Begriff der Leere findet sich häufig, oft mit direktem Bezug auf den buddhistischen Begriff shûnyatâ, auch wenn dieser in der buddhistischen Tradition mit den anderen Begriffen eher nicht verbunden werden dürfte.
» Die zentralen Begriffe des Buddhismus (besonders anâtman, shûnyatâ, nirvâna) wurden primär als Zurückweisung vorliegender ‚positiver‘ metaphysischer Aussagen verwendet – entsprechend formulierte Nâgârjuna, der wohl bedeutendste Theoretiker des Shûnyatâ-Konzepts (ca. 2. Jh. nach Chr.): »Die Leerheit wurde von den Buddhas als Zurückweisung jeglicher Ansicht gelehrt. Diejenigen aber, für welche die Leerheit eine Ansicht ist, die wurden für unheilbar erklärt« (Mûlamadhyamakakârikâ 13, 8).
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Andere Begriffe, wie »unendlich« sowie »nicht qualifizierbar« finden sich in vielen religiösen und philosophischen Traditionen als Charakterisierung von Transzendenz. Zu einem solchen Konzept »passen« bestimmte Erfahrungen, wie sie etwa in manchen Meditationsformen beschrieben werden, so dass sich Theorie und Praxis, spirituelles Konzept und spirituelle Erfahrung gegenseitig ergänzen, stützen und vertiefen. Es gibt viele Beispiele dafür, dass Menschen, die sich nacheinander bzw. auch gleichzeitig unterschiedlichen spirituellen bzw. religiösen Konzepten zuwenden, dann auch jeweils entsprechende Erfahrungen machen. Versuche, mit diesen Gegebenheiten auf einer Metaebene umzugehen und dennoch zu einer einheitlichen inhaltlichen Konzeption zu kommen, führen regelmäßig dazu, dass eine bestimmte Hierarchie von Konzepten und Erfahrungen aufgestellt wird, mit entsprechenden Auf- und Abwertungen, und das ist ja auch im Kontext der westlichen Beschäftigung mit Religiosität und Spiritualität immer wieder versucht worden, von William James über Aldous Huxley bis Ken Wilber. Vor diesem Hintergrund erscheint die Annahme einer Form von »transkonfessioneller Spiritualität«, die sozusagen weitgehend frei ist von Konzepten und religiösen bzw. philosophischen Theorien, höchst fragwürdig. Für Tatjana Schnell (im Kontext ihrer Konzeption von »Impliziter Religiosität«) stellt diese Form der Spiritualität, die sich nicht selbst eindeutig einer bestimmten religiösen Tradition zuordnet, eher eine »spezifische Art gegenwärtiger Religiosität« dar, ein subjektiv gestalteter, aktiver Bezug zu einer übergeordneten Wirklichkeit. Den Aspekt der spirituellen Erfahrung beschreibt sie dabei folgendermaßen: »Dieser impliziert eine Bereitschaft zur Selbsttranszendenz, die durch Transzendierungserfahrung initiiert, begleitet oder unterstützt wird.« Die konzeptuelle Ebene ist für sie »durch Idiosynkrasie und Pluralismus gekennzeichnet« (Schnell 2009, S. 52). Wie das zitierte Beispiel von Ken Wilber zeigt, findet sich dabei oft eine multireligiös fundierte bzw. eklektische Form der Bezogenheit auf Transzendenz, wobei Konzepte und Erfahrungen jeweils
9.1 • Eckart Ruschmann: Spiritualität und Wissenschaft
wechselseitig aufeinander bezogen sind. Ähnlich äußert sich der Soziologe Hubert Knoblauch im Kontext seiner Untersuchung von Nahtod-Erfahrungen, die er als »Ausdruck einer sehr zeitgemäßen Form der Spiritualität« bezeichnet.
» Von Spiritualität rede ich nämlich vor allen Dingen deswegen, weil sie einen Zugang zu einer Transzendenz aufgrund der eigenen subjektiven Erfahrung beansprucht. (Knoblauch 1999, S. 199)
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Knoblauch weist auf die große individuelle und kulturelle Unterschiedlichkeit der Nahtod-Erfahrungen hin, wie das für alle Arten spiritueller Erfahrungen der Fall ist. Nun komme ich zur Wissenschaftstheorie und ihren Aussagen zum Verhältnis von Theorie und Empirie, die ich hier für diesen Kontext auf den Prozess der Wissensbildung und Erkenntnisfindung eines Individuums übertragen möchte, entsprechend etwa einer anthropologischen Vorstellung vom »Mensch als Wissenschaftler«, wie sie Kelly (1954) in seiner Theorie persönlicher Konstrukte vorgestellt hat. Macht es Sinn, von einer »letzten Wirklichkeit« zu sprechen, die jenseits von Worten und Ideen, also quasi theorie- und konzeptfrei, unmittelbar erfahrbar ist, wie Wilber das in dem erwähnten Text postuliert? Diesen Aspekt hat Jorge N. Ferrer (2002) in der erwähnten Analyse der transpersonalen Theorien kritisch beleuchtet – er verwendet für einen solchen Standpunkt den Begriff des »Essentialismus«, der im religionswissenschaftlichen Kontext zur Beschreibung von Positionen verwendet wird, die davon ausgehen, dass es nur eine transzendente Wirklichkeit gibt, die sich zwar in verschiedenen Facetten menschlichen Erfassens widerspiegelt, aber dennoch theoretisch rekonstruiert und auch erfahren werden kann, insbesondere in bestimmten Formen mystischer Erfahrung (so z. B. Evelyn Underhill, ähnlich auch William James). Daraus ergibt sich dann eine Konzeption von »Ewiger Philosophie« (lat. »Philosophia perennis«), und so sind »Essentialismus« und »Perennialismus« sozusagen konzeptuelle Geschwister. Auf diese Thematik möchte ich nicht näher eingehen, nur erwähnen,
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dass Ferrer vor dem Hintergrund der neueren Wissenschaftstheorie so argumentiert, dass diese Sichtweise dem vielfältigen Phänomen der Religiosität und Spiritualität in den verschiedenen Kulturen und Zeiten nicht gerecht wird und dass ein solcher Standpunkt auch philosophisch/wissenschaftstheoretisch nicht mehr angemessen vertretbar ist. In der Wissenschaftstheorie bis zu Popper wurde ein Verifikationsprinzip vertreten, dem die Konzeption einer allmählichen Annäherung an »eine Wahrheit« zugrundelag. Der Falsifikationismus (Popper) wies diese Position als logisch nicht haltbar zurück, aber Popper selbst glaubte noch an die eine Wahrheit, der sich die Wissenschaft langsam und allmählich – nun eben auf dem Weg der Falsifikation von empirischen Ergebnissen – schrittweise annähern kann. Der entscheidende wissenschaftstheoretische Schritt, der über den Popperschen Falsifikationismus hinausging (u. a. durch Kuhn, Feyerabend, Lakatos, Sneed, Stegmüller), bestand darin, die starke Theoriegeleitetheit von Erfahrung bzw. Empirie zu erkennen und vor diesem Hintergrund aufzuzeigen, dass zwar Annahmen und Hypothesen, nicht aber weiter gespannte Theorien (als Rahmentheorien mit bestimmten »Kernannahmen«) im eigentlichen Sinne falsifizierbar sind. Der deutsche Wissenschaftstheoretiker Herbert Stachowiak (1980) charakterisiert das so, dass insbesondere umfassende und weitreichende Theorien im Sinne von Hintergrundannahmen »Erkenntnismodelle« darstellen, die Seinsdeutungen und Handlungsorientierungen geben. Er spricht davon, dass sich in der Wissenschaftstheorie ein Liberalisierungsprozess vollzogen hat, der in einen Pragmatismus einmündet, der für den Erkenntnisprozess von einer gewissen Wahlfreiheit in der Konstruktion von Erkenntnis- und Handlungsmodellen ausgeht (Stachowiak 1980, S. 66). Vor dem Hintergrund der dann getroffenen Wahl wird sich die Interpretation konkreter Erfahrungen (für die Wissenschaft: Design und Interpretation von Forschungsprogrammen) unterscheiden. Dabei kann die Qualität von Theorien durchaus unterschiedlich sein, allerdings werden theoretische Annahmen oft noch lange Zeit beibehalten, auch wenn die empirischen Daten sich durch sie nicht (mehr) befriedigend interpretieren lassen.
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Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
Übertragen auf die individuelle Erfahrungswelt bedeutet dies, dass ein Wissen um den Konzeptcharakter unserer Theorien und Vorstellungen die Möglichkeit der Reflexion und Revision erleichtert, so dass wir jederzeit Modifikationen vornehmen können, entweder weil wir neue Erfahrungen gemacht haben, die zu unseren bisherigen Konzepten/Theorien nicht mehr passen oder auch, weil wir neue und für uns deutlich »bessere« Konzepte von anderen kennenlernen, die dann wiederum für uns neue (bzw. neu artikulierte und gedeutete) Erfahrungen ermöglichen. Diese Aussagen können in vergleichbarer Weise auch auf spirituelle, religiöse bzw. metaphysische (philosophische) Konzeptionen (»Theorien«) und persönliche Erfahrungen angewendet werden. Für die Entwicklung einer persönlichen »subjektiven Theorie« in Bezug auf das Spirituelle steht uns heute die philosophische, religiöse bzw. spirituelle Tradition der gesamten Menschheitsgeschichte potentiell zur Verfügung, wobei sich vor allem zwei unterschiedliche Arten der Transzendenzvorstellungen unterscheiden lassen – persönliche und unpersönliche. Je nach den vorliegenden Hintergrunderfahrungen wird somit die Frage, ob Gott Person sei oder unpersönlich, unterschiedlich ausfallen, und entsprechend werden Erfahrungen, die als religiös oder spirituell bezeichnet werden, verschieden gestaltet sein bzw. entsprechend gedeutet werden. Dieses Wissen findet sich auch im Bereich der Spiritualität und ihrer Vertreter, etwa bei dem indischen Heiligen des 19.Jahrhunderts Ramakrishna. So fragte er z. B. in Unterredungen seinen Gesprächspartner: »Nun, glaubst du an Gott mit Form oder ohne Form?« In dem hier zitierten Beispiel (vom Februar 1882) war der Aufzeichner der Gespräche, M., selbst angesprochen, und er antwortete: »Ich möchte von Gott als formlos denken.« Darauf erwiderte Ramakrishna: »Sehr gut. Es ist genug, Glauben an einen Aspekt zu haben. Du glaubst an Gott ohne Form, das ist gut so. Aber denke niemals auch nur für einen Augenblick, dass dies allein wahr ist und alles andere falsch. Erinnere dich daran, dass Gott mit Form genauso wahr ist wie Gott ohne Form. Aber halte dich an deine eigene Überzeugung.« (Ramakrishna, 1974, S. 4).
Ob man Gott persönlich oder unpersönlich »erfährt«, hängt für Ramakrishna mit der jeweiligen Haltung zusammen, mit der man sich dem Göttlichen nähert – dem »Liebenden« (bhaktâ) zeigt sich Gott in persönlicher Form, dem erkenntnishaften Zugang des jnânâ zeigt er sich unpersönlich und formlos (Ramakrishna 1974, S. 79). Welches ist nun die »höhere« Wahrheit? Es gibt noch einen weiteren Aspekt, der mir wichtig ist, den ich aber nur ganz kurz streifen kann. Ich habe soeben davon gesprochen, dass für das Feld der Spiritualität leicht die Gefahr besteht, sich auf eine ganz bestimmte Form und Ausprägung (etwa die Konzeption von »Nondualität«) zu fixieren, wobei der sich jeweils ergebende Zusammenhang spiritueller Theorien und spiritueller Erfahrung verständlicherweise stützend wirkt. Sich dessen bewusst zu sein, dass ich selbst eine bestimmte Sichtweise einnehme, zugleich um andere Perspektiven zu wissen, dennoch den eigenen Standpunkt zu bejahen und zu vertreten, ist Ausdruck einer Art von erkenntnistheoretischer Bescheidenheit, zu der uns paradoxerweise gerade die eher säkular orientierte philosophische Wissenschaftstheorie auffordert. Konzepte bzw. Definitionen von Religiosität/ Spiritualität werden allerdings teilweise auch sehr weit gespannt, so dass dann fast alle Prozesse der Sinnkonstitution und wertbezogenen Lebensorientierung als »religiös« oder »spirituell« bezeichnet werden, wie z. B. in manchen soziologischen Konzepten von Religion (etwa Luckmanns »unsichtbare Religion« oder Baileys »implizite Religion«). Besondere Bedeutung hat dabei der Bereich der Beziehung zu den Mitmenschen und zur Natur. Gute zwischenmenschliche Beziehungen werden in den meisten Religionen (zumindest innerhalb der eigenen religiösen Gemeinschaft) als wichtig und Teil der religiös-spirituellen Ausrichtung und Werteorientierung beschrieben, wie im Christentum, in dem die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten als gleichwertige Gebote bezeichnet werden. Allerdings kann die Liebe zum Mitmenschen (und ebenso zur Natur) auch ganz ohne jeden Transzendenzbezug als wichtig und wertvoll beschrieben werden oder sogar (wie z. B. bei dem Philosophen des 19. Jahrhunderts Ludwig Feuerbach) in klarer
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9.1 • Eckart Ruschmann: Spiritualität und Wissenschaft
Abgrenzung zum Christentum und expliziter Ablehnung einer Orientierung an Transzendenz. Gerade auch für empirische Untersuchungen, etwa die Konstruktion von Fragebögen, ist deshalb die Unterscheidung von humanistischen und spirituellen Orientierungen von Bedeutung. So scheint es mir wichtig, die Sinnkonstitution als strukturellen Faktor überzuordnen und sich zu vergegenwärtigen, »dass Spiritualität nicht die einzige Sinnressource ist« (Bucher 2007, S. 127). Für diese Unterscheidung ist das Konzept von horizontaler und vertikaler Transzendierung hilfreich – schon Maslow hat in einem 1969 veröffentlichten Aufsatz »verschiedene Bedeutungen von Transzendieren« (Maslow 1969a) unterschieden – er listet dort 34 Aspekte auf. An anderer Stelle (Maslow 1969b) beschreibt er die beiden eben genannten Dimensionen mit der Unterscheidung von »Transzendierern« (also Personen mit vertikalen Transzendierungserfahrungen) und »gesunden Selbstaktualisierern ohne Transzendenzerfahrungen«. Auch Tatjana Schnell hat in dem von ihr entwickelten religionspsychologischen Ansatz (»Implizite Religiosität«) darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, zwischen transzendenzbezogenen und eher »humanistischen« Formen der Sinnkonstitution zu unterscheiden, wobei die Ergebnisse des von ihr entwickelten Fragebogens deutlich zeigten, dass die Letzteren für die Mehrheit der Menschen im westlichen Kulturkreis von primärer Bedeutung sind, im Fragebogen vor allem erfasst als die Faktoren von Ordnung sowie Wir- und Wohlgefühl (Schnell 2009, S. 295). Sie verwendet für diese Abgrenzung die erwähnten Begriffe der horizontalen und vertikalen Transzendierung (ergänzt durch Transzendierung nach innen). Diese Unterscheidung ist in den letzten Jahren recht populär geworden, vor allem durch die Publikationen des Soziologen Hans Joas. Der Philosoph Martin Seel hat sich in seinem Vortrag beim 11. »Philosophicum Lech« zum Thema Religion ebenfalls darauf bezogen. Er sagte dort:
» Zu diesem Zweck möchte ich ein Stichwort aufgreifen, das Hans Joas in seiner Aufsatzsammlung ‚Braucht der Mensch Religion?‘ gegeben hat, näm-
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lich ‚Selbsttranszendenz‘. ‚Selbsttranszendenz‘ ist gerade deswegen ein Schlüssel für die Frage nach der Differenz von religiöser und säkularer Lebenspraxis, weil sie beide, wie auch Joas mit Nachdruck betont, über diese Dimension verfügen. Religiöse und säkulare Lebensformen unterscheiden sich nicht in dem Bedürfnis nach Selbstüberschreitung als solchem. Denn dieses teilen sie vielmehr, auch wenn sie es auf unterschiedliche Weise realisieren und kultivieren. Was sie unterscheidet, ist die Art, dieses ‚über sich selbst hinaus‘ zu suchen. Er nennt u. a. Liebe, Begegnung, kollektive Begeisterung etc. (Seel 2008, S. 66).
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Horizontale Transzendierungserfahrungen – als tiefe erlebte Verbundenheit mit anderen Menschen und mit der Natur – haben eine wichtige sinnstiftende Funktion und damit zugleich eine hohe Affinität zu salutogenetischen Faktoren. Hier sind also Korrelationen mit dem Faktor »Gesundheit« selbstverständlich und vielfach belegt. Man könnte aus dieser Gegebenheit sogar bestimmte Aspekte der schwierigen Unterscheidung von positiven und negativen Wirkungen von Religion/Spiritualität fassen und bestimmen, etwa durch Untersuchungen mit der Hypothese, dass religiöse oder spirituelle Richtungen, in denen nicht vertikale mit horizontalen Transzendierungsprozessen in Theorie und Lebenspraxis eng verbunden sind, eher dazu tendieren, ungünstige bis pathogene Effekte hervorzurufen. Dann stellt sich die Frage, ob und wie eine spirituelle Ausrichtung und somit der spezifische Faktor der »vertikalen Transzendierungserfahrungen« und der entsprechenden theoretischen Aspekte einer religiös-spirituellen Weltsicht eine weitergehende sinnstiftende »Kraft« haben als die »nur« humanistische Orientierung von Menschen, die Maslow (1969b) als »gesunde Selbstaktualisierer ohne Transzendenzerfahrungen« beschrieben hat. Unter der Perspektive der Sinnkonstitution wird dann auch die Frage des Bezugs von Spiritualität und Krankheit/Gesundheit einer differenzierten Behandlung bedürfen – Krankheit kann durch eine entsprechende Form der Bewältigung durchaus ein Faktor der Sinnkonstitution werden, während Gesundheit auch dazu beitragen kann, ein »oberflächliches«, kaum sinn-orientiertes Leben zu leben.
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Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
Es scheint mir wichtig, sowohl die Gefahr des Dogmatismus durch eine Verengung spiritueller Konzepte und den damit einhergehenden Absolutheitsanspruch zu vermeiden, wie auch allzu starke Ausweitungen dieses Begriffs, der seine Bedeutung m. E. gerade dadurch erhält, dass er den Prozess der Vertiefung in eine spirituelle, transzendente Dimension hinein bezeichnet, die im Grunde in jeder Art von Erfahrung möglich ist. Dieses Vertiefen von an sich schon sinnstiftenden Prozessen (etwa die Begegnung mit einem anderen Menschen oder die Verbundenheit mit der Natur) in eine transzendente Dimension hinein kann vielleicht sogar als eine zentrale Charakterisierung von »Spiritualität« verstanden werden. Bei solchen Prozessen konvergieren die unterschiedlichen Formen der Transzendierung: 5 -nach »außen« (zu anderen Menschen bzw. zur Natur), 5 -nach »oben« (zur Transzendenz) und 5 -nach »innen« (zum eigenen spirituellen/göttlichen »Kern«). Dass alltägliche Erfahrungen in eine spirituelle Dimension hinein vertieft werden können, hat z. B. auch Abraham Maslow in den Anfängen der Transpersonalen Psychologie beschrieben, in sein Konzept der transpersonalen Erfahrung aufgenommen und als »Plateauerfahrung« den »Gipfelerfahrungen« gegenübergestellt. In diesen Kontext gehört auch der erwähnte Begriff der »Sakralisierung des Alltagslebens« in der ersten Definition von Transpersonaler Psychologie. Auch der Kulturphilosoph Jean Gebser hat diesen Aspekt in besonderer Weise betont und die »Transparenz für Transzendenz« als »Diaphanie« geradezu als ein Kennzeichen des künftigen, integralen Bewusstseins bezeichnet:
» Das Durchscheinende (das Diaphane oder die Transparenz) ist die Erscheinungsform (Epiphanie) des Geistigen. Es handelt sich also um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und vor ihr Verborgenen … (Gebser 1986, Band 2, S. 32).
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Für mich ist dieses Konzept von Transparenz, von Durchlässigkeit, zunehmend bedeutsam geworden. Es steht für eine bestimmte Erfahrensweise, m. E.
gleichberechtigt neben dem Versuch, in »besonderen« Erfahrungen einen Geschmack von dem »ganz anderen« zu bekommen, als das die spirituelle (geistige) Dimension bezeichnet werden kann. Und er steht auch für die wichtige Unterscheidung von (veränderten) Bewusstseinszuständen und den dort gemachten Erfahrungen und der Transformation der Persönlichkeit. Ich bin der Überzeugung, dass mit einem differenzierten Erfahrungsbegriff, unter Berücksichtigung des engen Bezugs von Konzepten/Theorien und konkreter Erfahrung, ein angemessener struktureller Zugang zum Bereich der Spiritualität möglich ist, wie er in Ansätzen ja auch schon vorliegt und in diesem Beitrag und dem folgenden Text von Elisa Ruschmann skizziert wird. Spirituelle Konzepte und Erfahrungen werden dann unter dem übergreifenden Aspekt der Sinnkonstitution als wichtige »Sinnressourcen« beschrieben und können inhaltlich in ihrer Verschiedenheit erfasst und gewürdigt werden. Dass auch Wissenschaftler – wenn sie eine spirituelle Weltsicht vertreten – einer bestimmten inhaltlichen Ausgestaltung verbunden sind, ist selbstverständlich und so ist es sinnvoll, die eigenen Vorstellungen transparent zu machen (wie es schon Kelly vorgeschlagen hat), mit dem Wissen, dass es die eigene Perspektive ist und dass es andere Perspektiven und Zugänge gibt. Dazu hilft ein struktureller Zugang, der den Prozess der Entwicklung eines »persönlichen Sinnsystems« (Dittmann-Kohli) beschreibt und die Bedeutung und den Stellenwert spiritueller Konzepte und entsprechender Erfahrungen bei der individuellen Sinnkonstitution erfasst und würdigt.
9.2
Elisa Ruschmann: Eine strukturelle Konzeption religiös-spiritueller Erfahrung
»Erfahrung« ist ein Begriff, der gerade im philosophischen Kontext eine lange Tradition hat. Für unseren Zusammenhang möchte ich eine Erfahrungskonzeption vorstellen, die sich auf mehrere Quellen stützt, vor allem jedoch auf den von dem Philosophen Matthias Jung entwickelten religionsphilosophischen Erfahrungsbegriff; dazu werde
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9.2 • Elisa Ruschmann: Eine strukturelle Konzeption religiös-spiritueller Erfahrung
ich Aspekte der psychologischen Grundlagenforschung einbeziehen und ein von mir entwickeltes Verstehensmodell, das mit Bezug auf die konkrete Erfahrung tiefere Bedeutung erschließen möchte. In der Alltagssprache – und auch in wissenschaftlichen Explikationen – werden beim Erfahrungsbegriff vor allem zwei Schwerpunkte unterschieden, die sich mit sprachlichen Wendungen wie: »in etwas Erfahrung haben« und im Unterschied dazu »sich im Erfahrensprozess befinden« charakterisieren lassen. Der erste Aspekt bezieht sich auf Kenntnisse und Verhaltensweisen, die durch wiederholtes, einübendes Lernen erworben wurden: ein Sichauskennen, ein Können, das auf erprobtem Wissen basiert und das sowohl in expliziter (deklarativer) wie impliziter (prozessuraler) Form vorliegen kann. Der andere Schwerpunkt legt den Fokus mehr auf die Erfahrungsbildung, den jeweiligen konkreten Erfahrungsprozess als einem Grundphänomen menschlichen Lebens, der Grundlage für menschliches Erkennen, Verstehen und Handeln ist (vgl. dazu die Artikel »Erfahrung« in Ritter 1972 und Dorsch 2009). Hier geht es mir vor allem um den zweiten Aspekt, das jeweilige konkrete Erfahren. Welche Komponenten, welche Fähigkeiten von uns Menschen sind prinzipiell in einem Erfahrungsprozess wirksam? Ein Mensch befindet sich (grundsätzlich) in einer Situation, die Ort, Zeit und Kontext hat: In ihr nimmt er wahr, verhält sich bzw. handelt; dabei geht es ihm in der Regel um etwas und er hat eine gewisse Befindlichkeit. Diese Komponenten und ihr Zusammenwirken veranschaulicht Dieter Ulich, ein psychologischer Grundlagenforscher, mit dem Bild eines Seiles, eines Taus, das aus verschiedenen Strängen besteht: aus Wahrnehmungen und Kognitionen, Motivationen und Volitionen sowie Emotionen. Diese Fähigkeiten wirken nicht additiv zusammen, sondern sind in einer unmittelbaren Erfahrung gleichzeitig wirksam und wechselseitig bezogen – jedoch ist nicht unbedingt jede Komponente bewusst bzw. angemessen repräsentiert (vgl. Ulich 1989, S. 23). Oft bleiben gerade im alltäglichen Dialog bzw. in Schilderungen von Erfahrungen das emotionale Befinden und auch die Bedeutungs-/Sinnkompo-
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nente implizit. Das, was in einem unmittelbaren Erfahren Sinn/Bedeutung bzw. Qualitäten/Werte ausmacht, bedarf meist einer zusätzlichen Artikulationsanstrengung. In meiner Beratungsarbeit, bei der für die Klienten die Klärung von (belastenden) Erfahrungen meist ein wesentliches Element für die Problembewältigung darstellt, ist dieses strukturelle Vergegenwärtigen des Zusammenspiel der einzelnen Stränge des unmittelbaren Erfahrens und das auf dieser Basis sich entwickelnde Verstehen zentral. Auf die Bedeutungstiefe, die gerade auch in spirituellen Erfahrungen eine wesentliche Charakteristik darstellt, komme ich später zurück. Zur Veranschaulichung dieses Zusammenspiels der psychischen Fähigkeiten im unmittelbaren Erfahren zitiere ich ein Beispiel, das einer veröffentlichen Tagebuchaufzeichnung entnommen ist. Sie ist datiert auf den 4. Dezember 1968 und berichtet von einer Erfahrung, die diese Person vor drei Tagen erlebt hatte. Zu diesem Zeitpunkt befand sie sich in Sri Lanka und reiste von Kandy nach Polonnaruwa, um den Felsentempel Gal Vihara mit seinen berühmten Buddhastatuen anzuschauen.
» Ich besichtigte Polonnaruwa am Montag. Heute ist Donnerstag. In Kandy regnet es in Strömen und überall sonst in den Tälern und Reisfeldern … als wir zu den östlichen Ebenen hinunterfahren. (‚Wir‘, das sind der Fahrer des Bischofs und der Generalvikar der Diözese von Kandy …) … Wir gehen den langen schwarzen Felsenhang hinauf … Polonnaruwa mit seinen weiten Ebenen unter Bäumen. Wenige Menschen. Keine Bettler. … Dann finden wir Gal Vihara … Ein niedriger Felsvorsprung, eine Höhle hineingemeißelt, und neben der Höhle ein dicker, sitzender Buddha links, ein liegender Buddha rechts und Ananda, denke ich, der in der Nähe des Kopfes des liegenden Buddhas steht. … Ich kann mich den Buddhas barfuß nähern, ungestört, meine Füße in feuchtem Gras, feuchtem Sand (Merton 1976, S. 172 ff.).
«
Dieser Text ist dem letzten Tagebuch von Thomas Merton (1915–1968) entnommen. Merton war ein Trappistenmönch, der über Jahre intensiv auch buddhistisches Gedankengut studierte und auf
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Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
einer mehrmonatigen Asienreise unter anderem buddhistische Klöster bzw. Tempel besuchte. Ich möchte diese Passage nun unter der eben kurz dargestellten strukturellen Perspektive der konkreten Erfahrung durchgehen: Bestimmte Situationen werden aus der Erste-Person-Perspektive beschrieben, mit zwei Zeitpunkten und Angabe der Orte. Wahrnehmungen, Handlungen, eine Vermutung und auch das Ziel werden benannt: Merton möchte zu einem bestimmten Platz, um die dortigen Buddha-Figuren anzuschauen. In dieser Wahrnehmungs-, Absichts-, Vermutungs- und Handlungsbeschreibung fehlt bis jetzt die emotionale Komponente, wobei der Satz: »Ich kann mich den Buddhas barfuß nähern, ungestört, meine Füße in feuchtem Gras, feuchtem Sand« (Merton 1976, S. 174) vermuten lässt, dass Merton sich in dieser Situation wohl und entspannt gefühlt haben dürfte. Ehe ich nun mit der weiteren Erfahrungsschilderung von Thomas Merton fortfahre, möchte ich den Erfahrungsbegriff des Philosophen Matthias Jung in seinen Grundzügen vorstellen, den er im Hinblick auf religiöse Erfahrung entwickelt hat. Jung greift dabei auf zwei Traditionsstränge zurück: auf das hermeneutische Denken von Wilhelm Dilthey – besonders in dessen mittlerer »pragmatischer« Phase – und auf die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus in der Ausprägung durch William James und John Dewey (vgl. hierzu Jung 1999 und 2005). Was Jung in besonderer Weise herausarbeitet, ist der Bezug, das Zusammenspiel zwischen unmittelbarem Erfahren, das er »qualitatives Erleben« nennt, und der sich daraus entwickelnden Explikation der Bedeutung der jeweiligen Erfahrung, denn unmittelbares Wahrnehmen, Wollen, Fühlen und Handeln stellt eine implizite, noch nicht elaborierte Erfahrung dar. Bereits bei Dilthey und W. James wurde innerhalb dieser holistischen Struktur den Gefühlen ein besonderer Stellenwert zuerkannt, im Sinne einer welt- und bedeutungserschließenden Funktion. »Erfahrung« hat dann durchgängig eine affektive Komponente, die von der kognitiven nicht getrennt werden kann, wohl aber unterschieden werden muss. Gefühle werden in ihrer Funktion als intentional aufgefasst; sie fokussieren Wahrnehmungs-
muster wie auch Denkstile und Willensimpulse auf eine »Thematik« hin. In dem zitierten Beispiel ist die Rolle der Emotionen bis jetzt nicht offensichtlich. Wenn Erleben nicht nur unterschieden wird in Basisgefühle wie Freude, Trauer, Ärger, etc. und in die Valenz von wohl-unwohl, sondern auch im Hinblick auf ihre verschiedenen Qualitäten von Aktivierungen (was bereits Wilhelm Wundt tat), dann öffnet sich das ganze Spür-Erlebensfeld. Dieses lässt sich polar ordnen, z. B. nach offen-verschlossen, ruhig-unruhig, entspannt-verspannt, klar-diffus, kraftvollschwach, hell-dunkel, weit-eng etc. Gerade dieses sogenannte »energetische« (leibliche) Spüren des Fühlens hat auch in der spirituellen Praxis einen wichtigen Platz. Ich gehe nun zurück zur weiteren Erfahrungsschilderung von Thomas Merton. Nachdem er bis jetzt vor allem seine Wahrnehmung der beiden Buddhas geschildert hatte, fährt er fort:
»
Dann die Ruhe dieser außergewöhnlichen Gesichter. Dieses große Lächeln. Riesig und doch weich. Mit allen Möglichkeiten gefüllt: nichts fragen, nichts wissen, nichts zurückweisen, Frieden – nicht aus gefühlsmäßiger Resignation, sondern aus Madhyamika, aus Shunyata, die durch jede Frage blickt, ohne zu versuchen, den anderen oder das andere zu diskreditieren – ohne Zurechtweisung –, ohne andere Argumente vorzubringen. … Ich wurde von einer Flut von Erleichterung und Dankbarkeit ergriffen angesichts der offensichtlichen Klarheit der Figuren … (Merton 1976, S. 174).
«
Dies ist ein anschauliches Beispiel für die Explikation eines Artikulationsprozesses, in dem sich wesentliche Bedeutungen entfalten, auf der Basis von tiefem Erleben: Thomas Merton nimmt an diesen Figuren verschiedene Qualitäten wahr – Ruhe, Offenheit, Akzeptanz, Frieden, ein bestimmte Weise von Dasein (keine Resignation), alles Qualitäten, die für ihn sehr wertvoll und anstrebenswert sein dürften. Für Merton entspringen diese aus Mâdhyamika und Shûnyatâ. Mit Mâdhyamika nimmt er Bezug auf eine bestimmte Schule des Mahâyâna-Buddhismus, auf dessen »mittleren Weg«. Tagebucheintragungen im Oktober und November
9.2 • Elisa Ruschmann: Eine strukturelle Konzeption religiös-spiritueller Erfahrung
– da befand er sich bereits auf der Asienreise – beschreiben intensive Beschäftigungen mit dieser Lehre und wie die Einleitung belegt, studierte er bereits Jahre zuvor in Amerika in seiner Einsiedelei den Buddhismus von Grund auf. Shûnyatâ, ein zentraler buddhistischer Begriff, wird in der Lehre des Mâdhyamika sowohl als Leerheit wie Erlöstheit gelehrt. Leerheit gilt als identisch mit dem Absoluten und Leere zu verwirklichen, heißt Befreiung zu erlangen. An dieser Erfahrungsschilderung wird nun sehr schön deutlich, wie Merton ihm bedeutsame, wertvolle Qualitäten (Ruhe, Offenheit, Akzeptanz, Frieden) einbettet in eine spirituelle Tradition, mit ihren ganz bestimmten buddhistischen Gehalten. Die persönliche Erfahrung wird so in das »Wir« gestellt, in eine Gemeinschaft geteilter Bedeutungs-, Sinn- und Wertperspektiven. Damit verbindet sich die Perspektive der 1. Person Singular mit der 1. Person Plural, dem sozialen »Wir« einer buddhistischen Tradition. Wesentlich ist dabei – wie auch Matthias Jung betont – dass »qualitatives Erleben«/unmittelbares Erfahren und die Bedeutungsentfaltung in der Artikulation im Hinblick auf eine volle Erfahrung nicht getrennt behandelt und betrachtet werden; die Bedeutungsentfaltung ist kein gesondertes, aufgesetztes Element, das auf einer zweiten Ebenen angesiedelt ist – vielmehr ist der erschlossene Bedeutungsgehalt ein integraler Bestandteil der gesamten Erfahrung. »Qualitatives Erleben«/unmittelbares Erfahren und Bedeutungsentfaltung befinden sich in einem transformatorischen Austauschprozess, einer dynamischen Wechselbeziehung von unmittelbarem Lebensvollzug und Sinnvollzug. Gerade auch für religiöse bzw. spirituelle Erfahrungen ist das von zentraler Bedeutung, wie sich an dem zitierten Beispiel klar zeigt. Dabei kann sich dieser Prozess der Bedeutungsentfaltung zwischen den Polen bewusster Bejahung einer Herkunftstradition auf der einen Seite und möglichen innovativen, neuen Deutungen bzw. Kritik auf der anderen Seite in einer Vielzahl von Zwischengestalten entwickeln. Bei mangelnder Bewusstheit bzw. »psychischer Trägheit« kann dieser Prozess kaum in aktiver Weise gestaltet werden und verläuft dann ganz in vorgegebenen Bahnen und Mustern (vgl. hierzu Jung 2005, S. 248 ff.).
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Werden z. B. einem Menschen im religiös-spirituellen Kontext neben einer neuen Praxis auch neue Deutungsangebote zugänglich, z. B. durch die Lektüre religiöser Schriften aus einer anderen Tradition, wie das bei Merton der Fall war, so wird er auch zu einer neuen Artikulationsanstrengung aufgefordert. Diese verändert dann im Sinne des transformatorischen Austauschprozesses auch wieder das unmittelbare Erfahren/Erleben und Handeln. Tieferes Umgehen mit unterschiedlichen religiös/spirituellen Traditionssträngen kann bis hin zum Phänomen einer »multiplen religiösen Identität« gehen. R. Bernhardt und P. Schmidt-Leukel zitieren in der Einführung zu dem von ihnen herausgegebenen Buch über »Multiple religiöse Identität« Raimon Panikkar als ein Beispiel für eine reflektierte multiple Religiosität: »Ich bin als Christ ‚gegangen‘, ich habe mich als Hindu ‚gefunden‘ und ich ‚kehre‘ als Buddhist ‚zurück‘, ohne doch aufgehört zu haben, ein Christ ‚zu sein‘« (Bernhardt/SchmidtLeukel 2008, S. 8). Wenn religiös-spirituelle Konzepte aufgrund eines lebendigen, unmittelbaren Erfahrungsbezugs einen zentralen Stellenwert einnehmen, dann haben sie ihrer Struktur nach meta-evaluativen Charakter, d. h. sie können »prinzipiell nicht von anderen, höherstufigen Wertungen überboten und relativiert werden«. Religiöse Wertungen und Überzeugungen bilden dann für einen Menschen »den unüberbietbaren Rahmen anderer Deutungen, … die grundlegende Weise, die Welt zu sehen, die alle anderen Wertungen einfärbt« (Jung 2005, S. 251). Dies gilt jedoch für alle umfassenden Arten von Deutungsrahmen, also auch für agnostische oder atheistische (säkular-humanistische) Deutungen, wenn diese als stimmigster Ausdruck der jeweiligen Erfahrungen mit dem Leben vertreten werden. So gesehen stehen religiöse bzw. spirituelle und nichtreligiöse Weltdeutungen gleichberechtigt nebeneinander, insofern sie »nicht mehr überbietbare Wertungen und Überzeugungen über »das Ganze« [enthalten], die sich qualitativ mit emotionalen Zuständen und übergreifenden Grundstimmungen verbinden« (Jung 2005, S. 252). Zur Veranschaulichung dieser gerade beschriebenen Aspekte möchte ich mit Mertons Schilderung fortfahren:
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Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
» Als ich diese Figuren betrachtete, wurde ich
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plötzlich fast mit Gewalt aus der üblichen, halbgebundenen Sicht der Dinge gerissen, und eine innige Klarheit, Helligkeit, die aus den Felsen zu strömen schien, wurde spürbar und sichtbar. Die verrückte Offensichtlichkeit der liegenden Figur, das Lächeln, das traurige Lächeln Anandas, der mit verschränkten Armen dasteht (viel ‚imperativer‘ als da Vincis Mona Lisa, weil völlig einfach und geradeheraus). Das ist es: da ist kein Rätsel, kein Problem und wirklich kein ‚Mysterium‘. Alle Probleme sind gelöst, und alles ist klar, einfach deshalb, weil das, was wichtig ist, klar ist. Der Felsen, alle Dinge, alles Leben ist voller Dharmakaya … alles ist Leere, und alles ist Mitleiden. Ich weiß nicht, wann ich in meinem Leben je so ein Gefühl von Schönheit und spiritueller Stärke in einer ästhetischen Illumination habe zusammenlaufen sehen. … Ich meine, ich kenne und habe gesehen, wonach ich dunkel gesucht habe. Ich weiß nicht, was noch auf mich zukommt, aber jetzt habe ich unter die Oberfläche geschaut, habe mich hindurchgebohrt, und ich bin durch Dunkelheit und Verborgenheit hindurchgelangt (Merton 1976, S. 174 f.).
«
Für Merton entwickelte sich diese Erfahrung zu einer besonders tiefen – eine Erfüllung seiner Suche. Der Bezug zwischen den tief erlebten Qualitäten und deren Bedeutung, die von Merton ganz in der buddhistisch-spirituellen Tradition artikuliert werden und meta-evaluativen Charakter aufweisen, ist hier besonders deutlich. Auch die Anstrengung, derer es bedarf, um eine solche Erfahrung zu beschreiben, wird von Merton geschildert: »Polonnaruwa war ein solches Erlebnis, dass ich nicht einfach hastig etwas darüber schreiben konnte und auch jetzt nicht kann, auf jeden Fall nicht angemessen« (Merton 1976, S. 172). Um von einer religiös-spirituellen Erfahrung im Vollsinn sprechen zu können, sollte – mit Jung – der betreffende Mensch zwischen unmittelbarem Erfahren/qualitativem Erleben einerseits und den »Identitätsangeboten einer religiösen Tradition andererseits eine persönlich verantwortete expressive Beziehung« gestalten (Jung 2005, S. 256). So lassen sich seines Erachtens unangemessene Konzeptualisierungen religiös-spiritueller Erfahrungen vermeiden, wie beispielsweise das »quasi-
empiristische Missverständnis »innerer« Erfahrung im Sinne einer, neben der Sinneswahrnehmung bestehenden, zweiten Klasse interpretationsfreier Daten, zum anderen aber auch die bewusstseinstheoretische Behandlung des Erlebens als rein geistiger, nicht an Leiblichkeit und Intersubjektivität rückgekoppelter Prozess« (Jung 2005, S. 244). Diese hier vorgestellte Konzeption religiös-spiritueller Erfahrung stellt für uns eine grundlegende Orientierung dar. Das Zusammenspiel von unmittelbarem Erfahren und Bedeutungserschließung, mit der Möglichkeit einer Vertiefung hin zu Qualitäten bzw. Werten, ist für unsere Beratungs- und Ausbildungsarbeit basal. Ob jemand bestimmte Erfahrungen bis in eine spirituelle Dimension vertieft bzw. vertiefen möchte, hängt wesentlich von der jeweiligen Art der meta-evaluativen Wertungen ab, die wiederum eingebettet sind in ein Menschenbild mit oder ohne Transzendenzbezug. Der Vorgang des »Erwachens« beinhaltet für uns selbst und in der Arbeit mit Menschen nicht so sehr die Betonung »besonderer« Erfahrungen, sondern vielmehr die Möglichkeit, alltägliches unmittelbares Erfahren in »stimmigen« Transzendenzbezügen mit tiefer Bedeutung sinnkonstitutiv, fühl- und spürbar zu erleben. Der Religionsphilosoph Romano Guardini hat Prozesse dieser Art einmal am Beispiel der Wahrnehmung einer Pflanze beschrieben. Was sehe ich, wenn ich auf eine Pflanze blicke? Ich sehe vom ersten Augenblick an ein Ganzes, sagt Guardini, eine Sinngestalt. Ich nehme Sinnesdaten, wie Größe, Farbe, Struktur wahr, und zugleich sehe ich eine »Wertfigur«, z. B. ihre Schönheit. Guardini stellt die Hypothese auf, dass im sinnlichen Wahrnehmungsakt, der mit einem Fühlen und Spüren in Verbindung ist, nicht nur Qualitäten am Gegenstand gesehen werden können, sondern »noch etwas Anderes, Letzt-Eigentliches« – etwas »Geheimnisvolles und zugleich tief Vertrautes“, etwas was für Guardini dem Wahrnehmungsgegenstand sein »letztes Seinsgewicht gibt«. Er vertieft hier Qualitäten, die er im Seienden wahrnimmt, im Sinne einer meta-evaluativen Wertung bis hin zu einem transzendenten »Grund« (Guardini 1958, S. 22). Dass »tieferes Verstehen« menschlicher Erfahrungen auch in engem Wechselbezug mit anthropologischen Grundannahmen/Modellierungen steht,
9.2 • Elisa Ruschmann: Eine strukturelle Konzeption religiös-spiritueller Erfahrung
könnte im Hinblick auf unser Thema an verschiedensten westlichen wie östlichen religiös-spirituellen Traditionen aufgezeigt werden. Ich wähle zur Veranschaulichung die Konzeption der »fünf Selbste« (âtman) der Taittirîya-Upanishad, einem frühen indischen philosophischen Text (ca. 500 v. Chr.; Text z. B. in Deussen 1921/1963, S. 228ff.). In dieser Upanishad wird ein Menschenbild entfaltet, das die angesprochenen Aspekte einer Erfahrung explizit verschiedenen Ebenen zuordnet, die alle miteinander in Wechselwirkung stehen. Unser sinnlich wahrnehmbarer physischer Leib wird als erstes »Selbst« aufgezeigt, dessen »inneres Selbst« aus »Lebenshauch« besteht (prânamaya), das wir als Lebendigkeit, Vitalität, aber auch z. B. als Stumpfheit und Schwere spüren können. Die dritte Ebene ist das Selbst der psychischen Funktionen (manas) – mit heutiger Terminologie das Denken, Fühlen und Wollen. Unser nächstinneres Selbst wird im Sanskrit mit vijnâna bezeichnet – dies geht über die Funktion von manas als Verstand (3. Selbst) hinaus und meint Erkenntnis, wirkliches Verstehen. Diese Ebene repräsentiert m. E. das, was eben mit der Möglichkeit beschrieben wurde, im konkreten Erfahren tiefere Qualitäten und Werte zu erfassen bzw. sie aus dieser Ebene heraus zu realisieren, wie z. B. Wahrhaftigkeit oder Hingabe, die – neben Glaube, Gerechtigkeit und Macht (als Kraft) – in diesem Text als Qualitäten dieses »erkennenden Selbstes« genannt werden. Auch das kurz referierte Beispiel von Guardini eines transzendenzbezogenen Erkennens lässt sich hierzu in Bezug setzen. Die nächste und letzte, innerste Dimension des Menschen wird in der Taittirîya-Upanishad mit den Qualitäten von Liebe und Freude beschrieben, mit Brahman, dem Göttlichen, als Fundament. In diesem anthropologischen Modell (Menschenbild) wird also die Möglichkeit konzipiert, unmittelbares Erfahren bis in die innerste menschliche Ebene zu öffnen bzw. zu transzendieren, die selbst göttliche Qualität repräsentiert, vergleichbar vielleicht dem »göttlichen Funken« eines Meister Eckehart als Vertreter westlich-christlicher Mystik oder der »innersten Mitte« einer Teresa von Avila, die sie im Bild der Burg als »innerste Mitte von allen Wohnungen« bezeichnet (Innere Burg, 1,3).
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9
Die hier entwickelte Konzeption von (spiritueller) Erfahrung geht davon aus, dass jeder (wissenschaftliche) Ansatz vom jeweiligen Forschungsinteresse geprägt ist und die Wahl der Methoden leitet sowie entsprechend die Ergebnisse der Beschreibungen, der Analysen bzw. der empirischen Forschung mitformt. So bleibt der mögliche Geltungsanspruch stets begrenzt durch geteilte Intersubjektivität und alternative Möglichkeiten. Wir haben (als Wissenschaftler wie als individueller Mensch) gewisse Wahlfreiheiten in der Konstruktion von Erkenntnis- und Handlungsmodellen – von diesem bereits erwähnten Grundsatz der neueren Wissenschaftstheorie ist unser Ansatz geprägt. Dies gilt in vergleichbarer Weise für den Bereich der spirituellen Wege – auch hier entsprechen unterschiedliche Perspektiven und Zugänge der gegebenen Praxisvielfalt. Vielen Praxen ist eine Grundausrichtung gemeinsam, die als erstes Ziel ein Stillwerden der diskursiven Gedanken und bewegten Emotionen hat, um den Zustand eines unmittelbaren Erfahrens von Ruhe, Präsenz, Sammlung und Klarheit zu erlangen und je nach konzeptuellem Hintergrund in der Praxis weiter auszudifferenzieren. Nicht nur hinsichtlich des angestrebten unmittelbaren Erlebens gibt es, trotz unterschiedlicher ontologischer und metaphysischer Vorstellungen, bedeutsame Gemeinsamkeiten in verschiedenen Traditionen, sondern auch inhaltlich sind ansonsten konzeptuell recht unterschiedliche spirituelle Zugänge in bestimmten Aspekten verbunden, vor allem im Anstreben von oder sich Öffnen zur »Liebe« als tiefstem Erfahrungsgrund. Gerade die Ausrichtung auf die Liebe ist es, die humanistische und spirituelle meta-evaluative Wertungen verbindet, sei es in der Liebe zu sich selbst, zum Mitmenschen, zur Natur bzw. dem Kosmos oder zu Gott (als ewigem Du oder unpersönlich). Dies ist auch für die Frage des Bezugs von (spiritueller) Weltsicht und Praxis in Hinblick auf Gesundheit von Bedeutung, wie im ersten Teil von Eckart Ruschmann bereits ausgeführt. So stehen in einer übergreifenden Perspektive der Orientierung an Reifung, positiver Entwicklung der Persönlichkeit bzw. Sinnkonstitution humanistische als »horizontale Transzendierungserfahrungen« und spirituelle im spezifischen Sinne als »vertikale
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Kapitel 9 • Spirituelle Erfahrungen und Konzepte
(transzendenzbezogene) Transzendierungsprozesse« gleichwertig und sich ergänzend nebeneinander. Der englische Religionswissenschaftler John Hick hat eine solche am Thema »Sinn« orientierte Perspektive so charakterisiert, dass sie den Weg weist, den ein religiös-spirituell ausgerichteter Mensch und ein Humanist bzw. säkularer Mensch »ein Stück weit gemeinsam gehen können. Sie können beide prüfen, welche Art von Sinn sie erkennen und anerkennen. Weil sie dieses Stück Weges miteinander gehen können, können sie auch den Punkt feststellen, an dem sich ihre Wege wieder scheiden« (Hick 1996, S. 145). Sinnsuche und Sinnfindung haben bei einigen Gegenwartsphilosophen wie auch im psychologischen Kontext (wieder) Beachtung und Berücksichtigung gefunden; Jochen Brandstädter weist z. B. im entwicklungspsychologischen Kontext der Lebensspanne darauf hin, dass gerade im höheren Alter Sinnbezüge in den Vordergrund treten, die ich- und zeittranszendent sind und nennt dabei explizit auch »Spiritualität« (Brandstädter 2007, S. 709). So hat inzwischen der Bereich der Spiritualität – als wichtige Sinnressource bis ins hohe Alter – zumindest in wissenschaftlichen Teilbereichen einen weitgehend akzeptierten Platz eingenommen.
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Hick J (1996) Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod. Diederichs, München (Original 1989) Jung M (1999): Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie. Alber, Freiburg Jung M (2005): Qualitatives Erleben und artikulierter Sinn. Dt. Zs. f. Philosophie 53 : 239–256 Kelly GA (1954) The Psychology of Personal Constructs. Rontledge, New York Knoblauch H (1999) Berichte aus dem Jenseits. Mythos und Realität der Nahtod-Erfahrungen. Herder, Freiburg Koenig HG (2008) Concerns About Measuring »Spirituality« in Research. Journal of Nervous and Mental Disease, 196 : 349–355 Maslow AH (1969a): Various Meanings of Transcendence. JTP 1 : 56–66 (Dieser und der folgende Text von Maslow wie auch der Aufsatz von Sutich wurden in den ersten Jahrgang der deutschen »Zeitschrift für Transpersonale Psychologie« aufgenommen, sie sind beim Autor als pdf erhältlich. Anfragen:
[email protected].) Maslow AH (1969b): Theory Z. JTP 1 : 31–47 Merton T (1976) Wie der Mond stirbt. Das letzte Tagebuch des Thomas Merton. Hammer, Wuppertal Ramakrishna Sri (1974) The Gospel of Sri Ramakrishna. Transl. by Swami Nikhilananda. Madras: Sri Ramakrishna Math [Übersetzung im Text von E.R.] Ritter J (1972) (Hrsg) Historisches Wörterbuch der Philosophie. Schwabe, Basel, Bd. 2, S 609–620 Ruschmann E (1999) Philosophische Beratung. Kohlhammer, Stuttgart Schnell T (2009) Implizite Religiosität. Zur Psychologie des Lebenssinns. Pabst, Lengerich Seel M (2008) Ist eine rein säkulare Gesellschaft denkbar? In: Liessmann KP (Hrsg) Die Gretchenfrage. »Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?« Zsolnay, Wien, S 61–81 Stachowiak H (1980) Der Modellbegriff in der Erkenntnistheorie. Zs. f. allg. Wissenschaftstheorie, 11 : 53–68 Steinmann RM (2008) Spiritualität – die vierte Dimension der Gesundheit (Psychologie des Bewusstseins, Bd. 11). LIT, Wien/Berlin Sutich AJ (1968) Transpersonal Psychology: An Emerging Force. Journal of Humanistic Psychology. 8 : 77–78 Ulich D (1989) Das Gefühl. Eine Einführung in die Emotionspsychologie. 2. Aufl. Psychologie Verlags Union, München Wilber K (2009) Integrale Vision. Eine kurze Geschichte der integralen Spiritualität. Kösel, München (Original 2007)
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Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit Arndt Büssing
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Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
»
Dreißig Speichen treffen die Nabe, die Leere dazwischen macht das Rad aus. Ton formt man zu einem Krug, die Leere in der Mitte macht das Gefäß aus. Türen und Fenster bricht man in Mauern, die Leere in der Mitte macht das Haus aus. Darum: Die Form entsteht aus dem Sein, die Verwendung aus dem Nicht-Sein. (Lao Tse: Tao Te King, Kapitel 11)
«
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Die Versorgungsforschung versteht sich als grundlagen- und anwendungsorientiertes Forschungsgebiet, das fachübergreifend die Kranken- und Gesundheitsversorgung in ihren Rahmenbedingungen beschreibt, diese kausal zu erklären versucht und aufbauend darauf Versorgungskonzepte entwickelt, deren Umsetzung begleitend erforscht und/ oder unter Alltagsbedingungen evaluiert. Obwohl der Patient in der Versorgungsforschung im Mittelpunkt steht, spielen Fragen nach ihrer Spiritualität oder Religiosität (SpR) als intrinsische Ressource im Umgang mit chronisch Kranken in der Versorgungsforschung bisher aber keine Rolle. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, für welche Patienten SpR als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit angesehen werden kann, welchen Einfluss SpR auf Gesundheits-bezogene Variablen hat und welche Konsequenzen sich hieraus für die Versorgung ergeben.
10.1
Wer kontrolliert den Prozess der Gesundung?
Krankheit wird insbesondere von Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen als eine (sinnlose) Unterbrechung des Lebensflusses angesehen (Büssing, Fischer 2009; Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009). Bei entsprechender Symptomatik werden somit Spezialisten konsultiert, um die störende Beeinträchtigung rasch und effizient beheben zu lassen. Die Verantwortlichkeit für diese »Restitutionsleistung« wird in der Regel an eine (externe) ärztliche Instanz delegiert. Eine Eigenverantwortung im Gesundungsprozess wird von vielen aber ebenso gesehen: Patienten fragen nach ihren eigenen Möglichkeiten und versuchen ihre Lebensgewohnheiten zu än-
dern, sich bewusster und gesünder zu ernähren, mehr auf eigene Bedürfnisse zu achten etc. Ist die Kompetenzerwartung des Betroffenen im Sinne einer Selbstwirksamkeit jedoch gering, dann ist die Einbeziehung sowohl ärztlicher als auch alternativer externaler Ressourcen von großer Wahrscheinlichkeit, während bei einer hohen Selbstwirksamkeitsüberzeugung vermehrt die eigenen (internalen) Ressourcen herangezogen werden würden. Hierzu gehören zum Beispiel internale kognitive Formen der Gesundheits-Kontrollüberzeugung im Sinne einer bewussten und gesunden Lebensführung, perspektivische und positive Einstellung sowie der »Kampfgeist« (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008; Büssing, Keller, Michalsen, Moebus, Ostermann u. Matthiessen 2006; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2007a). Oft erfahren Patienten aber auch die Begrenztheit der medizinischen Möglichkeiten, insbesondere bei chronischen Erkrankungen, und suchen dann Rückbindung an »mächtige Instanzen« der Religionstraditionen, die helfend eingreifen sollen. Hier sind die Erwartungen dann entweder sehr hoch (Markus-Evangelium 11,24: »Darum sage ich euch: Alles, worum ihr betet und bittet – glaubt nur, dass ihr es schon erhalten habt, dann wird es euch zuteil.«) und werden leicht enttäuscht – oder die Erwartungen sind so gering, dass auch nicht mit großen Frustrationen zu rechnen ist. Für Patienten mit chronischen Erkrankungen geht es neben der akuten Symptom-Kontrolle auch darum, wie die weitere Lebensgestaltung aussehen könnte, welche Formen einer Adaptation zum Tragen kommen könnten. Um solche Formen eines adaptiven Krankheitsumgangs im Kontext externaler und internaler Instanzen der Gesundheitskontrolle zu untersuchen, wurden mit Hilfe des AKU-Fragebogens (AKU – adaptiver Krankheitsumgang; 28 Items) sechs Dimensionen operationalisiert (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008): Die kognitiven internalen Adaptationsstile Positive Lebenseinstellungen und Bewusste Lebensführung (. Tab. 10.1) waren sowohl bei Gesunden als auch bei Patienten stark ausgeprägt (Zustimmungs-Scores 80,8 ± 15,5 bzw. 73,2 ± 16,7; AKUScores > 50% entsprechen einer positiven Haltung und Scores < 50% einer Ablehnung der entsprechenden Haltung/Einstellung), während die refle-
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10.1 • Wer kontrolliert den Prozess der Gesundung?
10
. Tab. 10.1 Adaptive Krankheitsverarbeitungsstrategien im Kontext internaler/etxernaler Instanzen der Gesundheits-/Krankheitskontrolle (Skalen des AKU-Fragebogens) Externale Kontrolle
Internale Kontrolle
Vertrauen in Gottes Hilfe (alpha = .92)
Bewusste Lebensführung (alpha = .73)
Vertrauen in medizinische Hilfe (alpha = .63)
Positive Lebenseinstellungen (alpha = .68)
Suche nach Information/alternativer Hilfe (alpha = .78)
Neubewertung: Krankheit als Chance (alpha = .83).
Die überwiegend kognitiven Formen des adaptiven Krankheitsumganges wurden an 6.606 Probanden untersucht (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008) (62% Männer, 38% Frauen; Durchschnittsalter 63 ± 12 Jahre; 21% chronische Erkrankungen [Altersmittel 61 ± 14 Jahre], 13% Tumorerkrankungen [65 ± 10 Jahre], 8% akute Erkrankungen [67 ± 10 Jahre], 2% depressive Störungen mit/ohne Alkoholabhängigkeit [47 ± 10 Jahre]; 57% ältere Gesunde [64 ± 11 Jahre] als Kontrollgruppe).
xive Krankheitsneubewertung einen geringen Zuspruch erfuhr (41,2 ± 27,9) – signifikant ausgeprägt war diese jedoch bei Patienten mit depressiven Störungen und bei den signifikant älteren Patienten mit Krebserkrankungen (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008). Von den kognitiven externalen Stilen waren insbesondere das Vertrauen in medizinische Hilfe (78,4 ± 20,5) und Suche nach Informationen/alternativer Hilfe ausgeprägt (63,9 ± 26,0), während das Vertrauen in Gottes Hilfe, als Dimension der intrinsischen Religiosität, nur eine moderate Zuspruchsrate hatte (55,4 ± 34,4), jedoch mit starken Varianzen. Dieses Vertrauen war bei Krebspatienten deutlich stärker vorhanden, jedoch bei Patienten mit depressiven Störungen, die auch das niedrigste Altersmittel aufwiesen, von geringer Relevanz (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008). Es konnte gezeigt werden, dass ein (höheres) Alter eine statistisch signifikante Bedeutung für die Ausprägung des Vertrauens in Gottes Hilfe hatte, während andere soziodemographische Variablen keinen signifikanten Haupteffekt zeigten (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008). Das Vertrauen in medizinische Hilfe war signifikant von der Alters- und Erkrankungsgruppe beeinflusst, während für die Suche nach Information/alternativer Hilfe das (weibliche) Geschlecht und die Erkrankungsgruppe von Relevanz waren (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008). In Bezug auf die internalen Strategien war die Zugehörigkeit zur Erkrankungs-
gruppe von signifikanter Bedeutung für die Krankheitsneubewertung (Krankheit als Chance), während sich für die Positiven Lebenseinstellungen keine signifikanten Haupteffekte nachweisen ließen. Komplexe Interaktionseffekte deuteten an, dass sich die Bewusste Lebensführung von Frauen und Männern, Verheirateten, Geschiedenen, Alleinstehenden etc., sowie innerhalb der Erkrankungsgruppen zwar nicht signifikant unterscheiden, dass aber auf verschiedenen Stufen des ersten Faktors (Altersgruppe) signifikant unterschiedliche Mittelwerte bei den Subgruppen vorliegen (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008). Es zeigt sich somit, dass mit steigendem Alter auch die Wertschätzung für eine Bewusste Lebensführung, das Vertrauen in medizinische Hilfe steigt, aber auch das Vertrauen in Gottes Hilfe. Man kann vermuten, dass die als zunehmend eingeschränkt erlebte Verlässlichkeit der Funktionsfähigkeit des Körpers dazu führt, dass externale gesundheitserhaltende Ressourcen aufgesucht werden müssen. Darüber hinaus werden vor dem Hintergrund einer sich immer deutlicher abzeichnenden Endlichkeit des Lebens auch Aspekte der Spiritualität/ Religiosität bedeutsam, was sich im Vergleich zu Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen insbesondere bei Patienten mit Krebserkrankungen in deutlich höheren Scores für eine Positive Lebenseinstellung, Bewusste Lebensführung und Krankheitsneubewertung im Sinne eines reflexiven Neuorientierung der Lebensziele und -prioritäten
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Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
ausdrückt, aber eben auch in einem größeren Vertrauen in göttliche Hilfe (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008; Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008). Es zeigte sich zudem, dass die Lebensreflexion eine deutliche spirituell-religiöse Konnotation hat, da sich hier eine signifikante Assoziation mit dem Vertrauen in Gottes Hilfe zeigte (r = .42), die bei den anderen Verarbeitungsstilen so nicht evident war (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2008; Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008). Es lässt sich also festhalten, dass eine intrinsische Religiosität, die als ein Vertrauen chronisch Kranker in eine göttliche Hilfe konzeptualisiert wurde, vornehmlich für Menschen mit höherem Lebensalter, weiblichem Geschlecht oder Tumorerkrankungen von Bedeutung ist. Es muss aber kritisch diskutiert werden, ob die intrinsische Religiosität eine adäquate Operationalisierung der Spiritualität auch derjenigen ist, die sich möglicherweise von der institutionalisierten, überwiegend monotheistisch geprägten Religiosität abgewandt haben und für sich andere »Sinn-Systeme« erschlossen haben. Da sich bis zu 40% der chronisch Kranken nicht mehr im Kontext der institutionalisierten Religiosität verortet fühlen (Büssing, Abu-Hassan, Matthiessen u. Ostermann 2007; Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008; Büssing, Keller, Michalsen, Moebus, Ostermann u. Matthiessen 2006; Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005a; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2007a; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005c), ist vor dem Hintergrund einer zunehmenden Individualisierung und Säkularisierung unklar, welche Inhalte mit dem Begriff Spiritualität verbunden sind und welche Aspekte in Deutschland von Relevanz sind. Dies soll im Folgenden thematisiert werden.
10.2
Ausdrucksformen der Spiritualität in Deutschland
Um Aspekte der Spiritualität/Religiosität messbar und zwischen unterschiedlichen Kohorten vergleichbar zu machen, werden standardisierte Fragebogeninstrumente verwendet. Hierzu liegt eine
Vielzahl an Messinstrumenten vor (Büssing 2008a). Viele ältere Instrumente fokussieren auf die äußerlichen Merkmalsbereiche der Religiosität, wobei die persönliche Bedeutung zumeist ausgeklammert ist (Utsch 2005) – oder es werden exklusive Ausdrucksformen der konventionellen Religiosität als Indikator der Religiosität verwendet. Generell kann man vornehmlich generische Instrumente aus dem Bereich der Religionspsychologie oder Soziologie und solche mit einem spezifischen Bezug zu Krankheit aus dem Bereich der Gesundheitspsychologie oder Medizin unterscheiden. Der Religiositäts-Struktur-Test (Huber 2003) ist ein konzeptionell gut durchdachtes, aktuelles Instrument zur systematischen Erfassung der Zentralität (im Sinne der zugeschriebenen Bedeutung) sowie der Inhalte und Deutungsmuster der Religiosität in Bezug auf Multidimensionalität der Religiosität (kognitives Interesse, Ideologie, Gebet, Erfahrung, Gottesdienst). Da sich aber die Akzente der religiösen und spirituellen Ausdrucksformen verschieben und bei vielen Menschen kein generelles Interesse (mehr) vorauszusetzen ist, sind einige Formulierungen nicht notwendigerweise mit ihrem Selbstverständnis kongruent. Eigene Untersuchungen zu den aktuellen Ausdrucksformen der Spiritualität (ASP) (Büssing 2006b) zeigten, dass die Bedeutungsinhalte der Spiritualität zwar vom weltanschaulichen Kontext abhängig sind, sich aber immer auf eine immaterielle, nicht sinnlich fassbare Wirklichkeit (Gott, Wesenheiten, Kräfte) beziehen, die dennoch erfahr- oder erahnbar ist und die der Lebensgestaltung eine Orientierung gibt. Hierbei ergaben sich folgende Themenschwerpunkte (Büssing 2006b): Suchen und Streben nach umfassender Erkenntnis; Streben nach Weisheit und Geistesweite; Einheits-Erfahrungen und ganzheitlicher Umgang mit anderen und der Umwelt; Werte, Ethik, Vervollkommnungen; Umsetzung im Alltagsleben; Rituale, Übungen und Handlungen; Ehrfurcht und Achtung; Vertrauen auf und Hinwendung zu Gott; Annahme einer Prä-/Postexistenz und nicht-physischer Wesenheiten; Fragen nach dem Sinn im Leben. Diese Themenschwerpunkte wurden zu einem generischen Fragebogeninstrument mit zunächst 40 Items verdichtet und an Personen aus unter-
111
10.3 • Spiritualität/Religiosität im Kontext von Krankheit
10
. Tab. 10.2 Ausdrucksformen der Spiritualität (ASP Fragebogen 2.1) Skala
Charakter der Items
Gebet und Gottvertrauen (Religiöse Orientierung) (alpha = .93)
Emotion, Kognition, Verhalten
Suche nach Erkenntnis, Einsicht, Weisheit (alpha = .88) mit zwei Sub-Konstrukten (Quest-Orientierung sowie Streben nach Schönheit/Weisheit)
Verhalten
Bewusster Umgang (säkularer Humanismus) (alpha = .83) mit zwei Sub-Konstrukten (Bewusster Umgang sowie Mitgefühl/Großzügigkeit)
Verhalten
Transzendenzüberzeugung (alpha = .85)
Kognition
schiedlichen Lebensbereichen und Religionszugehörigkeiten getestet. Mittels Faktorenanalyse konnten hier sieben Themenbereiche differenziert werden (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2007b): (1) Gebet, Gottvertrauen, Geborgenheit, (2) Erkenntnis, Weisheit, Einsicht, (3) Transzendenz-Überzeugung, (4) Mitgefühl, Großzügigkeit, Toleranz, (5) Bewusster Umgang (mit sich selber, den Mitmenschen und der Umwelt), (6) Gleichmut, (7) Ehrfurcht, Dankbarkeit. In der gestrafften und deutlich praktikableren Version 2.1 des ASPFragebogens mit 25 Items wurden vier Hauptfaktoren differenziert . Tab. 10.2 (Büssing, Föller-Mancini, Gidley u. Heusser 2010): In einem Kollektiv von 1.242 Probanden (52% Frauen, Altersmittel 43 ± 16 Jahre; 80% Abitur; 68% in Partnerschaft lebend; 80% christlich) waren insbesondere die existentialistisch geprägten Ausdrucksformen der Spiritualität (Suche nach Erkenntnis, Einsicht, Weisheit) sowie der Bewusste Umgang, den man als säkularen Humanismus auffassen kann, sowohl bei Jugendlichen als auch bei Älteren von großer Relevanz, während eine Religiöse Orientierung sowie die kognitiv geprägte Transzendenzüberzeugung erst bei Probanden mit einem Alter größer 31-40 Jahren von Bedeutung waren (Büssing, Föller-Mancini, Gidley u. Heusser 2010). Spiritualität hat in unserem Kulturkreis eine pluralistische Ausprägung, wobei Achtsamkeit und Rücksichtnahmen im Sinne eines säkularen Humanismus von besonderer Bedeutung sind. Bestimmte Ausdrucksformen der Spiritualität scheinen sich im Laufe des Lebens zudem erst zu entwickeln bzw. an Bedeutung zu gewinnen.
10.3
Spiritualität/Religiosität im Kontext von Krankheit
Die Frage nach der Spiritualität chronisch Kranker stellt sich in diesem Zusammenhang ganz anders, da es im Zuge der Auseinandersetzung mit der Erkrankung (und möglichen Einschränkungen oder drohender Finalität) zu einem Prozess der Lebensreflexion, Neubewertung und Priorisierung kommt (Büssing 2006a; Büssing u. Fischer 2009; Büssing, Ostermann u. Koenig 2007). Während für die einen die Frage nach einer Rückbindung an eine spirituelle Ressource, die hilfreich im Umgang mit der Erkrankung sein könnte, vielleicht zum ersten Mal auftaucht, ist diese für andere möglicherweise weniger wichtig, da für sie ein unbedingtes Vertrauen in ein göttliches Getragensein (trotz Erkrankungssymptomatik) im Vordergrund steht. Viele Patienten machten dezidierte Aussagen, die belegten, dass sie davon überzeugt sind, dass Glaube heilen oder zumindest hilfreich bei der Krankheitsbewältigung sein kann (Büssing 2007; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005a). In ihren Aussagen drücken sich zum einen die Suche nach externer Hilfe und ein großes Vertrauen in ein göttliches Getragensein aus, und zum anderen, dass Krankheit eine auf Änderung hinweisende Bedeutung haben kann. Die Aspekte der Suche, des Vertrauens und der reflexiven Krankheitsneubewertung (Krankheit im Sinne eines »Hinweises« zur Lebensänderung und -neugestaltung) können mit Hilfe eines Fragebogeninstrumentes abbildbar gemacht werden (. Abb. 10.1), das die spirituell-religiösen Einstellungen von chronisch Kranken im Umgang mit ihrer Krankheit thematisiert (SpREUK). Dieser
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Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
SpREUK-Fragebogen ist auch für Patienten mit einer ausdrücklich atheistischen oder agnostischen Haltung sinnvoll beantwortbar (Büssing, Keller, Michalsen, Moebus, Ostermann u. Matthiessen 2006; Büssing, Ostermann u. Koenig 2007; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005b), indem unter anderem bewusst auf exklusive Begriffe wie Gott, Jesus, Kirche etc. verzichtet wurde. Der Fragebogen wurde so konzipiert, dass die Suche nach einem Zugang zu einer spirituellen oder religiösen Quelle, die dem Leben Sinn und Halt geben könnte, von der vertrauensvollen Überzeugung abgetrennt wurde, trotz aller widrigen Umstände von einer höheren Präsenz getragen und geführt zu sein. Suche und Vertrauen wurden also als zwei unabhängige Konstrukte gefasst. Als dritte Dimension wurde die kognitive Reaktion auf die Krankheit im Sinne der Lebensreflexion und Neubewertung thematisiert. Für diese drei Grunddimensionen wurden sowohl kognitiv als auch emotional geprägte Haltungen operationalisiert (Büssing 2010), wobei das spirituell-religiöse Verhalten (Ausübungshäufigkeit) abgetrennt wurde und im SpREUK-P Fragebogen (Büssing, Matthiessen u. Ostermann 2005) abgebildet ist (. Abb. 10.2). Der Hauptmodul des SpREUK-Fragebogens hat mehrere Schritte der Kürzung und Fokussierung durchlaufen (Büssing, Keller, Michalsen, Moebus, Ostermann u. Matthiessen 2006; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005b; Ostermann, Büssing u. Matthiessen 2004). Mit der aktuellen 10-Item Kurzversion (SpREUK-SF10) wird die ursprüngliche 3-faktorielle Struktur bestätigt: 1. Vertrauen in Höhere Führung (alpha = .90) 2. Suche nach Rückbindung/Zugang (alpha = .84) 3. Reflektion: Positive Krankheitsinterpretation (alpha = .74) Die Suche ist gemäß der vorliegenden Konzeptualisierung geprägt von kognitiven, emotionalen und verhaltensbestimmten Einstellungen und entspricht im weitesten Sinne einer existentialistisch geprägten Quest-Orientierung (Batson u. Schoenrade 1991; Maltby u. Lewis 1996), während das überwiegend emotional geprägte Vertrauen die intrinsische Religiosität (Allport u. Ross 1967; Maltby u. Lewis 1996) abbildet und somit auch stark mit der Ausübungsfrequenz der konventionellen
Religiosität und Ehrfurcht/Dankbarkeit zusammenhängt (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009). Die kognitiv geprägte Positive Krankheitsinterpretation hat eine dezidiert spirituell-religiöse Konnotation (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009; Büssing, Ostermann u. Koenig 2007; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005b) und zeigte einen starken Zusammenhang mit der Suche nach Rückbindung/Zugang sowie moderat mit der existentialistischen und spirituellen Praxis sowie Vertrauen in Höhere Führung (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009). Diese Ausprägung der SpR im Kontext chronischer Krankheit wurden an 496 Patienten untersucht (. Abb. 10.1), von denen sich 40% als weder religiös noch spirituell einschätzten (R-S-). Für alle Patienten war die kognitiv geprägte Positive Krankheitsinterpretation infolge eines Reflektionsprozesses (mit Änderungsimpuls) bedeutsam, moderat das emotional geprägte Vertrauen in Höhere Führung, gering jedoch die Suche nach Rückbindung – entweder weil sie bereits eine vertrauensvolle Rückbindung an eine höhere unterstützende Instanz haben, oder weil sie daran tatsächlich kein großes Interesse (oder Erwartung) haben. Regressionsanalysen ergaben, dass die spirituell/religiöse Selbsteinschätzung (R-S-) den stärksten (negativen) Effekt auf die Ausprägung der Einstellungen hatten, während die Schulbildung einen geringen zusätzlichen (positiven) prädiktiven Einfluss auf das Vertrauen (R2 = .32) sowie die Reflektion (R2 = .10) hat bzw. das Alter der Patienten auf die Suche (R2 = .38). Die Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit hatte bei 31% der chronisch Kranken dazu geführt, sich wieder intensiv mit spirituellen oder religiösen Fragen zu beschäftigen; 30% waren der Auffassung, dass ihre Krankheit günstig zu beeinflussen wäre, wenn sie einen Zugang zu einer spirituellen Quelle finden würden. Zudem beteten 49% der Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen darum, wieder gesund zu werden und gaben an, dass ihr Glaube ihnen ein Halt in schwieriger Zeit sei (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009).
10.4 • Formen der spirituellen Praxis bei Patienten mit chronischen Erkrankungens
**
100
**
113
10
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SpREUK-SF10 Score (%)
90 80 70 60 50 40 30 20 10
kt io n Re
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0
R+S+
R+S-
R-S+
R-S-
Die Ausprägung der SpR Haltung wurde an 496 Patienten mit chronischen Erkrankungen untersucht (75% Frauen, Altersmittel 54 ± 14 Jahre; 43% Hauptschulabschluss, 23% Realschulabschluss, 20% gymnasialer Abschluss, 14% andere; 58% mit einem Partner zusammenlebend, 16% geschieden, 14% allein stehend, 13% verwitwet; 84% chronische Schmerzerkrankungen, 6% Krebserkrankungen, 10% andere chronische Erkrankungen; 81% Christlich, 4% andere, 16% keine Religionszugehörigkeit; 8% religiös und spirituell gemäß Selbsteinschätzung, 34% religiös, aber nicht spirituell, 7% spirituell, aber nicht religiös, 40% weder religiös noch spirituell). Die Scores [Rating 0-4] wurden auf ein 100%-Level bezogen. Scores > 50% sprechen für eine positive Ausprägung, Scores < 50% für eine Ablehnung bzw. fehlende Ausprägung. ** p<0,0001 (ANOVA) . Abb. 10.1 SpREUK Haltung von Patienten mit chronischen Erkrankungen in Bezug auf die Selbsteinschätzung (SpREUKSF10)
10.4
Formen der spirituellen Praxis bei Patienten mit chronischen Erkrankungen
Religiöse Überzeugungen haben ein stark kognitivintentionales Element, das nicht immer auch Ausdruck im Alltagsleben findet. Um die Ausübungsfrequenz verschiedener Formen einer spirituell-religiösen Praxis bei Patienten mit chronischen Erkrankungen zu untersuchen, wurde der generische SpREUK-P Fragebogen (. Abb. 10.2) verwendet (Büssing, Matthiessen u. Ostermann 2005), der in der aktuellen Version 2.0 (25 Items, Cronbachs alpha = .90) folgende Dimensionen differenziert: (1) Konventionell religiöse Praxis (Beten, Kirchgang, religiöse Veranstaltungen, religiöse Symbole), (2) spirituelle Praxis (Mind-Body-Übungen, Meditation, bestimmte Rituale, Rezitation heiliger Texte, Lesen spirituell-religiöser Bücher), (3) existentialistische Praxis (Sinn des Lebens, Suche nach Erkenntnis,
Selbstverwirklichung, höhere Bewusstseinsebene, Naturzuwendung), (4) humanistisch/soziale Praxis (Rücksicht, Verbundenheit, anderen helfen, sich für andere aktiv einsetzen, Gutes tun) und (5) Ehrfurcht/Dankbarkeit. Eine hohe Ausübungsfrequenz hatte sowohl die humanistisch/soziale als auch die existentialistische Praxis (was aufgrund des intentionalen Charakters bzw. der sozialen Erwünschtheit erklärbar ist), während Ehrfurcht/Dankbarkeit nur moderate Zustimmungs-Scores erzielte; konventionell religiöse sowie spirituelle Formen der Praxis spielten für die Patienten nur eine geringe Rolle (. Abb. 10.2). Jüngere Patienten (< 40 Jahre) hatten deutlich niedrigere Scores hinsichtlich konventionell religiöser und spiritueller Praxis sowie Ehrfurcht/Dankbarkeit, während die konventionell religiöse Praxis und Ehrfurcht/Dankbarkeit bei den Älteren (>70 Jahre) die höchste Ausübungsfrequenz hatte.
114
Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
SpREUK-P Scores (%)
100
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*
*
**
80 60 40 20
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<40 Jahre (19%)
41-50 Jahre (24%)
61-70 Jahre (21%)
>70 Jahre (12%)
51-60 Jahre (24%)
Die Ausübungsfrequenz bestimmter Formen einer SpR-Praxis wurde an 624 Probanden untersucht (76% Frauen, Altersmittel 54 ± 14 Jahre; 37% Hauptschulabschluss, 26% Realschulabschluss, 25% gymnasialer Abschluss, 12% andere; 82% christlich, 3% andere, 15% keine Religionszugehörigkeit; 63% chronischen Schmerzerkrankungen, 17% Krebserkrankungen, 7% Multiple Sklerose, 12% andere chronische Erkrankungen). Die Ausübungsfrequenz [Rating 0-3] wurde auf ein 100%-Level bezogen. Scores > 50% sprechen für eine häufige/regelmäßige Ausübung, während Scores < 50% für eine geringe Ausübungsfrequenz (nie/selten) sprechen. ** p< 0,001; * p<0,05 (ANOVA) . Abb. 10.2 Ausübungshäufigkeit verschiedener Formen einer spirituell-religiösen Praxis (SpREUK-P 2.0)
Hinsichtlich der soziodemographischen Einflussfaktoren war für die existentialistische Praxis das Alter von größter Relevanz (F = 6,8; p < .001) sowie im Trend auch Alter und Schulbildung (F = 2,0; p = .021; GLM univariat). Für die humanistisch-soziale Praxis ergab sich ein deutlich komplexeres Bild: Hier hatten Alter und Erkrankungskategorie die größte Bedeutung (F = 2,5; p = .002), im Trend auch Schulbildung und Erkrankungskategorie (F = 1,8; p = .046) sowie Alter, Schule und Erkrankung (F = 1,8; p = .040). Für die konventionell religiöse Praxis hatte das Alter eine signifikante Bedeutung (F = 8,0; p < .001), während die Varianzen der spirituellen Praxis am stärksten durch die Schulbildung bedingt waren (F = 4,6; p = .001). Altersunterschiede hatten ein große Bedeutung auch für Ehrfurcht/Dankbarkeit (F = 4,2; p = .002). Das Postulat, dass die vertikale Beziehung (Gott – Mensch) an Relevanz verloren hat, während die horizontale Beziehung (Zuwendung zum Anderen,
zur Natur und zu sich selbst) kompensierend bedeutsamer ist, lässt sich somit bestätigen.
10.5
Zusammenhang zwischen Krankheitsbewertung und Spiritualität
Frauen mit Brustkrebs interpretieren einer kanadischen Studie gemäß ihre Erkrankung überwiegend als eine Herausforderung (57%), zu 28% auch als etwas Wertvolles, während nur 8% ihre Erkrankung als Feind oder Bedrohung ansehen und nur 4% als irreparablen Verlust bzw. Unterbrechung des Lebens (Degner, Hack, O’Neil u. Kristjanson 2003). In einer 3-Jahres-Nachuntersuchung waren negative Bewertungen wie Bedrohung, Verlust und Bestrafung nachfolgend mit größerer Depressivität und Ängstlichkeit assoziiert sowie mit einer geringerer Lebensqualität als die positiven Krankheits-
10.5 • Zusammenhang zwischen Krankheitsbewertung und Spiritualität
bewertungen (Degner, Hack, O’Neil u. Kristjanson 2003), sodass solche Interpretationen von Krankheit bei der Begleitung chronisch Kranker Berücksichtigung finden sollten. In eigenen Untersuchungen mit deutschen Krebspatientinnen (Altersmittel 60 ± 7 Jahre; 81% Brustkrebs; mittlere Krankheitsdauer 11 ± 6 Jahre) werteten 52% ihre Erkrankung ebenfalls als Herausforderung, 38% als etwas Wertvolles, 35% aber auch als eine Unterbrechung des Lebensflusses, jedoch nur wenige als Versagen/Schwäche (5%) oder Bestrafung (3%) (Büssing u. Fischer 2009). Fatalistisch negative Bewertungen (Unterbrechung/ Verlust und Bedrohung) waren hier invers mit der mentalen gesundheitsbezogenen Lebensqualität (SF-12) und der Lebenszufriedenheit (BMLSS) assoziiert, positiv mit dem Wunsch, vor der Erkrankung weglaufen zu können (Escape) sowie mit Depressivität und Ängstlichkeit (HADS) (Büssing u. Fischer 2009). Positive Bewertungen wie Herausforderung oder Chance hingegen hingen mit adaptiven Krankheitsverarbeitungsstrategien (AKU) zusammen. Die physische Gesundheit (SF-12) war mit keiner der Krankheitsbewertungen assoziiert. Hervorzuheben ist hier, dass die intrinsische Religiosität mit keiner der negativen Bewertungen, schwach jedoch mit positiven Interpretationen korreliert (r zwischen.20 und.30) (Büssing u. Fischer 2009). Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass die intrinsische Religiosität bei den untersuchten Tumorpatientinnen scheinbar eher in einem positiven (emotionalen) Kontext steht als in einem negativen. Im Gegensatz hierzu bewerten Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen ihre Erkrankung völlig anders (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009): Als Herausforderung sahen nur 14% ihre Erkrankung an und nur 8% als etwas Wertvolles, jedoch 31% als Unterbrechung des Lebensflusses; 14% als Bedrohung, 8% als Bestrafung und 6% als ein persönliches Versagen. Hier zeigte sich ein moderater positiver Zusammenhang zwischen den positiven Bewertungen und Suche nach Sinn gebender Rückbindung (r zwischen .36 und .41) sowie schwächer mit dem Vertrauen in höhere Führung (r zwischen .28 und .35), während fatalistisch negative oder mit Schuld assoziierte negative Bewertung keinen signifikanten Zusammenhang mit beiden
115
10
Variablen der Spiritualität/Religiosität aufwiesen (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009). Somit lässt sich festhalten, dass sowohl die Symptomatik der Erkrankung als auch die jeweils eigene spirituell-religiöse Haltung einen deutlichen Einfluss darauf hat, wie Patienten ihre Krankheit ansehen und mit ihr umgehen. Die im Alten Testament im Buch Hiob artikulierte Ablehnung, dass Krankheit Ausdruck von Schuld oder eine Bestrafung sei, findet sich also bei den meisten Patienten mit chronischen Erkrankungen nicht wieder. Krankheit ist für die zumeist christlich sozialisierten Patienten kein »Schicksal«, das man geduldig ertragen müsste (Büssing, Abu-Hassan, Matthiessen u. Ostermann 2007). In der Tat vertraten in einem Kollektiv von 862 Patienten nur 27% die Auffassung, keinen Einfluss auf ihr Leben zu haben, da es vorherbestimmt sei und sie ihre Krankheit hinnehmen und »mit Fassung« tragen müssten. Für diese Hinnahme von Krankheit ergaben sich hinsichtlich der Zustimmungsraten bei den Erkrankungsgruppen deutliche Unterschiede (40% der Patienten mit Tumorerkrankungen, 34% derjenigen mit chronischen Schmerzerkrankungen, 31% Multiple Sklerose, 23% andere chronische Erkrankungen). Signifikante Unterschiede, die auf Konfessionszugehörigkeit oder das Geschlecht zurückgeführt werden könnten, ließen sich nicht finden. Diese scheinbar fatalistische Haltung fand sich wesentlich ausgeprägter bei arabischen Muslimen, die Krankheit eher akzeptierend hinnehmen als deutsche Patienten (Büssing, Abu-Hassan, Matthiessen u. Ostermann 2007). Für gläubige Muslime ist Krankheit der Hinweis, sich wieder Allah zuzuwenden, von dem sie sich in ihrem Leben entfernt haben (was nicht ausschließt, sich eigen-aktiv um Gesundung zu kümmern). Krankheit hat für Muslime einen auf Gott zurückweisenden Charakter, von dem sie sich getragen wissen. Die Einstellung, Krankheit »hinnehmen und mit Fassung tragen« zu müssen, korrelierte bei arabischen Muslimen somit auch mit Suche nach Sinn gebender Rückbindung und Vertrauen in eine höhere Kraft – nicht jedoch bei deutschen Patienten, die diese Einstellung eher ablehnten (Büssing, Abu-Hassan, Matthiessen u. Ostermann 2007).
10
116
Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
10.6
Glaube an ein Leben nach dem Tod
In einer Gruppe chronisch Kranker (n = 447; 81% Frauen, Altersmittel 54 ± 14 Jahre; 84% christlich, 4% andere Religionszugehörigkeit, 12% keine) wurde die Frage nach einem möglichen Leben nach dem Tod gestellt. Hier waren 63% der Überzeugung, »dass mit dem Tod nicht alles vorbei« ist, 29% waren unsicher und 8% teilten diese Überzeugung eher nicht. Es fanden sich für diese Überzeugung keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich Geschlecht, Alter, Schulbildung oder der Erkrankungsgruppen, jedoch für die Religionszugehörigkeit (p = 0,002; Chi2) und die SpR-Selbsteinschätzung (p < .0001; Chi2): 85% der R+S+, 75% der R+S- und 70% der R-S+ teilten die Überzeugung, jedoch nur 40% der R-S-. Die implizite Hoffnung, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist, korrelierte stark mit dem Vertrauen in Gottes Hilfe (r = .52; p < .001) und schwach mit einer Bewussten Lebensführung (r = .25; p < ,001), Krankheitsneubewertung: Krankheit als Chance (r = .20; p < .001) und gering mit Positiven Einstellungen (r = .19; p < ,001), nicht jedoch mit dem Vertrauen in ärztliche Hilfe (r = .09; p = .06). Sie war zudem schwach mit positiven Krankheitsinterpretationen assoziiert (Wertvolles: r = .21; p < .001; Herausforderung: r = .15; p = .003), jedoch nicht mit negativen Bewertungen (Bedrohung, Unterbrechung, Bestrafung oder Versagen). Hinsichtlich der Dimensionen der Lebenszufriedenheit gab es nur einen schwachen Zusammenhang mit den Zukunftsaussichten (r = .16; p = .03).
10.7
Utilitarismus: Spiritualität und Gesundheit bei chronisch Kranken
Ein Gläubiger wird über die reduktionistische Frage nach dem »Nutzen« seiner SpR sicherlich verwundert sein, da für ihn die Hinwendung zu Gott Ausdruck einer unbedingten Wahrheit ist, welche die Art und Weise der Lebensführung maßgeblich beeinflusst – es ist das, was ihn trägt und Hoffnung gibt. Dennoch ist es legitim, den möglichen
Zusammenhang zwischen SpR und gesundheitsbezogenem Verhalten zu untersuchen, da es eine Vielzahl von Studien gibt, die auf solche Effekte der SpR hinweisen. So soll eine spirituelle Grundhaltung bzw. religiöse Praxis einen günstigen Einfluss auf den Krankheitsumgang haben, religiöse Menschen eine bessere physische und psychische Gesundheit sowie günstigere Krankheitsverläufe aufweisen (Übersicht bei (Koenig 2007; Koenig, McCullough u. Larson 2001; McCullough u. Larson 1999; Powell, Shahabi u. Thoresen 2003). »Spirituelles Wohlbefinden« schützt zudem insbesondere Patienten in finalen Krankheitsstadien vor Depressivität und Verzweiflung (Fehring, Miller u. Shaw 1997; McClain, Rosenfeld u. Breitbart 2003; Nelson, Rosenfeld, Breitbart u. Galietta 2002). Ob religiöse Menschen tatsächlich länger (und besser) leben, ist schwierig zu beantworten, da zum einen Gesundheit, Krankheit und Heilung nicht monokausal bedingt sind und SpR als ein relevanter Wirkfaktor in einer Reihe von bio-psycho-sozialen Einflüssen anzusehen ist. Zudem bilden die zur Beantwortung dieser Fragen verwendeten Messinstrumente für Religiosität (und/oder Spiritualität) in der Regel entweder nur bestimmte Facetten der Religiosität ab (z. B. Häufigkeit des Kirchgangs oder des Gebets) oder sie sind so unspezifisch gefasst, dass Zusammenhänge mit verschiedensten Dimensionen der Lebensqualität unvermeidlich sind. Die Konzeptualisierungen der SpR müssen daher differenziert betrachtet werden, um Zusammenhänge zwischen multidimensionalen Konstrukten wie SpR auf der einen und Lebensqualität/Gestimmtheit (oder sogar Lebensdauer) auf der anderen Seite zu untersuchen. Der in den USA oft verwendete FACIT-Sp Fragebogen zur Messbarmachung der Spiritualität differenziert zwei Subskalen: Glaube/Vertrauen auf der einen und Sinn/Friede auf der anderen Seite. Bei amerikanischen Brustkrebsüberlebenden fand sich ein signifikanter (moderater bis starker) Zusammenhang zwischen der Subskala Sinn/Friede und gesundheitsbezogenen Variablen wie Lebensqualität/Wohlbefinden (FACT-B), Gestimmtheit (Profile of Mood Stages) und sozialer Unterstützung (ISEL, Interpersonal Support Evaluation List); diese Zusammenhänge fanden sich jedoch nicht für die Subskala Glaube/Vertrauen (Levine, Avive, Yoo,
10.7 • Utilitarismus: Spiritualität und Gesundheit bei chronisch Kranken
Ewing u. Au 2009), welche die intrinsische Religiosität abbilden würde. Auch in einer anderen Untersuchung an langzeitüberlebenden Krebspatienten war Sinn/Friede (FACIT-Sp) stark mit mentaler und schwach mit physischer Gesundheit assoziiert (SF-12), während Glaube/Vertrauen schwach (negativ) mit mentaler Gesundheit zusammenhing (Canada, Murphy, Fitchett, Peterman u. Schover 2008). Unter Verwendung eines anderen Fragebogeninstrumentes fand sich bei deutschen Patienten für das Vertrauen in Gottes Hilfe, als eng umschriebene Konzeptualisierung der intrinsischen Religiosität im Kontext des adaptiven Umgangs mit Krankheit, ebenfalls kein genereller Zusammenhang mit der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (SF-12) (Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008): Bei gesunderen Älteren (n = 3.075) und Patienten mit chronischen Erkrankungen (n = 718) ergab sich lediglich ein marginaler (inverser) Zusammenhang mit der körperlichen Gesundheit (SF-12; r < −.11; p < .001), während sich für Patienten mit akuten (n = 389) oder Krebserkrankungen (n = 776) kein signifikanter Zusammenhang nachweisen ließ; auch für die mentale Gesundheit (SF-12) ließen sich keine signifikanten Zusammenhänge nachweisen (Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008). Bei Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen fanden sich für verschiedene Dimensionen der Lebenszufriedenheit nur ein schwacher Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit den Zukunftsperspektiven und dem Vertrauen in Gottes Hilfe (BMLSS; r = .19, p < .001) (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009). Auch bei Krebspatientinnen zeigte sich kein Zusammenhang zwischen intrinsischer Religiosität und Fatigue (CFS-D), Ängstlichkeit und Depressivität (HADS) oder mentaler Gesundheit (SF-12), jedoch schwach mit der »Flucht vor Krankheit« (r = .17) (Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008). Vielmehr waren es die internalen adaptiven Krankheitsverarbeitungs-Strategien (Bewusste Lebensführung/Positive Einstellungen), die schwach (negativ) mit Ängstlichkeit und Depressivität, Fatigue sowie moderat (positiv) mit der Lebenszufriedenheit korrelierten (Büssing, Fischer, Ostermann u. Matthiesen 2008). Noch deutlicher wurden diese Zusammenhänge bei Patienten mit depressiven und/oder Suchterkrankungen: Vertrauen in Gottes
117
10
Hilfe war bei ihnen generell nur gering ausgeprägt und hing schwach (negativ) mit der Depressivität (BDI; r = −.24) und »Flucht vor Krankheit« (r = −.25) sowie positiv mit der Lebenszufriedenheit (r = .24) (Büssing u. Mundle 2009). Auch hier waren es wieder die internalen adaptiven Krankheitsverarbeitungs-Strategien (Bewusste Lebensführung/ Positive Einstellungen), die deutlich stärker (positiv) mit der Lebenszufriedenheit (insbesondere mit den Zukunftsperspektiven) sowie (negativ) mit Depressivität und »Flucht vor Krankheit« assoziiert waren (Büssing u. Mundle 2009). Die Eigeninitiative im Sinne einer aktiven und bewussten Lebensgestaltung scheint hier von Relevanz zu sein, während das eher passiv-abwartende Vertrauen auf eine externale Hilfe wenig »wirksam« war. Es ist sicherlich nicht ein bestimmtes religiöses Verhalten, das kausal zu längerem Überleben oder Heilung führt. Vielmehr sind es verschiedene Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen, wie zum Beispiel bestimmte Verhaltensweisen, die in manchen Religionsgemeinschaften gefördert werden und die mit einer »gesünderen Lebensweise« assoziiert sind. Auch das soziale Eingebundensein in eine unterstützende Gemeinschaft spielt eine bedeutende Rolle, was möglicherweise ebenfalls die Beobachtung erklären könnte, dass ein religiöses Engagement mit einer signifikant verringerten Mortalität assoziiert ist (McCullough u. Larson 1999). SpR kann also als ein möglicher Wirkfaktor in einer Reihe von bio-psycho-sozialen Einflüssen angesehen werden. Eine mögliche gesundheitsund lebensqualitätsförderliche Wirkung von SpR kann auch mit der Verhaltenshypothese (religiös motiviertes günstigeres Gesundheitsverhalten), der Kohäsions- und Beziehungshypothese (soziale Unterstützung durch die Glaubensgemeinschaft) und der Kohärenz- und Coping-Hypothese (Glaubens-gestärktes Potential zur Belastungsbewältigung) nachvollziehbar begründet werden (Baumann 2009). Auch wenn SpR für viele chronisch Kranke eine wichtige Ressource ist und Hypothesen zur Erklärung möglicher Wirkmechanismen vorliegen, so muss doch kritisch die Frage gestellt werden, welche Aspekte der Spiritualität einen Einfluss auf gesundheitsbezogene Variablen haben und ob es eine
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10
Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
bestimmte kognitive Überzeugung oder spezifische Verhaltensweisen sind. Chida et al. untersuchten in einer Übersichtsarbeit den Zusammenhang von SpR und Mortalität. Hierbei wurden 69 prospektive Kohortenstudien mit gesunden Probanden sowie 22 Studien mit Kranken ausgewertet (Chida, Steptoe u. Powell 2009). SpR war demnach mit einer reduzierten (kardiovaskulären) Mortalität ausschließlich bei Gesunden assoziiert, nicht jedoch bei Kranken; der »Schutz-Effekt« der SpR war unabhängig von verhaltensbedingten Faktoren, negativem Affekt oder sozialem Support. Die Ausübungsfrequenz institutionalisierter Aktivitäten (z. B. Kirchgang) war mit einem längeren Überleben der Gesunden assoziiert. Hier könnte man vermuten, dass die Religiosität bestimmte Verhaltensmuster nach sich zieht, die einen präventiven Charakter in Bezug auf bestimmte Risikofaktoren haben, die sich bei bereits Erkrankten aber nicht (mehr) in einem kurativen Sinne auswirken können. In einigen Übersichtsarbeiten werden solche Zusammenhänge zwischen Religiosität und Gesundheitsverhalten kritisch betrachtet und zum Teil aufgrund methodologischer Probleme die Aussagekraft der entsprechenden Studien relativiert (Powell, Shahabi u. Thoresen 2003; Sloan u. Bagiella 2002; Stefanek, McDonald u. Hess 2005). Unabhängig von einer wissenschaftlich begründeten Evidenz: Patienten schreiben ihrer SpR in der Tat einen »Nutzen« in Bezug auf den Umgang mit ihrer Erkrankung zu (jenseits ihres unbedingten »Wertes« an sich). Unter Verwendung der Benefit-Skala aus dem modularen SpREUKFragebogenpaket (6-Items, Cronbachs alpha = .92) zeigte sich, dass dieser Benefit insbesondere für Frauen, Patienten mit höherer Schulbildung und solchen mit einer spirituellen Haltung (entweder R+S+ oder R-S+) zugeschrieben wird (Büssing u. Koenig 2008). Hierbei wurde nicht gefragt, ob sich tatsächlich eine objektivierbare physische Wirkung eingestellt hatte, sondern wie die Betroffenen selber die Relevanz ihrer SpR einschätzen. Für 61% der Patienten mit chronische Erkrankungen wurde sie als hilfreich in Bezug auf einen bewussteren Umgang mit dem Leben beschrieben, 58% nannten eine tiefere Beziehung mit Umwelt und Mitmenschen, 63% Zufriedenheit und inneren Frieden, 54% För-
derung der inneren Kraft; für 52% war sie hilfreich, um mit Krankheit besser umzugehen und für 42% hilfreich, um wieder geistige und/oder körperliche Gesundheit zu erlangen.
10.8
Spiritualität der Atheisten
Es ist offensichtlich, dass ausgeprägt religiöse Menschen andere Aspekte der Spiritualität für sich nutzen als solche, die sich von der institutionalisierten Religiosität abgewandt haben. In unseren Untersuchungen fiel eine relativ große Gruppe chronisch Kranker auf, die sich selbst als weder religiös noch spirituell (R-S-) einschätzte. Im Vergleich zu Patienten mit einer religiösen oder spirituellen Selbsteinschätzung hatten sie ein signifikant geringeres Vertrauen in höhere Führung, geringeres Interesse an einer Suche nach Rückbindung/Zugang und nur eine moderat ausgeprägte Positive Krankheitsinterpretation (Büssing, Ostermann u. Koenig 2007; Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005b). Dementsprechend war ihre Ausübungsfrequenz hinsichtlich der konventionellen religiösen Praxis oder einer spirituellen Praxis auch eher gering. R-SPatienten hatten im Vergleich zu den anderen Patienten-Gruppen auch eine niedrige Zuspruchrate hinsichtlich der existentialistischen Praxis, während die humanistische Praxis und Naturzuwendung bei ihnen ausgeprägt war (Büssing, Matthiessen u. Ostermann 2005). Hervorzuheben ist, dass für 27% der R-S- Patienten der persönliche »Schutzengel« attraktiv ist (Büssing, Matthiessen u. Ostermann 2005). Hier drückt sich vermutlich ein Bedürfnis nach (spirituellem) Schutz und Begleitung aus, das sich aber nicht in einem dezidiert kirchlichen Umfeld verorten lässt, welches von ihnen oft bewusst verlassen wurde. R-S- Patienten sollten somit nicht als »spirituell defizitär« angesehen werden, da sie andere Aspekte der Spiritualität wertschätzen, insbesondere Ehrfurcht und Dankbarkeit, Mitgefühl, Großzügigkeit und Toleranz, einen bewussten Umgang mit sich selber, den Mitmenschen und der Umwelt, aber auch die Suche nach Erkenntnis, Weisheit und Einsicht (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2007b). Auch zeigen sie Interesse an »besonderen Orten«,
10.9 • Spirituelle Bedürfnisse chronisch Kranker
an denen sie Kraft schöpfen wollen (56%) (Büssing, Ostermann u. Matthiessen 2005a). Die Fähigkeit für »spirituelle Anrührungen« ist bei R-S- Menschen also ausdrücklich vorhanden, sie lehnen aber das Umfeld der institutionalisierten Religiosität ab und beziehen sich eher auf einen säkularen Humanismus, sodass hier Herausforderungen bestehen, sie in ihren spirituellen Bedürfnissen auch adäquat ansprechen zu können.
10.9
Spirituelle Bedürfnisse chronisch Kranker
Chronische Erkrankungen konfrontieren Patienten mit der Frage nach Sinn und Bedeutung im Leben, nach dem, was sie trägt und ihnen Hoffnung gibt. Viele Patienten artikulieren hier Bedürfnisse, die im klinischen Kontext oft eine Überforderung für das medizinische Personal darstellen, da sie scheinbar nicht in ihren »Zuständigkeitsbereich« gehören. In einer Umfrage unter Patienten mit chronischen Schmerzerkrankungen zeigte sich, dass ein Viertel keinen Ansprechpartner für ihre spirituell/religiösen Bedürfnisse hatten und dass ein Viertel hierüber mit ihrem Pfarrer oder Seelsorger reden; zwei von fünf Patienten gaben aber an, über diese Bedürfnisse mit ihrem behandelnden Arzt sprechen zu wollen (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009) – und der wird sich für diese Fragen gar nicht zuständig fühlen. Spirituelle Bedürfnisse werden im klinischen Kontext zumeist ausgeblendet, obwohl sie für viele chronisch Kranke essentiell sind. In der Tat fühlen sich die meisten Krebspatienten hinsichtlich ihrer spirituellen Bedürfnisse durch das medizinische System nicht oder nur minimal unterstützt, während sich viele aber auch durch eine Religionsgemeinschaft nicht unterstützt sehen (Balboni, Vanderwerker, Block, Paulk, Lathan, Peteet et al. 2007). Vor dem Hintergrund, dass die Unterstützung dieser spirituellen Bedürfnisse sich jedoch als signifikant mit der Lebensqualität der Tumorpatienten assoziiert darstellte (Balboni, Vanderwerker, Block, Paulk, Lathan, Peteet et al. 2007), muss die Frage gestellt werden, wie diese Unterstützung zum einen aussehen könnte und zum anderen, wie sie im Gesundheitssystem zu implementieren sein könnte.
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10
Offensichtlich gibt es eine relativ große Gruppe chronisch Kranker, die im Zuge ihres Umgangs mit Krankheit spirituell-religiöse Bedürfnisse haben (Büssing, Michalsen, Balzat, Grünther, Ostermann, Neugebauer et al. 2009), hierfür aber keinen Ansprechpartner finden. Was sind also diese Bedürfnisse chronisch Kranker? Moadel et al. (Moadel, Morgan, Fatone, Grennan, Carter, Laruffa et al. 1999) beschrieben, dass amerikanische Tumorpatienten Hilfe bei der Bewältigung ihrer Ängste suchten sowie Hoffnung und spirituelle Ressourcen, aber auch das Bedürfnis hatten, mit jemandem darüber sprechen zu können, wie sie (wieder) inneren Frieden finden könnten, sowie über den Sinn des Lebens, das Sterben und den Tod. In einer Übersicht der qualitativen Literatur wurden die Themenbereiche spirituelle Verzweiflung (Entfremdung, Selbst-Verlust, Dissonanz), spirituelle Arbeit (Vergebung, Selbsterforschung, Suche nach Balance) und spirituelles Wohlbefinden (Verbundenheit, Selbst-Aktualisierung und Konsonanz) als relevant für den »Lebensabend« herausgearbeitet (Williams 2006). Die meisten Untersuchungen der spirituellen Bedürfnisse wurden jedoch zumeist bei Patienten mit weit fortgeschrittenen Erkrankungsstadien durchgeführt (Balboni, Vanderwerker, Block, Paulk, Lathan, Peteet et al. 2007; Daaleman, Usher, Williams, Rawlings u. Hanson 2008; Grant, Murray, Kendall, Boyd, Tilley u. Ryan 2004; Hampton, Hollis, Lloyd, Taylor u. McMillan 2007; Hermann 2006; Hermann 2007; Murray, Kendall, Boyd, Worth u. Benton 2004; Raoul u. Rougeron 2007; Shih, Lin, Gau, Chen, Hsiao, Shih et al. 2009; Williams 2006), während über chronisch Kranke wenig bekannt ist. Mit dem »Spiritual Needs«-Fragebogen (Version 1.2: 19 Items, Cronbachs alpha = .933) sollte daher die selbst eingeschätzte Wichtigkeit bestimmter Inhalte an 221 Patienten (73% Frauen; Altersmittel 53 ± 13 Jahre; 78% christliche Religionszugehörigkeit, 8% andere Denominationen, 14% keine Religionszugehörigkeit) mit chronischen Schmerzerkrankungen (64%), Tumorerkrankungen (27%) und anderen (10%) untersucht werden (Büssing, Balzat u. Heusser 2010). Hierbei stand im Vordergrund, nicht die Bedürfnisse palliativmedizinisch betreuter Patienten abzubilden, sondern derjenigen, die mit ihrer Erkrankung im Alltagsleben zu-
120
10
Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
jmd aus der Gemeinde kümmert sich mit jmd beten mit jmd über Leben nach dem Tod reden spirituelle/religiöse Bücher lesen jmd betet für mich mit jmd über Sinn im Leben sprechen an religiöser Feier teilnehmen jmd vergeben anrührende Musik hören dass mir vergeben wird Sinn im Leben und in Krankheit sehen größere Zuwendung durch andere an höhere Präsenz wenden ungelöste Dinge im Leben klären für sich selbst beten auf Leben zurückschauen etwas von sich verschenken mit jmd über Sorgen und Ängste sprechen inneren Frieden finden jmd Trost spenden in Schönheit der Natur eintauchen sich jmd liebevoll zuwenden an Ort der Ruhe und des Friedens verweilen wieder heil sein 0
20
40 60 % Zustimmung (n=221)
80
100
. Abb. 10.3 Spirituelle Bedürfnisse (SpNQ) bei Patienten mit chronischen Erkrankungen
rechtkommen müssen (. Abb. 10.3). Faktorenanalytisch ließen sich vier Bedürfnisfelder differenzieren (Büssing, Balzat u. Heusser 2010): (1) Religiöse Bedürfnisse, (2) Bedürfnis nach innerem Frieden, (3) existentielle Bedürfnisse (Reflektion/Bedeutung) und (4) Eigen-aktive Zuwendung. Religiöse Bedürfnisse und existentielle Bedürfnisse waren in der untersuchten Gruppe am geringsten ausgeprägt (insbesondere bei Schmerzpatienten), das Bedürfnis nach innerem Frieden sowie Eigen-aktiver Zuwendung am stärksten (insbesondere bei Krebspatienten) (Büssing, Balzat u. Heusser 2010). Eigen-aktive Zuwendung war mäßig mit der Lebenszufriedenheit assoziiert (BMLSS; r < .20; p < .05) sowie negativ mit der Schmerzsymptomatik (erhoben über visuelle Analogskalen; r = −.29; p < .01). Somit konnten für deutsche Patienten mit chronischen Erkrankungen umschriebene spirituelle Bedürfnisse definiert werden, die sich möglicher-
weise gar nicht sehr von denen älterer Menschen unterscheiden. Bedeutsam war jedoch das Bedürfnis, sich selber (wieder) aktiv anderen zuwenden und »etwas geben« zu können, was dafür spricht, aus der Rolle des vermeintlich »Defizienten« herauszutreten und wieder eigenverantwortlicher Gestalter des Lebens sein zu können.
10.10
Zusammenfassung und Ausblick
Die Frage nach der Bedeutung der SpR im Kontext von Gesundheit und Krankheit ist komplex, sodass die Antworten sehr differenziert ausfallen werden. Um zum einen dieser Komplexität Rechnung zu tragen und zum anderen dem Umstand gerecht zu werden, dass in diesem Kontext möglicherweise nur bestimmte Aspekte der Spiritualität von Relevanz sein könnten, sollten die entwickelten generischen und krankheitsassoziierten
121
10.10 • Zusammenfassung und Ausblick
Emotion/Kognition
Verhalten
Bedürfnisse
Haltung (SpREUK; Krankheitsbezug) Suche nach sinngebender Rückbindung/Zugang
Praxis/Frequenz (SpREUK-P; generisch)
Vertrauen in höhere Führung
Konventionell religiös Dankbarkeit/Wertschätzung
Religiös/Beten
Existentialistisch
Existentiell (Reflektion, Sinn/Bedeutug) eigen-aktive Zuwendung
Positive Krankheitsinterpretation (Reflektion und Änderung)
Spirituell Mind-Body
Humanistisch
10
Bedürfnisse (SpNQ; Krankheitsbezug) Innerer Friede
Benefit durch SpR (Benefit; Krankheitsbezug)
Ausdrucksformen (ASP; generisch) Gebet, Gottvertrauen Erkenntnis, Weisheit, Einsicht Bewusster Umgang Transzendenzüberzeugung
. Abb. 10.4 Modulares System zur Operationalisierung verschiedener Aspekte und Dimensionen der SpR im Kontext von Gesundheit und Krankheit
Fragebogeninstrumente im Sinne eines modularen Systems verwendet werden, das Ausdrucksformen, Haltungen, Ausübungsfrequenz und Bedürfnisse unterscheidet (. Abb. 10.4). Die bisherigen Untersuchungen zeigen, dass SpR für bestimmte Patienten eine wichtige Ressource darstellen kann, welche die Art und Weise beeinflusst, wie ein Mensch mit seinem Leben und seiner Krankheit umgeht. Sie kann das Selbstwertgefühl unterstützen, dem Leben Sinn und Bedeutung geben sowie emotionalen Trost und Hoffnung (Thune-Boyle, Stygall, Keshtgar u. Newman 2006). Der individuelle Glaube, die Haltung und Einstellung zum Leben kann zu innerem Frieden und einem Gefühl des Aufgehobenseins trotz Erkrankungssymptomatik führen, was geringeren »Stress« bedeutet und somit inneren Lösungsprozessen (im Sinne einer »Heilung«) zuträglich ist. Bedeutsam sind vermutlich auch die individuellen Vorstellungen über das »Nachtodliche« (Endgericht, Auferstehung, Wiedergeburt, Auslöschung), die den Umgang mit chronischen und/oder lebensbedrohenden Erkrankungen gerade in der finalen Phase beeinflussen. Untersuchungen an Krebs-Pa-
tienten deuteten an, dass der Glaube an ein Leben nach dem Tod mit geringerer finaler Verzweiflung (Todeswunsch, Hoffnungslosigkeit, Suizidgedanken) assoziiert war, aber nicht mit geringerer Depressivität oder Ängstlichkeit (McClain-Jacobson, Rosenfeld, Kosinski, Pessin, Cimino u. Breitbart 2004); wurden die Zusammenhänge hinsichtlich der Ausprägung der Spiritualität kontrolliert, dann verschwanden die Effekte. McClain-Jacobson und Mitarbeiter schlossen daraus, dass die Spiritualität einen stärkeren Einfluss auf psychologische Funktionen hat als alleine der Glaube an eine Leben nach dem Tod (McClain-Jacobson, Rosenfeld, Kosinski, Pessin, Cimino u. Breitbart 2004). Für einen chronisch Kranken könnte »Heilwerden« als ein »Prozess des sich entwickelnden Werdens« (Genesung) aufgefasst werden (Büssing 2008b), wobei die Erfahrungen des Krankseins und dessen Überwindung in den Lebensfluss integriert werden. Dieses Heilwerden wäre somit als eine »Versöhnung« mit den eigenen Ansprüchen und Lebenserwartungen, mit der eigenen Biografie und Erkrankungssymptomatik aufzufassen, wobei das »Ende« aber offen bleibt. Gemäß Antonovskys Ko-
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Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
härenzkonzept (Antonovsky 1987) gehört zu dieser »Aussöhnung mit dem Leben«, wie es ist, auch die Fähigkeit, Zusammenhänge des Lebens zu verstehen, sowie die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können, und der Glaube, dass das Leben einen Sinn hat. Dies würde die Sichtweise beinhalten, sich nicht mehr ausschließlich durch Krankheit bestimmt und ausgeliefert zu sehen, sondern sein Leben trotz und gegebenenfalls auch mit Krankheitssymptomatik selbstständig gestalten zu können. Dies ist ein aktiver und bewusster Gestaltungsprozess, der wohl nicht immer gelingen wird. Die therapeutisch Begleitenden sollten ihre Patienten daher nicht auf ihre Defekte und krankheitsbedingten Unzulänglichkeiten reduzieren, sondern ihr Lebens- und Entwicklungspotential in diesem Sinne begleitend fördern. Dies ist die Chance einer Caritas-Haltung. Aber diese setzt voraus, dass sich die therapeutisch Tätigen ihrer eigenen spirituellen Wurzeln bewusst sind und diese entwickeln. Dass das medizinische Personal oft keine Zeit, Courage oder gar Interesse hat, die spirituellen Bedürfnisse ihrer Patienten anzusprechen, ist nicht zu leugnen; darüber hinaus haben manche Patienten aber auch nur ein eingeschränktes Interesse (bzw. Mut), über solch persönliche Dinge überhaupt zu sprechen. Auch wenn solche Gespräche oft nur schwer zu initiieren sind, haben diese, wenn das Vertrauen einmal aufgebaut ist, zumeist eine befreiende Qualität (Murray, Kendall, Grant, Boyd, Barclay u. Sheikh 2007). Die wertschätzenden und zuwendenden Formen der Begleitung sollten allerdings nicht erst in der finalen Phase einer Erkrankung zum Tragen kommen, sondern bereits sehr früh nach der Diagnosestellung im Rahmen der therapeutischen Intervention implementiert werden. Hier scheinen die Eigenaktivität stärkende, handlungsorientierte Interventionen nützlich zu sein. Die evidenzbasierte Ausarbeitung des spezifischen Beitrages spirituell begründeter Ansätze (wie z. B. achtsamkeitsbasierte Meditation, Yoga, persönliches Gebet u. a.), die in der unterstützenden Begleitung chronisch Kranker zum Tragen kommen könnten, steht noch aus. Verschiedene Übersichtarbeiten untermauern jedoch die Bedeutung bestimmter Verfahren aus dem Bereich der Mind-Body-Medicine gerade für den Schwerpunkt chronischer Schmerz
oder Krebserkrankung (Biegler, Chaoul u. Cohen 2009; Bonadonna 2003; Büssing, Schnepp, Ostermann, Neugebauer 2009a; Büssing, Schnepp, Ostermann u. Neugebauer 2009b; Carlson u. Bultz 2008; Majumdar, Grossman, Dietz-Waschkowski, Kersig u. Walach 2002; Morone u. Greco 2007). Die Frage nach den spirituellen Ressourcen chronisch Kranker ist somit für die Versorgungsforschung von Relevanz. Die Entwicklung und Umsetzung tragfähiger Versorgungskonzepte in diesem Kontext steht jedoch noch aus. Erste Ansätze liegen zumindest für den Bereich der achtsamkeitsbasierten Interventionsprogramme vor.
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Kapitel 10 • Spiritualität/Religiosität als Ressource im Umgang mit chronischer Krankheit
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Emotionale Krankheitsakzeptanz Ausgangspunkt für seelische Gesundheit Götz Mundle und Edda Gottschaldt
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Kapitel 11 • Emotionale Krankheitsakzeptanz - Ausgangspunkt für seelische Gesundheit
11.1
Einleitung
Vor fünfundzwanzig Jahren entwickelte Matthias Gottschaldt das »Oberbergkonzept«. Kern des Oberbergkonzeptes ist die Arbeit am Emotionalen Profil. Aus seiner eigenen Erfahrung als Wissenschaftler und Chefarzt im Umgang mit seiner Abhängigkeitserkrankung wusste er, dass alleine ein sachliches Krankheitsverständnis und eine rationale Krankheitsakzeptanz nicht ausreichten, um langfristig mühelos abstinent und gesund leben zu können. Er entdeckte für sich selbst, dass der Zugang zu seinen Emotionen, seinem Emotionalen Profil und einer daraus resultierenden emotionalen Krankheitsakzeptanz Schlüssel für seelische Gesundheit in seinem weiteren Leben waren. Aus dieser Grundhaltung heraus wurde von ihm das »Oberbergkonzept«, welches primär auf die emotionale Krankheitsakzeptanz fokussiert, entwickelt. Seitdem hat es unzähligen Patienten in den von ihm vor über fünfundzwanzig Jahren gegründeten Oberbergkliniken erfolgreich beim Weg aus Abhängigkeitserkrankungen, Depressionen, Angststörungen und Burn-out geholfen.
11 11.2
Das Oberbergkonzept
Das Oberbergkonzept verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz und fokussiert auf die Einheit aus Körper, Geist und Seele. Wegweisend ist die individuelle und intensive Therapie, die das gemeinsame Erarbeiten und Erleben des Emotionalen Profils jedes Menschen in den Mittelpunkt stellt (Gottschaldt u. Gottschaldt 2009). Die Oberbergtherapie sieht jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit und hat den Anspruch, ihn zurück zu seinem Potenzial der vollen seelischen, geistigen und körperlichen Gesundheit zu führen. Ziel der integralen Behandlung ist eine »ansteckende« Gesundheit, die den Patienten auch zum Vorbild für sein Umfeld macht. Daher lautet der Leitspruch der Oberbergkliniken: »Zurück ins Leben«. Kern der klinischen Behandlung nach dem Oberberg-Modell ist ein intensives schulenübergreifendes Therapiekonzept mit täglichen 50-minütigen Einzel- und 100-minütigen Gruppengesprächen. Dieses Basisprogramm wird durch
spezifische indikationsgeleitete Einzel- und Gruppentherapien (für Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen, Depressionen oder Angststörungen) sowie körperorientierte und gestaltende Therapien ergänzt. Achtsamkeitsbasierte Übungen der Stille, z. B. der Bodyscan nach Kabat-Zinn, Autogenes Training oder Elemente der Zen-Meditation ermöglichen eine aktive Innenschau und damit den Zugang zu den eigenen »inneren« Potentialen. Die Aktivierung und Entfaltung dieser individuell sehr unterschiedlichen Potentiale ist die Basis für eine nachhaltige Gesundung.
11.3
Emotionale Krankheitsakzeptanz
Ziel der Oberbergtherapie ist es, den Patienten durch ein Grundverständnis ihrer Erkrankung eine rationale und emotionale Akzeptanz der Krankheit zu ermöglichen. Auf rationaler Seite wird den Patienten ein wissenschaftlich evidenzbasiertes Krankheitsmodell vermittelt. Die ausführliche Diagnostik und die Darstellung des Krankheitsverlaufs helfen, die eigene Erkrankung auf der Basis rationaler Intelligenz prinzipiell verstehen und akzeptieren zu können. Auf dieser Ebene bewegen sich auch die Manual-geleiteten, Verhaltenstherapie-basierten Einzel- und Gruppentherapieangebote, die sich an der jeweiligen Indikation orientieren. Die Indikationsgruppen für Abhängigkeitserkrankungen basieren auf den Grundprinzipien der qualifizierten Entzugsbehandlung von Alkoholabhängigen (Mann et al. 2006) und der alkoholismusspezifischen Psychotherapie (Brueck u. Mann 2006) sowie die Indikationsgruppen für Depression auf den Grundprinzipien der Kognitiven Therapie (Hautzinger 2003). Für die emotionale Krankheitsakzeptanz ist die Arbeit am Emotionalen Profil entscheidend. Prof. Matthias Gottschaldt prägte den Begriff des Emotionalen Profils, das bei jedem Einzelnen individuell verschieden ist. Die Ursprünge dieses Emotionalen Profils finden sich meist in frühen Kindheitserfahrungen. Emotionale Muster und Schemata im Umgang mit unterschiedlichen, auch schwierigen Situationen bilden das Emotionale Profil mit funk-
11.4 • Die Evaluation der Emotionalen Krankheitsakzeptanz
tionalen und dysfunktionalen Mustern, die im Umgang mit aktuellen Erkrankungen eine zentrale Rolle spielen. Gelingt es, das Emotionale Profil wahr- und anzunehmen, so wird es dem einzelnen Patienten möglich, die aktuelle Erkrankung auch als Ausdruck dysfunktionaler Verarbeitungsmuster emotionaler Grundkonflikte zu verstehen, in sein Gesamtbild zu integrieren und im Sinne der Heilung als Lebensprozess in funktionale Verarbeitungsmuster zu transformieren. Im Vordergrund stehen hierbei Gefühle wie Schuld, Scham, Wut oder Ohnmacht gegenüber der Erkrankung und der eigenen Person (Mundle u. Gottschaldt 2008, Gottschaldt u. Gottschaldt 2009). Das Erkennen und Erfahren des Emotionalen Profils kommt einer bewussten Innenschau gleich. Die Fragestellung »Wie geht es mir?« wird dabei anhand des von Matthias Gottschaldt entwickelten Oberberg-Befindlichkeitsbogen erhoben, der Patienten mit den an sich einfachen, in der aktuellen Situation jedoch meist schwierig zu beantwortenden Fragen »Was fühle ich momentan?«, »Was könnte dieses Gefühl ausgelöst haben?«, »Was hat mich heute emotional besonders berührt?« und »Warum hat es gerade mich besonders berührt?« konfrontiert.
11.4
Die Evaluation der Emotionalen Krankheitsakzeptanz
Zur Evaluation des Konzeptes der Emotionalen Krankheitsakzeptanz wurde von den Oberbergkliniken in Zusammenarbeit mit Prof. Arndt Büssing von der Universität Witten/Herdecke ein Fragebogen zur Emotionalen Krankheitsakzeptanz mit 29 Items (Cronbach´s alpha = .93) entwickelt, das die Krankheitsakzeptanzstile (1) positive Lebensgestaltung, Zufriedenheit und Wohlbefinden (trotz Krankheit), (2) bewusster Umgang mit Krankheit, (3) Ablehnung eines irrationalen Umgangs mit Krankheit sowie (4) rationale Krankheitsakzeptanz abbildet (Büssing et al. 2008). Um die Praktikabilität zu erhöhen, wurde das Instrument auf 20 Items gekürzt (alpha = .87), die sich in 4 Faktoren differenzieren: (1) Positive Lebensgestaltung, Zufriedenheit und Wohlbefinden (trotz Krankheit), (2) Ablehnung eines irrationalen Umgangs mit Krank-
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heit, (3) Ablehnung von Schuld und Versagen sowie (3) rationale Krankheitsakzeptanz. Dieses Instrument wurde in den Oberbergkliniken validiert und hat sich als reliabel und veränderungssensitiv erwiesen (Büssing et al. 2008; 2010). Die definierten Faktoren (insbesondere positive Lebensgestaltung, Zufriedenheit und Wohlbefinden) korrelierten negativ mit Depressivität und Flucht vor Krankheit, aber positiv mit Lebenszufriedenheits-Aspekten wie »Selbst«, »Leben allgemein«, »Wohnumfeld« und »Zukunftsperspektiven«. Die höchsten Zustimmungs-Scores fanden sich für den rationalen Stil »Bewusster Umgang mit Krankheit«, während die mit der emotionalen Krankheitsakzeptanz assoziierten Stile insbesondere in der Depressivität nicht zum Tragen kamen. Die emotionale Krankheitsakzeptanz und Entwicklung positiver Lebensperspektiven entwickelt sich also als Weg aus der Depressivität heraus. Im Rahmen einer multizentrischen und prospektiven Längsschnittuntersuchung wurde untersucht, ob und wie sich die Gewichtung der Krankheitsakzeptanz-Stile im Verlauf der stationären Behandlung verändern. Die Summen-Scores der jeweiligen Faktoren stiegen im Vergleich zur stationären Aufnahme zum Zeitpunkt der Entlassung signifikant in positive Bereiche an, insbesondere für die emotional geprägte positive Lebensgestaltung. Diese korrelierte stark negativ (r > 0.5; Spearman Rho) mit der psychischen Belastung (SCL90-R GSI), Depressivität (BDI) und positiv mit Lebenszufriedenheit (BMLSS). Bei Patienten mit depressiven und/oder Suchterkrankungen ließen sich starke Therapieeffekte (Cohen’s d) nachweisen, insbesondere für die beiden emotional geprägten Faktoren »positive Lebensgestaltung« und »rationale Krankheitsakzeptanz«; bei Patienten mit Suchterkrankungen fanden sich im Therapieverlauf ebenfalls starke Effektstärken für die Ablehnung eines irrationalen Umgangs mit Krankheit. Da dieser Faktor schon zu Behandlungsbeginn stark ausgeprägt war, ist er als Risikomarker wenig geeignet. Suchterkrankten fehlt es nicht an der (kognitiven) Einsicht, sondern an den zu entwickelnden emotionalen Ressourcen. Dieser Fragebogen wird aktuell in einer multizentrischen, prospektiven Längsschnittuntersuchung in den drei Oberbergkliniken (sowie im
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Kapitel 11 • Emotionale Krankheitsakzeptanz - Ausgangspunkt für seelische Gesundheit
Mood Disorders Research Laboratory der Universität Laval, Québec) weiter untersucht, um weiterführende Aussagen hinsichtlich der Veränderungspotentiale der individuellen Krankheitsakzeptanz-Stile im Verlauf der stationären Behandlung, des Zusammenhanges zwischen bestimmten Krankheitsakzeptanz-Stilen und der Rückfallraten oder längeren symptomfreien Intervalle treffen zu können sowie die Frage beantworten zu können, welche Faktoren als Prädiktoren oder Steuerparameter für eine therapeutische Intervention und damit eine effektivere Behandlung angesehen werden können. Erste Untersuchungen konnten zeigen, dass intrinsische Religiosität ausschließlich mit einem emotional geprägten bewussten Umgang mit Krankheit assoziiert war, während insbesondere eine bewusste Lebensführung (im Sinne einer Achtsamkeits-geprägten adaptiven Coping-Strategie) moderat mit verschiedenen Dimensionen der emotionalen Krankheitsakzeptanz zusammenhing (Büssing et al. 2008).
11
11.5
Integrale Heilkunst – die Weiterentwicklung des Oberbergkonzeptes
Aus der Erkenntnis, dass eine bewusste emotionale Auseinandersetzung mit der eigenen Krankheit Patienten eine Chance zur neuen, konstruktiven Lebensgestaltung bietet, hat das Oberbergkonzept in vielen Jahren praktischer Anwendung eine Erweiterung erfahren. Es versteht sich nunmehr als ein Konzept der integralen Heilkunst. Aus der Krankheitsakzeptanz soll ein Wandlungs-, Wachstums- und Entfaltungsprozess der Persönlichkeit ermöglicht werden (Mundle u. Gottschaldt 2008, Gottschaldt 2009). Ein Leitgedanke ist hierbei der Begriff der Salutogenese (»Gesundheits-Entstehung«), der von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923– 1994) geprägt wurde. Das Konzept lenkt den Fokus weg von der Frage nach den Ursachen einer Krankheit (Pathogenese) hin zur Erhaltung, Förderung und Entwicklung von Gesundheit. Nach dem Modell der Salutogenese ist nicht Homöostase, also Gleichgewicht, sondern Homöodynamik, also
Wandlung und Veränderung, das bestimmende Element der menschlichen Existenz. Nachhaltige Gesundung ist ein kontinuierlicher Prozess, bei dem Krankheitssymptome gleichzeitig Hinweise für den Gesundungsprozess und Heilung sind (Antonovsky u. Franke 1997). Seelische Gesundheit ist im Sinne der Salutogenese Zielpunkt und Motor eines Prozesses, in dem die Krankheit den Beginn der Bewusstwerdung der Persönlichkeit darstellt. Dieses Bewusst-Sein setzt eine Umkehr und einen Wertewandel im Umgang mit der Erkrankung voraus. Nicht mehr die reine Außensicht ist entscheidend, sondern die jeweils individuelle, persönliche Innenschau. Erfahrungen beim Beschreiten dieses »Weges nach Innen« haben die östlichen und westlichen Philosophien in Jahrhunderten gesammelt. Die Einsichten der Mystiker, die erfolgreiche Methoden der Meditation und die Erkenntnisse der modernen Forschung ergänzen und bereichern sich in dieser Hinsicht gegenseitig (Grepmaier 2008, Hölzel et al. 2008, Lazar et al. 2005, Lutz et al. 2008, 2009; Singer u. Ricard 2008). Der Weg zur Seelischen Gesundheit ist gleichzeitig der Weg eines Bewusstseinswandels, wie ihn der Schweizer Philosoph Jean Gebser (1905–1973) aufgezeigt hat. Laut Gebser unterliegt die menschliche Kulturgeschichte einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess des Bewusstseins. Ausgehend von einem archaischen Bewusstsein entwickelten sich magische, mythische und mentale Bewusstseinsstufen. In der aktuellen Zeit beobachtet Gebser das Aufkommen eines neuen, integralen Bewusstseins. Leitgedanke dieses integralen Bewusstseins ist die Überwindung der Dualität von Raum und Zeit (Gebser 1999). Mit der Veränderung der Bewusstseinsstufen verändert sich auch der Blick auf und in die Welt. In einer magischen und mythischen Welt ist der Blickwinkel unperspektivisch. Der Mensch ist Teil dieser Welt, nicht ihr Gegenüber. Auf der mentalen Bewusstseinsstufe hingegen entwickelt der Mensch ein Bewusstsein von Zeit und Raum, von Ich und Du. In der aktuell perspektivischen Weltsicht steht der Mensch der Welt bewusst gegenüber. Die moderne Wissenschaft mit ihrer Evidenzbasierung beruht auf einem perspektivischen Bewusstsein. Auch das personale Bewusstsein mit Gedanken,
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11.6 • Die Oberberg Stiftung
Emotionen und Erinnerungen spielt sich in diesem Bereich ab. Das neue, integrale Bewusst-Sein führt den Menschen jedoch einen Schritt weiter, hin zu einer aperspektivischen Weltsicht. Die Gegensätze von Subjekt und Objekt sind hier überwunden, ein neues Miteinander und die bewusste Teilhabe des Einzelnen am Weltganzen ersetzen die Trennung. Das individuelle Ich ist nicht höchste Organisation, sondern vielmehr die zentrale Instanz individueller Handlungsfähigkeit. Moderne Psychotherapie zielt darauf ab, das menschliche Sein in seiner Gesamtheit zu erfassen. Um den Menschen zur umfassenden seelischen Gesundheit zu führen, müssen demnach alle Ebenen des Bewusst-Seins wahrgenommen werden. Achtsamkeitsbasierte Verfahren wie die Dialektisch-Behaviorale Therapie, die von Marsha Linehan zur Behandlung von Patienten mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen entwickelt wurde, tragen dieser ganzheitlichen Sicht Rechnung. Der Leitgedanke dieser Therapie lautet: »Offen sein, das eigene Erleben (experience) zu erfahren, wenn man es erlebt – ohne versuchen, es zu kontrollieren, zu verhindern, davor zu fliehen etc.«, Wahrnehmen ohne zu handeln und bewusst zu sein, ist das bestimmende Prinzip (Linehan 2008; Bohus u. Wolf 2009). Die unbedingte Konzentration auf die augenblicklichen Gegebenheiten ist auch der Kerngedanke der Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR), die von dem US-amerikanischen Molekularbiologen Jon Kabat-Zinn entwickelt wurde. Sie beruht auf der indischen Tradition des Vipassana Yoga. Eine Reduzierung von Stress basiert hier auf einem modernen Stressmanagement, welches direkten Einfluss auf das vegetative Nervensystem und die zugrunde liegende hormonelle Stressachse hat. Erreicht wird die Modulation dieser Systeme z. B. durch die Übung des sogenannten »Bodyscan«, eine Form einer aktiven Innenschau und Sammlung. In dieser Übung wird der Fokus auf den eigenen Körper und ins Hier und Jetzt gelenkt, was ein Verlassen von Gedankenspiralen und hinderlichen, wertenden Konzepten ermöglicht. Akzeptanz ist danach die bedingungslose Annahme des Augenblicks im So-Sein ohne Bewertung und Erwartung. Ein permanentes, achtsames Wahrneh-
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men der eigenen Empfindungen tritt gleichsam an die Stelle des »Autopiloten«. MBSR wird in den Indikationsbereichen Stresserkrankungen, Abhängigkeitserkrankungen und Depression eingesetzt. In mehreren wissenschaftlichen Studien konnte die Wirksamkeit nachgewiesen werden. Aktuell erfolgt die Überprüfung der Wirksamkeit in weiteren Indikationsbereichen wie, Fibromyalgie, Hypertonie, HIV, Krebs oder Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome (Chiesa u. Serretti 2009, Esch 2008, Ernst et al. 2009, Grossmann et al. 2004, Heidenreich u. Michalak 2004, Kabat-Zinn u. Oidonna 2008). Aufgrund der Wirksamkeit der achtsamkeitsbasierten Verfahren erweitern die Oberbergkliniken das bestehende Therapiekonzept - bestehend aus rationaler und emotionaler Krankheitsakzeptanz - um den Moment einer achtsamen und aktiven Gesundheits-Gestaltung. Auf der Ebene der spirituellen Intelligenz erfahren die Patienten ihre Krankheit als Chance und Anstoß für einen aktiven und individuellen Bewusstwerdungsprozess der eigenen Potentiale als Basis für eine nachhaltige und »ansteckende« Gesundheit. In der Therapie wird dieser erweiterte Ansatz durch die Einbindung spezifischer Angebote zur aktiven Innenschau durch Übungen der Stille auf der Basis von meditativen Praktiken wie Zen oder Yoga eingesetzt. Für die beteiligten Therapeuten bedeutet diese Erweiterung des Sichtfeldes gleichfalls eine Hinorientierung zum Weg der eigenen Persönlichkeitsentwicklung. Für sie gilt es nunmehr, die duale Sichtweise von Krankheit und Gesundheit, Patient und Therapeut zu überwinden und den therapeutischen Prozess als einen gemeinsamen Übungsweg zu begreifen.
11.6
Die Oberberg Stiftung
Diese ganzheitliche Erweiterung des OberbergKonzepts findet auch in der neuen Ausrichtung der Oberberg Stiftung Matthias Gottschaldt (vormals Deutsche Suchtstiftung Matthias Gottschaldt) ihren Niederschlag. Die Vision der Oberberg Stiftung ist Integrale Heilkunst. Mit größtmöglicher Achtsamkeit wird »ansteckende« Gesundheit erforscht, gelebt und gelehrt. Wenn unsere Spurensuche zu
130
Kapitel 11 • Emotionale Krankheitsakzeptanz - Ausgangspunkt für seelische Gesundheit
den Ursachen führt und wir unsere Symptome als erfahrbare Zeichen begrüßen, wird Heilung möglich. In dieser geistigen Grundhaltung schlägt die Oberberg Stiftung eine Brücke von der Pathogenese zur Salutogenese, von der Selbsttranszendenz zu Wachstum und Verbundenheit. Wir helfen Menschen ihre Sehn-Süchte, ihr seelisches Leid und die Angst vor sich selbst zu überwinden (Gottschaldt 2009, Mundle u. Gottschaldt 2009). In dieser geistigen Grundhaltung unterstützt die Stiftung die Entwicklung und Untersuchung von innovativen Konzepten integraler Heilkunst und führt Veranstaltungen, Symposien sowie Expertenrunden, z. B. zu Themen wie Ärzte- oder Lehrer-Gesundheit, durch. Die Auslobung des Wilhelm Feuerlein Forschungspreises für herausragende Arbeiten in der Suchtmedizin wurde von den Oberbergkliniken initiiert und ist seit Beginn der Stiftung integraler Bestandteil. In der Gesprächsreihe »Menschen am Gendarmenmarkt« berichten Menschen des öffentlichen Lebens wie z. B. Horst Seehofer oder Katrin Saß über ihren eigenen Weg heraus aus der Krankheit hinein in einen Wachstumsprozess ihrer eigenen Persönlichkeit.
Das 18-monatige postgraduale WeiterbildungsCurriculum für Ärzte, Psychologen, Therapeuten und medizinisches Personal, welches aus sieben Wochenendmodulen und einer Intensivwoche besteht, wird ab Herbst 2010 angeboten werden. Mit größtmöglicher Achtsamkeit möchten wir Menschen auf tiefere Ebenen der Selbsterkenntnis und Authentizität führen. Indem wir alle Aspekte unserer Persönlichkeit wahrnehmen und begrüßen lernen, eröffnen sich uns Räume für die Erfahrung unseres tiefsten Wesens. Mittels dieser geistigen Grundhaltung schlägt die Oberberg Akademie eine Brücke von der fachlichen Kompetenz zur Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit, von der evidenzbasierten Medizin zu einer ganzheitlichen Sichtweise von Heilung durch die Entfaltung aller in uns angelegten Persönlichkeitspotentiale. Wir unterstützen Menschen darin, ihre berufliche Kompetenz durch persönliche Präsenz lebendig werden zu lassen. Eine authentische und gereifte Persönlichkeit zeichnet sich durch Strahlkraft und Lebendigkeit aus, die durch das Gleichgewicht von Innen und Außen in gesellschaftliche Verantwortung und Verbundenheit mit allen Menschen führt.
11 11.7
Die Oberberg Akademie
Im heutigen Gesundheitswesen können Ärzte, Psychologen, Therapeuten und medizinisches Fachpersonal ihren Beruf mit exzellenter Fachkenntnis und Leistungswillen allein nicht mehr ausfüllen. Ein radikal neues Grundverständnis von Medizin und Heilung, sprich integraler Heilkunst, ist gefragt. Nur die Verbindung von evidenzbasierter Medizin mit einer selbst-bewussten reifen Persönlichkeit des Patienten und Arztes/Therapeuten ermöglicht eine ganzheitliche Heilung des Patienten. Eine moderne Therapie bedarf daher nicht nur der medizinischen Behandlung der Erkrankung, sondern der bewussten Aktivierung aller Heilungspotentiale der Gesamtpersönlichkeit. Einzig durch die Entwicklung einer integralen Heilkunst sind eine nachhaltige Gesundung und eine effektive Gesundheitsvorsorge von Menschen langfristig zu gewährleisten (Irving et al. 2009, Mundle 2009).
Literatur Antonovsky A, Franke A (1997) Salutogenese: Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Dgvt-Verlag, Tübingen Bohus M, Wolf M (2009) Interaktives Therapieprogramm für Borderline-Patienten. Therapeuten-Version. Schattauer, Stuttgart Brueck R, Mann K (2006) Alkoholismusspezifische Psychotherapie: Manual mit Behandlungsmodulen. Deutscher Arzte-Verlag, Köln Büssing A, Matthiessen PF, Mundle G (2008) Emotional and rational disease acceptance in patients with depression and alcohol addiction. Health Qual Life Outcomes 21 : 4 Chiesa A, Serretti A (2009) A systematic review of neurobiological and clinical features of mindfulness meditations. Psychol Med. 27 : 1–14 Ernst S, Esch SM, Esch T (2009) Die Bedeutung achtsamkeitsbasierter Interventionen in der medizinischen und psychotherapeutischen Versorgung. Forsch Komplementmed.16 : 296–303 Esch T (2008) Mind-Body-Medizin: Stress, Stressmanagement und Gesundheitsförderung. Komplementäre und Integrative Medizin 49 : 35–39 Gebser J (1999) Ursprung und Gegenwart. Novalis Verlag, Quern-Neukirchen
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Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung? Niko Kohls und Harald Walach
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12
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Kapitel 12 • Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung?
12.1
Einleitung
In den letzten Jahren hat das gesellschaftliche Interesse an Fragen der individuellen Bedeutsamkeit und Sinnhaftigkeit jenseits materieller Dimensionen der menschlichen Existenz spürbar zugenommen. Parallel dazu hat sich auch in der Medizin und in den Gesundheitswissenschaften ein tiefgreifender Einstellungswandel vollzogen: War man früher im Sinne einer pathogenetischen Sichtweise vorwiegend daran interessiert, die Ursachen von Krankheit sowie Wege zu deren Bekämpfung zu erforschen, so sind heutzutage viel stärker als früher Fragen nach den aufrechterhaltenden Faktoren von Gesundheit, Wohlbefinden, Lebensqualität oder Zufriedenheit in den Vordergrund gerückt. Mit dieser neuen, salutogenetisch orientierten Sichtweise untrennbar verbunden ist auch die Suche nach den eigentlichen Quellen der Widerstandskraft oder Resilienz (von lateinisch resilire = »zurückspringen, abprallen«) gegen die Widrigkeiten des Lebens, die man auch als Fähigkeiten zur Selbstheilung auf biologischer, psychologischer und sozialer Ebene verstehen kann. Dieser Paradigmenwechsel lässt sich auch an dem Beispiel des zunehmend an Bedeutung gewinnenden Bereichs der integrativen Medizin aufzeigen. Innerhalb dieser Ausrichtung der Medizin bemüht man sich um einen Brückenschlag zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin und somit auch um die Integration von »weichen«, von der Schulmedizin häufig skeptisch betrachteten Therapien, wie z. B. Qi Gong, Bachblüten, Homöopathie, Yoga oder Achtsamkeitsmeditation. Gemeinsames Merkmal all dieser weichen Verfahren, für die sich im angloamerikanischen Raum der Oberbegriff »MindBody-Practices« eingebürgert hat, ist, dass bei aller Methodenvielfalt die Kultivierung von Bewusstseinszuständen und Bewusstseinshaltungen explizit in die Gleichung des Heilens mit aufgenommen worden sind. Dieses neu erwachte Interesse an Bewusstseinszuständen und -haltungen geht naturgemäß mit einem stetig zunehmenden Interesse an dem Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit einher (Culliford 2002; Miller u. Thoresen 2003). Jedoch besteht gegenwärtig noch weitgehend Unklarheit über die Mechanismen und Prozesse, die
die Verbindung zwischen Spiritualität und Gesundheit moderieren, und die Forschungsbefunde sind insgesamt inkonsistent. Eine ältere Übersichtsarbeit, die die Ergebnisse von über 100 Studien zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Spiritualität und Gesundheit zu Beginn der 1990er Jahre zusammengefasst hat, fand zum Beispiel in 47 Studien eine negative, in 37 eine positive und 31 keine klare Beziehung (Batson, Schoenrade u. Ventis 1993). Viele neuere empirische Untersuchungen, die vorwiegend aus dem angloamerikanischen Raum stammen, haben in den letzten Jahren allerdings aufgezeigt, dass die positiven Effekte überwiegen und dass Religiosität und Spiritualität folglich als potentielle Gesundheitsressourcen anzusehen sind (Koenig, McCullough u. Larson 2001; Larson, Swyers u. McCullough 1998; McCullough, Hoyt, Larson, Koenig u. Thoresen 2000; Seeman, Dubin u. Seeman 2003). Jedoch wurde auch die berechtigte Frage aufgeworfen, ob sich die Ergebnisse aus dem angloamerikanischen Bereich auch vorbehaltlos auf andere kulturelle Kontexte übertragen lassen (Vader 2006). Jedenfalls wird die Vorstellung, dass spirituelles Engagement unmittelbar zur Steigerung von Gesundheit und Wohlbefinden führt, gegenwärtig auch von dem sich schnell entwickelnden Feld der sogenannten »positiven Psychologie« vertreten (Snyder u. Lopez 2005). Im Gegensatz dazu tendieren wir aufgrund unserer Forschungsergebnisse zu der Ansicht, dass spirituelles Nichtpraktizieren eher als ein gesundheitlicher Risikofaktor betrachtet werden sollte. Wir wollen damit der naiven Auffassung entgegentreten, dass Spiritualität sich zur Steigerung des Wohlbefindens funktionalisieren lässt, da unsere Forschungsbefunde nahe legen, dass längerfristige erfahrungsbasierte Auseinandersetzung mit Spiritualität eher eine potentielle Ressource zum Umgang mit destabilisierenden Erfahrungen und Lebensereignissen darstellt. Bei all den unterschiedlichen Standpunkten über den Zusammenhang von Spiritualität und Gesundheit bzw. Krankheit sollte jedoch nicht vergessen werden, dass in diesem jungen Forschungsfeld ein Fortschritt durch konzeptionell-definitorische sowie sich daraus ergebende methodologische Probleme erschwert wird.
12.2 • Definitions- und Abgrenzungsproblematik des Begriffs Spiritualität
12.2
Definitions- und Abgrenzungsproblematik des Begriffs Spiritualität
Obwohl man Spiritualität allgemein als ein Bezogensein auf eine über das unmittelbare Ich und seine Ziele und Bedürfnisse hinausreichende Dimension verstehen kann, besteht zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein wissenschaftlicher (und auch kein weltanschaulicher) Konsens über das genaue Verständnis dieses facettenreichen Begriffs (Koenig 2008). Beispielsweise ist die Frage offen, ob der Bezug auf eine transzendentale Dimension explizit gegeben sein muss um von Spiritualität im engeren Sinne sprechen zu können, oder ob eine das Ich überschreitende, altruistisch-humanistische Wertorientierung ausreichend ist, um von Spiritualität in einem weiteren Sinn sprechen zu können. Darüber hinaus bestehen in unterschiedlichen Kulturkreisen erhebliche Unterschiede in der Konzeption von Spiritualität, was tendenziell eher für kulturelle Variabilität und weniger für kulturanthropologische Konstanz des Phänomens Spiritualität spricht. In diesem Zusammenhang ist kritisch darauf hinzuweisen, dass das Gros der wissenschaftlichen Spiritualitätsforschung in dem westlichen Kulturraum und überwiegend von Wissenschaftlern, die in einem säkularisiert-christlichen Werte- und Kultursystem sozialisiert wurden, durchgeführt wurde. Gegenwärtig liegen jedoch nicht nur keine allgemeingültigen, präzisen Kriterien zur Definition von Spiritualität vor, sondern es herrscht auch keine Klarheit über die Abgrenzung von Spiritualität zu anderen verwandten Konstrukten wie Religion, Religiosität, Sinnhaftigkeit oder Kohärenzgefühl (siehe auch die Beiträge von Ruschmann und Steinmann in diesem Band). Auch wenn innerhalb der frühen Forschung die beiden Begriffe Spiritualität und Religiosität häufig synonym verwendet wurden, lässt sich in der jüngeren Literatur eindeutig eine Tendenz aufzeigen, die Begriffe Spiritualität, Religiosität bzw. Religion trennschärfer zu behandeln (Weaver, Flanelly u. Oppenheimer 2003). Bei einer Auseinandersetzung mit diesen zentralen Begriffen wird deutlich, dass trotz gemeinsamer Aspekte auch wichtige Unterschiede bestehen: So ist es vorstellbar, dass ein Individuum einen spirituellen Glauben an ein höheres Wesen, eine All-
135
12
macht oder ein transzendentes Prinzip entwickelt, ohne sich dabei auf ein tradiertes Religionssystem zu stützen. Andererseits kann man auch eine tiefe spirituelle Überzeugung entwickeln, deren Grundsätze in einem etablierten Glauben wurzeln, ohne jemals eine spirituelle Erfahrung gemacht zu haben. Die Identifizierung präziser Kriterien, die die Spiritualität von der Religion und anderen verwandten Konstrukten abgrenzen, ist also nicht einfach. Dennoch gibt es einen Aspekt, der zumindest ein heuristisches Kriterium zur Unterscheidung bietet: Während Spiritualität auf eine subjektive und existentielle Dimension erfahrungsbasierter Transzendenz hindeutet, bezieht sich Religion auf eine kulturell-soziale Dimension, die einen kontextuellen Rahmen für die Interpretation und den Ausdruck von Spiritualität bietet. Anders ausgedrückt können Religionen als weltanschauliche Orientierungs- und Ordnungssysteme angesehen werden, die kulturell tradierte, gefestigte formale Erklärungsmodelle bieten, um die Kodierung, Strukturierung und Interpretation spiritueller Erlebnisse und Überzeugungen zu entwickeln und zu unterstützen. Spiritualität im engeren Sinne beinhaltet aber eine Erfahrungsdimension, in der die Verbindung mit einem transzendenten Moment enthalten ist. Man kann bei allen theoretischen Abgrenzungs- und Unterscheidungsversuchen jedoch auch die berechtigte Frage aufwerfen, ob der Begriff Spiritualität ohne den Begriff Religiosität sinnvoll verwendet werden kann oder ob sich beide Begriffe komplementär zueinander verhalten (Walach u. Reich 2005), denn Form und Inhalt können bekanntlich nicht völlig unabhängig voneinander gedacht werden. Vielleicht sind die konzeptionellen Probleme, die mit dem Begriff Spiritualität verbunden sind, dafür maßgeblich, dass in den letzten Jahren der Begriff Achtsamkeit ein zentraler Begriff innerhalb der Gesundheitswissenschaften geworden ist. Achtsamkeit beschreibt eine Bewusstseinshaltung, die sich durch das nichtbewertende und akzeptierende Wahrnehmen des gegenwärtigen Moments beschreiben lässt und die man als eine psychologische Funktion von Spiritualität interpretieren kann (Bishop et al. 2004; Hayes u. Feldman 2004). Achtsamkeitsbasierte Interventionen haben dabei ihre Wirksamkeit in Bezug auf Stressreduktion für ein breites Spektrum von klinischen und
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Kapitel 12 • Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung?
nichtklinischen Symptomen gezeigt (Baer 2003; Grossman et al. 2004).
12.3
12
Methodologische Probleme
Aus den oben skizzierten Definitions- und Abgrenzungsschwierigkeiten ergeben sich zwangsläufig eine Reihe von methodologischen Problemen: Es ist offensichtlich, dass Spiritualität als ein komplexes, kulturabhängiges Phänomen nicht nur für verschiedene Kontexte definiert, sondern auch auf verschiedenen Ebenen operationalisiert werden kann. Allerdings ist es zur wissenschaftlichen Untersuchung des Zusammenhangs von Spiritualität und Gesundheit unabkömmlich, nicht nur verschiedene Ebenen wie spirituelle Praktiken, Verhaltensweisen, Einstellungen und Erfahrungen voneinander zu unterscheiden, sondern auch soweit wie möglich Vergleichbarkeit der Definitionen und Operationalisierungen herzustellen; andernfalls besteht die Gefahr, dass man Äpfel mit Birnen vergleicht. Hier ergeben sich naturgemäß Probleme, die damit zusammenhängen, dass Spiritualität als Phänomen der subjektiven Lebenswelt nicht nur begrenzt objektiviert, definiert und experimentell manipuliert werden kann, sondern der Begriff auch zu facettenreich ist, um ihn mit einem empirischen Messinstrument in der Gesamtheit abbilden zu können. Das mag teilweise erklären, warum etliche Studien, die unterschiedliche Messinstrumente zur Erfassung von Spiritualität eingesetzt haben, zum Teil zu divergierenden und mitunter auch widersprüchlichen Ergebnissen kommen. Darüber hinaus hat Harold Koenig zurecht darauf hingewiesen, dass der in vielen Studien gefundene positive Zusammenhang zwischen Spiritualität und Gesundheit eine natürliche Konsequenz des Sachverhalts sein könnte, dass viele der ca. 200 Messinstrumente zur Erfassung von Spiritualität konzeptionell tautologisch angelegt sind, da sie mehr oder weniger explizit nicht nur Spiritualitäts-, sondern auch Gesundheitsaspekte erfassen (Koenig 2008). Allerdings hat sich die Forschung bislang hauptsächlich auf Beobachtungsstudien mit nur einem Messzeitpunkt beschränkt; im Vergleich dazu liegen nur wenige qualitativ hochwertige experimentelle Studien vor. Daher besteht auch die
Schwierigkeit, aus einer empirisch gefundenen Beziehung zwischen Spiritualitäts- und Gesundheitsparametern eine kausale Beziehung abzuleiten. Allerdings ist es alles andere als unproblematisch, Spiritualität als experimentelle Variable in ein Versuchsdesign mit intentionaler Manipulationsabsicht einzuführen, da es ein naturalistisches Phänomen darstellt. Es ist deswegen auch nicht allzu verwunderlich, dass dem Forschungsfeld wiederholt Kritik für mangelnde Kontrolle von Störvariablen und fehlende Längsschnittstudien entgegengebracht wurde (Miller u. Thoresen 2003; Powell, Shahabi u. Thoresen 2003). Trotz der berechtigten Kritik sind wir der Ansicht, dass die Entwicklung des Feldes insgesamt positiv zu sehen ist und sowohl die methodologische Qualität als auch die Anzahl methodologisch sauberer Studien deutlich zugenommen hat. Auf jeden Fall hat es dieses junge Forschungsfeld geschafft, sich in den letzten Jahren im Gegensatz zu seinem Vorläufer, der Transpersonalen Psychologie, wissenschaftlich zu legitimieren, wenn es auch – vor allem in Europa – noch weit davon entfernt ist, wissenschaftlicher Mainstream zu sein. Laut Schopenhauer durchläuft ein jedes Problem bis zu seiner Anerkennung jedoch drei Stufen: In der ersten wird es lächerlich gemacht, in der zweiten bekämpft, in der dritten gilt es als selbstverständlich. Übertragen wir dies auf das Ansehen des Forschungsfeldes innerhalb der Wissenschaft, so ist es wohl angemessen zu konstatieren, dass man aufgehört hat es lächerlich zu machen und zu bekämpfen – doch wird es wohl noch eine Zeit dauern, bis die Erkenntnisse als selbstverständlich gelten werden. In dem folgenden Teil dieses Kapitel werden wir uns auf einen Aspekt von Spiritualität und Gesundheit, auf spirituelle Erfahrungen in Abhängigkeit von spirituell-meditativer Praxis beschränken, den wir intensiv beforscht haben.
12.4
Spirituelle Erfahrungen und ihre gesundheitlichen Konsequenzen
Die frühe Forschung hat hauptsächlich die Auffassung vertreten, dass gesundheitsrelevante Effekte hauptsächlich über die soziale Dimension des religiös-spirituellen Praktizierens wirksam werden
137
12.5 • Prävalenz und Phänomenologie spiritueller Erfahrungen
(Levin, Chatters, Ellison u. Taylor 1996; Powell et al. 2003). Neuere Forschungsbefunde haben jedoch klar aufgezeigt, dass spirituelle Erlebnisse sowie regelmäßige spirituell-meditative Praxis, gesundheitsrelevante Effekte nach sich ziehen können (George, Larson, Koenig u. McCullough 2000; Grossman, Schmidt, Niemann u. Walach 2004). Insgesamt spricht also aufgrund der empirischen Befundlage einiges dafür, dass die gesundheitsrelevanten Wirkungen von Spiritualität sowohl im interpersonellen als auch intrapersonellen Bereich zu verorten sind. Wichtige Gründe sprechen dafür, dass vor allem spirituelle Erfahrungen erhebliche Auswirkungen auf Menschen haben können: Zunächst einmal stellen spirituelle Erlebnisse, wie sie in allen mystischen Traditionen beschrieben werden, die phänomenologische als auch motivationale Wurzel von Religion dar. Die zahlreichen Bekehrungs- und Konversionserlebnisse, die im Laufe der Menschheitsgeschichte berichtet wurden, legen dabei nahe, dass spirituelle Erlebnisse mitunter einen so großen Einfluss auf ein Individuum haben können, dass durch sie die gesamte Lebenstrajektorie verändert werden kann (Fontana 2003; James 1904). Spirituelle Praktiken wie Gebete, Meditationen oder andere Formen der Kontemplation können darüber hinaus als regelmäßige Aktivitäten verstanden werden, die darauf ausgerichtet sind, spirituelle Erfahrungen zu induzieren (Meraviglia 1999). An dieser Stelle müssen wir, um der Gefahr von Missverständnissen vorzubeugen, darauf hinweisen, dass wir unter dem Erfahrungsbegriff nicht notwendigerweise nur eine äußere, sondern auch eine innere Form der kognitiv-affektiven Erkenntnis subsumieren, die nicht unbedingt primär begrifflich oder kategorialer Natur sein muss, aber meistens zu Zwecken der Verständigung begrifflich gefasst wird. Im Gegensatz zu einer rein rational-analytischen Form der Erkenntnis hat eine Erfahrung in unserem Verständnis noch eine starke affektive Komponente, die dazu führt, dass die Erkenntnis stärkeres Gewicht und Ich-Nähe erhält und auch anders im Gedächtnis repräsentiert wird (Buchanan u. Lovallo 2001; LeDoux 1998; Walach 2009; Schacter 2001). Legt man diesen um die innerliche Form der Erfahrung erweiterten Erfahrungsbegriff zugrunde, so kann man spirituelle Erfahrungen als äußere oder innere
12
Erlebnisse bezeichnen, deren Ursprung in der Beziehung zu einer absoluten, transzendenten Wirklichkeit verstanden wird, die aber nicht zwangsläufig im Rahmen eines traditionell religiösen Systems interpretiert werden müssen. Wir haben alternativ auch vorgeschlagen, die weltanschaulich neutralere Formulierung der »außergewöhnlichen Erfahrungen« zu benutzen, um nichtpathologische Erlebnisse zu charakterisieren, die den Konsens unserer Alltagswirklichkeit verlassen (Kohls 2004; Kohls u. Walach 2006; Walach, Kohls u. Belschner 2005).
12.5
Prävalenz und Phänomenologie spiritueller Erfahrungen
Entgegen der landläufigen Meinung stellen spirituelle Erfahrungen auch in modernen Kulturen keine seltenen Einzelereignisse außergewöhnlicher Individuen dar, sondern werden von relativ vielen Personen berichtet. So belegen repräsentative Befragungen in Deutschland, dass drei Viertel der Bevölkerung nach eigenen Angaben schon einmal eine Erfahrung gemacht haben, die von den Betroffenen als spirituell oder »außerhalb des Alltagskonsenses stehend« bezeichnet wird (Schmied-Knittel u. Schetsche 2003). Eine der trotz ihres Alters aufschlussreichsten Studien zur Phänomenologie der spirituellen Erfahrungen stammt von dem an der Universität Oxford tätigen Meeresbiologen Alister Clavering Hardy (1896 – 1985), der 1969 das »Religious Experience Research Unit« (www.alisterhardytrust.org. uk) gegründet hat. Mit Hilfe von Zeitungsinseraten konnte Hardy in den 1970er Jahren mehr als 4000 Berichte über spirituell-religiöse Erfahrungen aus erster Hand sammeln und inhaltlich analysieren (Hardy 1979). Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass in diesen Berichten ein breites Spektrum von Erfahrungen vorkommt, von denen einige auch in einem klinischen Kontext als psychopathologisch einzustufen wären. Im Einzelnen tauchten die in Darstellung 12.1 aufgeführten Phänomene am häufigsten auf: Wie aus der Aufstellung ersichtlich wird, sind spirituelle Erfahrungen nicht unbedingt positiver, sondern können auch potentiell destabilisierender oder sogar angstinduzierender Natur sein. Hier
138
Kapitel 12 • Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung?
. Tab. 12.1 Zitiert nach (Lukoff 1985, S. 185)
12
Phänomen
Häufigkeit des Vorkommens in Prozent
Visionen und Erscheinungen
18%
Stimmen hören
7%
Telepathische Phänomene
4%
Kontakt mit Verstorbenen
8%
Gefühl von Sicherheit und Erleuchtung
19%
Begeisterung, Extase
5%
Gefühl der Sinnhaftigkeit und des Zusammenhangs zwischen Ereignissen
11%
lässt sich ein Widerspruch zu der Auffassung finden, dass Spiritualität hauptsächlich einen positiven Einflussfaktor für Gesundheit darstellt. Denn spirituelle Erfahrungen treten nicht selten in Form von spirituellen Krisen auf (Assagiloli 1955; Wardell u. Engebretson 2006). Zudem wurde auch über die Forschung von Hardy hinaus gezeigt, dass diese Erfahrungen mitunter psychotischen Episoden in ihrer Erscheinung sehr ähnlich sein können (Lukoff 1985 u. 1988; Thalbourne 1991). Vermutlich wurden spirituelle Erlebnisse aufgrund dessen im Kontext der früheren klinischen Psychologie, Psychoanalyse und Psychiatrie häufig unreflektiert als Ego-Regression, Borderline-Psychose oder psychotische Episode interpretiert (Lukoff, Lu u. Turner 1992). Jedoch konnte empirisch gezeigt werden, dass sich psychotische Erfahrungen sprachlich, semantisch und grammatikalisch von anderen außergewöhnlichen Erfahrungen unterscheiden (Oxman, Rosenberg, Schnurr, Tucker u. Gala 1988). Man kann daher nicht davon ausgehen, dass spirituelle Erfahrungen vorwiegend positiv-stabilisierender Natur sind. Schon einer der bedeutendsten Gründungsväter der akademischen Psychologie, William James (1842 – 1910), ging vor mehr als hundert Jahren davon aus, dass spirituelle Erfahrungen bedeutsame positive und negative Auswirkungen auf Gesundheit und Befindlichkeit haben
können (James 1904). In seiner Abhandlung der »Natural Theology«, niedergelegt in seinen wichtigen »Gifford Lectures«, unterscheidet James interessanterweise typenabhängig zwei mögliche Auswirkungen von Spiritualität auf Gesundheit. Während Menschen mit gesundem Geist (healthy minded) aus ihrer Spiritualität heraus eine positive Sicht auf ihr Leben entwickeln können, neigen kranke Seelen (sick soul) aufgrund der Beschäftigung mit Spiritualität zu Depressionen und blicken ängstlich in die Zukunft. Laut James besteht für Letztere die einzige Erlösung in einer kraftvollen mystischen Erfahrung. Wir stimmen mit James überein, dass Spiritualität sowohl positive als auch negative Einflüsse auf verschiedene Bereiche der Gesundheit ausüben kann, und wenden uns damit explizit gegen die Sichtweise, dass spirituelle Erfahrungen überwiegend positiver Natur sein müssen. Wir gehen vielmehr davon aus, dass spirituelle Erfahrungen natürlich in Abhängigkeit von dem Glaubenssystem, Selbstmodell und konkreter spirituell-meditativer Praxis sowohl stabilisierend als auch destabilisierender Natur sein können (Kohls 2004). Ein einfaches Beispiel mag dazu dienen, diesen Sachverhalt zu verdeutlichen: Das spirituelle Erlebnis der universellen Verbundenheit könnte beispielsweise als äußerst belastend erlebt werden, wenn der Betreffende diese Erfahrungen als Auflösung seines Ichs interpretiert. Eine andere Person hingegen könnte diese Verbundenheit als positiv konnotierte, wenn nicht sogar extatisch erlebte Aufhebung des Ichs interpretieren. Das individuelle Referenzsystem und Selbstmodell scheint die Interpretation der Erlebnisse demnach wesentlich zu bestimmen. Es spricht vieles dafür, dass regelmäßige Meditation und Kontemplation das Selbstmodell jedoch drastisch verändern kann: Regelmäßige spirituelle und meditative Praxis verursachen nicht nur eine charakteristische Veränderung der Selbstwahrnehmung in Richtung einer weniger ichbezogenen und mehr achtsamen Sichtweise, sondern können auch konkrete physiologische Auswirkungen haben, wie beispielsweise immunologische Parameter positiv zu beeinflussen (Davidson, Kabat-Zinn, Schumacher, Rosenkranz, Muller, Santorelli, et al. 2003). Die Ergebnisse einer erst kürzlich durchgeführten Studie mit einem bildgebenden Verfahren, der so-
12.6 • Eigene Forschung
genannten funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) haben beispielsweise aufgezeigt, dass durch eine Form der Achtsamkeitmeditation das Selbstmodell von Meditierenden so verändert werden kann, dass sie die Hirnareale, die für die gegenwärtige Selbst- und Körperwahrnehmung zuständig sind, von den Arealen, die für ihr autobiografisches Gedächtnis und damit für ihr biografisches Selbstbild zuständig sind, abkoppeln können (Farb et al. 2007). Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich zwei zentrale Fragen die Phänomenologie spiritueller Erfahrungen und ihren Zusammenhang mit Gesundheit in Abhängigkeit von spirituell-meditativer Praxis betreffend: 1. Gibt es unterschiedliche Kategorien spiritueller Erfahrungen und welche Kriterien können für die Unterscheidung negativer spiritueller und psychopathologischer Erlebnisse angeführt werden? 2. Wie beeinflusst spirituelle Praxis das Erleben spiritueller Erfahrungen sowie ihre Interpretation? Zur empirischen Untersuchung dieser Fragen haben wir den Freiburger Fragebogen zu Erfassung außergewöhnlicher Erfahrungen (engl., den Exceptional Experiences Questionnaire (EEQ)) entwickelt und in mehreren Studien eingesetzt (Kohls 2004; Kohls, Hack u. Walach 2008; Kohls u. Walach 2006 2007; Kohls, Walach u. Lewith 2009; Kohls, Walach u. Wirtz 2009).
12.6
Eigene Forschung
12.6.1
Exceptional Experiences Questionnaire (EEQ)
Da wir detaillierte Informationen zur Entwicklung und Validierung des EEQ an anderer Stelle veröffentlicht haben, sollen im Folgenden nur die wichtigsten Ergebnisse zusammenfassend dargestellt werden. Zu diesem Zweck stellen wir zunächst die Kurzform des EEQ vor (Kohls 2004; Kohls et al. 2008; Kohls u. Walach 2006). Der EEQ wurde von uns entwickelt, da bereits existierende Instrumente für die Erfassung spiritueller Erfahrung wie
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12
die Daily Spiritual Experiences Scale (Underwood 2006; Underwood u. Teresi 2002) nur positive spirituelle Erfahrungen erfassen. Im Gegensatz dazu misst der EEQ verschiedene positive sowie negative spirituelle, außergewöhnliche und psychopathologische Erlebnisse. Darüber hinaus wird nicht nur Häufigkeit, sondern auch emotionale Bewertung der Erfahrungen getrennt voneinander erhoben. Der EEQ zeigt eine adäquate diskriminante Validität mit Kohärenzempfinden, sozialer Unterstützung und psychischer Belastung sowie konvergente Validität mit transpersonalem Vertrauen. Durch Einsatz von faktorenanalytischen Verfahren konnten wir ferner zeigen, dass vier Typen von außergewöhnlichen Erlebnissen statistisch voneinander abgegrenzt werden können. Der erste Faktor Positive spirituelle Erlebnisse beschreibt eine Klasse »positiv empfundener Selbstentgrenzungserfahrungen«. Dazu zählen Einheits- oder Verbundenheitserfahrungen, die häufig einen erheblichen Zuwachs an Wissen und Verständnis von universalen kosmischen Zusammenhängen mit sich bringen und dadurch auch Inspiration und Kreativität sowie ein tiefes Gefühl von Geborgenheit erzeugen können. Kennzeichnend für diese Erfahrung ist mitunter das Gefühl, Kontakt mit geistigen Wesenheiten oder metaphysischen Entitäten bekommen zu haben, die die betreffenden Personen »beschützt«, »angeleitet« oder »geführt« haben. Beispiel für Items sind: »Ich bin ganz von göttlichem Licht und göttlicher Kraft erfüllt« oder »Ein höheres Wesen schützt mich oder hilft mir«. Der zweite Faktor Erlebnisse von Ego-Verlust und -Auflösung umfasst »angstbesetzte Dekonstruktionserfahrungen«, die die Integrität des Selbstmodells in Frage stellen oder sogar bedrohen. Diese Erlebniskategorie beinhaltet destruktiv und bedrohlich empfundene Erfahrungen von IchAuflösung und Wissensverlust, aber auch Perzeptionsveränderungen (Umwelt- und Selbstwahrnehmung), die als belastend erlebt werden und potentiell negativ konnotiert sind. Charakteristisch hierfür ist ein Moment der Dekonstruktion, das bei den betroffenen Personen Gefühle von Isolation und Separiertheit auslösen kann. Die mystische Literatur kennt diese Erfahrungen auch als »Reinigungsphase« (Underhill 1967). Beispielfragen sind
140
Kapitel 12 • Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung?
»Meine Weltsicht zerbröckelt« oder »Ein Gefühl des Nicht-Wissens überkommt mich«. Der dritte Faktor beschreibt Psychopathologische Erlebnisse, vorwiegend aus dem psychotischparanoiden Formenkreis. Diese sind vor allem durch Elemente von starker Außenbeeinflussung gekennzeichnet. Beispielfragen sind »Ich höre – ohne erkennbaren äußeren Reiz – deutlich Stimmen, die mich beschimpfen oder sich über mich lustig machen« oder »Ich werde von fremden oder außerirdischen Kräften kontrolliert«. Der vierte Faktor beinhaltet intensive und visionäre Traumerlebnisse, wie sie zum Beispiel durch die Frage »Ich träume lebhaft, sodass Träume lange nachwirken« beschrieben werden. Den EEQ gibt es als lange Version mit 57 Items, die hauptsächlich zu phänomenologischen Forschungszwecken dient und in Kurzform mit 25 Items, mit guten psychometrischen Eigenschaften (Cronbach’s Alpha: r = .89, Test-Retest-Reliabilität nach sechs Monaten r = .85). Erwähnenswert ist auch, dass der EEQ mit Daten von post-hoc geführten Interviews im Sinne eines mixed-methods designs kreuzvalidiert wurde, um die Validität des Instruments sicherzustellen (Kohls 2004; Kohls, Hack, Walach 2008).
12 12.6.2
Zusammenfassung der Forschungsergebnisse
Der EEQ wurde hauptsächlich in nicht-klinischen Populationen spirituell praktizierender und nichtpraktizierender Personen eingesetzt, es gibt aber auch eine Studie mit chronisch kranken Patienten (Kohls 2004; Kohls, Hack, Walach 2008; Kohls u. Walach 2006 2007; Kohls, Walach u. Lewith 2009; Kohls, Walach u. Wirtz 2009). Die zentralsten Ergebnisse werden im Folgenden kurz aufgeführt: 1. Spirituelle Erfahrungen können und sollten phänomenologisch in positiv erlebte und dekonstruierend erlebte getrennt werden. Darüber hinaus sind sie von psychopathologischen Erfahrungen verschieden. 2. Menschen mit regelmäßiger spiritueller Praxis berichten mehr positive spirituelle Erlebnisse, aber auch mehr Erlebnisse von Ego-Verlust und mehr visionäre Traumerlebnisse. Be-
züglich der psychopathologischen Erlebnisse wurden jedoch keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich der Häufigkeit gefunden, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass negative spirituelle Erfahrungen eine andere phänomenologische Erfahrungsklasse darstellen als psychopathologische Erfahrungen. 3. Im Hinblick auf die emotionale Bewertung außergewöhnlicher Erlebnisse konnten wir zeigen, dass Menschen mit spiritueller Praxis positive spirituelle Erlebnisse, Erlebnisse von Ego-Verlust und visionäre Traumerlebnisse signifikant positiver erleben. Unterschiede zu der Bewertung von psychopathologischen Erlebnissen wurden im Gegensatz nicht gefunden. 4. Der Zusammenhang zwischen außergewöhnlichen Erfahrungen und psychischer Belastung – diese wurde mit einem Standardfragebogen, dem Brief Symptom Inventory (Derogatis u. Spencer 1982) erhoben – wurde für die Stichproben mit und ohne spirituelle Praxis sowohl mit Hilfe einer linearen Regressionsanalyse als auch eines Strukturgleichungsmodells berechnet. Der Beitrag der vier Faktoren des EEQs wurde dann zwischen den Stichproben verglichen (Analyse der Pfadkoeffizienten). Dabei zeigten sich unterschiedliche Einflüsse auf die psychologische Belastung praktizierender und nicht-praktizierender Probanden hinsichtlich negativer spiritueller Erfahrungen (Kohls u. Walach 2007). Obwohl Menschen mit spiritueller Praxis mehr außergewöhnliche Erlebnisse berichteten, erklärten diese nur 7% der Varianz in psychischer Belastung, während die Erlebnisse in der nichtpraktizierenden Stichprobe 36% der Varianz erklären konnten. Bei einem Vergleich der Pfadkoeffizienten zeigte sich, dass positive spirituelle Erlebnisse keine protektive Wirkung auf psychische Belastung haben. Der größte Zusammenhang wurde zwischen dem zweiten Faktor des EEQ, der Dekonstruktionserfahrungen beinhaltet, und psychischer Belastung in der spirituell nichtpraktizierenden Stichprobe gefunden. In der Gruppe der spirituell Praktizierenden hingegen ist dieser Zusammenhang nicht signifikant. Wir interpretieren diesen Befund dahin-
141
12.7 • Schlussfolgerungen
gehend, dass ein Individuum durch spirituelles Praktizieren Resilienz gegen die belastenden Auswirkungen von Dekonstruktionserfahrungen erwerben kann. Positive spirituelle Erfahrungen hingegen haben keine nennenswerten – positiven oder negativen – Auswirkungen auf Belastung. 5. Wir konnten ebenfalls zeigen, dass der Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Messzeitpunkt (Test-Retest-Reliabilität) für psychische Belastung nach sechs Monaten für die spirituell praktizierenden Personen signifikant geringer war. Folglich scheinen Menschen, die spirituelle Praxis ausüben, Belastung und Stress eher als vorübergehende Zustände wahrzunehmen, anstatt als zeit- und situationsüberdauernde Phänomene. 6. Anhand einer kleinen Stichprobe von Patienten mit chronischen Krankheiten (chronische Müdigkeit, Migräne, Reizdarmsyndrom), die in einer Klinik für integrative Medizin in Südengland behandelt wurde, wurden die Gruppenunterschiede des Einflusses von außergewöhnlichen Erlebnissen auf die psychologische Belastung repliziert (Kohls, Walach u. Lewith 2009). Mit Hilfe einer linearen Regressionsanalyse wurden die Auswirkungen der vier Faktoren des EEQ sowie zusätzlich von Achtsamkeit als psychologische Funktion von Spiritualität auf psychische Belastung ermittelt. In dieser Studie konnten wir unsere Befunde aus der ersten Studie replizieren, dass für spirituell nichtpraktizierende Personen vorwiegend negative spirituelle Erfahrungen Belastung induzieren, während positive spirituelle Erfahrungen keinen Zusammenhang zeigten. Darüber hinaus konnten wir zeigen, dass Achtsamkeit nicht nur als ein Schutzfaktor vor genereller Belastung anzusehen ist, sondern zusätzlich für Belastungen, die von Dekonstruktionserfahrungen ausgelöst wurden. Der Mangel an spiritueller Praxis und Achtsamkeit sollte daher unserer Ansicht nach als gesundheitlicher Risikofaktor für Individuen angesehen werden, die anfällig für Erfahrungen sind, die die Integrität des Ichs angreifen wie beispielsweise chronisch kranke Patienten.
12.7
12
Schlussfolgerungen
Zusammenfassend deuten unsere Forschungsergebnisse darauf hin, dass spirituelle Erlebnisse von großer Bedeutung für die Gesundheit sein können. Die bedeutendsten Erkenntnisse aus klinischer Sicht lassen sich in folgenden vier Punkten resümieren: 1. Regelmäßige spirituelle Praxis scheint Menschen mit einer wichtigen Ressource auszustatten, die sie vor destabilisierenden Erlebnissen schützt. Daher sollten die gesundheitsfördernden Aspekte von positiven spirituellen Erfahrungen nicht ausschließlich in den Vordergrund gestellt werden. Vielmehr sollte betont werden, dass spirituelles Nichtpraktizieren für Menschen mit fehlender spiritueller Praxis einen gesundheitlichen Risikofaktor darstellen kann. Dies gilt vor allem für Personen, die vermehrt Verlust- und Unsicherheitserlebnissen ausgesetzt sind, wie z. B. traumatisierte oder chronisch kranke Menschen. 2. Spirituelle und destabilisierende Erlebnisse sollten vom Kliniker ebenso wenig wie vom Diagnostiker mit psychopathologischen Erlebnissen gleichgesetzt werden. Wir nehmen an, dass temporär destabilisierend wirkende spirituelle Erlebnisse bisher häufig fälschlicherweise als pathologische Symptome interpretiert wurden, da die Kriterien zur Unterscheidung spiritueller und psychopathologischer Erlebnisse noch nicht ausreichend genau untersucht wurden. Es ist hierbei zu betonen, dass die Pathologisierung von spirituellen Erlebnissen ebenso gefährlich ist wie die euphemisierende Interpretation psychopathologischer Zustände als spirituelle Erlebnisse. Daher ist es von zentraler Bedeutung, geeignete Kriterien für die Unterscheidung dieser beiden Kategorien von Erfahrungen zu finden und diese auch dem klinischen Praktiker zu vermitteln. 3. Unsere Forschungsbefunde erlauben es, regelmäßige spirituelle Praxis als präventive Maßnahme gegen psychische Belastungen zu bezeichnen. Jedoch müssen in diesem Zusammenhang einige einschränkende Bemerkungen gemacht werden: Zunächst ist es wichtig zu betonen, dass spirituelle Praxis offensichtlich
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Kapitel 12 • Spirituelles Nichtpraktizieren – ein unterschätzter Risikofaktor für psychische Belastung?
sowohl die Häufigkeit positiver als auch negativer spiritueller Erfahrungen erhöht. Allerdings kann durch regelmäßiges Praktizieren vor allem Resilienz gegenüber destabilisierenden Erfahrungen entwickelt werden. Jedoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch spirituelles Praktizieren zunächst sogar potentiell mehr Belastung entstehen kann. Denn spirituelle Kompetenzen können in der Regel nicht in kurzer Zeit erworben werden, sondern bedürfen längerer und systematischer Übung. Dies spricht dafür, dass es sich bei spiritueller Praxis im Zusammenhang mit Gesundheit eher um eine präventive und nicht um eine rehabilitative Maßnahme handelt. 4. Wenn sich der Befund, dass spirituelles Praktizieren die zeitliche Wahrnehmung von Belastung signifikant verändert, in weiteren Studien erhärten sollte, scheint es zweckmäßig, dass in der klinischen Anamnese standardmäßig auch die spirituelle Vorgeschichte erfasst werden sollte, um die psychische Belastung angemessen beurteilen zu können.
12
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Ergebnisse auf einen blinden Fleck innerhalb der klinischen Praktik hindeuten, der näher beleuchtet werden sollte. Mit der Entwicklung der modernen Medizin wurden spirituelle Ansätze zum Umgang mit Leid und Belastung größtenteils ausgeklammert, vielleicht mit Ausnahme der Psychoonkologie und der Betreuung unheilbar erkrankter Menschen im Rahmen der Palliativmedizin (Georgesen u. Dungan 1996; Smucker 1996). Wir sind der festen Überzeugung, dass Psychiatrie und klinische Psychologie einen großen Fortschritt machen könnten, wenn sie ihre Konzepte für spirituelle Aspekte öffnen würde.
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Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen und religionsgeschichtlichen Kontext: Zwei exemplarische Falldarstellungen Anne Koch und Karin Meissner
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Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
Das Gesundheitswesen steht vor einer Kostenexplosion, die Regierung von Angela Merkel kündigt im November 2009 kontinuierliche Erhöhungen der Krankenversicherung gleich für die nächsten Jahre an; ein Auseinanderdriften in eine Versorgung für Wohlhabende und ärmere Menschen zeichnet sich selbst in sozialmarktwirtschaftlichen Ländern ab; regional starten Programme gegen eine hausärztliche Unterversorgung. In dieser Situation kann es nur von gesellschaftlichem Interesse sein, die Ressourcen, die in alternativen und komplementären medizinischen Angeboten liegen, auszuloten. Seit den 1970er Jahren sind im religiösen und im therapeutisch-medizinischen Feld zunehmend geistige oder spirituelle Heilweisen aufgetreten. Geistiges Heilen ist dabei eine Selbstbezeichnung mancher Formen, die hier rein arbeitspragmatisch übernommen wird. Kennzeichnend ist, dass meist mit holistischen Konzepten des Organismus und der Einbettung des Menschen in kosmische Zusammenhänge gearbeitet wird. Der kulturelle Transfer, der aus indigenen Heiltraditionen hier vorgenommen oder auch nur von den Akteuren konstruiert wird, und das Heilwissen, das in Strömungen der jüngsten Religionsgeschichte wie der GöttinnenSpiritualität, des New Age, christlich-neupfingstlerischen Strömungen, der Neuen Heilungsbewegung (Beckford 1984) oder der »Natürlich Leben«Bewegung geschaffen wird, sind nicht mehr eine exotische Randerscheinung wie noch in früheren Phasen, sondern geistiges Heilen hat sich über viele Anbieter, Bücher, Ausbildungsinstitute organisiert. Religionssoziologisch muss die Kombination von schul- und alternativmedizinischen Praktiken bzw. geistigem Heilen als die Regel gesehen werden (in den USA bei mehr als einem Drittel der Bevölkerung, Walach 2005). Selbst in traditionell christlich sozialisierten Schichten werden mannigfache Formen von Handauflegungen, Energie- und Chakrenarbeit angetroffen (Ebertz 2005, Bochinger et al. 2005). Vor diesem Befund der massiven Umwälzungen und Herausforderungen des Gesundheitssektors ist die Erforschung der gegenwärtigen hybriden Heil- und Gesundheitslandschaft in Deutschland ein großes Desiderat: sowohl religionsgeschichtlich wie methodisch liegen nur sehr vereinzelt Studien zu geistigem Heilen vor.
Unser Frageinteresse zielt insbesondere auf die Wirksamkeit des geistigen Heilens ab. Für diese Fragestellung ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Medizin (medizinische Psychologie/Psychosomatik/Placeboforschung) und Sozial- und Kulturwissenschaft (Psychologie/Therapiewirksamkeitsforschung, Religionswissenschaft/Ritualtheorie) erforderlich. Erst in dieser Konstellation von Wissensformationen ist es möglich, Grundlagenforschung zum Zusammenhang von Weltsicht und psycho-physischem Erleben anzugehen, zu der dieser Beitrag sich als erster Schritt versteht. Die Erforschung der Wirksamkeit geistigen Heilens wurde in die folgenden Fragen unterteilt: 1. Welche vegetativen und psychischen Veränderungen treten während eines Heilungsrituals beim Heilungssuchenden auf? 2. Korrelieren diese psychophysiologischen Veränderungen mit den Erfahrungen des Heilungssuchenden während des Geistigen Heilens? 3. Welche Rahmentheorie bietet sich an, um die kulturwissenschaftlichen und psychophysiologischen Daten zusammenzuführen? Diese Fragen lassen sich nur in einer empirischen Studie angehen, in der sowohl psychophysische als auch sozialwissenschaftliche Daten erhoben werden. Wirksamkeit wird dabei als ein Komplex angesetzt, der sich aus dem Zusammenwirken von mehreren Faktoren herausbildet: psychophysische Zusammenhänge, Alltagsüberzeugungen von der Kausalität im Gesund- und Krankwerden, Heilungsinszenierung, Körperbilder, die Überzeugungskraft von Heiler/innen usw. Um diese Aspekte unserer Fragestellung zu verfolgen, werden vor allem Hypothesen und Konzepte zum Zusammenhang von körperlicher Aktivierung und Emotionalität, zur rituellen Erfahrungsdynamik und zu agnostischer Spiritualität herangezogen. Wir werden so vorgehen, dass wir zunächst den derzeitigen religionsgeschichtlichen Hintergrund geistigen Heilens skizzieren (7 Abschn. 13.1), dann die Forschungsliteratur zu Effekten und Wirkweisen geistigen Heilens aus psychophysischer (7 Abschn. 13.2.1) und sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive (7 Abschn. 13.2.2) aufarbeiten. Daraufhin wird die empirische Studie selbst in
13.1 • Geistiges Heilen: Begriffsbestimmung und religionsgeschichtliche Einordnung
Hypothesen (7 Abschn. 13.3.1), Ablauf und Methodologie (7 Abschn. 13.3.2), der genaueren religionsgeschichtlichen Verortung der untersuchten Gruppe (7 Abschn. 13.3.3), sowie den Ergebnissen zu zwei Versuchspersonen (7 Abschn. 13.3.4) zunächst noch getrennt aus medizinischer und religionswissenschaftlicher Sicht dargestellt. Eine Ergebnisdiskussion bringt die Sichtweisen unter verbindenden Konzepten zusammen und Schlussfolgerungen beschließen die Überlegungen (7 Abschn. 13.5)
13.1
Geistiges Heilen: Begriffsbestimmung und religionsgeschichtliche Einordnung
Die Bezeichnung geistiges Heilen (engl. spiritual healing) bürgert sich im deutschsprachigen Raum in manchen Diskursen ein, um im Verständnis der Innenperspektive spirituelle Formen des Heilens zu bezeichnen (vgl. Wolf 2005). Geistiges Heilen ist demnach eine Selbstbezeichnung. In dem sich langsam institutionalisierenden Feld spielt in Deutschland der Dachverband geistiges Heilen (DGH) eine zusammenbindende und standardisierende Rolle. Ihm gehören ganz unterschiedliche Traditionen des Heilens an und unterschiedlich organisiertes Heilen von Einzelheilern bis hin zu Gruppen, in denen nur unter anderem geheilt wird. Der DGH versteht geistiges Heilen als komplementär, ganzheitlich, Selbstheilungskräfte stärkend und die Eigenverantwortung der Patienten unterstützend (vgl. Homepage des DGH: www.dgh-ev.de). Hier sei dieser vage Begriff im Sinne des DGH, ohne ihn an dieser Stelle in Abgrenzung zu alternativen und komplementären Medizinen und Naturheilverfahren zu diskutieren, als Sammelkonzept für unterschiedlichste Heil- und Therapieformen übernommen und durch weitere kulturwissenschaftliche und medizinische Merkmale ergänzt, die sich aus ihrer Beschreibung im lokalen kulturellen Kontext ergeben sowie aus der psychosomatischen Untersuchung. Die Attraktivität geistigen Heilens wird in der kulturwissenschaftlichen Literatur mit der starken Subjektivierung der Wissens- und Erlebnisgesellschaften seit den 1970er Jahren in Verbindung ge-
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bracht (Knoblauch 2009: 277). Der Einzelne wird verantwortlich für die möglichst effiziente Entwicklung seines Selbst, für flexibilisierte und mobilisierte Arbeitsbedingungen und letztlich für die Kontrolle und Herstellung seiner Gesundheit, die nicht länger als auf rein körperliche Belange beschränkt erachtet wird. Zunehmende »Ganzheitlichkeit« zeigt sich auf institutioneller Ebene z. B. auch in den Gesundheitsdefinitionen der WHO. Dieser »healthism« wird auch von medizinischen Fortschritten und einer veränderten Vision von Machbarkeit und Lebensverlängerung getragen (Hunt 2003: 183-185). Es wird eine Verlagerung weg vom instrumentellen Heilen hin zur emotionalen Arbeit an der Erhaltung von Gesundheit und zur Veränderung alltäglicher »gesünderer« Lebensführung beobachtet (auch bei der hier untersuchten Gruppe s. u.). Diese Entwicklungen werden durchaus auch kritisch diskutiert, z. B. als Befund einer dominanten psychoanalytischen Industrie, die gesellschaftliche Probleme als Probleme des Einzelnen definiert (und ihn/sie damit überfordert), anstatt dass diese Herausforderungen als politische, ökonomische oder ökologische kollektiv bewältigt würden. In dieser kulturellen Situation konnten neue religiöse Strömungen gerade aufgrund ihres breiten Angebotes der gesundheitlichen Prävention oder des geistigen Heilens die gesellschaftliche Bedeutsamkeit erringen, die sie haben. Schon Beckfort weist auf parallele Entwicklung von neuen religiösen Bewegungen und alternativen Medizinen hin (1985, S. 72). So sehr sie sich als kulturkritische Bewegung häufig verstehen, hervorgegangen aus den gegenkulturellen neuen sozialen Bewegungen seit Ende der 1960er Jahre, so sehr sind mittlerweile viele Eigenschaften der Großgesellschaft und ihres Lebensstils in den Vollzug der Gruppen eingegangen. Heilung und Gesundheit nehmen auch in diesseitig orientierten Gruppen religiöse Qualitäten an (Hunt 2003, S. 183), sofern sie zu den Heilsgütern im Angebot zählen. Strukturell haben sich in den religiösen Bewegungen Handlungsformen in Passung zu Konsumgewohnheiten und einem gewissen Materialismus entwickelt. Dazu gehören etwa in separat bezahlbare Anwendungen zerlegte Heilungen und ein Markt an Hilfsmitteln der Heilung wie Salben, Übungs-CDs, Kristalle, Amulet-
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13
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
te, Rückzughäuser mit spezieller Ausstattung. Die zunehmende Abfrage von alternativ- und komplementärmedizinischem Wissen wird wissenssoziologisch mit dem gestiegenen Bildungsstand und der leichteren Zugänglichkeit geistiger Heilweisen als eines Teilsegments alternativer Behandlung für Laien erklärt. Wo das hoch ausdifferenzierte medizinische Wissen von Spezialisten beherrscht wird, ermächtigt sich der Einzelne im Alternativsektor schneller des dortigen Wissens (Knoblauch 2009, S. 278). Allerdings sollte bei einem Fokus auf die Religionsgeschichte seit den 1970er Jahren nicht übersehen werden, dass geistiges Heilen in der christlich-charismatischen Spiritualität von Anfang an, also seit der Neugründung 1906 in den Vereinigten Staaten, eine zentrale Rolle spielt, ebenso in Ländern Afrikas und Südamerikas, die nicht als Wissensgesellschaft gelten und geistiges Heilen so nicht nur aus den Bedingungen der »Baby-Boomer-Gesellschaft« und deren Anknüpfen an medizinische Interpretationsmuster begründet werden sollte. Therapeutische Effekte durch geistiges Heilen werden in der Heilerszene üblicher weise mit der Übertragung von (Heil-)Energie auf den Patienten durch den Heiler/die Heilerin erklärt, die dabei als »Medium« oder Instrument fungieren. Im Selbstverständnis, wie geistiges Heilen wirkt, gibt es je nach Referenztradition wiederum unterschiedliche Modelle: Geistiges Heilen soll besonders in esoterischen Traditionen die Selbstheilungskräfte des Patienten aktivieren, wieder Balance zwischen den Grundelementen des Körpers herstellen oder den grobstofflichen Körper reinigen von Verunreinigungen oder ihn auf eine höhere feinstoffliche (Schwingungs-)Ebene führen. Harmonie, Reinigung, Balance, Vervollkommnung sind wiederkehrende Schlüsselbegriffe, die vor dem Hintergrund nicht schulmedizinischer spiritueller Körperkonzepte ausgeführt werden. Dabei wird von einer Energiequelle ausgegangen, je nach kultureller Tradition in Form einer kosmischen Energie (Qi, Licht, Lebendiges, Weisheit, Schwingung) oder personalisiert in Form einer Gottheit, jenseitiger oder helfender Wesen, der großen Mutter usw. sowie Helfergestalten wie Naturgeistern, Heilengeln, Totemtieren oder Seelen im Jenseits. Geistiges Heilen wird ritualisiert vollzogen. Auch hier
gibt es unzählige Formen, die Körperkontakt und Berührung zwischen Heiler/in und Klient/in einschließen können oder fernwirkend sind. In der Innensicht ist im Unterschied zu den meisten alternativreligiösen Formen des geistigen Heilens in einigen christlichen Gruppierungen das Konzept der Sünde, also das eigene ethische Verschulden in diesem Leben (Knoblauch 2009, S. 140) und/oder der Teufel und Dämonen Ursache für Krankheit an Leib und Seele (in nicht-charismatischen Traditionen führt eher das Segnen zum Heilen anstelle der Dämonenaustreibung: Roser 2009). Heilen hat für diesen pfingstlerischen Kontext die gegenrationale Funktion, die Souveränität des christlichen Gottes im Wunderwirken zu demonstrieren. In diesem Sinne ist der Glaube an Gott theologisch in der späteren Heilungsbewegung der Pfingstbewegung nicht mehr der einzige Grund für die Wirksamkeit des Heilens. Derzeitige Heilvorstellungen sind stark beeinflusst von der Positive-Thinking- bzw. Human-Growth- oder Human-Potential-Bewegung in den USA seit Mitte der 1960er Jahre. Diese hat sich zum einen im Zusammenhang mit der Humanistischen Psychologie und der Erprobung psychopharmakologischer Substanzen und der Autosuggestion entwickelt (Wallis 1985). Zum anderen reichen Wissensbestände weit zurück in die Religionsgeschichte. Zu nennen sind unter systematischer Perspektive die antiken Mysterienkulte, diverse gnostische Gruppen, Kabbalah, schamanische und mystische Traditionen (Überblick: Levin 2008, Wolf 2005). Dieses Feld komplexer Wechselverhältnisse ist für jede konkrete Heilgruppe oder Heilweise gesondert aufzuarbeiten. Das Ritual in seinem Setting, dem geschaffenen Ritualort und der Ritualzeit, der Abfolge der Handlungen, dem Einsatz von sinnlichen Mitteln, der Steuerung der Aufmerksamkeit usw. zu untersuchen, ist wesentlich für ein wissenschaftliches Verständnis der Wirkweise des geistigen Heilens und eine Chance der transdisziplinären Zusammenarbeit von medizinischer Psychologie und Religionswissenschaft.
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13.2 • Effekte geistigen Heilens aus naturwissenschaftlicher Sicht
13.2
Effekte geistigen Heilens aus naturwissenschaftlicher Sicht
Viele Studien weisen auf die Erfolge geistigen Heilens bei den unterschiedlichsten Erkrankungen hin (Quinn 1984; Wirth et al. 1993; Galanter 1999; Messerli-Rohrbach u. Bosch 2000; Pohl et al. 2007; So et al. 2008; Woods et al. 2009). Allerdings traten solche Besserungen auch dann auf, wenn die Heilungen nur vorgetäuscht waren, z. B. von Schauspielern (Abbot et al. 2001; Beutler et al. 1988; Wirth et al. 1993; Pohl et al. 2007). Dies weist darauf hin, dass die Erfolge des Geistigen Heilens zu einem großen Teil auf Merkmale der Situation zurückzuführen sein könnten, auf sog. »Kontextfaktoren« (di Blasi et al. 2001). Zu den Kontextfaktoren zählen Charakteristika des Behandlers und des Behandelten (z. B. Einstellungen, Erwartungen, Crowley 2000, S. 152) sowie ihrer Interaktion (z. B. Häufigkeit und Dauer), als auch Charakteristika der Therapie und der Umgebung, in der die Therapie stattfindet. Als Kontextfaktoren im Zusammenhang mit dem Geistigen Heilen werden u. a. diskutiert: die entspannende Wirkung der Heilbehandlung, positive Effekte durch den zeitintensiven Kontakt mit dem Heiler sowie das Auslösen positiver Erwartungen und Gefühle (Abbot et al. 2001; Walach et al. 2008). Ein noch wenig beachtetes Charakteristikum des Geistigen Heilens ist der Körperkontakt zwischen Heiler und Heilungssuchendem, z. B. beim Handauflegen oder auch beim Auraheilen, dem Entlangstreichen der Energiebahnen am Energiekörper, um mögliche Energieblockaden zu durchbrechen. Es ist denkbar, dass Berührungen bei diesen sogenannten »Kontaktheilungen« besonders starke Kontexteffekte hervorrufen. So könnte einerseits der Körperkontakt besonders entspannend wirken und über eine Stressreduktion zum Heilungserfolg beitragen (Henricson et al. 2008). Andererseits sind angenehme Berührungen aber auch Teil sozialer Interaktion und gleichzeitig primäre Verstärker, die psychologische Bedürfnisse befriedigen und (im Unterschied zu sekundären Verstärkern) von Geburt an, ohne vorherige Lernprozesse wirksam sind. Sie können – ähnlich wie gutes Essen – positive Emotionen, z. B. Freude hervorrufen (Rolls 2000). Positive Emotionen wiederum können den Gesundheitszustand positiv
13
beeinflussen (Pressman u. Cohen 2005; Steptoe u. Wardle 2005). Im Gegensatz zu Entspannung gehen positive Emotionen erst einmal mit körperlicher Aktivierung (sympathischer Erregung) einher.
13.2.1
Bisherige Studien zu physiologischen Effekten während einer Kontaktheilung
Was passiert auf physiologischer Ebene im Patienten während einer Kontaktheilung? Hierzu gibt es nur wenige Studien und die Ergebnisse sind widersprüchlich. So zeigten sich in einer Studie, in der eine 30-minütige Reikibehandlung mit einer Schein-Reikibehandlung und keiner Behandlung verglichen wurde, deutliche Entspannungseffekte in beiden Behandlungsgruppen, die in der ReikiGruppe teilweise noch ausgeprägter waren als in der Schein-Reikigruppe; diese Entspannung zeigte sich in einer Abnahme der Herz- und Atemfrequenz und in einer Abnahme des diastolischen Blutdrucks gegenüber der Ausgangsmessung (Mackay et al. 2004). Im Gegensatz zu dieser Entspannungsreaktion trat in einer weiteren Studie während der Reikibehandlung eine Gefäßverengung an den Händen gegenüber einer scheinbehandelten Gruppe auf, die auf eine Stressreaktion (sympathische Aktivierung) hinweist (Engle u. Graney 2000). Eine unkontrollierte Studie zu den unmittelbaren physiologischen Effekten einer 30-minütigen Reikibehandlung ergab wiederum Hinweise auf eine Entspannungsreaktion, die sich in einer Abnahme des systolischen Blutdrucks und der Muskelspannung am Nacken während Reiki äußerte (Wardell u. Engebretson 2001). Vergleichbare Studien zu anderen Formen des Kontaktheilens, z. B. während religiöser Rituale, fehlen bisher.
13.2.2
Forschungsstand zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Daten
Von dieser medizinischen Sicht auf eine empirisch messbare Wirksamkeit ist ein kultur- und religionswissenschaftliches Konzept von Wirksamkeit zu unterscheiden. Letzteres sieht Wirklichkeit als eine von Gruppen konstruierte und je neu auszuhan-
150
13
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
delnde Größe an. Vom religionswissenschaftlichen Modell der Wirksamkeit ist sodann die Innensicht der Wirksamkeit (emische Modelle) zu unterscheiden. Dies zu bemerken, ist auch angesichts einiger Forschungen aus (natur)wissenschaftlicher Perspektive nicht banal, bemühen diese doch zum Teil selbst wieder religionsgeschichtliche Topiken und Argumente für die Erklärung wie z. B. Energiequanten oder Resonanzen (z. B. bei Bösch 2005, 2008) und werden damit zum Gegenstand der Religionswissenschaft. Die religionswissenschaftlichen Modelle sind zumeist religionssoziologische Ansätze, die die Nachfrage weniger über eine somatische Wirksamkeit beantworten als über Erklärungen zur Attraktivität des geistigen Heilens, die aus dem sozio-historischen Kontext begründet wird. In der Einleitung wurden bereits die entscheidenden Faktoren aus dieser Sichtweise ausgeführt: eine gewandelte Subjektivität, die Selbstermächtigung über Wissen und Selbsttechniken, die Zugänglichkeit zu alternativem Wissen. Religionspsychologisch wird Spiritualität als Ressource sowie als Vulnerabilitätsfaktor untersucht. Die Mehrdimensionalität und die Vielzahl von Indikatoren stellt die Forschung vor Herausforderungen. Für den Zusammenhang von Gesundheit und Spiritualität werden mehrere Hypothesen diskutiert (Schowalter u. Murken 2003). Spiritualität leiste Kohäsion der sozialen Beziehungsgruppe, Kohärenz in den kognitiven Orientierungen, regle Verhalten, stelle ein Bewältigungsmuster durch die Idee eines göttlichen Handelns zur Verfügung und biete alternative Werte zur Gesellschaft an, die identitätsbildend und -stärkend wirken können. In Bezug auf all diese Hypothesen sind positive und negative Ausformungen denkbar: die Kohäsion kann sowohl Unterstützung als auch sozialen Ausschluss bedeuten, Verhaltensregeln können Stress reduzieren oder überfordern usw. Zusammenhänge von Religiosität mit positiven psychosomatischen Änderungen sind dabei bislang schwieriger nachweisbar als negative (Kögler 2008). Operationalisiert wird Spiritualität in unterschiedlichen Fragebögen, etwa als »transpersonales Vertrauen«, eine Öffnung für Bewusstseinsbereiche, die über das Alltagsbewusstsein hinausgehen (Belschner 2001). Transpersonales Vertrauen
kann selbststärkende Wirkungen haben. Um als Ressource zu gelten, scheint eine Aktivierung der Spiritualität im Krankheitskontext notwendig. In sehr vielfältigen Bewegungen wie dem Neopaganismus, Wicca und der Göttinnen-Spiritualiät ist Heilen ein zentrales Anliegen (Crowley 2000). Es gibt einen wissenschaftlichen Diskurs, der diese Praktiken als meist weibliche Selbststärkung ansieht, da HeilerInnen 1. ein positives Feedback von den Heilungssuchenden erhalten, 2. mit der Konzentration und Fokussierung im Heilen einen Zustand der Alltagstrance erreichen, der positiv erlebt wird, 3. durch das Gruppenritual eine sie wiederum in ihren Überzeugungen und Tun bestärkende Gemeinschaft erleben, 4. sich als selbstmächtig, nämlich Veränderung bewirkend, erleben (Beiträge in Griffin 2000, Crowley 2000, S. 155/156). Gegenstimmen diagnostizieren den HeilerInnen, die von sich magische Kräfte des Energiespürens und Manipulierens (Zaubersprüche oder Lichtsendens) annehmen, eine Regression in kindliche Wunscherfüllung oder kognitives Abdriften (referiert bei Crowley 2000). Der Initiationsprozess ins Hexentum wird als selbstbewusstseinsstärkend angesehen, besonders bei Frauen, die unter (männlicher) Dominanz stehen. Religiöse Erfahrungen, die in manchen Heilungsritualen evoziert werden, entsprechen einer sehr hohen Selbstaktualisierung auf der Maslow-Skala und können daher als therapeutisch in sich angesehen werden (Crowley 2000, S. 159). Religionsästhetisch/-somatisch liegen bislang vor allem kulturwissenschaftlich-interpretative Ansätze vor (Kleinman 1979, Cszordas 1994, Griffin 2000, Ritter u. Wolf 2005). Untersuchungen, die transdiziplinär medizinische und kognitionspsychologische Kategorien auf kulturell geprägte religiöse Überzeugungen beziehen, fehlen größtenteils (z. T. in Medizinethnologie und Ethnopsychologie begonnen).
13.3
Die Studie
13.3.1
Fragestellung
Vor dem Hintergrund dieses Forschungsstandes stellen sich folgende Fragen:
151
13.3 • Die Studie
Fragebögen
1. Ruhemessung
Heilungszeremonie
2. Ruhemessung
1-5
ca. 6 - 15
16 - 20
13
Interview, Fragebögen
Minuten . Abb. 13.1 Übersicht zum Ablauf der Versuche
1. Welche psychophysischen Reaktionen sind während eines Heilungsrituals am stärksten ausgeprägt? 2. Wie kommunizieren die Art des Erlebens und die Bewertung des Erlebens mit den kurzfristigen psychophysiologischen Effekten des geistigen Heilens? 3. Erhöht eine stärkere Zustimmung zu dem Behandlungsmythos die somatischen und persönlich verbalisierten positiven Effekte?
13.3.2
Ablauf und Methodik der Studie
Die Studie wurde in der White-Eagle-Lodge in Germering an insgesamt 23 Teilnehmer/innen (15 Frauen, 8 Männer) durchgeführt. Elf der Teilnehmer/innen hatten bereits Vorerfahrung mit dem Heilungsritual der White-Eagle-Lodge, davon sieben als Kontaktheilerinnen, zwölf Teilnehmer/ innen nahmen zum ersten Mal daran teil. Der Ablauf der Untersuchung ist in . Abb. 13.1 schematisch dargestellt. Zu Beginn der Untersuchung füllten die Teilnehmer/innen einen Fragebogen aus, in dem Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand und Medikamenteneinnahme dokumentiert wurden. In einem weiteren Fragebogen wurde nach ihren Vorerfahrungen mit dem spezifischen Heilungsritual der White-Eagle Lodge und ihren Erwartungen bezüglich der Effektivität Geistigen Heilens gefragt. Zudem füllten sie »Kurzfragebogen zur aktuellen Beanspruchung« aus (KAB; Müller u. Basler 1993). Dieser validierte Fragebogen ist zur Verlaufsdiagnostik situationsabhängiger subjektiver Beanspruchung auch innerhalb kurzer Retestintervalle geeignet.
Im Anschluss wurden die Elektroden zur Erfassung der Herzfrequenz, der Atemfrequenz, der Magenaktivität und der Hautleitfähigkeit angelegt und die Teilnehmer in den Gottesdienstraum geführt. Nach einer Ruhemessung der physiologischen Aktivität über fünf Minuten wurde von der Heilerin ein standardisiertes Heilungsritual von etwa zehn Minuten Dauer nach den Prinzipien der WhiteEagle-Lodge durchgeführt, das eine allgemeine Stressreduktion zum Ziel hatte. Daran schloss sich eine weitere fünfminütige Ruhemessung an. Nach dem Ablösen der Elektroden füllten die Teilnehmer/innen erneut den Kurzfragebogen zur aktuellen Beanspruchung aus. Schließlich erfolgte das qualitative Interview im Sinne der Grounded Theory, das auf Tonband aufgenommen wurde. Die Leitfragen des Interviews gingen den Clustern nach: a) (körperliches) Erleben während des Rituals, b) Wirksamkeitsverständnis, c) Vorwissen, d) Krankheits-/Gesundheitsvorstellung, e) Körperbild, f) (Ausschluss-)Bedingungen des Heilerfolgs.
13.3.3
Das Heilungsritual der White-Eagle-Lodge (WEL)
Die Lehre der Lodge ist typisch für neureligiöse Gruppen in theosophisch-gnostischer Tradition (Wolf 2005, 146). Hinzu kommen Elemente aus Christentum, Spiritismus, nordamerikanisch-indigener Religion (mit dem Clanführer Weißer Adler als medialem Lehrer der Gründerin) und zunehmend der Astrologie durch die zweite Generation der Gruppenführung in England. Die WEL charakterisiert sich selbst als Vertreterin der »mystical-Christian doctrine of White Eagle« (Rules of the Society § 2.1). Wie in vielen esoterischen Strömungen, die Anfang des letzten Jahrhunderts ent-
152
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
. Abb. 13.2 Gottesdienstraum der White Eagle Lodge bei München mit Altar, der von innen heraus illuminiert wird und dem Symbol des Sterns, das dadurch sichtbar wird
13
standen, spielen spiritistische Überzeugungen eine Rolle. Einsichten des »großen Bruders« White Eagle channelte das Medium Grace Cook in London während der 1930er Jahre ihren Zuhörern. Zugleich wird mit der Deutung des Adlers als Symboltier des Evangelisten Johannes ein christlicher Bezug gesichert, der über die Reinkarnationslehre Johannes und den Weißen Adler als Zwillingsseelen verbindet. Heute gibt es Tochterlodgen in vielen Ländern. Die deutsche Lodge ist seit 1996 ein eingetragener Verein (seit 2005 gemeinnützig) mit ihrer bislang einzigen räumlichen Niederlassung in Germering bei München (2005: 190 Mitglieder in Deutschland, davon ca. 70 Heilerinnen und Heiler). Die Niederlassung ist eine Drei-Zimmmer-Wohnung (Raum für Beratung/Bibliothek, Meditations-/ Gottesdienstraum, Teeküche mit Produktshop). In . Abb. 13.2 ist der Gottesdienstraum der WhiteEagle-Lodge dargestellt.
Das für die Wirksamkeitsvorstellung relevante Körperbild ist in der Diskussion um den Monismus an der Wende zum 20. Jahrhundert geprägt. Gegen Christentum und Materialismus wird »Sinnstiftung durch Sinnlichkeit« (Fick 1998) über eine Beseelung aller Materie im Monismus vollzogen. In der Verunsicherung durch Evolutionstheorie, die Entdeckung des Unbewussten und die physikalische Atomlehre werden die Krisenphänomene zu neuen Dimensionen der Weltwahrnehmung umgedeutet: die Materialisierung in eine Beseelung der Zellen und Atome zu »Zellseelen« und »Atomseelen«, wie es in Schriften der WEL heißt, ein Muster aus der esoterischen Tradition, das sich mit physikalischen Denkfiguren zu jener Zeit verbindet. Ebenso wesentlich ist die Lehre von körperlichen Energiezentren (Chakren) in theosophischer Aufbereitung und Vermittlung. Energiekanäle verbinden Energiezentren im sichtbaren grobstofflichen mensch-
13.3 • Die Studie
lichen Körper, der von weiteren feinstofflich abgestuften Körperhüllen umgeben ist (White Eagle 1987; Hodgson 1987). Gemeinsamkeiten esoterischer Heilvorstellungen können unter den Kategorien Anatomie und Physiologie, Nosologie und Ätiologie, Pathophysiologie und Therapie systematisiert werden (Levin 2008). Zur anatomischen Vorstellung gehören die erwähnten Topiken: Körperhüllen, Energiezentren, (Heilungs-)Energie, Energiebahnen/-kanäle. Für die »physiologischen« Vorstellungen ist vor allem leitend, dass alle Ebenen der körperlichen Abstufungen an Stofflichkeit miteinander korrespondieren, indem die Energie auf- oder absteigt, und dass jede Abstufung gleichsam der Sitz spezifischer emotionaler Erfahrungen ist (mentaler, grobstofflich-schmerzlicher, kosmischer, holistischer Erfahrung usw.). In der esoterischen Ätiologie kann sich diese Konzeption dergestalt niederschlagen, dass ihre funktionalen Einheiten als Krankheitsursache angesehen werden: eine Fehlfunktion von Energiezentren, Körperhüllen oder generelle Energieverhältnisse (eines Ortes, aus einem vorhergehenden Leben, durch das Verhalten einer ganzen Generation, durch die Intervention von jenseitigen Seelen usw.). Als Erklärungsmuster der Krankheit tauchen regelmäßig die folgenden drei von Ayurveda bis Reiki auf: Blockaden im Energiefluss, das Ungleichgewicht (z. B. von Grundelementen) und ein Missverhältnis zu kosmischen Kräften (wegen des Letzteren ist die Astrologie für das Heilungswissen z. B. in der White-Eagle-Lodge relevant). Unzählige Therapien von Kräutergaben bis hin zu rituellen Interventionen wie im Folgenden geschildert begegnen dieser gemein-esoterischen Körper-, Welt- und Krankheitslehre. Vor dem Ritual der WEL findet ein Gespräch zwischen Heiler und Heilungssuchendem statt. Es dient einer Vorklärung zu Stimmung und Krankheiten. Der Heiler entscheidet daraufhin welche Farben des Lichts in welches Chakra einzustrahlen sind. Dieses »Einstrahlen« wird den Berichten der Heilerinnen zufolge sehr unterschiedlich vorgestellt, als Licht oder Wärme, und unterschiedlich erlebt. Zu Beginn des Rituals nach Sequenzen der Eröffnung (Heiler betritt den Raum, bezieht seinen Platz, beendet meditative Musik, Stille, Eröffnungsgebet) wird ein/e Heilungssuchende/r auf einen
153
13
Hocker in der Mitte des Raumes vor den illuminierten Altar geführt. Es folgt dann die Kontaktheilung, während der der Heiler in den Klienten absteigend vom Scheitelchakra bis zum Wurzelchakra unterschiedliche Farben des Lichtes durch die Handflächen einstrahlt. Dies geschieht, indem der Heiler den Lichtfluss durch den eigenen Körper in den Körper des Klienten imaginiert und seine Hände nah über die Körperstellen der Chakren des Klienten bewegt (. Abb. 13.3, . Abb. 13.4). Zum Teil findet während dieses Abgehens der Körperchakren eine leichte Berührung an Haar, Schultern und Rücken statt. Am Chakra im Bauchbereich wird die Handfläche zum Teil auf die Kleidung aufgelegt. Verunreinigungen in den Körperhüllen werden ausgestrichen und von den Händen des Heilers ausgeschüttelt. Das Ritual endet damit, dass das Scheitelchakra wieder vor der äußeren Welt verschlossen wird. Dies wird mit der Geste des Symbols der Lodge um den Kopf des Klienten vollzogen. Dazu wird das in einen Kreis eingetragene Kreuz mit einer Hand in die Luft gemalt. Der Klient kehrt zurück an seinen Platz, wartet eventuell weitere Heilungen ab. Der Heiler verlässt nach jedem Durchgang den Raum und wäscht sich die Hände unter Wasser. Mit einem Abschlussgebet durch den Heiler endet das Heilritual. In unserer Studie vollzog immer die gleiche Heilerin zur besseren Vergleichbarkeit die Heilbehandlung. Sie tat dies in einer allgemeinen Form, ohne auf spezifische Beschwerden oder Stimmungen der Einzelnen einzugehen, die normalerweise im Vorgespräch erfragt, erspürt und »hinter der ärztlichen Diagnose« entschlüsselt werden. In der allgemeinen Form dient die Heilbehandlung der WEL dazu, »den Patienten wieder mehr Harmonie und Lebensfreude zu vermitteln oder auch das Gefühl der inneren Stärke und Ruhe, d. h. diese Energien in ihm wieder zu aktivieren. Wir sind nämlich der Meinung, dass unsere Heilbehandlung nicht Neues hinzufügt, sondern Vorhandenes reinigt, ausgleicht, harmonisiert oder stärkt.« (E-Mail der Heilerin an Karin Meissner, 05.06.2008).
154
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
. Abb. 13.3 Ausschnitt aus der Eröffnungssequenz des Rituals geistigen Heilens in der White-Eagle-Lodge, in der das Scheitelchakra geöffnet wird. Die Heilerin in Schwarz steht hinter der Probandin
13
. Abb. 13.4 Ausschnitt aus der Sequenz des Rituals geistigen Heilens in der White-Eagle-Lodge, in der Licht in das Chakra am Bauch eingestrahlt wird
13.3.4
Erste Ergebnisse anhand zweier exemplarischer Fallbeispiele
Im Folgenden möchten wir erste Ergebnisse der Studie anhand von zwei konträren Fallbeispielen
darstellen: eine weibliche Studienteilnehmerin, die bereits häufiger am Heilungsritual teilgenommen hat, selbst als Heilerin tätig ist und eine sympathische Aktivierung während des Heilungsrituals zeigte (im Folgenden kurz Vp1 genannt), und einen
Versuchsperson 1 (Vp1) Ruhe 1
Heilungszeremonie
Versuchsperson 2 (Vp2) Ruhe 2 Hautleitfähigkeit (μmhol)
Hautleitfähigkeit (μmho)
2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0
Ruhe 1
18
Heilungszeremonie
Ruhe 2
16 14 12 10 8 6
0
2
4
6
8 10 12 14 16 18 20 Zeit (Minuten)
. Abb. 13.5 Verlauf der Hautleitfähigkeit während der drei Versuchsphasen von Vp1. Der Verlauf weist auf eine sympathische Erregung (Anspannung) während des Rituals hin
männlichen Studienteilnehmer ohne Vorerfahrung mit dem Ritual, bei dem eine deutliche Entspannungsreaktion messbar war (Vp2). Zuerst werden die Ergebnisse der physiologischen und psychologischen Messungen dargestellt, dann die der qualitativen Interviews (hier fast ausschließlich zum Erleben während des Heilens und zum Wirksamkeitsverständnis).
Physiologische und psychologische Messungen
0
Versuchsperson 1
Vp1 war über 60 Jahre alt, körperlich gesund und nahm außer pflanzlichen Venenmitteln keine Medikamente ein. Am Heilungsgottesdienst der White-Eagle-Lodge nahm sie regelmäßig alle zwei Wochen teil. Die Frage, ob ihr schon einmal durch geistiges Heilen geholfen wurde, beantwortete sie mit »Ja«. Geistiges Heilen schätzte sie im Allgemeinen als »sehr effektiv« ein. Von der aktuellen Heilbehandlung erwartet sie sich eine »klare Besserung«. Ihre momentane subjektive Belastung lag mit 16 von 36 möglichen Punkten im KAB vor der Heilbehandlung im mittleren Bereich. Die Hautleitfähigkeit als Marker einer sympathischen Erregung (Stressreaktion) zeigte einen deutlichen Anstieg während des Rituals (. Abb. 13.5),
2
4
6 8 10 12 Zeit (Minuten)
14 16
18
. Abb. 13.6 Verlauf der Hautleitfähigkeit während der drei Versuchsphasen von Vp2. Es zeigte sich eine kontinuierliche Abnahme der sympathischen Erregung/ Zunahme der Entspannung während des Rituals
der im Mittel signifikant war (. Tab. 13.1). Gleichzeitig nahm die Herzfrequenz während des Rituals ab und die Atemfrequenz zu (. Tab. 13.1). Die aktuelle Beanspruchung dieser Versuchsperson im KAB lag nach dem Ritual um sechs Punkte unter dem Ausgangswert und weist damit auf eine deutliche Zunahme des subjektiven Wohlbefindens hin. z
z
13
155
13.3 • Die Studie
Versuchsperson 2
Vp2 war männlich, zwischen 20 und 29 Jahren alt, körperlich gesund und nahm keine Medikamente ein. Am Heilungsgottesdienst der White-EagleLodge hatte sie noch nie teilgenommen. Die Frage, ob ihr schon einmal durch geistiges Heilen geholfen wurde, beantwortete sie mit »Nein«, und geistiges Heilen schätzte sie im Allgemeinen als »mäßig effektiv« ein. An die aktuelle Heilbehandlung knüpfte sie keine spezifische Erwartung (»weiß nicht«). Ihre momentane subjektive Belastung vor der Heilbehandlung lag mit 16 von 36 möglichen Punkten des KAB im mittleren Bereich. Die Hautleitfähigkeit als Marker einer sympathischen Erregung zeigte bei dieser Versuchsperson einen Abfall während des Rituals (. Abb. 13.6), der im Mittel signifikant war (. Tab. 13.1). Ähnlich
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
156
. Tab. 13.1 Mittlere Änderungen der physiologischen Parameter von Vp1 und Vp2 vor, während und nach dem Ritual Vp
Herzfrequenz (1/min) Ruhe1
Ritual
Hautleitfähigkeit (μmho)
Atemfrequenz (1/min)
Ruhe2
Ruhe1
Ruhe1
Ritual
Ritual
Ruhe2
Ruhe2
1
61,3
59,6*
60,2§
1,1
1,2†
1,0‡
13,4
14,4*
13,6§
2
73,5
68,9*
71,1§
11,9
6,9†
5,8‡
14,1
19,0*
18,2
*p < 0,05 vs. Ruhe1 (t-Test); § p < 0,05 vs. Ritual (t-Test); †p < 0,05 vs. Ruhe1 (Wilcoxon Test); ‡p < 0,05 vs. Ritual (Wilcoxon Test).
wie bei Vp1 nahm die Herzfrequenz während des Rituals signifikant ab und die Atemfrequenz signifikant zu (. Tab. 13.1). Die aktuelle Beanspruchung im KAB lag nach dem Ritual um einen Punkt unter dem Ausgangswert. Demzufolge hat sich das subjektive Wohlbefinden dieser Versuchsperson durch das Ritual kaum verändert. kDiskussion der physiologischen und psychologischen Änderungen
13
Die physiologischen Messungen der beiden Versuchspersonen vor, während und nach dem Heilungsritual zeigten sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Bei beiden Versuchspersonen bewirkte das Heilungsritual eine Abnahme der Herzfrequenz und eine Zunahme der Atemfrequenz. Nach dem Heilungsritual gingen diese Änderungen wieder zurück, was darauf hinweist, dass sie mit dem Heilungsritual in Zusammenhang standen (. Tab. 13.1). Auffallend war zudem die stärkere Zunahme der Atemfrequenz von Vp2 während des Rituals im Vergleich zu Vp1. Die vorübergehende Abnahme der Herzfrequenz beider Versuchspersonen könnte mit der erhöhten Aufmerksamkeit während der Behandlung im Zusammenhang stehen (Codispoti et al. 2008), ausgelöst durch die Bewegungen und Berührungen der Heilerin. Auch die schnellere Atemfrequenz weist auf eine erhöhte Aufmerksamkeit und Wachsamkeit während des Rituals hin (Boiten et al. 1994). Diese Reaktionen sind bei Vp2 vermutlich aufgrund der Neuheit der Situation stärker ausgeprägt als bei Vp1, die das Ritual bereits gut kannte. Am stärksten unterschieden sich die Versuchspersonen jedoch hinsichtlich des Verlaufs der
Hautleitfähigkeit als Zeichen von sympathischer Erregung (Stressreaktion): während Vp1 während des Rituals eine Erhöhung der Hautleitfähigkeit zeigte, nahm bei Vp2 ohne Vorerfahrung die Hautleitfähigkeit vom Beginn bis zum Ende der Messung kontinuierlich ab (. Abb. 13.5 und 13.6). Wie könnte dieser Unterschied zu interpretieren sein? Am ehesten durch einen Unterschied in der Art und Stärke der hervorgerufenen Emotionen. Hautleitfähigkeitserhöhungen treten bei starken negativen Emotionen auf wie Stress und Ärger (Dawson et al. 2007). Gleichzeitig können sie aber auch bei positivem Stress (»Eustress«) beobachtet werden, korrelieren mit angenehmen Emotionen wie Freude (Pressmann u. Cohen 2005), treten beim Hören von schöner Musik auf (Rickard 2004; Blood u. Zatorre 2001) und signalisieren Zustände von emotionaler Kongruenz zwischen Personen (Marci et al. 2007). Auch Zustände positiver Erwartung können sich in einer vorübergehenden Stressreaktion niederschlagen (Stefano et al. 2008). Der Anstieg der Hautleitfähigkeit von Vp1 während des Rituals weist also auf signifikantes emotionales Erleben während des Heilungsrituals hin. Da sich Vp1 nach dem Ritual deutlich besser fühlte als zuvor (Abfall des KAB-Scores um sechs Punkte), liegt die Annahme nahe, dass durch das Ritual positive (nicht negative) Emotionen ausgelöst wurden. Das Ausbleiben eines Hautleitfähigkeitsanstiegs bei Vp2 lässt hingegen vermuten, dass das Ritual emotional wenig in Bewegung setzte. Diese Annahme wird durch den Befund unterstrichen, dass Vp2 keinen unmittelbaren Profit aus der Heilbehandlung zog (Abfall des KAB-Scores um nur einen Punkt). Lassen sich diese auf psychophysiologische Daten gestützten Vermutungen zum inneren Erle-
13.3 • Die Studie
ben der Versuchspersonen während des Heilungsrituals durch die Interviews bestätigen bzw. weiter spezifizieren? Und welches Weltbild, Körperbild und Heilungsbild liegen den unterschiedlichen Reaktionen der beiden Versuchspersonen zu Grunde?
Qualitative Interviews z
Versuchsperson 1
Vp1 hat langjährige Erfahrung mit den Geistheilungen der Lodge und ist selbst zur Heilerin in dieser Tradition ausgebildet. Dieser Hintergrund wird sich als sehr deutlich erweisen, ist jedoch von einigen anderen Vorstellungsmustern durchzogen, die nichts mit der Lehre des White Eagle zu tun haben. Dazu gehört z. B. die Elektrosensibilität: Vp1 nimmt die Verkabelung relativ stark wahr, da in ihrer Weltsicht Elektrizität sehr negativ als Störfaktor besetzt ist (beim Schlafen werden alle Elektrizitätsquellen ausgeschaltet). Sie schildert auffällig viele körperliche Erlebnisse: mehrere kleine Schwindelgefühle werden auf die Elektrosensibilität zurückgeführt (die »andere Energie«), zartes Kribbeln im Scheitelbereich, wunderbare Wärme, die als durchfließender Strom gefühlt wird, Herzklopfen. Dabei ist »vor der Heilbehandlung – nach der Heilbehandlung« ein häufiges Sortierschema ihrer Erlebnisse. In diesem Schema wird auch das Heilen als emotionaler Prozess der Besserung beschrieben: Die anfängliche Nervosität und die Ermüdung aufgrund mangelnden Nachtschlafs weichen zunehmend der Entspannung, Beruhigung und Kräftigung (»ich fühl mich direkt richtig fit«). Bei einer zweiten Messung ist Vp1 im Anschluss zwar auch ruhiger, aber müder und nicht so beruhigt wie bei der ersten Messung einige Monate zuvor. Sie erklärt dies damit, dass sie beim zweiten Mal sehr aktiv und beschäftigt war vor der Ankunft und »weil ich mich anscheinend jetzt so da hab hineinfallen lassen, gegen die Action vorher, die da war«. Das Heilungsritual wird von ihr immer anders erlebt. Sie benennt als häufig praktizierende Heilerin einzelne Ritualsequenzen und ihre Bedeutung (»wie diese Schlusspassage, da wird also mit den Händen so runter gefahren und dann ausgestrichen, also des soll einfach beruhigen und so, …«). Davon wird das eigene subjektive situative Empfinden unterschieden, das sie als extrem liebevolles
157
13
Berührtwerden an jenem Tag erlebt. Ihre Erklärung dafür ist: »des hab ich anscheinend gebraucht«. Die emotionale Intensität und die somatischen Eindrücke (wo es kribbelt, wo die Wärme besonders intensiv erlebt wird) zeigen somit einen subjektiven Bedarf an. Dieses Denken des »das brauch ich« steht eher in der Sprache der Selbstsorge als im semantischen Feld des Gleichgewicht-Herstellens, das normalerweise eng mit den esoterischen Heillehren verbunden ist. Die Heilkraft wird als »gute Energie« bezeichnet. Die Metapher vom »Ausschlagen« der Energie in Form von Kribbeln z. B. bewegt sich im Bild elektrischer Messinstrumente und ihrer Zeiger. Gefragt, wie sie sich das Wirken des Heilens vorstellt, wird die esoterische Physiologie angeführt: »dass, dass auf ’ner, – ja wie soll ich sagen, Seelenebene, also auf ´ner feineren Ebene als jetzt der Körper ist, egal was des ist, des ist mir auch egal, ähm auf ´ner feineren Ebene, da bewegt sich was viel leichter, lockerer und schneller von einem Ort zum anderen oder zwischen Menschen«. Verglichen wird dies mit der Kommunikation ohne Worte zwischen Menschen bzw. mit dem Ehepartner. Was im Alltag Gedankenübertragung genannt wird, dient als Modell auch außerhalb der mentalen Ebene »auf so ’ner feinen Herzens- oder Seelenebene-Schwingung«. Das, was sich dort bewegt, wird von Vp1 sehr offen bestimmt. Sie stellt eine Konkordanz verschiedener Konzepte her: »und dann verbinden sich diese selbe Schwingung irgendwie miteinander oder Energie oder Wellen oder was es auch ist, und da spürt man also sofort irgendwas«. Das Erfahren hat Vorrang vor der Festlegung oder Ausdifferenzierung eines Konzeptes für die Heilkraft. Konkordanz begegnet auch in Bezug auf die Pluralität der Heilansätze in der esoterischen Literatur, die Vp1 gelesen hat. Man habe schon irgendetwas mitgebracht in dieses Leben, das Karma, Schuld, Schicksal oder anders genannt werde. Die Heilenergie ist für Vp1 Licht. Dieses »Christuslicht« hat Farbwerte, die einerseits symbolischkonventionelle Bedeutung haben und andererseits individuell-erfahrene Bedeutung. Farbwerte stehen symbolisch für bestimmte Emotionen und werden beim geistigen Heilen in einer gewissen Reihenfolge in die Energiezentren »eingestrahlt«, um auf
158
13
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
den unterschiedlichen feinstofflichen Ebenen zu wirken, um zu stärken, zu harmonisieren, auszugleichen und/oder Blockaden zu lösen, wie es im typischen theosophischen Fachjargon heißt. Vp1 hat zudem »ihre« individuelle und sehr positiv besetzte Heilfarbe: »so tiefes Weinrot und so leuchtend, eh, zwischen rosa und weinrot schwankend immer wieder, das ist meine Farbe«. Diese Farbe ist Indiz für einen Heilvorgang: »Ich leg das so für mich aus, wenn ich die ganz stark seh’, diese Farbe, und empfinde, eingetaucht bin da, dann denk ich, hat sich irgendwas innerlich getan, heilungsmäßig.« Auffällig ist die bewusste Deutung des Farbsehens durch die Heilerin. Sie spricht mit der Autorität, ihre Erfahrungen auszulegen. Es ist nicht die Lehre, die den Farbwert festlegt, sondern die vom Alltag unterschiedene Befindlichkeit im Heilen und Heilungbekommen. Zur Ätiologie von Krankheiten ist zu bemerken, dass die Veränderung zuerst auf der leichten, lockeren Ebene gegeben ist, bevor sie sich im Körperlich-Festen manifestiert: »Ich denk’ mal, dass sogar erst der Ätherkörper was empfängt und dann kriegst du ne Beule oder ’nen Bluterguss oder was«. Das Offensein für diese Ebene wird von Vp1 als Bedingung für Heilerfolge vermutet. Ein meist nicht weiter präzisiertes »Offensein« wird von Mitgliedern der Lodge wie von unseren Testpersonen häufig und gleicherweise als Voraussetzung für die Wirksamkeit des Heilens angeführt. In der Metapher vom spirituellen Weg kann Krankheit als Wandlungsimpuls gelten, wofür Vp1 Therese von Konnersreuth, Mario Mantese und Pater Pio anführt. Mantese hat sie selbst eindrücklich bei einem Auftritt in München erlebt. Krankheit als Anlass zur Wandlung sieht sie in einem geschlechtsspezifischen Kontext: Männer brauchten eine »krasse« Unterbrechung, um sich zu wandeln. Zu vermerken ist die hohe Reflexivität der Auskünfte. Es begegnen häufig systematisierende Aufzählungen (»oder ist des vielleicht noch eine dritte Variante«), Ad-hoc-Modelle, die manchmal auch nicht funktionieren (»ja des passt jetzt nicht ganz, des Beispiel«), Schlussfolgerungen, z. B. aus pluralen Ansätzen mit einer Priorisierung, Rückversicherungen im eigenen Erleben oder die Auflösung von abweichenden Erklärungen und Traditionen
über die Bildung von Konkordanzen (z. B. s. o.: Karma, Schicksal, Zufall). z
Versuchsperson 2
Vp2 ist Testperson. Sie hat sich entspannt, was auch durch ihren Bericht von mehrfachem Zucken und Aufschrecken erschlossen werden könnte, der auf Muskelentspannung hinweist. Zudem »schwammen« die Gedanken frei im Kopf bei geschlossenen Augen. Geschildert wird ein Farb- und Lichtblitzsehen »wie beim Augenzwinkern«. Einerseits wird das Besondere des Heilens verneint (»nichts Mordsbesonderes«) oder relativiert: Die Gänsehaut, die Vp2 bei der Berührung durch die Heilerin empfindet, ist »genauso wie wenn ne Freundin einen berührt, würd’ ich sagen. Also das ist einfach menschlich«. Auch äußert sie: »aber sonst war das kein Problem«. Andererseits ist Vp2 emotional ambivalent. Vp2 erlebt Angst und findet es zugleich »komisch«, dass etwas sie nach hinten vom Hocker zieht: »weil es mich irgendwie so mich en bisschen nach hinten gezogen hat. Hab ich das Gefühl gehabt.« Das gibt Hinweise auf ein implizites religiöses Verständnis von Heilen als außergewöhnlichem Geschehen und die hohe Erwartung, etwas in der Art könne geschehen. Darauf deutet eventuell auch die Aussage hin: »Ich hab irgendwie ne Erwartungshaltung gehabt in Gedanken, die nicht wirklich erfüllt worden sind«. Vp2 hat ein biologisches Körperselbstverständnis (Verweis auf Biologie-Leistungskurs in der Schule), in dem auch Seele, Geist, »irgendwas gibt’s schon in uns, was jetzt auch noch Mensch ist aber – aber ja, was es genau is, weiß ich nicht« Platz haben. Die Wirkweise geistigen Heilens stellt die Versuchsperson sich nicht über den Vollzug oder durch die andere Person erwirkt vor, sondern durch den eigenen Glauben daran. Dieser Glaube gibt Stärkung und Kraft, die über psychologische Mechanismen erklärt werden. Dieses Wirksamkeitsverständnis wird aus eigenen autosuggestiven Erfahrungen plausibilisiert, die Vp2 »wenn es schlecht geht« übt. Vp2 hält geistiges Heilen am effektivsten bei Menschen, die leicht zu beeinflussen sind. Sie grenzt sich davon strikt ab: »Ich bin das überhaupt nich. Ich hab en sehr, also ich kenn’ mich auch ziemlich gut aus, allgemein mit den Dingen. Ich hab en christlichen Hintergrund«. Das kognitive
13.4 • Diskussion der psychophysiologischen und sozialwissenschaftlichen Daten
Interesse war auch daran deutlich, dass Vp2 als erstes nach der Ankunft fragt, was das Ziel der Studie sei, und dies war auch wieder die erste Frage nach Ende des Interviews, auf das ich vertröstet hatte. Die Versuchsperson kennt Heilbehandlungen aus manchen Ortskirchen ihrer christlichen Freikirche, der sie angehört. Selbst dort ist sie skeptisch (auch nach eigenen Versuchen sich in dem Kontext darauf einzulassen) und führt »letzte Hoffnung« als Motiv für Heilungssuchende an und spricht von Manipulation und dass der Heilige Geist »beschworen« werde. Das »Umfliegen« von Menschen während charismatischer Geistheilung erklärt sie versuchsweise mit dem »Knipsen« bei der Hypnose. Zwischen dem christlichen Gott, dem Geist der WEL oder Magnetsteinen sieht sie kaum einen entscheidenden Unterschied für die Wirksamkeit. Entscheidend sei der Glaube an die Wirksamkeit. Interessant ist, dass in der emischen Perspektive Heilformen nicht nach eigen und fremd sortiert werden, sondern über die Alltagstheorie zu ihrer Wirkweise. Da die Wirkweise nach Ansicht von Vp2 grundsätzlich psychologisch ist und nicht metaphysisch, können Magnetsteine und der christliche Gott auch vom gläubigen Christen in eine Reihe gestellt werden. kZusammenfassung der qualitativen Interviews und Bewertung im Hinblick auf die psychophysiologischen Messungen
Vp1 teilt im Unterschied zu Vp2 den Heilungsmythos der Gruppe. Sie erklärt Krank- bzw. Gesundwerden über karmische Ursachen und über das theosophische Körperbild. Die Konzepte sind häufig offen und bilden eine Sammelkategorie verschiedenster einschlägiger Ansätze, die über spezifische emotionale und somatische Erfahrungen ausgeführt werden. Somit erlebt Vp1 das Heilungsritual als sehr intensiv und schildert positive Emotionen. Dies bestätigt, dass die Zunahme der Hautleitfähigkeit während des Rituals als Zeichen intensiven emotionalen Erlebens interpretiert werden kann. Vp2 ist kognitiv distanziert, zeigt sich während des Rituals entspannt und erklärt eigene freikirchliche wie neureligiöse Formen des geistigen Heilens gleicherweise über psychologische Wirkmechanismen. Dabei wird der Überzeugung des Einzelnen
159
13
von der Wirksamkeit des Heilens die entscheidende kausale Rolle zugeschrieben. Die Abnahme der Hautleitfähigkeit von Vp2 während des Rituals stimmt mit ihrem distanzierten, wenig emotionalen Erleben des Heilungsrituals überein: Sie erlebt das Ritual als nichts Außergewöhnliches.
13.4
Diskussion der psychophysiologischen und sozialwissenschaftlichen Daten
Methodisch zeigte sich, dass es sinnvoll ist, die Daten zunächst von beiden Seiten getrennt auszuwerten, anstatt zu früh nach einem gemeinsamen Zugang zu suchen. Dieser ist bei der herausfordernden Spannung zwischen Medizin und Kulturwissenschaft zu unterschiedlich. Zum Beispiel war eine bestimmte aus den Interviews extrahierte Taxonomie über Wirkfaktoren des Heilens nicht direkt an die medizinischen Daten anzuknüpfen: Wir hatten versucht, zu einer Systematik zu kommen, die berücksichtigt, wo und wie Heilung von der Vp imaginiert oder erlebt wird. Die Taxonomie sah den somatischen, emotionalen, kognitiven und auch imaginativen Modus vor. Denn häufig führten Probanden die Bedeutung der Person der Heilerin an, die Stärke einer körperlichen Reaktion wie eines Wärmegefühls an der Stirn oder den überaus zärtlichen und liebevollen Modus der Performanz. Unter dem imaginativen Modus wurden Aussagen zusammengefasst, in denen ein Heilengel vorgestellt (»gesehen«, »gefühlt«) wurde oder Licht den Körper durchströmend erzählt wurde. Einige der angeführten Daten zu Vp1 und Vp2 sind in der Kurzsynopse (. Tab. 13.2) vergleichend nebeneinander gestellt. Auch wenn der Modus für die Erfahrungsdynamik (zu diesem Begriff s. u.) einzelner Probanden entscheidend war, so konnte dies in der Gesamtgruppe nicht statistisch ausgewertet und mit psychophysiologischen Werten korreliert werden, da sich zum einen die Modelle innerhalb der Population überschnitten und sich zum anderen eine Skalierung der Bedeutsamkeit aus den sozialwissenschaftlichen Daten nicht ableiten lässt. Stattdessen soll im Folgenden nach geeigneten Konzepten z. B. auch im Kontext der neuesten Ri-
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
160
. Tab. 13.2 Kurzsynopse zu Vp1 und Vp2 Änderung der subjektiven Belastung
Änderung der sympathischen Erregung
Änderung der Herzfrequenz
Änderung der Atemfrequenz
Subjektives Erleben
Wie/wo wird Heilung von der Vp imaginiert/erlebt ?
Spezif. Erleben
»nichts Besonderes«
körperlich
emotional
kognitiv
1 weibl. auch Heilerin
-6
11%
3%
2%
Farbsehen Chakrenwahrnehmung, Wärme, Kribbeln
trifft nicht zu
ja
ja
(WELehre)
2 männl. Testpers.
-1
-42%
6%
35%
Ja, aber mit »normalen« Körper-reaktionen erklärt
trifft zu
kaum
nein
ja sehr
Vp
13
tualtheorie gesucht werden, die es ermöglichen, die kulturwissenschaftlichen und psychophysiologischen Daten zusammenzubringen. Zu klären sind außerdem noch zwei der drei Fragestellungen der Studie: Wie kommunizieren die Art des Erlebens und die Bewertung des Erlebens mit den kurzfristigen psychophysiologischen Effekten des geistigen Heilens? Und erhöht eine stärkere Zustimmung zu dem Behandlungsmythos die somatischen und persönlich verbalisierten positiven Effekte? Um die Wirksamkeit interdisziplinär zu fassen, werden drei Aspekte verfolgt: die spirituelle Einstellung als agnostische Spiritualität, das Verhältnis von Inszenierungsform und Einstellung des Teilnehmenden als Erfahrungsdynamik und die Wichtigkeit der individuellen Situationsdefinition mit dem Konzept der Bedeutungszuschreibung. z
Agnostische Spiritualität
Die Haltung von Vp1 kann religionswissenschaftlich mit agnostischer Spiritualität verglichen werden, die in Befragungen zu zeitgenössischen Jenseitsvorstellungen in Ostdeutschland zu Tage trat. Agnostische Spiritualität ist eine Haltung, die »einen Transzendenzbezug mehr oder weniger abstrakt aufrechterhält, ohne ihn verbindlich inhaltlich-religiös zu füllen« (Wohrab-Sahr et al. 2005, S. 153). Einige Beobachtungen können auf die Wirksamkeitsvorstellungen zum geistigen Heilen übertragen werden. So die Offenheit: Vp1 äußert
zur Wirkweise des geistigen Heilens: »ich denk, ganz hundertprozentig kann das niemand sagen, weil da zu viel dran hängen kann«. Für die zu berücksichtigende Komplexität führt Vp1 die Pluralität der Ansätze geistigen Heilens an und den sehr unterschiedlichen karmischen Hintergrund jedes Einzelnen. Die Überzeugung oder Annahme der möglichen Wirksamkeit des geistigen Heilens ist auf Seiten der meisten Probanden mit mehreren Vorstellungsarten verbunden: Es sind immer psychosomatische Modelle dabei, ansetzend bei Alltagserklärungen wie eigenen autosuggestiven Erfahrungen, dann der Einfluss von populärer Literatur oder (Fernseh-)Filmen, in denen diese Zusammenhänge in Bezug auf Allergien, Krebserkrankungen usw. ausgeführt werden, dann Modelle, die eine offene Transzendenz bemühen. Dies geschieht in den unterschiedlichsten Formulierungen (ich weiß nicht genau, ich weiß nicht wie, irgendetwas usw.). Die eigene leibhafte Erfahrung von Heilung muss nicht Grundlage des subjektiven spirituellen Agnostizismus sein, sondern das Für-Möglich-Halten wird auch aus der erwähnten Literatur, aus Filmen und einer Sparte von Heilungsberichten gezogen. So nannten die Personen unserer Studie Therese von Konnersreuth, Pater Pio, Kurt Ramplers Die große Umkehr, Robert Pellegrino-Estrichs Der Wunderheiler. Die Lebensgeschichte des Joao de Deus, Edgar Cayces Der schlafende Prophet, di-
13.4 • Diskussion der psychophysiologischen und sozialwissenschaftlichen Daten
subjektiv Psychische Repräsentation/Erlebnismodi der Teilnehmer
Strukturiert vor
161
13
Veränderung in der Erfahrungsdimension
Verhältnis: Erfahrungsdynamik
Ritualkomplexe (Struktur/Grammatik/Form) Ritualperformanzen (Vollzug) kollektiv
Veränderung auf der sozialen und strukturellen Ebene des Rituals
. Abb. 13.7 Ritualtheoretisches Konzept der Erfahrungsdynamik
verse Titel von White Eagle, Auftritte von Mario Mantese, den Film zu den Büchern Gespräche mit Gott von Neale Donald Walsch u. a. Diese beachtliche Intertextualität zu White Eagle bildet einen Ausschnitt aus einer noch breiteren Lektüre und Medienkonsum. Sie zeigt an, dass die Nachfrage bei den Heilungssuchenden nach einem Modell oder paradigmatischen Fällen des geistigen Heilens hoch ist. Ganz unabhängig davon, wie kohärent diese Klärung verfolgt wird, zeigt sie eine große kognitive Anstrengung und nicht nur körperliche Beschäftigung mit Heilung. Bei aller Körper- und Erfahrungsorientierung der Klientel ist die Bedeutung des Behandlungsmythos nicht außen vor zu lassen. In Abweichung davon ist Vp2 zwar gläubiger Christ, doch weder gläubig noch agnostisch spirituell in Bezug auf Heilen. Nach Vp2 ist geistiges Heilen rein auf psychologische Wirkweisen zurückzuführen. z
Rituelle Wirksamkeit
In der Ritualtheorie wird rituelle Wirksamkeit diskutiert. Dabei werden die Auffassungen, Rituale seien ineffektiv, irrational und symbolisierten etwas, zurückgewiesen, indem sie in die Wissenschaftsgeschichte des Begriffs Ritual, näherhin in repräsentationalistische Bedeutungstheorien, eingeordnet werden (Sax 2009). Stattdessen wird von vielen der Vollzugssinn dieser Handlungskomplexe betont. Nicht nur, dass sie performativ Wirklichkeit schafften, durch Teilnahme würden auch verkörperte Gewohnheiten der Akteure angelegt, verstärkt, überschrieben und veränderten Gege-
benheiten angepasst. So sind Rituale in dauernder Prüfung und Wandlung durch alle Beteiligten. Die feste Form trügt, da jedes Ritual als Teil eines alltäglichen Lebens in jedem Vollzug sich neu bewährt. Die Bedeutung des Rituals bildet sich über den rituellen Vollzugssinn. Er ist wirksam in jenem Interaktionsraum, den das Konzept der Erfahrungsdynamik bezeichnet, das gleicherweise interessant ist für Medizinische Psychologie und Ritualtheorie. Erfahrungsdynamik spielt sich zwischen dem Ritualkomplex und der Art des Ritualvollzugs auf der einen Seite ab und den Erlebniszuständen des/der Teilnehmerin auf der anderen Seite (. Abb. 13.7). In diesem Wechselverhältnis sind die subjektiven und internen psychischen Repräsentationen von der Grammatik oder der Struktur des Ritualkomplexes vorstrukturiert. In einem Heilungsritual erwarte ich zum Beispiel, dass an meinem Körper etwas vollzogen wird, dass es mir besser geht, dass etwas an Kraft übertragen oder in mir »wieder gerichtet« wird. Je intensiver die Gewohnheit mit dem Ritual ist, desto stärker diese psychosomatische Erwartung. Aus der Placeboforschung ist die Bedeutung solcher Erwartungen für Therapieerfolge bekannt (z. B. Meissner et al. 2007; Meissner 2009; Lundh 2000; Enck, Benedetti u. Schedlowski 2008). Auch ist gut belegt, dass Vorerfahrungen eine entscheidende Rolle für Erwartungen und damit auch für Therapieerfolge spielen (Colloca u. Benedetti 2006; Colloca, Sigaudo u. Benedetti 2008; Klinger et al. 2007). Bei Vp2 führte die Erwartung einer transzendenten Macht während des Rituals zu einem am-
162
Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
bivalenten Gefühl zwischen unheimlich und lustig (»Hockererlebnis«) und zu starken Verneinungen einer religiösen und Affirmation einer psychologischen Wirksamkeit. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Versuchsperson von einem anders gearteten Ritual, z. B. einem psychologischen Entspannungsverfahren, einen größeren subjektiven Nutzen gezogen hätte. Dies würde neueren Befunden aus der Placeboforschung entsprechen, die zeigen, dass gesundheitsfördernde Rituale dann besonders wirksam sind, wenn sie mit der Selbstdefinition und den persönlichen Werten einer Person übereinstimmen (Hyland et al. 2007). z
13
Bedeutungszuschreibung
Beide bisher genannten Konzepte – rituelle Wirksamkeit und agnostische Spiritualität – bieten Grundlagen dafür, um die individuelle Wirksamkeit des Rituals der White-Eagle-Lodge in unserer Studie besser zu verstehen. Die Erfahrungsdynamik bewältigt die Kluft zwischen der konkreten rituellen Situation und Teilnehmerperspektive in dem Ritual und dem allgemeinen rituellen Habitus eines Milieus oder einer Kultur. Das Konzept der agnostischen Spiritualität liefert die Grundlage für ein besseres Verständnis von Bedeutungsbezügen im Ritual. Im besten Fall resultiert aus dem Ritualvollzug eine Verstärkung der individuellen Bedeutungsbezüge mit positiven Auswirkungen auf die Motivation des Teilnehmenden; er oder sie vertrauen dem Ziel des Handlungskomplexes eher, sehen diesen Komplex als geeignetes Handlungsmittel zur Erreichung dieses Ziels an. Dies scheint bei Vp1 der Fall gewesen zu sein, die seit mehreren Jahren das Heilungsritual besucht und sogar selbst zur Heilerin wurde. Vp2 hingegen hatte keinen persönlichen Bezug zum Heilungsritual und erlebte keine Besserung im subjektiven Wohlbefinden. Diese beiden konträren Fallbeispiele zeigen sehr deutlich, dass nicht die Ritualelemente selbst, z. B. das Berühren der Haut, das Bestreichen der Chakren, das Sprechen der Gebete, eine intrinsische Wirksamkeit besitzen, die in immer gleicher Weise physiologische Änderungen herbeiführt (z. B. in Form einer Aktivierung der Belohnungssysteme im Gehirn durch Berührung der Haut). Vielmehr ist es die Interaktion zwischen individuellen Bedeutungsbezügen und den Elementen des Rituals, die
positive Effekte im Heilungssuchenden auslösen kann. Vorerfahrungen und individuelle Wertemuster spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Ein Behandlungsmythos, der über das Ritualkollektiv hinausgreift und an generellere Traditionen, Körperbilder und Heilungsnarrative andockt, leistet sowohl kognitive Zufriedenheit über Erklären, Autorität und Einordnung als auch eine soziale Zugehörigkeit zu allen, die es sich so vorstellen, die es so glauben und auf diese Weise Heilung oder ihr Verhältnis zum Kosmos vollziehen. Gerade die soziale Unterstützung ist in der Literatur häufig als positiver Faktor des Heilens angeführt worden (Galanter 1999). In den Interviews zeigten sich einige Idiosynkrasien im Ritualerleben sogar der Heilerinnen, die durch die gleiche Ausbildung gegangen sind. So unterschieden sie sich in ihren »Wohlfühlfarben«, in den Wärmezonen und darin, ob sie einen Heilengel materialisiert »hinter« sich fühlten oder nicht. Der Ritualkomplex der WEL enthält rituelle Elemente, die für Einzelne mit bestimmten Erfahrungsmodi verbunden sind, die sie stets wieder in diesem Komplex erleben als auch auf Situationen außerhalb transferieren können. So kommt für Vp1 die Farbwahrnehmung von Weinrot nur in der Heilung und nie im Alltag vor. Das ist die Realitätsverdopplung innerhalb der Immanenz, über die Luhmann das Teilsystem Religion abgrenzt. Eine andere Heilerin schildert, dass sie Licht »einatmet« und dies auch in meditativen Kontexten außerhalb des Heilens tut. Auch wenn Heilung einerseits »immer anders ist«, so ist sie andererseits immer entspannend, beruhigend usw. Diese typische Aussage der Ritualteilnehmer/innen weist auf den Raum der Erfahrungsdynamik hin. Individualität und bedeutungsfähiges, vermittelbares Erleben müssen in einem machbaren Verhältnis bleiben. Dies geschieht im Regelkreis der Erfahrungsdynamik: Die eigene situative Befindlichkeit wiederholt einerseits in einem eingeübten verkörperten Vollzug die vorstrukturierten Elemente des geistigen Heilens und bringt sich andererseits mit bevorzugten Erfahrungsmodi ein, lässt sich verändern oder sträubt sich. Der durch Symbole und unterschiedliche Lichtquellen gestaltete Raum, die Inszenierung, zu der die Heilerbekleidung gehört, und das Eröffnungs-
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Literatur
gebet, das die Heilengel um Hilfe anruft und die Suggestion formuliert, die Sinne vor der äußeren Welt zu verschließen und in sich zu gehen, dann schließlich die ritualisierte Heilbehandlung aktivieren religiöse Vorstellungen und eine interozeptive Aufmerksamkeit.
13.5
Schlussfolgerung
» Die verstehende Soziologie interessieren daran aber nicht die physiologischen und früher so genannten ‚psychophysiologischen’ Erscheinungsformen: Pulskurven z. B. oder Verschiebungen des Reaktionstempos und dergleichen … (Max Weber 1972/1922, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie).
«
Es ist ein innovatives und offenes Forschungsfeld, die Medizin und Psychologie, welche psychophysiologische Daten messen, und die Religionswissenschaft, die wie die verstehende Soziologie Konstruktionen von Heilung, Wirkung und Erwartung über dichte Teilnahme und sozialwissenschaftliche Daten erhebt, zusammenzuführen. Gerade Max Weber, der als früher Kulturwissenschaftler ein Meister der Multiperspektivität ist und viele Kategorien für dieses Unternehmen z. B. zwischen Religion, sozialer Beziehung und Wirtschaft erprobt hat, hätte Verständnis für das Anliegen dieser Studie entgegen dem reduktionistisch klingenden Zitat, wenn eben die psychophysiologischen Daten gedeutet werden. Geistiges Heilen wurde über eine Verhältnisbestimmung von Erwartung, subjektiver Erfahrung/Sinnkonstruktion/subjektiver Bedeutungszuweisung, Lernen und kollektiven Vorstellungen rekonstruiert. In dem ritualtheoretischen Konzept der Erfahrungsdynamik können die erwähnten Konzepte von Erwartung, Bedeutungszuschreibung und Erlebniszuständen zusammengeführt werden. Durch solche Brückenkonzepte können Hypothesen der Placeboforschung und Interpretationen der Religionswissenschaft aufeinander bezogen werden. Zum Beispiel können lerntheoretische Annahmen mit Daten zur Länge der Zugehörigkeit zur religiösen Gruppe, zur Vertrautheit mit dem Behandlungsnarrativ in ein Ver-
13
hältnis gesetzt werden. Dadurch sind Muster von Korrelationen zu erwarten, und die vermeintliche Spannung der Disziplinen mindert sich, wenn der Körper als sozialisierter erkannt wird. Das geistige Heilen bietet sich für diese Art von transdisziplinären Studien nicht zuletzt deshalb besonders an, da es – wie andere Formen des alternativen Heilens auch – besonders große Kontexteffekte hervorrufen kann (Kaptchuk 2002). Offen für weitere Forschungen sind u. a. die Frage nach der Nachhaltigkeit des geistigen Heilens. Bilden sich also z. B. über bestimmte rituelle Settings oder Ritualsequenzen wiederholbare Erfahrungsmodi bei den Versuchspersonen heraus? Und was sind die Gesetzmäßigkeiten der Erfahrungsdynamik angesichts der großen individuellen Abweichungen im Erleben und den indigenen Erklärungsmodellen? Letztere Frage ist äußert relevant für die Prognose von Beschwerdebesserung. Auch ob spezielle Vorstellungen bei bestimmten Formen des geistigen Heilens erfolgreicher in Bezug auf Beschwerdebesserungen sind als andere, bleibt eine offene Frage und bildet einen Anreiz, weiter zu forschen.
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Kapitel 13 • Psychische und vegetative Effekte des geistigen Heilens in ihrem rituellen
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Spiritualität und Alter – Zielgruppen und Perspektiven Karin Wilkening
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Kapitel 14 • Spiritualität und Alter – Zielgruppen und Perspektiven
Im Nachfolgenden werden zum Thema Spiritualität und Alter verschiedene Blickrichtungen zusammengeführt: Zunächst geht es (a) um Altersbilder und aktuelle Impulse der »Interventionsgerontologie«, des Weiteren werden (b) Facetten von Spiritualität berücksichtigt, die derzeit als »positive Spiritualität« in der psychologischen Forschung behandelt werden. Diese Ausgangspunkte werden dann (c) im Vorschlag einer vorläufigen gerontologischen Zielgruppeneinteilung mit aktuellen Entwicklungslinien der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Spiritualität verbunden. In einer Konzentration auf spirituelle Praxisfelder in drei Zielgruppen werden danach die Themengebiete (d) Weisheitsentwicklung, (e) Verlusterfahrung in der Hospizarbeit sowie (f) Umgang mit Demenz als wichtige künftige Handlungsfelder spiritueller Praxis vorgestellt und abschließend mit (g) Forschungsdesideraten verknüpft.
14.1
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Altersbilder und Interventionsgerontologie
Wer sich mit Alter beschäftigt, hat immer auch »Altersbilder« im Kopf – vielleicht das der bekannten »Alterstreppe«, in der Menschen so dargestellt werden, dass sie jeweils mit 50 Jahren ihren Höhepunkt auf der Treppe erreichen und danach kontinuierlich bis 90 immer weiter stufenweise bergab gehen. Diese eindimensional defizitäre Sicht des Alters ist seit den 1970er Jahren durch ein differenzierteres Bild vom Altern abgelöst worden, in dem Alternsvorgänge innerhalb des Menschen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Verläufen betont werden. Hierbei zeigen in aufsteigender Reihenfolge zunächst die biologischen Systeme des Menschen, dann die Wahrnehmungssysteme, schließlich die Kognition und erst ganz zuletzt die Persönlichkeitsentwicklung sowie das Sozialverhalten altersbedingte Einbußen. Spiritualität als eine Dimension der Persönlichkeits- und Weisheitsentwicklung wäre danach noch bis zum Lebensende entwicklungsfähig – auch wenn körperliche und kognitive Dimensionen nachlassen. Ein zweiter wichtiger Aspekt von Altersunterschieden zwischen Menschen bezieht sich auf die Differenzierung von eher biologisch orientierten
altersbezogenen Veränderungen, die alle Menschen gleichermaßen, und auf kultur- oder kohortenspezifische Ereignisse, die bestimmte Personengruppen in unterschiedlicher Form betreffen, wie z. B. die Folgen eines Krieges etwa im Jahr 1849 oder 1949. Die dritte wichtige Einflussgröße für Individuen sind spezielle »nicht-normative Lebensereignisse«, wie z. B. ein Autounfall oder ein Lotteriegewinn, wobei es im Sinn einer Wechselwirkung mit Obengenanntem auch wichtig ist, wann im Laufe eines Lebens solche spezifischen Ereignisse eintreten. Zusammengefasst sind sowohl die intraindividuellen wie die interindividuellen Unterschiede des Alterns wichtige Voraussetzung für die Abkehr von Altersnormen. Bis ins hohe Alter hat der menschliche Organismus Plastizitätsreserven und kann sich so an vielerlei Herausforderungen des Umfelds anpassen. Im Modell der Optimierung durch Selektion und Kompensation (Baltes et al. 1989) wird die lebenslange Lernfähigkeit betont. Entwicklung ist stets ein Prozess von Verlust und Gewinn, wobei am Lebensende die Verluste zunehmend größer und die Gewinne geringer werden – ein Spannungsfeld von später Freiheit durch Rollenaufgaben einerseits, aber auch größerem Angewiesensein auf die »Kultur« eines unterstützenden Umfelds bei Gebrechlichkeit andererseits. Die Tatsache, dass dieselben Ereignisse von Menschen unterschiedlich wahrgenommen werden und damit eine je eigene Bedeutung für sie haben, unterstreicht die Bedeutung subjektiver Alternsprozesse. Mit dem Stichwort »Interventionsgerontologie« wird auf der einen Seite die Möglichkeit von Interventionen bis ins hohe Alter unterstrichen, auf der anderen Seite der differentielle Aspekt zusammen mit der Bedeutung biografischer Längsschnittforschung als Methode der Wahl betont – auch bei spirituellen Themen!
14.2
Positive Spiritualität
In der Beschäftigung mit Spiritualität ist die Bestimmung von Schnittmengen zur »Religiosität« unverzichtbar. Im Folgenden werden Spiritualität und Religiosität als Schnittmengen mit großen Überlappungen verstanden, wobei Spiritualität ge-
169
14.4 • Optimales Altern und Weisheit
legentlich auch als der weitergehende, Religiosität einschließende Begriff gesehen wird. Des Weiteren muss im Umgang mit Spiritualität stets auch der potentiell schädigende Einfluss von spirituellen und religiösen Erfahrungen gesehen werden. Hier konzentrieren wir uns auf das »positive, religiöse Coping« (Pargament 1998), womit im Folgenden auch behandlungsbedürftige psychiatrische Erkrankungen im Sinn der »spirituellen Krise« (nach ICD 10) ausgeklammert bleiben. Wie Huber (2007) zeigen konnte, sind auch konfessionslose Menschen an religiösen Fragen interessiert – ein Grund mehr für »semantische Sensibilität« bei spirituellen Themen, die gleichermaßen religiöse Menschen und Konfessionslose anspricht. Unter den zahlreichen Definitionen und Modellen zur Spiritualität ist aus psychologischer Sicht das derzeit umfassendste Modell das von Averil (2005), in dem Spiritualität mit drei Dimensionen Vitalität, Orientierung und Verbundenheit dargestellt wird. Von einer spirituellen Erfahrung geht demnach eine tiefe emotionale Berührung und Kraft aus, die als Verbundenheit erlebt wird und dem künftigen Handeln Orientierung gibt, wobei dies alles sowohl in weltlichem als auch religiösem Kontext interpretiert werden kann. Dieser Definition nahe ist das Konzept der »Spirituellen Intelligenz« von Emmons (2003). Es besteht aus (1) der Fähigkeit zur Transzendenz (2) zu höheren Bewusstseinszuständen, zum (3) »coping« durch spirituelle Ressourcen, (4) zum Leben von Charakterstärken sowie (5) zur »Heiligung von Alltagserfahrungen«. Dieses Konzept vereint Möglichkeiten für mystische Erfahrungen aus dem Bereich der »transpersonalen Psychologie«, der »positiven Spiritualität« als Bewältigungsressource sowie der Einbettung von Spiritualität im umfangreichen Gesamtpaket der »Charakterstärken« (virtues) der positiven Psychologie – eine gute Mischung gegen den befürchteten »Erleuchtungseklektizismus« mancher spiritueller Praktiken. Die Dimension der Fähigkeit zur »Heiligung von Alltagserfahrungen« stellt dabei eine gelungene Verbindung eines ursprünglich religiös besetzten Begriffs mit säkularer semantischer Deutungsmöglichkeit dar. Emmons definiert das »Heilige« als etwas, in das Zeit und Energie investiert wird und das spirituelle Emotionen weckt, wobei Zufriedenheit und Sinn
14
entstehen und das Heilige vor »Entweihung« geschützt wird. Eine solche weitgehende Definition von »Heiligem« erlaubt, mit sehr unterschiedlichen Zielgruppen persönliche Wertvorstellungen im Alltag zu entdecken und hierfür passende Angebote zu entwickeln.
14.3
Zielgruppendefinition und Entwicklungslinien
Die vielfältigen Aspekte der differentiellen Gerontologie verlangen vielfältige Angebote. Im Nachfolgenden wird hierbei für differenzierte, spirituelle Angebote eine Unterteilung vorgenommen, die mit dem Fokus auf Gesundheit und Umweltfaktoren alte Menschen von 55 aufwärts grob einteilt in Gruppen von optimal, normal und pathologisch Alternden. Unter »optimal« Alternden werden hierbei Personen verstanden, die keine krankheitsbedingten Einbußen aufweisen und ihre Potentiale im Umfeld optimal ausschöpfen können. Unter »pathologischem« oder krankhaftem Alter wird diejenige Gruppe von alten Menschen definiert, die durch Alterserkrankungen einschließlich Demenz und Depression multimorbid eingeschränkt sind. »Normal« alternde Menschen sind in diesem Definitionsspektrum Personen, die zunächst keine speziellen Alterserkrankungen haben, »nur« von normalen altersbedingten Einschränkungen betroffen sind und unterschiedlich die Möglichkeiten ihres Umfelds nutzen. Atchley (2009) spricht von verschiedenen Entwicklungslinien der Spiritualitätsforschung. Ausgehend von einer Spiritualität des Bewahrens, die sich eher im Rahmen herkömmlicher religiöser Traditionen bewegte, entwickelte sich eine Spiritualität des Suchens individueller Wege, die heute zunehmend Fragen der spirituellen Praxis mit konkreten Erscheinungsweisen im Alltag fokussiert.
14.4
Optimales Altern und Weisheit
Im Rahmen der Weisheitsforschung wurden von Baltes und seinen Mitarbeitenden am Max-PlanckInstitut in Berlin zahlreiche Untersuchungen zur Weisheitsentwicklung durchgeführt, wobei Weis-
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14
Kapitel 14 • Spiritualität und Alter – Zielgruppen und Perspektiven
heit dort definiert wird als Antwortexpertise zu existentiellen Fragen des Lebens (gemessen in einem experimentellen Setting) – eine (eher) kognitive Dimension, die auch im Alter nicht nachlässt. Allerdings macht Alter nicht per se weise, sondern es kommt auf sogenannte »Weisheit begünstigende Erfahrungskontexte« an, zu denen u. a. lebenslanges Lernen mit Reflexionsfähigkeit, Wissen über die Wirkung von Kontextfaktoren, Urteilsrelativität und der Umgang mit Unsicherheiten im Leben gehören. Spiritualität wird hierbei zwar nicht explizit als Bestandteil von Weisheit benannt, zeigt jedoch viele Übereinstimmungen zu Weisheitsdefinitionen und Weisheitstrainingsprogrammen (siehe unten). Ein Alternsmodell, das sich explizit mit transzendenten Dimensionen beschäftigt, ist das bekannte Entwicklungsmodell von Erikson, in dem »Generativität« und »Ich-Integrität« als letzte Stufe der Erwachsenenentwicklung die angstreduzierte Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit ermöglichen. Die Weiterentwicklung dieses Modells im Konzept der »Gerotranszendenz« von Tornstam (2005) ist eine Kombination der altruistischen Generativitätsdimension mit einer »kosmischen Dimension«, in der sich ältere Menschen durch Verinnerlichung mit vergangenen und gegenwärtigen Generationen sowie dem gesamten Kosmos verbunden fühlen, sich mit gegenwärtigen und vergangenen Facetten des eigenen Ichs versöhnen und sich auch mit religiös-spirituellen Fragen der Endlichkeit beschäftigen. In den USA ist in Anlehnung hierzu in den letzten Jahren ein populäres Weisheitstrainingsprogramm »From Aging to Saging« (Shachter-Shalomi 1995) entwickelt worden, in dem in 11 Schritten ein differenzierter Lebensrückblick die Versöhnung mit der eigenen Biografie, das Praktizieren von Vergebung, die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlichkeit, das Lernen von Dankbarkeit sowie eine Investition in altruistisches Engagement mit älteren Menschen in praktischen, auch meditativen Übungen (durch Selbststudium in Buchform oder Trainingsgruppen) erfolgt. Interessant ist, dass eine Umsetzung und Evaluation dieses Programms im deutschsprachigen Raum an der Universität Zürich in den Jahren 2007/8 zwar eine Zunahme der subjektiven Zufriedenheit und Sinnerfüllung der Teilnehmer erbrachte, doch
keine Zunahme von Weisheit im Sinn der obigen Operationalisierung von Staudinger und Baltes (1996). Die Rahmenbedingungen dieses Trainings in einem Universitätsseminar mit Betonung auf kognitiven Anteilen legen nahe, Weisheit vielleicht doch umfassender zu definieren und auch im Sinne einer Zunahme spiritueller Sensibilität sich Rilke anzuschließen, der meinte: »Ich rate Ihnen, die Fragen selbst lieb zu haben … Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben können. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein«.
14.5
Normales Altern und Verlusterfahrungen
Unter dem »Zufriedenheitsparadox« des Alters versteht man die Tatsache, dass ältere Menschen trotz zunehmender Einschränkungen nicht weniger zufrieden sind mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit als jüngere Menschen. Altern heißt, mit dem Abnehmen leben lernen, und dies scheint den meisten älteren Menschen ganz gut zu gelingen. Die in der Jugend zu beobachtenden Ziele einer möglichst großen Kontrolle von Lebensumständen verändern sich bei Hochaltrigkeit häufig zugunsten eines »Kontrollgewinns durch Kontrollverzicht« – etwas, das im Bild des bekannten »Kohärenzgefühls« der Salutogenese von Antonovsky ebenfalls als alternative Sinngebung für nicht mehr »Handhabbares« und »Verstehbares« auftaucht. In den Untersuchungen von Brandstätter (2007) wird diese Veränderung der Sinnorientierung im Alter empirisch evident durch die Zunahme von »Spiritualität« und »altruistischem Engagement« in der Altersgruppe von 75 aufwärts Viele ältere Menschen nutzen die Gelegenheit, die oben beschriebenen expliziten Dimensionen eines Weisheitstrainings quasi implizit in Form von ehrenamtlichen Tätigkeiten, z. B. im Rahmen eines Hospizhelfer-Kurses, oder in der generativen Aufgabe als Großeltern wahrzunehmen. Auch das Modell des erfolgreichen Alterns von Rowe und Kahn wird bei Crowther (2002) um die spirituelle Dimension erweitert. Neben die Maxi-
14.6 • Spiritualität bei Demenz
mierung körperlicher und geistiger Fähigkeiten, die Minimierung von Krankheitsrisiken und das Eingebundensein in ein aktives Leben tritt hier die spirituelle Dimension, die durch direkte und indirekte Effekte das Gesundheitsverhalten, Inhalt und Richtungen körperlich-geistiger Tätigkeiten sowie die Art der Verbundenheit mit sozialen Kontakten gestaltet. Dies alles zeigt, wie sehr Spiritualität bereits als Erweiterung bekannter gerontologischer Alternsmodelle Eingang gefunden hat.
14.6
Spiritualität bei Demenz
Je mehr Spiritualität mit Begriffen wie »Bewusstsein« oder »Bewusstheit« verbunden wird, umso schwieriger wird es, Menschen mit Demenz die Möglichkeit spiritueller Erfahrungen zuzugestehen. Die sogenannte »personenorientierte« Pflege von Menschen mit Demenz stellt solcherart defizitären Blick auf Demenz in Frage. Es ist ein interessantes Gedankenspiel, der sprachlichen Beschreibung von »Verlusten« in der Demenzerkrankung die inhaltlich ähnlichen, aber hier erwünschten Begleiterscheinungen (»Gewinne«) im Rahmen spiritueller Praxis gegenüberzustellen. So wird z. B. bei Demenz üblicherweise der kognitive Abbau beklagt und die verbliebenen Emotionen als eher störend gesehen – in der Spiritualitätsliteratur wird Kreativität von Emotion und Intuition als Einbeziehung des »Bauchgefühls« zur Problemlösung angestrebt. Zeitliche, räumliche und personelle Desorientierung gelten als Leitsymptome demenzbedingter Verluste – in den unterschiedlichen Bewusstseinszuständen der transpersonalen Psychologie ist die Wegbewegung vom orientierten »Alltagswachbewusstsein« hin zu einem »Nondualismus«, in dem Zeit-, Raum- und Personengrenzen aufgelöst sind, höchstes Ziel meditativer Erfahrung. Das Nachlassen von Gedächtnisleistungen und korrektem Erinnerungsvermögen ist eines der Frühsymptome dementieller Erkrankungen, wobei Begegnungen auch mit vertrauten Menschen und Gegenständen immer wieder neu sein können und neue Abschiede und Loslassen nach sich ziehen – solch »abschiedliche« Haltung wird im Umgang mit weltlichen Dingen häufig als Ziel spiritueller Entwicklung angestrebt. Der zunehmende Verlust von
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14
Autonomie und das Angewiesensein auf Unterstützung anderer macht ältere Menschen mit Demenz zu Pflegebedürftigen. Doch ist unsere scheinbare Autonomie als »Gesunde« nicht oft »Autonomieillusion«? Keiner von uns könnte überleben ohne die zumindest temporäre praktische und/oder emotionale Unterstützung anderer Menschen. In der Spiritualitätsliteratur wird dieses Gefühl der »Verbundenheit« mit anderen Menschen, Umwelt und göttlichem Kosmos als wichtige, beglückende Erfahrung beschrieben. Alltagskontrolle und zielgerichtetes, produktives Handeln sind für Demenzkranke nur noch schwer möglich – dass gerade auch spirituelle Erfahrungen (incl. außergewöhnliche Bewusstseinszustände) letztlich nicht immer unserer Kontrolle unterliegen, sondern »sich ereignen« oder vertrauensvoll erwartet werden müssen, zeigt die partielle Gemeinsamkeit der »Unverfügbarkeit« zwischen spirituellen Erfahrungen und der Lebenswelt Demenzkranker. Zur Abrundung dieser Gedanken sei auf Fazio (vgl. Fazio et al. 1999) verwiesen, der als Vertreter der personenorientierten Pflege die folgenden »seelenvollen« Wachstumsaspekte der Demenz den Begleitenden als Lernfelder zur spirituellen Weiterentwicklung empfiehlt: Kreative Emotionalität, Spontaneität, unbedingte Zuwendung, Neugierde und Entdeckerfreude sowie laufendes Weitergehen und Loslassen. Hier sollen nicht dementielle Erkrankungen schön geredet werden, aber es geht darum, semantisch sensibel mit defizitären Beschreibungen einerseits und euphemistischen Schilderungen andererseits ähnlicher psychologischer Prozesse umzugehen. Akzeptiert man spirituelle Bedürfnisse und Erlebnisfähigkeit demenzkranker Menschen, so schließt sich die Frage an, was z. B. in einer Altenpflegeeinrichtung spirituelle Angebote sein könnten. In den Untersuchungen von MacKinley (2006), die Mitarbeitende einer Alterseinrichtung zum Thema Spiritualität geschult hat, ergaben sich interessante Veränderungen insofern, als vor der Schulung von den Mitarbeitenden eher Aktivitäten wie Beten, Gottesdienstbesuche oder Bibellesen als spirituelle Angebote eingeordnet wurden, danach auch Aktivitäten wie aufmerksames Zuhören, Erinnerungen der Bewohnerinnen stützen oder Sterbebegleitung. Auch in der Handreichung
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Kapitel 14 • Spiritualität und Alter – Zielgruppen und Perspektiven
der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (SGG 2007) finden sich Beispiele, wie im kommunikativen Prozess Mitarbeiter von der Sachebene absehen und über die Symbolebene hin zur spirituellen Ebene von Aussagen Betroffener gelangen können. Gerade wenn in der Demenz kognitive Anteile, funktionale Aspekte sowie Sinneswahrnehmungen und Bewältigungsstrategien nachlassen, kann doch der spirituelle Wesenskern erkennbar bleiben. Arbeiten zur Schulung der Wahrnehmung von Emotionen bei Menschen mit Demenz und eingeschränkten Ausdrucksmöglichkeiten sind ein Weg, einem solchen Kern auf die Spur zu kommen. Im interessanten Storytelling-Programm »Time Slips«, das von der Kulturanthropologin Anne Basting (vgl dazu ihr neustes Buch von 2009) in den USA entwickelt wurde, zeigt sich, wie kreativ man mit Ressourcen demenzkranker Menschen in der Begegnung mit Kunst und speziell beim Erfinden von Geschichten zu skurrilen Bildern eine Atmosphäre des Humors, der Wertschätzung und der Verbundenheit herstellen kann, die im besten Sinn Spiritualität in einer sehr praktischen und anrührenden Weise demonstriert.
14.7
14
Forschungsdesiderate
Zum Abschluss kurz einige praxisorientierte Forschungsperspektiven zu Alter und Spiritualität: Wünschenswert wäre (1) die Entwicklung eines deutschen TimeSlips-Programms, z. B. zusammen mit der Aktion Demenz; (2) eine Nachhaltigkeitsprüfung der derzeitig im Kanton Zug von Pro Senectute angebotenen Weisheitstrainingskurse auch im Vergleich zu den Zürcher Daten, (3), der Vergleich spiritueller Autobiografien bei Hospizhelfern und nicht-hospizlich Engagierten, (4) die Evaluation spiritueller Angebote und Schulungen in Alterseinrichtungen, auch als Bornoutprophylaxe für die dort Tätigen
Literatur Atchley RC (2009) Spirituality and aging. John Hopkins, Baltimore Averill JR (2005) Emotional Creativity.Towards »Spiritualizing the Passion«. In: Snyder CR, Lopez SJ (eds) Handbook of Positive Psychology. University Press, New York, S 11 Baltes MM et al. (Hrsg) (1989) Erfolgreiches Altern: Bedingungen und Variationen. Huber, Bern Basting A (2009) Forget Memory. John Hopkins, Baltimore Brandtstädter J (2007) Das flexible Selbst: Selbstentwicklung zwischen Zielbindung und Ablösung. Elsevier, Heidelberg Crowther MR et al. (2002) Rowe’s and Kahn’s model of Successful Aging revisited: Positive Spirituality: The forgotten Factor. The Gerontologist 42 : 613–620 Emmons RA (2003) Is spirituality an intelligence? Motivation, cognition and the psychology of ultimate concern. The International Journal for the Psychology of Religion 10 : 3–26 Fazio S et al. (1999) Rethinking Alzheimer’s Care. HPP, Baltimore Huber S (2007) Spirituelle Räume. Ein Beitrag zur Phänomenologie des religiösen Erlebens und Verhaltens im Alter. In Kunz R (Hrsg) Religiöse Begleitung im Alter. TVZ, Zürich, S 45–72 MacKinlay EB (2006) Spiritual Growth and care in the Fourth Age of life. Kingsley, London Pargament KI et al.(1998) Religion and the problem-solving Process: Three styles of Coping. Journal for the Scientific Study of Religion 33 : 347–361 Schachter-Shalomi Z, Miller RS (1995) From age-ing to sageing: A profound new vision of growing older. Warner, New York Schweizerische Gesellschaft für Gerontologie (SGG) (Hrsg) (2007) Die spirituelle Dimension braucht Raum. Eine Handreichung zum Erkennen und Beachten von Spirituellen Bedürfnissen alter Menschen in Abhängigkeit. SGG, Bern Staudinger U, Baltes PB (1996) Weisheit als Gegenstand Psychologischer Forschung. Psychologische Rundschau 47 : 57–77 Tornstamm L (2005) Gerotranscendence. A Developmental Theory of Postive Aging. Warner, New York Wilkening K (2007) Spirituelle Dimensionen der Begegnungsebenen mit Tod und Sterben im Alter. In: Kunz R (Hrsg) Religiöse Begleitung im Alter. Religion als Thema der Gerontologie. TVZ, Zürich, S 121–142
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Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung auf die psychotherapeutische Tätigkeit Liane Hofmann
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
» Die zunehmende Druckausübung auf Psychotherapeuten hinsichtlich »Effizienz«, »Zielerreichung«, »Qualitätskontrolle«, »TherapeutenCompliance« usw. ist ein Irrweg. Bei einer psychotherapeutischen Kunst ist es für den Psychotherapeuten notwendig, den eigenen spirituellen wie psychotherapeutischen Weg zu gehen. (Grepmair u. Nickel 2007, S. 97)
«
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Zusammenfassung
Befragungen von Psychotherapeuten zeigen, dass sich deren persönliche spirituelle bzw. religiöse Orientierung in vielerlei Hinsicht auf deren psychotherapeutische Tätigkeit auswirkt. Der Frage, in welchem Ausmaß und in welcher spezifischen Art und Weise solche Einflüsse zum Tragen kommen, soll auf Basis der vorliegenden empirischen Befunde genauer nachgegangen werden. Hierbei fällt auf, dass die diesbezüglichen Daten im internationalen Vergleich über verschiedene Psychotherapeutenpopulationen und Forschungsmethodologien hinweg ein recht konsistentes Bild ergeben. Die spezifischen Implikationen dieser Befunde scheinen bis dato weder in hinreichendem Maße theoretisch reflektiert noch weitergehend empirisch untersucht, geschweige denn systematisch genutzt zu werden. Von daher sollen abschließend die Implikationen dieser Forschungsergebnisse diskutiert werden.
15.1
15
Einleitung
Klinisch-psychotherapeutisch relevanten Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität wird innerhalb der akademischen Disziplinen der Psychologie, Psychiatrie sowie in der Medizin zunehmend mehr Aufmerksamkeit gewidmet, was sich anhand eines markanten Anstiegs der diesbezüglichen Fachliteratur in den einschlägigen Fachdatenbanken Psychlit, Psyndex und Medline nur unschwer erkennen lässt. Dass derartige Fragestellungen und Ansätze mittlerweile vor allem innerhalb der anwendungsbezogenen Gebiete wie Klinische Psychologie, Psychotherapie, Beratung, Rehabilitation oder in den Pflegeberufen aufgegriffen werden, wird an einer Reihe von Handbüchern zum Themenkreis Spiritualität und Religiosität in der Kli-
nischen Praxis ersichtlich, die in den vergangenen Jahren von der American Psychological Association publiziert wurden (Shafranske 1996a; Richards u. Bergin 2000, 2002; Miller 1999; Sperry u. Shafranske 2005). In diesen Werken wird ein breites Spektrum an klinisch relevanten Fragestellungen diskutiert und mögliche Modelle einer Einbeziehung von Spiritualität und Religiosität im Rahmen der klinisch-psychotherapeutischen Praxis vorgestellt. Dieser ursprünglich in starkem Maße von den USA ausgehende Trend hat mittlerweile auch den deutschsprachigen Raum erreicht (Utsch 2005; Bucher 2007; van Quekelberghe 2007). Ungeachtet der inzwischen vorliegenden Fülle an theoretischer Literatur zu einer Integration von spirituellen und religiösen Faktoren im Kontext der Psychotherapie besteht diesbezüglich jedoch weder ein Konsens, noch hat dies zur Etablierung von verbindlichen professionellen Leitlinien und Praxisstandards geführt. Auch steht eine systematische Einbeziehung dieser Themenbereiche im Rahmen der Ausbildungscurricula nach wie vor aus. Richards und Bergin (2002) haben in diesem Zusammenhang auf das Dilemma hingewiesen, mit dem sich der an solchen Themen interessierte psychotherapeutische Praktiker konfrontiert sieht: Einerseits weisen die hohe Bedeutsamkeit von Spiritualität und Religiosität innerhalb der Allgemeinbevölkerung, die relativ häufige Thematisierung entsprechender Inhalte von Seiten der Klienten sowie die empirischen Befunde zu Religiosität und Spiritualität als bedeutsame gesundheitsbezogene Variablen zwar auf die grundsätzliche Relevanz dieser Themenbereiche für die psychotherapeutische Praxis hin, andererseits bleiben die akademische Psychologie und die etablierte Psychotherapie – zumindest was die systematische Einbeziehung dieser Themenbereiche im Rahmen der Ausbildungscurricula und die Etablierung von konsensfähigen psychotherapeutischen Richtlinien anbelangt – jedoch deutlich hinter diesem Stand der Entwicklungen zurück. Dies wiederum hat zur Folge, dass Psychotherapeuten hinsichtlich ihres Umgangs mit diesen Themenbereichen im Rahmen der Psychotherapie sowie der Suche nach geeigneten Weiterbildungen in diesem Bereich weitgehend auf sich selbst und ihr subjektives Empfinden gestellt bleiben. Bei Shafranske, dem Herausgeber des Standardwerkes
15.2 • Zur Begriffsverwendung
»Religion and the Clinical Practice of Psychology«, heißt es hierzu:
» The development of competence in understanding the contributions of religion and spirituality to mental health as well as in the applied psychology of religion, in the near term, is likely to rest on unique training experiences rather than on systematic attention throughout all levels of graduate education and clinical training. To a great extent the personal faith commitment of the clinician will continue to serve as a salient feature of motivation and determine the extent to which a psychologist obtains expertise in this area. (Shafranske 2005, S. 506)
«
Miller weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die geringfügige Thematisierung diesbezüglicher Inhalte im Rahmen der Ausbildung den angehenden Therapeuten zumindest signalisiere, dass diese Themen irrelevant, wenn nicht sogar, dass sie tabu seien (Miller 1999). Dass unter den Psychotherapeuten selbst ein großes Interesse an Fragestellungen mit Bezug auf die Themenbereiche Spiritualität und Religiosität besteht und sie zur Erweiterung ihres diesbezüglichen Kenntnisstandes und Erfahrungshorizontes vornehmlich auf andere Quellen als die der akademischen und postgraduierten, psychotherapeutischen Ausbildung zurückgreifen, bestätigte sich im Rahmen einer annähernd repräsentativen bundesdeutschen Erhebung von Hofmann (2009): Während nur 18% der befragten Psychologischen Psychotherapeuten dieser Studie angaben, dass klinisch-relevante Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität im Rahmen ihrer Psychotherapieausbildung in mittlerem bis sehr starkem Maße aufgegriffen worden seien, berichteten insgesamt 63%, dass sie sich selbst in mittlerem bis sehr starkem Maße mit einzelnen Fragen dieses Spezialgebietes auseinandergesetzt hatten.
15.2
Zur Begriffsverwendung
Hinsichtlich der Verwendung der Begriffe Spiritualität und Religiosität lässt sich seit geraumer Zeit eine spezifische Entwicklung feststellen: Während
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15
»Religiosität« sowohl in der Allgemeinbevölkerung als auch in der sozialwissenschaftlichen Fachliteratur mehr und mehr mit der Partizipation an den Glaubensüberzeugungen und Praktiken einer organisierten Kirche oder religiösen Institution assoziiert wird, wird Spiritualität in zunehmendem Maße mit einem individuellen und erfahrungsbezogenen Zugang zu einer transzendenten Dimension, mit Gefühlen einer grundlegenden Verbundenheit sowie mit der Suche nach Bestimmung und existentiellem Sinn in Verbindung gebracht (Hill et al. 2000; Zinnbauer, Pargament u. Scott 1999). Eine Reihe von Autoren haben in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass diese in den postmodernen Gesellschaften zu beobachtende Separation von Spiritualität und Religiosität und die damit einhergehende Herauslösung der spirituellen Erfahrung aus ihren traditionellen religiösen Kontexten, zusammen mit der Möglichkeit, eine spirituelle Kerndimension in einem bewusstseinspsychologischen Sinne, jenseits bzw. vor jeglicher institutionellen religiösen Setzung, zu konzeptualisieren, insgesamt dazu beigetragen haben, dass Themen dieser Art mittlerweile vermehrt auch in einem wissenschaftlichen Kontext aufgegriffen werden (Quekelberghe 2007; Walach, Kohls u. Belschner 2005; Walach u. Reich 2005). Ken Wilber, der sich mit der Definition und Unterscheidung von Religion und Spiritualität unter besonderer Berücksichtigung einer entwicklungsstrukturalistischen Perspektive befasst, hat darauf hingewiesen, dass tiefe, authentische religiöse Erfahrungen oder sogenannte »Gipfelerfahrungen« prinzipiell auf jeder Stufe der menschlichen Entwicklung und des menschlichen Wachstums auftreten können. Wie solche Erfahrungen jedoch interpretiert werden und welche Implikationen sie für die betreffende Person – und somit nicht zuletzt auch für die Gesellschaft als Ganzes – beinhalten, sei jedoch in starkem Maße von kulturell verfügbaren Deutungsschemata sowie dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung auf verschiedenen Entwicklungslinien abhängig. So gebe es aus entwicklungsstrukturalistischer Perspektive mindestens fünf oder sechs Hauptebenen oder Stufen von Religion bzw. Spiritualität – archaische, magische, mythische, rationale, pluralistische, integrale und transpersonale Religion bzw. Spiritualität, je nach-
176
Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
dem, gemäß welcher Ebene solche Erfahrungen ausgelegt und verstanden werden (Wilber 2001, 2007, 2009). Die beiden derzeit dominierenden und – aus entwicklungsstrukturalistischer Perspektive – geradezu entgegengesetzten Verständniszugänge im Diskurs um Spiritualität und Religiosität sind die einer bewusstseinspsychologisch gefassten transpersonalen Spiritualität, wobei Spiritualität in Begriffen wie reines Bewusstsein, Leerheit, Seinsdimension, letzte Wirklichkeit oder letzter Grund, Einheit u. Ä. m. gefasst wird, versus ein mythisches Religiositätsverständnis, welches die Mythen der religiösen Traditionen als buchstäbliche Wahrheiten ansieht und bei dem anthropomorphe Gottesvorstellungen vorherrschend sind. Wilber selbst hat darüber hinaus mindestens fünf gültige Möglichkeiten der Verwendung des Begriffes Spiritualität bestimmt und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, kenntlich zu machen, auf welchen Aspekt von Spiritualität man sich bezieht. Ansonsten trage man nur weiter zu der geradezu babylonischen Begriffsverwirrung bei, die in diesem Bereich vorherrscht. So wird seiner Ansicht nach derzeit vor allem im Bereich der Massenmedien, ebenso aber auch in den Religionen selbst und der Kultur insgesamt, transpersonale Spiritualität nach wie vor mit prä-personaler mythischer Religiosität gleichgesetzt und auf diese reduziert.
15.3
15
Zum Grad der Auswirkung der spirituellen/religiösen Orientierung des Psychotherapeuten auf dessen psychotherapeutische Praxis
Der Frage, in welchem Maße und in welcher spezifischen Art und Weise sich der religiös-weltanschauliche Hintergrund von Psychotherapeuten auf deren psychotherapeutische Tätigkeit auswirkt, wurde während der vergangenen Jahre in einer Reihe von Studien sowohl mittels quantitativer als auch mittels qualitativer Methoden genauer nachgegangen. Die auf diesen Wegen erhaltenen Selbstberichte der psychotherapeutischen Praktiker weisen konsistent darauf hin, dass deren eigene
religiös-weltanschauliche Orientierung und Praxis von beachtlicher Relevanz für deren berufliche Tätigkeit ist und dass sie den Verlauf der Psychotherapie wesentlich mitbestimmt. So bestätigen in einer US-amerikanischen Studie von Bilgrave und Deluty (1998) insgesamt 72% der befragten psychotherapeutisch und beraterisch tätigen Psychologen einen Einfluss ihrer religiösen Glaubensüberzeugungen auf die psychotherapeutische Tätigkeit. Bei einer weiteren Erhebung wurde diese Frage nochmals etwas differenzierter erhoben: Hier berichteten 63% der Teilnehmer von einem mittleren bis stärkeren Einfluss ihrer religiösen Glaubensüberzeugungen auf die psychotherapeutische Praxis (Bilgrave u. Deluty 2002). Smith (1998) befragte Mitglieder der APA-Sektion »Psychotherapie«: 39% von diesen stuften den Einfluss ihrer religiösen oder spirituellen Erfahrungen auf die psychotherapeutische Praxis auf einer Skala von 1–10 als moderat ein (Skalenwerte 4–7) und weitere 23% berichteten von einem starken Einfluss derselben (Skalenwerte 8–10). Somit bekundeten insgesamt 62% dieser Therapeuten einen moderaten bis sehr starken Einfluss ihrer religiösen oder spirituellen Erfahrungen auf die psychotherapeutische Praxis. In einer Erhebung von Shafranske und Malony (1990) bestätigten 52% der befragten klinischen Psychologen, dass Spiritualität in ihrem professionellen Leben relevant sei. Weitere Befunde dieser Art werden von Shafranske (2000, 2001) sowie Shafranske und Gorsuch (1984) berichtet. Studien aus dem deutschsprachigen Raum ergeben ein ähnliches Bild: In der bundesweiten Erhebung von Hofmann (2009) berichteten ebenfalls mehr als die Hälfte der von ihr befragten Psychologischen Psychotherapeuten von bedeutsamen Auswirkungen ihrer persönlichen spirituellen bzw. religiösen Orientierung auf die psychotherapeutische Praxis. Und zwar war dies bei 27% in mittlerem Maße und bei weiteren 29% in ziemlich oder sehr hohem Maße der Fall. Hierbei waren Therapeuten, in deren Leben eine spirituelle bzw. religiöse Orientierung nur von geringer Bedeutung ist, mit eingeschlossen. Berücksichtigt man bei dieser Frage nur diejenigen Psychotherapeuten, die eine mittlere bis sehr starke Bedeutsamkeit einer spirituellen/religiösen Orientierung im eigenen Leben berichtet hatten (65% der Gesamtstichprobe), so
15.4 • Einfluss auf Weltanschauung und Menschenbild des Therapeuten
gaben mehr als drei Viertel (77%) von ihnen an, dass sich diese Ausrichtung in mittlerem bis sehr hohem Maße auf ihre psychotherapeutische Tätigkeit auswirke. Die anscheinend einzige Ausnahme von dieser Regel bildet eine Studie von Neeleman und King (1993). Die Autoren befragten Psychiater in Londoner Lehrkliniken und fanden für diese Stichprobe keine Evidenz für einen deutlichen Einfluss der persönlichen Glaubenseinstellungen auf die berichtete klinische Praxis. Der Frage nach der Wirkung einer spirituellen Orientierung und Praxis auf das Selbstverständnis und berufliche Handeln von Psychotherapeuten wurde auch im Rahmen dreier qualitativer Studien, durchgeführt an der Universität Oldenburg, genauer nachgegangen (Langen 2004; Yeginer 2007; Hundt 2007). Bedingt durch deren qualitative Methodik, ergeben sich auf Grundlage dieser Studien ein differenzierteres Gesamtbild und somit differenziertere Verständniszugänge hinsichtlich der diesbezüglich relevanten Faktoren und Dynamiken. Insofern bilden diese Studien eine wertvolle Ergänzung zu den berichteten quantitativen Befunden. Auch diese qualitativen Analysen lassen übereinstimmend erkennen, dass sich die spirituell-weltanschauliche Orientierung der Psychotherapeuten in erheblichem Maße auf den gesamten Bereich ihrer Professionalität auswirkt (vgl. Yeginer 2007, S. 355). In der theoretischen Literatur werden nun verschiedene Arten und Weisen diskutiert, in denen sich die religiöse/spirituelle Weltanschauung und Praxis des Therapeuten auf den Verlauf der Psychotherapie auswirken kann. Neben den vielbeschworenen möglichen Gefährdungen – wie zum Beispiel der einer unprofessionellen weltanschaulichen Einflussnahme auf den Klienten oder der Überschreitung der professionellen Grenzen – werden zunehmend auch die möglichen positiven Aspekte eines solchen »Einflusses« diskutiert. So wird der spirituellen Orientierung und Haltung des Psychotherapeuten vor allem als eine Ressource für dessen eigenes Wohlergehen, ebenso aber auch als Ressource für die Förderung und Erhöhung der Effektivität des psychotherapeutischen Prozesses Bedeutung beigemessen (Sollod 2005; Grepmair u. Nickel 2007). Das Spektrum der möglichen Varianten von derartigen Wirkfaktoren soll in den weiteren Ab-
177
15
schnitten anhand der vorliegenden empirischen Befunde etwas näher ins Blickfeld gerückt werden.
15.4
Einfluss auf Weltanschauung und Menschenbild des Therapeuten
Der wohl grundlegendste Modus, in dem sich die spirituelle bzw. religiöse Orientierung eines Psychotherapeuten auf dessen psychotherapeutische Arbeit auswirkt, ist dadurch bedingt, dass eine solche Orientierung mit der Aneignung einer spezifischen Weltanschauung einhergeht. Anhand der Berichte der befragten psychotherapeutischen Praktiker wird ersichtlich, dass Betrachtungsweisen dieser Art einen übergeordneten Bezugsrahmen bilden, der sich implizit oder explizit auf nahezu alle Bereiche des psychotherapeutischen Handelns auswirkt. In der bereits erwähnten Studie von Hofmann (2009) wurden anhand einer Teilstichprobe von N = 400 approbierten Psychologischen Psychotherapeuten, die sich im Rahmen der Repräsentativerhebung bereit erklärt hatten, zusätzlich auch an einer vertiefenden Befragung teilzunehmen, einzelne Themenbereiche nochmals differenzierter exploriert. Befunde aus dieser Studie werden hier erstmals vorgestellt. Unter anderem gehörte hierzu auch die Frage, in welcher Form sich die eigene spirituelle bzw. religiöse Orientierung auf die psychotherapeutische Tätigkeit auswirke. Diese Frage wurde mittels eines offenen Antwortformates erhoben. Die hierzu erhaltenen Antworten wurden analysiert und inhaltlichen Kategorien zugeordnet. Insgesamt hatten N = 261 (65%) der Therapeuten diesbezügliche Inhalte spezifiziert. Auch bei dieser Studie waren erwartungsgemäß die meisten der hierzu angeführten Inhalte der Kategorie eines spezifischen »Welt- und Menschenbildes« zuzuordnen. Dies war bei insgesamt 49% der Nennungen der Fall. Diese und weitere Angaben zu den einzelnen Kategorien dieser Frage geben jeweils den prozentualen Anteil derjenigen Psychotherapeuten wieder, die zu dieser Frage Antworten spezifiziert hatten (N = 261). Anhand der diesbezüglichen Erläuterungen der Therapeuten wird deutlich, dass diese spirituell bzw. religiös begründete Weltan-
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
schauung und das damit verbundene Menschenund im erweiterten Sinn auch Patientenbild für sie selbst eine in hohem Maße sinnstiftende und kontingenzbewältigende Funktion hat. Beispielhaft für Nennungen im Sinne einer spezifischen Weltanschauung sind der Glaube an die grundsätzliche Sinnhaftigkeit aller Erfahrungen, so auch der leidvollen und schicksalhaften, die Betonung einer positiven Gesamthaltung und eines grundsätzlichen Vertrauens in den Lauf des Lebens, das Vertrauen in das Aufgehobensein in einer größeren Ordnung, das Bezogensein auf ein höheres Wesen oder eine letzte Wirklichkeit, eine Sichtweise, die eine zugrunde liegende Einheit hinter der Vielheit betont, eine christlich-humanistische Grundhaltung und ähnliche mehr. Als exemplarisch für Nennungen im Sinne eines spezifischen Menschen- und Patientenbildes stehen der Glaube an das Gute im Menschen, das Vertrauen in dessen Fähigkeit zur Weiterentwicklung und Selbstheilung, der Glaube an einen gesunden und heilen Kern im Menschen, der Glaube an die Buddha-Natur des Menschen, die Sicht des Patienten als ein spirituelles Wesen auf der Suche oder das Vertrauen in die Spiritualität des Klienten als dessen Ressource. Weltanschauliche Vorstellungen dieser Art haben offensichtlich Auswirkungen auf die verschiedensten Bereiche therapeutischen Handelns, indem sie sich als Ressource für den Therapeuten selbst erweisen, zu einer anderen Sicht und Grundhaltung der Problematik des Klienten gegenüber führen sowie zu anderen Wertsetzungen und Positionierungen bezüglich dessen, was im Leben als wichtig erachtet wird. Nicht zuletzt führt eine solche Sichtweise auch zur Suche nach und Einbeziehung von erweiterten, spirituell oder religiös begründeten, psychotherapierelevanten Modellen und Perspektiven. In der einschlägigen Literatur werden als potentielle ethische Fallgruben in diesem Zusammenhang vor allem die einer weltanschaulichen Beeinflussung und Indoktrination des Klienten, die Übernahme der Rolle des Spirituellen Führers bzw. religiöser Autoritäten sowie die Überschreitung der professionellen Grenzen diskutiert (Richards u. Bergin 2002; Sollod 2005; Miller 2003; Benningfield 1997; Shafranske 2005). Die Psychotherapie
strebt in der Arbeit mit dem Klienten grundsätzlich das Ideal der weltanschaulichen Neutralität und der Wertefreiheit an. Die Unterschiedlichkeit individueller Werte und Einstellungen anzuerkennen, diese zu respektieren und innerhalb des Werterahmens der Klienten zu arbeiten, gilt als einer der Grundpfeiler psychotherapeutischen Arbeitens. Vor allem Allen Bergin hat die Frage nach der Bedeutung von Weltanschauung und Werten auf den Verlauf der Psychotherapie mit seinem vielbeachteten Artikel »Psychotherapy and religious values« neu in die Diskussion eingebracht (Bergin 1980). Grepmair und Nickel (2007, S. 149) stellen hierzu in Anlehnung an das Kommunikationstheorem von Watzlawick treffend fest, dass es unmöglich sei, kein Menschenbild zu haben, und es auch nicht verhindert werden könne, dass dieses Auswirkungen mit sich bringe. Mittlerweile hat sich ein gewisser Konsens herausgebildet, welcher anerkennt, dass sowohl die Psychotherapie selbst als auch der Psychotherapeut als Person nicht frei sind von spezifischen Wertvorstellungen und dass Wertsetzungen sowohl der Psychotherapie als solcher als auch den einzelnen Psychotherapieschulen inhärent sind. Aus diesem Grund plädiert eine zunehmende Zahl von Autoren für die Reflexion und Transparenz der eigenen weltanschaulichen Position und Werthaltungen, gemäß der Idee der »informierten Einwilligung«, falls spirituelle/religiöse Inhalte im Rahmen der Therapie zum Thema werden (Bergin, Payne u. Richards 1996). Jedoch scheint die Frage, ob spirituelle/religiöse Themenstellungen in der Psychotherapie einen Platz haben sollten, sowie das lange Zeit unhinterfragte Vorgehen, diese mehr oder weniger reflektiert und begründet im Rahmen der psychotherapeutischen Ausbildung und Praxis einfach auszuschließen (vgl. Küng 1987), die Sache ebenfalls zu verfehlen: Eine spirituelle oder religiöse Lebensorientierung ist selbst in unserer säkularen, kompartmentalisierten und spezialisierten Gesellschaft zutiefst und durchdringend mit sämtlichen Lebensbereichen, menschlichen Wertsetzungen, Handlungen und Zielsetzungen verwoben. Dies gilt für die Klienten und, glaubt man den Befunden, ebenso auch für die Psychotherapeuten. Auf die integrative Funktion des Glaubens wies bereits James Fowler hin, indem er sagte:
15.5 • Die Entwicklung von psychotherapeutisch förderlichen Qualitäten
» Faith, classically understood is not a separate dimension of life, a compartmentalized speciality. Faith is an orientation of the total person, giving purpose and goals to one’s hopes and strivings, thoughts and actions … as such faith is an integral part of one’s character or personality. (Fowler 1981, S. 14)
«
In ähnlicher Weise betonen auch Zinnbauer et al. die Bedeutung der spirituellen/religiösen Orientierung im Sinne eines übergeordneten Orientierungs- und Werterahmens:
» … spiritual goals provide an overaraching framework for living, one that integrates other goals, reduces conflict, and offers the individual a sense of higher purpose and coherence in life. Perhaps spiritual strivings are more stable than other goals … (1999, S. 912)
«
Hundt (2007) schreibt demgemäß auf Basis der von ihr durchgeführten Therapeuteninterviews: »Das Verständnis von Spiritualität als Basis, als Nährboden und Essenz vertreten alle befragten Therapeuten für ihren Beruf und ihr Leben. Sie lehnen spirituelle Vorstellungen, die abgetrennt von der Alltagswelt existieren, für sich selbst und ihre therapeutische Tätigkeit ab« (S. 175). Die Therapeuten, so Hundt, seien durch ein Menschenbild bestimmt, »das Spiritualität nicht als einen höheren Bereich, sondern vielmehr als eine das Leben bestimmende Wirklichkeit betrachtet« (S. 177). Hinzu kommt, dass sich trotz der offensichtlichen Unterschiede in der weltanschaulichen Begründung und den Aufgabenstellungen von wissenschaftlich-säkularer Psychotherapie einerseits und religiösen Institutionen und Traditionen andererseits die Themen und Aufgabenstellungen, vor die sich Vertreter dieser Gebiete gestellt sehen, doch auch in erheblichem Maße überschneiden. So äußerte sich bereits C.G. Jung, der sich mit diesem Thema bekanntlich schon früh befasst hatte, dahingehend, dass man den Menschen nicht in zwei Stücke reißen könne, um einen Teil dem Mediziner und den anderen Teil dem Theologen zuzuteilen (Jaffé u. Adler 1972, S. 132).
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Sowohl Psychotherapie als auch religiöse Traditionen und Institutionen versuchen Antworten und Weganleitungen in Hinblick auf zentrale Lebensfragen und die Bewältigung von menschlichem Leid zu geben. So haben Bilgrave und Deluty als gemeinsame Merkmale von religiösen Ideologien und Psychotherapie die folgenden herausgearbeitet: dass sie einen kognitiven Rahmen zur Verfügung stellen, der »a) ein gewisses Maß an innerer Kohärenz aufweißt, b) vorgibt, die Realität akkurat zu referenzieren, c) einen hohen Grad an Abstraktion erreichen kann und dadurch potentiell in der Lage ist, einen weiten Bereich der Wahrnehmung, Beurteilung und des Verhaltens zu beeinflussen, d) einen dabei unterstützt, die conditio humana zu verstehen und e) sowohl soziale als auch persönliche Probleme zu diagnostizieren und Heil(mittel) bzw. Lösungen anzubieten« (Bilgrave und Deluty 2002, S. 245 f., Übers. d. Verf.). In diesem Zusammenhang haben verschiedene Autoren auch auf die historischen Wurzeln der modernen Psychotherapie in religiösen Kontexten hingewiesen und deutlich gemacht, dass psychotherapeutische und religiöse Systeme, selbst wenn sie durch unterschiedliche Oberflächenformen gekennzeichnet sind, dennoch auf einer tieferen Ebene funktionell und sogar strukturell sehr ähnlich sind (Frank 1985; Ellenberger 1973; Bilgrave u. Deluty 2002; Kraft 1995). Von daher ist die lange Zeit vorherrschende Tabuisierung und Marginalisierung dieser Themenbereiche innerhalb der akademischen Psychologie und Psychiatrie zwar einerseits in ihrer historischen Entwicklung durchaus nachvollziehbar (und sie hatte auch gute Gründe), letzten Endes erscheint eine solche Vorgehensweise der Sache jedoch nicht wirklich angemessen und ein diesbezügliches Umdenken von daher längst überfällig zu sein (vgl. hierzu Walach u. Reich 2005; Kohls 2004).
15.5
Die Entwicklung von psychotherapeutisch förderlichen Qualitäten
Durch eine kontinuierliche spirituelle/religiöse Orientierung und eine meditative Praxis können potentiell eine Reihe von emotionalen und mentalen Qualitäten sowie inneren Haltungen kultiviert
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
werden, die auch psychotherapeutisch von Nutzen sind und die zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung einer tragfähigen psychotherapeutischen Beziehung beitragen. Qualitäten dieser Art kommen im Rahmen der Psychotherapie vornehmlich implizit zum Tragen. Sollod (2005) und Hundt (2007) vertreten die Position, dass vor allem eine solche Art der Integration von spirituellen Faktoren in die Psychotherapie zu befürworten sei, da sie nicht dieselben ethischen und praktischen Fragen aufwirft, wie es bei anderen Formen der Integration der Fall ist. Wenngleich diese Qualitäten den Therapeuten dabei unterstützen können, eine hilfreiche therapeutische Beziehung aufrechtzuerhalten, müssen sie dennoch nicht zum Thema oder gar Fokus der therapeutischen Aktivitäten werden. Dem Klienten müsse die innere spirituelle Haltung des Therapeuten dabei noch nicht einmal bewusst sein. So berichteten die befragten Psychotherapeuten in der vertiefenden Erhebung von Hofmann, dass ihre eigene spirituelle bzw. religiöse Orientierung und Praxis zur Entwicklung und Stärkung von Qualitäten wie Gelassenheit, Akzeptanz, Vertrauen, Optimismus, Empathie, Wertschätzung, Toleranz, Respekt, Nicht-Urteilen, Mitgefühl, Liebe, Dankbarkeit, Achtsamkeit, Präsenz und Ähnlichem mehr beitragen würde. Insgesamt führten 37% der Therapeuten derartige Auswirkungen ihrer spirituellen/religiösen Orientierung auf die psychotherapeutische Tätigkeit an. Vergleichbare Qualitäten wurden auch von den Therapeuten in den Studien von Yeginer (2007), Hundt (2007) und Langen (2004) berichtet. Grepmair und Nickel (2007) haben in ihrer Publikation »Achtsamkeit des Psychotherapeuten«, basierend auf den Befunden der Psychotherapieforschung, ihrer eigenen klinischen Erfahrung sowie den Erfahrungen als Supervisoren in der Ausbildung zum Psychotherapeuten, stringent die Bedeutung der therapeutischen Beziehung, der Haltung des Therapeuten sowie der Entwicklung von spezifischen Psychotherapeutenqualitäten für den Verlauf und den Ausgang der Therapie herausgearbeitet. Resümierend messen sie dem «Sein« des Therapeuten und dessen Fähigkeit, eine positive Beziehung zum Klienten aufzubauen, eine wesentlich größere Bedeutung bei als den ihrer Ansicht nach in der derzeitigen Ausbildung zum Therapeu-
ten dominierenden psychotherapeutischen Techniken. Sie ziehen die Analogie des Psychotherapeuten als ein fein abgestimmtes Instrument oder eines geübten Instrumentalisten heran und stellen sich die grundsätzliche Frage, was ein Psychotherapeut unternehmen könne, um sich als Instrument ausbilden und verfeinern zu können. Sie selbst beantworten diese Frage dahingehend, dass der Psychotherapeut sich durch intensive endlose psychotherapeutische Selbsterfahrung, viel praktische Arbeit mit Patienten und nicht zuletzt auch durch eine entschiedene spirituelle Ausrichtung des Lebens, sei es durch Zen oder eine andere seinsorientierte Lebensgestaltung, in einem solchen Sinne weiterentwickeln könne (S. 52). Im Rahmen der derzeit populären achtsamkeitsbasierten psychotherapeutischen Ansätze wurde bereits auf die Ähnlichkeiten zwischen dem Konzept und der Qualität der Achtsamkeit und den Konzepten und postulierten Wirkfaktoren anderer Psychotherapieschulen hingewiesen. So zum Beispiel dessen Nähe zum Prinzip der gleichschwebenden Aufmerksamkeit in der Psychoanalyse, den psychotherapeutischen Grundhaltungen der bedingungslosen Wertschätzung, Empathie und Kongruenz im Rahmen der Gesprächstherapie, der Betonung von Präsenz in der humanistischen Psychotherapie oder der Betonung der systematischen und nicht vermeidenden Beobachtung des eigenen Erlebens innerhalb der Verhaltenstherapie (Heidenreich u. Michalak 2006b). Die Zustände, die durch Achtsamkeitsmeditation oder Praxis in anderen Formen der Meditation kultiviert werden, fördern solche Qualitäten prinzipiell, sie reichen jedoch potentiell noch tiefer. Dieser fließende Übergang zwischen solchen allgemeinen psychotherapeutisch förderlichen Qualitäten und den tiefer reichenden Wirkungen einer meditativen Praxis ist mit dem Konzept des »transpersonalen Bewusstseinsraumes« angesprochen.
15.6
Der transpersonale Bewusstseinsraum
In der Diskussion um die möglichen Vorteile einer Meditationspraxis des Psychotherapeuten für den Verlauf der Psychotherapie haben verschiedene
15.6 • Der transpersonale Bewusstseinsraum
Autoren die Position vertreten, dass der Psychotherapeut auf Basis seiner kontinuierlichen Bewusstseinsschulung, über die Entwicklung der soeben beschriebenen allgemeinen psychotherapeutisch förderlichen Haltungen und Qualitäten hinaus, idealiter auch in der Lage sein sollte, seine Bewusstseinszustände zu modulieren und, damit einhergehend, auch erweiterte Bewusstseinszustände und Erkenntnismodi zu nutzen (Belschner 2002; Galuska 2003a, 2003b; Gundermuth 1997; Sollod 2005). Dieses Thema wird in der einschlägigen Literatur vor allem unter dem Stichwort des »transpersonalen Bewusstseinsraumes« thematisiert. So hatten bereits Gottwald und Howald (1990) am Beispiel der Transzendentalen Meditation exemplarisch verdeutlicht, dass die in der Meditation geschulten Bewusstseinszustände und deren Qualitäten zunehmend auch auf den Bereich der Alltagserfahrung generalisieren und allmählich beginnen, mit den zeitlich begrenzten Schlaf-, Traum- und Wachzuständen zu koexistieren – oder anders ausgedrückt, dass deren Qualitäten zunehmend in diese Zustände hineingetragen werden. Wilber (2001) und Galuska (2003a) haben in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass zeitlich zunächst begrenzte Bewusstseinszustände durch andauernde Wiederholung und Schulung allmählich zur Herausbildung der entsprechenden transpersonalen Entwicklungsstrukturen und den damit einhergehenden Qualitäten beitragen. Dies entspricht nicht zuletzt ja auch den Grundannahmen und Zielsetzungen der spirituellen Traditionen bzw. sogenannten »Bewusstseinsdisziplinen« (vgl. Walsh 1980). Nach Grepmair und Nickel (2007, S. 118) sprechen auch neuere wissenschaftliche Forschungsergebnisse dafür, dass es so etwas wie semi-autonome Funktions- und Erlebniszustände gebe, und auch die Befunde der Neurowissenschaften, nach denen die Bahnung hilfreicher neuronaler Strukturen davon abhängt, inwieweit diese Strukturen möglichst oft und anhaltend stimuliert werden, würden die Hypothese unterstützen, dass beim Therapeuten auf der Grundlage seiner meditativen Praxis bestimmte Qualitäten dauerhaft gestärkt und verfügbar werden könnten. Galuska hat als zentrale Charakteristika des transpersonalen Bewusstseinsraumes bzw. transpersonaler Bewusstseinzustände unter anderem
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die folgenden benannt: Präsenz, Gewahrsein, Klarheit, Leere, Rezeptivität, Durchlässigkeit, Zentriertheit, Heiligkeit, Heilsein, Seinsfühlung, ein Gefühl tiefen Friedens, Gelassenheit, nicht identifiziert sein sowie ein Gefühl des Aufgehoben- und Verbundenseins in einem größeren Ganzen oder letzten Grund (2003a, 2003b). Er hat darauf hingewiesen, dass vor allem die in der Meditation geschulte Position des Beobachtergewahrseins, verbunden mit einer nicht-identifizierenden Haltung, zu einer Erhöhung der Containment-Fähigkeiten des Therapeuten führt, was es diesem wiederum ermöglicht, auch für schwierige psychische Prozesse des Klienten ein Gefäß zu bilden, ohne sich in diesen zu verstricken. Nicht zuletzt, so Galuska und andere, könne sich der Therapeut durch die meditative Praxis und die Möglichkeit des Eintritts in einen transpersonalen Bewusstseinsraum auch andere Quellen der Wahrnehmung und somit andere Erkenntnismodi erschließen. Hier werden vor allem eine erhöhte Intuition und Sensitivität genannt. So heißt es hierzu bei Galuska: Intuitiv könne der in einer spirituell-meditativen Praxis geschulte Psychotherapeut dann im therapeutischen Prozess entscheiden, welche seiner inneren Resonanzen – »kommen sie aus dem Fachwissen, seiner klinischen Erfahrung, seinen persönlichen Reaktionen oder seinem spirituellen Raum – er als Antwort zum Patienten hin ausdrückt« (2003a, S. 14). Sowohl in den Studien von Hundt (2007), Yeginer (2007) und Langen (2004) als auch im Rahmen der vertiefenden Befragung von Hofmann zeigte sich, dass auch die befragten Psychotherapeuten selbst solche Wirkungen, im Sinne der Entwicklung und Nutzung von intuitiven und sensitiven Fähigkeiten, bestätigen, wenngleich solche Nennungen vergleichsweise selten sind. So erwähnten in der Studie von Hofmann nur 3% der Therapeuten Wirkungen dieser Art. Der Psychologe Wilfried Belschner hat versucht, die Qualitäten des postulierten transpersonalen Bewusstseinsraumes messend erfassbar zu machen, indem er hierfür das Instrument »Wirkfaktor Präsenz« (WFP) entwickelte (Yeginer 2000; Belschner 2002). Mit Hilfe dessen wurden verschiedene Bewusstseinsmodalitäten operationalisiert, auf die der Psychotherapeut im Rahmen seiner Arbeit potentiell zurückgreifen kann. Dabei
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
sollte auch die transpersonale Dimension psychotherapeutischen Handelns explizit Berücksichtigung finden. Für dieses Instrument ergaben sich in einer ersten Studie auf Basis einer Faktorenanalyse drei Modi der Präsenz für die Strukturierung einer therapeutischen Beziehung. Diese wurden als »algorithmische Präsenz«, »empathische Präsenz« und »non-duale Präsenz« bezeichnet. Während der erste Faktor einen regelgeleiteten, analytischen und nach den Regeln und dem Kenntnisstand der Kunst der Psychotherapie vorgehenden Modus darstellt, zeichnet sich der zweite Faktor dadurch aus, dass der Therapeut versucht, eine grundsätzliche Offenheit der Person des Klienten gegenüber, unter gleichzeitiger Zurückstellung seiner eigenen Anliegen, zu realisieren. Der Faktor non-duale Präsenz dagegen entspricht im weitesten Sinne den zuvor geschilderten Qualitäten des transpersonalen Bewusstseinsraumes, die sich entfalten können, indem sich der spirituell geschulte Therapeut für einen solchen öffnet (Belschner 2002). Ein weiteres Postulat ist nun auch bei Belschner, dass der Therapeut optimalerweise in der Lage sein sollte, seine Bewusstseinszustände zu modulieren und aus dem entsprechenden möglichen Spektrum von Präsenzmodi zu schöpfen, um so das Spektrum möglicher therapeutischer Wirkfaktoren optimal nutzen zu können. Als mögliche Wirkmechanismen, mittels deren diese postulierten transpersonalen bzw. nondualen Qualitäten des Therapeuten zum Tragen kommen sollen, werden bei verschiedenen Autoren übereinstimmend Phänomene der wechselseitigen Resonanz bzw. einer Feldwirkung benannt (Belschner 2002; Galuska 2003a, 2003b; Hundt 2007; Grepmair u. Nickel 2007). Theoretische Modelle zum Verständnis derartiger Phänomene wurden von Walach (2007) sowie Walach, Kohls, von Stillfried, Hinterberger u. Schmidt (2009) diskutiert. Die Psychologin Ulrike Hundt hat als übergeordneten Wirkfaktor in der Therapie der von ihr befragten ganzheitlich orientierten Psychotherapeuten die Kernkategorie »Förderung eines transpersonalen Bewusstseinsraumes« herausgearbeitet. Hinter dieser Kategorie liege, so Hundt, eine weitere Dimension, die man Person-Raum-Kontinnuum nennen könne. Dies bringe zu Bewusstsein, dass das transpersonale Bewusstsein in fluktuierender Verbindung zum personalen Ich-Bewusstsein ste-
he. Der Therapeut changiere in diesem Zusammenhang zwischen seiner Person und seiner spirituellen Verankerung. Je nach seiner diagnostischen Einschätzung und dem Anliegen des Klienten könne er diesem einen personalen oder transpersonalen Bewusstseinsraum anbieten. Das therapeutische Ziel einer integralen Therapie bestehe somit nicht allein in der Förderung eines transpersonalen Bewusstseins und der Unterstützung der Persönlichkeitsentwicklung, sondern ihrer Ansicht nach vielmehr in der gesunden Verknüpfung dieser beiden Ebenen (2007, S. 313). Dass Meditationspraxis tatsächlich Auswirkungen auf ein breites Spektrum von psychologischen und physiologischen Variablen hat – so auch im Sinne der beschriebenen Qualitäten des transpersonalen Bewusstseinsraumes –, ist durch die Meditationsforschung hinlänglich aufgezeigt worden (vgl. hierzu Shapiro u. Walsh 1984; Gottwald u. Howald 1990; Piron 2003; Ott 2008). Ob sich diese Qualitäten jedoch auch tatsächlich auf die theoretisch hypostasierte und von den psychotherapeutischen Praktikern gemutmaßte Art und Weise förderlich auf den psychotherapeutischen Prozess auswirkt oder ob es sich dabei allein um »frommes Wunschdenken« handelt, hinsichtlich dieser Frage liegen noch kaum empirische Befunde vor. Eine lobenswerte Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang eine jüngere Studie aus Niederbayern von Grepmaier, Mitterlehner, Loew, Bacheler, Rother und Nickel (2007). Wenngleich es in dieser Studie nicht um das Konzept des transpersonalen Bewusstseinsraumes ging, so kann sie doch als prototypisch für die Erforschung der Auswirkung einer meditativen Praxis des Therapeuten auf den Verlauf der Therapie erachtet werden. Und zwar befasste sich diese Studie mit der Frage, ob sich die Förderung von Achtsamkeit bei Psychotherapeuten in Ausbildung durch tägliches Training in Zen-Meditation auf die Behandlungsergebnisse ihrer Patienten auswirkt. Dazu wurden die therapeutischen Verlaufs- und Behandlungsergebnisse zweier Gruppen von insgesamt 124 Klinikpatienten miteinander verglichen. Für die Gruppe der Patienten, die von den meditierenden Therapeuten behandelt wurden, ergaben sich signifikant höhere Einstufungen für Einzeltherapie auf verschiedenen diesbezüglich relevanten Skalen. Da es sich jedoch
15.7 • Spirituelle/religiöse Interventionen
lediglich um eine erste, kleinere Studie zum Thema handelt, bleibt vorerst offen, in wieweit die gefundenen Ergebnisse generalisiert werden können. Die Autoren kommen jedoch zu dem Schluss, dass sich die Förderung von Achtsamkeit bei Psychotherapeuten als ein nützliches therapeutisches Werkzeug erweisen könnte, um die Behandlungsergebnisse ihrer Patienten zu verbessern. Für den Fall, dass sich dieser Befund weiter erhärten sollte, schlagen sie vor, Achtsamkeitstraining im Rahmen der Ausbildung zum Therapeuten zu integrieren. Auch merken Grepmair und Nickel (2007) an, dass die mögliche Teilnahme von bereits seit längerem in der Meditation erfahrenen Psychotherapeuten darüber hinaus zur Gewinnung von Erkenntnissen auch außerhalb der Ausbildung dienen könnten.
15.7
Spirituelle/religiöse Interventionen
Eine weitere, deutlich umstrittenere Variante, in der die spirituelle/religiöse Orientierung des Psychotherapeuten zum Ausdruck kommen kann, ist die, dass er im Zusammenhang mit der spezifischen Problematik der Klienten auch häufiger religiös oder spirituell orientierte Interventionen heranzieht. Dies meint Interventionen, die ihren Ursprung in religiösen Traditionen haben und/oder die sich explizit auf die Spiritualität/Religiosität des Klienten beziehen. Richards und Bergin (2002) sowie Harris, Thorensen, McCoullough und Larson (1999) haben eine große Bandbreite solcher Interventionen gesichtet und die Möglichkeiten der Einbindung in einen klinisch-psychotherapeutischen Kontext sowie die empirische Evidenz hinsichtlich ihrer Wirksamkeit diskutiert. Die Frage, inwieweit Psychotherapeuten im Kontext ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit auch solche religionsbezogenen Interventionen anwenden, wurde bislang vor allem in Studien aus dem US-amerikanischen Raum untersucht (Shafranske 2000, 2001; Shafranske u. Malony 1990). Die hierbei erfragten Interventionen waren: a) den religiösen Hintergrund der Klienten kennen, b) deren religiöse Glaubensüberzeugungen explorieren, c) das Weiterverweisen an einen Rabbi oder Kaplan, d) die Empfehlung von Meditation, e) die Ver-
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wendung von religiöser Sprache und Konzepten, f) die Empfehlung von religiösen Praktiken oder Büchern, g) die persönliche religiöse Selbstoffenbarung des Therapeuten, h) die Empfehlung, ein religiöses Tagebuch zu führen, i) die Verwendung von geführter religiöser Imagination, j) mit dem Klienten beten und k) die Empfehlung, die eigene Religion zu verlassen (Shafranske 2000). Bei Shafranske und Malony (1990) wurde nur ein Teil dieser Interventionen erfragt. Die Teilnehmer wurden jeweils gefragt, ob sie diese Interventionen gut heißen, nicht gut heißen, empfehlen oder selbst anwenden. Es zeigte sich, dass die Raten, in denen die befragten Psychiater, Klinischen- und Rehabilitations-Psychologen solche Interventionen empfehlen oder selbst anwenden, in dem Maße sanken, in dem die Interventionen explizit stärker religiöser Natur wurden und die aktive Teilnahme beziehungsweise die direkte Einbeziehung des Therapeuten erforderten. So waren mehr als 50% der befragten Psychiater in der Studie von Shafranske (2000) und 87% der Klinischen Psychologen in der Studie von Shafranske und Malony (1990) der Ansicht, dass es angemessen sei, den religiösen Hintergrund der Klienten zu kennen. 74% der Psychiater und 78% der Klinischen Psychologen schätzten es dagegen als unangemessen ein, mit dem Klienten zu beten, und 56% der Psychiater missbilligten die persönliche religiöse Selbstoffenbarung. Beachtliche 62% der Psychiater gaben an, dass sie eine spirituelle Praxis, wie Meditation, empfehlen würden (Shafranske 2000). In der Studie von Shafranske und Malony (1990) befürworteten insgesamt 59% der befragten Psychotherapeuten die Verwendung von religiöser Sprache, Methaphern und Konzepten. Insgesamt von den Psychiatern und Rehabilitationspsychologen am häufigsten tatsächlich durchgeführt wurden die Interventionen »den religiösen Hintergrund der Klienten kennen«, »religiöse Glaubensüberzeugungen explorieren«, »Weiterverweisen an religiöse Führungspersonen« und »das Verwenden von religiöser Sprache und Konzepten«. Die Interventionen, die am häufigsten mit »lehne ich ab« beurteilt wurden, waren »die Empfehlung, eine Religion zu verlassen« und »beten mit dem Klienten«. Jedoch wurden auch »die Verwendung von religiöser geführter Imagination«, »die persönliche religiöse
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
Selbstoffenbarung« und »die Empfehlung, ein religiöses Tagebuch zu führen« von mehr als 50% der Psychiater und der Rehabilitationspsychologen abgelehnt (Shafranske 2000). Darüber hinaus wurde in US-amerikanischen Studien wiederholt ein positiver Zusammenhang zwischen der persönlichen Einstellung der Therapeuten in Bezug auf Religion bzw. Spiritualität und deren Anwendung von religiösen Interventionen gefunden (Shafranske 2000, 2001; Shafranske u. Malony 1990; Shafranske u. Gorsuch 1984). Zusammenfassend kommt Shafranske (2005, S. 504) für den US-amerikanischen Raum zu dem Schluss, dass die Anwendung von religiösen/spirituellen Interventionen a) über verschiedene Kliniker hinweg betrachtet nicht systematisch und konsistent sei, b) durch die persönlichen Commitments der Psychotherapeuten beeinflusst sei und c) je nach dem Grad der Einbeziehung des Klinikers in die Ausübung von explizit religiös-spirituellem Verhalten variiere. Weiterhin stellt er an anderem Ort fest, dass selbst wenn die Psychotherapeuten eine spezifische Einstellung in Bezug auf die religiöse Orientierung des Klienten hätten oder sogar diese Glaubensorientierung mit dem Klienten teilten, sie dennoch nicht dazu neigen würden, an dieser zu partizipieren oder gar den Klienten aktiv zu beeinflussen (Shafranske u. Malony 1990, S. 76). Für den deutschsprachigen Raum wurden solche Interventionen bis dato noch nicht systematisch abgefragt. In der vertiefenden Befragung von Hofmann berichteten die Psychotherapeuten auf die Frage, in welcher Form sich ihre spirituelle/religiöse Orientierung auf ihre psychotherapeutische Tätigkeit auswirke, ebenfalls, dass sie auch spezifische spirituelle oder religiöse Interventionen mit einbeziehen würden. Als Beispiele solcher »Interventionen« wurde die Verwendung von Ritualen und Zeremonien, die Einbeziehung der religiösen/ spirituellen Orientierung des Klienten in die Anamnese, die Aufforderung zur Teilnahme an Gruppen der Anonymen Alkoholiker, die Kooperation mit Seelsorgern und spirituellen Lehrern, geführte Imaginationen mit religiösen Bildern, die Verwendung von Meditationspraktiken, die Einbeziehung von Gott in die Therapie, das Empfehlen oder Heranziehen von spiritueller/religiöser Literatur, das Zitieren religiöser/philosophischer Schriften, die
Offenlegung der eigenen weltanschaulichen Position und andere mehr angeführt. Insgesamt benannten 16,5% der Psychotherapeuten dieser Studie die Verwendung von Interventionen dieser Art. Darüber hinaus erwies sich in diesem Zusammenhang auch der Einsatz von weiteren »spirituell geprägten Maßnahmen« von Seiten des Therapeuten, die jedoch für den Klienten nicht ersichtlich werden, als relevant. So zum Beispiel das Beten für den Klienten oder die Ausrichtung des Therapeuten auf ein höheres Selbst, Christus oder andere Formen religiöser Heilsfiguren. Weitere 3% der Therapeuten spezifizierten solche Vorgehensweisen. Der Studie von Hundt zufolge erwies sich die Einbeziehung spiritueller oder religiöser Interventionen selbst bei den von ihr befragten explizit ganzheitlich ausgerichteten Psychotherapeuten insgesamt als relativ unbedeutend. Spezielle religiöse Interventionen kamen nur in Ausnahmesituationen und bei eindeutig religiösen Patienten zum Einsatz (2007, S. 301). Dagegen erhielt die spirituelle Haltung den Berichten der Befragten zufolge eine herausragende Bedeutung. Wesentlich für das Erreichen der Therapieziele sei die spirituelle Haltung, wobei diese nicht im Vordergrund stehe, sondern eher als Hintergrundfolie und als verfügbare Basiskompetenz der Unterstützung des therapeutischen Prozesses diene (ebenda, S. 177). Die Interventionen seien in gewissem Sinne konventionell, so Hundt, jedoch unterscheide sich die Art und Weise, wie sie eingesetzt werden. Von daher verstanden sich die Befragten nicht als Therapeuten, die spirituelle Interventionen integrieren, sondern als solche, die Interventionen mit einer spirituellen Haltung anwenden (S. 299). Ähnliche Befunde berichtet auch Langen (2004).
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Die spirituelle/religiöse Orientierung als Ressource für den Therapeuten
Eine unter gesundheitspsychologischer Perspektive viel thematisierte und beforschte Frage ist die nach den potentiell salutogenen Auswirkungen einer spirituellen oder religiösen Orientierung. Dabei stehen in der Regel Fragen nach den Möglichkeiten einer Einbeziehung und therapeutischen Nutzbar-
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15.9 • Größere Offenheit, Bewusstheit und Sensibilität hinsichtlich
machung der spirituellen/religiösen Orientierung der Klienten im Vordergrund. Die Befunde verschiedener Psychotherapeutenbefragungen machen darüber hinaus deutlich, dass sich Spiritualität und Religiosität auch für die Psychotherapeuten selbst als eine wesentliche Ressource erweist, die sie sowohl in ihrem persönlichen Wohlergehen als auch bei der konkreten psychotherapeutischen Arbeit unterstützt. So fanden sich in der vertiefenden Befragung von Hofmann zu diesem Thema Aussagen wie die, dass die persönliche spirituelle/religiöse Orientierung der eigenen Psychohygiene und als Schutz vor Burnout diene, dass sie der Arbeit einen höheren Sinn gebe, dass sie die Hoffnung und das Vertrauen in die Sinnhaftigkeit der eigenen Arbeit stärke, dass sie die Verarbeitung negativer Gefühle unterstütze oder dass sie Motivation und Durchhaltevermögen schenke. Ebenso wurde deutlich, dass die Psychotherapeuten Gott oder eine wie auch immer konzipierte höhere Macht auch als Kraftquelle erleben, die es ihnen angesichts des Erlebens der eigenen Grenzen im Umgang mit menschlichen Problemen und Leid erlaubt, Gefühle der Ohnmacht anzunehmen, Überverantwortung abzugeben, ein Stück weit loszulassen und sich dem Wirken einer höheren Macht zu überlassen. Beschreibungen dieser Art erinnern an das von den anonymen Alkoholikern verwendete Gelassenheitsgebet »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden« oder mit den Worten von Linehan (1994) ausgedrückt: an das auch vom Psychotherapeuten anzustrebende Gleichgewicht innerhalb der Dynamik von Veränderung und Akzeptanz. Insgesamt führten 24,5% der Befragten an, dass sich ihre eigene Spiritualität/Religiosität im Sinne einer Ressource auswirke. Nicht zuletzt bietet das spirituell/religiös begründete Welt- und Menschenbild, wie bereits weiter oben angeklungen, den Therapeuten eine erweiterte, sinnstiftende und relativierende Perspektive, die sich in hohem Maße als entlastend erweist und die offensichtlich eine grundsätzlich positiv-bejahende Haltung dem Vorgefundenen gegenüber stärkt. Auch die Entwicklung der bereits beschriebenen Qualitäten wie Gelassenheit, Achtsamkeit,
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Wertschätzung und Ähnlichen mehr erweist sich als eine Ressource für den Therapeuten selbst und wird als förderlich für den Verlauf der Therapie sowie das eigene Kompetenzerleben empfunden.
15.9
Größere Offenheit, Bewusstheit und Sensibilität hinsichtlich religionsbezogener Inhalte und Probleme
Mittlerweile liegen eine Reihe von Befunden vor, die darauf hinweisen, dass sich die persönliche Auseinandersetzung des Therapeuten mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität – sei es im privaten Rahmen oder innerhalb eines professionellen Kontextes – deutlich darauf auswirkt, wie er mit diesen Themen im Rahmen der Psychotherapie umgeht und wie häufig solche Inhalte dort aufgegriffen werden. Es hat den Anschein, dass solcherart orientierte Psychotherapeuten diesbezügliche psychotherapeutisch relevante Themen eher aufgreifen, wenn sie implizit oder explizit zum Thema werden, und dass sie insgesamt weniger Hemmungen haben, solche Themen auch aktiv anzugehen. Es lässt sich vermuten, dass sich diese Therapeuten aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in diesem Bereich mit solchen Fragestellungen stärker auseinandergesetzt haben und dass sie sich diesen gegenüber von daher möglicherweise eher gewachsen fühlen als ihre nicht religiös oder spirituell orientierten Kollegen. So stellten 43% der befragten Psychotherapeuten in der vertiefenden Befragung von Hofmann als eine der Auswirkungen ihrer persönlichen religiösen/spirituellen Orientierung auf die psychotherapeutische Tätigkeit die generelle Offenheit für sowie die explizite Einbeziehung von religiösen/ spirituellen Inhalten und Problemen im Rahmen ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit heraus. Dabei reichte das Spektrum der hierzu angeführten Themenstellungen von der Behandlung religiöser Ängste, Unsicherheiten und Zwänge, über die Aktivierung der Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen und die Offenheit für transpersonale Phänomene bis hin zum Unterstützen des Klienten im Seelenheil und seiner positiven Beziehung zu Gott. Solche Therapeuten betonen ihre grundsätz-
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
liche Offenheit für Themenstellungen dieser Art, die diesbezügliche Selbstexploration des Klienten zu unterstützen und gegenüber den Deutungsmustern der Patienten tolerant, offen und respektvoll zu sein, selbst dann, wenn diese von den eigenen abweichen. Nicht selten wurde auch erwähnt, dass die eigene spirituelle/religiöse Orientierung die Offenheit und Toleranz bezüglich jeglicher Form von Religiosität/Spiritualität begünstigt habe. Darüber hinaus erhöht die eigene Auseinandersetzung mit diesen Themen nach Einschätzung der Therapeuten auch die Bewusstheit und Sensibilität dafür, in welchen Fällen eine zusätzliche Einbeziehung der spirituellen/religiösen Dimension therapeutisch indiziert und förderlich sein könnte. In diesem Zusammenhang erwähnten einige Therapeuten, dass ihr eigener Erfahrungshintergrund und ihre eigenen Kenntnisse auf diesem Gebiet zu einem besseren Zugang zu und Verständnis von Themen und Problemen mit religiös/spirituellen Bezügen sowie deren spezifischen Dynamiken führe. Diese Psychotherapeuten erleben sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen und der in diesem Bereich erworbenen Kenntnisse als kompetenter im Umgang mit spirituellen/religiösen Themenstellungen. Insgesamt nannten weitere 11% der Therapeuten Auswirkungen dieser Art. Auch in der Studie von Hundt (2007) benannte die Mehrheit der befragten Psychotherapeuten als eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit als ganzheitlich arbeitender Psychotherapeut, eigene spirituelle und existentielle Erfahrungen und Glaubenskrisen durchlebt und verarbeitet zu haben (S.184). In der Studie von Hofmann (2009) belegten die Ergebnisse einer multiplen Regression ebenfalls, dass in Bezug auf das Ausmaß, in dem im Verlauf der Behandlung Inhalte und Probleme im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität thematisiert werden, von Seiten der Psychotherapeuten vor allem persönliche Merkmale von Bedeutung sind. So zum Beispiel die Bedeutsamkeit von Spiritualität/Religiosität in ihrem eigenen Leben oder ihr eigener Glaube an eine höhere, transzendente Wirklichkeit. Darüber hinaus zeigte sich, dass zum einen die persönliche inhaltliche Auseinandersetzung mit diesen Themenbereichen, zum anderen aber auch der Grad der Berücksichtigung von diesbezüglichen Inhalten im Rahmen
der Psychotherapieausbildung, einen signifikanten Einfluss darauf haben, wie häufig solche Themen im Rahmen der Psychotherapie tatsächlich aufgegriffen werden. Auch dies deutet darauf hin, dass der Grad der eigenen Vertrautheit mit solchen Themenstellungen deren Thematisierung im therapeutischen Setting wesentlich mitbestimmt.
15.10
Erweiterter Bezugsrahmen, erweiterte Perspektiven, erweiterte Modelle und Konzepte
Die Daten verschiedener Studien weisen darauf hin, dass die eigene spirituelle/religiöse Orientierung des Psychotherapeuten auch oftmals zu einer entsprechenden Erweiterung der Perspektive in Hinblick auf die Problematik des Klienten führt. Solche Erweiterungen der Perspektive können dabei alle zentralen Bereiche der Psychotherapie betreffen: die Ebene der verwendeten Techniken und Interventionen, die theoretisch-konzeptuelle Ebene sowie die Ebene der Therapieziele. Die Notwendigkeit einer Erweiterung der psychotherapeutischen Perspektive im Sinne einer Einbeziehung der spirituellen Dimension – und damit wohl auch die grundsätzlichen Grenzen konventioneller Psychotherapie – sehen die Psychotherapeuten vor allem im Zusammenhang mit spezifischen Problemstellungen und Störungsbildern gegeben. Hier wurden in der vertiefenden Befragung von Hofmann vor allem die Konfrontation mit existentiellen Themen wie Tod, Sterben, Trauer, Verlust, schwere Schicksalsschläge, Erkrankungen oder Behinderungen sowie die Auseinandersetzung mit der grundlegenden Frage nach dem Sinn des Lebens angeführt. Entsprechende Befunde berichtet auch Langen (2004). Auffällig ist in diesem Zusammenhang die häufige Nennung der Sinnfrage. Es zeigte sich wiederholt, dass vor allem Sinnfragen und Sinnkrisen für die Therapeuten einen spirituellen Bezug haben bzw. die Ausweitung der Perspektive in einen spirituellen Raum hinein implizieren. Dies betrifft sowohl die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz als auch Fragen nach dem Sinn und der Funktionalität von bestimmten Beschwerdebildern. In besonderem Maße bezieht sich dies
15.10 • Erweiterter Bezugsrahmen, erweiterte Perspektiven
jedoch auf hochgradig belastende Lebensereignisse und auf Grenzsituationen des Lebens. Gerade angesichts der Frage nach dem Sinn einer schweren Erkrankung oder schwerer Schicksalsschläge scheinen die herkömmlichen therapeutischen Modelle und Konzepte an ihre Grenzen zu stoßen und eine Erweiterung der Perspektive in einen spirituellen Raum hinein für die Beteiligten dringlicher zu werden. Die Antworten der Therapeuten weisen darauf hin, dass sich ihre eigene spirituelle/religiöse Orientierung vor allem im Umgang mit Problemen dieser Art als hilfreich erweist und sie sich solchen Situationen gegenüber dadurch besser gewachsen fühlen. Auch berichten sie, dass sie vor allem in solchen Fällen eine spirituelle Perspektive im therapeutischen Prozess mit einbeziehen. Es hat den Anschein, dass das grundsätzliche Vertrauen in einen übergeordneten Sinn und das Eingebundensein in ein größeres, über die existentiellen Bedingtheiten hinausweisendes Ganzes in solchen Situationen sowohl dem Therapeuten als auch dem Klienten Trost und Halt bieten können. Auch in der Repräsentativerhebung von Hofmann (2009) wurden die Themenbereiche »Sinnfrage« sowie »Tod und Sterben« als Antwort auf die Frage, mit welchen spezifischen, psychologisch relevanten Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität sie sich näher befasst hätten, vergleichsweise häufig angeführt. So gaben 10% der Psychotherapeuten, die zu dieser Frage Antworten spezifiziert hatten an, dass sie sich mit Themenstellungen zum Bereich »Sinnfrage« befasst hatten, und 12,5% nannten die Auseinandersetzung mit weltanschaulichen Aspekten von Tod und Sterben sowie mit Fragen zum Umgang mit Tod und Sterben. Die Einbeziehung von spezifischen Konzepten und Modellen, die außerhalb der konventionellen psychotherapeutischen Theorienbildung zu verorten sind, umfasst potentiell sowohl solche, die religiösen Traditionen entlehnt sind, als auch solche, die der Esoterik oder der New-Age-Bewegung zuzuordnen sind, und schließlich auch professionelle Konzepte und Modelle aus dem Non-Mainstream der Psychologie und Psychotherapie, so zum Beispiel aus dem Gebiet der Religionspsychologie oder der Transpersonalen Psychologie.
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So nannten die befragten Psychotherapeuten in der vertiefenden Befragung von Hofmann unter anderem die Einbeziehung von »transgenerationell wirksamen Prozessen«, »karmischen Themen« oder »der Zeit vor der Geburt und nach dem Tode«. Ebenso wurden aber auch Begriffe und Konzepte wie »Höheres Selbst«, die Einbeziehung einer »höheren Ebene« oder von Vorstellungen, die der buddhistischen Tradition entstammen, wie zum Beispiel »die fünf Skandhas der Wahrnehmung«, »die vier edlen Wahrheiten« oder das Prinzip der Achtsamkeit, angeführt. Auch Hinweise auf Konzepte, die eine weiterreichende spirituell-transpersonale Entwicklung über die personale Entwicklung hinaus implizieren, oder der Rückgriff auf weitere Konzepte aus dem Bereich der Transpersonalen Psychologie wurden angeführt. Einige Therapeuten stellten in diesem Zusammenhang ganz allgemein eine nicht-pathologisierende und nicht psychologisch-reduktionistische Haltung und Perspektive dem religiösen Erleben und Handeln des Patienten gegenüber heraus. Dies beinhaltet auch, dass der Therapeut auch für ungewöhnliche Erfahrungen und Deutungsmuster offen ist und diese ernst nimmt. Auch fanden sich eine Reihe von allgemein gehaltenen Anmerkungen, im Sinne einer Vermeidung von psychologisch einseitigen und konzeptuell beschränkten Betrachtungsweisen der Problematik des Klienten gegenüber. Einer solchen Vorgehensweise wird die Einbeziehung der Religiosität/Spiritualität des Klienten im Sinne einer Erweiterung der Perspektive und Einordnung der Ereignisse in einen größeren Gesamtkontext entgegengesetzt. So äußerte sich einer der Psychotherapeuten beispielsweise dahingehend, dass er auch nach dem spirituellen Hintergrund von Ängsten, Depressionen und anderen Symptomen suche, anstatt an der Oberfläche derselben kleben zu bleiben. Ein anderer, dass er offen dafür sei, auftauchende, wie auch immer geartete Gottesbilder nicht nur unter objektbeziehungstheoretischen bzw. narzisstischen Objektaspekten zu betrachten, sondern daneben auch Platz bleibe für »gesunde« Möglichkeiten derselben. Insgesamt führten 44% der Therapeuten in der vertiefenden Befragung Inhalte im Sinne einer derartigen Erweiterung der Perspektive an.
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
In der Studie von Hofmann (2009) zeigte sich darüber hinaus, dass auch der Themenbereich »außergewöhnliche Erfahrungen und deren diagnostische Einordnung« sowie das Konzept der »Spirituellen Krise« in Anbetracht der Tatsache, dass diese im Rahmen der Mainstreampsychologie noch kaum Berücksichtigung finden, doch von erstaunlich vielen Therapeuten rezipiert wurde (vgl. Belz 2008, Kohls 2004; Galuska 2003c; Scharfetter 1991). Insgesamt waren es 28% der Therapeuten, die zu dieser offenen Frage spezifische Inhalte angeführt hatten, bzw. 13% der Gesamtstichprobe, die sich mit diesen Themen näher befasst hatten. Fragestellungen dieser Art sowie die erweiterten entwicklungspsychologischen Modelle aus dem Bereich der Transpersonalen und Integralen Psychologie und deren differentialdiagnostischen Implikationen scheinen bei einer beachtlichen Anzahl von Psychotherapeuten auf Interesse zu stoßen bzw. für diese von Relevanz zu sein. Neben den Fragen nach dem Sinn von und Umgang mit schwerwiegenden Lebenserfahrungen und existentiellen Themen scheint dies eine weitere Themenstellung zu sein, bei der die Psychotherapeuten vornehmlich nach erweiterten Perspektiven suchen. Oftmals führt die spirituelle/religiöse Orientierung der Therapeuten auch zu einer Stärkung von spezifischen Werten und Einstellungen. Diese wirken sich sowohl auf die persönliche Lebensführung als auch auf die Beurteilung von diesbezüglichen Themen und Perspektiven im Leben der Klienten aus. Werthaltungen dieser Art führen nach Angaben der Therapeuten insgesamt zu einem anderen Umgang mit und anderen Positionierungen in Bezug auf konventionelle gesellschaftliche Normen und Werte. Sie verändern die Perspektive hinsichtlich dessen, was im Leben als wichtig erachtet wird, und anzustrebender Lebensperspektiven im weiteren Sinne. In einem solchen Sinne kann die spirituelle/religiöse Orientierung des Therapeuten auch zu einer Erweiterung bzw. Adaption der konventionellen Therapieziele und zu anderen Schwerpunktsetzungen führen. Dies geschieht zumeist in einem ganz allgemeinen Sinne, indem beim Klienten spezifische Haltungen dem Leben gegenüber gefördert werden, wie zum Beispiel »das Leben als Geschenk zu erkennen« oder »Verantwortung für die Ausgestaltung des eigenen Lebens zu übernehmen«.
Ebenso können aber auch spezifische Werte und Qualitäten wie »im Hier und Jetzt sein«, Eigenverantwortlichkeit, eine verzeihende Grundhaltung, das Bedürfnis nach Innerlichkeit oder die Entwicklung von Dankbarkeit oder Selbstliebe unterstützt werden. Die Psychologin Ulrike Hundt (2007) hält, was dies angeht, die Verbindung von weltanschaulicher Abstinenz einerseits und einem essentiellen Wertetransfer andererseits für entscheidend. Es gehe nicht darum, den Klienten spezifische religiöse oder spirituelle Konzepte zu lehren, jedoch trägt ihrer Ansicht nach eine implizite spirituelle Wertevermittlung, wie Wahrhaftigkeit, Verbundenheit oder Selbstannahme, mittels einer einfachen lebensnahen Sprache dazu bei, die Ressourcen des Klienten zu stärken (S. 307). In der theoretischen Literatur findet sich mittlerweile ein beachtlicher Fundus an Konzepten und Modellen im Sinne einer Erweiterung der psychotherapeutischen Perspektive um die spirituelle Dimension, aus dem der interessierte psychotherapeutische Praktiker schöpfen kann. Dazu gehören beispielsweise die integrativen psychotherapeutischen Ansätze, wie sie bei Richards und Bergin (2002) oder Miller (1999) vorgestellt werden. Ebenso eine Vielzahl an religionspsychologischen Modellen, die auch im Rahmen der Psychotherapie nutzbringend herangezogen werden können (Utsch 2005; Shafranske 1996a). Schließlich steht auch eine Reihe von bewusstseinspsychologisch orientierten Modellen der Transpersonalen oder Integralen Psychologie zur Verfügung, die ebenfalls im Rahmen der Psychotherapie von Nutzen sein können (Wilber 2001; van Quekelberghe 2007). Darüber hinaus wurden mittlerweile eine Reihe von empirisch bereits gut begründeten und etablierten Konzepten um eine spirituelle Dimension erweitert. So konzipierte Emmons (2000) einen eigenständigen Intelligenzfaktor der Spiritualität und Piedmont (1999) beschrieb Spiritualität als eine weitere Dimension stabiler Persönlichkeitsmerkmale, zusätzlich zu den von McRae und Costa im Rahmen des Fünf-Faktoren-Modells beschriebenen Persönlichkeitsfaktoren. Als erweiterte Konzeptualisierung psychotherapeutisch nutzbarer Willensmodalitäten, die in starkem Maße aus den östlichen spirituellen Traditionen schöpfen, können die Ausführungen und Ansätze von Shapiro
15.11 • Beurteilung der Befunde
und Astin (1998), Belschner (2001) oder Linehan (1994) betrachtet werden. Schließlich haben auch die bereits erwähnten Autorinnen Hundt (2007), Yeginer (2007) und Langen (2004) auf Basis ihrer Befunde zu den Auswirkungen der spirituellen/ religiösen Orientierung und Praxis von Psychotherapeuten auf deren Selbstverständnis und professionelles Handeln verschiedene Modelle vorgeschlagen, die darauf abzielen, die herkömmlichen Modelle bezüglich der Profession des Psychotherapeuten um eine spirituelle oder transpersonale Dimension zu erweitern. Diese sollen nach Angaben der Autorinnen dazu dienen, zukünftig die Wirkung von Spiritualität in der Theoriebildung und in der Ausbildung zum Beruf des Therapeuten stärker mit einbeziehen zu können (vgl. hierzu auch Belschner 2002).
15.11
Beurteilung der Befunde
Bei Sichtung der empirischen Befunde wird deutlich, dass die persönliche spirituelle bzw. religiöse Orientierung und Praxis der Psychotherapeuten im Rahmen ihrer psychotherapeutischen Tätigkeit von erheblicher Bedeutung ist und dass sie den Verlauf der Therapie wesentlich mitbestimmt. Jedoch weisen die Daten ebenso darauf hin, dass sich dies nicht so sehr in Form von spezifischen weltanschaulichen Einflussnahmen oder konkreten spirituellen/religiösen Interventionen äußert, sondern vielmehr implizit, im Sinne von bestimmten grundlegenden Qualitäten und inneren Haltungen, zum Tragen kommt. Auch führt eine solche spirituelle/religiöse Lebensausrichtung nicht selten zu einer Erweiterung der psychotherapeutischen Perspektive im Sinne einer Einbeziehung der spirituellen Dimension. Lässt man die diesbezüglichen Befunde und Aussagen der Therapeuten auf sich wirken und geht man davon aus, dass diese nicht in starkem Maße durch Antworttendenzen im Sinne der sozialen Erwünschtheit bedingt sind, so entsteht alles in allem der Eindruck, dass sich die Psychotherapeuten hinsichtlich der Gefahren einer weltanschaulichen Einflussnahme auf den Klienten sehr bewusst sind und mit diesen Themenbereichen sehr sensibel und vorsichtig umgehen.
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Des Weiteren gewinnt man bei Sichtung der Befunde den Eindruck, dass die Psychotherapeuten – vermutlich aufgrund ihrer größeren Nähe zur Lebenswelt und somit nicht zuletzt aufgrund der vielzitierten Kluft zwischen Theorie und Praxis – dem aktuellen Stand der akademischen Psychologie, was die Auseinandersetzung mit spirituellen/religiösen Themen angeht, um ein gutes Stück voraus sind. Sie scheinen sich ein Stück weit von den herkömmlichen Vorgehensweisen und dem diesbezüglichen Stand der Kunst der wissenschaftlichen Disziplinen der Psychologie und Psychotherapie zu emanzipieren, indem sie spirituelle Perspektiven, Themen und Ansätze auf ihre eigene, ganz persönliche Art und Weise in die Therapie einbinden. Die Initiative dazu ergreifen sie ebenfalls selbstständig, indem sie in hohem Maße außerhalb dessen, was im Rahmen der Aus- und Weiterbildung angeboten wird, nach Modellen zum Verständnis des in der Therapie Vorgefundenen suchen. Dabei wird vor allem im Zusammenhang mit spezifischen Themenstellungen wie Sinnkrisen, schweren Schicksalsschlägen oder lebensbedrohlichen Krankheiten, aber auch im Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen und spirituellen Krisen nach einem erweiterten, oftmals spirituell begründeten Deutungs- und Handlungsrepertoire gesucht, welches den weltanschaulichen Rahmen, etablierten Wissenskorpus sowie das Interventionsrepertoire der gegenwärtigen Mainstreampsychotherapie überschreiten. Ungeachtet dieser Offenheit für eine Einbeziehung von spirituellen Perspektiven erweisen sich die Therapeuten jedoch auch als Kinder der Aufklärung und demonstrieren ein im hohen Maße professionelles Selbstverständnis, indem sie sich der Gefahren einer weltanschaulichen Einflussnahme und Indoktrination und der Überschreitung der professionellen Grenzen sehr bewusst sind. Es lässt sich mutmaßen, dass vor allem unter deutschen Psychotherapeuten aufgrund der Historie ein besonders ausgeprägtes Bewusstsein hinsichtlich der möglichen Gefährdungen, welche von ideologischen Einflussnahmen ausgehen können, gegeben ist. Auch identifizieren sich die Psychotherapeuten insgesamt in hohem Maße mit den Konzepten, Vorgehensweisen und dem Berufsethos ihrer Profession. Dazu gehört, dass sie sich auch den religiösen Traditionen gegenüber als emanzipiert
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
erweisen, indem sie diesen durchaus kritisch und in hohem Grade reflektiert gegenüberstehen. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sich das Gros der Psychotherapeuten stärker mit den nicht-institutionalisierten Formen einer individuell geprägten Spiritualität identifiziert und dieser einen höheren Stellenwert beimisst als den traditionellen Formen institutionalisierter Religion (Bergin u. Jensen 1990; Shafranske u. Malony 1990; Shafranske 2000, 2001; Smith u. Orlinsky 2004; Orlinsky 2005; Delaney et al. 2007). Bezug nehmend auf Befunde dieser Art konstatierten Smith und Orlinsky (2004), dass die Psychotherapeuten sowohl als »säkular« zu bezeichnen seien, in dem Sinne, dass sie unabhängig seien von institutionalisierter Religion, als auch als »religiös« in dem Sinne, dass sie sich mit letzten Anliegen befassen. Schließlich zeigt sich sowohl in der Studie von Hundt (2007) als auch in der vertiefenden Befragung von Hofmann, dass die Einbeziehung einer spirituellen Perspektive die konventionellen psychotherapeutischen Kenntnisse, Vorgehensweisen und Zielsetzungen keinesfalls ersetzen sollen, sondern dass sie diese nach Ansicht der psychotherapeutischen Praktiker vielmehr in einzelnen Fällen sinnvoll ergänzen können. So fanden sich in der vertiefenden Befragung von Hofmann diesbezüglich stark relativierende Aussagen, die insgesamt erkennen lassen, dass die Therapeuten solche Vorgehensweisen und Perspektiven nur dann mit einbeziehen, wenn sie es in besonderem Maße für psychotherapeutisch indiziert halten, oder aber wenn solche Themen und Impulse vom Klienten selbst eingebracht werden. Dabei lassen sie sich insgesamt in hohem Maße von der Offenheit des Klienten für diese Themen bzw. dessen konkreten diesbezüglichen Rückmeldungen leiten. Von den Therapeuten selbst wird ein solches Vorgehen als eine wertvolle und oftmals notwendige Bereicherung hinsichtlich der Förderung des psychotherapeutischen Prozesses erlebt. Bilgrave und Deluty (2002, S. 256) kommen auf der Basis ihrer Studien zu dem Schluss, dass Psychologen ihre Praxis nicht auf einer strikt wissenschaftlichen Epistemologie aufbauen und dass im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit Weltbilder und Werte zum Tragen kommen, die verschiedenen kulturellen Bereichen außerhalb
der Wissenschaft entlehnt sind, wie z. B. dem Bereich der Religion oder der Politik. Psychotherapeuten scheinen ihr berufliches Handeln nicht allein am Ideal des »Scientist-Practitioner-Modells« zu orientieren, sondern auch religiöse/spirituelle Überzeugungen und politische Ideologien in ihre Metatheorien und in die Annahmewelt einzubeziehen, die sie in ihrer psychotherapeutischen Praxis leitet. Die Autoren sehen in ihren Befunden hinsichtlich der Auswirkungen der religiösen/ spirituellen Orientierung auf die psychotherapeutische Praxis einen weiteren Hinweis darauf, dass auf weltanschaulichen Überzeugungen basierende Einflüsse sowohl im Rahmen der Ausbildung als auch in der psychotherapeutischen Praxis stärker reflektiert werden sollten. Skovholt und Ronnestadt (1992) haben im Rahmen einer großangelegten qualitativen Studie zur professionellen Entwicklung von Psychotherapeuten Interviews mit 100 Psychotherapeuten und Beratern geführt. Was die Förderung der Prozesshaftigkeit und Entwicklung des professionellen Selbstverständnisses der Psychotherapeuten anbelangt, sehen die Autoren wesentliche Faktoren in einer Haltung, die durch eine Suche nach einem tieferen Verständnis von psychischen Phänomenen sowie die Bewusstheit über die Komplexität von psychischen Problemen gekennzeichnet ist (nach Langen 2004, S. 38). Insgesamt haben Skovholt und Ronnestadt acht Stufen der Entwicklung des professionellen Selbstverständnisses von Psychotherapeuten herausgearbeitet. Deren letzte Stufen zeichnen sich durch eine zunehmende Integration von persönlicher und beruflicher Identität sowie durch eine größere Autonomie gegenüber theoretischen Konzepten aus. Die Autoren resümieren, dass Therapeuten auf dem Hintergrund ihrer persönlichen und beruflichen Erfahrung mit der Zeit ein individuelles Behandlungsmodell entwickeln, das als Ausdruck ihres professionellen Selbstverständnisses verstanden werden kann (ebenda). Nach Langen (2004, S. 38) kann deshalb davon ausgegangen werden, »daß jeder Therapeut, vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten sowie der Interaktion von persönlicher und beruflicher Identität, ‚sein‘ individuelles Behandlungsmodell konstruiert«. Auch könne die Entwicklung des professionellen Selbstverständ-
15.12 • Implikationen
nisses »als eine dynamische Interaktion zwischen persönlicher und beruflicher Identität begriffen werden, die das Moment einer existentiellen Auseinandersetzung über theoretische Konzepte hinaus beinhaltet« (ebenda). Die hier berichteten Befunde zum Einfluss der spirituellen/religiösen Orientierung von Psychotherapeuten lassen sich de facto nicht zuletzt auch im Sinne einer solchen Integration von persönlicher und beruflicher Identität sowie einer größeren Autonomie gegenüber theoretischen Konzepten verstehen.
15.12
Implikationen
Eine ganze Reihe von empirischen Befunden – und in diese reihen sich die oben berichteten Daten zum Einfluss der spirituellen/religiösen Orientierung des Therapeuten auf dessen psychotherapeutische Tätigkeit nahezu nahtlos ein – implizieren, dass klinisch relevante Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität in der psychotherapeutischen Ausund Weiterbildung in stärkerem Maße berücksichtigt werden sollten. Dazu gehört unter anderem die recht hohe Bedeutsamkeit und Popularität von Spiritualität und Religiosität innerhalb der Allgemeinbevölkerung (Bertelsmannstiftung 2007; Polak 2002) sowie das Faktum, dass spirituelle/religiöse Themen auch im psychotherapeutischen Kontext keine Seltenheit sind (Hofmann 2009; Bergin u. Jensen 1990; Shafranske 2000, 2001; Delaney, Miller u. Bisono 2007). Auch weisen eine Reihe von Befunden auf die Bedeutsamkeit von Spiritualität und Religiosität als gesundheitsbezogene Variablen hin (Klein u. Albani 2007; Koenig, McCullough u. Larson 2001). Auch die zunehmenden multikulturellen Einflüsse und der wachsende weltanschauliche Pluralismus in den westlichen Gesellschaften machen eine größere Sensibilität in Hinblick auf kulturelle Faktoren sowie die Reflexion des Einflusses von weltanschaulichen Aspekten im Rahmen der Psychotherapie erforderlich (Lukoff, Lu u. Turner 1995; Quekelberghe 2007). Nicht zuletzt zeigen eine Reihe von Studien übereinstimmend, dass die Therapeuten – dies gilt sowohl für die USA als auch für Deutschland – ein hohes persönliches Interesse an diesen Themenbereichen haben und
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die Mehrzahl derselben eine stärkere Berücksichtigung dieser Bereiche im Rahmen der akademischen und postgraduierten psychotherapeutischen Weiterbildung befürwortet (Smith u. Orlinsky 2004; Hofmann 2009; Demling, Wörthmüller O’ Conolly 2001; Shafranske u. Malony 1990). Es hat den Anschein, dass eine beachtliche Zahl von Psychotherapeuten im Einklang mit den allgemeinen Entwicklungen hin zu einer »Allgemeinen Psychotherapie« (Wagner u. Becker 1999) oder »Psychotherapieintegration« (Norcross u. Goldfried 2008) dabei auch die Erkenntnisse hinsichtlich der spirituellen Dimension menschlicher Erfahrung und deren Implikationen und Potentiale für die psychotherapeutische Praxis in den Kanon des psychotherapeutischen Forschungs- und Erkenntnisstandes miteinbezogen wissen wollen. Mittlerweile liegt in Hinblick auf die Möglichkeiten einer Einbindung von spirituellen und religiösen Faktoren im Rahmen der professionellen Psychotherapie ein beachtlicher Fundus an Literatur vor. In diesen Werken werden auch die diesbezüglich relevanten ethischen Fragen sowie Fragen der professionellen Zuständigkeiten und Grenzen diskutiert (Benningfield 1997; Eck 2002; Miller 2003; Richards u. Bergin 2002; Shafranske 1996a; Sollod 2005). Darüber hinaus liefern vor allem die Modelle und Ansätze der Transpersonalen und Integralen Psychologie (Wilber 2001, 2007, 2009; Ferrer 2002; Quekelberghe 2007), ebenso aber auch der Religionspsychologie (Utsch 2005; Zwingmann u. Moosbrugger 2004) und neuerdings auch in verstärktem Maße die achtsamkeitsbasierten Ansätze und Modelle (Heidenreich u. Michalak 2006a) eine reichhaltige Quelle an Material. Es erscheint als ein äußerst lohnenswertes Unterfangen, eine Reihe von Fragestellungen weiter zu verfolgen, um die vorliegenden Befunde auf Basis von empirischer Forschung weiter abzusichern. So wären weitere Untersuchungen zur generellen und differentiellen Wirksamkeit von spirituellen/ religiösen Interventionen in der Psychotherapie sowie zur Frage, unter welchen Umständen diese bei welchen Patienten von Nutzen sind, ein fruchtbarerer Ansatz (vgl. hierzu Harris et al. 1999). Auch sollten die psychotherapeutischen Potentiale einer Meditationspraxis des Therapeuten weiter diskutiert und empirisch überprüft werden. Bei posi-
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
tivem Befund könnten solche Praktiken für interessierte Zielgruppen als fakultative Angebote im Rahmen der Psychotherapieausbildung angeboten werden (vgl. Grepmair u. Nickel 2007). Grepmair und Nickel mutmaßen in diesem Zusammenhang, dass das therapeutische Potential des »Instrumentes Psychotherapeut« vermutlich noch nicht annähernd ausgelotet sei. In diesem Kontext stellen auch weitere Forschungen zu den postulierten transpersonalen Wirkfaktoren ein fruchtbares Feld für weitere Forschung dar. Forschung dieser Art erscheint dringend notwendig, damit Interventionen in Hinblick auf die Spiritualität/Religiosität des Klienten bzw. spirituell/religiös orientierte Interventionen nicht länger allein auf Basis der persönlichen Erfahrungen und Evidenzen des Therapeuten entschieden werden, sondern durch wissenschaftliche Forschung anhand von konsensfähigen Kriterien wie Besserung von Störungen mit Krankheitswert oder Verbesserung der Lebensqualität empirisch begründet sind (vgl. Michalak u. Heidenreich 2006; Shafranske 1996b, 2000). Darüber hinaus wären vermehrte Angebote zu spezifischen Fragestellungen mit Bezug auf die Themenbereiche Spiritualität und Religiosität im Rahmen der Aus- und Weiterbildung indiziert: Dazu gehören unter anderem die systematische Reflexion des Einflusses von weltanschaulichen Faktoren auf den Verlauf der Psychotherapie sowie Angebote a) zu den Möglichkeiten der Nutzung von spirituellen/religiösen Interventionen in einem psychotherapeutischen Setting, b) zur Erhebung und Einschätzung von Spiritualität/Religiosität als psychotherapeutisch relevante Variablen, c) zu den Möglichkeiten einer Einbeziehung von Spiritualität/Religiosität als zusätzliche psychotherapeutische Ressource und d) bezüglich der grundsätzlichen Möglichkeiten und Grenzen einer Einbeziehung von Spiritualität und Religiosität im Rahmen der Psychotherapie. Nicht zuletzt erscheinen auch Fragen zur theoretischen Konzeptualisierung, diagnostischen Einordnung sowie zum therapeutischberaterischen Umgang mit außergewöhnlichen Erfahrungen wichtige Themen darzustellen. Die bis dato vorherrschende Vorgehensweise, solche Themenstellungen im Rahmen der akademischen sowie der postgraduierten, psychotherapeutischen Ausbildung nur in äußerst geringem
Maße zu berücksichtigen, hat zur Folge, dass die psychotherapeutischen Praktiker mit ihren diesbezüglichen Fragen weitgehend allein gelassen sind. Dessen ungeachtet bekunden sie ein hohes Interesse an Fragestellungen im Zusammenhang mit den Themenbereichen Spiritualität und Religiosität und auch für ihre psychotherapeutische Praxis erweisen sich diese als bedeutsam. Auch sollten gerade in Anbetracht der Tatsache, dass sich die persönliche spirituelle/religiöse Orientierung des Therapeuten in beachtlichem Maße auf dessen psychotherapeutische Tätigkeit auswirkt, die damit verbundenen Potentiale und Gefährdungen stärker reflektiert werden. Für die psychotherapeutischen Praktiker selbst ist wohl vor allem die Schärfung des Bewusstseins für mögliche Problembereiche, die Klärung des eigenen weltanschaulichen Standpunktes sowie die diesbezüglich kritische Reflexion und Analyse in der Arbeit mit konkreten Fällen von Nöten. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, dass die Psychotherapeuten im Umgang mit diesen Themenbereichen nicht länger auf sich gestellt blieben. Und dass sie damit auch nicht länger eigenverantwortlich in einem rechtlich als grenzwertig zu beurteilenden Bereich handeln müssten – da diese Verfahrensweisen ein Stück weit ja immer auch außerhalb der üblichen Verfahrensweisen der Mainstream- und Richtlinienpsychotherapie liegen und keine entsprechenden verbindlichen Leitlinien existieren. Die Berücksichtigung der oben genannten Themenstellungen im Rahmen der Ausbildung könnte so dazu führen, dass sich die Therapeuten im Umgang mit religiösen/spirituellen Themenstellungen sicherer fühlen, dass sie mit diesen professioneller und kompetenter umgehen können und dass sie das therapeutische Potential, das einer Einbeziehung von spirituellen/religiösen Faktoren in der Psychotherapie innewohnt, besser nutzen können.
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Kapitel 15 • Spirituelle oder religiöse Orientierung und deren Auswirkung
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Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität Renate Ruhland
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
In den letzten Jahrzehnten haben sich Medizin, Neurowissenschaft und Psychologie in verstärktem Maße mit den somatischen und psychischen Auswirkungen spiritueller Praktiken auseinandergesetzt (Murphy u. Donovan 1997). Spiritualität stellt einen vieldeutigen, multidimensionalen Begriff mit unterschiedlichen inhaltlichen Akzentuierungen dar, für den es bislang keine allgemein verbindliche wissenschaftliche Definition gibt und der auf Grund dessen derzeit noch nicht adäquat zu operationalisieren ist. Im vorliegenden Beitrag werden die erziehungswissenschaftlichen Implikationen von Spiritualität erörtert und der Versuch unternommen, diese für die Theorie und Praxis der spirituellen Bildungsarbeit nutzbar zu machen. Spiritualität kann als ein ethisches Grundbedürfnis, eine existenzielle Grundhaltung und eine bestimmte Art der Lebensführung gekennzeichnet werden (Pernter 2008). Sie umfasst eine noetische Dimension, die als Potenzialität in jedem Menschen vorhanden ist und durch gezielte Übung entfaltet werden kann. Spiritualität stellt eine anthropologische Grundkonstante dar, der seit jeher in allen Kulturen und zu allen Zeiten eine fundamentale Bedeutung für das Leben des Menschen zugesprochen wurde (Bucher 2007). Sie ist eine MetaRessource, deren Freisetzung sowohl von alltagspraktischer als auch bildungsmäßiger Relevanz ist. Ausgangspunkt der nachfolgenden Überlegungen ist ein integral-transkonfessionelles Spiritualitätsverständnis, das zwar universell und weltanschaulich neutral, aber dennoch kultur- und kontextabhängig ist (Ruhland 2008a). Aus dieser Perspektive betrachtet ist eine Bindung an konfessionelle Dogmen oder Glaubenssysteme nicht erforderlich, d. h. der spirituell Suchende kann seine individuelle Spiritualität sowohl im Rahmen einer Religionszugehörigkeit als auch unabhängig von einer religiösen Orientierung bzw. Institution praktizieren. Eine integral-transkonfessionelle Form von Spiritualität schließt sämtliche Dimensionen des Menschseins ein. Sie erscheint deshalb besonders relevant und zeitgemäß, da sich immer mehr Individuen aus ihrem religiösen Kontext lösen, aber in sich dennoch spirituelle Bedürfnisse tragen wie zum Beispiel die nach etwas Übergeordnetem, Halt- und Sinngebendem, nach Transzendenz und Verbundenheit.
Der Erziehungswissenschaft kommt die gleichermaßen anspruchsvolle wie auch wesentliche Aufgabe zu, Erkenntnisse der empirischen und theoretischen Spiritualitätsforschung und angrenzender wissenschaftlicher Disziplinen aufzugreifen, um Konzepte zu erarbeiten, die eine theoretische und praxisorientierte Fundierung spiritueller Bildung ermöglichen. Spirituelle Fragestellungen sind bislang im erziehungswissenschaftlichen Kontext nur selten explizit thematisiert worden; lediglich im Rahmen der Religionspädagogik (Kunstmann 2004) und der religiösen Erwachsenenbildung (Blasberg-Kuhnke u. Wittrahm 2007) sind einige konfessionsgebundene Bildungskonzepte für spezifische Zielgruppen entwickelt worden. In der Erwachsenenbildung hat sich innerhalb des letzten Jahrzehnts eine »Alltagswende« vollzogen, die zur Folge hatte, dass vermehrt grundlegende Lebensfragen mit dem Ziel thematisiert werden, den Bildungsteilnehmern neue Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten zu eröffnen. In Anbetracht der individualisierten und pluralisierten Lebensbedingungen sucht der heutige Mensch in zunehmendem Maße nach Sinn und Orientierung, oftmals auch außerhalb von kirchlichen Institutionen und in teils fragwürdigen esoterischen Gruppierungen. Viele Erwachsene tragen vermehrt das Gefühl in sich, »dass etwas fehlt« und werfen daher die Frage auf, »ob das alles gewesen sei«. Spiritualität vermag Antworten auf Fragen nach den Bedingungen und Grenzen der eigenen Existenz zu geben und das Individuum in die Lage zu versetzen, die existenziellen Rahmenbedingungen so zu erweitern, dass Erfahrungen der Endlichkeit und des existenziellen Mangels relativiert und in einen neuen, umfassenderen Sinnhorizont integriert werden können (Ruhland 2006). Spiritualität zielt somit auf eine existenzielle Transformation der persönlichen Lebenshaltung. Die Ausführungen dieses Beitrags gehen von folgender Grundfrage aus: Welche Inhalte werden spirituell Suchenden im Rahmen von spiritueller Bildungsarbeit methodischdidaktisch auf welche Weise durch Professionelle, die über welche spezifischen Qualifikationen verfügen, mit welcher Zielsetzung vermittelt und welche qualitätsrelevanten Aspekte sind dabei zu berücksichtigen?
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16.1 • Spirituelle Bildung – Relevanz und Zielsetzung
Die Beantwortung dieser Frage macht es erforderlich, 5 die Relevanz und Zielsetzung spiritueller Bildungsarbeit zu untersuchen, 5 die charakteristischen Merkmale einer spirituell orientierten Erwachsenenbildung zu skizzieren, 5 die konkreten Inhalte und Prozesse zu identifizieren, die für den Begriff »Transpersonales Lernen« kennzeichnend sind und die dem Aufbau spiritueller Kompetenzen zugrunde liegen, 5 die Qualifikationsanforderungen zu spezifizieren, die an spirituelle Bildungsexperten zu stellen sind, 5 Reflexionen anzustellen in Bezug auf methodisch-didaktische Prinzipien in der Vermittlung bzw. Aneignung spiritueller Inhalte sowie 5 wesentliche Merkmale der Qualitätssicherung spiritueller Bildungsangebote herauszuarbeiten.
16.1
Spirituelle Bildung – Relevanz und Zielsetzung
Die Erwachsenenbildung kann einigen ihrer zentralen Ziele in einem qualifizierteren Maße gerecht werden, wenn sie explizit spirituelle Aspekte in ihre Bildungsangebote integriert. Die Relevanz spiritueller Bildung liegt vor allem darin begründet, dass sie den individuellen Orientierungsrahmen sowie die Entwicklungsmöglichkeiten Erwachsener um die »vertikale« Dimension ergänzt und somit ein »neues« Element in die Bildung einführt, wodurch sie zu einer Erweiterung von auf Erwachsene bezogene Bildungskonzepte beiträgt (Clark 1974). Die alltagsorientierte Erwachsenenbildung mit spirituellem Schwerpunkt berücksichtigt die perspektivische Vielfalt und die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen ihrer Adressaten. Erwachsene sind nach Siebert (2009) selbstständige und eigenwillige Lernende, die ihre eigene Lerngeschichte und vielfältige Erfahrungen, gezielte Verwendungsinteressen und stabile Deutungsmuster in Bildungsveranstaltungen einbringen.
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Die spirituelle Erwachsenenbildung orientiert ihre Bildungsangebote an der Zielgröße »gelingendes und sinnvolles Leben« und richtet damit ihren Fokus auf den individuellen Nutzen spiritueller Bildungsmaßnahmen, indem sie Spiritualität als einen integrierenden und transformierenden Faktor versteht, dem die Funktion der Orientierungs- und Lebenshilfe, aber auch der Entwicklungsförderung im Sinne von Ressourcenaktivierung und Potenzialfreisetzung zukommt. Spirituelle Lernprozesse sind aus der Sicht der spirituellen Erwachsenenbildung konstitutiv auf alltägliche Bewährungszusammenhänge auszurichten. Im Mittelpunkt stehen dabei entwicklungsbegleitende Angebote für die alltagsbezogene Gestaltung von Spiritualität und deren Integration in die individuelle Lebenswirklichkeit Erwachsener. Spirituelle Bildung fördert das Vertrautwerden mit und die Nutzung von inneren Ressourcen für lebenslanges, selbst gesteuertes Lernen und persönliches Wachstum. Ziel ist ein integriertes Individuum, das in der Lage ist, mit seinem Leben adäquat umzugehen. Aus andragogischer Perspektive steht die Entwicklung vernachlässigter Funktionen und die Ausdehnung bzw. Erweiterung von menschlichen Fähigkeiten im Zentrum spiritueller Bildungsbemühungen. Spirituelle Bildungsarbeit verfolgt vorrangig das Ziel, eine Balance herzustellen zwischen intellektuellen und intuitiven, bewussten und unbewussten, verbalen und imaginativen, physischen, emotionalen, mentalen und spirituellen Prozessen. Für die spirituelle Erwachsenenbildung sind insbesondere drei Bildungsziele handlungsleitend: 1. Förderung der Subjektwerdung, 2. Vermittlung von »Lebenshilfe« und 3. Unterstützung bei alltagsbezogenen »Schlüsselproblemen«.
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Förderung der Subjektwerdung
Spiritueller Bildung kommt primär die Aufgabe zu, den Prozess der Subjektwerdung zu stärken, wobei der einzelne Bildungsteilnehmer als Subjekt und nicht als Objekt spiritueller Lernprozesse fungiert. Persönlichkeitsentwicklung im Sinne von Subjektwerdung kann als lebensbezogener, ganzheitlicher Prozess der Bildung verstanden werden.
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
Die Aktivierung von spirituellen Ressourcen, die Bewältigung von lebensphasen- und altersabhängigen Entwicklungsaufgaben sowie die persönliche Weiterentwicklung im Sinne von Selbstverwirklichung sind zentrale Elemente der Subjektwerdung. Subjektwerdung im Erwachsenenalter umfasst die Förderung von Selbstbestimmung, Autonomie, Selbstwirksamkeit und Identitätsfindung sowie den Aufbau eines positiven Selbstkonzepts und einer Sinnperspektive. Subjektwerdung beruht auf einer engen Wechselbeziehung von kognitiven, emotionalen, körperlichen und spirituellen Aspekten. z
Vermittlung von »Lebenshilfe«
Spirituelle Bildung stellt auch einen Faktor dar, dem die Funktion der »Lebenshilfe« zukommt. Die Einbeziehung spiritueller Aspekte ermöglicht es dem spirituell Suchenden, sich einen breiteren Sinnhorizont anzueignen, der auf einer Neuinterpretation der eigenen Lebenssituation basiert (Ruhland 2006). Diese Umbewertung trägt zu höherer Lebenszufriedenheit, einer Identitätsstärkung, dem Abbau von Ängsten und depressiven Tendenzen sowie größerer Gelassenheit und verbesserter Gesundheit bei. z
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Unterstützung bei alltagsbezogenen »Schlüsselproblemen«
Die individualisierten und globalisierten Lebensbedingungen verlangen von jedem Individuum in zunehmendem Maße Adaptions- und Lernleistungen. »Schlüsselprobleme« sind Strukturprobleme, die auf den kulturellen Wandel zurückzuführen sind und letztlich jeden Menschen betreffen (Klafki 1993). Um Verunsicherungen zu vermeiden bzw. bewältigen zu können, bedarf es eines Orientierungsund Stabilisierungsrahmens, der die Grundlage für eine metaperspektivische Sichtweise darstellt. Spirituelle Praktiken unterstützen den Übenden, mehrperspektivisch wahrzunehmen, flexibel und souverän auf Veränderungen zu reagieren und sich in Umbruchphasen auf das innere – auf Intuition basierende – Orientierungssystem zu verlassen.
16.2
Besonderheiten der spirituellen Erwachsenenbildung
Spiritualität eröffnet ein Lehr- und Lernfeld, das durch eine Reihe charakteristischer Merkmale gekennzeichnet ist: 5 Spiritualität verkörpert ein Erfahrungsphänomen und beruht in ihrer Essenz auf einem erfahrungsmäßigen Bezug auf eine überindividuelle Wirklichkeit. Erfahrungen im spirituellen Kontext umfassen direkte persönliche und indirekt über die Kommunikation vermittelte Erlebnisse. Spirituelle Erfahrungen sind subjektiv, d. h. persönlich-individuell und nicht notwendigerweise intersubjektiv (Walach 2006). Sie verweisen mehr auf die Natur des menschlichen Bewusstseins als auf eine bestimmte spirituelle Tradition. Spirituelle Erfahrungen treten insbesondere dann auf, wenn der spirituell Suchende sein Bewusstsein »entleert«, sich von Belastungen und Zwängen befreit und die Grenzen überschreitet, die ihm sein Alltagsbewusstsein auferlegt. 5 Spirituelle Erfahrungen sind aufgrund ihrer »Unaussprechlichkeit« einem sprachlichen Zugriff nur eingeschränkt zugänglich. Zwar kann über derartige Erfahrungen gesprochen werden, jedoch gehen diesbezügliche Aussagen am eigentlichen Kern spirituellen Erlebens vorbei, da hierfür bislang keine einheitliche Terminologie vorliegt. Eine sprachliche Annäherung an die Erfahrungen von Transzendenz ist jedoch unter Gleichgesinnten möglich, die über ähnliche transpersonale Erfahrungen verfügen. Kruse (2005) weist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit hin, eine »spirituelle Gesprächskultur« aufzubauen, was die Entwicklung von Merkmalen wie zum Beispiel Offenheit, Empathie, Dialogfähigkeit, Präsenz, Zuhörkompetenz und Ambiguitätstoleranz voraussetzt. Der Austausch über spirituelle Erfahrungen, deren Interpretation und daraus resultierende Einsichten stehen hierbei im Mittelpunkt. 5 Spirituelle Erfahrungen und Erkenntnisse sind als »Lerninhalte« im herkömmlichen Sinne nicht lehrbar, da sie sich auf einen Wirklichkeitsbereich beziehen, der sich einem kogni-
16.3 • Transpersonales Lernen als Basis für den Aufbau spiritueller Kompetenzen
tiv-rationalen Zugang entzieht und jenseits des kategorialen Denkens liegt; was jedoch vermittelt werden kann, sind Verfahrensvorschriften und Handlungsanweisungen einzelner spiritueller Praktiken, die den spezifischen Bedürfnissen und Fähigkeiten des jeweiligen spirituell Suchenden zu entsprechen haben, wobei die Frage nach der Geeignetheit bzw. der »individuellen Passung« einzelner spiritueller Verfahren bislang unzureichend geklärt ist (Walsh 2008). Hierbei geht es vor allem um die zentrale Frage, welche spirituellen Methoden für welche Individuen (in Bezug auf Merkmale wie Persönlichkeitsstruktur, Bildungsgrad, Alter, Gender, Gesundheitszustand usw.) mit welcher Ausgangslage und Zielsetzung am besten geeignet sind. 5 Spirituelle Bildung erfolgt nicht ausschließlich über erfahrungsbezogene Lernprozesse, sondern umfasst auch eine kognitive Komponente; diese ermöglicht ein rationales Verständnis, eine Einordnung spiritueller Erfahrungen und damit verbundener Prozesse und befähigt den Übenden zu einem adäquaten Umgang mit diesen. Die spirituelle Bildungsarbeit legt ihren Schwerpunkt allerdings nicht primär auf die Vermittlung von kognitiven Inhalten, sondern ist darum bemüht, die Voraussetzungen für subjektorientierte, innen geleitete und selbst gesteuerte Lernprozesse zu schaffen, die eine systematische Kultivierung eines erfahrungsmäßigen Zugangs zum »transpersonalen Bewusstseinsraum« (Belschner 2007) beinhalten. Spirituelle Bildung will zur erfahrungsmäßigen Selbsterschließung der spirituellen Dimension anregen. Ihre »Lerninhalte« sind weder überprüfbar noch abfragbar, sondern in einem übergeordneten Bewusstseinszustand erfahrbar, der durch Merkmale wie tiefe Ruhe, innere Weite, geistige Klarheit, hohe Achtsamkeit, intuitive Eingebungen und Selbsttranszendenz gekennzeichnet ist. Sensitivität, Rezeptivität und Aufnahmebereitschaft sind somit wesentliche Elemente spiritueller Bildung. 5 Ein typisches Kennzeichen von Lern- und Entwicklungsprozessen im spirituellen Kontext ist ihre »Unabschließbarkeit«, d. h. spirituelle Prozesse gelangen zu keinem »Endergebnis«
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und zeichnen sich durch Fragmentarität aus (Bitter 2004). Aus einer Langzeitperspektive betrachtet wird jedoch in den meisten spirituellen Traditionen und in der Transpersonalen Psychologie die Sichtweise vertreten, dass der normale Alltagsbewusstseinszustand »suboptimal« ist und jedem Menschen latente Potenziale innewohnen, deren Freisetzung weiterführende psychologische Reifungsprozesse in Richtung höherer Grade an Persönlichkeitsintegration bis hin zu postkonventionellen Entwicklungsebenen ermöglicht (Alexander u. Langer 1990). 5 Spirituelle Bildung beruht in erster Linie auf spirituellen bzw. transpersonalen Lernvorgängen, die selbstreferenziell, nicht »von außen« determiniert auf einer Metaebene ablaufen, die Erkenntnisschichten umfasst, welche dem Intellekt nicht zugänglich sind. Bateson (1985) spricht in diesem Zusammenhang von einem »meta-stuflichen Lernen«. Diese Lernform ist durch tief greifende »Umstrukturierungen des Charakters« gekennzeichnet. Nach Bateson laufen diese metastuflichen Lernprozesse auf einer Ebene ab, die die sprachliche übersteigt, sie führen zu einer Konfrontation mit grundlegenden Daseinsprämissen, zu einer Aufhebung von Gegensätzen, zum Aufbrechen von Gewohnheitsmustern und zu einer Neudefinition des Selbst. Sie versetzen das Individuum in die Lage, seine Lebenswirklichkeit in einem umfassenderen Kontext wahrzunehmen und dementsprechend zu handeln.
16.3
Transpersonales Lernen als Basis für den Aufbau spiritueller Kompetenzen
Spirituelle Praxis stellt ein Kernelement spiritueller Bildung dar; dies impliziert ein regelmäßiges und kontinuierliches Üben spiritueller Praktiken, das die Grundlage für spirituelle bzw. transpersonale Lernprozesse schafft. Wenn Lernen als ein Prozess verstanden wird, der einerseits dem Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten dient und andererseits der Änderung von Denk-, Einstellungs- und Verhaltensmustern aufgrund von Einsicht oder Er-
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
fahrung, bezieht sich der Begriff »Transpersonales Lernen« 5 erstens auf den allmählichen Aufbau »spiritueller Kompetenzen« wie Achtsamkeit, Durchlässigkeit, Gleichmut, »Entleerung« und »Entgrenzung« des Bewusstseins; 5 zweitens auf den methodisch-systematischen und erfahrungsmäßigen Zugang zur transpersonalen bzw. spirituellen Dimension und daraus resultierende lebenspraktische »Lernergebnisse«, d. h. beobachtbare Veränderungen auf kognitiver, affektiver und verhaltensmäßiger Ebene.
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Mit dem Prozess des Transpersonalen Lernens geht eine Aufhebung des Bezugssystems des gewöhnlichen Wachbewusstseinszustands einher, d. h. der Dreidimensionalität des Raums, der Linearität der Zeitwahrnehmung, der Kausalität, der Subjekt-ObjektTrennung sowie der Konsistenz der Ich-Organisation (Belschner 2007). Diese Kriterien verlieren in veränderten Bewusstseinszuständen als Folge spiritueller Praxis ihre uneingeschränkte Gültigkeit zugunsten von Merkmalen einer »Bewusstseinsweitung« oder »Bewusstseinserhöhung«. Die Dreidimensionalität des Raums erweitert sich zu »Unbegrenztheit«, die Zeitwahrnehmung verliert ihren linearen Charakter, die Subjekt-Objekt-Trennung wird aufgehoben durch Erfahrungen der Einheit und Verbundenheit, das Kausalitätsverständnis wird durch a-kausale Aspekte und die Ich-Organisation durch das Element der Ich-Transzendenz ersetzt. Transpersonales Lernen erfolgt in veränderten Bewusstseinszuständen und führt zu »vertikalen« Entwicklungsprozessen sowie bildungsrelevanten Lerneffekten, die sich schwerpunktmäßig auf die Förderung der Subjektwerdung im Sinne zunehmender Persönlichkeitsintegration und den Aufbau einer spirituellen Lebenshaltung sowie einer sinnorientierten Lebensführung beziehen. Bildung mit spirituellem Schwerpunkt betont die Zustandsabhängigkeit von Wahrnehmung, Kognition, Identität, Lernen und Verhalten im Sinne einer »multistate education« (Roberts 1989). Spirituelle Entwicklung umfasst einen Lernprozess, der den allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Strukturbildung folgt: »Zunächst einmal werden
einzelne Erfahrungen eines transpersonalen Bewusstseins gemacht, dann werden diese wiederholt, erinnert und durchgearbeitet, bis eine Kompetenz für die Verankerung im transpersonalen Bewusstsein besteht.« (Galuska 2003, S. 54). Im Laufe der Zeit stabilisiert sich diese Struktur und dient als Ausgangspunkt für die darauf aufbauende spirituelle Entwicklung. Entsprechend entwickelt sich die transpersonale Struktur über individuelle Erfahrungen zu einer »nondualen Kompetenz«. Transpersonales Lernen umfasst zirkuläre, rekursive, nicht-lineare Lernprozesse auf einer Metaebene und kann wie folgt definiert werden: Unter diese Lernform lassen sich intra- und interindividuelle Lernprozesse subsumieren, in deren Verlauf sich das Individuum methodische Vorgehensweisen aneignet, um auf subjektiv-erfahrungsmäßiger Ebene Zugang zum transpersonalen Bewusstseinsraum zu erlangen, diesen Zugang kontinuierlich zu vertiefen, um allmählich die Fähigkeit zu entwickeln und zu stabilisieren, diesen spezifisch veränderten Bewusstseinszustand bewusst herbeizuführen und die dabei erfahrenen Qualitäten in Form von anhaltenden »Nachwirkungen« schrittweise in das eigene alltägliche Erleben und Verhalten zu integrieren (Ruhland 2008b). Der erfahrungsbezogene Zugang zu Tiefendimensionen des Bewusstseins löst transformative Lernprozesse aus, die grundlegende und andauernde Veränderungen in verschiedenen Bereichen der Persönlichkeit zur Folge haben. Bislang sind transformative Lernprozesse allerdings kein integraler Bestandteil der Erwachsenenbildung. Hierzu führen Fuhr u. Gremmler-Fuhr (2000, S. 25) aus, »dass die Bildungsangebote für Erwachsene in unserer Gesellschaft das (horizontale) Veränderungslernen eindeutig unterstützen und dem (vertikalen) transformativen Lernen, sofern es über die Stufe des Rationalen hinausgeht, mit großem Argwohn gegenüberstehen. (…) Transformatives Lernen bis zur Stufe des Rationalen wird gefördert, für ‚translatives’ Lernen wird umfänglich gesorgt, und dies wird auch zunehmend perfektioniert. Hier besteht also kaum ein konzeptioneller Bedarf, wohl aber für transformatives Lernen im Erwachsenenalter, das über das Rationale hinausgeht.« Aus den Definitionsmerkmalen des Transpersonalen Lernens lassen sich Ansatzpunkte für die
16.3 • Transpersonales Lernen als Basis für den Aufbau spiritueller Kompetenzen
Entwicklung von spirituellen Grundkompetenzen ableiten, deren Aufbau im Mittelpunkt der spirituellen Bildungsarbeit steht: 1. Die Zugangs-Kompetenz zur spirituellen Dimension mittels entsprechender spiritueller Praktiken, d. h. in erster Linie Meditationstechniken; 2. die Modulations-Kompetenz, d. h. die selbst gesteuerte Fähigkeit, auf dem Bewusstseinskontinuum zwischen Wachbewusstseinszustand und veränderten Bewusstseinszuständen zu »navigieren« und den transpersonalen Bewusstseinsraum erfahrungsmäßig zu »erkunden«; 3. die Integrations-Kompetenz, die sich auf den Transfer bzw. die konkrete »Nutzung« spiritueller Erfahrungen und Erkenntnisse für den Lebensalltag bezieht.
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1. Zugangs-Kompetenz
Meditation ist die am eingehendsten erforschte Form spiritueller Praxis. Mit der Ausübung von Meditationstechniken ist ein Umschalten von einem gegenständlichen, diskursiven, intentionalen Denken auf einen passiven, rezeptiven, ganzheitlich-intuitiven Bewusstseinsmodus verbunden, der einen erfahrungsmäßigen Zugang zur spirituellen Dimension ermöglicht. Die Aufmerksamkeit wird im Laufe dieses Vorgangs von den Inhalten des Erlebens auf das innere Gewahrsein gelenkt. Dadurch löst sich der Übende von seiner gewohnten Art der Wirklichkeitskonstruktion, von der Identifizierung mit ihren Interpretationen und Konzepten. Die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf das Gewahrsein führt zu einer Öffnung dem transpersonalen Bewusstseinsraum gegenüber und zu einer erfahrungsmäßigen Auslotung von Tiefendimensionen des Bewusstseins. Meditative Techniken zeichnen sich durch eine große Formenvielfalt aus. Die Vorgänge, die während der Meditationspraxis ablaufen, stellen daher keineswegs ein einheitliches Geschehen dar. Meditationsverfahren differieren einerseits in der Art der Aufmerksamkeitsausrichtung (auf ein Objekt fokussiert vs. nicht-fokussiert, offen, rezeptiv), andererseits in Bezug auf den verwendeten Meditationsgegenstand (Dynamik, sensorische Modalität
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und kognitive bzw. affektive Bedeutung) (Shapiro 1987). Trotz der Heterogenität der Verfahrensvorschriften, des theoretischen Hintergrunds und der Zielsetzung spiritueller Praktiken lässt sich die Zugangsmethodik zum transpersonalen Bewusstseinsraum auf einige wenige gemeinsame Elemente reduzieren (Goleman 1990). Die vorliegenden Systematisierungsansätze unterscheiden drei Klassifikationsdimensionen von Meditationspraktiken, wobei diese Einteilungen nicht absolut sind und sich teilweise überschneiden: kKonzentration vs. Rezeptivität Meditationsverfahren unterscheiden sich hinsichtlich der aufmerksamkeitspsychologischen Strategien, die im Rahmen ihrer Ausübung Anwendung finden. Bei konzentrativen Meditationspraktiken wird die Aufmerksamkeit auf einen inneren oder äußeren Brennpunkt gerichtet. Meditationsobjekte fungieren dabei als Zentrierungspunkte für die Wahrnehmung (zum Beispiel monotone Laute, Wortklänge, Gebete, paradoxe Sätze, Atemrhythmus, Herzschlag, natürliche Laute der Umgebung, geometrische Symbole). Durch die Zentrierung der Aufmerksamkeit auf einen Brennpunkt werden externe Reize gefiltert und Arousal-Reaktionen unterdrückt. Das Meditationsobjekt stellt einen diskriminativen Reiz zur Auslösung von Selbstversenkungsprozessen dar und ermöglicht die Kanalisierung der Aufmerksamkeit. Rezeptive Meditationsformen stehen in einem engeren Zusammenhang mit der alltäglichen Aktivität; sie beziehen Lebensvorgänge aktiv in die Entfaltung des Bewusstseins ein. Offenheit, Nicht-Reaktivität und kontinuierliches Gewahrsein äußeren bzw. inneren Reizen gegenüber charakterisieren die Aufmerksamkeitsstrategie bei dieser Meditationsart. Bei rezeptiven Techniken wird eine ungerichtete, frei flottierende und nicht an ein Objekt gebundene Aufmerksamkeit ohne Interferenz und Bewertung trainiert. Es werden hierbei Formen der distanzierten (Selbst-)Beobachtung im Vollzug täglicher Handlungsabläufe eingeübt (Boals 1978).
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
kPsycho- vs. Körperzentriertheit Die Einteilung in kognitive und somatisch orientierte Praktiken bezieht sich auf die Frage, ob während der Meditationspraxis die Aufmerksamkeit stärker auf kognitiv-mentale Objekte oder auf einen somatischen Fokus ausgerichtet wird (Washburn 1978). kAktivität vs. Passivität Eine dritte Hauptdimension, in welcher sich Meditationsverfahren unterscheiden lassen, ist das Aktivitäts-Passivitätskontinuum (Ornstein 1974). Im Allgemeinen überwiegen unter meditativen Techniken Verfahren, die eine passive Selbstregulation der Aufmerksamkeit erfordern und hypometabolische Bewusstseinszustände induzieren. In einigen Meditationstraditionen finden sich aber auch Methoden, die eine aktive Selbstregulation beinhalten und mit einer ergotropen Anregung verbunden sind (gelegentlich mit dem Ziel der Herbeiführung eines ekstatischen Zustands). Bei diesen Meditationsübungen stehen aktivierende Körperhaltungen, Bewegungsrituale oder Tanzformen im Mittelpunkt. z
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2. Modulations-Kompetenz
Spirituelle Erfahrungen treten in veränderten Bewusstseinszuständen auf, die sich in spezifischen psychophysiologischen und phänomenologischen Merkmalen vom normalen Wachbewusstseinszustand unterscheiden (Shapiro u. Walsh 1984). Dem spirituell Lernenden stellt sich zu Beginn der spirituellen Praxis vorrangig die Aufgabe, sich nach und nach auf erfahrungsmäßiger Ebene mit spirituellen Dimensionen vertraut zu machen. Bei aller Vielfalt der spirituellen Erfahrungen ist dennoch eine Konvergenz auf ein Erleben festzustellen, das anhand definierter Erlebniskategorien genauer gefasst werden kann. Aufgrund von kontinuierlicher meditativer Praxis entwickeln sich allmählich eine wachsende erfahrungsmäßige Vertrautheit mit spirituellen Dimensionen und die Fähigkeit, zwischen subtileren Bewussteinsebenen zu differenzieren. z
3. Integrations-Kompetenz
Spirituelle Praxis ist nicht Selbstzweck, sondern für den Übenden mit einem konkreten »Nutzen« in Form von anhaltenden positiven Veränderungen
im Erleben und Verhalten sowie bildungsrelevanten Effekten verbunden, d. h. im Alltag offenbaren sich die »Nutzenaspekte« von Spiritualität. Häufig genannte Auswirkungen spiritueller Praxis, die in erster Linie im Rahmen der empirischen Meditationsforschung untersucht worden sind, betreffen zum Beispiel: 5 die Steigerung von positiv gefärbten Emotionen und die Abnahme negativer Affekte, 5 eine deutlich reduzierte Zentrierung auf das Ich, 5 ein gesteigertes soziales Mitgefühl und ein Empathiezuwachs, 5 eine erhöhte Selbst- und Lebensbejahung, 5 eine verstärkte Sinnorientierung und 5 eine erhöhte psychische Resilienz und verbesserte Gesundheit (Bucher 2007). Im bildungsmäßigen Kontext haben empirische Studien als Folge von Meditationspraxis u. a. Veränderungen im Wahrnehmungsvermögen und Leistungsverhalten (z. B. Konzentrationsfähigkeit, kognitive Flexibilität, Lern- und Merkfähigkeit, Kreativität) nachgewiesen (Murphy u. Donovan 1997). Spiritualität ist ein wesentliches Element bewusster Lebensführung. Die persönlichen Erfahrungen und Überzeugungen in Bezug auf das, was einem Menschen wichtig ist, münden in eine entsprechende Lebensweise. Jedoch kann zwischen den spirituellen Erfahrungen bzw. Einsichten eines Menschen und seiner alltäglichen Lebensgestaltung auch eine mehr oder minder große Diskrepanz bestehen. Spirituellen Praktiken kommt somit die Funktion zu, die Verbindung zwischen der konkreten Lebensführung und dem spirituell erweiterten Sinnhorizont zu stärken. Spirituelle Praxis dient dazu, den Übenden zu befähigen, spirituelle Erfahrungen zu integrieren, d. h. sich auf verschiedenen Wirklichkeitsebenen zu bewegen und diese miteinander zu vernetzen. Dabei kann jedoch die Gefahr der Desintegration bestehen sowie einer Überhöhung der spirituellen Erfahrung selbst und einer damit verbundenen Abwertung des normalen alltäglichen Lebens (Huppertz 2009). Das primäre Ziel der Vermittlung spiritualitätsrelevanter Bildungsinhalte kann nicht allein darin liegen, dass Erwachsene rein formell spirituelle
16.4 • Professionalität – Qualifikationsanforderungen an spirituell Lehrende
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16
Techniken praktizieren; viel wichtiger ist es, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass spirituelle Aspekte in den konkreten Alltag der Übenden einfließen können. Die Integration spiritueller Erfahrungen und Erkenntnisse in den Lebensalltag geschieht auf zwei grundsätzlichen Wegen: 5 einerseits fließen die während der spirituellen Übungspraxis auftretenden Erlebnisse und Einsichten direkt in das alltägliche Denken, Fühlen und Verhalten ein, ohne dass sich der Betreffende dessen oftmals bewusst ist; die »Ergebnisse«, die als Folge der Meditationspraxis auftreten, können vom spirituell Übenden als Hinweis für die Integration spiritueller Elemente in seinen Lebensalltag gewertet werden; 5 andererseits besteht aber auch die Möglichkeit, dass spirituelle Erfahrungen und Erkenntnisse indirekt Einfluss auf das Erleben und Verhalten des spirituell Lernenden nehmen, indem sich dieser außerhalb des Meditationszustands reflexiv mit den aufgetretenen Erlebnissen und den gewonnenen Einsichten auseinandersetzt.
und sich diese immer wieder vergegenwärtigt, sie als Hintergrund aller Aktivitäten betrachtet, fördert den spirituellen Transfer und damit die Pluralität der Lebensweise. Transpersonale Lernprozesse lassen sich modellhaft in zusammengefasster Form auf drei aufeinander aufbauenden Stufen beschreiben: 5 Lernstufe 1: Auf dieser Ebene eignet sich der spirituell Lernende die Zugangs- und Modulationskompetenz an und die damit verbundenen wissens- und erfahrungsbasierten Fähigkeiten und Fertigkeiten. 5 Lernstufe 2 umfasst den Aufbau der Integrationskompetenz, die eine Metakompetenz darstellt und die Ausgangsbasis für die nächstfolgende Lernebene bildet. 5 Lernstufe 3: Die Synthese der drei spirituellen Grundkompetenzen mündet in den allmählichen Aufbau und die Stabilisierung einer spirituellen Grundhaltung, die durch spezifische Einstellungen und Überzeugungen charakterisiert ist.
Die Frage, wie sich ein sinnvoller Transfer spiritueller Erlebnisse und Einsichten im Rahmen der spirituellen Bildungsarbeit unterstützen lässt, ist bislang jedoch noch nicht zufriedenstellend zu beantworten. Huppertz (2009) nennt zur Lösung dieser Problematik u. a. zwei prinzipielle Strategien, wobei er davon ausgeht, dass die Lebensgestaltung der vielfältigste Kontext ist, in dem sich Spiritualität ausdrücken kann:
16.4
z
1. Bewusste Umgestaltung des Alltags
Mit zunehmender Übungspraxis ist es eher möglich, auf ritualisierte Bedingungen für spirituelle Erfahrungen zu verzichten. Dies setzt voraus, dass die Lebensgestaltung in der Weise modifiziert wird, dass das Auftreten spiritueller Erfahrungen erleichtert wird, indem zum Beispiel Rückzugszonen geschaffen werden und das Lebenstempo entschleunigt wird. z
2. Spirituelles Bewusstsein als integraler Lebenshintergrund
Eine Lebensführung, die die spirituelle Dimension als integralen Bestandteil des Lebens akzeptiert
Professionalität – Qualifikationsanforderungen an spirituell Lehrende
Die Kompetenz spirituell Lehrender, ihre persönliche Haltung und Ausstrahlung sind nicht messbar; dennoch gibt es eine Reihe von Kriterien, anhand derer ihre Professionalität beurteilt werden kann. »Lehre überzeugt (…) nur dann, wenn in das didaktische Handeln der Lehrenden ihr eigenes lebendiges Wissen eingeht, jener eigentümliche Zusammenhang von grundsätzlichen Kenntnissen, Fertigkeiten, Haltungen, Erfahrungen und persönlichen Einsichten, der in ganz unterschiedlichen Kontexten lebenslang erworben, im Subjekt zur Gänze mit Emotionen verknüpft ist, sich ständig als Prozess verändert, aber nicht auf Dritte übertragbar ist.« (Meueler 2009, S. 975). Spirituelle Professionalität von Lehrenden, die Erwachsenen im Kontext von Bildung in Theorie und Praxis den Zugang zum Themenfeld Spiritualität ermöglichen, setzt Qualifikationen in folgenden drei Bereichen voraus:
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
5 Spiritualitätsbezogenes Grundlagenwissen in Bezug auf theoretische und praxisrelevante Aspekte, 5 methodisch-didaktische und sozial-kommunikative Kompetenzen sowie 5 personale Bedingungen. kWissen Spirituell kompetente Erwachsenenbildner, die Bildungsteilnehmer dabei anleiten und unterstützen, spirituelle Kompetenzen aufzubauen, benötigen neben einem grundlegenden theoretischen Wissen über Spiritualität, ihre Erscheinungsformen, ihr Wesen und ihre kulturelle Bedeutung auch fundierte praxisorientierte, anwendungsbezogene Kenntnisse und Erfahrungen in Bezug auf einzelne spirituelle Praktiken unterschiedlicher Traditionen. Im Einzelfall ist es notwendig zu klären, welche Verfahren für welche Bildungsteilnehmer in besonderer Weise geeignet sind. kKompetenzen Ein zweiter Kompetenzbereich, der für den Aufbau von spiritueller Lehrkompetenz grundlegend ist, betrifft methodisch-didaktische Qualifikationen. Diese umfassen einerseits die Kenntnis zentraler didaktischer Ansätze in der Erwachsenenbildung und andererseits sozial-kommunikative Kompetenzen wie Dialogfähigkeit, Sensibilität, Aufgeschlossenheit und Empathie.
16
kPersonale Qualifikationen Zu den personalen Bedingungen, die spirituell Lehrende zu erfüllen haben, zählt die spirituelle Verankerung der eigenen Person und der Aufbau einer damit verbundenen existenziellen Grundhaltung. Der spirituell kompetente Professionelle sollte über ein hohes Maß an introspektiver Sensibilität und fundiertes spirituelles Erfahrungswissen verfügen sowie selbst darin geübt sein, mittels verschiedener spiritueller Praktiken einen erfahrungsmäßigen Zugang zur spirituellen Dimension aufzubauen. Eine weitere Aufgabe des spirituell Lehrenden liegt darin, die Bildungsteilnehmer bei der Förderung spiritueller Ressourcen und der Entwicklung von Potenzialen anzuleiten, zu unterstützen und zu begleiten. Diese Aufgabe erfordert eine Reihe von
personalen Qualifikationen, die in Wechselwirkung zueinander stehen (Hundt 2007): 1. Spirituelle Bewusstheit Spirituelle Bewusstheit basiert auf einem reflektierten Menschen- und Weltbild und einer Klarheit darüber, welche Annahmen und Überzeugungen das eigene spirituelle Denken und Handeln leiten. Spirituelle Bewusstheit ist mit einer erweiterten Wahrnehmung verbunden und ermöglicht es dem spirituellen Bildungsexperten in seinem Handeln in erfahrungsmäßigem Kontakt zu einer überindividuellen Wirklichkeit zu stehen, diese als Teil seiner Lebenswelt zu verstehen und in der Lage zu sein, alltägliche Geschehnisse in einen erweiterten Kontext einzuordnen. 2. Authentizität Der Aufbau einer offenen und ethisch-spirituellen Einstellung erfordert beständige Selbsterforschung und Reflexion verbunden mit der Akzeptanz eigener Grenzen. Die Bereitschaft, sich selbst immer wieder zu hinterfragen sowie Vergänglichkeit und Tod zu akzeptieren, schafft die Grundlage für eine größere Authentizität im Umgang mit der eigenen Spiritualität. Hierbei geht es in erster Linie darum, spirituelle Praktiken zu beherrschen und das eigene Leben an spiritualitätsrelevanten Werten wie Mitgefühl, Wahrhaftigkeit, Selbstlosigkeit, Respekt, Zuwendung und dgl. zu orientieren. 3. Mehrperspektivität und integrale Sichtweise Ein wesentliches Merkmal von Spiritualität ist die Mehrperspektivität. Die Einbeziehung spiritueller Dimensionen kann zu einer Überwindung von Abgrenzung und geistiger Enge beitragen, zu einer Erweiterung des eigenen Blickwinkels und zu größerer Flexibilität. Spirituelle Praxis fördert somit den Perspektivenwechsel zwischen personalen und spirituellen Bewusstseinsebenen. 4. Weltanschaulich-konzeptuelle Neutralität Die Berücksichtigung transkultureller Aspekte und eine auf Toleranz basierende Herangehensweise an spirituelle Konzepte und Praktiken tragen dazu bei, auf Seiten des spirituell Lehrenden dogmatische, belehrende und manipulative Verhaltensweisen zu verhindern. Respekt gegenüber unterschiedlichen
16.5 • Vermittlungs- und aneignungsdidaktische Aspekte von Spiritualität
Weltanschauungen und Spiritualitätskonzepten erfordert in Anbetracht der heutigen Globalisierungstendenzen und einem damit verbundenen vermehrten Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen eine fundierte Kenntnis der Grundkonzepte der wichtigsten spirituellen Traditionen. 5. Achtsamkeit Die ungehinderte, ungeteilte Wahrnehmung gegenwärtigen Erlebens, d. h. Achtsamkeit und Gewahrsein, ist ein integraler Bestandteil der meisten spirituellen Praktiken. Eine Haltung von Absichtslosigkeit und Gegenwartsbezogenheit erleichtert dem spirituell Lehrenden den Zugang zu transpersonalen Bewusstseinsebenen und ein empathisches Verständnis für die spirituellen Erfahrungen bzw. Lernprozesse von spirituell Übenden. Arnold und Pätzold (2008) führen in Bezug auf die Qualifikationsvoraussetzungen und Professionalisierung von Erwachsenenbildnern drei grundlegende Kompetenzarten auf: die Diagnose-, Ermöglichungs- und Einbindungskompetenz, die auch für die spirituelle Bildungsarbeit relevant sind: 5 die Diagnosekompetenz bezieht sich u. a. vor allem auf die Analyse des spirituellen Bildungsbedarfs und die Zielsetzung, die der jeweilige spirituell Lernende verfolgt; 5 zu der Ermöglichungskompetenz zählen Fähigkeiten des Lehrenden als Arrangeur für den adäquaten Bildungsrahmen zu sorgen und in Kategorien der Selbstqualifikation der Teilnehmer spiritueller Bildungsveranstaltungen zu denken und handeln; 5 unter Einbindungskompetenz sind Fähigkeiten wie prozessorientiertes Denken und Transfermanagement zu verstehen.
16.5
Vermittlungs- und aneignungsdidaktische Aspekte von Spiritualität
Bislang hat sich die Erwachsenenbildung im Rahmen der spirituellen Bildungsarbeit nur in Ansätzen mit didaktischen Fragen der Organisation und Zielsetzung von spirituellen Lehr- und Lern-
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prozessen, methodischen Vorgehensweisen und Lernarrangements auseinander gesetzt. Während die traditionelle Didaktik an einer Vereinheitlichung interessiert war, an möglichst homogenen Zielgruppen mit ähnlichen Lernvoraussetzungen und Lernergebnissen, erscheint es im Zusammenhang mit der Vermittlung und Aneignung von Spiritualität vielversprechend, auf neuere didaktische Ansätze zurückzugreifen: Die konstruktivistische Didaktik (Siebert 2009), die Ermöglichungsdidaktik (Arnold u. Gomez Tutor 2007) und die Subjektive Didaktik (Kösel 1997), die in den letzten Jahren verstärkt Eingang in die Erwachsenenbildung gefunden haben, gehen davon aus, dass Erwachsene autonome Lernende sind, die über individuelle biografische Lerngeschichten und unterschiedliche Lebenserfahrungen verfügen, die sowohl bei der Vermittlung als auch der Aneignung spiritueller Inhalte zu berücksichtigen sind. Eine reine Vermittlungs- und Belehrungsdidaktik kann den spirituellen Bildungsbedürfnissen Erwachsener nicht gerecht werden, da sie deren Subjektivität und Strukturdeterminiertheit in nur unzureichendem Maße Rechnung trägt. Die Förderung der Subjektivität stellt ein Kernelement spirituell fundierter Bildungsüberlegungen dar. Spirituelle subjektorientierte Bildung rückt den gesamten Menschen in den Fokus und geht von der Annahme aus, dass Bildung im Wesentlichen »Selbstbildung« ist, d. h. von außen kommende Impulse und Angebote können lediglich die im Lernenden selbst stattfindenden Bildungsprozesse anregen. Aus dieser Perspektive betrachtet umfasst spirituelle Bildung eine selbst verantwortete und selbst gestaltete Klärung der Beziehung zur eigenen Person, zur Mit- und Umwelt sowie zu einer überindividuellen Wirklichkeit. Konstruktivistische Konzepte gehen von der These aus, dass Wirklichkeit weder erkannt noch gedeutet werden kann, sondern eigens konstruiert und gleichsam erfunden wird. Aus dieser Sicht ist Erkennen nicht zu verstehen als eine »Repräsentation der ‚Welt da draußen’ (…), sondern als ein andauerndes Hervorbringen einer Welt durch den Prozeß des Lebens selbst.« (Maturana u. Varela 1987, S. 7). Die Vorstellung einer autopoietischen Konstruktion der Wirklichkeit ist weit von absoluter Objektivität entfernt, denn sie betrachtet
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
Bildung im Zusammenhang mit der persönlichen Biografie und dem individuellen Handeln. Der Konstruktivismus verzichtet auf Aussagen über das Wesen der Wirklichkeit. Individuen nehmen die Realität unterschiedlich wahr, da Wahrnehmung ein Konstrukt des menschlichen Geistes ist. Daraus lässt sich schließen, dass der Selbstbezug sowie das reflexive Wissen über Wahrnehmungen, Erfahrungen, Kognitionen und Deutungen für die (spirituelle) Bildung von zentraler Bedeutung ist (Arnold u. Siebert 2003). Eine konstruktivistisch orientierte Didaktik ermöglicht Prozesse der selbsttätigen und selbstständigen erfahrungsmäßigen Erschließung der spirituellen Dimension. Diese didaktische Konzeption hebt die Relativierung von Wahrheit und Wissen hervor, berücksichtigt die individuellen Wissensund Lernvoraussetzungen und geht davon aus, dass Vorgaben die Lernprozesse eher behindern, wenn sich die Inhalte nicht an den Voraussetzungen und Bedürfnissen der Bildungsteilnehmer orientieren (Reich 2008). Lehrende sind aus konstruktivistischer Perspektive nicht in der Lage, einen Lernprozess von außen zu erzeugen, sondern lediglich imstande, die geeigneten Rahmenbedingungen für innere Lernprozesse zu schaffen. Spirituelle Bildungsinhalte sind daher nicht im herkömmlichen Sinne vermittelbar, können jedoch vom Lehrenden, der als sachkompetenter, beratender Begleiter fungiert, ermöglicht bzw. unterstützt werden. Lehr- und Lernprozesse im spirituellen Kontext sind aufgrund der Vielzahl von Einflussfaktoren nicht linear-kausal planbar. Kösel (1997) plädiert in seiner »Subjektiven Didaktik« für eine »Modellierung von Lernwelten«, in der die Vielfalt der Ansprüche der Lernenden Berücksichtigung findet. Dabei wird davon ausgegangen, dass jeder Mensch ein in sich geschlossenes einmaliges System mit einer eigenen Bewusstseins- und Verhaltensstruktur darstellt. Die mangelnde Steuerbarkeit und die Unverfügbarkeit spiritueller Lehr- und Lernprozesse betrachten Boschki u. Woppowa (2006, S. 76) als das größte Hindernis, das einer Didaktisierung von Spiritualität entgegensteht: »Spirituelle Lernprozesse sind wie Bildungsprozesse (…) dialektisch anzulegen, denn didaktisch geplante subjektorientierte Zugänge und Gestaltungsprozesse sind hierbei ebenso notwendig wie die objektive Unver-
fügbarkeit dieser Lernwege anzuerkennen.« Spirituelles bzw. Transpersonales Lernen umfasst keine festgelegten Inhalte, sondern ist subjekt- und erfahrungsbezogen. Nicht die abstrakt-theoretische Wissensvermittlung steht hierbei im Vordergrund, sondern die kontinuierliche erfahrungsorientierte spirituelle Praxis. Die Variationsbreite spiritueller Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse ist allerdings intra- und interindividuell so groß, dass sich diese nicht in ein vorgegebenes und fest umrissenes Kategoriensystem einordnen lassen. Spirituelle Erfahrungen können demnach nur eingeschränkt in didaktischen Kategorien erfasst, jedoch nicht planmäßig gesteuert werden, da sie primär der Selbststeuerung der spirituell Lernenden unterliegen. Bitter (2004, S.158) charakterisiert »Spiritualitätsdidaktik« als »Reflexion, Orientierung und Begleitung spiritualitätsförderlicher Lernprozesse.« Nach Siebert (2009) eignen sich Erwachsene Lerninhalte effektiv an, wenn diese sowohl (handlungs-)relevant als auch viabel sind. Wenn Bildungsinhalte für die individuelle Lebensgestaltung sinnvoll und hilfreich erscheinen, sie über einen gewissen Neuigkeitswert verfügen sowie anschlussfähig sind, d. h. in ein kognitives System integrierbar, erhöht dies die Wahrscheinlichkeit, dass Lerninhalte adaptiert werden. Für die spirituelle Erwachsenenbildung ist die Erkenntnis zentral, dass Individuen relativ autonom und selbstreferentiell denken und erfahren, sich eigene Sinnsysteme bilden und konstruieren, um auf dieser Grundlage ihre Handlungsweisen aufzubauen. Die didaktische Qualität der spirituellen Bildungsarbeit erweist sich damit wesentlich in ihrer Handlungs- und Praxisrelevanz, d. h. darin, welchen »Verwendungswert« spirituelle Angebote für den konkreten Lebensalltag haben. Die spirituell orientierte Erwachsenenbildung zielt aus handlungsrelevanter Perspektive einerseits auf den allmählichen Erwerb von spirituellen Kompetenzen, andererseits auf psychohygienische und sozialemotionale Stabilisierung und Neuorientierung. Die spirituelle Bildung hat die heterogenen Ausgangsbedingungen der Adressaten in Bezug auf deren spirituelle Sozialisation und Praxis zu berücksichtigen. Pluralitätsfähigkeit ist daher eine wesentliche Anforderung an die spirituelle Erwachsenenbildung, d. h. sie muss angesichts vielfältiger
209
16.6 • Qualität spiritueller Bildungsangebote
Weltanschauungen und Lebensstile offen sein für die unterschiedlichen Formen, in denen Individuen suchen, denken, fühlen, erfahren und glauben. Jede Person hat ihre eigene Struktur, Lebens- und Lerngeschichte und daher auch individuelle Fähigkeiten, Fertigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten (Kösel 1997). Zielgruppenarbeit und Teilnehmerorientierung sind zwei weitere wesentliche didaktische und handlungsleitende Prinzipien für die spirituelle Bildungsarbeit. Im Mittelpunkt steht hierbei die Frage nach der Passung von spirituellen Bildungsangeboten (spirituelle Praxis) und der Bewusstseinsstruktur bzw. des Persönlichkeitstyps des Teilnehmers. Auf Seiten der Adressaten ist eine Reihe von individuellen Merkmalen zu berücksichtigen wie zum Beispiel Alter, Gender, Bildungsniveau, Gesundheitszustand, Persönlichkeitsstruktur, Lebenserfahrungen, Ethnie-, Milieu- und Kohortenzugehörigkeit, Lerntyp, Spiritualitätsstil und spiritueller Erfahrungshintergrund (Ruhland 2008b). Dies erfordert differentielle methodisch-didaktische Ansätze, die eine mehrdimensionale Annäherung an das Themenfeld Spiritualität voraussetzen, d. h. die Einbeziehung von körperbezogenen, kognitiven, affektiven, pragmatischen, kommunikativen und erfahrungsmäßigen Aspekten sowie die Berücksichtigung von philosophisch, psychologisch, lebenspraktisch, naturreligiös und religiös motivierten Formen von Spiritualität. Ein didaktisches Konzept, das die Befähigung zur Innenschau und Selbsterkenntnis fördert, ist die Metakognition (Siebert 2009). Mittels Metakognition nimmt der spirituell Übende durch achtsame Selbstbeobachtung innere Prozesse bewusster wahr und steuert transpersonale Lernvorgänge auf selbstreflexiver Basis. Als Folge davon gelingt es ihm allmählich, diese metakognitiv gewonnenen Erkenntnisse in seinen Lebensalltag zu integrieren und den erfahrungsmäßigen Zugang zum transpersonalen Bewusstseinsraum bewusster zu gestalten und ihn zu intensivieren. Spirituelles bzw. Transpersonales Lernen beruht wesentlich auf metakognitiven Prinzipien, d. h. auf einem allmählichen Prozess der Auflösung von Identifizierungen mit mentalen Inhalten wie Gedanken, Gefühlen und Bildern. Mit dieser fortschreitenden Desidentifizierung von Ich-Konzep-
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ten geht eine positive Distanzierung der eigenen Person und dem Leben gegenüber einher; der Betreffende ist zunehmend in der Lage, eine neutrale Beobachterrolle ohne Identifizierung einzunehmen, sich selbst und sein Leben unvoreingenommen, unpersönlich und von außen (objektiv), jedoch wertschätzend zu betrachten (Assagioli 1993). Dieser metakognitive Prozess der Ich-Transzendierung resultiert aus der Befreiung von einschränkenden Gedanken- und Verhaltensmustern und führt in einen Bewusstseinszustand ohne ausschließende Identifikation, in dem das »höhere Selbst« als Zentrum der Wahrnehmung erfahren wird. Transpersonales Lernen umfasst somit einen selbst gesteuerten, aktiven Prozess, in dessen Verlauf sich der Übende – allein oder mit Unterstützung durch einen Lehrenden – mittels einer spirituellen Praxis einen erfahrungsmäßigen Zugang zum transpersonalen Bewusstseinsraum aneignet sowie die dabei angewandte spirituelle Methodik und die Erfahrungen bzw. Einsichten einer anschließenden Reflexion unterzieht. So gesehen beinhaltet Transpersonales Lernen in erster Linie selbst bestimmte Lernvorgänge, bei denen dem spirituell Lehrenden die primäre Funktion eines Lernermöglichers zukommt.
16.6
Qualität spiritueller Bildungsangebote
In Bezug auf die Vermittlung spiritueller Bildungsinhalte ist eine Verständigung über einheitliche Standards – zumindest derzeit – kaum möglich, aber dennoch notwendig, da Fragen der Qualität in der spirituell orientierten Erwachsenenbildung bislang kaum erörtert worden sind. Eine Qualitätsdebatte zu führen erscheint umso wichtiger, als gerade der »spirituelle Bildungsmarkt« durch eine kaum zu überblickende Angebotsvielfalt mit sehr divergierender Qualität gekennzeichnet ist und die in diesem Bereich Tätigen über sehr unterschiedliche Grade an Professionalität verfügen. Für die Qualität sind in der Erwachsenenbildung vier »Erfolgsfaktoren« ausschlaggebend (Arnold 1997): 5 Legitimation der Bildungsarbeit, 5 Teilnehmendenzufriedenheit,
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Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
5 Lernerfolg und 5 Transfererfolg/individueller Nutzen. Hohe Qualität ist dann gegeben, wenn in Bildungsveranstaltungen in Bezug auf diese vier Erfolgsarten kriterienorientiert positive Einschätzungen und Ergebnisse erhoben werden können. Spirituelle Bildung erfordert eine Didaktik der Selbstorganisation, die ihre Lernangebote als Lernarrangements gestaltet, die erschließungs- und erfahrungsorientiert aufbereitet werden und die die Eigentätigkeit der Lernenden aktivieren. Die Qualität in der Erwachsenenbildung zeigt sich dabei nicht nur im »Endergebnis« (Zufriedenheit der Bildungsteilnehmer, Lern- und Transfererfolg), sondern bereits in der didaktischen Gestaltung des Aneignungsprozesses, d. h. wie methodisch-systematisch spirituell Lernenden die Zugangs-Kompetenz zum transpersonalen Bewusstseinsraum ermöglicht wird. Im Hinblick auf die didaktische Evaluierung von Bildungsangeboten lassen sich drei Qualitätskategorien unterscheiden (Arnold 1997): 1. Input-Qualität, die sich auf die theoretische Konzeption, die Planung und die Form des jeweiligen Bildungsangebots bezieht. 2. Durchführungs-Qualität, die infrastrukturelle Aspekte und Gesichtspunkte wie Professionalität und Didaktik umfasst. 3. Output-Qualität, die die Zufriedenheit der Bildungsteilnehmer und die persönlichkeitsbildenden Auswirkungen der jeweiligen Bildungsmaßnahme berücksichtigt.
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Mit Blick auf die momentanen Angebote der spirituellen Erwachsenenbildung kann festgestellt werden, dass das Qualitätsverständnis insbesondere auf Durchführungsaspekte der jeweiligen Bildungsveranstaltung gerichtet ist, während Inputaspekte (Angebotsstruktur etc.) und outputbezogene Elemente eine eher untergeordnete Rolle spielen. Dies weist auf die Notwendigkeit hin, das Augenmerk in der zukünftigen spirituellen Bildung in stärkerem Maße auf die konzeptionelle Fundierung von spirituellen Bildungsangeboten zu richten und darüber hinaus den »Nutzen« spiritueller Bildungskonzepte einer eingehenden Evaluierung und empirischen Überprüfung zu unterziehen.
16.7
Ansatzpunkte für die Konzipierung eines modularisierten »SpiritualitätsCurriculums«
Die Auseinandersetzung mit spirituellen Aspekten in Theorie und Praxis kann im Kontext von Erwachsenenbildung aus unterschiedlichen Perspektiven erfolgen. Um den vielfältigen Facetten von Spiritualität und deren Alltagsrelevanz gerecht zu werden, erscheint es aus konzeptioneller Sicht sinnvoll, ein Raster von spirituellen Teilkompetenzen zu entwickeln, das das Themenfeld »Spiritualität« in eine Reihe von theoretisch begründbaren, erfahrungszentrierten und lebenspraktischen Modulen unterteilt, die in enger Wechselbeziehung zueinander stehen und sich größtenteils gegenseitig bedingen. Jedes dieser Module ist mit der Zielsetzung verbunden, Lerneffekte 5 auf kognitiver Ebene (Aneignung von spiritualitätsbezogenem Wissen), 5 auf pragmatischer Ebene (Aufbau spiritueller Kompetenzen) und 5 auf affektiver Ebene (Entwicklung und Stabilisierung einer spirituellen Grund- und Lebenshaltung) auszulösen und umfasst jeweils vier Grundbausteine: 1. Vermittlung von theoretischem Hintergrundwissen, das die Bedeutung und die »Nutzungsmöglichkeiten« von Spiritualität für den jeweiligen curricularen Themenschwerpunkt verdeutlicht. 2. Methodisch-didaktische Anleitung zur konkreten spirituellen Praxis, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Themenmodul und persönlich-individuellen Merkmalen des spirituell Lernenden unterschiedliche Formen annehmen kann. 3. Praktische Einübung der jeweiligen spezifischen spirituellen Methode im Rahmen von Einzel- oder Gruppenunterweisungen. 4. Reflexion spiritueller Erfahrungen und Transferhilfen, um die gewonnenen Erkenntnisse in den Alltag zu integrieren und für diesen nutzbar zu machen.
211
16.8 • Fazit
Achtsamkeit
Dankbarkeit
Sinnorientierung
Vergebung
Coping
Ganzheitliche Gesundheit
Geborgenheit und Vertrauen
Ethischmoralische Grundhaltung
Hoffnung und Zuversicht
Mitgefühl
Verbundenheit
Gelassenheit
Zufriedenheit
Weisheit
Lebenskunst
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. Abb. 16.1 Curriculare Module spiritueller Bildungsarbeit für unterschiedliche Zielgruppen
Aus den vorliegenden Erkenntnissen der Spiritualitätsforschung (Bucher 2007), der Transpersonalen Psychologie (Walch 2003), der Meditationsforschung (Murphy u. Donovan 1997) und der Positiven Psychologie (Auhagen 2004; Snyder u. Lopez 2002) lässt sich eine Reihe von Grunddimensionen der Spiritualität ableiten, die in Form von theoretischen und praxisorientierten Modulen in spirituelle Bildungsangebote integriert werden können. O.a. Raster von insgesamt 15 spiritualitätsbasierten Teilkompetenzen (vgl. . Abb. 16.1) stellt die Basis für die Entwicklung des hier vorgeschlagenen »Spiritualitäts-Curriculums« dar. Mit diesen Modulen wird einerseits die Zielsetzung verfolgt, Bildungsteilnehmer beim Aufbau einer spirituellen Grundhaltung zu unterstützen und andererseits unterschiedliche praktische Ansatzpunkte aufzuzeigen, wie sich die spirituelle Entwicklung ganzheitlich fördern und der Faktor Spiritualität für den beruflichen und privaten Alltag »nutzen« lässt. Die inhaltlich-modulare Schwerpunktsetzung ist dabei abhängig von der jeweiligen Adressatengruppe und deren »Verwendungsinteresse« bzw. Zielsetzung (zum Beispiel Studenten, Ärzte, Psychologen, Theologen, Pädagogen, Erwachsenenbildner, Pflegepersonal oder andere Bildungsteilnehmer). Die inhaltliche Ausarbeitung der theoretischen und praxisorientierten Grundlagen der exemplarisch
aufgeführten curricularen Module stellt eine herausfordernde Aufgabe für die zukünftige spirituelle Erwachsenenbildung dar.
16.8
Fazit
Aus den grundsätzlichen Reflexionen zur Lehrund Lernbarkeit von Spiritualität lassen sich abschließend folgende Kennzeichen und Prinzipien einer Didaktik der Spiritualität zusammenfassend festhalten: 5 Spirituell Lernende sind Subjekte ihres Lernens, spirituell Lehrende fungieren als Lernermöglicher, -berater, -partner und -begleiter. 5 Die Autonomie und Individualität des Einzelnen stehen bei spiritualitätsdidaktischen Überlegungen im Vordergrund. 5 In der individuellen spirituellen Entwicklung spielen Selbstverantwortung, Selbstreflexion und Selbstwirksamkeit eine zentrale Rolle. 5 Kommunikation über spirituelle Inhalte bei gegenseitiger Unterstützung in einem geschützten Erfahrungs- und Lernraum bildet die Grundlage für den professionellen Aufbau einer »spirituellen Gesprächskultur«. 5 Spirituelle Bildung geschieht vorrangig auf einer metastuflichen und metakognitiven Ebe-
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5 5 5 5
5
5 5
Kapitel 16 • Spirituelle Bildungsarbeit – Reflexionen zur Lehr- und Lernbarkeit von Spiritualität
ne; sie erfolgt im Wechselspiel von Aneignung, Übung und Erfahrung. Spirituelle Lehr- und Lernprozesse sind selbstreferentiell, nur bedingt planbar, verlaufen zirkulär und haben rekursiven Charakter. Spirituelle Bildungsinhalte sind nicht in normative Lehr- und Lernverfahren integrierbar. Linear-kausales Denken wird in transpersonalen Lernprozessen überwunden zugunsten von Erfahrungen der Nondualität. Spiritualitätsrelevantes theoretisches und praxisorientiertes Wissen kann auf kognitivrationaler Ebene in Form von theoretischem Hintergrundwissen und der Erläuterung von praktischen Verfahrens- und Handlungsvorschriften vermittelt werden. Die Zugangsmethodik zur spirituellen Dimension ist vermittelbar und hat individualspezifische (differentielle) Merkmale zu berücksichtigen. Elemente der Gestaltung und alltagsbezogenen Umsetzung von Spiritualität sind gezielten Lernprozessen grundsätzlich zugänglich. Die Vermittlung und Aneignung spiritueller Praxis sowie von spiritualitätsbezogenem Wissen erfordern in der Erwachsenenbildung den Aufbau einer Lehr- und Lernkultur mit subjektorientierten, konstruktivistischen und systemischen Elementen.
Literatur
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213
16
215
Spiritualität als Ressource in der Altersarbeit – ein intergeneratives Seminarkonzept Karin Wilkening
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216
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Kapitel 17 • Spiritualität als Ressource in der Altersarbeit – ein intergeneratives Seminarkonzept
Der nachfolgende Text ist die Zusammenfassung einer zweitägigen Seminardurchführung der Autorin zum Thema »Spiritualität« als explizite Unterrichtseinheit für Studierende der Sozialen Arbeit an einer staatlichen Fachhochschule. Auslöser für dieses Lehrangebot war eine vorausgegangene intensive Beschäftigung mit der amerikanischen Forschungslandschaft zu Spiritualität und Gesundheit und dort speziell zu »Spiritualität am Lebensende« in einem Forschungssemester, die neben Publikationen (vgl. Wilkening 2007) und Kongressaktivitäten sowie in Vorträgen bei Alterseinrichtungen und Hospizgruppen zu aktuellen spirituelle Praxisfragen einmündete. Zusammen mit dem persönlichen und fachlichen Erfahrungshintergrund langjähriger Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Hochschule mit den Schwerpunkten Soziale Gerontologie, Sozialethische Fragen, Demenz und palliative Versorgungskontexte sowie Aktivitäten in der kirchlichen Erwachsenenbildung (vgl. Wilkening 1999) ergaben sich neue curriculare Anfragen, die – mit vielen implizit spirituellen Sinnfragen aus der praktischen Hospizarbeit – Ausgangspunkt der vorliegenden Konzeption waren. Die nachstehende Beschreibung soll kein Seminarfahrplan sein oder einen Modulleitfaden ersetzen, sondern ist eher als kollegiale Ermunterung gedacht, sich spirituellen Themen mit neuer Offenheit anzunehmen und in den erwähnten Quellen selbst weitere Unterrichtsanregungen zu finden. Es ist kein Seminar, in dem konkrete, praktischspirituelle Erfahrungen (wie z. B. Achtsamkeitsübungen oder Meditationen) angeleitet werden. Es geht eher um ein quasi vorgeschaltetes Angebot für »spirituelle Novizen«, die sich (a) langsam mit der »Ressource Spiritualität« und dazugehörigem Hintergrundwissen vertraut machen, (b) in Beschäftigung mit autobiografischen Daten erste Selbstreflexionen zu ihrer spirituell-religiösen Sozialisation anstellen, (c) allmählich eine »spirituelle Gesprächskultur« (vgl. Kruse 2005) untereinander vertrauensvoll aufbauen und letztlich daraus abgeleitet (d) erste alltagsbezogene Umsetzungen von spirituellen Gestaltungselementen hieraus für ihre berufliche Tätigkeit ableiten können. Die folgende Darstellung in Form von 2 Hauptmodulen strukturiert mit einzelnen Teilmodulschritten und Impulspapieren den Seminarablauf
und macht ihn in groben Zügen nachvollziehbar. Hierbei wird zunächst (1) auf die intendierten Lernziele und die Zielgruppe eingegangen, dann (2) auf die äußeren Rahmenbedingungen und (3) das Methodenrepertoire sowie die Hauptanregungsquellen, bevor schließlich (4) der Seminarablauf beschrieben und (5) durch ein Fazit für curriculare Weiterarbeit abgeschlossen wird.
17.1
Lernzieldefinition, Zielgruppe und Modulstruktur
Hauptziel des gesamten Kurses war die Sensibilisierung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer (a) in Modul 1 für eigene spirituelle und religiöse Erfahrungen als Grundlage (b) des Moduls 2 für eine verbesserte Wahrnehmung spiritueller Bedürfnisse und passender Angebote im beruflichen Umfeld der Arbeit mit alten und kranken Menschen. Als Zielgruppe des beschriebenen Seminars wurden Studierende und Berufspraktikanten der Sozialen Arbeit an der FH Braunschweig/Wolfenbüttel sowie freiwillige Hospizhelferinnen aus der Region Braunschweig gewählt, da in dieser Mischung einerseits theoriegeleitetes Interesse, aber auch praktische Erfahrungen im Umgang mit Menschen in existentiellen Krisen zu erwarten war, anderseits explizit spirituelle Interpretationen in diesem Kontext bisher jedoch kaum erfolgt waren. Auch hatten die beiden Kursleiter mit diesen Zielgruppen im intergenerativen Kontext langjährig gemeinsame Seminarerfahrung (vgl. Wilkening u. Domdey 1990), was eine gute Einschätzung geeigneter Methoden und Materialien ermöglichte. Der Vergleich eines kurzen Fragebogens zur Einschätzung eigener Religiosität/Spiritualität zu Seminarbeginn mit einer identischen Abschlussbefragung sollte die Hypothese der Seminarleitung überprüfen, dass der Kurs die Teilnehmenden »spiritueller« macht, sowie eine erste Einschätzung ihres Ausgangspunkts ermöglichen. z
Modul 1: Spiritualität als biografische Ressource – Definitionen, Alltagspraxis und religiöse Autobiografie
(9 UE – Teilziel 1.3. bevorzugt eingebettet in musikalische Darbietung)
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17.3 • Methoden und Material
5 Teilziel 1.1.: Definition und Abgrenzung von Spiritualität und Religiosität (3 UE) 5 Teilziel 1.2.: Erkennen eigener Spiritualität im Alltag (3 UE) (Alltagsrituale, Wertorientierungen, Gefäße und Zugangswege) 5 Teilziel 1.3.: Wissen um Kraftquellen und Barrieren religiöser Autobiografie (3 UE) z
Modul 2: Spiritualität und Alter – Wahrnehmung, Aufgaben und Angebote
(8 UE à 45 min.) 5 Teilziel 2.1.: Kenntnis von Gottesbildern und Glaubensinhalte der Zielgruppe Alter (2 UE) 5 Teilziel 2.2.: Spiritualität im Alter – Modelle und Aufgaben reflektieren können (2 UE) 5 Teilziel 2.3.: Kenntnis der Erfassungsmöglichkeiten von Spiritualität (1 UE) 5 Teilziel 2.4.: Spirituelle Angebote – Definieren, Entwickeln und Umsetzungsbarrieren erkennen können (2 UE) 5 Teilziel 2.5.: Wahrnehmung eigener und institutioneller spiritueller Entwicklungsmöglichkeiten (1UE) Der Ausschreibungstext des Seminars lautete: »Die Einbeziehung und Beachtung individueller Spiritualität (als weitergehendes Konzept von Religiosität) wird derzeit als wichtige Dimension menschlichen Wohlbefindens mit Raum für grundlegende existentielle Sinnfragen insbesondere am Lebensende für alle helfenden und heilenden Berufe und damit auch die Soziale Arbeit definiert und weltweit konzeptionell weiterentwickelt. Um spirituelle Dimensionen bei Klienten zu erkennen und erfassen zu können sowie angemessene Praxisangebote zu konzipieren, müssen auch eigene Dimensionen von Spiritualität angesehen werden. Ein intergenerativer Kontext in bewährter gleichzeitiger Teilnahme von älteren Menschen und Studierenden der Sozialarbeit, die Kombination einer psychologisch-theologischen Kursleitung sowie die Räumlichkeiten eines Klosters schaffen gute Rahmenbedingungen, sich diesen existentiellen und persönlichen Fragen mit Selbsterfahrungen sowie Informationsanteilen und Praxisreflexionen behutsam anzunähern.«
17.2
17
Äußere Rahmenbedingungen
Das Seminar fand Mitte Januar 2008 statt und war zweitägig angelegt, von Freitag, 14.00 Uhr bis Samstag, 16.00 Uhr (9 + 8 UE à 45 min.). Als Ort wurde die Katholische Bildungsstätte Kloster St. Ludgerus, Helmstedt, gewählt. Der Tagungsorts, der durch seine Räumlichkeiten nicht nur »Spiritualität« ausstrahlt, sondern auch konkrete religiöse Impulse (Kirchenräume, Orgelmusik) ermöglichte, war insbesondere auch für das Teilziel 1.3. der religiösen Autobiografie gewählt worden. Der Teilnehmerkreis aus eher jüngeren Studierenden und eher älteren Hospizhelferinnen aus dem Raum Braunschweig ermöglichte ein intergeneratives Arbeiten, was die Bandbreite spiritueller Impulse vergrößern und so mehr Nähe zur Zielgruppe Alter schaffen sollte. Die Kursleitung bestand aus der Autorin als Psychologieprofessorin an der FH sowie einem Dipl.-Theologen, der am Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim für den Hospizbereich und Altenseelsorge zuständig war. Die Wahl des Seminarzeitpunkts kurz nach einem kirchlichen Fest wie Weihnachten ermöglichte eine natürliche Einbettung von Fragen zur religiösen Autobiografie.
17.3
Methoden und Material
Im Umgang mit spirituellen Fragen wird stets betont, dass Behandlung, Therapie, Pflege oder Unterricht zu dieser Thematik eine Reflexion eigener Spiritualität als wichtiger Schlüsselkompetenz (vgl. dazu auch Ruhland, in diesem Band) voraussetzt. Diese Reflexion kann zum einen (a) eher kognitiv durch Literaturstudium erfolgen, muss aber (b) in der affektiven Komponente durch Selbsterfahrungsanteile (z. B. praktische Übungen, autobiografische Fragebögen) – auch in (c) meditativer Form – ergänzt werden und in der (d) Multiplikatorenschulung sinnvollerweise durch eine Vielfalt medialer Zugangswege und spezielle pädagogische Impulse ergänzt werden (z. B. Lyrik, Musik, bildende Kunst), da hierbei zusätzliche Kanäle für »transzendente« Inhalte erschlossen werden. Als hilfreiche »Steinbrüche« für (1) Daten, Fragebogenvorlagen, Tabellen, Abbildungen und Methodikfragen haben sich der Religionsmoni-
218
Kapitel 17 • Spiritualität als Ressource in der Altersarbeit – ein intergeneratives Seminarkonzept
tor (Bertelsmann 2007), die Monografie von Bucher (2007) und der Schweizer Sammelband von Leutwyler und Nägeli (2006) sowie das Handbuch zur Positiven Psychologie von Snyder und Lopez (2005) erwiesen. Die (2) Sammelbände von Bäuerle (2005) und Kunz (2007) bieten zielgruppenspezifische Texthinweise zur Thematik »Spiritualität und Alter«. Als (3) Einstieg in Praxisübungen eignen sich die Bücher von Vopel zur Erwachsenbildung (vgl. als ein Beispiel Vopel 2003). Für eine Einbeziehung spiritueller Praxiserfahrungen – hier kein Seminarbestandteil – sei auf den Artikel von Fuchs (in diesem Band) zu Elementen der therapeutischen Meditation verwiesen. Konkrete Beispiele (4a) für Angebotsgestaltungen im Altenpflegebereich geben die Handreichung der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie (SGG 2007) sowie die Bücher von MacKinley (2006), Barton (Barton et al. 2003) und Heitlinger (2005); für die Alltagseinbettung verschiedener Spiritualitätsebenen am (4b) Beispiel der Palliativversorgung die Publikationen des Physikers und kath. Krankenhausseelsorgers E. Weiher (vgl. dazu Weiher 2007). Die (5a) Anlage einer eigenen Zitatensammlung sowie von (5b) Poesie, Bildmaterial und Musik zu spirituellen Themen sowie letztlich auch (6) eine Zusammenstellung wichtiger religiöser Texte verschiedener Glaubensgemeinschaften (oder zumindest ein Hinweis auf Orte, wo man dies finden kann) komplettieren die Unterrichtsvorbereitung. Der Großteil der im Seminarablauf erwähnten Impulspapiere speist sich aus obigen Quellen, die daher unten nicht mehr als detaillierte Angaben erscheinen.
17.4
17
z
Seminarablauf
Modul 1: Spiritualität als biografische Ressource – Definitionen, Zugangswege und religiöse Autobiografie (9 UE à 45 min.)
(14–21.30 Uhr, Abendessen 18.30–19.30 Uhr) kTeilmodul 1.1.: Definition und Abgrenzung von Spiritualität/Religiosität (3 UE)
(Kurzfragebogen zur Einschätzung der eigenen Religiosität/Spiritualität) Exemplarische Methodenauswahl:
a. Individuelle schriftliche Satzergänzung: Unter Spiritualität verstehe ich …. Plenare Rückmeldung b. Impulspapier 1: Tabelle und Abbildungen zum Verhältnis von Spiritualität und Religiosität
(nach Bucher) Diskussionsrunde c. Impulspapier 2: Zitatensammlung zur Spiritualität (inkl. Zitate zur deren Alltagsrelevanz und kritische Stimmen) – individuelle Favoritenauswahl, dann Dreiergruppen dazu bilden mit Ziel einer Ranglistenerstellung. d. Impulspapier 3: »Wenn Spiritualität/Religion schadet …« (nach Bucher) – Einleitung zum Gruppengespräch mit Blickrichtung auf wachstumsorientierte, »positive« Spiritualität. e. Impulspapier 4: Definitionsversuch zu Spiritualität – Gruppendiskussion (Abbildung »Verbundenheit« nach Bucher)
kTeilmodul 1.2.: Erkennen eigener Spiritualität im Alltag (3 UE) (Alltagsrituale, Wertorientierungen, Gefäße und Zugangswege)
Exemplarische Methodenauswahl: a. Alltagsrituale – Kleingruppenarbeit (ca. 30 min.); Frage nach Bedeutung haltgebender Alltagsrituale – im Tageslauf, im Jahr, im Lebensrhythmus. Plenare Rückmeldung zu Ritualen und Wertvorstellungen. b. Impulspapier 5: Definition »Spirituelle Intelligenz« nach Emmons (2003). Benennen eigener »Heiliger Bereiche« mit »TranszendenzErfahrungen«. c. Impulspapier 6: Gefäße und Zugangswege für Spiritualität/Transzendenz (Abbildungen von Weiher 2007, zu verschiedenen Transzendenzformen). Gruppengespräch – Betonung des interdisziplinären Blicks auf Spiritualität. Im Impuls 7 werden verschiedene Zugangswegen (Natur, Musik, Lyrik etc.) zur Spiritualität (vgl. Handreichung der SGG; Bucher) vorgestellt und erfragt. kTeilmodul 1.3. Kraftquellen und Barrieren religiöser Autobiografie (3 UE)
(Durchführung erfolgt in sakralen Räumlichkeiten – hier Krypta – mit Orgelmusik als Einleitung und
219
17.4 • Seminarablauf
Schluss zur Weckung von Erinnerungen an kirchliche Rituale – hier z. B. zu Weihnachten.) Exemplarische Methodenauswahl a. Spezieller religiöser Impuls: Weihnachten als kirchliches Fest. Gruppengespräch: Meine familiären Traditionen/Rituale zum Thema Weihnachten b. Impulspapier 8a: Fragebogen ausfüllen zur religiösen Autobiografie (Fragen aus Religionsmonitor). Austausch in intergenerativer Kleingruppe. c. Impulspapier 8b: Mein »Glaubensrucksack«. Einzelarbeit – Papier mit leerer »Rucksackzeichnung«, die mit Barrieren/Kraftquellen der eigenen religiösen Biografie gefüllt wird. Freiwillige Exponate mit Kommentar im Plenum. Im Impulspapier 9 (1.3.d) wird durch das Austeilen des Bonhoeffer-Texts »Von guten Mächten wunderbar geborgen.« sowie den Hinweis auf religiöse Biografien (z. B. von Mutter Theresa oder Gandhi) auf Kraft und Zweifel im Glauben als natürlichem Teil religiöser Entwicklung eingegangen – Gruppengespräch. Das abschließende Orgelkonzert steht für Musik als spirituellem Zugangsweg. z
Modul 2: Spiritualität im Alter – Wahrnehmung, Aufgaben und Angebote
(8 UE à 45 min.) (9.00–16.00 Uhr, Mittagspause 1 Std.) kTeilmodul 2.1: Gottesbilder und Glaubensinhalte älterer Menschen (2 UE)
Exemplarische Methodenauswahl a. Impulspapier 10: Mit Lyriktext: »Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte…« Gruppendiskussion: Lebensbilanz, Spiritualität und Alter
b. Impulspapier 11: Mit Zeichnung des dreieckigen »Gottesauges« aus dem katholischen Katechismus – Gruppendiskussion zu Gottesbildern (vgl. dazu 1.1.d Potentielle »Schadensaspekte«; 1.3.c »Barrieren« im »Glaubensrucksack«). c. Impulspapier 12: Individueller Fragebogen »Gefühle für Gott« (Religionsmonitor; keine plenare Auswertung!) – Hinführung zu mögli-
17
chen kohorten- und kulturspezifischen Gottesbildern alter Menschen. d. Impulspapier 13: Forschungsergebnisse zu Glaubensinhalten und Glaubenspraxis älterer Menschen (Huber – Religionsmonitor)
– Vergleich der Ergebnisse mit eigener Autobiografie (vgl. 1.3.b.) – Gruppendiskussion
kTeilmodul 2.2: Spiritualität im Alter: Modelle und Aufgaben (2 UE)
Exemplarische Methodenauswahl: a. Impulspapier 14: Abbildung Alterstreppe –Beispiel für defizitäres Altersbild; Plenares Zukunftsszenario: »Ich mit 80 – wer bin ich da, was ist mir wichtig?« b. Impulspapier 15: Austeilung von Kurztexten für Kleingruppenarbeit – Modelle und Aufgaben einer Spiritualität im Alter (Textauszüge z. B. aus Bäuerle 2005; Kunz 2007) – jeweils ein Modell pro Gruppe diskutieren – Plenare Rückmeldung: Welche Aspekte Ihres Texts können Sie empfehlen, welche Bandbreite von Vorstellungen zu Alter, Gesundheit und Spiritualität?
kTeilmodul 2.3: Erfassungsmöglichkeiten von Spiritualität (1 UE)
Hier werden im Impulspapier 16 (als einzigem Unterpunkt) verschiedene Instrumente zur Erfassung von Spiritualität vorgestellt: (a) FICA (Puchalski), (b) SPIR (Büssing), (c) Auszug aus einem spirituellen Biografiebogen (z. B. aus Heitlinger, Barton), (d) HOPE – Palliativ – Dokumentationsbogen und in einer >Plenumsdiskussion Aufgaben und Probleme einer »Messung« von Spiritualität sowie die Vor- und Nachteile verschiedener Instrumente angesprochen. kTeilmodul 2.4: Spirituelle Angebote – Definieren, Entwickeln und Anbieten (2 UE)
Exemplarische Methodenauswahl: a. Impulspapier 17: Hospizlicher Text: »Wenn es soweit ist mit mir, brauch ich den Engel in Dir …«. Schilderung exemplarischer spiritueller Erfahrungen in der Sterbebegleitung (durch Hospizhelfer). Plenumsdiskussion: Umsetzungsbarrieren für ganzheitliche Hospizidee?
220
Kapitel 17 • Spiritualität als Ressource in der Altersarbeit – ein intergeneratives Seminarkonzept
Alternative Gesprächsanregung zu 2.4.a. zum Umgang mit Lebenskrisen bei Nichtteilnahme von Hospizteilnehmern – Meditativer Zugangsweg: Logotherapeutische Nagelmeditation (Diaserie mit Textbroschüre von Liliane Juchli 19). Danach kurzer Hinweis auf konkrete religiöse Materialsammlungen verschiedener Religionsgemeinschaften zur Sterbebegleitung (Teilziel 2.4.b.) – soll Sicherheit mit kohor-
tenspezifischen Materialien älterer Menschen in Glaubensfragen geben (z. B. VELKD-Hospiz-Gebetsmappe, Gesangbücher, Bibeltexte). b. Impulspapier 18: Tabelle der spirituellen Angebote in Alterseinrichtungen (Forschungsergebnisse von MacKinley 2006) – Gruppendiskussion: Wer ist zuständig für Spiritualität – was bedeutet hier »Banalisierung«? (Erinnerung an die Transzendenz-Abbildung von Weiher im Teilmodul 1.2.c). c. Impulspapier 19: Verteilung des Leitfadens zur Spiritualität der SGG als praktischer Handlungsimpuls für eigene Weiterarbeit – auch zu Angeboten (speziell für den Pflegebereich). Als Abschlussmodul 2.5. folgt eine plenare Diskussionsrunde, in der an Hand der Fragen »Was nehme ich mit, was fehlte mir, was gefiel mir besonders, welche Anregungen für meinen beruflichen Kontext gab es?« Erkenntnisse zu eigenen und institutionellen spirituellen Entwicklungsmöglichkeiten angesprochen werden können.
Abschließend zweite Austeilung und Bearbeitung des Kurzfragebogens zur Einschätzung der eigenen Religiosität/Spiritualität.
17.5
17
Fazit
Sämtliche in Modul 1 gewählten Bausteine wurden durchweg als positiv und hilfreich beurteilt. Im Modul 2 wurden einige Infoteile als zeitlich zu knapp empfunden, z. B. »Erfassung von Spiritualität« (Teilmodul 2.3.) – eine ausführlichere Behandlung je nach Zielgruppe scheint hier notwendig. Die Bandbreite spiritueller Angebote im Teilmodul 2.4.3. ist interessiert aufgenommen worden. Für die Beseitigung von Umsetzungsbarrieren, aber auch
spirituellen Gestaltungsmöglich in Einrichtungen, wurden Weiterbildungen auch für Leitungskräfte gewünscht. Der Vergleich der Eingangs- und Abschlussmessung des Kurzfragebogens zur Frage der selbstbeurteilten Spiritualität und Religiosität ergab mehrheitlich bei den 22 Teilnehmenden (Alter 23–51 Jahre) eine Erhöhung ihrer Religiosität, nicht aber ihrer Spiritualität. Es liegt nahe, dass die gewählten Örtlichkeiten hier speziell die Wurzeln religiöser Sozialisation gestärkt haben. Die 4 Teilnehmenden ohne Religionszugehörigkeit berichteten eine vergrößerte Sicherheit in der Begegnung mit älteren Menschen christlichen Glaubens – eine Tatsache, die die Bedeutung der besonderen Räumlichkeiten für den Seminarablauf unterstreicht und auch in nachfolgenden Veranstaltungen bestätigt wurde. Auch die gezielte Entscheidung der Teilnehmenden für eine spirituelle Thematik zog – im Vergleich zu den unten stehenden Seminaren zur positiven Psychologie – eine größerer Bereitschaft zur Beschäftigung mit der Thematik nach sich. Die anonyme bzw. codierte Eingangsmessung des Seminars ermöglicht in erweiterter Form bei einer unbekannten Teilnehmergruppe auch eine (plenar kaum abfragbare) Information über die Zugehörigkeit zu Glaubensgemeinschaften – kein ganz unwichtiger Aspekt für den weiteren Seminarverlauf! Was den intergenerativen Kontext mit der Einbeziehung der Hospizhelfer anging, so erwies er sich angesichts der Fülle der Themen im Modul 2 eher nicht als hilfreich, so dass seitdem eine Homogenisierung in Fortbildungen nur mit Studierenden oder Hospizhelfern unter Beibehaltung hospizlichpalliativer Themen stattfindet. Obenstehendes Seminar ist in identischer Form bisher so nicht wiederholt worden. Aus Gründen curricularer Umstellungen im Bolognaprozess werden derzeit einzelne Teilmodule aus Modul 1 und Modul 2 vorwiegend als dritter Teil im Rahmen eines FH-Block-Seminars »Praxis der positiven Psychologie« erprobt und dort erweitert um (a) die Themenbereiche »Dankbarkeit« und »Vergebung« (theoretisch und mit Praxisübungen) und (b) zielgruppenspezifisches Material zur personalen Ressourcenorientierung bei Klienten (als Teil eines »Empowerment-Konzepts«, z. B. nach Herriger 2006) sowie (c) bei ehrenamtlichen Hospizhelfern und (d) als Teilmodul in der Palliativ-
Literatur
fortbildung von Altenpflegekräften. Während in den Seminaren zur Sozialarbeit die Erfahrungen (a) mit den Themen Vergebung und Dankbarkeit durchweg positiv verlaufen, sind die Erfahrungen zur (b) expliziten Behandlung von »Spiritualität als Ressource« heterogen. Manche Studierende – insbesondere solche mit negativen oder fehlenden religiösen Sozialisationserfahrungen – müssen sich im Sinn einer »spirituellen Gesprächskultur« erst daran gewöhnen, für bisher »Unaussprechliches« und Privates ein Vokabular zu finden bzw. eine Verbindung von Alltäglichem (z. B. in haltgebenden Ritualen) und ihrem je individuell »Heiligen« herzustellen, ohne sich sofort in Kategorien traditioneller Religion – inkl. aller Abwehrhaltungen – zu bewegen. »Positive Spiritualität« als persönliche Stärke der Lebensorientierung auch und gerade bei »eigensinnigen« Klienten wahrnehmen und in die Beratungsarbeit integrieren zu können – dies scheitert dann nicht nur am institutionell verankerten Defizitbild, sondern auch am »Blinden Fleck« des Soziarbeiters selbst. Hier sind didaktisch noch Weiterentwicklungen nötig, die möglicherweise – in Umkehr des obigen Seminarkonzepts – zuerst Bewältigungsressourcen der Klienten erfragen, bevor eigene Stärken der Lebensbewältigung und Lebensplanung als Teil von Spiritualität fokussiert werden können. Das inzwischen entwickelte Element einer Powerpoint-Präsentation mit Bildern einer Bergwanderung als Projektionsfläche spiritueller Autobiografiedaten hat sich hierbei und auch als Vortragseinstieg zum Thema »Spiritualität« für helfende Berufe sowie in der Hospizarbeit als hilfreich erwiesen. Im inhaltlichen Bereich der Altenarbeit bietet das Thema »Demenz und Spiritualität« derzeit besonders anregende curriculare Herausforderungen (vgl. dazu Wilkening, in diesem Band). – Alles in Allem ein »work in progress«…
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17
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Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen? Meditieren mit kranken Menschen Brigitte Fuchs
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Kapitel 18 • Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen? Meditieren mit kranken Menschen
Dieser Beitrag zeigt wissenschaftlich belegte therapeutische Wirkungen von Meditation auf und skizziert die Schritte meines evaluierten Konzepts der »Therapeutischen Meditation«. Schließlich werden Rahmenbedingungen benannt, die sicher gestellt sein müssen, wenn Kranke zum Meditieren angeleitet werden. Meditation gilt vielen als harmlose Entspannungsmethode: Ein bisschen still-sitzen oder – liegen und ruhig atmen, relaxen, eine kleine WellnessOase, eine Auszeit aus den Nöten des Lebens. Meditation ist jedoch mehr als nur Entspannung und sie ist gerade kein Weg aus den Nöten heraus, sondern ein Weg, sich einzulassen.
18.1
Was ist Meditation?
Innere Ruhe und Stille, Achtsamkeit und klare Bewusstheit dessen, was ist, sind wesentliche Elemente von Meditation. Um dies zu erreichen, gibt es eine ganze Reihe von Wegen oder Methoden. Man kann grob unterscheiden zwischen »Meditation der Geistesruhe« und »Achtsamkeits- oder Einsichtsmeditation«: z
Meditation der Geistesruhe
Die Achtsamkeit richtet sich auf einen Gegenstand, die christliche Tradition des Herzensgebets gehört hier dazu. Durch die Zentrierung auf einen Gegenstand wird der alltägliche Gedankenstrom unterbrochen, der Geist erfährt eine tiefe Ruhe. z
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Achtsamkeits- oder Einsichtsmeditation
Die Achtsamkeit wird auf die körperlichen, geistigen und gefühlsmäßigen Erscheinungen gerichtet. Es geht um das nicht wertende und absichtslose Gewahrsein im Hier und Jetzt. Gedanken, Empfindungen und Gefühle und die Impulse, die sie in uns auslösen, werden wahrgenommen; es wird jedoch nicht daran festgehalten oder gar darüber nachgedacht oder darauf reagiert. Vipassana und Zazen sind die im Westen bekanntesten Meditationsformen aus den fernöstlichen Traditionen. Beide Formen können als eigenständige Meditationsformen geübt werden. Häufig gilt jedoch die Ruhe-Meditation als eine Einleitung oder Vorbe-
reitung für die Einsichts- oder Achtsamkeits-Meditation, meist sind die Übergänge fließend. Meditation ist aber auch eine spirituelle Übung, die in den Religionen der Welt beheimatet ist. Entsprechend dem religiösen Kontext unterscheiden sich meditative Formen und Übungen, Erfahrungen und Interpretationen meditativer Erfahrungen.
18.2
Therapeutische Wirkung von Meditation
Als einer der Ersten wies der Kardiologe Herbert Benson, Professor an der Medical School der Harvard Universität, die vielfältigen therapeutischen Wirkungen von Meditation nach. Bereits Ende der 1960er Jahre begann er mit seinen Untersuchungen. Seitdem haben viele andere Forscher weitere Belege dafür erbracht, dass Meditation für psychische als auch physische Leiden heilend wirkt. Einige Beispiele von Untersuchungen der Medical Scholl der Harvard Universität zeigen folgende positive Ergebnisse: 5 »Bei Patienten mit hohem Blutdruck sank der Blutdruck deutlich; während eines Beobachtungszeitraums von drei Jahren benötigten sie weniger Medikamente oder konnten ganz darauf verzichten […] 5 Bei Patienten mit chronischen Schmerzen verringerten sich die Beschwerden. Die Personen wurden aktiver und sie litten weniger unter Angst […] 5 75 % der Patienten mit Einschlafstörungen wurden geheilt und konnten wieder normal schlafen […] 5 36 % der Frauen mit organisch nicht erklärbarer Unfruchtbarkeit wurden innerhalb von sechs Monaten nach Abschluss des Programms schwanger […] 5 Bei Krebs- und Aidspatienten reduzierten sich die Symptome. Übelkeit und Erbrechen als Nebenwirkungen der Chemotherapie ließen sich besser unter Kontrolle halten […] 5 Bei Patienten mit Herzrhythmusstörungen nahmen diese ab […] 5 Patienten, die sich Operationen am offenen Herzen zu unterziehen hatten, erlebten danach
225
18.4 • Meditation mit Kranken
weniger Herzrhythmusstörungen und geringere Angst.« (Benson 1997). Patienten nach Mykardinfarkt, die meditierten, wiesen bessere Überlebensraten auf, die Rate derer, die einen weiteren Infarkt erlitten, war ebenfalls drastisch niedriger als in der Vergleichsgruppe (Friedman et al. 1982). Benson schreibt: »Jedes gesundheitliche Problem, das durch Streß verursacht oder verschlimmert wird, läßt sich durch die Entspannungsreaktion bei der Meditation positiv beeinflussen oder ganz beseitigen.« (Benson 1997, S. 178). Wenn man bedenkt, dass zwischen 60 und 90 % der Arztbesuche wegen Krankheitsbildern erfolgen, die mit Stress und Anspannung in Verbindung stehen, zeigt sich, welche Bedeutung der Meditation in therapeutischer Hinsicht zukommen könnte. Langzeitstudien weisen auch auf die präventive Wirkung von Meditation in Bezug auf Herz-, Kreislauf- und Krebserkrankungen hin. Probanden, die in den 1990er Jahren Meditationsübungen erlernt und regelmäßig praktiziert hatten, zeigten bis zum Jahr 2005 im Vergleich zur Kontrollgruppe eine niedrigere Mortalität – im Hinblick auf Karzinome um 50 % niedriger und kardiovaskuläre Leiden um 30 % (Schneider et al. 2005; Motluk 2005). Auch in der Psychotherapie werden die positiven therapeutischen Wirkungen von Meditation mehr und mehr entdeckt. Insbesondere die von Jon Kabat-Zinn entwickelten, auf Achtsamkeitsübungen basierenden Verfahren (Mindfullness based cognitive therapy/Mindfullness based stress therapy) werden zunehmend mit Erfolg angewandt.
18.3
Worauf gründen die therapeutischen Wirkungen von Meditation?
Meditationstechniken wirken tief greifend auf Leib und Seele. Die Tiefenentspannung, die sich bei der Ruhemeditation einstellt, wirkt direkt der Kampfund Fluchtreaktion entgegen, die durch Stress hervorgerufen wird. Die Tiefenentspannung ist jedoch Grundlage für weitere Prozesse: In der Ruhe, die Achtsamkeit ganz auf die Wahrnehmung der inneren Vorgänge richtet, be-
18
gegnen wir nicht nur positiven heilenden Kräften, sondern auch Ängsten und schmerzhaften Wunden. Der buddhistische Meditationslehrer Jack Kornfield bemerkt: »Wenn sich Körper, Herz und Geist öffnen, bringt jede neue Schicht, auf die wir stoßen, zwar größere Freiheit und mehr Mitgefühl mit sich, aber es werden zugleich auch tiefe und subtile Schichten unterschwelliger Selbsttäuschung freigelegt.« (Kornfield 2004). Anliegen von Meditation ist es, Illusionen und Abwehrhaltungen aufzulösen und die Wirklichkeit in allen Facetten anzuschauen, eben auch in ihren Angst machenden und beklemmenden. Im Anschauen und Bewusstwerden können Ängste und Schmerzen ihre Macht verlieren und neue Kräfte freisetzen.
18.4
Meditation mit Kranken
Keating schreibt für das kontemplative Gebet: »Nach einigen Monaten Gebetsübung wirst Du erleben, wie bestimmte gefühlsgeladene Gedanken mit aller Wucht an die Oberfläche drängen.« (Keating 1987). Monate, in denen sich die Praxis der Meditation festigen und die Erfahrung innerer Ruhe zu Stabilität und Selbstbewusstsein beitragen kann. Bei Kranken hingegen sitzen die Wunden, die Ängste und Schmerzen in der Regel dicht unter der Oberfläche. Beginnen sie mit der Meditation der Geistesruhe, werden die »Schichten« nicht langsam abgetragen, sondern die unterdrückten Ängste und Nöte können bereits nach kurzer Zeit – oft schon nach wenigen Tagen – mit Vehemenz hervorbrechen und die Patienten in einer Weise destabilisieren, die dem therapeutischen Anliegen nicht mehr förderlich ist. Immer wieder wird deshalb davor gewarnt, mit Kranken zu meditieren; dies hieße aber, sie auch nicht teilhaben zu lassen an den vielfältigen positiven therapeutischen Wirkungen von Meditation. Um kranke Menschen in die Meditation einzuführen, ist es notwendig, besondere Vorsicht walten zu lassen, der Einführung in die Ruhemeditation stabilisierende Übungen voranzustellen und die aufbrechenden Gefühle in den Prozess der meditativen Bewusstwerdung so einzubinden, dass sie die Dynamik der Entwicklung fördern und sie nicht
226
Kapitel 18 • Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen? Meditieren mit kranken Menschen
blockieren. Besondere Zurückhaltung gilt bei psychischen Erkrankungen. Auf dem Hintergrund meiner eigenen langjährigen Meditationspraxis und in Anlehnung an das von Herbert Benson und seiner Mitarbeiterin Joan Borysenko erarbeitete Vorgehen habe ich 1997 das Konzept der »Therapeutischen Meditation« entwickelt, die versucht, der spezifischen Situation von akut und chronisch physisch kranken Menschen Rechnung zu tragen. (Wenn auch oft die Grenze zwischen physischen und psychischen Erkrankungen nicht scharf zu ziehen ist, wurde die Methode nicht entwickelt und evaluiert bei psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, endogener Depression, Persönlichkeitsstörungen etc.) Evaluiert wurde das Programm von Januar bis Dezember 1998 in der Rehabilitationsklinik für Herz- und Kreislauferkrankungen in Bad Wörishofen zusammen mit dem Chefarzt der Klinik, Professor Eberhard Volger (siehe dazu: Fuchs 2002). Seit 2005 finden Ausbildungskurse für Angehörige therapeutischer, seelsorgerlicher und pflegerischer Berufe statt. Seit 2008 ist das Kursprogramm von der Bayerischen Psychotherapeutenkammer als Fortbildungsveranstaltung anerkannt.
18.5
»Therapeutische Meditation« mit Kranken
In den folgenden Abschnitten möchte ich einen Überblick über die Vorgehensweise geben: z
18
Erster Schritt: Körperentspannung durch Atmung
Die Aufmerksamkeit wird nach innen gewendet. Der eigene Atem wird bewusst wahrgenommen. Jede Körperregion wird im Rhythmus des Atmens auf Verspannungen abgetastet und die Spannungen werden beim Ausatmen zu lösen versucht. Die bewusste Wahrnehmung des ganzen Körpers (nicht nur der erkrankten Körperregion!), das SichGründen im Leib und die Entspannung führen zu innerer Ruhe und stabilisieren. Die Möglichkeit, auch steuernd mit dem Atem den Erregungs- und Spannungszustand positiv beeinflussen zu können, gibt ein erstes Gefühl davon, den eigenen Empfindungen nicht ausgeliefert zu sein.
Die Körperentspannung durch Atmung und die damit verbundene bewusste Wahrnehmung des ganzen Leibes geht jeder weiteren Übung voraus. Besonderheiten der Therapeutischen Meditation: Nach jeder Übung erhält jeder Teilnehmer die Möglichkeit, seine Befindlichkeit während der Übung zu äußern. Entsprechend der Rückmeldung werden dann durch die Leiterin, wenn nötig, Hilfen gegeben und eventuell die folgenden Übungen individuell variiert. z
Zweiter Schritt: Geführte Meditation
Krankheit, insbesondere dann, wenn sie sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, prägt die Lebenswirklichkeit. Als sehr einschneidend erlebte Krankheiten und chronische Erkrankungen lassen die damit verbundenen Erfahrungen – sei es die des Schmerzes, der Angst, des Leidens – als Lebenserfahrung schlechthin erleben. Achtsamkeitsübungen in dieser Phase können diese Erfahrungen noch verstärken und ein Bewusstsein von Aussichtslosigkeit vertiefen. Hier geht es darum, erst wieder Zugang zu den Erfahrungen des Heil-Seins zu finden. Das Wachrufen und Durchleben von Momenten des Glücks kann das erlebte Wohlbefinden wieder lebendig werden lassen. Ein Aufleben dieser im Laufe schwerer Krankheit oft verschütteten Grunderfahrung gibt den Patienten eine Zielperspektive und lenkt auch im Alltag die Aufmerksamkeit wieder auf positive Erlebnisse. z
Dritter Schritt: Meditation der Geistesruhe
Erst im dritten Schritt wird eingeführt in die Praxis der Meditation der Geistesruhe. Ein Wort oder ein kurzer Satz, der im Atemrhythmus beständig still im Inneren wiederholt wird, bringt den Geist zur Ruhe. Gedanken, die auftauchen, lässt man vorüberziehen wie Wolken am Himmel. In der Ruhe, die sich einstellt, tauchen immer wieder Gedanken und Bilder auf. In der Regel sind diese verbunden mit Gefühlen, mit Bewertungen und körperlichen Reaktionen. Meditierende lernen ein schlichtes Betrachten, ohne gefühlsmäßig und körperlich zu reagieren. Wenn nachlassende Kräfte, Herzinfarkt oder Operationen einen tiefen, oft schockartigen Einschnitt ins bisher gewohnte Leben gerissen haben, endet die Erkenntnis »Ich kann nicht weiter leben
227
18.5 • »Therapeutische Meditation« mit Kranken
wie bisher« oft in der Schlussfolgerung: »Mein Leben ist zu Ende«. Um Raum für eine neue Lebensform zu öffnen, ist es notwendig, eingefahrene Denk- und Lebensgewohnheiten loszulassen, leer zu werden. Bei Meister Eckhart heißt es: »Gieß aus, auf dass du erfüllt wurdest. Alles, was aufnehmen und empfänglich sein soll, das soll und muss leer sein.« (Meister Eckhart 1979).
» Der Ruf von der Weisheit eines Mönchs dringt bis an das Ohr eines Universitätsprofessors. Dessen Neugierde wird geweckt und er beschließt, diesen alten Mönch einmal zu besuchen. Der Mönch heißt seinen Gast willkommen.
«
» »Darf ich Euch Tee anbieten?« fragt er und reicht dem Professor ein Teeschälchen. Der nickt dankend. Der Mönch gießt daraufhin den Tee in das Schälchen des Professors. Als die Schale bereits ganz voll ist, hört der Mönch noch immer nicht auf und lässt die Schale fallen. »Was tut Ihr da?« fragt er verunsichert.
«
» Der Mönch sagt darauf: »Dieses Gefäß ist wie Euer Geist. Ihr könnt nichts Neues aufnehmen, weil er bis zum Rand voll ist.« (Borysenko 1991)
«
z
Vierter Schritt: Achtsamkeitsmeditation
Durch die Ruhe werden die vielfältigen Gedanken, die den Geist bewegen, Köperempfindungen und Emotionen intensiver wahrgenommen. Auf eben diese Gedanken und Empfindungen wird nun bewusst die Achtsamkeit gerichtet, um Verdrängungsprozessen vorzubeugen, die zur Folge hätten, dass Meditation als Droge praktiziert wird, um die Wirklichkeit für eine gewisse Zeit auszublenden. In der Achtsamkeitsübung des stillen Benennens werden Gedanken und Empfindungen wahrgenommen und dann benannt. Das Auftauchen und Verblassen der Empfindungen wird beachtet, ebenso ihr Sitz im Körper. In der Achtsamkeitsmeditation geht es um achtsame Wahrnehmung des Entstehens und Vergehens von Gedanken, Gefühlen, Empfindungen und Impulsen, die sie in uns auslösen. »Positive Gefühle« lösen in uns den Impuls aus, etwas haben zu wollen, wir unternehmen Anstrengungen, um et-
18
was oder eine Person zu bekommen, bisweilen »auf Teufel komm raus«. »Negative Gefühle« versuchen wir loszuwerden. Beides kostet viel Kraft und Energie und führt immer wieder zu Niederlagen. Hier geht es um Wahrnehmen ohne Wertung. Manche Empfindungen werden schwächer, manche verwandeln sich in kreative Energie. Die achtsame Wahrnehmung ermöglicht es, sich zu den wahrgenommenen Impulsen und Gefühlen zu verhalten (ich kann bei der ruhigen Wahrnehmung bleiben oder ich kann dem Impuls nachgeben und entsprechend handeln). Achtsamkeit für die Lücken in der scheinbar fest gefügten Struktur unseres Lebens gibt uns Freiheit, das Leben bewusster zu gestalten, und eröffnet dadurch neue Lebensmöglichkeiten. z
Fünfter Schritt: Meditation für unabweisbare Probleme, Sorgen, Ängste und Konflikte
»Bestimmte gefühlsgeladene Gedanken« zeigen sich nun häufig in dieser Phase »mit aller Wucht« (Keating). Das heißt, sie lassen sich nicht wegatmen, sie ziehen nicht vorüber, sie vergehen nur kurz in der Benennung, um sich dann mit aller Intensität wieder einzustellen. Diesen Empfindungen wird nun Aufmerksamkeit geschenkt. Man beginnt nach der Körperentspannung mit der Ruhemeditation. Dann geht man in die erste Phase der Übung: Das Problem, die Angst, die Sorge, der Schmerz wird wachgerufen und angeschaut, von allen Seiten betrachtet, ohne emotional und körperlich einzusteigen. Es wird nicht darüber nachgedacht, sondern versucht, das Problem als Form, als Gewicht oder Ähnliches anzuschauen. In der zweiten Phase wird der Konflikt, werden die Ängste oder Sorgen ausgeatmet und man besinnt sich wieder auf den inneren Ort der Ruhe. Eine Möglichkeit der religiösen Vertiefung besteht darin, den Konflikt, die Ängste oder Sorgen bei jedem Ausatmen abzugeben in die Hände Gottes. Diese Übung bedarf der intensiven Begleitung und differenzierten, auf die individuelle Befindlichkeit abgestimmte Anleitung und Weiterführung. Es gilt hier, sich von den Widerständen leiten zu lassen, nicht sie zu brechen. z
Sechster Schritt: Wechsel von Ruhe- und Achtsamkeitsübungen
In der Ruhemeditation wird »Ausgießen«, Sich-leeren eingeübt. Raum für neue Erfahrungen entsteht.
228
Kapitel 18 • Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen? Meditieren mit kranken Menschen
Die Achtsamkeit wird jetzt stärker auf das Leben im Alltag gelenkt, darauf, präsent im Hier und Jetzt zu leben (»Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich.«) »Was man in sich nährt, das wächst« (Goethe). Die Fähigkeit wird eingeübt, im Alltag bewusst bestimmte Dinge und Erfahrungen loszulassen oder an sich ablaufen zu lassen und dafür andere tief in sich hinein nehmen zu können, z. B. die kleinen Gelegenheiten der Freude und des Glücks, eine warme Dusche, ein freundliches Lächeln. Wenn es der Gesundheitszustand erlaubt, werden diese Übungsformen im Sitzen ergänzt durch z
Siebter Schritt: Gehmeditation
Diese Form der Meditation in Bewegung beginnt damit, den Körper beim Bewegungsablauf des Gehens achtsam wahrzunehmen. Dann geht die Achtsamkeit auf den Atem und man beginnt, im Rhythmus des Atems zu gehen: So schnell, dass die Atmung tiefer wird als in Ruhe, aber auch nicht so schnell, dass sich das Gefühl einstellen würde, »außer« Atem zu sein. Diese Form der Übung vereint das Wohltuende der Meditation mit den positiven Wirkungen körperlicher Bewegung. z
18
Achter Schritt: Meditation der liebenden Güte
Meditation steht fälschlicherweise in dem Ruf, der Nabelschau zu dienen, der Selbstverwirklichung im Sinne der egozentrischen Orientierung an sich selbst. Die Wendung nach innen dient dazu, die Schönheit unserer wahren Natur wieder zu erkennen. Im Lauf des Lebens legen sich Verhärtungen über unser eigentliches Wesen: Jemand hat uns verletzt, hat das Herz schwer gemacht, das Herz gebrochen – und wir verhärten uns, um uns zu schützen. Man spricht von Verhärtungen des Herzens. Das Herz ist der Ort der Kommunikation: Wir können offenherzig sein oder herzlich, aber auch hartherzig uns selbst oder anderen gegenüber. Die Verhärtungen bewirken, dass der Kontakt zu unserem Herzen eingeschränkt ist, ebenso der zu unseren Mitmenschen und auch der zu Gott. Meditation bedeutet, unser Herz zu befreien, indem wir Schicht um Schicht abfallen lassen, bis wir zu unserem eigent-
lichen Wesen finden, zu der Fähigkeit zu tiefem Mitgefühl und herzlicher Verbundenheit mit allen lebenden Wesen. Die vorherrschende Einstellung, die sich bei Kranken und häufig auch bei ihren Angehörigen findet, ist: »Du musst jetzt erst mal an dich selber denken«. Diese Einstellung vertieft die krankheitsbegleitende Ich-Bezogenheit und führt in die Sackgasse der Egozentrik ohne Ausblick, in Einsamkeit und Isolation. In der Meditation der liebenden Güte wird versucht, die Erfahrungen empfangener Liebe und Güte unter allen Sorgen und aller Angst wieder neu zu entdecken und lebendig werden zu lassen. Aus diesem Schatz geschenkter Liebe und Güte kann man etwas einem oder mehreren Mitmenschen zuatmen, zuwenden. Die Öffnung des Herzens belebt die Beziehungsfähigkeit. Das Erleben, geben zu können (und als Kranker nicht nur nehmen zu müssen), vermittelt ein Gefühl inneren Reichtums.
18.6
Sitzen in Stille, was kann das schon bewegen?
Die Wirkungen von Meditation werden häufig unterschätzt, sowohl in ihrer positiven heilsamen als auch in ihren destabilisierenden Möglichkeiten. Der naive Einsatz führt dazu, dass Meditation in manchen Veröffentlichungen der Geruch einer fragwürdigen Psychotechnik (z. B. Göllner 2001) anhaftet. In anderen, der einer harmlosen Entspannungsübung. Beides wird dieser jahrtausendealten spirituellen Übung zur Geistesschulung nicht gerecht. Der Jesuit und Zen-Meister W. Johnston schreibt:
»
Sowohl Buddhismus als auch das Christentum erkennen, dass die fundamentale Krankheit des Menschen sich auf einer Stufe befindet, die tiefer liegt als die der Kopfschmerzen, des zu hohen Blutdrucks oder des Ödipuskomplexes. Das ganze Leben des Menschen ist vom Unheil bedroht, und seine Existenzangst entspringt einer metaphysischen Krankheit auf dem Grunde des Seins. (Johnston 1978)
«
Literatur
Meditation als spirituelle Übung geht tiefer als bis zum Wunsch nach Beseitigung eines gesundheitlichen Problems, der Gesundung; sie stellt den Menschen in einen weiteren Bezugsrahmen. Heilung bekommt einen weiteren und tieferen Sinn als den der Beseitigung eines körperlichen oder psychischen Problems. Meditation in diesem Sinne ist keine Heiltechnik zur Erreichung eines selbst gesteckten Ziels. Ein gesundheitliches Problem wird deshalb nicht mit dem Ziel angesehen, es möglichst effektiv zu beseitigen. Es geht darum, sich darauf einzulassen. Man verzichtet bewusst darauf, etwas ändern zu wollen. Mit Meditation zu arbeiten heißt, bewusst darauf zu verzichten, Schmerz und Leid aus dem Weg zu gehen. Das ist kein leichter Weg, es ist ein Weg, der durch die Krisis führt. Wird er aber bewusst gegangen und behutsam geführt »dann wird das Dunkel das Licht sein und die Stille der Tanz« (Eliot 1988).
Literatur Benson H (1997) Heilung durch Glauben. Selbstheilung in der Neuen Medizin. Heyne, München, S 176–178 Borysenko J (1991) Gesundheit ist lernbar. Hilfe zur Selbsthilfe. Scherz, München, S 146 f Eliot TS (1988) Vier Quartette, East Cocker. In: Eliot TS, Gesammelte Gedichte. Suhrkamp, Frankfurt a.M., S 299 Friedman M et al. (1982) Feasibility of Altering Type A Behavoir Pattern After a Myocardial Infarction. Circulation 66 Fuchs B (2002) Therapeutische Meditationen. In: Fuchs B, Kobler-Fumasoli N (Hrsg) Hilft der Glaube? Heilung auf dem Schnittpunkt zwischen Theologie und Medizin. LIT, Münster, S 98–111 Göllner U (2001) Meditation – Form und Inhalt einer fragwürdigen Psychotechnik, http.//www.hohewarte.de/MuM/ Jahr2001/Meditation0107.html Johnston W (1978) Klang der Stille. Meditation in Medizin und Mystik. M. Grünewald, Mainz 1978 Keating T (1987) »Das Gebet der Sammlung«. Eine Einführung und Sammlung des kontemplativen Gebets. Vier Türme, Münsterschwarzach, S 152 Kornfield J (2004) »Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens«. Ullstein, Berlin, S 297 Meister Eckhart (1979) Predigten und Traktate. Diogenes, Zürich, S 114 Motluk A (2005) Does inner peace lead to longer life? New Scientist; 186, No. 2498 : 17 Schneider RH et al (2005) Long-Term Effects of Stress Reduction on Mortality in Persons ≥55 Years of Age With Systemic Hypertension. Am J of Cardiology 95 : 1060–1064
229
18
231
Stichwortverzeichnis
232
Stichwortverzeichnis
A
D
Achtsamkeit 135, 207 Achtsamkeitsforschung 72 Alltag – Umgestaltung 205 Altern – normales 170 – optimales 169 Altersbilder 168 Altersunterschiede – Aspekt 168 Anthroposophie 20 Antizipation als Kontrollfunktion 5 Atheismus 60 Außenperspektive 6 Authentizität 206 Autoregulation 24 – bio-psycho-sozio-molekularen Modell 34
Definitionsprozess 51 Dekonstruktionserfahrung 141 Denkinhalt – abstrakter 18 Denktätigkeit – konkrete 18 Depressivität 127 Dialektik von Sein und Bewusstsein 57
B Bedeutungsentfaltung 103 Befreiung – aus der Versklavung 7 Befreiungsversuch 7 Belohnung 26 Beschwerdebesserung 163 Bewertung – emotionale 140 Bewusstsein 4, 17, 45 Bewusst-Sein – integrales 129 Bewusstseins – Versklavung des 11 Bewusstseinsinhalt 8 Bewusstseinsprozess 43 Bewusstseinsraum – transpersonaler 180 Bewusstseinsstufe 128 Bewusstseinszustand 9, 11 Bewusstseinzustand – transpersonaler 181
C Chakren 153 chronische Erkrankung 113, 120, 141 – spirituelle Bedürfnisse bei 119 Coping – positives, religiöses 169 – religiöses 80, 81
E Effekt – gesundheitsrelevanter 7 Gesundheit 136 Entspannung 32 Entwicklungsprozess 43 Erbsubstanz 4 Erfahrung – emotionale 159 – geistige 19 – religiöse 14 – religiös-spirituelle 100 – somatische 159 Erfahrungsphänomen 200 Erkennbarkeit 15 Erkrankung – chronische 108, 113 Erlebnis von Ego-Verlust und -Auflösung 139 Erlebnisfähigkeit – bei Demenz 171 Erwachsenenbildung 199 Evaluation 47, 127 Evolutionsmedizin 24 Exceptional Experiences Questionnaire 139
F Faktor – salutogenetischer 99 Faktorenanalyse – explorative 83 – konfirmatorische 85 Faktorenlösung 86 Forschungsmethodologie 174
G Gehirn 32 Geistige, das 16
geistiges Heilen 146, 147 – therapeutische Effekte 148 Gesetzes-Realisten 16 Gestaltungsgesetze 17 Gesundheit 24, 42, 50, 70, 105, 108 – gesundheitsrelevanter Effekt 136 Gesundheits-Gestaltung 129 Gesundheitsinteresse 72 Gesundheitskontrolle 108 Gesundheitspsychologie 69 Gewissheit 15 Glaube 27, 32, 70 – an ein Leben nach dem Tod 116 Glaubensorientierung 184 Glaubensvorstellung 76 Gott 110 – Gefühle gegenüber 81 – Verhalten 79 Gottesbeziehung 76, 77 – Skalen zur 89 – Studien zur 81 Gottesbilder 63 Gotteserfahrung 98 göttliche Hilfe 7 Gott 110
H Hautleitfähigkeit 155 Heilbehandlung 153 Heilenergie 157 Heilerfolg 71 Heilige, das 71 Heiligen 71 Heilkunst – integrale 128 Heilung und Gesundheit 147 Heilungsmythos 159 Heilungsritual 146, 151, 154, 157 – der White-Eagle-Lodge 151 Heilungssuchender 153 Heilvorstellung – esoterische 153 Heilwerden 121 Homöostase 6 Hospizhelfer 220
I Identität – religiöse 58 – spirituelle 58 Informationsverarbeitung 6 Integrationsbedarf 44
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Stichwortverzeichnis
Integrations-Kompetenz 204 Integrationswürdigkeit 44 Integrierbarkeit 44 Intervention – religionsbezogene 183 Interventionen – spirituelle/religiöse 183 Interventionsgerontologie 168
K Konstruktionsweise – divergente 60 – konvergente 60 Konstruktivismus 208 Konstrukträume 61 Kontaktheilung 149 – physiologische Effekte 149 Krankheit 42, 50, 70, 108, 115 Krankheitsakzeptanz 126 – emotionale 126 Krankheitsakzeptanz-Stile 127 Krankheitsbewertung 114 Krankheitsinterpretation – positive 118 Krankheitsneubewertung 109 Krankheitsumgang 71, 116 Krankheitsursachen 19 Krankheitsverarbeitungs-Strategie 117 Krankheitsverlauf 116 Krebspatient 115, 121
L Lebensführung – bewusste 109 Lebensgestaltung – positive 127 Lebenshilfe – Vermittlung von 200 Lebensprozesse 5 Lebensqualitätsforschung 68 Lebensvollzug 103 limbisches System 32
M Meditation 7, 63 – mit Kranken 225 – therapeutische 224 – therapeutische M. mit Kranken 226
A–S
Meditationsformen 96 – rezeptive 203 Meditationsmethode 73 Meditationspraktiken – konzentrative 203 Medizin – evidenzbasierte 130 Mehrperspektivität und integrale Sichtweise 206 Menschenbild – des Therapeuten 177 Merkmal – religiöses 63 – spirituelles 63 Modell – emisches 150 Modulations-Kompetenz 204 Morphium – endogenes 30 Motivation 26
Prozess – pathologischer 19 Prozess der Gesundung 7 Gesundheit 108 Psychologie – transpersonale 187 psychopathologisches Erlebnis 140 Psychotherapeut – professionelles Selbstverständnis 190 Psychotherapeutenbefragung 174 psychotherapeutisch förderliche Qualitäten 179 psychotherapeutische Perspektive 186 psychotherapeutische Praxis 176 Psychotherapie 185 Psychotherapieausbildung 192 Psychotherapieforschung 180
N
R
Nahtod-Erfahrung 97 Narkose 11 Nervensystem 24 Nervenzellen 9 neurobiologischer Zugangsweg 34 Neutralität – weltanschaulich-konzeptuelle 206 Nominalismus 16
Religion 68 religionsbezogene Inhalte – Offenheit, Bewusstheit und Sensibilität 185 Religionsgemeinschaft 54 Religionspsychologie 57, 187 Religionszugehörigkeit 198 religiöse All-Erfahrungen 63 religiöse Erfahrung 102 religiöse Konstrukträume 57 religiöse Suche 58, 64 religiösen Coping 7 Coping, religiöses 81 religiöses Coping 169 religiöses Coping 7 Coping, religiöses 80 religiöses Verhalten 117 Religiosität 2, 15, 24, 54, 76, 95 – als Ressource für den Therapeuten 184 – im Kontext von Krankheit 111 – intrinsische 110 – Modell der 55 religiös-spirituelle Erfahrung 100 Resilienz 29 Ressource 141
O Oberberg Akademie 130 Oberberg Stiftung 129
P physiologische Messung – Atemfrequenz 156 – Hautleitfähigkeit 156 – Herzfrequenz 156 Placeboantwort 31 Placeboeffekt 30, 31 Placebomechanismen 31 Pluralisierung 60 Pluralitätsfähigkeit 208 Prägungsprozess 9 Prinzip – biologisches 5
S Säkularisierungsachse 60 Salutogenese 27, 99, 128
234
Stichwortverzeichnis
Schlüsselprobleme – Unterstützung bei alltagsbezogenen 200 Schmerz 32 – chronischer 10 Schmerzerkrankung 108 Schmerzlinderung 34 Scientist-Practitioner-Modells 190 Seelsorge 69 Selbsthilfe 32 Sinnressource 106 Sinn-Suche 44, 50 Sinnvollzug 103 Spiritualität 2, 14, 15, 24, 32, 38, 42, 49, 54, 98 – als biografische Ressource 216 – als kulturabhängiges Phänomen 136 – als Ressource 150 – als Ressource für den Therapeuten 184 – am Lebensende 216 – Ausdrucksformen der 110 – Auswirkungen auf die Gesundheit 138 – bei Demenz 171 – Definitions- und Abgrenzungsproblematik 135 – der Atheisten 118 – Didaktik der 211 – im Kontext von Krankheit 111 – in psychotherapeutischer Tätigkeit 174 – neuere 14 – positive 168 – transkonfessionelle 95 – und Alter 217 – und Gesundheit 134 – und Krankheitsbwertung 114 – und Religiosität 175 – und Wissenschaft 94 Spiritualitätsbegriff – Definition 40 – Definitionsprozess 41 Spiritualitäts-Boom 68 Spiritualitäts-Curriculum 210 Spiritualitätsdidaktik 208 Spiritualitätsforschung 38, 135, 169 Spiritualitätsgeschehen 45 Spiritualitätsverständnis 42 spirituell Lehrende 205 spirituelle Bedürfnisse – Wahrnehmung 216 Spirituelle Bewusstheit 206 spirituelle Bildungsangebote – Qualität 209 spirituelle Bildungsarbeit 198
spirituelle Dimension 186 spirituelle Erfahrung 136, 137 – Phänomenologie 137 spirituelle Erfahrungen 200 spirituelle Kompetenz 206 spirituelle Kompetenzen 201 spirituelle Orientierung des Psychotherapeuten 176 spirituelle Perspektive 189 spirituelle Praxis 46, 113, 183 – regelmäßige 140, 141 spirituelle Wertevermittlung 188 spiritueller Bildungsarbeit – Relevanz und Zielsetzung 199 spirituelles Bedürfnis 119 spirituelles Bewusstsein 205 spirituelles Erlebnis – positives 139 spirituelles Leben 46 spirituelles Nichtpraktizieren 134 spirituelles Phänomen 39 spirituelles Wohlbefinden 116 spirituell-religiöse Haltung 115 Spontanheilung 70 Sprache 39 Stress 27 Stressmanagement 30 Stressmanagement-Strategie 29 Stressreduktions-Konzept 28 Subjektivität – Förderung der 207 Subjektwerdung – Förderung der 199
T Therapiekonzept 126 Tiefschlaf 10 Transpersonale Psychologie 94 Transpersonales Lernen 201, 202 – Definitionsmerkmale 202 Transzendenz 72, 96 – Offenheit für 73 Transzendenzkonzeption 96 Transzendierung – horizontale 99 – vertikale 99 Transzendierungserfahrung – horizontale 105 Transzendierungserfahrungen 96 Transzendierungsprozess – vertikaler 106 Traumerlebnis – visionäres 140 Übersinnliches – übersinnliche Welt 18
V Variable – endogene 62 – exogene 62 Verhalten 24 Verlusterfahrung – und Altern 170 Versklavung 7 Versklavung 7 Bewusstsein 11 Versöhnung 121 Versorgungsforschung 122 Vulnerabilität 150
W Wahrnehmungswelt 17 Weg – spiritueller 105 Weisheit – und Alter 169 Weisheitsentwicklung 48 Weltanschauung – des Therapeuten 177 Weltdeutung – nichtreligiöse 103 – spirituelle 103 Wirkfaktor Präsenz 181
Z Zeitfenster 5 Zugangs-Kompetenz 203