Giancarlo Collet, losef Estermann (Hg.)
Religionen und Gewalt
Giancarlo Collet, Josef Estermann (Hg.)
Religionen und Gewalt
Theologie und Praxis Abteilung B herausgegeben von
Prof. Dr. Giancarlo Collet Institut für Missionswissenschaft WWUMünster
Prof. Dr. Norbert Mette Lehrstuhl für Religionspädagogik/Praktische Theologie Universität Dortmund
Prof. Dr. Udo Fr. Schmälzle Seminar für Pastoraltheologie und Religionspädagogik WWUMünster
Prof. DDr. Hermann Steinkamp Seminar für Pastoraltheologie und Religionspädagogik WWUMünster
Band 15
LIT
Giancarlo Collet, Josef Estermann (Hg.) ~
Religionen und Gewalt
LIT
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INHALTSVERZEICHNIS Vorwort von Giancarlo Collet und Josef Estermann
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Giancarlo Collet Zur Einführung
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Theodor Ahrens Das Kreuz mit der Gewalt. Religiöse Dimensionen der Gewaltproblematik
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Thomas Bremer Islam, Orthodoxie und katholische Kirche seit dem Zerfall Jugoslawiens bis heute
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Emmanuel 5eemampillai Buddhis tischer Sinhala-Nationalismus verweigert die Menschenrechte und,die Nationalität von Tamilen
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Bernhard Kieser 5J Religion und Gewalt: Beispiel Indonesien Religion - Friedensstörer? Religion - Friedensstifter?
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Achille Mutombo-Mwana Demokratische Republik Kongo: Frieden durch Demokratisierung oder Militarisierung?
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Dirk Biestmann-Kotte "Das Evangelium nicht predigen, sondern es leben ... " Das Haus Gnade, Haifa, und der Dialog des Lebens
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Ulrieh S ehoen Christen und Muslimen: Zwei Beispiele für gelungenes Zusammenleben auf der Iberischen Halbinsel- vor der Reconquista im Mitderen Osten - vor den Kreuzzügen
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Josef Estermann "Religionen und Gewalt" - zusammenfassende Thesen
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Josef Estermann Religion und Gewalt Dialektik von Globalisierung und Fundamentalisierung
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VORWORT In unserer Zeit zeigt sich immer wieder, dass sich bei der Entstehung und im Verlauf zahlreicher nationaler und internationaler gewaltsamer Konflikte religiöse Faktoren nachweisen lassen. Das überrascht insofern nicht, als die Religionen seit jeher mit dem Phänomen menschlicher Gewaltanwendung verbunden sind: "Gewalt und Krieg wurden religiös gedeutet, allzu häufig religiös legitimiert oder gar gefordert. Doch ebenso findet die grundsätzliche Kritik an der Gewalt und die Klage über ihr leidvollen Konsequenzen für die Opfer ihren beredtesten Ausdruck in religiös-ethischen Zusammenhängen" (Gerechter Friede, 192). Sind Religionen also Auslöser von Gewalt oder Friedensstifter? Wie gewaltanfällig und wie friedensfahig sind sie? Liegt das Problem im Kern der Religion oder in ihrer Instrumentalisierung? Welche Rolle spielen Religionen bei der Entstehung und bei der Überwindung von Gewalt? Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge des Forums zu Mission und Weltkirche, welches gemeinsam vom Institut für Missionswissenschaft der Universität Münster, dem Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V. Aachen und der Akademie Franz-Hitze Haus im Januar dieses Jahres in Münster organisiert und durchgeführt wurde. Die Herausgeber danken den Referenten, dass sie ihre Beiträge auf vielfach geäußerten Wunsch einer größeren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt haben, und zugleich hoffen sie, damit einen kleinen Diskussionsbeitrag zu einer nach wie vor höchst aktuellen Problematik beizusteuern. Frau Eva Mundanjohl vom Missionswissenschaftlichen Institut in Münster sind sie für die Bearbeitung der Manuskripte und die Fertigstellung der Druckvorlage zu besonderem Dank verpflichtet.
Giancarlo Collet- JosefEstermann
ZUR EINFÜHRUNG GIANCARLO COLLET Die dramatischen Ereignisse des 11. Septembers im vergangenen Jahr haben dem Thema dieser Tagung "Religionen und Gewalt" eine brennende Aktualität gegeben, mit denen die Veranstalter nicht rechnen konnten, als sie sich an die Planung des Forums machten. Doch trotz der Aktualität der Fragestellung, welche Rolle Religionen in gewaltsamen Konflikten spielen, war es bis zu Beginn dieser Woche noch fraglich, ob die Tagung angesichts der geringen Anmeldungen zur Teilnahme überhaupt durchgeführt werden kann. Umso mehr freue ich mich, dass nun diese Tagung wegen Ihres Interesses zu Stande gekommen ist, und ich möchte Sie und die Referenten begrüßen und für Ihre Mitarbeit herzlich danken. Im Dezember 1998 wurde auf der achten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Harare, Simbabwe, die Dekade zur Überwindung von Gewalt ins Leben gerufen, und vor einem Jahr wurden dazu weltweit Eröffnungsveranstaltungen organisiert. Der ÖRK verpflichtete sich, mit den Kirchen in Fragen der Gewaldosigkeit und der Versöhnung zusammenzuarbeiten und mit internationalen Partnern und Organisationen Ansätze zur Konfliktbewältigung zu prüfen und zu entwickeln sowie die Schaffung eines gerechten Friedens im Kontext der rapide voranschreitenden Globalisierung zu ermöglichen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, hat sich der ÖRK deshalb folgende Ziele gesetzt: • Auseinandersetzung mit einem breiten Spektrum an direkter und struktureller Gewalt zu Hause, in Gemeinschaften und auf internationaler Ebene, und lernen von lokalen und regionalen Analysen der Gewalt und Wegen zu ihrer Überwindung. • Aufforderung an die Kirchen, die Ausübung von Gewalt zu überwinden und auf jede theologische Rechtfertigung von Gewalt zu verzichten, um damit die Spiritualität von Versöhnung und aktiver Gewaldosigkeit zu bekräftigen. • Erarbeitung eines neuen Verständnisses von Sicherheit, im Sinne von Zusammenarbeit und Gemeinschaft statt Herrschaft und Konkurrenz. • Lernen von der Spiritualität Andersgläubiger und ihren Möglichkeiten, Frieden zu schaffen und Zusammenarbeit mit ihnen bei der Suche nach Frieden. • Protest gegen die zunehmende Militarisierung der Welt.
Zur Einfiihrung
5
Diese vom ÖRK ins Leben gerufene Dekade zur Überwindung von Gewalt, welche auch im Hintergrund dieser Tagung steht, möchte ein Forum bieten, auf dem Erfahrungen der Gemeindearbeit ausgetauscht werden und Menschen voneinander lernen können. Einen weiteren Grund bot ein Hirtenwort der Deutschen Bischofskonferenz, das einige Monate vor Beginn unserer gemeinsamen Planung erschienen war. Im September 2000 veröffentlichten die deutschen Bischöfe ihr Schreiben "Gerechter Friede". Darin wird der gerechte Friede als Leitbild der Kirche eingehend formuliert und festgehalten. Seit dem 1983 veröffentlichten ersten Hirtenwort "Gerechtigkeit schafft Frieden" hatte sich die politische Lage Europas und der Welt dramatisch verändert. 1989 begann das kommunistische Herrschaftssystem und damit die bipolare Weltordnung zusammenzubrechen. 1991 kam es zum zweiten Golfkrieg, und in Europa führte der Austritt Sloweniens aus der Bundesrepublik Jugoslawien zu militärischen Auseinandersetzungen. Der Krieg griff schließlich nach Kroatien und Bosnien über. "Der Schock über diesen unerwarteten Ausbruch zerstörerischer Gewalt in Europa ließ allerdings nicht weniger erschreckende Ereignisse außerhalb Europas in den Hintergrund treten: eine ganze Serie blutiger Konflikte in Somalia, Liberia, Sierra Leone, Zaire und im Sudan, gipfelnd im Völkermord in Ruanda. Seither reißt die Kette gewaltsamer Auseinandersetzungen in der Welt nicht mehr ab: Sie reicht vom Kosovo, über Tschetschenien und zahlreiche Nachfolgestaaten der Sowjetunion bis zum Nahen Osten, nach Afghanistan, Indien und Pakistan und bis nach Afrika, das zu beträchtlichen Teilen inzwischen in ein unüberwindbar scheinendes Kriegssystem verstrickt ist." (GF 5). Dabei lässt sich folgende Beobachtung machen: Der klassische Kriegstypus, bei dem Armeen feindlicher Staaten sich gegenüber stehen und einander bekämpfen, hat erheblich an Bedeutung eingebüßt, weil inzwischen nämlich die innerstaatlichen Konflikte enorm zugenommen haben. Das lässt an der TragHihigkeit friedenspolitischer Konzepte zweifeln, die sich auf zwischenstaatliche Konflikte konzentrieren. Dazu kommt ein Weiteres: Selbst dort, wo es nicht zu gewaltsamen zwischen- und innerstaatlichen Auseinandersetzungen kommt, ist noch lange nicht ein gerechter und tragfähiger Friede garantiert. So beanspruchen beispielsweise die " [...] Menschen in den Industrieländern, die 20 % der Weltbevölkerung ausmachen, [...] gegenwärtig etwa 80% des globalen Ressourcenverbrauchs. Die Ausdehnung unseres Lebens- und Wirtschaftsstils auf die übrigen 80% der Weltbevölkerung würde die Tragekapazität der Erde bei weitem überfordern. Von einem Teil der Welt wird gegenwärtig ein Wohlstandsmodell beansprucht, praktiziert und offensiv verbreitet, das nicht für die ganze Welt geeignet ist. Schon heute ist der Kampf um die knappen ökologischen Ressourcen (Wasser, Bo-
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Giancarlo Collet
den schätze, landwirtschaftliche Flächen u.a.) [...] häufige Ursache für kriegerische Auseinandersetzungen. "1 Und welche Rolle spielen Religionen in solchen latenten und offenen Konflikten? Leisten sie selbst ideologische Schützenhilfe oder werden sie dazu missbraucht und instrumentalisiert, um partikulare Interessen zu vertreten? "Bis heute hält sich bei vielen Menschen die feste Überzeugung oder zumindest der Verdacht, vor allem die monotheistischen Religionen - unter ihnen besonders das Christentum und der Islam - seien ihrem Wesen nach intolerant und friedensunfahig. Dies muss als Anfrage theologisch ernstgenommen und praktisch beantwortet werden. Über die .notwendige ehrliche Selbstkritik der Religionsgemeinschaften hinaus hängen deswegen ihre Glaubwürdigkeit und Überzeugungs kraft entscheidend davon ab, ob und wie weit sie - unabhängig von ihren eigenen Rechten und Interessen - in ihrem tätigen Einsatz für den Frieden für die Rechte und legitimen Interessen anderer Menschen und Gruppen eintreten. Dies gilt gerade in jenen Ländern, in denen die Religionen einen starken Anteil am öffentlichen Leben haben." (GF 192) Damit sind einige Gedanken angesprochen, welche die Organisatoren dieser Tagung veranlassten, ihr folgendes Konzept zu geben: Zunächst wird Prof. Ahrens heute Abend gleichsam in einem "tour d' horizon" religiöse Dimensionen der Gewaltproblematik aufspüren und zu zeigen versuchen, wie uns diese selbst und das Verständnis des Christlichen betrifft. Morgen werden wir uns dann konkreten Fallbeispielen zuwenden und nach der jeweiligen Funktion von Religion(en) in gesellschaftlichen Konflikten fragen: Dazu werden wir Beiträge zu Bosnien (prof. Th. Bremer), zu Sri Lanka (Dr. E. Seemampillai), zu Indonesien (prof. B. Kieser) und zur Demokratischen Republik Kongo (Dr. A. Muombo-Mwana) von ausgewiesenen Fachleuten hören können und die Gelegenheit haben, darüber mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Bewusst wurde der Blick über den eigenen Kontinent ausgeweitet, nicht zuletzt deshalb, weil wir Teil der Völkergemeinschaft sind und als Kirche zur Weltökumene gehören, die sich gemeinsam mit allen Menschen um Frieden sich zu bemühen haben. Schließlich wird es darum gehen, positive Beispiele interreligiösen Dialogs und Zusammenlebens kennen zu lernen, ohne dabei die harte Alltagswirklichkeit, wie sie etwa der von Hass erfüllte Kampf zwischen den Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten und der dadurch radikal gefahrdeteFriedensprozess darstellen, auszublenden. Von ihren Erfahrungen werden D. Biestmann-Kotte und Prof. U. Schoen aus erster Hand berichten und uns daran teilnehmen lassen.
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KOMMISSION FÜR GESELLSCHAFILICHE UND SOZIALE FRAGEN DER
Zukunft der Schöpfung, Bonn 1998, Nr. 19.
DBK: Handeln für die
Zur Einfilhrung
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Nach einer Tradition katholischer Verbände findet am morgigen 11. Januar die Gebetsstunde zum Weltfriedenstag statt, in der das Engagement für Frieden und Gerechtigkeit im gemeinsamen Gebet verankert werden soll. Und für den 24. Januar hat Johannes Paul 11. Vertreter der Religionen der Welt zu einem Gebetstreffen nach Assisi eingeladen, um für die Überwindung von Gegensätzen und für die Förderung des Friedens zu beten. Wenn es stimmt, dass der "Friede [...] in den Köpfen und Herzen der Menschen gewonnen oder verloren" wird (GF 197), so werden Notwendigkeit und Dringlichkeit einer solchen Verankerung einleuchtend. Einen kleinen Beitrag zur ökumenischen Besinnung auf den, der "unser Friede ist" (Eph 2, 14), erhoffen wir mit dieser Tagung, um uns verstärkt für einen gerechten Frieden unter den Menschen und Religionen einzusetzen.
DAS KREUZ MIT DER GEWALT RELIGIÖSE DIMENSIONEN DER GEWALTPROBLEMATIK* THEODOR AHRENS
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Der Zangengriff der Gewalt
1.1 Gewalt scheint nach den Menschen mit dem Doppelgriff einer Zange zu fassen. Gewöhnlich verbirgt sich Gewalt hinter einem Grauschleier der Alltäglichkeit. So erschleicht sie sich den Schein des Selbstverständlichen. Dann wiederum bricht sie aus ihrer Alltäglichkeit hervor, unversehens - wie ein Vulkanausbruch. Der 11. September 2001 war so ein Tag. Selbstmordattentäter lenken von ihnen entführte Flugzeuge auf die Twin Towers des World Trade Center in New York bzw. ins Hauptgebäude des US-Verteidigungsministeriums - also die wirtschaftlichen bzw. militärischen Wahrzeichen der Vereinigten Staaten schlechthin, reißen Tausende mit sich in den Tod, verbreiten bei vielen nachhaltig Angst und Schrecken. Viele Menschen, und wir mit ihnen, werden zu Augenzeugen neuer Formen destruktiver Gewalt. 1 Manche Grenzen treten uns neu ins Bewusstsein erst nachdem sie überschritten wurden. Wir sehenls und die Erkenntnis wird unausweichlich, dass es keine Grenzen geben dürfte, die gewalttätige Menschen zu überschreiten nicht im Stande wären. 2 Die Terroristen, wer waren sie? Aus unserer Sicht Kriminelle, gewiss. Im eigenen Verständnis möglicherweise Menschen in einer Mission. Jedenfalls opfern die Täter ihr Leben und machen Tausende zu Opfern ihrer Gewalt. Ob die Täter ,nur' ein Symbol westlicher Vorherrschaft treffen wollten oder sich in ihren Gewaltphantasien sogar vorgestellt haben, der ,Feind' würde tatsächlich kollabieren, wenn er nur im Nerv des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Systems getroffen würde? Das Opfer ihres Lebens im Verein mit • Gleichzeitig erschienen in: AHRENS, Theodor: Mission nachdenken. Studien, Frankfurt am Main 2002, S.199-232. I Dazu KALDOR, Mary: Neue und alte Kriege: Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung, Frankfurt am Main 2000. 2 Vgl. SOFSKY, Wolfgang: Traktat über die Gewalt, Frankfurt am Main 1996. [weiterhin: SOFSKY: Traktat über die Gewalt] DERS.: Paradies der Grausamkeit. Was ist es, das im Menschen sticht, schießt, prügelt, mordet?, in: FAZ, 02.02.1999, Nr. 27, S.S1. (Die Tagesaktualität des Themas mache ich am Beispiel einer Tageszeitung fest).
Das Kreuz mit der Gewalt
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der Zerstörung und dem Chaos, das es stiftete,3 könnte ihnen als im strikten Sinne des Wortes notwendig erschienen sein, um auf diese Weise den Beginn einer gerechteren Weltordnung zu forcieren. Vielleicht war es so. Wir wissen es (noch) nicht. Gewiss ist die terroristische Gewalt, deren Augenzeugen wir wurden, nicht schlichtweg den Religionen anzulasten. Wer wollte schon Nordirland dem Christentum und das World Trade Center dem Islam anlasten? Selbstverständlich führt der Islam keinen Kulturkampf mit dem Westen, ebenso wenig wie der Westen Kreuzzüge gegen den Orient. Genauso abwegig wie derartige Phantasien es sind, wäre es allerdings - wie der libanesische Dichter ABBAS BAYDOUN kürzlich feststellte -, sich nicht aueh dem "Gesicht eines anderen Islam, des Islam der Isolation und der willkürlichen Gewalt" zu stellen, der es während der vergangenen Jahre verstanden hat, sich vom Rand deutlich mehr in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu schieben. Gewiss, da sind die Benachteiligungen und Demütigungen, denen Palästinenser und Muslime anderer Herkunft jahrzehntelang ausgesetzt waren und sind. Dennoch meint BAYDOON: "Wenn wir aber nur dies sehen, so bedeutet das, dass wir vom anderen noch gar nichts gelernt haben. "4 Im Rahmen gängiger politieal eome/ness war es bislang zumindest grenzwertig, festzustellen, dass jedenfalls bestimmte Stränge des Islam, mit historischen Wurzeln bei den muslimischen Bruderschaften Ägyptens und - zuvor noch bei den traumatischen Erfahrungen der Absetzung des letzten islamischen Herrschers in Indien durch die Briten,5 eine motivierende Rolle in der Explosion terroristischer Gewalt gespielt haben dürften. 6 Die Erklärung bin Ladens Das Opfermotiv kann auf beiden Seiten eines Konfliktes virulent werden. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Yassir Arafat - in Kontinuität übrigens zum Palästinaschwur arabischer Flüchtlinge 1948 - in einer Ansprache an palästinensische Sicherheitskräfte in Gaza am 24. September 1996 gesagt haben soll: "Sie werden für Allah kämpfen und sie werden töten und getötet werden, und dies ist ein heiliger Eid: Unser Blut ist billig verglichen mit der Aufgabe, die uns zusammengebracht hat." zitiert nach BEREZ, Louis Bene: Violence and the Sacred. Toward a Troer Understanding ofTerrorism Against Israel, in: Tbe Jewish Press, 11. July 1997, S.l; zum Palästinaschwur der arabischen Flüchtlinge vgl. COLPE, Carsten: Der ,Heilige Krieg'. Benennung und Wirklichkeit. Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994, S.18. Ein Pendant zu solchem Denken findet sich auf dem Grabmal, das das israelische Militär jenem Israeli errichten ließ, der vor einigen Jahren mehrere Dutzend in der Abrahamsmoschee in Hebron betende Muslime erschoss und dann selbst getötet wurde. Es trägt folgende Inschrift: "Er starb mit reinen Händen als ein Märtyrer für sein Volk" (Diese Information verdanke ich Olaf Schumann). 4 BAYDOUN, Abbas: Unser Wahn. Die Krise arabischer Intellektueller, in: FAZ, 09.11.01. 5 Vgl. KEPEL, Gilles: Allah im Westen. Die Demokratie und die islamische Herausforderung, München 1996, S.128ff. 6 U. bin Laden, in: FAZ, 09.10.01. 3
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Theodor Ahrens
nach den ersten Bombardierungen der USA im Sender Al-Dschazira beseitigt meine Zweifel in dieser Hinsicht. 7 Es gab, wie angedeutet, Stimmen, die die Verantwortung für die Selbstmordattentate nicht den Tätern und Anstiftern anlasten wollten, sondern denen, die mit dieser Tat getroffen werden sollten,s Doch was ist mit dem Versuch gewonnen, den Terrorismus mit dem Hinweis zu erklären, er sei nicht nur Folge von Armut, ökonomischer oder politischer Benachteiligung, sondern letztlich das Ergebnis einer Politik der USA, die bei Gelegenheit auch mit Terroristen zusammenarbeiteten?9 In den sechziger Jahren war das eine Debatte unter Intellektuellen des Westens. In unseren Tagen werden solche Ressentiments in die Wirklichkeit terroristischer, krimineller Gewalt eingeschmolzen. Es wäre - um ALAIN FINKIELKRAUT zu zitieren - "ein schändlicher Irrweg"IO, diesem Verbrechen im Namen eines Urverbrechens, dessen Folge es wäre, heiße dies nun Globalisierung, Modernisierung, amerikanischer Imperialismus, Israelpolitik der USA oder auch einfach Kains Mord, im Namen eines vagen Postkolonialismus die Absolution zu erteilen. Es bleibt ein kaum unerklärlicher Rest: Terrorismus hat seine Wurzeln nicht nur in sozialen und kulturellen Deprivationserfahrungen, im Zwang der Vergeltung oder in wahnhaften religiösen Sendungsideen. All das dürfte eine Rolle gespielt haben. Aber was erklärt das? Dahinter liegt vermutlich eine Mischung aus Fanatismus, Zerstörungswut, Verfolgungswahn und Lust an der Gewalt, eine Mischung, die eine orgasmische Befriedigung sucht, und die es schwierig macht, einlinige, direkte Verbindungen zwischen Motiv und Gewalttat herzustellen. II Soviel zu dem einen Arm des Zangengriffs der Gewalt. Der andere verbirgt sich wie gesagt hinter dem Grauschleier ihrer Veralltäglichung.
U. bin Laden: ,,Als Gott eine der Gruppen des Islams segnete, Speerspitzen des Islams, zerstörten sie Amerika. Ich bete zu Gott, daß er sie erhöhen und segnen möge.", in: FAZ, 09.10.01, S.6. Vgl. auch die Dokumentation der britischen Regierung: U sama bin Laden und der 11. Sept. 2001, in: FAZ, 09.10.01, S.12. 8 Roy, Arundhati: Wut ist der Schlüssel. Ein Kontinent brennt - Warum der Terrorismus nur ein Symptom ist, in: FAZ, 28.09.01, S.49-50; und NOMANI, Asra Q.: "Mit Bin Ladens Freund vor dem Fernsehgerät. In pakistanischen Wohnzimmern sieht man CNN mit anderen Augen", in: FAZ, 09.10.01, S.62. 9 CHOMSKY, Noam: "For the First Time the Guns have been Directed the Other Way", Interview with Noam Chomsky, Radio B92 in Belgrad, 18.09.01, nach http://www.afsc.org/peacewrk.htm. 3. III FINKIELKRAUT, ALAIN: Dieser Feind bestimmt uns. Wir sind Soldaten der Zivilisation, in: FAZ, 27.09.01, S.47. 11 Dazu SOFSKY: Traktat über die Gewalt, S.191ff. 7
Das Kreuz mit der Gewalt
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1.2 Wo zeigt sich Gewalt, wo verbirgt sich Gewalt in ihrer Alltäglichkeit? Einige Äußerungen von Gewalt seien kurz aufgelistet: Gewalt äußert sich nicht selten schlicht als Lust an Zerstörung von materiellen und immateriellen Gütern. Dahinter liegen vielleicht Wut, Geltungssucht, Frustration. Eine Verbindung zwischen Motiv und Tat ist häufig nicht ersichtlich. Deutlicher ist die Verbindung zwischen Motiv und Tat in folgenden Beispielen: Gewalt äußert sich als gesellschaftliche Gewalt: Einzelne oder Gruppen werden benachteiligt, an den Rand gedrängt, ihre Würde gekränkt, die daraus abgeleiteten Rechte werden eingeschränkt. Gewalt äußert sich als politische Gewalt: Menschen werden auf Grund ihrer Überzeugungen verhaftet und gefoltert. Die Rechtssicherheit bestimmter Menschen (-gruppen) wird eingeschränkt oder aufgehoben. Die Freiheit der Religionsausübung wird bestimmten Bedingungen unterworfen - das ist wohl in allen Gesellschaften der Fall. Oder aber darüber hinaus Bedingungen, die die Gewissensfreiheit von Menschen einschränken - das ist leider in vielen Gesellschaften der Fall. Gewalt äußert sich als wirtschaftliche Gewalt: Menschen werden angemessene Chancen des Zugangs (z.B. im Bildungssystem) vorenthalten oder ihnen wird eine akzeptable Verteilgerechtigkeit vorenthalten, weil sie bestimmten Gruppen angehören (z.B. den Arbeitern in vielen indischen Steinbrüchen oder asylsuchenden Arbeitern ohne Aufenthaltsgenehmigung). Gewalt äußert sich als ökologische Gewalt: Ressourcen der Natur werden ohne Rücksicht auf gegenwärtige und künftige Generationen ausgebeutet. Gewalt äußert sich als kulturelle und religiöse Gewalt: Glaubensvorstellungen anderer Menschen, Religionen werden herabgesetzt oder deren Heiligtümer werden zerstört. Religiöse Gewalt kann sich auch gegen Angehörige der eigenen Religion richten: Meinungsmacher und Entscheidungsträger monopolisieren die Auslegung der religiösen Tradition und versuchen so, die Gewissen der Gläubigen zu beherrschen. Dem Fundamentalismus ist Gewalt inhärent. Im Kern besagt Fundamentalismus nichts anderes als die Ideologie und die Praxis, den jeweils als Feind
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Theodor Ahrens
Gezeichneten im Dienst einer vermeintlich guten Sache zurückzudrängen, zum Schweigen zu bringen und, wenn es passt, durchaus auch zu vernichten. Gewalt äußert sich als geschlechts spezifische Gewalt: Die Würde von Frauen und deren Rechte werden anders eingestuft als die von Männern. Gewalt äußert sich als Gewalt gegen Alte und Pflegebedürftige. Gewalt äußert sich als Gewalt gegen Kinder (sexueller Missbrauch, Nötigung zu bestimmten Formen des Erwerbs, Verkrüppeln von Kindern durch Eltern und Familie). Gewalt äußert sich als Gewalt gegen das ungeborene Leben. Schließlich: Gewalttätig sind wir gegen uns selbst und gegen die Nächsten: Wir alle üben Gewalt aus und wir alle erleiden Gewalt - oft zu gleicher Zeit. Zwischenbilanz: Die Frage, wo destruktive Gewalt in Erscheinung tritt, verbindet sich mit vielen Themen, wurzelt in vielen Situation, ist anscheinend jedem Trend verbunden, den wir ausmachen, taucht in nahezu jeder Perspektive auf, die ausgeleuchtet wird: Seien dies die weltweite Angleichung der Lebensstile, die die Globalisierung aufnötigt, seien es regional verankerte Gegenbewegungen, die auf dem ,Recht anders zu sein' bestehen. Gewalt kehrt zurück in die alltäglichsten Orte und in die geheimsten Winkel unserer Gesellschaft. Die modernen Medien verstärken diesen Eindruck. Sie verschaffen destruktiver Gewalt eine weitreichende Präsenz und zuweilen den Schein allmächtiger Gegenwart. Ob nun die moderne Zivilisation besonders gewalttätig ist, ob unser geschichtliches Erinnern an Tiefe verliert oder wir nur wegen besserer Informations- und Kommunikationsnetze Gewalt, wo immer sie aufbricht, schneller sehen können - unsere Zeit erscheint als eine Gewalt erfüllte Zeit.
Der Zangengriff der Gewalt - einerseits die Gewöhnung an ihre Alltäglichkeit, andererseits das lähmende Entsetzen angesichts letztlich unbegreiflicher Gewaltausbrüche - droht viele Menschen zu Geiseln der Gewalt zu machen, trägt diese doch den Anschein von Unentrinnbarkeit und Allmacht. Müssen wir Gewalt also einfach hinnehmen, weil sie zum Grundgefüge unserer Gesellschaft gehört, oder handelt es sich jeweils um eine ,kulturelle Entgleisung', um die sozusagen ,abschaffbare Seite' menschlichen Miteinanders? Die Frage ,gibt es kein Entrinnen vor der Gewalt?' ist so alt wie die Mensch-
Das Kreuz mit der Gewalt
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heit. Seit dem Brudermord in den unvordenklichen Tagen (Gen 4,1) breitet sich Gewalt aus und Ruchlosigkeit bedeckt das Erdreich (Gen 6,11). Einerseits legt sich Fatalismus nahe: Gewalt ist unentrinnbar, sie gehört zur menschlichen Natur und daher auch zum Grundgefüge jeder menschlichen Gesellschaft. Andererseits nehmen wir Gewalt nicht mehr einfach fatalistisch hin. Anders als es in vormoderner Zeit der Fall gewesen sein mag, verliert Gewalt den Schein ihrer Selbstverständlichkeit. Sie verliert auch den Schein ihrer Unentrinnbarkeit. Wir leben in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat, in dem jedenfalls destruktive Gewalt in der Öffentlichkeit durch öffentliches, demokratisch legitimiertes Recht und durch das Prinzip der Gewaltenteilung zurückgedrängt wurde. t2 Wir nehmen also Gewalt nicht mehr einfach hin. Wir anerkennen, dass wir als Menschen miteinander verantwortlich, weil frei sind. Gewalt ernst nehmen heißt, sich der Wirklichkeit der Macht des Bösen stellen. Dem Fatalismus der Meinung, gegen Gewalt lässt sich nichts machen, sollten alle Menschen guten Willens das Handwerk legen. Zuständig sind alle Menschen. Das kommt zum Ausdruck nicht zuletzt in vielfältigen Initiativen der Vereinten Nationen, die darauf zielen, Gewalteinzudämmen und Ursachen der Gewalt zu beheben. 13 Zuständig sind auch die Christen und mit ihnen die Kirchen. Christen und Kirchen sind ebenso wie alle anderen von Gewalterfahrungen betroffen, in Gewaltausübung involviert und für Gewalteindämmung verantwortlich. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat seine Zuständigkeit erklärt und nach einer Vorlaufphase t4 Anfang der neunziger Jahre in Harare für den Zeitraum 2001 Zur Orientierung vgl. den Artikel: SCHREY, Heinz Horst: Art. Gewalt/Gewaldosigkeit in: TRE 13, S.168-178 sowie: LIENEMANN, Wolfgang: Art. Gewalt, Politisch, in: RGG IV, Bd. 3, S.883884; DERS.: Frieden (Ökumenische Studienhefte 10), Göttingen 2000, S.17ff. [weiterhin: LIENEMANN: Frieden] Ebenso KOCH, Traugott: "Protestantisches Christentum und der neuzeidiche Rechtsstaat", in: MEHLHAUSEN,]oachim (Hg.): Recht Macht Gerechtigkeit, Gütersloh 1988, S.93-104. 13 Genannt seien die Initiativen "International Decade for a Culture of Peace and Non-violence for the Children of the World (2001 -2010)". "United Nations Year of Dialogue among Civilizations (2001)". 14 VGL. DAZU: ÖRK PROGRAMMEINHEIT III (Hg.): Programm zur Überwindung von Gewalt. Einführung, ÖRK Programmeinheit III, Genf 1995. [weiterhin: Programm] Ferner: ÖRK (Hg.): Gewalt überwinden. Ein Programm des Ökumenischen Rates der Kirchen, Genf 1997 (mit Dokumentation der einschlägigen Beschlüsse des Zentralausschusses des ÖRK seit 1994 und einer Skizze des Projekts "Peace to the City", engl. Overcome Violence Geneva 1997). 12
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Theodor Ahrens
- 2010 eine Dekade zur Überwindung von Gewalt ausgerufen. 15 Wenig später verabs.chiedet der Zentralausschuss des· ÖRI< einen Rahmenplan, der das Projekt inhaltlich profiliert und zeitlich strukturiert. 16
2 Wie betrifft die Gewaltproblematik die ökumenische Bewegung, ihre Mitgliedskirchen und die, die sich der ökumenischen Bewegung verpflichtet wissen? Das Programm wird hier nur im groben Umriss vorgestellt. 17 Mitgliedskirehen, Aktionsgruppen und Einzelne werden eingeladen, sich an dieser Initiative so zu beteiligen, dass ein weltumspannendes Netzwerk aktiver Gewaltlosigkeit und Versöhnungsarbeit entsteht, in dem der Geist, die Logik und die Ausübung von Gewalfl 8 nachhaltig in Frage gestellt, ja überwunden werden. 19 Folgende Leitvorstellungen werden für das Projekt vorgegeben: Zunächst wird eine ,,[...] ganzheitliche Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum von direkter wie auch struktureller Gewalt zu Hause, in Gemeinschaften und auf internationaler Ebene" ins Auge gefasst. Sodann wird die seinerzeit von den evangelischen Kirchen der damaligen DDR in die ökumenische Diskussion eingebrachte Forderung, auf" [...] Eine religions- und ökumenewissenschaftliche Reflektion auf einige Aspekte dieser Initiative findet sich in dem Seminarbericht: AHRENS, Theodor - FREYTAG, Justus - GARDINER, FredSCHRAMM, Tim: Religion und Gewalt, in: AHRENS, Theodor (Hg.): Zwischen Regionalität und Globalisierung. Studien zu Mission, Ökumene und Religion, Hamburg 1997, S.369-408. [weiterhin: AHRENS u.a: Religion und Gewalt] 15 WILKENS, Klaus (Hg.): Gemeinsam auf dem Weg. Offizieller Bericht der Achten Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen Harare, Frankfurt am Main 1999, S.268. 16 "Rahmenkonzept für die Dekade zur Überwindung von Gewalt", in: ÖR (2000) 4, S.473 - 478 [weiterhin: Rahmenplan]; Orientierung zur Initiative des ÖRK: KÄßMANN, Margot: Gewalt überwinden. Eine Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen, Hannover 2000. Im Anhang (S.143ff.) einige Dokumente zur Genese des Projektes, dabei auch das Rahmenkonzept, S.151ff. 17 Dazu ENNS, Fernando (Hg.): Dekade zur Überwindung von Gewalt 2001-2010. Impulse mit Beiträgen von Konrad Raiser, Fernando Enns, Gerd Theißen, Herbert Froelich, Georg Lämlin, Frankfurt am Main 2001. Ferner Themenheft der Ökumenischen Rundschau, 49 (2000) 4, sowie das Themenheft zur Gewaltproblematik der ZMR 83 (1999) 4, mit Beiträgen von Theodor Ahrens, Antje Vollmer, Jörg Dierken und Paulo Suess sowie Margot Käßmann. IR Rahmenplan, S.475. 19 Vgl. Programm.
Das Kreuz mit der Gewalt
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Geist, Logik und Praxis der Vergeltung mit Massenvernichtungswaffen"20 zu verzichten, radikalisiert: Die Kirchen möchten dazu beitragen, " [...] Geist, Logik'und Ausübung von Gewalt Zu übenPinden".21 Es gelte ein neues Verständnis von Sicherheit zu gewinnen, das die Erkenntnis, wir lebten in einer Welt wechselseitiger Abhängigkeit im Sinne vom Gemeinschaft und Zusammenarbeit statt Herrschaft und Konkurrenz, verarbeitet. Schließlich wird auf den religiösen Faktor der Gewaltproblematik aufmerksam gemacht und ·empfohlen, sich für die Möglichkeit zu öffnen, von der" [...] Spiritualität Andersgläubiger und ihren Möglichkeiten Frieden Zu schaffen [...] zu lernen", in dem Zusammenhang sich allerdings auch mit dem" [...] Missbrauch religiöser und ethnischer Identität auseinander zu setzen. "22 Im Kern geht es darum, dass die Ortsgemeinden, die so genannte ,Basis', ihre Erfahrungen mit der Gewalt so bearbeiten, dass die Frage nach einem christlichen Beitrag zum Frieden" [...] vom Rand in das Zentrum des Lebens und Zeugnisses der Kirche"23 rückt. Die Initiative des ÖRK erscheint einerseits ebenso zeitgemäß wie notwendig. Andererseits mutet sie völlig utopisch an. Utopisch, weil das, das angeregt und gefordert wird, auf nicht weniger als einen gewaltigen Sprung der Verfasstheit des kirchlichen Common Sense ebenso wie der gesellschaftlichen Realität hinauslaufen dürfte. Skeptiker werden fragen: Verfügt die ökumenische Bewegung, verfügen die Mitgliedskirehen des ÖRK über die Ideen, die Mittel, die Kräfte, Gewalt "zu überwinden"? Setzt eine derartige Initiative nicht ein zu optimistisches Bild vom Menschen und seiner Gesellschaft voraus? 24 Setzt eine derartige Initiative nicht auch eine Überschätzung der Einflussmöglichkeiten des Christentums, insbesondere der Genfer ökumenischen Bewegung voraus? Vielleicht. Vor dem Hintergrund der gewaltigen Kräfte, die in den Beziehungen zwischen den Gesellschaften und Kulturen der Welt zum Tragen kommen, erscheinen der Status und die Einflussmöglichkeiten der im Ökumenischen Rat verbundenen Kirchen eher gering. Dazu kommt die Ambivalenz der Religionen im Allgemeinen und auch des Christentums im Blick auf die Gewaltproblematik. Wir sehen Bischöfe und Mullahs ja keineswegs nur auf Friedensdemonstrationen. 20 Programm, S.13. 2\ Rahmenplan, S.475. 22 Rahmenplan, S.475. 23 Rahmenplan, S.474. 24Konrad RAISER notiert die Frage bei: ENNS, Femando (Hg.): "Gewalt überwinden, Ökumenische Reflexionen zu einer 'Kultur aktiver und lebens freundlicher Gewaltfreiheit" , S.ll-30, 27. [weiterhin: Enns: Gewalt überwinden]
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Andere werden darauf verweisen, dass die Initiative des ÖRK ebenso zeitgemäß wie vom Evangelium her geboten ist, weil sie auf Themen verweist, die nicht am Rande, sondern an der Wurzel des Christlichen liegen - wie immer es um den Stellenwert dieser Themen in der aktuellen Praxis der Mitgliedskirchen bestellt sein mag. Und sie werden darauf bestehen, dass weder der Schein des U topischen noch die relative Einflusslosigkeit der ökumenischen Bewegung, der Kirchen und Gruppen, noch auch die Belastung der Kirchen selbst durch eine Geschichte der Gewalt, die Adressaten dieser Einladung abhalten sollte, sich von der Hereingabe des Themas behaften zu lassen und konsequenterweise auch für das einzutreten, was sie für erforderlich und notwendig halten. Denn manchmal erfolgen die wichtigen Veränderungen ja vom Rande her. 25 Die Geschichte der ökumenischen Bewegung gibt dafür Beispiele her: Auch während der Anfange der' Ökumenischen Bewegung, damals, nach dem Ersten Weltkrieg, ging es um einen solchen Sprung im christlichen Auftragsbewusstsein: Um das Evangelium auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, das heißt auch im sozialen und politischen Geschehen zur Geltung zu bringen, müsse sich die christliche Religion" [...] zu einer höheren und volleren Auffassung der christlichen Frömmigkeit und ihrer Aufgabe in der internationalen Welt erheben"26, meinten nach den Schrecken und der Gewalt des Ersten Weltkriegs die auf der Weltkonferenz für Praktisches Christentum 1925 in Stockholm Versammelten. Die Hoffnung schien auch damals utopisch und stiftete Streit. 27 Aber das Thema ,saß'. Es wies in die Zukunft, nicht nur der ökumenischen Bewegung, sondern aller Menschen guten Willens. Gut zwanzig Jahre später, während der Gründungsversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948, war deutlich, dass eine Reich-Gottes-Ethik mit der Perspektive einer Verwandlung der Welt in eine Kultur der Gewaltlosigkeit und Gerechtigkeit nicht mehr diskutabel war. Gleichzeitig schien es dringlicher denn je, sich auf Grundsätze und Leitlinien zu verständigen, die Kirchen und
Für die Missionsgeschichte zeigt das WALLS, Andrew: The Missionary Movement in Christian History. Studies in the Transmission of Faith, Edinburgh 1996, S.241 ff. 26 DEIßMANN, Adolf (Hg.): Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz. Amtlicher Deutscher Bericht, Berlin 1926. Bericht der Kommission 111, S.79ff., Zitat 80. [weiterhin: DEIßMANN: Stockholmer Weltkirehenkonferenz] 27 Dazu WEIßE, Wolfram: Reich Gottes Hoffnung gegen Hoffnungslosigkeit (Ökumenische Studienhefte 6), Göttingen 1997, S.106ff. 25
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Christen ermöglichten, ihre Beiträge zur Förderung des Friedens und gesellschaftlicher Gerechtigkeit zu konkretisieren. 28 Ein ökumenischer Grundkonsens29 zur Frage, welche Haltung Christen und Kirchen zu militärischer Gewalt und Gewaltlosigkeit einnehmen sollten, war damals allerdings nicht zu erzielen. So ist es auch heute. 3D Ausgelöst durch das Antirassismusprogramm und die Diskussion über die damals neue Befreiungstheologie hat der Konflikt um Gewalt und Gewaltlosigkeit die ökumenische Diskussion und die Beziehung zwischen den Kirchen in Deutschland und dem ÖRK zeitweise belastet. 31 Die Fronten, an denen die Frage nach Legitimität oder Ill€gitimität von Gewaltanwendung strittig wurden, waren die Apartheidsproblematik, die Frage nuklearer Rüstung und die Stationierung der Mittelstreckenraketen in Westeuropa, dann Gewalt gegen Frauen und Kinder; zuletzt die Intervention der NATO im Balkankonflikt. Radikale Gewaltlosigkeit, die keine Ausnahmen macht, scheint manchen ebenso geboten, wie anderen der Einsatz militärischer Mittel als ultima ratio einer menschenrechtlich orientierten Politik noch vertretbar erscheint. Ungeachtet solcher ökumenischen Konflikte über eine angemessene Repräsentanz des Christlichen angesichts der vielfältigen Äußerungen von Gewalt, 28 Vgl. den Bericht der Sektion IV der Vollversammlung des ÖRK in Amsterdam 1948 von VISSER'T HOOFT, W.A. (Hg.): Die Kirche und ~e Internationale Unordnung. Bd.5 der Konferenzdokumentation, Genf 1948, S.116-141. Zum Verlauf der ökumenischen Diskussion vgl.: ABRECHT, Paul: From Oxford to Vancouver. Lessons from Fifty Years of Ecumenical Work for Economic and Social Justice, in: ER 40 (1998) 2, S.147-168; BENT, Ans van der (Hg.): Vital Ecumenical Concerns. Sixteen documentary surveys, Geneva 1986, S.116-146; WEIßE, Wolfram: Praktisches Christentum und Reich Gottes. Die ökumenische Bewegung Life and Work 1919-1937, Göttingen 1991, S.295ff.; FRIELING, Reinhard: Der Weg des ökumenischen Gedankens. Eine Ökumenekunde (Zugänge zur Kirchengeschichte 10), Göttingen 1992, S.313ff.; S.322; LIENEMANN, Wolfgang: Frieden, S.57ff., S.132ff., S.163ff.; EKD (Hg.): Frieden wahren fördern und erneuern. Denkschrift der EKD, Gütersloh 1981. Sowie EKD (Hg.): "Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz" (EKD Texte 48), Gütersloh 2001. 29 Vgl. ÖRK (Hg.): Gewalt und Gewaltfreiheit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit, Genf 1973, in: Beiheft zu ÖR 24 (1974), S.83-101; EKD (Hg.): Gewalt und Gewaltanwendung in der Gesellschaft. Eine theologische Thesenreihe zu sozialen Konflikten, erarbeitet von der Kammer der Evangelischen Kirche in Deutschland für öffentliche Verantwortung, Gütersloh 1973. 30 V gl. dazu: EpPs, Dwain: Konstruktiv gestritten. Kein Konsens über humanitäre Interventionen im Zentralausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: der überblick. Zeitschrift für ökumenische Bewegung und internationale Zusammenarbeit 37 (2001) 3, S.95-99 und ENNS, Fernando: Wer entscheidet, ob ein Krieg gerecht ist?, in: der überblick. Zeitschrift für ökumenische Bewegung und internationale Zusammenarbeit 37 (2001) 3, S.l 00-1 02. 31 V gl. die Stellungnahmen vom ÖRK und der EKD: ÖRK: Gewaltanwendung und Gewaltfreiheit sowie: HEßLER, Hans-Wolfgang (Hg.): Antirassismusprogramm der Ökumene (epd dokumentation 5), Witten 1971 und: DERS. (Hg.): EKD und Kirchen im südlichen Afrika (epd dokumentation 12), Witten 1974.
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hat die ökumenische Bewegung das Klima in den Mitgliedskirchen, die Wahrnehmung des Christlichen bei den' Laien, die Bewusstseinslage in den Kirchenleitungen, die Selbstwahrnehmung der einzelnen Konfessionen, ja das Erscheinungsbild der Weltchristenheit verändert - und zwar weit über das hinaus, was den Initiatoren zu Anfang des Jahrhunderts erreichbar schien. 32 Dafür waren vermutlich zwei Grunde ausschlaggebend: Die ökumenische Bewegung, bezogen auf die Milieus der großen Kirchen durchaus randständig und kirchenpolitisch relativ machtlos, hat es von ihren AnHingen nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder verstanden, Themen aufzugreifen, die bisherige kirchliche Selbstverständlichkeiten unterminierten, Themen, die in den kirchlichen Milieus selbst vorerst noch keine zentrale Verankerung hatten, aber in die Zukunft wiesen. Dazu gehörte auch und nicht zuletzt die Kriegsund Friedensthematik. Zweitens hat die ökumenische Bewegung geeignete Organisations formen entwickelt, um diese Themen in die Kirchen hinein zu tragen. 33 Am Rande der etablierten Kirchen, nicht ohne wichtige Impulse aus dem universitären Milieu, formte sich, wie der Neutestamentler ADOLF DEIßMANN während der Stockholmer Weltkirchenkonferenz in einer Tischrede sagte, ein" [...] Netzwerk solidarischen Empfindens [...] mitten im Haß und in der Zerstörung"34. Es war die überlegene Beweglichkeit ökumenischer Solidaritätsgruppen, die es ermöglichte, die Themen der ökumenischen Bewegung in die Kirchen und in die Gesellschaft hinein zu tragen - nicht selten gegen Gleichgültigkeit und zuweilen gegen entschlossenen großkirchlichen Widerstand. Die Dynamik der ökumenischen Bewegung lebt davon, dass es der Genfer Ökumene immer wieder gelingt, ihren Mitgliedskirchen zu der Frage ,was ist - christlich gesehen - rillig und geboten, thematische Vorgaben zu machen, und dass die Mitgliedskirchen auf diese Herausforderungen gerne mit der Gegenfrage antworten: ,Gut, aber was ist kirchlich gesehen zumutbar und umsetz bar?' In diesem Spannungs feld tauchen viele Fragen auf. Ich benenne drei:
RUEGGER, Heinz: Ökumene heute. Wider die zum Ritual gewordene Rede von der ökumenischen Krise, in: ÖR 46 (1997) 4, S.412-425. 33 Dazu STODDE, Heinz-Günther: Konflikte um Identität Eine Studie zur Bedeutung von Macht in interkonfessionellen Beziehungen und im ökumenischen Prozeß, in: LENGSFELD, Peter (Hg.): Ökumenische Theologie. Ein Arbeitsbuch, Stuttgart 1980, S.190-237. 34 Die Stockholmer Weltkirchenkonferenz. Vorgeschichte, Dienst und Arbeit der Weltkonferenz für Praktisches Christentum 19.-30. August 1925, in: DEIßMANN, Adolf (Hg.): Worte während der Abschiedsfeier, Berlin 1926, S.441. .12
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Wie betrifft uns die Gewaltproblematik im Schnittfeld religiöser und politischer Perspektiven? Wie betrifft sie unser Verständnis des Christlichen selbst? Was können/sollten Christen und Kirchen tun?
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Wie betnfft uns die Gewaltproblematik im S chnittfeld religiöser und politischer Fragen?
3.1 Ob uns Gewalt nun biologisch vererbt oder kulturell vermittelt wurde - es dürfte keine Gesellschaft auf der Welt geben, der Gewalt nicht inhärent ist. Darum ist die Eindämmung von Gewalt, vielmehr ihre Regulierung, unausweichlich und von jeher die Grundaufgabe jeder menschlichen Gesellschaft. Hingegen dürfte die Erkenntnis, dass alle Menschen vor dem Missbrauch staatlicher Gewalt zu schützen sind, ein kulturgeschichtlich gesehen relativ spätes Phänomen sein. 35 Die Unversehrtheit des Leibes, die Freiheit und Würde des Menschen verdienen Schutz von Seiten der Gesellschaft, staatlichen Schutz. Der moderne, freiheitliche, demokratisch legitimierte Rechtsstaat ist ein Versuch, mit dem biologischen wie mit dem kulturellen Erbe der Gewalt zu leben und zwar so, dass einem gewalttätigen Austrag gesellschaftlicher Konflikte durch Gewaltenteilung und demokratische Legitimation des staatlichen Gewaltmonopols vorgebeugt wird. Gewaltenteilung ist die rechtliche Voraussetzung für eine effektive Begrenzung destruktiver öffentlicher Gewalt. Gewalt wird durch Schaffung sicherer Rechtsräume eingedämmt. Destruktive Gewalt, jedenfalls destruktive Gewalt in der Öffentlichkeit, soll mit Hilfe des rechtlich geordneten Prinzips "Androhung von Vergeltung/Strafe" minimiert werden. Als Kriterien des Einsatzes staatlicher Gewalt gelten die Würde und Freiheit des Individuums. Wo Gewalt eingesetzt wird, um diesen Schutz zu gewährleisten, bedarf sie der Legitimation. Die demokratische Legitimation von Macht und die demokratische Kontrolle des staatlichen Machtmonopols, verbunden mit der Verankerung der Menschenrechte in der staatlichen Verfassung36, sind eine relativ erfolgreiche Strategie der Vermeidung von Gewaltausbrüchen
Vgl. dazu: HUBER, Wolfgang - TÖDT, Heinz Eduard: Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart - Berlin 1977; SELIM, Abou: Menschenrechte und Kulturen, Bochum 1994; HOFFMANN, Johannes (Hg.): Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Frankfurt am Main 1990. 36 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art. 2S sowie Art 1-19. 35
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und zur Minimierung von Gewaltmissbrauch. Die Kirchen und Religionen anerkennen diesen Rahmen und seine Verbindlichkeit. Nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern überall bleiben Menschen darauf angewiesen, dass die Staaten die Schutz- und Abwehrrechte des Individuums gegen den Missbrauch staatlicher Gewalt in ihrer Verfassung verankern - und diese Rechte notfalls auch mit Mitteln demokratisch legitimierter Gewalt sichern. In manchen Gesellschaften, vor allem des Südens, beobachten wir eine Re-kolonisierung der Strukturen junger Nationalstaaten von den traditionellen Gruppen her. Die kolonialgeschichtlich vermittelte Gewaltenteilung wird unterminiert. Die berühmten ,weißen Flecken' kehren auf die Landkarten zurück. Es bedarf also einer Stärkung der Integrität und Stabilität der Institutionen, die im umfassenden Sinne für die Umsetzung von Menschenrechten eingerichtet wurden,37 und es bedarf, wie die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sagt, nicht zuletzt seitens der politischen Entscheidungsträger des ,Glaubens'38 an die Grundrechte auch der eigenen Bürger, wenn diese denn schon keine Wähler sind oder sein können. Seit M. Gandhi gewaltfreie Widerstandspraxis (ahimsa) als Festigkeit in der Wahrheit (sa!Jagraha) zu einem Prinzip seines politischen Ringens um die Unabhängigkeit Indiens machte, hat die Vorstellung des Gewaltverzichts Eingang in die Spiritualität der ökumenischen Bewegung und der Friedensgruppen gefunden. Kein Ausweg aus der Gewalt, es sei denn, Menschen ließen sich auf das Wagnis aktiver Gewaltlosigkeit als einzigem Weg zur Überwindung von Gewalt ein. 39 Gandhi hat sich für seinen Weg auf die Bhagavadgita40 bezogen, und Vgl.TETZLAFF, Rainer: "Was ist Entwicklung?" bzw. "Was kann Entwicklung in der gegenwärtigen Situation bedeuten?" Der kirchliche Entwicklungsdienst aus politikwissenschaftlicher Sicht, in: Die Hoffnung heißt Leben. Entwicklung, Mission und Ökumene, (EED Dokumentation, epd-Entwicklungspolitik), Bonn 2001, S.11-20. 38 Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.45 spricht von" [ ... ] unserem Glauben an die Grundrechte des Menschen", in: ÖFFENTLICHKEITSREFERAT DES AUSWÄRTIGEN AlvITES (Hg.): Die Menschenrechte in der Welt. Konventionen, Erklärungen Perspektiven, Bonn 1988, S.15-18, Zitat 15. 39 Ich nenne beispielsweise: Die Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) Bonn und die peace brigades international - International Friedensbrigaden deutscher Zweig e.V. sowie das Projekt Alternativen zur Gewalt (pAG), das seine Wurzeln allerdings nicht so sehr bei Gandhi, als bei der Religiösen Gesellschaft der Freunde (Quäker) hat, und das vor allem Elementarausbildungen zur Förderung von Fähigkeiten, Konflikte nicht gewaltsam, sondern gewaltfrei auszutragen, anbietet. 411 Vgl. Bhagavdgita I, 29ff.; 2,2; 2,31 Bhagavadghita übertragen und kommentiert von LEOPOLD VON SCHROEDER, München 1992 (1978) oder: The Bhagavadgita with the Commentary of Sri Sankaracharya translated from the original Sanskrit into English by Alladi Mahadeva Sastry, Madras 1979. 37
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vertrat daher einerseits Gewaldosigkeit wie einen metaphysischen Wert (Gewaltfreiheit ist Gott), andererseits vertritt er mit der Gita aber auch die Pflicht, lieber die Waffen zu ergreifen als wehrlos und feige unterzugehen, wenn dies eben so vermieden werden kann. Wer wollte auch einem Individuum oder einer Gruppe das Recht auf Notwehr absprechen? Gandhi bezieht sich also zugleich auf einen absoluten und auf einen relativen Maßstab. Er argumentiert und agiert als Gesinnungsethiker und als Verantwortungsethiker - je nachdem. Das Engagement der Engländer im Burenkrieg 1899 z.B. und den Ausbruch zur Aushebung indischer Rekruten zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 billigte er. Zum Abwurf der ersten Atombombe schwieg er m.W. 41 Wichtiger als diese Reminiszenzen scheint mir die Überlegung, dass Gandhis Strategie gewalt freien Widerstands wohl in Gegnerschaft zu einer Kolonialmacht greifen konnte, deren menschenrechtliche Selbstverpflichtung jedenfalls prinzipiell außer Frage stand. Dass die Taktiken öffentlichen Bußfastens und demonstrativer Gehorsamsverweigerungen gegenüber einem terroristischen Regime irgendeine Chance gehabt hätten, muss m.E. bezweifelt werden. Das Gewaltmonopol des Staates kann nie perfekt geregelt sein oder gar perfekt funktionieren. Unter einigermaßen stabilen Bedingungen akzeptiert die Gesellschaft das Gewaltmonopol eines Staates. Was aber passiert, wenn bisherige Ordnungen des Gebens und Nehmens in der Arbeitswelt, in der Familie, in zwischenmenschlichen Beziehungen, im politischen Gemeinwesen ihre Plausibilität und daher dann auch ihre Akzeptanz verlieren? Wenn ein Gefühl, dass das eigentlich Soziale irgendwie zerbräselt, dass Grundordnungen von innen und von außen erschüttert sind, die Menschen beschleicht? Dann formen sich an den Rändern Gruppen, die ins Zentrum drängen. Die Problematik staatlicher Gewalt wird spürbar und es stellt sich die Frage neu, wo in einer Gesellschaft die gefährlichen Grenzen liegen, die eine Strategie der Gewaltminimierung fordern. RENE GIRARD stellt in seinem Buch ,Das Heilige und die Gewalt'42 die Hypothese vor, dass in einer solchen Situation spontan ein Sündenbockmechanismus aufleben bzw. sich neu durchsetzen dürfte. Ein Sündenbock muss her, ein Opfer wird gefunden werden, das schwarze Schaf, der Einäugige, die 4\ WOLFF, Otto: Indiens Beitrag zum neuen Menschenbild. Ramakrishna Gandhi Sri Arobindo, Hamburg 1957, S.72-83; S.59ff.; vgl. ROTERMUND, Dietmar: Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie, München 1997, S.495ff. 42 GlRARD, Rene: Der Sündenbock, Zürich 1988 (paris 1982), S.7ff.; S.23ff.; S.38ff.; , [weiterhin: GlRARD: der Sündenbock] GlRARD, Rene: Das Heilige und die Gewalt, Paris 1972, dt. Frankfurt am Main 1994 (1992), S.9ff.; S.62ff.; S.104ff. [weiterhin GlRARD: HuG]
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Rothaarige, der Hinkende, Stotterer, die Ausländer fallen ins Auge. Aus der gesellschaftlichen Krise, die zu einem Konflikt aller gegen alle ausufern könnte, formt sich eine Stoßrichtung: alle gegen eine (n). Der Ausschluss und die Hinrichtung eines Sündenbocks wirken wunderbar, verändern die Beziehungen in der Gesellschaft. Die Hinrichtung kann deren Schuld zugeschrieben werden. GIRARD behauptet, einen grundlegenden, die Gesellschaft fundierenden Vorgang freigelegt zu haben, der in den alten Mythen, Romulus und Remus, Ödipus Rex, den Bakchen ebenso erinnert wie verschleiert wird. Die Mythologie phantasiert über die gewaltigen Gefahren, die vom Sündenbock ausgehen: Pest und Cholera, Naturkatastrophen, Zerstörung aller guten Sitten bzw. der Zivilisation oder auch des American W qy ofUfo usf. Die Mythologie teilt nicht mit, was wirklich geschehen ist. Sie besteht aber auf der Schuld des Opfers. Die Ereignisse liegen außerhalb des Mythos, außerhalb der Texte. 43 Wo Sündenböcke verjagt worden sind, entsteht Solidarität bzw. Scheinsolidarität. Die Gesellschaft glaubt, ein Übel beseitigt zu haben und erblickt in der Beseitigung dieses Übels ihr Heil. Es handelt sich um die Mystifizierung des sozialen Mehrwerts, der durch die Ausgrenzung oder auch Vernichtung von Außenseitern entsteht. In GIRARDs Rekonstruktion ist alles kulturelle Handeln von mimetischer Rivalität bestimmt, nämlich der Tendenz, andere in dem nachzuahmen, was sie begehren. Es entsteht daher der so genannte ,double bind', die Bindung an das vom anderen Begehrte und die Nachahmung des Modells. Aus dieser doppelten Bindung erwachsen die tödliche Rivalität, die endlose Kette von Bruderkriegen und die Versuche, diese zu beenden. 44 Die (archaischen) Gesellschaften halten zusammen, weil und solange sie derartige Mythen in effektive Riten übersetzen. Opferriten fangen Gewalt auf einer symbolischen Ebene des Handeins ein, bewahren allerdings auch die gefährliche Erinnerung an die Gewalt der Sündenbockausschlüsse. Eine symbolische Hinrichtung des Sündenbocks entlastet die Gesellschaft. Die Gesellschaft feiert (auf dem Grab der Hingerichteten) das Fest ihrer Einigkeit. Das ist der Punkt, meint GIRARD, an dem Religion ihre Rolle findet. Die ursprüngliche Funktion der Religion, meint GIRARD, liege darin, die Gefährlichkeit der Gewalt rituell zu sublimieren und so einen Schleier über die Gewalt zu legen, auf der der gesellschaftliche Zusammenhalt ruhe. Das Verhältnis der Religion zur Gewalt ist also in GIRARDs Perspektive ambivalent. Jede Religion hat zunächst einmal eine positive Funktion hinsichtlich der
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GlRARD: HuG, S.38ff. GlRARD: HuG, S.211ff.
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Gewaltproblematik. Gewalt wird gezähmt. Die Gefährlichkeit der Gewalt wird im Ritus kanalisiert. Zugleich ist Religion, jedenfalls Religion, die den Opfergedanken im Kultus zentral stellt, auch an der Gewaltproblematik beteiligt. Von dem Bedenken, dass das Religiöse in den Differenzierungen der modernen Gesellschaft zu verdunsten scheint, die Opferkulte jedenfalls verblassen, und Sündenbockmechanismen sich damit erledigen, wäre GlRARD wohl kaum beeindruckt.· Er würde dagegen halten, dass diese bestehen bleiben und auch in säkularisierter Gesellschaft von ihrem Ursprung im Opferritus her verstanden werden müssen. Wie steht es mit der Erklärungsreichweite des Girard'schen Deutemusters? Den überzogenen Anspruch, eine Religionstheorie von universaler Reichweite und Deutekompetenz formuliert zu haben, lasse ich hier auf sich beruhen. 45 Wir greifen nur GlRARDs Äußerungen zum Sündenbockmechanismus auf. Gibt es keine Gemeinschaft ohne Sündenböcke?46 GlRARD steigt, darauf wurde hingewiesen, mit der Behauptung ein, dass Sündenbockmechanismen virulent werden, wo Abgrenzungen hinterfragt, Unterschiede fragwürdig werden, ja wo die anderen nicht mehr anders, sondern so sein wollen wie wir auch. Gibt es also keine Gemeinschaft ohne Sündenböcke? Es liegt auf der Hand, dass es keine Gesellschaft gibt, ohne dass ständig über "wir" und "sie" befunden wird, ohne dass Grenzen diskutiert, ohne dass Unterschiede markiert werden, und ohne dass ein Minimum an Flexibilität im Umgang mit diesen Grenzen und Identitätsmarkern eingeübt, standardisiert, in Regeln gefasst und aufrechterhalten wird. Was aber, wenn diese Verhandlungen heiß laufen? Greift dann der Sündenbockmechanismus?
3.2 In unserer Gesellschaft lassen sich Belege für das Funktionieren des Sündenbockmechanismus nicht mehr ohne weiteres fmden. Schauen wir hingegen etwas weiter in die Ferne, dann scheint das eher der Fall zu sein. In Irland sind es vielleicht die Protestanten oder doch die Römischen Katholiken? In Fiji vielleicht die Nachkommen indischer Plantagenarbeiter oder die Vertreter der Reste melanesischer Häuptlingstraditionen? In Indien vielleicht die
Vgl. AHRENS u.a.: "Religion und Gewalt". Dazu: VOLLMER, An*: Heißer Frieden. Über Gewalt Macht und Zivilisation, Köln 1996; DIES.: Gibt es Gemeinschaft ohne Sündenböcke, in: ZMR 83 (1999) 4, S.265-276.
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Unreinen oder doch die Brahmanen? In Indonesien vielleicht die Chinesen oder muslimische Radikale? Im Blick auf die Bearbeitung gesellschaftlicher Konflikte in unserem Kontext hätte eine Zentralstellung des Sündenbockmotivs vermutlich nur begrenzte Deutekraft. Wer könnten die Sündenböcke sein? Wer ist schuld - an der Jugendarbeitslosigkeit, an der Verfestigung einer rechten Jugendkultur in den neuen Bundesländern, an der Korruption in staatlichen und privatwirtschaftlichen Institutionen, an der Ausbreitung mafiöser Praktiken in manchen Wirtschaftszusammenhängen? Die Unken haben andere Sündenböcke als die Rechten. Könnten wir uns darüber überhaupt noch einigen? Wohl kaum, und zwar weder im großkirchlichen Milieu noch im ökumenischen Beziehungsgeflech t, noch gar in der säkularen Gesellschaft! Vielleicht ist das ein wichtiger Fortschritt gegenüber einfacher organisierten, überschaubaren Bereichen, in denen ein Sündenbock relativ schnell ermittelt ist. Ich denke beispielsweise an die Institution des Todeszaubers in vielen Gesellschaften Ozeaniens oder das mobbing in überschaubaren Arbeitszusammenhängen. Es gelingt immer weniger, den Sündenbockmechanismus noch durchzuziehen. Es ist nicht nur unsinnig, sondern glücklicherweise auch unmöglich z.B. Aidskranke, Immigranten oder Asylsuchende als Sündenböcke auszusondern 47 - nicht, weil wir friedlicher wären als vorige Generationen, sondern weil unsere Rahmenbedingungen darauf angelegt sind, Sündenbockmechanismen stillzulegen. Vor diesem Hintergrund legt sich die Frage nahe, ob GlRARDs Perspektive mit ihrem suggestiven Anspruch auf umfassende Deutekompetenz nicht zu einem Entweder- oder Dualismus verführt, der eine differenzierende Betrachtung komplexer gesellschaftlicher Gefüge und damit auch der Gewaltproblematik gerade verhindert. Vielleicht ist es schwierig, die Frage im Blick auf den eigenen Kontext eindeutig zu beantworten, weil, wenn GlRARD Recht haben sollte, die Gesellschaft bei der Hinrichtung der Sündenböcke auf der Schuld der Opfer besteht. Das bedeutet, sie durchschaut die Sündenbockmechanismen, die sie praktiziert bzw. denen sie erliegt, nicht. Die Unschuld der Opfer wird nicht erkannt. Deswegen funktionieren die Mechanismen des Ausschlusses. Es käme also, wollte man von der Aufhebung der Gewalt träumen, darauf an, eine Lichtungsgeschichte, eine Aufklärungsgeschichte zu initiieren, die die Sündenbockmechanismen in unseren politischen Beziehungen freilegt und aufhebt.
47 Dagegen trägt der Prozess gegen Politiker Anwar Ibrahim - angeblich aidsinfizierter Homophiler - in Malaysia deutlich Merkmale des Sündenbocks.
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3.3 Liegen die Dinge, was die internationale Lage angeht, vielleicht anders? Stimmt es, dass wir darauf angewiesen sind und bleiben, unser Gemeinwesen, seine Grenzen nach außen und seine Differenzierungen nach innen, notfalls mit Gewalt bzw. Gewaltbereitschaft zu sichern? Sollte nicht ein staatliches Recht auf Selbstverteidigung einleuchten?48 Wenn ja, dann brauchten wir auch dafür anerkannte und durchsetzbare Rechtsformen und Rechtsnormen. Davon sind wir noch weit entfernt. In internationalen Beziehungen ist es bislang leider nicht viel mehr als eine vage Hoffnung, die Organisation der Vereinten Nationen könnte eine internationale Friedensordnung effektiv schützen. Die Gründe dafür liegen m. E. nicht zuletzt in der mangelnden demokratischen Legitimation der meisten in den Vereinten Nationen vertretenen Regierungen. Bislang wurde die Idee der Wahrung und Durchsetzung von Menschenrechten vom Westen als Legitimation auch militärischer Interventionen gesehen (wichtigstes Beispiel: Auseinandersetzung mit dem Faschismus), gelegentlich wohl auch missbraucht (Beispiel ,Schurken staaten', Panama). Der neue Terrorismus unterläuft die Abgrenzungen der zivilen Gesellschaft. Das Feindbild wird diffuser. Der Feind ist allenfalls mit Mühe identifizierbar. Die Versuchung zur sprachlichen Verschleierung militärischer Aktionen hinter dem Aufkleber "humanitäre Intervention" wird größer, eine Mandatierung eventueller militärischer Interventionen durch die Vereinten Nationen daher umso dringlicher. 49 N ach dem 11. September fordert der amerikanische Präsident George W. Bush für seine zunächst unter dem Decknamen ,Grenzenlose Gerechtigkeit' eingeführten Sanktionen (später wurde der Name in ,Dauerhafte Freiheit' Enduring Freedom geändert) eine eindeutige, internationale Solidarität, und die wird ihm vom deutschen Bundeskanzler auch zugesagt und vom Bundestag wie eine staatspolitische Notwendigkeit sanktioniert. Es geht um eine vom amerikanischen Präsidenten leichtsinnigerweise zunächst als Kreuzzug ~crusade) bezeichnete Entscheidungsschlacht zwischen Zivilisation und Barbarei, Licht und Finsternis. Usama bin Laden wird zum Erinnert sei an die 5. Barmer These, die sagt, .. [...] daß der Staat [...] die Aufgabe hat, [...] nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen." Zitiert nach: MAu, Rudolf (Hg.): Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen. Teilband 2, Bielefeld 1997, S.262. 49 Dazu die Stellungnahme des Rates der EKD, in: KIRCHENAMT DER EKD (Hg.): Friedensethik in der Bewährung. Eine Zwischenbilanz, Hannover 2001, S.75ff. 48
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großen Gegenspieler, zum bösen Zwilling, zum monströsen DoppelgängerSO in der, Mission grenzenloser Gerechtigkeit. Die Perspektiven sind austauschbar. Beide. beanspruchen, in göttlich legitimierten Missionen zu stehen. Der jeweils andere, der Rivale um die Alleinvertretung der Gerechtigkeit soll als Sündenbock gelten. Auf beiden 'Seiten sterben Unbeteiligte, werden zu Opfern (victims). Doch allmählich traten die Begleitmotive in der Rhetorik jedenfalls des amerikanischen Präsidenten zurück und es blieb die Frage: Was statt Vergeltung? SAMUEL P. HUNTINGTON, hat zuerst in der Sommerausgabe der politologischert Zeitschrift Foreign AffairsS1 die Hypothese vorgestellt, dass nach dem Wegfall der herkömmlichen, militärisch gestützten Ost-West Gegensätze nun Konflikte zwischen den kulturellen Großräumen auftreten dürften. Die Sollbruchstellen zu erwartender künftiger Konflikte sieht er an den Nahtstellen unterschiedlicher sozio-kultureller Milieus, etwa dem konfuzianisch geprägten han-China und den islamisch geprägten Turkvölkern im Westen Chinas, zwischen dem orthodox geprägten Großraum Russlands und den islamisch geprägten Völkerschaften im Süden der ehemaligen UDSSR usf. Der globale technokratische Prozess werde traditionelle Identitäten in ihrer kulturellen und religiösen Prägung nicht einfach ersetzen, sondern allenfalls überlagern. Die Unterschiede zwischen den Zivilisationen seien real. Weil der moderne technokratische Prozess die ganze Welt umgreife, wachse sogar das Bewusstsein für Unterschiede. Gegenbewegungen würden freigesetzt. Aggressiv- religiöse Fundamentalismen würden durch den Globalisierungsprozess provoziert. Menschen bleiben, meint HUNGTINGTON, gesteuert durch unterschiedliche Rahmenvorgaben und unterschiedliche Deutemuster menschlichen Lebens und Miteinanders. s2 Kulturell-religiöse Systeme der Weltdeutung versteht er also nicht einfach als Varianten einer Grundfigur der allen Menschen gemeinsamen Erfahrung des In-der-Welt-Seins, sondern als durchaus unterschiedliche Mentalitäten prägende Deutemuster. HUNTINGTON hat dies nicht 50
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HUN,TINGTON, Samuel P.: The Clash of Civilizations?, in: Foreign Affairs 72 (1993) 3, S.22 49; später DERS.: The Clash ofCivilizations and the Remaking ofWorld Order, New York 1996. 52 Norman Paech hat versucht, Huntingtons Umriss eines möglichen globalen Konfliktszenarios zu relativieren. Beim islamischen Fundamentalismus handele es sich nicht so sehr um eine auf Vernichtung des Westens gerichtete Bewegung, als vielmehr um einen Ausdruck kulturellen Widerstands, der die sozialen Realitäten mit Mitteln der eigenen Tradition interpretiere. Der islamische Fundamentalismus markiere die Grenzen für eine mögliche Verwestlichung der islamischen Welt, sei also Ausdruck einer Dekolonisierungstrategie. Das leuchtet nur teilweise ein. Denn dem Fundamentalismus ist die Affmität zum Faschismus inhärent. Das entscheidende Merkmal jedweden Fundamentalismus liegt doch in der Vorstellung, dass wer anders glaubt bzw. anders lebt, nicht nur der Feind ist, sondern im Interesse der ,gerechten Sache' auch vernichtet werden darf/soll. PAECH, Norman: Krieg der Zivilisationen oder dritte Dekolonisation?, in: Blätter für deutsche und Internationale Politik 39 (1994) 3, S.310-321. 51
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mit der Absicht vorgetragen, eine "se!ffu!ftlling prophery" loszutreten, sondern im Interesse einer Deeskalation von Konfliktpotentialen. Nun, Frontlinien finden sich in allen Kontinenten: in Mindanao steht die Mehrheit der dort angesiedelten bzw. zugewanderten römisch-katholischen Bevölkerung im Konflikt mit Muslimen; in Ost-Timor findet sich eine analoge Konstellation. In Westpapua intensiviert sich ein Konflikt zwischen der mehrheitlich protestantischen Bevölkerung und von Staats wegen umgesiedelten javanischen Muslimen, in Kaschmir brodelt ein Krieg zwischen der Mehrheit der bodenständigen Muslime und Hindus, bitter und schon Jahrzehnte alt; in Nigeria flackert immer wieder Gewalt in den Beziehungen zwischen Muslimen und Christen auf,53 in Tschetschenien zieht sich ein Krieg zwischen muslimischer Bevölkerung und den orthodox geprägten Staaten im Norden hin. Keineswegs alle genannten Konflikte wurden von Muslimen inszeniert. Noch viel weniger handelt es sich schlichtweg um Religionskriege. Vielmehr haben die Konflikte unterschiedliche, jeweils im Kontext verankerte Ursachen, hier eine Okkupation von hinduistischer Seite, dort eine Weigerung muslimischer Minderheiten zwischen den Konfliktparteien vereinbarte demokratische Volksentscheide im Ergebnis dann auch anzuerkennen usf. Wenn aber religiöse Deutemuster erst einmal in den Konflikt hineingetragen worden sind, ist es schwer, sie anschließend wieder zu neutralisieren. In diesem Sinne unterschätzen wir vielleicht den religiösen Faktor in den Beziehungen. Es könnte ja sein, dass jedenfalls aus der Sicht radikaler muslimischer Minderheiten diese Konflikte als Teil ein und derselben Auseinandersetzung mit dem als bedrohlich empfundenen Ineinander von Modernität, Christentum und westlicher Lebensart/bzw. Dekadenz gesehen werden. Sie lassen den Westen als den großen Verderb er erscheinen, den zurückzudrängen, ja zu vernichten ein Dienst an der gerechten und guten Sache ist. Der Widerstand derer, die Globalisierung nur für eine Fortsetzung der Kreuzzüge oder - was dasselbe ist - für die Fortsetzung des ,westlichen Projektes' halten, bricht dann an. der von ihnen so gesehenen Grenzlinie des dar al-islam (Haus des Islam) und dar al-harb (Haus des Krieges) auf. Wenn es so sein sollte, ergibt das noch keinen Krieg der Kulturen. Es besagt nur, dass einige Gruppen dies vereinfachende, im Kern fundamentalistische Deuteschema auf sehr unterschiedliche, komplexe Prozesse werfen. Der Fundamentalismus lebt von Sündenbockmechanismen. Dazu HOCK, Klaus: Der Islamkomplex, Hamburg 1996. Hock unterstreicht, dass es sich nicht um einseitig von Muslimen initiierte kommunale Konflikte handelt, sondern um Spannungsfelder, in denen Projektionen von Feindbildern der jeweils anderen Seite dann auch handlungsleitend relevant werden. 53
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Wenn es sich so oder so ähnlich verhalten sollte, wie kann man die islamische Welt davon überzeugen, mit bin Laden und Menschen, die denken wie. er, zu brechen bzw. sich eindeutig von ihnen zu distanzieren? Wie kann man die Amerikaner davon überzeugen, dass sie sich, statt sich einseitig auf militärische Lösungen zu konzentrieren und den zivilen Wiederaufbau den Verbündeten zu überlassen, konstruktiv auf die innerislamischen Auseinandersetzungen über fällige gesellschaftliche Neuordnungen beziehen sollten? Beides ist umso schwieriger zu bewerkstelligen als die Ablehnung einer Politik, die einen prinzipiellen Anspruch auf Respekt vor den Menschenrechten erhebt, diesen aber durchaus opportunistisch praktiziert und gelegentlich, so ja auch im Falle der Taliban, mit Terroristen paktiert und aus einer grundständigen Solidarität mit Israel heraus die tägliche Demütigung der Palästinenser Jahr für Jahr duldet, in vielen Gesellschaften der nicht-westlichen Welt auf Hass und Erbitterung stößt, auch bei den Intellektuellen, die Usama bin Laden für einen Verbrecher halten. Gegen die Strategie der Angst und des Hasses hilft nur der Versuch, die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen - auf beiden Seiten. Aber so wenig wie Gewalt menschliche Herzen gewinnt, so wenig dürften Nahrungsmittelpakete Menschen gewinnen. Die amerikanisch-britische Militäraktion wird dem Terror der Gewalt kein Ende setzen. Sie dürfte vielmehr dazu beitragen, dem Terror neue, entschlossenere Rekruten zuzuführen. Vielleicht schüchtert sie gegenwärtige Täter ein. Es lässt sich jedenfalls keine Sicherheit schaffen, indem bin Laden und seine Komplizen - sofern sie haftbar gemacht werden können - wie gewb'hnliche Verbrecher behandelt werden. Und doch sollten sie nach internationalem Recht, unter Beteiligung islamischer Rechtsgelehrter vor einem internationalen Gerichtshof angeklagt werden. Dafür sind gemeinsame Anstrengungen erforderlich. Je mehr sich die westlichen Verbündeten auf eine militärische Lösung versteifen und vielleicht in einer militärischen Sackgasse festrennen, nämlich Länder erobern, aber Terrorismus nicht auslöschen, desto leichter machen sie es Intellektuellen der nicht-westlichen Welt, insbesondere islamischen Gelehrten, aber auch Freunden des Islam im Westen, sich die fällige Auseinandersetzung mit dem anderen Gesicht des Islam zu ersparen, einem gewalttätigen und im Moment doch unzweifelhaft in den Vordergrund drängenden Strang des Islam. Auch wenn die Opferriten verblassen, sind Menschen nach wie vor mit Rivalitäten konfrontiert, die immer neu ungeheure Opfer fordern - um so das Reich der ,grenzenlosen Gerechtigkeit' zu forcieren. Die Gewalt liefert uns den Beweis. Jeder Hergelaufene kann Endgültigkeit und Absolutheit für seine
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oder ihre Behauptungen und Ansprüche einfordern, seien diese nun wirtschaftlich, politisch, religiös oder moralisch. Ich gestehe, ratlos zu sein. Die pragmatische politische Vernunft hat es schwer, ihre Entscheidungen zu plausibilisieren. Einerseits leuchtet ein, dass es erforderlich ist, dem aktuellen Terror auch mit militärischen Mitteln zu widerstehen, seine Vertreter und Bundesgenossen aufzuspüren und zu bestrafen. Auch die Gastgeber des Terrorismus militärisch zu bekämpfen scheint ebenso vernünftig zu sein, wie es andererseits vernünftig sein könnte, davon Abstand zu nehmen. Die Ergebnisse sind so oder so nicht absehbar. Möglicherweise ist es wieder einmal an der Zeit, aus den Reservoirs nichtpragmatischer Vernunft zu schöpfen. Dafür sind u.a. die religiösen und humanitären Multis zuständig, wie z.B. der ÖRK, der Lutherische Weltbund, UNICEF, die kirchlichen und nichtkirchlichen Entwicklungsdienste, kurz, die karitativen N GO' s. Vielleicht beziehe auch ich mich auf zwei gleichzeitig geltende unterschiedliche Maßstäbe.
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Wie betrifft uns die Gewaltproblematik im Verständnis des Christlichen selbst?
Im Blick auf die Gewaltproblemati~ können Christen nicht nur fragen ,was ist zu tun?' oder ,was ist zu unterlassen?', sondern müssen sich auch der Überlegung stellen, wie ihr Verständnis des Christlichen davon betroffen ist. Es könnte ja sein, dass das Gewaltproblem noch tiefer an der Wurzel der Religionen im Allgemeinen, und des Christentums im Speziellen liegt als Christen dies gerne hören. Was für einen Gott glauben wir? Müssen wir Gott und Gewalt zusammen denken?54 Ist Gott ein Gott der Gewalt, ein Gott der Opfer fordert, immer noch heilige Kriege legitimiert? Oder gibt es einen Fortschritt unserer Gotteserkenntnis hinsichtlich des Gewaltproblems - denn jede Gotteserkenntnis dürfte immer auch von der Situation und Zeit bestimmt sein, in der sie zu Stande kommt. 55 Wir machen unser christliches Reden von Heil, Versöhnung mit Gott, am Ereignis und am Symbol des Todes Jesu fest. Alle Christen dürften darin ü54 Dazu DIERKEN, Jörg: Gott und Gewalt. Ethisch-religiöse Aspekte eines zentralen Phänomens von Vergesellschaftung, in: ZMR 83 (1999) 4, S.277-291. [weiterhin: Dierken: Gott und Gewalt] 55 LOHFINK, Norbert: Der gewalttätige Gott des Alten Testamentes und die Suche nach einer gewaltfreien Gesellschaft, in: Jahrbuch für biblische Theologie, Bd. 2 (1987), S.106-136, zitiert nach Tauwetter. Eine franziskanische Zeitschriftll (1997) 4, S.5-39; S.16.
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bereinstimmen, dass dieser Tod ein Tod "für uns", ein Tod zu Gunsten aller Menschen war. Doch in welchem Sinne?·Ist dieser Tod als ein Opfer zu verstehen? Der Tod Jesu, meint GIRARD, habe überhaupt nichts mit einem Opfer im eben genannten Sinne zu tun. Es war ein Justizmord, Beispiel mörderischer Gewalt, wie sie immer wieder vorkommt, Tötung eines unschuldigen ,Opfers' (victim). Während mythische Literatur dahin tendiere, die Mechanismen zu verschleiern, die zum Ausschluss und zur Vernichtung der jeweiligen Sündenböcke führen, liege der besondere Beitrag biblischer Literatur zur Kulturkritik und zur kulturellen Erneuerung darin, auf diese Sündenbockmechanismen zu achten und sie an den Tag zu bringen. GIRARD vertritt die Auffassung, dass in der Bibel Fäden angesponnen wurden, die darin einzigartig sind, dass sie das, was in allen anderen Religionen und Kulturen als heilig verstanden wird, die Überbrückung der Kluft zwischen Menschen und Göttern durch menschliche Darbringung von Blut und Leben, zurückweisen. Denn von Abel über Joseph, den Gottesknecht und Hiob bis zu Jesus und Stephanus schäle sich immer deutlicher ein Strang biblischer Tradition heraus, der auf der Unschuld der Opfer bestehe. Vollends die Evangelien offenbarten einen Gott, der den Teufel nicht mit Beelzebub austreibt, Gewalt durch Gewalt. Das Evangelium offenbart den Gott, der das unschuldige Opfer in seiner Mission der Gewaldosigkeit rechtfertigt. Ein Christentum, das sich vom Opfermythos wieder hat einfangen lassen, meint GIRARD, lebt also in einem Selbstwiderspruch. 56 Der Tod Jesu sollte nicht als Opfer verstanden werden,57 jedenfalls nicht in dem obigen Sinne einer menschlichen Handlung, die Gemeinschaft mit Gott herstellt, sondern allenfalls in einem metaphorischen Sinne,58 nämlich dass Jesus es sich sein Leben kosten lässt, auf Gott zu setzen, der seine eigene Zukunft als Versöhner seiner Schöpfung von den Möglichkeiten und den Begrenzungen abhängig macht, die im Glauben auf die Kraft der Liebe liegen. In freiwilliger Treue steht er das Wagnis solcher menschlichen Repräsentanz Gottes durch. Vgl. GlRARD, Rene: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg Basel - Wien 1983, S.287, vgl. S.232ff. 57 Im ,Nein' zur Opferideologie sieht Girard den wichtigsten Punkt seiner Übereinstimmung mit der Befreiungstheologie. Girard, Rene in: ASSMANN, Hugo: Götzenbilder und Opfer: Rene Girard im Gespräch mit der Befreiungstheologie, Münster - Hamburg - London 1996, S.285ff. SR Der späte Girard besteht auf einer radikalen Diskontinuität zwischen" [...] archaischen Formen des Opfers" und dem Opfer Christi, ist aber" [...] jetzt der Überzeugung", dass" [...] Christus es bejahte, zur Überwindung aller blutigen Opfer geopfert zu werden" und meint, dass seine " [...] Selbsthingabe [...] letztendlich in Begriffen des (Selbst-) Opfers beschrieben werden muß.", in: GlRARD, Rene: Tatsachen, nicht nur Interpretationen, in: DIECKMANN, Bernhard (Hg.): Das Opfer - aktuelle Kontroversen, Münster - Hamburg - London 2001, S.261-279; S.265. 56
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Die Feindseligkeit und Aggression, die J esus treffen, sind die Feindseligkeit (Gen 6,11) aller Kinder Adams - in ihrer Ohnmacht gegenüber der Erbsünde, der Gewalt Kains. 59 Jesus starb an unseren Sünden. Was geschieht mit dieser Sünde? Sie wird ertragen, erduldet, erlitten. Indem sie so getragen wird, wird sie hinweg getragen. So verfährt J esus in Stellvertretung Gottes. Der Verfolgte sieht den wahren Gott. Die Projektionen der vereinfachenden, Gewalt rechtfertigenden Gottesbilder hören in der Verfolgung auf. ,Sie wissen nicht, was sie tun'. Gott gewährt Leben aus der Verzeihung. Die Liebe erlöst, indem sie das Böse nicht vergilt. Nur so. Das ist der einzige Weg. Das ist das innere Recht des Gedankens der Stellvertretung. Überall wo Aggression und Unrecht nicht mit Hass beantwortet werden, sondern mit der ,gegen-Gabe'60 der liebe, sind Menschen an dieser Stellvertretung beteiligt. Das Bild des Neuen Adam hätte uns nichts zu sagen, wenn es im Tod erloschen wäre. Es ist aber seit Ostern Wort und seit Pfingsten universal verständliche Anrede (für alle in ihrer eigenen Sprache) geworden,61 Es bedarf einer menschlich unerschwinglichen Erneuerung unseres Sinnes, damit wir dies erkennen und so dem Erbe der bösen Kainstat entrinnen. Das Abendmahl feiert die Auferweckung als Antizipation des in Jesus angebrochenen Neuen und erinnert sich des unauslotbaren Geheimnisses göttlicher Versöhnung. Dem Mysterium der Gewalt (GIRARD behauptet,'dies Mysterium mit seiner mimetischen Theorie rational aufklären zu können) setzt die christliche Tradition ein anderes Mysterium, nämlich das wahrhaftige Zeichen der Gegengabe Gottes entgegen: Verzeihung aus Liebe. Wenn Gott nicht wirklich vergeben könnte, dann wäre er in der Tat ohnmächtig gegenüber dem Gesetz der Retribution. Es braucht ein solches Mysterium gb'ttlicher Zu Girards anthropologischen Voraussetzungen vgl. GREISCH, Jean: Kritische Überlegungen zu den anthropologischen Voraussetzungen von Rene Girards Opferbegriff, in: SCHENK, Richard (Hg.): Zur Theorie des Opfers (Collegium Philosophicum 1), Stuttgart 1995, S.27-63. 60 In solcher Gegenüberstellung tangiert das Spiel mit dem Wort ,gegen-Gabe' die reine Gratuität göttlichen Liebeserweises nicht. Der Opfergedanke bleibt ausgeschlossen. - Querverbindungen zu sozialanthropologischen Diskussionslagen können in diesem Zusammenhang nicht verfolgt werden. Verwiesen sei nur auf Marcel Mauss. Er sprach vom "Geist der gegebenen Sache" (,hau'), der eine Antwort erheischt, die den Frieden voranbringt. Maurice Godelier kritisiert Mauss und spricht der Gabe eine solche mystische Qualität ab. V gl. MAuss Marcei: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: DERS.: Soziologie und Anthropologie 2, Frankfurt am Main 1989, S.23 ff.; S.34, sowie GODELIER, Maurice: Das Rätsel der Gabe. Geld, Geschenke, heilige Objekte, München 1999, S.65 ff. 6\ PESCH, O.H.: Erlösung durch stellvertretende Sühne oder Erlösung durch das Wort?, in: NIEWIADOMSKI, Josef - PALAVER, Wolfgang (Hgg.): Dramatische Erlösungslehre, Innsbruck - Wien 1992, S.147-156; S.153. 59
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Verzeihung, das gegen das Geheimnis des Ursprungs der Gewalt gesetzt wird. 62 Im Gegenüber zur Selbsterniedrigung und Selbstbeschränkung Gottes kommt menschliche Freiheit ins Spiel,63 nämlich als Möglichkeit, der nur scheinbar ohnmächtigen Liebe und der erneuernden Kraft der Verzeihung zu vertrauen, nicht der tödlichen Macht der Vergeltung. Das mythische Bild vom Zangengriff der Gewalt löst sich auf. Menschen erkennen, dass sie selbst es waren, die gegen hielten, und so der Zange der Gewalt ihren harten Biss überhaupt erst ermöglichten. Solche Erkenntnis führt auch zu einem ,Opfer', allerdings anderer Art - zur Wahrhaftigkeit über sich selbst und einem zugewandten, bei sich bleibenden, freien Handeln (Rm 12,1-2). GlRARD zeigt zunächst keinen Weg zur Praxis - außer seinem Hinweis auf die Sendung des Heiligen Geistes als des ,Trösters'.64 Man braucht kein ,Girardian er' zu sein, um anzuerkennen, dass GlRARDS Ansatz uns in Stand setzt, den christlichen Beitrag zur Gewaltdiskussion schärfer zu profilieren. GlRARD legt uns nahe, darüber nachzudenken, dass Gewöhnung an Gewalt Menschen blind macht. Menschen sind als kulturelle Wesen so blind für die Gewalt in der Gesellschaft, dass es einer Offenbarung bedarf. Nur die Offenbarung eines gewaltlosen Gottes kann uns die Augen dafür öffnen, dass eine Wurzel des Übels in der paganen Verzweckung Gottes liegt. Auch im Christentum ist es immer wieder vorgekommen, dass der Name Gottes - Immanuel (Gott mit uns) - (Mt 1,23) zu einer Waffe umgeschmiedet wurde, Gott zu einem Zweck, einem Faktor gemacht wurde, um dies oder jenes zu legitimieren oder zu erreichen. So schleicht Gewalt sich wieder ein hinter die heiligen Vorhänge, in die Predigten und in die Projekte.
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Welche Möglichkeiten mit der Gewaltproblematik umzugehen, fo'rdert die iikumenische Diskussion ifltage?
5.1 Die Frage, ,wie haltet ihr es mit der Gewalt' betrifft zwar alle Religionen. Christen und Kirchen richten sie zuerst nach innen, als Frage nach den eigenen Wurzeln. Was die Möglichkeiten der Kirchen, die Gewaltproblematik nach innen auf~greifen angeht, halten wir fest, dass Kirchen nicht nur erörtern, was zu tun bzw. zu unterlassen wäre. Ein christliches Engagement zur Eindämmung von Gewalt bedarf auch einer Religion skritik, die den wahren Namen Gottes auslegt.
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KOYAMA, Kosuke: My Pilgrimage in Mission, in: IBMR 21 (1997) 2, S.55-59; S.59. DIERKEN: Gott und Gewalt, S.288ff. GIRARD: Der Sündenbock, S.281 ff.
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Diese Religionskritik geht nicht an fremde Adressen. Sie schneidet durch die eigene Kirche. Solche Erkenntnis schafft Fronten quer zu bisherigen FrontsteIlungen, auch in der Theologie. Gewalt kann nicht eingeschränkt werden, wenn sie nicht im eigenen Umfeld, im Alltag der Kirche, in der eigenen religiösen Vorstellungswelt, in ihren Verankerungen in den biblischen Texten und in der eigenen Geschichte aufgesucht und der Beitrag, den Kirchen zu Legitimation destruktiver Gewalt gegeben haben, freigelegt wird.
5.2 Kirchen werden ihre Kraft und ihre Einflussmöglichkeiten nicht überschätzen. Sie werden die pilzgeflechtartig wuchernde destruktive menschliche Gewalt, vor allem terroristische Gewalt, nicht leichthin ,überwinden' und in eine Kultur des Friedens verwandeln können. Die Phasenverschiedenheit gesellschaftlicher und kirchlicher Entwicklungen auf den fünf Kontinenten und die Unterschiedlichkeit der Situationen, in denen Kirchen sich finden, wird unterschiedliche Grade der Bereitschaft und unterschiedliches Vermögen, sich auf das Projekt "Gewalt überwinden" einzulassen, zu Tage fördern. 65
Kirchen, die der Zumutung, Friedens- und Versöhnungs arbeit " [...] vom Rand in das Zentrum des Lebens und Zeugnisses der Kirche"66, also in das Zentrum ihres Missionsverständnisses zu bringen, nicht ausweichen, lassen wie gesagt das utopische Moment der Initiative auf sich beruhen. Sie lassen sich von der ökumenischen Eingabe des Themas neu anregen und ftagen, wo die Konflikte eigentlich sitzen. Diese Frage richten sie nach innen und nach außen. Die Christlichkeit ihres jeweiligen ·Beitrags zur Eindämmung destruktiver Gewalt weist sich darin aus, dass sie hinsichtlich der Möglichkeiten, Gewalt zu überwinden, skeptischer als andere sind, sich in ihrem sachlichen Engagement, Gewalt einzudämmen, hingegen nachhaltiger einbringen. 5.3 Bevor Kirchen sich zu Konfliktsituationen äußern, machen sie sich jeweils klar, für wen sie eigentlich sprechen und wen sie repräsentieren. Sie bemühen sich zu verstehen, wie die Beteiligten anderer Gruppen, auch Angehörige anderer Religionen, ihre Interessenlagen definieren. Sie hinterfragen also die Automatik der symbolischen Repräsentationen von Gruppenidentitäten, die die gegenseitige Wahrnehmung von Konfliktpartnern umso mehr zu steuern scheinen, je länger die Konflikte dauern. So klären sie, wo sie selber 65 Der Generalsekretär des ÖRK, Konrad Raiser, berichtete, erste Reaktionen bei" [...] vielen Mitgliedern" wären" [...] noch zögerlich", während die Synoden" [...] in den deutschen Landeskirchen [...] das Thema [...] sofort aufgriffen". In: Enns: Gewalt überwinden, S.14. 66 Rahmenplan, S.474.
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stehen und für wen sie sprechen. Im Idealfall repräsentieren sie die Menschen,-die glauben, dass Opfer nicht sein'sollen, und die sich dafür einsetzen, den Opfern Recht zu verschaffen. In einer nach innen gewandten Selbstprüfung werden Kirchen sorgfältig mit dem Wort ,Solidarität' umgehen. Wir stehen nicht und leben nicht an dem Ort des methodistischen Pfarrers in Nordirland, der wegen seines Friedensengagements nicht nur sich, sondern auch seine Frau und seine Kinder gefährdete. Weder stecken wir in einer analogen Situation noch treten wir tatsächlich aus unserem Kontext heraus und in dessen Kontext ein. Die kirchliche Bildungsarbeit wird diesen Punkt ernst nehmen, und zugleich Möglichkeiten wie Grenzen ökumenischer Solidarität im konkreten Einzelfall sorgfältig ausloten. In Konfliktsituationen mit einem tiefen geschichtlichen Hintergrund, in denen auf beiden Seiten Christen stehen, werden Kirchengemeinden und Kirchen dazu beitragen, Foren und Strukturen zu schaffen, in denen die bitteren Erinnerungen der Vergangenheit ausgetauscht werden 67 und ein Weg nach vorn gesucht wird (z.B. mit Hilfe ökumenischer Visitationen). Vielleicht sind gemeinsame Gottesdienste, gemeinsame Gebete möglich. Manchmal zeigt sich allerdings, dass es Kirchen leichter fällt, im diakonischen Bereich zusammenzuarbeiten, als miteinander die Hindernisse, die Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung steuern, theologisch und strukturell zu bearbeiten. Versöhnung kommt nicht kurzfristig. Versöhnung braucht Zeit, betrifft einen langen Prozess, hat religiöse und soziale Dimensionen. Zur Bearbeitung gehört eine Aufarbeitung des kulturellen Gedächtnisses, eine Aufarbeitung gemeinsamer Konfliktgeschichte. Das ist leichter gesagt als getan, denn die Haltung, die anderen für das Unheil der politischen Situation verantwortlich zu machen, wird ja manchmal von Kind auf gelernt. Zur Bearbeitung dieser Sachverhalte gehört also ein erhebliches Maß an Selbstkritik und an pädagogischem Reformwillen.
Ich weise in diesem Zusammenhang nur hin auf Texte, die aus der Arbeit der Faith and Politics Group hervorgegangen sind wie Forgive our Trespasses ... ?, Belfast 1996; Liberty to the Captives? The Early Release of Politically Motivated Prisoners, Belfast 1995; The Things that Make for Pe ace, Belfast 1996; New Pathways. Developing a Peace Process in Northern Ireland, Belfast 1997, sowie ein ungedrucktes Papier von D'ARCY MAY, John: Unterwegs zur Versöhnung. Der irische Friedensprozess und die Theologie. Dublin 0.]. 67
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Wir wissen, dass in der Rekonstruktion der eigenen Geschichte, sozusagen in der Herstellung des eigenen historischen Gedächtnisses, Interessen selektiv wirksam werden. Die Rekonstruktion der Geschichte gerät nicht selten zum Mythos, der die Ansprüche der Gruppe X oder Y legitimiert und vom Ansatz her darauf abzielt, die Erinnerungen der anderen zu delegitimieren. Früher hat man solche Schuldzuweisungen vielleicht ,guten Gewissens' oder auch in schrecklicher Naivität vollzogen. Doch die nicht enden wollende Spirale destruktiver Gewalt unterminiert die Glaubwürdigkeit solcher Projektionen.
5.4 Zu den konkreten Handlungsmöglichkeiten nach außen und zwar zunächst im Nahbereich: Nach außen können Kirchengemeinden ein Zusammenwirken mit allen Menschen und Gruppen suchen, die eine Aufmerksamkeit für Schwache, Gekränkte und Verfolgte pflegen. Christen und Kirchengemeinden können ermutigen und stützen, was andere, Einzelne oder Gruppen in dieser Richtung ohnehin schon tun. Allerdings delegieren Kirchengemeinden und Gemeindeverbände ihre Verantwortung' zur Eindämmung von Gewalt beizutragen, nicht - auch nicht an übergemeindliche Institutionen. Sie können mit eigenen Sach- und Personalmitteln Ursachen der Gewalt im Nahbereich exemplarisch angehen: • indem sie auf die Menschen und Gruppen achten, die beiseite gedrängt und deren Würde gekränkt wird, und indem sie dahingehend wirken, dass deren Partizipationsrechte ausgebaut werden. Langfristig verfolgen sie Strategien, die der Gewalt vorbeugen, indem sie die Zusammenhänge von Partizipationsrechten und Partizipationsmöglichkeiten einerseits und Entspannung andererseits freilegen; • indem sie die Bereitschaft der beteiligten Menschen und Gruppen, Verabredungen zu treffen, Vereinbarungen einzugehen und diese auch einzuhalten, fördern. Also die Verlässlichkeit eines Rechtsraumes, in dem die Freiheit und die Würde der Menschen zentral gestellt werden, stützen; • indem sie - wie das vor der Wende in Leipzig, Dresden und an vielen anderen Orten geschehen ist - sorgfältig die Möglichkeiten selbstorganisierter gewaldoser ,Gegengewalt' als einen ,mitderen Weg' zwischen passiver Hinnahme von Gewalt einerseits und gewaltsamer Lösungsversuche andererseits ausloten und in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeiten ökumenischer Vernetzung nutzen;
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• indem sie die Bereitschaft fördern, die Vergangenheit dahinten zu lassen, in Seelsorge, gruppenpädagogischer Arbeit und durch Bereitstellung von Foren der Begegnung und des Lernens. Sie werden der Produktion von Feindbildern und der Mobilisierung von Sündenbockmechanismen, wo sich diese abzeichnen, entgegentreten. Sie nutzen, wo es erforderlich und möglich ist, Möglichkeiten, mit Kindern und Heranwachsenden Gewaltabläufe ins Bewusstsein zu heben und alternative Bilder des Anderen zu wecken. 68
,Nach außen' tragen Kirchen bei, Gewalt zu minimieren, indem sie konsequent für das Recht der Religionsfreiheit eintreten. Sie verzichten strikt darauf, das Ihre mit Gewalt zu vertreten, dem Christlichen mit Gewalt Geltung zu verschaffen. Von allen Versuchen, die Gewissen der Menschen zu beherrschen oder deren Schwäche auszunutzen, grenzen sie sich ab und werben dafür, dass auch andere christliche und nichtchristliche Gruppen sich diese Leitlinie zu eigen machen. Weiter: ,Nach außen' treten Kirchen dafür ein, nicht nur die Würde der Opfer zu respektieren, sondern auch die Würde der Täter. Deren Würde wird respektiert, indem die Täter bei ihrer Verantwortung behaftet und zur Rechenschaft gezogen werden. Die Kirchen leisten einen Beitrag zur Eindämmung von Gewalt, indem sie für eine Aufklärung der Verantwortung z.B. im Zusammenhang von Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen und für eine ordentliche Rechtsprechung eintreten. Das Verzeihen wird dem Recht nicht in die Arme fallen. 69 Das Verzeihen bleibt immer reine Gunst und kann nicht staatlich verordnet werden. Jeder Aufruf zu radikalem Verzicht auf rechtliche Klärungen wird die Frage bedenken, ob den Opfern des Unrechts zugemutet werden soll, sich mit dem Unrecht und dessen Folgen einfach abzufinden.7°
Die Stadtteilinitative "Miteinander ohne Zoff' in Lübeck - Kücknitz, vorgestellt auf der Herbstsynode der Nordelbischen Ev.-Iuth. Kirche in Lübeck (Sept 2000), ist so ein Beispiel von vielen. m Mit KODALLE, Klaus-M.: Verzeihung nach Wende zeiten? Über Unnachsichtigkeit und misslingende Selbstentschuldung Oenaer Philosophische Vorträge und Studien), Erlangen - Jena 1994. 7tl Die Problematik wurde hart diskutiert im Blick auf die Tätigkeit der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen z.B. in Südafrika und in EI Salvador. Vgl. BRAUN, Joachim (Hg.): Versöhnung braucht Wahrheit. Bericht der südafrikanischen Wahrheitskommission, Gütersloh 1999. Ein Überblick bei WITIAKER, David J.: Conflict and Reconciliation in the Contemporary World, London 1999. Eine eher skeptische Bewertung bei N OLTE, Detlev: Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, Frankfurt am Main 1996. Eine positive Einschätzung gibt SHRIVER, Donald W.: Brücken über den Abgrund der Rache, in: der überblick 35 (1999) 3, S.6-11. 6B
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Die Frage, ob Religionen nun ein ausschlaggebend wichtiger Faktor bei der Entwicklung eines für erforderlich gehaltenen Weltethos sein können?1 und sein sollen oder eben dies weder wünschenswert noch möglich ist, können wir hier auf sich beruhen lassen. In den vielfaltigen lokalen und internationalen Foren interreligiöser Begegnung wird sich allerdings die Doppelfrage in den Vordergrund schieben: ,Wie haltet ihr es mit der Gewalt? ... und wie mit den Armen?' Die Kirchen und in der Gewaltfrage engagierte Gruppen werden religiöse Begründungsfiguren zur Plausibilisierung der Allgemeinen Menschenrechte über das zu Art. 1 hinaus Gesagte und unbedingt Festzuhaltende, nämlich die theologische Begründung der Würde des Menschen,72 ihrerseits nicht forcieren. Sie werden sich aber offen halten für Beiträge aus anderen Traditionen,73 die geeignet sind, diesen Artikel und die Rechte, die daraus abgeleitet wurden, breiter zu fundieren. Im Übrigen werden die Kirchen fortfahren, die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen als einen provisorischen Orientierungsrahmen ökumenischer Sozialethik stark zu machen und so die Orientierungskraft der Menschenrechte weiter fördern. Die Anstrengungen aller Beteiligten, den Dialog über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte voranzutreiben, ihre Anerkennung if' fo'rdern und Instrumente ihrer Durchsetzung Zu schaffen und zu stärken, sind ebenso dringlich wie die Ausslchten, dies voranzubringen, gegenwärtig begrenzt sind. Oft liegt es für Kirchen und Gruppen außerhalb ihrer Möglichkeiten, die Situation grundlegend zu ändern, also Gewalt ,zu überwinden' und eine ,Kultur des Friedens' zu inaugurieren. Allerdings haben sie in vielen Situationen immerhin soviel Einfluss, dass sie es allen Beteiligten, nicht zuletzt den Meinungsmachern und Entscheidungsträgern, deutlich erschweren können, an den Konflikten und an den Konfliktursachen vorbeizureden und vorbeizuentscheiden.
Vgl. dazu die Erklärung zum Weltethos. Parlament der Weltreligionen, 4. Sept. 1993, Chicago USA; KÜNG, Hans: Das Projekt Weltethos, München 1990; LÄHNEMANN, Johannes: Das Projekt Weltethos in der Erziehung, Hamburg 1994. 72 KOCH, Traugott: Menschenwürde als das Menschenrecht - Zur Grundlegung eines theologischen Begriffs des Rechts, in: ZEE (1991) 2, S.96-112. 73 Dazu HOFFMANN, Johannes: Begründung von Menschenrechten aus der Sicht unterschiedlicher Kulturen, Frankfurt 1990. 71
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Schließlich: Theologen und Theologien können die heutigen Probleme nicht lösen, .allenfalls unsere Wahrnehmung schärfen. In diesem Sinne nehme ich auf, dass ADOLF DEIßMANN den Universitäten innerhalb der sich formenden ökumenischen Bewegung einst die Aufgabe zuschrieb, das "Wissen mit dem Leiden" und das Leiden (z.B. an der Gewalt des Krieges) mit dem Wissen zu verbünden74 - eine nach wie vor gültige Leitvorstellung ökumenewissenschaftlicher und missionstheologischer Reflexion.
74 A. Deißmann in seiner Tischrede zum Beschluss der Stockholmer Konferenz für Praktisches Christentum, in: DEIßMANN: Stockholmer Weltkirchenkonferenz, S.740f.
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ISLAM, ORTHODOXIE UND KATHOLISCHE KIRCHE SEIT DEM ZERFALL JUGOSLAWIENS BIS HEUTE THOMAS BREMER Vor mehr als sechs Jahren, im Dezember 1995, wurde mit dem Abkommen von Dayton der Krieg in Bosnien und Hercegovina beendet. Dieser Vertrag besteht aus zwei Teilen, einem militärischen und einem zivilen. Die Umsetzung des militärischen Teils ist relativ zügig geschehen, so dass es bald nach Vertragsabschluss zu keinen militärischen Auseinandersetzungen zwischen muslimischen Bosniaken, Kroaten und Serben mehr gekommen ist. Die Aufrechterhaltung des Friedens in Bosnien und Hercegovina scheint allerdings nur dadurch gesichert, dass internationale Truppen in großer Zahl für die Einhaltung des Abkommens sorgen. Die zivilen Bestandteile des Vertrags sind noch weit von einer Erfüllung entfernt, insbesondere was die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen in ihre angestammten Gebiete betrifft. Die gemeinsamen Institutionen des Staates fangen nur sehr langsam an zu funktionieren, und es wird sich zeigen müssen, inwieweit insbesondere die Regierung in der Republika Srpska in der Lage sein wird, ihren Teil des Gesamtstaates für die gemeinsamen Strukturen zu öffnen. In den Nachbarstaaten Kroatien und Serbien hat es in den Jahren seit Kriegsende erhebliche Veränderungen gegeben: Kroatiens Präsident Tudjman verstarb im Dezember 2000, und fast gleichzeitig erlitt seine Partei bei den Parlamentswahlen eine vernichtende Niederlage, die praktisch zu ihrem Zerfall führte. Als Nachfolger Tudjmans wurde Stipe Mesic gewählt, der als Vertreter Kroatiens im gemeinsamen Staatspräsidium der letzte Präsident des sozialistischen Jugoslawien vor dem Krieg war. In Serbien wurde Präsident Milosevic bei den Wahlen im Herbst 2001 geschlagen. Sein Versuch einer Manipulation der Ergebnisse misslang jedoch, und der Kandidat der Opposition, Vojislav Kostunica, wurde Staatspräsident Jugoslawiens. Auch die Parlamentswahlen einige Monate später gewann das Oppositionsbündnis, und die Festnahme von Milosevic und seine Auslieferung nach Den Haag im Frühsommer 2001 waren die Höhepunkte der Entwicklung, die auch eine Annäherung Serbiens an den Westen bedeutete. Bekanntlich hatten die Auseinandersetzungen der letzten Jahre auch eine konfessionelle Dimension: Während die Kroaten in ihrer überwiegenden Mehrheit Katholiken sind, gehören die Serben, soweit sie religiös sind, der Serbischen Orthodoxen Kirche (SOK) an. Die enge Verbindung zwischen nationaler und religiöser Zugehörigkeit ist besonders bei den muslimischen
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Bosniaken deutlich, deren frühere nationale Bezeichnung "Muslime" ja aus dem religiösen Bereich übernommen ist und deswegen auch abgelegt wurde, weil sie - besonders während des Krieges - Anlass zu Missverständnissen bot. Historisch gesehen, handelt es sich ja bei den Bosniaken um die Nachkommen von islamisierten Katholiken oder Orthodoxen. Sie haben im Lauf der Generationen eine muslimische Identität entwickelt und die Beziehung zu ihrer ursprünglichen Herkunft verloren. Da serbische und kroatische Nationalität immer eng mit der Zugehörigkeit zu einer der beiden christlichen Kirchen verbunden war, definierten sich die Bosniaken zumeist neutral (etwa als "Jugoslawen''). Seit den sechziger Jahren hatten sie in Jugoslawien die Möglichkeit, sich als "Muslime im ethnischen Sinn" zu bezeichnen, was von ihnen gerne verwendet wurde. 1993 wurde beschlossen, die Bezeichnung in "Bosniaken" zu ändern. Die Bosniaken haben heute also einen muslimischen Hintergrund, auch wenn viele von ihnen den Islam nicht praktizieren. Durch die Änderung des Nationennamens wollte man vermeiden, als "Fundamentalisten" angesehen zu werden. Dabei bot der bosnische Islam kaum Anhaltspunkte hierfür. Er hatte ein ganz besonderes Gepräge, weil er westlich orientiert war. Das heißt, dass sich viele der islamischen Theologen in Bosnien und Hercegovina mit der Frage beschäftigten, wie man die Werte der islamischen Religion mit den Errungenschaften der westlichen Welt in Übereinstimmung bringen kann. Es gab praktisch keine Erscheinungsform von "Islamismus" oder "Fundamentalismus". Die Gesprächsbereitschaft der islamischen Gemeinschaft im Lande wurde vor allem auch von den Katholiken, insbesondere von den Franziskanern, die in Bo"snien und Hercegovina eine wichtige Rolle spielen, geschätzt. Die islamische Gemeinschaft war auch diejenige Glaubensgemeinschaft, die am meisten von Säkularisierung betroffen war. Vor allem unter jüngeren Menschen gab es kaum noch welche, die aktiv den Islam praktizierten. Die Moscheen waren schwach besucht, und die meisten Speise-, Fasten- und Gebetsvorschriften wurden praktisch nicht eingehalten. Doch trotz ihrer Offenheit hatte diese Glaubensgemeinschaft auch Probleme in Jugoslawien. Dazu trugen nicht so sehr die vereinzelten Vertreter bei, die versuchten, eine stärkere Rückbesinnung auf den traditionellen Islam durchzusetzen oder muslimische Gesellschaftsmodelle zu entwickeln (zu ihnen gehörte etwa der spätere Präsident Izetbegovic, der deswegen auch in Jugoslawien im Gefängnis sitzen musste), als vielmehr die Irritationen, die die Existenz der Bosniaken bei den Nationalisten unter Serben und Kroaten bewirkten. Da Katholiken und Orthodoxe im Rahmen der Nationenbildung des 19. Jahrhunderts mit Kroaten und Serben gleichgesetzt wurden, trat hier der vom Südosteuropahistoriker HOLM SUNDHAUSSEN beschriebene "Imperativ der Eigentlichkeit" zu Tage: "eigentlich" handelte es sich ja um Kroaten oder
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Serben, die vom Glauben ihrer Väter abgefallen waren. Das Recht auf nationale Selbstidentifizierung und die Tatsache, dass es längst zur Bildung einer eigenen muslimischen (später: bosniakischen) Nation gekommen war, wurden hierbei souverän ignoriert. Die bosnischen Muslime störten die christlichen Nationalisten also allein durch die Tatsache ihrer Existenz. Die katholische Kirche bei den Kroaten verstand sich in den Jahren des Kommunismus als die Hüterin der kroatischen nationalen Identität. Dazu trugen in großem Maße die Ereignisse zwischen den beiden Weltkriegen bei, als Serben und Kroaten erstmals in einem gemeinsamen Staat lebten, der stark von Serben dominiert war, und die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als die katholische Kirche im "Unabhängigen Staat Kroatien", einer Marionettenkonstruktion, der Verfolgung von Serben und Juden nur ungenügenden Widerstand entgegensetzte. Nach dem Krieg konnten diese Fragen nie thematisiert und aufgearbeitet werden. Die katholische Kirche hat die jugoslawischen Staaten, das Königreich zwischen den Kriegen und die sozialistische Föderation nach 1945, nie als ihre eigenen empfunden. Das ist umso bemerkenswerter, als die Idee eines "Jugoslawismus" im Kroatien des 19. Jahrhunderts gerade in Kirchenkreisen bedeutende Anhänger hatte; Bischof Strossmaier von Djakovo war der bedeutendste unter ihnen. Doch hatte die Realität des Zusammenlebens die romantischen Ideen von den Serben als einem Brudervolk rasch zunichte gemacht. In der kommunistischen Zeit verstand sich die Kirche zwar als Fürsprecherin für bürgerliche Freiheiten, vor allem für freie Religionsausübung, doch standen dieser Einsatz und auch ihre sonstigen Aktivitäten stark unter dem nationalen Aspekt. Die Einbindung in die katholische Weltkirche erleichterte das Engagement für die Freiheiten, milderte aber das nationale Element kaum ab. Auch die kroatische Emigration im Westen hielt die kroatische nationale Identität gegen das Regime hoch - eigentlich ja nicht abzulehnen, doch problematisch, wenn das die Selbstbestimmungsrechte anderer Nationen einschränkte, wie es zuweilen geschah. Die SOK ist eine der autokephalen, also selbstständigen orthodoxen Kirchen. Ihr Zentrum befindet sich in Belgrad - übrigens ein Phänomen, das auch die Katholiken in Bosnien betrifft: Faktisch sind sie mit religiösen Zentren verbunden, die außerhalb des Landes liegen. In den Jahren des Krieges hat sich das zuweilen als problematisch erwiesen. Die SOK ist historisch eng mit der serbischen Nation verbunden. In der SOO-jährigen Zeit der osmanischen Besatzung war sie die einzige nationale Institution, die, wenn auch unter zahlreichen Einschränkungen, bestehen bleiben konnte. In den Klöstern wurden die Sprache und die kirchliche Literatur gepflegt und bewahrt, und nicht selten dienten sie als Zufluchtsorte. Nach der Befreiung nahm die SOK eine privilegierte Stellung ein, so auch im Zwischenkriegsjugoslawien. Nach dem Zwei-
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ten Weltkrieg war sie erheblich geschwächt und musste Verfolgungen durch die Kommunisten hinnehmen. Erst in den Jahren vor dem jetzigen Krieg erlangte sie neue Bedeutung. Die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und die Tatsache, dass man nicht offen mit ihnen umgehen, ja kaum über sie sprechen konnte, brachten es mit sich, dass die Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften in Jugoslawien ausgesprochen schlecht waren. Es gab praktisch keine offiziellen Beziehungen. Eine Reihe von Symposien zwischen den (christlichen) theologischen Fakultäten in der Zeit von 1974-1990 war die einzige Ausnahme, und auch sie diente eher dem Austausch von Standpunkten als der Vertiefung der gegenseitigen Kenntnis. Lediglich auf lokaler Ebene konnte man zuweilen von positiven Beispielen des Kontakts, seltener der Zusammenarbeit hören. In der Mitte der achtziger Jahre kamen die katholische und die orthodoxe Kirche im Lande überein, eine gemischte theologische Kommission (wie es sie in anderen Ländern auch gibt) einzusetzen. Doch wegen gegenseitiger Vorwürfe und Spannungen konnte diese sich nie konstituieren. Erst 1992, also bereits während des Krieges, kam es durch Vermitdung von internationalen kirchlichen Organisationen, nämlich der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und des Rates der Katholischen Bischofskonferenzen Europas (CCEE), zu einem ersten Treffen dieser Kommission in der Schweiz. Die ohnehin schlechten Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften wurden in den Jahren vor dem Krieg noch schlechter. Das ist auch nicht weiter überraschend, hält man sich vor Augen, dass die Kirchen und die islamische Gemeinschaft ja so eng mit den Nationen verbunden sind. Als in den achtziger Jahren die Spannungen zwischen den Nationen im früheren Jugoslawien anwuchsen, hatte das für die Religionsgemeinschaften weit reichende Konsequenzen. Zunächst haben sie großen Zulauf bekommen. Der Grund dafür liegt darin, dass sie eng mit der nationalen Zugehörigkeit verbunden waren und sind. Wer sich öffentlich zu Katholizismus oder zur Orthodoxie bekannte, unterstrich damit eben auch, dass er Kroate bzw. Serbe war. In den Jahren, da die kommunistische Herrschaft immer schwächer wurde und schließlich abgelöst wurde, wurde es auch immer leichter, religiöse Überzeugungen zu artikulieren. In Serbien hat die Kommunistische Partei, die hier am längsten an der Macht blieb (faktisch bis zum Sturz von Milosevic), ihrerseits versucht, die orthodoxe Kirche für den übersteigerten Nationalismus zu instrumentalisieren, mit dem sie ihre Macht im Lande bewahren wollte. In der Zeit vor dem Krieg und während des Krieges vertraten alle Religionsgemeinschaften grundsätzlich die Option, die auch die jeweiligen Regierun-
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gen vertraten: Nach katholischer Ansicht war die Loslösung der kroatischen Teilrepublik zu einem selbstständigen· Staat verfassungsgemäß und die Staatsbildung somit legal, während nach Auffassung der serbischen Orthodoxie den Serben in Kroatien sowie in Bosnien und Hercegovina die physische Vernichtung durch einen Völkermord drohte, so dass sie das Recht hätten, sich zu verteidigen bzw. bei einer Loslösung Kroatiens mit ihren Siedlungsgebieten bei Rest jugoslawien zu verbleiben. Dass dabei die beanspruchten Gebiete viel größer waren als die tatsächlichen Siedlungsgebiete, sei hier nur erwähnt. Von serbischer Seite war oft das Argument zu hören, Serben könnten (vor allem nach den Ereignissen des Zweiten Weltkrieges) nicht mehr unter Kroaten oder Muslimen leben. Eine solche Überzeugung war bei der großen Mehrheit der Serben in allen Teilen des früheren Jugoslawien zu finden. Die Extremisten unter den Bosniaken hingegen sahen Bosnien und Hercegovina als ,ihr' Land; für die Christen konnte es darin keine wichtige Rolle mehr geben. Im Laufe der Kriegshandlungen ist es auch zu einigen wenigen Erscheinungen von islamischem Fundamentalismus und Ausschließlichkeit gekommen. Die bosnischen Kroaten schließlich waren in ihrer Position je nach Siedlungsgebiet gespalten: Vor allem diejenigen in der westlichen Hercegovina vertraten eine extrem nationalistische Meinung, forderten den Anschluss ihrer Gebiete an die Republik Kroatien und waren äußerst intolerant gegen Serben und vor allem gegen Muslime. Die Kroaten in Zentralbosnien hingegen vertraten zumeist eine ähnliche Position wie die bosnische Regierung: Der Staat müsse als ganzer erhalten bleiben, und alle Nationen und Religionen sollten die gleichen Rechte haben. Allerdings ist zu sagen, dass insgesamt die nationalistische Propaganda bei Serben und Kroaten viel stärker vertreten war als bei Muslimen. Wenigstens verbal wurde von offizieller muslimischer Seite immer wieder die These vertreten, Bosnien und Hercegovina sei ein Staat von drei Nationen und drei Religionen, die alle gleichberechtigt miteinander leben sollten. Konversion oder Vertreibung von Nichtmuslimen war niemals offizielle politische Haltung der bosnischen Zentralregierung; die Idee einer Separierung der einzelnen Nationen innerhalb des Landes, wie sie letztlich im Friedensabkommen von Dayton praktiziert und gebilligt wurde, ist den Regierungsvertretem in Sarajevo durch die Internationale Gemeinschaft aufgezwungen worden. Angesichts dieser Voraussetzungen überrascht es, dass es seit der Verschärfung der politischen Beziehungen Ende der achtziger Jahre viel mehr Treffen zwischen den Kirchenoberhäuptern und gemeinsame Appelle zu Frieden und Versöhnung gegeben hat als jemals zuvor. Mit dem Ausbruch des Krieges trafen sich der serbische Patriarch Pavle und der damalige Erzbischof von Zagreb, Kardinal Kuharie, im Mai und August 1991. Es gab noch weitere
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Treffen beider Kirchenoberhäupter, dazu zahlreiche Begegnungen von Bischöfen und eben die erwähnte Konstitution der gemischten Kommission. Allerdings haben Vertreter der Islamischen Gemeinschaft häufig nicht an solchen Treffen und Initiativen teilgenommen. Dafür gibt es zwei Gründe: zum einen handelte es sich zuweilen um Initiativen, die von christlichen Organisationen ausgingen und sich bewusst auf die christlichen Kirchen beschränkten, zum anderen verlangten aber die Vertreter des Islam eine Entschuldigung von Seiten der SOK, bevor sie sich mir deren Vertretern treffen wollten. Die völlig unterschiedliche Sichtweise der Situation durch die Beteiligten wird hier deutlich.
Die heutige Lage der Kirchen Für die römisch-katholische Kirche in Bosnien und Hercegovina waren die Ereignisse und Entwicklungen in Kroatien und in der katholischen Kirche dort entscheidend. Man versteht sich als Angehörige einer Nation und einer Kirche, und da zudem eines der für den bosnischen Staat entscheidenden Machtzentren in Zagreb liegt, kommt allem, was dort geschieht, auch Bedeutung für die bosnischen Kroaten zu. Nun hat sich die katholische Kirche sowohl auf Weltebene als auch in Kroatien sehr rasch für den Standpunkt entschieden, der bosnische Staat müsse erhalten bleiben. Zwischen dem früheren Kardinalerzbischof von Zagreb, Kuharie, und dem Anführer der bosnischen Kroaten, Boban, war es wegen dieser Frage zu einer großen öffentlichen Kontroverse gekommen. Nicht öffentlich ausgetragen, aber deutlich zu verspüren waren die Unterschiede zwischen den Kirchenvertretern in Zagreb und Sarajevo und dem früheren kroatischen Präsidenten Tudjman, der sich immer die Option einer Teilung Bosnien und Hercegovinas offen hielt. In der katholischen Kirche waren es vor allem die Franziskaner in der Hercegovina (nicht diejenigen Bosniens, die eine eigene Provinz bilden), die sich für eine Abtrennung des Gebiets von Bosnien und eine Angliederung dieser vorwiegend von Kroaten besiedelten Gegend an Kroatien aussprachen. Die Zukunft von Bosnien und Hercegovina hängt in entscheidendem Maße davon ab, ob sich die dort lebenden Serben und Kroaten mit dem Staat identifizieren können. Wenn tatsächlich die gemäßigten Kräfte unter den bosnisehen Kroaten unterstützt werden, wie sie vor allem auch durch den größten Teil der katholischen Hierarchie repräsentiert werden (an erster Stelle ist hier Kardinal Puljic zu nennen, der Erzbischof von Sarajevo), dann hat der Gesamtstaat eine reale Chance. Allerdings müssen sich die wirtschaftlichen Ver-
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hältnisse ändern, und in der Republika Srpska muss man erkennen, dass sich eine Zusammenarbeit mit den gesamtbosnischen Gremien lohnt. Das ist momentan nur ganz zögerlich der Fall. Jedoch wird auch dann die Anwesenheit der internationalen Gemeinschaft noch geraume Zeit erforderlich sein. Es ist wichtig, diese politischen Entwicklungen im Auge zu haben, wenn die Lage der Religionsgemeinschaften und ihre Beziehungen zueinander beschrieben werden sollen, da diese in großem Maße von ihnen abhängig sind. Ihre Handlungsmöglichkeiten, aber oft auch ihr Handlungswille werden davon bestimmt, wie sich die innen- und außenpolitische Situation ihres Landes gestaltet. Es ist somit nicht allzu überraschend, dass mit dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen auch die Kontakte zwischen den Vertretern der Religionsgemeinschaften seltener geworden sind. Das hängt nur zum Teil damit zusammen, dass solche Kontakte als nicht mehr notwendig erachtet werden, da sich die militärische Situation beruhigt hat. Ein weiterer wichtiger Grund liegt darin, dass insbesondere kroatische Kirchenvertreter es oft nicht für notwendig halten, zu Jugoslawien und der SOK besondere Beziehungen zu unterhalten, die sich etwa von denen zu anderen Nachbarländern unterscheiden würden. Dazu kommt, dass es inzwischen auch viel weniger Angehörige der jeweils anderen Konfession in den "eigenen" Gebieten gibt: In der bosniakisch-kroatischen Föderation leben Serben fast nur noch in den gro.ßen Städten (Sarajevo und Tuzla). Umgekehrt gibt es für Bosniaken und Kroaten kaum die Möglichkeit, in die Republika Srpska zurückzukehren, wenn sie von dort stammen. Ähnlich verhält es sich auch in den Nachbarstaaten: Nur relativ wenig Serben, die von dort stammen, kehren nach Kroatien zurück. Inzwischen gibt es Umfragen unter den Flüchtlingen und Vertriebenen, die zeigen, dass ein hoher Prozentsatz aus verschiedenen Gründen nicht mehr in die angestammte Heimat zurückkehren möchte: man hat sich inzwischen am Ort der Zuflucht arrangiert, die Kinder gehen dort zur Schule, und sehr häufig hat man kein Vertrauen in die dortigen Behörden und will nicht als Angehöriger einer Minderheit leben. Zwischen den Kirchenvertretern gibt es auf lokaler Ebene formelle Kontakte: In Sarajevo haben sich der katholische Erzbischof Kardinal Puljic, der serbische Metropolit Nikolaj sowie Vertreter des Islam und des Judentums zu einem Interreligiösen Rat zusammengeschlossen, der inzwischen, nach dem Kosovo-Krieg von 1999, auch die Gründung eines ebensolchen Rates im Kosovo initiiert hat. Diese Gespräche und Kontakte dienen dazu, die pastoralen Belange vor Ort so gut wie möglich zu organisieren. Darüber hinaus haben die christlichen Kirchen in Kroatien und Serbien jedoch kaum Kontakt zueinander und auch nicht viele offizielle Kontakte mit dem Islam. Diese Zurückhaltung hat sich erst in der jüngsten Zeit ein wenig geändert, als die politischen Veränderungen in Serbien auch Erleichterungen für die Religionsgemeinschaften mit sich brachten und sie sich gemeinsam etwa für die
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(inzwischen erfolgte) Wiedereinführung des schulischen Religionsunterricht einsetzten. Eine solche Haltung gegenüber Kontakten zur anderen Kirche ist auch vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass es ja keinen gemeinsamen Staat mehr gibt, in dem Angehörige dieser Kirchen in ihrer Mehrzahl leben würden. Dadurch, dass die Grenzen zwischen den Nationen praktisch identisch sind mit denen zwischen den Konfessionen und Religionen, ist es den Kirchen erleichtert, die neu entstandenen Staaten als die "ihren" zu betrachten und zu deren innerer Stabilisierung beizutragen. Das gilt für die katholische Kirche bei den Kroaten insbesondere, da Kroatien heute ein Nationalstaat ohne große Minderheiten ist, und da die Zahl der Kroaten in Bosnien immer relativ gering war. Bei den Serben verhält es sich insofern anders, als die ethnisch serbische Bevölkerung in der Bundesrepublik Jugoslawien nicht einmal zwei Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht und da es mit der Republika Srpska ein zweites serbisches Staatsgebilde außerhalb Serbiens gibt. Außerdem ist völlig unklar, wie sich die Lage hinsichtlich des Kosovo entwickeln wird und ob es nach der in drei Jahren geplanten Volksabstimmung noch einen gemeinsamen Staat mit Montenegro geben wird. Daher sind in Serbien viel mehr Menschen anzutreffen, die eine Veränderung von internationalen Grenzen für eine Lösungsmöglichkeit halten, sei es etwa durch eine Aufteilung Bosniens zwischen Kroatien und Serbien oder durch einen "Austausch", in dem Serbien das Kosovo abtritt ~nd dafür die Republika Srpska bekommt. Die starke Konzentration auf die innere Konsolidierung von Staat, Kirche und Gesellschaft lässt also ein Klima entstehen, in dem es die Kirchen für nicht primär notwendig halten, Kontakte und Beziehungen zur jeweils anderen Kirche zu entwickeln. Damit wird auch klar, dass der Begriff der Versöhnung' dem sich beide Kirchen verschrieben haben, oft in einem besonderen Sinn zu verstehen ist: Es geht viel mehr um die innere gesellschaftliche Versöhnung in den betroffenen Nationen als um einen Versöhnungsprozess mit den früheren Kriegsgegnern. Häufig herrscht die Meinung vor, dass durch das Ende des Krieges und des gemeinsamen Staates nun auch keine besondere Notwendigkeit für versöhnliche Beziehungen zu anderen Nationen besteht. Dazu kommt, dass zahlreiche Kriegstraumata ja tatsächlich noch nicht überwunden sind. Das Argument, die Zeit sei noch nicht reif für Versöhnung, ist daher ebenfalls häufig zu hören. Schließlich sei noch das Argument angeführt, dass die politische und moralische Unterstützung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens aus dem Ausland eine wichtige Rolle spielt: Während westliche, "katholische" Staaten und ja auch der Heilige Stuhl aus verschiedenen Gründen Kroatien unterstützen (sei es wegen der Annäherung an die EU, sei es wegen des katholischen Charakters
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des Landes), liegt die Solidarität von orthodoxen Staaten wie Griechenland oder Russland (oft auf Grund unhistorischer, vermeintlicher alter Beziehungen) beim orthodox geprägten Serbien. Die bosnische Regierung hingegen hat in den Zeiten des Krieges, aber auch seither massive finanzielle Unterstützung durch muslimische Staaten erhalten. Der militärische Beistand hingegen, den sie vor allem durch freiwillige Kämpfer aus diesen Ländern bekommen hat, wurde häufig überschätzt.
Die unterschiedliche Geschichtsbetrachtung Es ist deutlich, dass es in den drei Glaubensgemeinschaften jeweils eine bestimmte, weitgehend feststehende und von großen Teilen der Bevölkerung bzw. der Gesellschaft geteilte Sicht der gesamten Geschichte, einschließlich des vergangenen Krieges und der damit zusammenhängenden Ereignisse gibt, die in der Regel nicht problematisiert wird. Diskussionen um andere Wahrnehmungen der Vergangenheit finden wenig statt. Diese unterschiedlichen Sichtweisen nun stehen einander fast diametral entgegen. Sie entsprechen den Sichtweisen, die in den Religionsgemeinschaften auch während des Krieges vorherrschten. Kurz zusammengefasst ließe sich sagen, dass sich jede Seite als Opfer und die anderen als die Aggressoren sieht. Es wird kaum je in Frage gestellt, dass das Recht auf der eigenen Seite zu suchen ist. In Kroatien wird also die serbische Politik in den Jahren vor Ausbruch des Krieges mit dem wachsenden Nationalismus in Serbien als Teil eines groß angelegten ("großserbischen'') Planes verstanden, der im Krieg realisiert werden sollte. Oft wird sogar die gesamte jugoslawische Innenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, ja die gesamte serbische Politik seit dem frühen 19. Jahrhundert in diesem Sinne interpretiert. In Serbien hingegen wird die Selbstständigwerdung Kroatiens (und Sloweniens) häufig als Teil einer internationalen Verschwörung angesehen. Vor allem die USA, Deutschland, Österreich, der Vatikan, aber auch der Weltislam seien daran beteiligt. Die Serben seien in Jugoslawien ständig benachteiligt gewesen, insbesondere diejenigen außerhalb der Republik Serbien. Durch den kroatischen Nationalismus habe ihnen ein Völkermord gedroht, wie es ihn ja auch im Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Und die Muslime sind weithin der Ansicht, ihre Vertreibung und Vernichtung sei ein planvolles Geschehen gewesen, an dem eigentlich alle westlichen Staaten beteiligt gewesen seien. Der Hintergrund sei gewesen, keinen autochthonen Islam in Europa zuzulassen. Die Serben hätten die "Schmutzarbeit" geleistet, aber eigentlich mit dem stillschweigenden Einverständnis des Westens. Eine solche divergierende Sichtweise der Geschehnisse bezieht sich nicht nur auf den jüngst vergangenen Krieg, sondern
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praktisch auf alle Ereignisse aus der gemeinsamen Geschichte, angefangen von der Besiedlung des Balkan durch die Slawen (wo etwa die Fragen diskutiert werden, ob Serben oder Kroaten zuerst da gewesen seien, oder ob es vor den Osmanen schon Islam gegeben habe). Ein Beispiel hierfür ist etwa die Betrachtungsweise des jugoslawischen Staates: Für die Serben war ,Jugoslawien" immer die Lösung ihrer nationalen Frage. Das heißt, dass alle Serben, auch die in Kroatien und Bosnien siedelnden, in einem Staat lebten. Daher war der Begriff "Jugoslawien" für sie positiv besetzt, und es ist kein Zufall, dass auch der verbleibende Rumpfstaat, den Serbien mit Montenegro (noch) bildet, auch Jugoslawien heißt. Für die Kroaten hingegen ist "Jugoslawien" gleichbedeutend mit der Wahrnehmung, von den Serben unterdrückt worden zu sein. In allen jugoslawischen Staaten fühlten sie sich benachteiligt, sodass sie der Konzeption eines gemeinsamen Staates aller Südslawen nicht viel abgewinnen können. Die Bosniaken schließlich haben eine divergierende Beziehung zu Jugoslawien-Vorstellungen: Zum einen hat "Jugoslawien" ihnen ermöglicht, ihre nationale Selbstbestimmung zu finden, und es hat sie vor den nationalen Aspirationen von Serben und Kroaten bewahrt. Zum anderen aber sind sie im Namen des gleichen Jugoslawien in den blutigen Krieg der neunziger Jahre gezogen worden. Für einen echten und wirksamen Versöhnungsprozess ist es jedoch notwendig, dass die Betroffenen wenigstens in groben Umrissen das, was historisch zwischen ihnen geschehen ist und die Beziehungen erschwert, auf eine ähnliche Weise interpretieren können, also dass sie sich einig sind über das, was tatsächlich vorgefallen ist. Das ist jedoch im Bereich des früheren Jugoslawien ganz offensichtlich nicht der Fall, sodass also zunächst eine Konvergenz im Verständnis der historischen Ereignisse erreicht werden müsste, bevor ein Versöhnungsprozess tatsächlich greifen kann.
Kirchliche Vermittlungsbemühungen In den jugoslawischen Kriegen hat es starke Bemühungen gegeben, die Kirchen und Religionsgemeinschaften zu Dialog, Zusammenarbeit und Versöhnung zu stimulieren. Die Impulse hierzu kamen zum Teil aus den Religionsgemeinschaften selbst, insbesondere aus den beiden großen christlichen Kirchen, die trotz der praktisch kaum vorhandenen ökumenischen Tradition zunächst die beiden schon erwähnten Treffen der Oberhäupter von 1991 (patriarch Pavle und Kardinal Kuharie) zu Stande brachten, auf denen jeweils gemeinsame Aufrufe zum Frieden und zu einer gewaldosen Beilegung der Konflikte formuliert wurden. Noch mehr Engagement kam jedoch von außen, insbesondere von den internationalen kirchlichen Organisationen. Es ist
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bemerkenswert, dass die KEK und die CCEE hierbei eng miteinander zusammengearbeitet haben. Die guten Erfahrungen des "konziliaren Prozesses" haben hier sicher ihren Teil beigetragen. Außerdem waren noch der Weltkirchenrat (ÖRK) sowie verschiedene Organisationen, oft private Stiftungen, aktiv. Insgesamt hat es also sehr viele solcher Bemühungen gegeben. Diese bezogen sich nicht nur auf die diplomatische und kirchenpolitische Ebene, sondern es gab auch Versuche, an die tieferliegenden Ursachen des Konflikts heranzugehen. Hierzu gehören insbesondere mehrere Initiativen, die sich mit der unterschiedlichen historischen Wahrnehmung beschäftigen: Analog zu Historikerkommissionen, wie es sie etwa zwischen Deutschen und Polen gegeben hat (diese jedoch im staatlichen Auftrag), werden zumeist von Stiftungen Fachleute für Geschichte aus Bosnien und Hercegovina, Kroatien und Serbien eingeladen, miteinander zu Themen der gemeinsamen Geschichte zu arbeiten, um so zu vergleichbaren Ergebnissen und zu einem Konsens im Hinblick auf manche Streitpunkte zu gelangen. Es liegt auf der Hand, dass konkrete Ergebnisse solcher Anstrengungen lange Mühen erfordern und nicht schnell geliefert werden können. Ein wichtiges Problem aller Bemühungen, also auch der politischen, liegt darin, dass sie zum einen immer auf einen engen Kreis von Beteiligten beschränkt bleiben, und dass sie zum anderen selbst in diesen engen Kreisen noch von vielen abgelehnt werden. Die Beschränkung auf einen engen Kreis hängt vor allem damit zusammen, dass die Religionsgemeinschaften nicht den Anschein erwecken, als sei es in ihrem Interesse, die Bemühungen um gute Beziehungen und etwa die gemeinsamen Aufrufe und Erklärungen wirklich publik zu machen. In der Pastoral der Gemeinden spielen diese Themen kaum eine Rolle. Es lassen sich zwar publizierte Hinweise auf solche Unternehmungen finden, aber dabei bleibt es auch. Für den Beobachter entsteht der Eindruck, als sei das für die Verantwortlichen weder ein schon wichtiges Thema noch eines, das mehr Wichtigkeit erlangen sollte. Dazu kommt, dass solche Bemühungen von vielen wichtigen Kirchenvertretern oder etwa von einem großen Teil der Historiker abgelehnt werden. Im schlimmsten Fall werden die Beteiligten sogar als Verräter gebrandmarkt, manchmal gibt es heftige öffentliche Polemiken um solche Unternehmungen, und vielfach hält man sie einfach für unnötig und vor allem für nutzlos. Ein wichtiges Argument der Gegner solcher Unterfangen liegt darin, dass die Bemühungen von außen kommen und daher keinen eigentlichen Rückhalt in den betroffenen Gesellschaften haben. Damit ist ohne Zweifel ein richtiges Phänomen beschrieben. Doch müssen die genannten Initiativen ja als Versuch verstanden werden, ein Verständnis für die Notwendigkeit von Versöh-
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nung einerseits und für die Relativität des eigenen Standpunktes andererseits bei den Gläubigen der Kirchen, bei den Fachhistorikern, in der Öffentlichkeit und überhaupt in den Gesellschaften zu verankern. Es .ist richtig, dass ohne dauernde Unterstützung von innen gesellschaftliche Prozesse nicht ablaufen können. Doch es ist ebenso richtig, dass es möglich ist, von außen solche Prozesse zu stimulieren. Die deutsche Erfahrung nach 1945 zeigt das deutlich, insofern ja eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch nicht von selbst entstand, sondern durch die Alliierten in die Wege geleitet werden musste. Es ist bekannt, dass das ein schwieriger und langwieriger Prozess gewesen ist, der vermutlich nicht in idealer Weise verlaufen ist; noch heute gibt es Auseinandersetzungen um die damit zusammenhängenden Fragen, und es ist deutlich, dass auch die Kirchen lange brauchten, um sich ihrerseits und in ihrem Bereich mit der Vergangenheit zu befassen. Doch wird wohl niemand bestreiten, dass es sich hierbei um einen notwendigen Prozess handelte und handelt. Ohne Beschäftigung mit der Vergangenheit, oder, mit einem Wort: ohne Wahrheit gibt es keine Versöhnung und damit auch keine Option für eine friedliche und stabile Zukunft. Ein weiterer Einwand gegen kirchliche Versöhnungsbemühungen im Bereich des früheren Jugoslawien ist, dass es noch zu früh sei für solche Projekte. Es müsse erst geraume Zeit vergehen, bevor man sich damit beschäftigen könne. In diesem Argument steckt insofern ein wahrer Kern, als man nicht von Menschen, die direkt vom Krieg betroffen waren, vertrieben wurden, nahe Angehörige verloren haben oder schlimmste Gräuel miterleben mussten, verlangen kann, dass sie mit den bisherigen Kriegsgegnern sofort zu Vergebung und Versöhnung bereit sind. Vielleicht werden sie das nie sein, und es ist notwendig, dass eine neue Generation das Gespräch aufnimmt, die unbelasteter mit der Geschichte umgehen kann (obgleich sich auch am deutschen Beispiel zeigt, dass die Eigenschaft "Vertriebener sein" vererbt werden kann). Versöhnung kann sicher nicht erzwungen werden. Doch bedeutet das nicht, dass man nicht sehr zeitnah an einem Konflikt mit Bemühungen um eine Annäherung der Gegner beginnen kann und soll. Dabei ist natürlich zu beachten, dass man es mit verschiedenen Gruppen innerhalb der betroffenen Gesellschaften zu tun hat. Nur sehr unwahrscheinlich wird man diejenigen, die sich aktiv an gewaltsamen Auseinandersetzungen beteiligten oder noch beteiligen, dazu bringen, gleichzeitig Schritte der Versöhnung zu unternehmen. Doch zeigt etwa das Beispiel Nordirlands, dass Angehörige der verfeindeten Gruppen aufeinander zugehen können, um nicht Gewalt als einzige Form der Kommunikation zwischen ihnen gelten zu lassen. Je mehr solcher Unternehmungen es gibt und je früher mit ihnen begonnen wird, umso größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich auf Dauer ein stabiles Netz von Beziehungen
Islam, Orthodoxie und katholische Kirche seit dem Zerfall Jugoslawiens bis heute
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Beziehungen bauen lässt, das die Voraussetzung für dauerhafte friedliche Beziehungen ist. Die Aufarbeitung der unterschiedlichen Erinnerungen der Geschichte ist dabei nur ein Faktor, allerdings ein zentraler. Das hängt auch damit zusammen, dass historische Erinnerungen und Belastungen nicht nur historische Bedeutung haben, sondern für heutiges politisches Handeln instrumentalisiert werden. Die kirchlichen Vermitdungsbemühungen auf dem Gebiet des früheren Jugoslawien haben unter den beschriebenen Widrigkeiten ebenfalls leiden müssen. Häufig stieß großer Enthusiasmus von außen auf Desinteresse in der Region, und sicher nicht wenige, die gute Absichten hatten, mussten sich enttäuscht zurückziehen. Daher ist es notwendig, empathisch auf die Voraussetzungen einzugehen, die in den betroffenen Ländern und vor allem in den Religionsgemeinschaften gegeben sind. Nur dann ist es möglich, dass ausländische Organisationen und Personen gute Dienste leisten und die Vertreter der betroffenen Religionsgemeinschaften an einen Tisch und zu gemeinsamem Handeln bringen können. Die Befindlichkeiten müssen respektiert werden. Dazu kommt, dass viele der Vermitder entweder ganz bewusst oder nolensvolens selber Partei sind: orthodoxe, katholische oder muslimische Organisationen werden immer als zur eigenen oder zur anderen Seite neigend betrachtet. Natürlich gibt es auch so etwas wie eine Solidarität mit der eigenen Kirche oder Religion, und das kann häufig auch von Nutzen sein, etwa wenn es darum geht, eine schwierige Wahrheit mitzuteilen. Oft haben jedoch gerade die internationalen kirchlichen Organisationen anders agiert, als es einer solchen konfessionellen Solidarität entsprechen würde: Die CCEE als katholische Organisation hat öfter kritische Positionen gegenüber der römisch-katholischen Kirche in Kroatien sowie in Bosnien und Hercegovina eingenommen (besonders gegenüber einzelnen Vertretern), während von KEK und ÖRK (in beiden Organisationen ist die SOK Mitglied) häufig sehr scharf urteilende Stimmen gegen die SOK zu vernehmen waren. Natürlich haben diese Organisationen in ihren offiziellen Appellen und Äußerungen die notwendige Distanz gegenüber allen Einseitigkeiten eingehalten und sich nicht zum Vorteil der "anderen" Seite manipulieren lassen. Aber dennoch ist bekannt, dass es Reserven gegenüber den "eigenen" Kirchen gegeben hat, wo eher deren Unterstützung zu erwarten gewesen wäre. Es liegt auf der Hand, dass das für die Kirchen der Region nicht einfach zu akzeptieren war, weil es ja bedeutete, dass die von ihnen erwartete Unterstützung der eigenen Position ausblieb. Während der Kriege in Kroatien sowie in Bosnien und Hercegovina hatten sich die lokalen Kirchen aus eigener Initiative an internationale kirchliche und nichtkirchliche Institutionen gewandt, um Unterstützung für ihre Positionen zu erlangen. Nun mussten sie zuweilen
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erfahren, dass ihnen anstelle rückhaldoser Unterstützung eher eine Haltung von kritischer Solidarität entgegenkam. Es bleibt die Frage, ob die kirchlichen Vermitdungsbemühungen überhaupt sinnvoll gewesen sind. Trotz aller Probleme ist sie zu bejahen. Es darf nicht vergessen werden, dass es sich um eine Situation handelt, in der Angehörige der drei Nationen (und das heißt: Gläubige der drei Religionsgemeinschaften) gegeneinander Krieg geführt haben. In einer solchen Situation haben die Vertreter der Religionsgemeinschaften es geschafft, gemeinsam zu Waffenstillstand und Gewaldosigkeit aufzurufen und entsprechende Appelle zu veröffentlichen. Das ist etwas ganz Neues, wenn man es mit bisherigen Kriegssituationen vergleicht, und sollte nicht unterschätzt werden. Auch wenn man sich als Unbeteiligter oft ein intensiveres Engagement der Glaubensgemeinschaften für Versöhnung und für Empathie für die andere Seite gewünscht hätte, so ist es doch von großer Bedeutung, dass solche gemeinsamen Aktionen möglich waren. Das darf jedoch nicht genug sein. Die Religionsgemeinschaften werden sich darum bemühen müssen, durch eine kritische Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zur Versöhnung zwischen ihren Angehörigen beizutragen. Durch die während des Krieges entstandenen Kontakte ist ein Anfang gemacht, der allein allerdings nicht genügen kann.
BUDDHISTISCHER SINHALA-NATIONALISMUS VERWEIGERT DIE MENSCHENRECHTE UND DIE NATIONALITÄT VON TAMILEN EMMANUEL SEEMAMPILLAI 1
Tragödie auf der Paradiesinsel
Sri Lanka hat das große Potential, zu einer multiethnischen, multireligiösen, demokratischen und entwickelten Musterinsel Asiens zu werden. Diese Inselperle im Indischen Ozean ist der Treffpunkt für alle vier Weltreligionen (Buddhisten 65%, Hindus 18%, Moslems 8% und Christen 8%) und seit mehr als 2000 Jahren Treffpunkt für ifVei ethnische Gruppen (Singhalesen 74%, CeylonTamils 12%, Tamil-sprachige Moslems 7%, Indian-Tamils 2%). Leider ist dieses Potential für eine "Einheit in Verschiedenheit U so von religiösen und nationalen Extremisten manipuliert, so bewusst von chauvinistischen Politikern für ihre politischen Zwecke missbraucht und ausgenutzt worden, dass die Minderheit der Tamilen in den letzten 50 Jahren eine ungerechte ethnische Diskriminierung, eine Serie von Mob-Terror und Staatsterror von den buddhistischen Singhalesen erleben. Nicht nur die Menschenrechte der Tamilen werden in der Öffentlichkeit abgelehnt, sondern auch die Gewalt und der Krieg gegen die Tamilen werden von buddhistischen Extremisten verstärkt und unterstützt. In den letzten 20 Jahren gewaltsamen Krieges - einhergehend mit der enormen Zerstörung von Leben und Eigentum - sind ca. 70.000 Zivilisten (mehrheitlich Tamilen), sinhala Soldaten und tamilische Rebellen getötet worden. Ca. 800.000 Tamilen leben als Flüchtlinge außerhalb Sri Lankas. Seit Februar 2002 herrscht durch die Vermittlung der norwegischen Regierung eine Feuerpause. Die Vorbereitungen für ein direktes Gespräch zwischen den Konfliktparteien sind im Gang. Auch bei diesem Versuch für eine politische und friedliche Lösung sind die Sinhala, buddhistische Extremisten, mit ihrem Protest laut geworden und verhindern damit eine friedliche Lösung. Im Hinblick auf diese Situation fragen wir:
Wje kommt es, dass ein religiöser Extremismus von einer weltbekannten Religion wie dem Buddhismus so gegen die Menschenrechte und Nationalität von einer Volksgruppe sein kann? Wie kann religiöser Extremismus von den chauvinistischen Politikem ausgenutzt werden?
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Die Geschichte der Singhalesen - als basierend auf ~ei religiösen Mythen
Der beste singhalesische Historiker der heutigen Zeit, K.M. DE SILVA, gesteht zu, dass der größte Teil der historischen Rekonstruktion über die frühen Siedler Sri Lankas auf zwei mythischen Chroniken beruht, Mahavamsa und Culavamsa. Von diesen Chroniken nimmt man an, dass sie buddhistische Mönche im 6. Jahrhundert v. Chr. zusammenstellten. Diese waren" [. ..} durchdrungen von einer starken religiösen Voreingenommenheit bezüglich ihres zentralen Themas über die historische Rolle der Insel als Bollwerk der buddhistischen Zivilisation. ('1 Diese Überzeugungen, die einst unter den Mönchen vorherrschten und dann in der Kolonialzeit von Politikern und der Elite des Landes als reine Mythen zurückgewiesen wurden, haben erneut an Wichtigkeit gewonnen und sind zum Credo der Majorität für das singhalesisch-buddhistische Eigentum an der Insel geworden.
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"Sinhalesischer(( Buddhismus
Buddhismus, als Religion in Indien 563 v. Chr. entstanden, kam im 3. Jahrhundert v. Chr. nach Sri Lanka. Die Ankunft der Singhalesen in Sri Lanka ist mit dem Besuch Prinz Vijayas verbunden, wobei von letzterem angenommen wird, dass er an jenem Tag das La~d betrat, an dem Buddha seine Erleuchtung erfuhr. So ist es kein Wunder, dass die Singhalesen als mehrheitliche Einwohner dieser Insel den Buddhismus als ihren kostbarsten Besitz ansehen und ihn als Quelle und Krönung singhalesischer Kultur verstehen. Sie sind seit jeher so eng verwoben und haben einen gemeinsamen Weg der Geschichte zurückgelegt, dass eine gegenseitige Wirkung sowohl auf das Leben des Volkes als auch auf die Art, wie der Buddhismus in Sri Lanka praktiziert wird, stattgefunden hat. Während sich die Geschichte des Landes durch Königreiche, Kolonialismus und Demokratien vollzog, erlebten das Volk und seine Religion ihren Anteil an Vorteilen und Privilegien, Nachteilen, Gewinnen und Verlusten.
I SILVA, Kingsley Muthumuni de: A History ofSri Lanka, London 1983, S.3. [weiterhin: SILVA: History of Sri Lanka].
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Besitzen die ,früheren ce Sinhala-Bewohner der Insel mehr Menschenrechte als die "späteren ce Tamil-Bewohner?
Die Kriegsvorkommnisse zwischen Singhalesen und Tamilen haben die Wichtigkeit der Frage nach der Erstbesiedlung der Insel in den Blickpunkt gerückt. Während die Gelehrten und die Historiker beider Fronten zugestehen, dass es abgesehen von den mythischen Chroniken kaum Nachweise über die frühe Besiedlung Ceylons gibt, beziehen sich die Politiker, einschließlich höchster Regierungskreise, wie auch die zumeist von buddhistischen Geistlichen beeinflusste Mehrheit der Masse auf die Mahavamsa. Sie sind gar einer ,,Mahavamsa-Geisteshaltung" verfallen, was sich als größtes Hindernis auf dem Weg einer friedlichen Lösung der ethnischen Krise erweist. Der Frage nach der Erstbesiedlung wird übermäßige Wichtigkeit beigemessen. Obwohl Einigkeit darin besteht, dass sämtlich Singhalesen, Tamilen und sogar Muslime zu verschiedenen Zeiten, aus unterschiedlichen Teilen Indiens nach Sri Lanka kamen, scheinen trotzdem immer noch die Frage nach dem "Besitz" der Insel und - schlimmer noch - die Menschenrechte der derzeitigen Bewohner von diesem Punkt abzuhängen. Mit dem Anspruch der Singhalesen, die ersten Siedler gewesen zu sein, wollen die Tamilen gar nicht wetteifern. Auf Grund historischer Nachweise können die Tamilen aber annehmen, dass die Tamilen diese Insel seit über 2000 Jahren bewohnen, wenn nicht gar länger. Der Schätzung einiger singhalesischer und tamilischer Historiker zufolge sind die Tamilen drei Jahrhunderte nach den Singhalesen auf die Insel gekommen, das heißt im 3. Jahrhundert v. Chr.
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Die Gefahr, die Geschichte des Volkes mit der religiosen Geschichte gleichzusetzen
Die Mahavamsa gibt vor, dass die Ankunft Vijayas zu gleicher Zeit mit der parinibbana, dem Tod Buddhas, geschah. Nachdem der Führer der Welt die ganze Welt errettet und nun den absoluten Zustand seliger Ruhe errungen hatte, lag er auf dem Bett seiner nibbana inmitten der versammelten Gottheiten; er, der große Weise, die Prüfschale für diejenigen, die der Sprache mächtig waren, sprach zu dem neben ihm stehenden Sakka: "Vijaya, Sohn des Königs Sihabahus, kam nach Lanka aus dem Lande Lanka gemeinsam mit 700 Gefolgsleuten. In Lanka, oh Herr der Göt-
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ter, wird meine Religion verwurzeln, deshalb schützet ihn, seine Mannen und Lanka." Diese sollte zur mächtigsten der historischen Mythen der Singhalesen werden und als Basis ihres eigenen Selbstverständnisses als auserwählte Wächter des Buddhismus dienen, wie auch Sri Lanka selber als Sanctum der buddhistischen Religion verstanden wurde. Diese enge Verbindung von Land, Rasse und dem buddhistischen Glauben deutete bereits die Vermischung von Religion und nationaler Identität an, die stets den tiefsten Einfluss auf die Singhalesen gehabt hatte. 2
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Nicht Sri Lanka-Nationalismus} sondern ein buddhistischer SinhalaNationalismus
Unter der kolonialen Regierung schien es so, dass davon die Mehrheit der buddhistischen Singhalesen mehr als die Minderheit hinduistischer Tamilen betroffen war. Sofort nach der Kolonialzeit versuchte die Sinhala-Mehrheit mit Euphorie den Wiederaufbau eines neuen Sinhala-buddhistischen Nationalismus. Dieser Nationalismus wurde stark von einer Mahavamsa-Mentalität unterstützt, nämlich der Idee, die ganze Insel sei eine Sinhala-buddhistische Insel, Buddhismus sei die Religion der Insel und die Mehrheit habe mehr Rechte als die anderen. Natürlich ~ng dieser Wiederaufbau auf Kosten der anderen Volksgruppe.
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Der buddhistische Nationalismus nach der Unabhängigkeit
Der Nationalismus wurde nach der Unabhängigkeit stärker als zuvor und gewann durch seine ethno-religiöse Komponente an Stärke. Es wurde ein leicht anti-britischer Nationalismus vertreten. Nach dem Rückzug der ausländischen Macht wurde daraus dann ein anti-tamilischer und - in geringem Maßein anti-christlicher; wurden die ersteren - die Tamilen - als Dämonen angesehen, verstand man die letzteren als Verräter. Das ideologische Glaubensbekenntnis des Sinhala Nationalismus besteht darin, dass nur Singhalesen ordentliche Staatsangehörige sein können und nur ein Buddhist ein wahrer Singhalese. Die Identifikation von Nation, singhalesischer Rasse und Buddhismus war auf der ganzen Insel vertreten. Im Jahr
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SILVA: History of Sri Lanka, S.4.
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des Buddha Jayanthi 1956 (2500 Jahren nach Gautama Buddha) kam es zu einer Eskalation in den ländlichen Gebieten. 3 Der Buddhismus wurde zum Werkzeug, um den Sinhala Nationalismus geltend zu machen; man bediente sich der Machtbestrebungen neuerer ländlicher sozialer Gruppen, die von der westlich geprägten Macht-Elite, die 1948 erstmals das unabhängig gewordene Sri Lanka verwaltete, ausgeschlossen waren. So gesehen ist der Sinhala Buddhist Nationalism ein Evangelium, um die Tamilen aus dem Wettbewerb auszuschließen; es wird angestachelt durch Unzufriedenheit auf Grund von Arbeitslosigkeit, schlechten Beschäftigungsverhältnissen und mangelndem Lebensraum auf der überfüllten Insel.
Das singhalesische Interesse besteht aber weiterhin darin, die Tamilen unter sich zu haben. Andere Nationen zu bitten, die Tamilen zu Hause zu füttern! - das klingt einfach nur lächerlich.
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Ethnischer Konflikt trotz religiöser Einheit
Trotz der ethnischen Kriege der Vergangenheit feierten Buddhisten und Hindus viele Feste zusammen. Buddha war ursprünglich ein Hindu, und immer noch findet man in der Nähe der buddhistischen Tempel einen Ehrenplatz für Hindu-Götter und -Göttinnen, auch wenn der Buddhismus eine non-theistische Religionsphilosophie ist. In dem 50 Jahre währenden Konflikt haben die gewaldosen Tamilen in den ersten 25 Jahren eine Serie von singhalesisch-buddhistischem Mob-Terror und Staats-Terror ertragen müssen. Das Pogrom 1983 gegen die Tamilen, in dem mehrere tausend Menschen starben, wurde zum Großteil von den buddhistischen Mönchen geführt. Die Rolle der buddhistischen Mönche zeigt uns klar, wie ihre ethnischen Gefühle zu einem geHi.hrlichen Nationalismus oder zu einem fanatischen Fundamentalismus werden können. So sind ihre traditionellen religiösen Werte, wie Leben und Nächsten1iebe, überholt. Aber der ethnische Konflikt stellt sich blind gegenüber dieser Tatsache. Die buddhistischen Mönche führen die Dörfer gegen die indischen Tamilen DORNBERG, Ulrich: Searching through the crisis. Christians, Contextual Theology and Sodal Change in Sri Lanka in the 1970s and 1980s, 0.0. 0.)., S.34-36.
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(Wahlrecht vorenthalten), gegen die Kolonialsprache Englisch (ausschließlich Sinhala 1956), gegen die christliche Dominanz in der Ausbildung (Staatliche Schulen 1961) und gegen den christlichen Einfluss in der Verwaltung (Buddhistischer-Kommissions-Report 1960). Bei dem Pogrom 1983 verbrannten die Buddhisten in Panadura einen Hindupriester in einem Kauldrohn mit Öl. Die singhalesischen Staatskräfte bombardierten 1800 Hindu-Tempel (und auch ca. 20 christliche Kirchen). In den letzten Jahren bombardierten die tamilischen Hindu-Rebellen den Tempel vom Heiligen-Zahn-Buddhas in Kandy, und als Reaktion darauf zündeten die Singhala-Buddhisten am selben Abend den Hindutempel in Kandy an.
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Wie kommt ein Volk mit einerfriedlichen Religion Zu einer gemeinsamen Politik gegen die Tamilen?
Der Buddhismus ist eine Religion, die weltbekannt ist für den Frieden. Im Zentrum ihrer Lehre steht der Respekt vor dem Leben und der Würde des Menschen. Heute noch lehren die Buddhisten, dass es eine Schuld ist, Ameisen zu töten. Aber die singhalesisch-buddhistische Mehrheit betreibt heute eine gemeinsam ausgerichtete Politik gegen die Tamilen. Warum? Drei wichtige Ursachen müssen wir zur Kenntnis nehmen - die Mahavamsa-Mentalität, die Wiederentdeckung des Sinhala-Nationalismus und die Rolle der Elite- Politiker. Die buddhistischen Mönche sind von einer Epik Mahavamsas (eines buddhistischen Mönches um 800) beeinflusst. Nach dieser Epik wird das ganze Land Sri Lanka als ein reines singhalesisch-buddhistisches Land verstanden und die Tamilen im Nordosten als Feinde. Eine Religion, weltbekannt für ihre Lehre des Friedens, ist nicht mehr in der Lage, die Wahrheit zu ergreifen und dafür einzustehen. Heute protestieren die buddhistischen Mönche zu Tausenden gegen jedes gemeinsame politische Handeln mit Tamilen und verlangen eher Krieg und Tod des Tamilischen Tigers. Auch die jüngste Vermitdungsrolle Norwegens wird von den buddhistischen Mönchen als eine Einmischung in die Politik des Landes und damit als gegen die Souveränität des Landes ausgerichtet missinterpretiert.
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Der singhalesische Nationalismus versucht eine Restauration auf Kosten der Tamilen
Während der Kolonialzeit standen die Christen bei der fremden Macht, die Katholiken auf Seiten der Portugiesen, die Protestanten auf Seiten der Holländer und die Anglikaner auf Seiten der Engländer. Die buddhistische Mehrheit unter den Singhalesen und die hinduistische Mehrheit unter den Tamilen fühlten sich während der Kolonialzeit vernachlässigt. Also wird die Unabhängigkeit logischerweise als eine neue Periode verstanden, in der die buddhistische Religion der Singhalesen zu einer glorreichen Vergangenheit restauriert wird. In dieser Euphorie spielt auch eine extreme Form des Nationalismus eine Rolle, fundiert von radikalen oder fanatischen Buddhisten. Sie versuchen in Mahavamsa-Mentalität, einen Nationalismus auf Kosten der anderen Minderheiten - der Tamilen, Muslime und der Christen - durchzusetzen.
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Die Elitepolitiker nutzen den Nationalismus als Kommunalismus aus
Die Elite-Singhalesen-Christen (die Politiker unterdessen sind vom Christentum zurück zum Buddhismus konvertiert), die in der Hauptstadt Colombo wohnten und mit den Elite-Hindu-Tamilen hinter dem englischen Kolonialismus standen, kennen sehr wohl die Geschichte und die späteren Entwicklungen. Aber leider haben die Politiker beider singhalesischer Parteien nur ihren politischen Profit gesucht und die Wahrheiten unter den Teppich geschoben.
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Durch Verdächtigungen und Vorwüife von buddhistische Extremisten wird die Kirche in ihrem prophetischen Einsatz für Wahrheit und Gerechtigkeit behindert
Das frühere Ceylon wurde zuerst dur<:h die Portugiesen (1506 - 1656) christianisiert, später herrschten die Holländer (1656 - 1800) und die Engländer (1800 - 1948). Wegen mangelnder Inkulturation der Kirchen wird das Christentum noch als eine europäische Religion angesehen. Kurzgefasst: Die Christen und ihre Kirchen sind noch mit ihrer europäischen Kolonialgeschichte belastet Sie haben eine strategische und prophetische Vermittlerrolle in diesem ethnischen Konflikt zu spielen. Leider sind sie noch mit einem Minderheitskomplex und einem Gefühl der Fremde gegenüber den Buddhisten und Hindus belastet. Außerdem leiden sie unter einem internen Konflikt ihrer ethnischen und
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christlichen Identität. Diese ungelöste" [...] kontextuelle Angst und der innere Konflikt" lösen einen Schneeballeffekt aus und zwingen die Christen ent. weder zur schweigenden Kollaboration mit der Ungerechtigkeit, zum hilflosen Pazifismus oder im besten Fall zu einer aktiven humanitären Hilfe, aber auch das nur mit fremder Hilfe. Die Angst, eine Minderheitsreligion zu sein; die Furcht, Privilegien und Erleichterungen zu verlieren; der schmerzliche Preis einer prophetischen Haltung zur Wahrheit und vor allem die Angst, von den singhalesischen Buddhisten als anti-national missverstanden zu werden: all dies darf die Kirchenführer nicht dazu bringen, in dieser kritischen Zeit jene Rolle zu spielen, die ihnen zugeschrieben wird. Im Augenblick wird die Kirche vor allem im mehrheitlichen Süden von den Buddhisten als nicht loyal gegenüber dem singhalesich-buddhistischen Sri Lanka beargwöhnt. Nach einer langen Phase des Schweigens, der Indifferenz und apolitischen Diplomatie im Hinblick auf das ethnische Problem, traut sie sich nicht, aktiv für den Frieden zu intervenieren. Sie selbst hat ihre Vermittlerstrategie, prophetische Kraft und Glaubwürdigkeit geschwächt, weil sie so lange angesichts der Massaker und anderer gravierender Verletzungen der Menschenrechte im Norden und Süden geschwiegen hat, und dies in einem Staat, dem erklärten Hüter von "lawand order". In dieser Stunde der nationalen Krise, wo sie den Todesopfern und Desastern des Krieges ins Auge blickt, muss sie entschlossen, mutig und prophetisch werden, um ihren eigentlichen Platz im Lande einzunehmen und auch eine bedeutungsvolle Rolle für Frieden und Gerechtigkeit im Lande zu wahrzunehmen.
RELIGION UND GEWALT: BEISPIEL INDONESIEN RELIGION - FRIEDENSSTÖRER? RELIGION - FRIEDENSSTIFTER? BERNHARD KIESER SJ Allgemeine Angaben zu Indonesien 1 Staatsname: Fläche
Einwohner Unter 15 Jahren: Bevölkerungswachstum Lebenserwartung Analphabetenrate Sprachen
Regierungs form Legislative
Hauptstadt
Religionen
Katholiken Taufbewerber Priester Ordensleute
Republik Indonesien Über 13600 (rund 3000 bewohnte) Inseln erstrecken sich in einem über 5000 km langen Bogen beiderseits des Äquators von mehr als 1,9 Millionen km2 . Mitte 2001: Geschätzt 228 Millionen 30% 1,6 % im Jahr 68,3 Jahre ca.16 % (Männer 10,4%; Frauen 22%) Staatssprache: Bahasa Indonesia (entwickelt seit 1928 aus einer malaiischen Bazar-Sprache); daneben 280 lokale Sprachen. Präsidiale Republik Parlament (Dewan Perwakilan Rakyat): 500 Abgeordnete, einschließlich 38 ernannte Vertreter des Militärs. Oberste Volksvertretung (Musyawarah Perwakilan Rakyat): 700 Abgeordnete, einschließlich der 500 Abgeordneten des Parlaments; tagt jährlich einmal, bestimmt die Richtlinien der Politik, wählt den Präsidenten und Vizepräsidenten für fünf Jahre, hat das Recht zur Amtsenthebung des Präsidenten. Jakarta; 27 Provinzen, einschließlich drei Gebiete mit Sonderstatus: Jakarta, Yogyakarta, Aceh, mit einem Gouverneur an der Spitze und einen Provinzparlament. 88 % sunnitische Muslime; 5 % Protestanten, 3 % Katholiken, 2 % Hindus (v. a. auf der Insel Bali), 1 % Buddhisten, Konfuzianer (v.a. Chinesen), dazu animistische Religionen. 5.824.943 Katholiken in 34 Bistümern und 999 Pfarreien 1998: 101.422 Katechumenen; Zuwachs im Jahr 1998: 125090 2.543 Priester (davon 971 Diözesan-Priester); 3.138 Kandidaten 11.6700rdenleute: 1.060 Brüder - 7.255 Schwestern
I Hauptsächlich entnommen aus KAMPSCHULTE, Theodor: Zur Lage der Menschenrechte in Indonesien - Religionsfreiheit und Gewalt, Aachen 2001.
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"Nicht alle Gewalttätigkeit in unserer Welt kommt von der Religion, aber viel zu viel Gewalt geschieht im Namen der Religion." Auch in Indonesien? Auf allen Inseln fürchten sich Menschen vor den sporadisch-unkontrollierten Gewalttätigkeiten, die - bevorzugt - in der Nähe von Kirchen ausbrechen. Doch außerdem herrscht seit Jahrzehnten Krieg zwischen den Einwohnern der fast ausschließlich islamischen Provinz Aceh (Nord-Sumatra) und den so genannten Sicherheitskräften. Die Provinzen West-, Mittel- und Süd kalimantan (Borneo) sind seit 1967 wiederholt Schauplatz gewalttätiger Konflikte zwischen Dayaks und Chinesen, zwischen Dayaks und Händlern aus Madura und Südcelebes, zwischen Muslimen und Christen, zwischen Muslimen und Muslimen. Seit 1999 verwüstet ein Bürgerkrieg die Provinz Molukken (Hauptstadt und Hauptschauplatz: Ambon). Papua-Neuguinea wurde 1961 als letztes Überbleibsel des niederländischer KoloQialgebietes in die Republik "heimgeholt", unter gewalttätigem Widerstand der Papua-Bevölkerung, der bis heute andauert. Gewalt ebenso seit 1975 in der von Portugal in die Unsicherheit entlassenen Region Ost-Timor. Von 1975 bis 1999 ist Ost-Timor Provinz der Republik Indonesien; inzwischen ist Timor Leste unabhängig geworden, unter unzähligen Opfern. Und vor allem: Keiner weiß genau, wie viele gestorben sind bis Suharto sein Amt an Habibi weitergegeben hat, und wie viele Opfer jeder weitere politische Umbruch gefordert hat. Doch grausamer als die offene Gewalt der brennenden Kirchen und der Bomben auf den Märkten ist die unbekannte tägliche Gewalt z.B. eines Arbeitgebers, der billig bezahlte Arbeiterinnen in der Fabrik einsperrt, und der sie, wenn sie aufmüpfig werden, einfach verschwinden lässt; die stille Gewalt der örtlichen Bürgermeister, die kurzerhand Kennkarten einziehen und so einen Mitbürger zum no-body machen. Gewalt und Folter in Gefängnissen, Gewalt auf den Straßen, Gewalt in den Schulen, alltägliche Gewalt in unseren (christlichen) Gemeinden, die unliebsame Mitglieder einfach totschweigen. Schließlich die nie ausgesprochene Gewalt in den Familien .... MARGARET STEEDLY bemerkt: Früher war Südostasien das Gebiet für Feldstudien zum Thema Kultur, heute ist Südostasien das Gebiet für solche Studien zum Thema Gewalt. • Was haben wir Indonesier aus der überschwänglichen Natur der dreizehntausend Inseln und aus der vitalen Kultur gemacht? • Was haben wir - Christen, Muslime, Hindus - mit der strahlenden Lebensfreude der Balinesen und mit dem Vertrauen der Javaner in das Leben gemacht?
Religion und Gewalt: Beispiel Indonesien
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Wie man ~ betrachtet ... "Gewalt ist indonesisch" - sagen die Anthropologen. Gewalttätigkeit ist die Triebkraft der Kultur - der Humus auf dem unsere Religion wächst. Oder die Christen: Christus, der leidende Gottesknecht am Kreuz, erlöst unsere gewalttätige Kultur. Der keine Sünde begangen hat, er litt und drohte nicht; unsere Sünden hat er mit seinem Leib auf das Holz des Kreuzes getragen. Aber hat er uns wirklich durch seine Wunden geheilt und von dem Zwang befreit, gewalttätig miteinander umzugehen? In Indonesien werden alle Erlösungstheorien fragwürdig; zum Beispiel: In der kleinen Provinzstadt Sampit brachen am 18. Februar 2001 - scheinbar überraschend - Unruhen aus zwischen den Siedlern aus Madura, die Sampit mitten in Borneo zu einem halb-maduresischen Städtchen machten, und den einheimischen Dayaks, die nach zwei bis drei Tagen das Hinterland mobilisiert hatten, und welche gestärkt durch Geisterbeschwörung und rituelle Waschungen, unverwundbar waren, Feuer vom Himmel rufen konnten, jedem ihnen entgegenkommenden Maduresen den Kopf abschlugen, die Häuser der Maduresen in Flammen aufgehen ließen, die Leber ihrer Opfer verzehrten ... Nach Auskunft des Bischofs von Palangka Raya, war Paulus, der Leiter einer Basisgemeinde, einer der Leiter der Dayak-Aktion. Vom Gottesknecht aus der Gewaltsamkeit befreit? "Gewalt gehört zur Politik" - sagen die Polit-Auguren. Zehn Tage vor Suhartos Abgang, am 12. Mai 1998, werden bei einer Demonstration vier Studenten der Trisakti-Universität in Jakarta mit Munition aus Armeegewehren erschossen; in den folgenden Tagen werden Hunderte Opfer von Mord und Vergewaltigung2. Seitdem wird immer wieder untersucht, wie weit Kommandoeinheiten, Truppenteile oder Mitglieder der Armee und der Polizei an Unruhen aktiv beteiligt gewesen sind. Waren zum Beispiel die StudentenDemonstrationen im November 1998 (zwanzig Menschen sind dabei umgekommen!) durch die Armee von Profi-Randalierern und Schlägern inszeniert?3 Wie weit sind z.B. Mord und Brand in Ambon Teil der Auseinandersetzung zwischen Heer und Polizei? "Das Militär, immer noch Teil des vergangenen Orde Baru, wahrscheinlich finanziert von Suharto, Golkar und Suhartos alter Garde, wird oft als der Provokateur par excellence genannt. Man nimmt an, dass der militärische Geheimdienst alles daran setzt, die neue demokratische Regierung in Jakarta (die Regierung Habibi zuerst und seit Oktober 1999 die Regierung AbdurVergewaltigt - wie erzählt wird - von Männem mit Militärstiefeln und Stoppelhaarschnittl ) Vgl. TEMPO, 16. November 1998, hlm., S.28-29; TEMPO, 30. November 1998, hlm., S.24-25; S.26; S.27.
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rahman Wahid) ins Schleudern zu bringen und so die Rückkehr zur Militärherrschaft zu beschleunigen. ,,4 Sind die Gewaltsamkeiten nur der Trick der Soldaten oder einer korrupten Suharto-Garde, um auch nach Suharto ihre Macht und ihr Business im Halbdunkeln zu sichern?5 Gewaltsamkeit als Fortsetzung des Polit-Geklüngels? Den haben alle längst satt. "Gewalt ist der Kampf unter den Religionen" meinen andere. Als am 10.0ktober 1996 in Situbondo/ Ostjava die ersten christlichen Kirchen in Flammen aufgehen, erklären Muslime und Katholiken, der· ProvinzGouverneur ebenso wie Abdurrahman Wahid (damals Vorsitzender der Nahdlatul Ulama): Alles soziale Unruhen - keine anti-christlichen Aktionen; "Sorry, es tut uns leid". Am zweiten Weihnachtstag des gleichen Jahres brennt die katholische Kirche in Tasikmalaya/Westjava. Dazu der Orts bischof von Bandung: "Was haben wir verkehrt gemacht, so dass unsere Kirche dran war? Wir haben gut-nachbarschaftliche Beziehungen zu den Muslimen; zusammen mit ihnen haben wir die Trümmer geräumt. Die Unruhen haben ihre Ursachen in der Unzufriedenheit: unzufrieden über die Kluft zwischen Arm und Reich, unzufrieden darüber dass Rechtsbrecher Freispruch erhalten."G Seither sind 800 Kirchen abgebrannt, von Medan im Nordwesten .bis Sikka im Südosten Indonesiens; auch Moscheen, wenn auch nicht so viele. Die vorläufig letzten Gotteshäuser in Flammen sind die sechs Kirchen in Palu in Mittel-Celebes an Neujahr 2002. Der Hirtenbrief der Indonesischen Bischofskonferenz vom November 2001 über die "Lage in unserem Land und eine Reihe drängender Fragen, die uns Sorgen machen", spricht von der" [...] Schöpfungsordnung, zerstört durch mens<7hliche Habgier": "An die Stelle von Gerechtigkeit und Güte treten Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Verletzung der Menschenrechte. Keine Gerechtigkeit für Arbeiter, Bauern, Fischer, niedere Beamte, Frauen, Kinder, Flüchtlinge. Keine Rechtssicherheit! Im ganzen Land traut keiner mehr denen, welche eigentlich Recht und Gerechtigkeit garantieren sollten." KLINKEN, G.v.: The Maluku Wars: Bringing society back, in: Indonesia 71 (2001), S.7. [weiterhin: KLINKEN: The Maluku Wars] Übersetzungen der zitierten Textpassagen: B.Kieser. S Vgl. ADIlJONDRO, G.].: Guns, pamphlets and handie-talkies. How the military exploited Iocal ethno-religious tensions in Maluku to preserve their political and economic privileges, in: WESSEL, W. (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg 2001, S.100-128. 6 Vgl. Interview mit Bischof Alexander Djajasiswaja, Bandung, in: HIDUP, 12. Januar 1997, S.40. 4
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Keine Spannungen also unter den religiösen Gemeinschaften? Christen und Muslime feiern zusammen das Ende des Fastenmonats; die muslimische (und evangelische) Nachbarschaft feiert mit den Katholiken Kirchweihe und Weihnachten. Doch zur gleichen Zeit beklagen zum Beispiel katholische Universitätslehrer, dass der Zugang zur Universitätslaufbahn für Katholiken immer schwieriger wird; beklagen Pfarrer, dass Mischehen immer häufiger kompromisslos - zu muslimischen Ehen werden; beklagen Gemeinden, dass es keine Baugenehmigung mehr für Kirchen gibt. Jeder spürt die Konflikte; keiner traut sich, sie also solche zu benennen und auszustehen. Politische Akteure und Voyeure hantieren mit Gewalttätigkeiten wie mit Computerspielen; die Öl-Prinzen und Holzhändler Borneos haben in den Konflikten offensichtlich andere Geschäftsinteressen als die TouristenManager von Ball und Toraja; Anthropologen untersuchen, was eigentlich indonesisch ist an der Gewa1t7, und die Kirchenleute und muslimischen Lehrer beklagen die Zerstörungen; Menschenrechts-Gruppen fordern Maßnahmen (von wem?), und Frauengruppen pflegen die Verwundeten auf Ambon und in Poso. Jeder macht sich seinen Reim auf die Gewalttätigkeiten - wie man's eben betrachtet8 • ~ Aus welchem Blickwinkel bekommen wir ein realistisches Bild von Gewalt und Religion in Indonesien? Aus welcher Perspektive erhalten wir einen gerechten Blick?
Wie viele Opfer... ? Die Chronologie gewalttätiger Aktionen neueren Datums beginnt mit dem 27. Juli 1996, mit der Militär-Aktion, welche das von Megawati-Anhängern besetzte Hauptquartier der Partei Demokrasi-Indonesia für die so genannte gewählte Führung räumt. Fünf Tote, 149 Verwundete, 74 Verschwundene; 13 Mitglieder der (Studenten-) Organisation PRD werden verhaftet und zu langen Strafen verurteilt. In Y ogya wird ein Journalist erschossen; in Surabaya verschwinden Arbeiterführer. Im März und Juli 1996 gibt es erste Unruhen in Neuguinea. Im Oktober 1996 in Situbondo, Ostjava: das Gerichtsgebäude, eine evangelische und eine katholische Kirche und eine katholische Grundund Mittelschule werden zerstört. Die Familie des evangelischen Pastors stirbt in den Flammen. Im Dezember 1996 in Tasikmalaya, West java: bei gegen Chinesen gerichteten Unruhen werden Geschäfte und Wohnhäuser ge7 COLOMBIJN, Z.B.F.: What is so Indonesian about violence, in: WESSEL, W. (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg 2001, S.25-46. 8 Im März 2000 übersetzt und veröffentlicht ein muslimischer Verlag in Yogya Dom Helder Camara "Spirale der Gewalt" zum Verständnis unserer Gewaltsamkeiten.
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plündert und zerstört. Im Januar 1997, in Rangkasdenklok, Westjava: bei gegen Chinesen gerichteten Unruhen werden Geschäfte, Wohnungen, Kirchen, Gebetshäuser zerstört. Von März bis Mai 1997 ähnliche Unruhen in der Gegend von Pekalongan, Mitteljava. Von Dezember 1996 bis Februar 1997 in Pontianak, West-Borneo und Umgebung: Hunderte kommen bei blutigen Zusammenstößen zwischen Dayaks und zugewanderten Händlern aus Madura ums Leben. Gewalttätige Politdemonstrationen vor der Wahl 1997: in Banjarmasin (Borneo) und in Sampang auf der Insel Madura sterben und verschwinden viele. Seit Januar 1998 Studenten-Demonstrationen gegen die Wiederwahl Suhartos zum Präsidenten, in Jakarta, Yogyakarta, Bandung, Samarinda ", Studenten werden entführt und gefoltert; nach Suhartos Wiederwahl im März werden die Demonstrationen aggressiver; gewalttätige Zusammenstöße in Jakarta, Medan, Solo (Mitteljava). 12. Mai 1998: Zwischenfall an der TrisaktiUniversität; 14. Mai 1998: Unruhen in J akarta, wahrscheinlich über 1000 Tote (???). Zwischen Juli und Oktober 1998 werden in Ost-Java über 250 Menschen ermordet, die der schwarzen Magie verdächtigt werden. Im November 1998, während der Sondersitzung der Großen Volksvertretung, die ein neues Wahlgesetz verabschieden soll, sterben in Jakarta mindestens 14 Menschen bei blutigen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei (fragedi Semanggi). Zwei Wochen später, nach einer Schlägerei im Kampong Ketapang, breiten sich Unruhen über ganz Jakarta aus; Dutzende sterben, 15 Kirchen werden angezündet. In Kupang auf Timor werden - als Vergeltung für die 15 Kirchen in Jakarta - 10 Moscheen demoliert; in Makassar, auf Celebes weitere Kirchen, als Vergeltung für die 10 Moscheen in Kupang. Im Januar 1999 sterben Menschen bei - inszenierten - Demonstration in Mataram, auf der Insel Lombok; 12 Kirchen werden zerstört. Zur selben Zeit beginnen die Unruhen in Nordostindonesien, auf Ambon und den anderen Molukken-Inseln, etwas später um Poso in Mittel-Celebes. Ein Jahr später um Sampit in Süd-Borneo. Ambon, Sampit und Poso werden zum Symbol aller bürgerkriegs ähnlichen Gewalttätigkeiten in Indonesien: 19.472 Tote gezählt nach den Zeitungsberichten - vielleicht waren es in Wirklichkeit dreimal so viel. 9
9 Nach Angaben der Indonesischen Sektion von Iustitia et pax. Die seit Jahrzehnten andauernden Unruhen in Aceh im Norden Sumatras, mit unzählingen Opfern, müssen eher unter dem Stichwort ,Los von Indonesien' verstanden werden; ähnlich die Unruhen in Papua.
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Aussichten auf den Bürgerkrieg? Initialzündung der Unruhen in der Stadt Ambon (provinzhauptstadt der Südmolukken) ist eine Streiterei zwischen den einheimischen Ambonesen ("Kristen" - Evangelische Christen) und den "Zugereisten" (Muslime) am Hochfest zum Ende des Fastenmonats im Januar 1999. Hauptwaffe ist das Feuer; Kinder mit Benzinkanistern sind die Feuerbrigaden, gedeckt von Männern mit Buschmessern und Eigenbau-Gewehren. Mit Telefongerüchten werden die Clans in den umliegenden Dörfern mobilisiert, die wehrfähig Jugend rückt an; die Unruhen greifen auf die Nachbarinsein über, auf Buru Seram und Tanimbar: bald stehen sich unversöhnliche Gegner gegenüber, entlang religiöser Frontlinien. In vier Wellen der Gewalt, zwischen Januar 1999 und Juni 2000, wird die blühende Stadt Ambon zur großen Ruine, die Einwohner sind tiefer denn je untereinander zerrissen. Am Ende sind alle mit halbautomatischen Waffen versorgt, kleine Fabriken produzieren EigenbauBomben und bauen Waffen für die reichlich vorhandene Armeemunition. 10 Ende August 1999 brechen Kämpfe zwischen zwei verfeindeten Dörfern auf der Insel Halmahera aus, im Distrikt der Nord-Molukken: ein Konflikt zwischen Transmigranten, welche in der Distrikt-Regierung gut vertreten sind, und Einheimischen, die von einer anstehenden Verwaltungsreform wenig Vorteile erwarten. Streit um den Gewinn aus einer Goldmine ... Die - muslimischen - Transmigranten flüchten sich auf die Inselchen Ternate und Tidore; im Oktober werden sie auch von dort durch die - christlichen - Einheimischen vertrieben, die sich unter dem Schutz des Sultans von Ternate sicher fühlen. Unter muslimischem Gegenangriff müssen sich ihrerseits die Christen zurückziehen, erst auf den Nordteil der Insel Ternate und von dort übers Meer nach Manado auf Nord-Celebes. Gegen Ende des Jahres 1999 sollen sich 13.000 (nach anderen Quellen über 20.000) Flüchtlinge auf NordCelebes befinden. Zwei Tage nach Weihnachten 1999 überfallen Christen zwei Moscheen in ihrer Nachbarschaft und töten zwischen vierhundert und fünfhundert meist Frauen und Kinder. Ein Massaker, das nach Vergeltung schreit und schließlich die militanten Gottesstreiter aus Java auf den Plan ruft, die bis heute den Bürgerkrieg am Leben erhalten.
10 Vgl. KLINKEN: The Maluku Wars, S.4-5. Bevor Ende August die Unruhen auf die Provinz der Nordrnolukken übergriffen, rechnet man in Ambon und Umgebung mit 1349 Toten. Um Ostern 1999 brechen Bürgerkrieg-Kämpfe zwischen verfeindeten Dörfern auch auf den südöstlichen Molukken-Inseln (Kei-Islands) aus, mit hunderten Toten und Tausenden, die ihre Dörfer verlassen haben. Die Bevölkerung - zu je einem Drittel muslimisch, evangelisch und katholisch - findet (nach Auskunft von Laksono: Dank des Einflusses der Katholiken) rasch zu friedlichem Zusammenleben zurück.
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Die Straßen der Stadt Ambon bleiben Schauplatz lokaler Gewalt - Waffen sind ebenso die Eigenbau-Granaten wie die streitbaren Radiosender. Christliche Kirchen und Gruppen von Muslimen haben Krisenzentren und zusammen so eine Art Schattenregierung errichtet. Seinen detaillierten Bericht über den Ablauf der Ereignisse auf den Molukken beschließt G .van Klinken: "Lokale Polit-Führer waren direkt in die gewalttätigen Auseinandersetzungen verwickelt. Die Sultane von Ternate und Tidore kontrollierten jeweils so genannte ,Traditions-Anneen' (pasukan adat); dies sind im Wesentlichen private Truppen, die sie ins Spiel brachten zum Zeitpunkt, als sie eigentlich an den Staat hätten appellieren sollen, um Recht und Ordnung herzustellen. Tatsächlich gibt es Anzeichen, dass mit der Niederlage des Sultans von Ternate im Dezember 1999 (danach hat er sich nach J akarta zurückgezogen) die strategische Phase der Kämpfe zu Ende war. Die vielen Zwischenfalle seit Beginn des Jahres 2000 sind nur Rache-Akte [...] Nachbeben, die keinem eigentlichen Interesse mehr dienen und langsam an Intensität verloren. Um die Molukken-Bütgerkriege zu verstehen, müssen wir unsere auf Jakarta fixierte Blickrichtung aufgeben und den einzigen Punkt im Auge behalten, der die Ereignisse auf den Molukken wichtig (und gleichzeitig so bedrückend) für das Verständnis von Indonesien in der Ara nach Suharto macht: der grundsätzlich lokale Charakter der Molukken-Konflikte. In den zwei Jahren 1999 und 2000 hatte in Jakarta keiner eine bessere Idee für den Frieden als ein neues nutzloses Komitee, das seinerseits die lokalen Herren mit weiteren unnötigen Fragen belästigt. Jakarta ist nicht der Hauptschlüssel zum Verständnis der Molukken. ,,1 1
11 KLINKEN: The Maluku Wars, S.7; S.9. Zu einem ähnlichen Schluss kommt: BUBANT, Niels: Themes in the dynamics of violence in eastern Indonesia, in: WESSEL, W. (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg 2001, S.228-253. In einer bisher unveröffentlichten sozial-kulturellen Studie zeichnet van Klinken ein ähnliches Bild von den Unruhen in Sampit und Palangkaraya in der ersten Hälfte des Jahres 2001: "Das Bild von den parasitären Eliten, die den demokratischen Prozess umleiten in ethnische Konflikte, wird zum Leitmotiv unserer Untersuchung über die neuen ethnischen Führungsschichten Indonesiens. Doch zu diesem Gesichtspunkt müssen wir ein wichtiges Element hinzufügen: es sind lokale Eliten, nicht die nationalen. Sie kämpfen nicht um die höchste Trophäe nationaler Führung, sondern um lokale Führungspositionen, auf der Ebene der Provinzen. Es sind ,subalterne' Eliten, welche ihre Beziehungen aufrechterhalten müssen, nach oben, zur Hauptstadt, wie auch nach unten, zu ihren Hausrnächten." Am Ende einer langen Geschichte von Bestechung, Mord und Gewalt, von massiven Geschäftsinteressen (Öl und Holz) und hundert Jahre alten Fehden zwischen Familien, schließt van Klinken: "Die Provinz Zentral-Borneo [...] weist viele Züge eines machtlosen Staates auf, in dem schwarzes Geld und ethnische Verschwörungen jeden Anspruch von Autorität aushöhlen konnten, den der Staat und seine Institutionen vielleicht noch hatten. Ohne jegliche staatliche Kontrollmacht konnten die lokalen Eliten ethnische Gewalt mobilisieren, um ihre anti-demokratischen Ziele zu erreichen."
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Poso, ein Städtchen (mit Landkreis) in der paradiesischen Landschaft von Mittel-:Celebes, ist der neuerdings weltweit bekannte Ort kommunaler Gewalt in Indonesien, unter den Fahnen der Religion. Seit dem 19. Jahrhundert gibt es in der Region Poso Kakaoplantagen und ein buntes Gemisch von Dörfern verschiedener Familien und Clans. Die Kolonialverwaltung, die Verwaltung der Republik seit 1949 und vor allem die Transmigrationspolitik brachten nach Poso Ethnien ganz Indonesiens: Bugis-Leute aus dem Süden von Celebes und Menado-Leute vom Nord-Ende der Insel und vor allem Javaner, die sich zum Teil in bestimmten Dörfern oder Wohnvierteln zusammenfanden. Verbunden in Clans und Wohnvierteln, abgesichert in einem KoexistenzNetz in einer ethnisch gemischten Region, betrachtete man das Zusammenleben als friedlich und harmonisch. Posos Motto: sintuwu maroso - Einigkeit macht stark. 12 Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts gibt es Muslime in der Region Poso; seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gehört Poso zu den Erfolgsgeschichten der niederländischen evangelischen Mission; mit ausdrücklicher und stillschweigender Unterstützung durch die Kolonialverwaltung und durch die einfühlsame Anwesenheit evangelischer Missionare (vor allem A.C.Kruyt) werden einige Clans und Dörfer entlang des Flusses Poso evangelisch. 1998 sind im Regierungsbezirk Poso (270.000 Einwohner) 56% Moslem, 41 % evangelisch, mehr als 2% Hindu und ein halbes Prozent katholisch; im Städtchen Poso (41.000 Einwohner) finden sich die 59% Muslime mehr in muslimischen Wohnviertel, die 39% Evangelen mehr in den christlichen,13 Familienbeziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den Dörfern verschiedener Religion verbinden Christen mit Muslimen. Fraglich ist jedoch: Herrscht hier immer die gepriesene Harmonie sintuwu maroso? Bestehen wirklich keine Zwistigkeiten zwischen den reicheren, zugezogenen moslemischen Händlern und den ärmeren, länger ansässigen christlichen Fischern, Bauern, Plantagenarbeitern? Keine Konflikte um die Pöstchen zwischen den Einheimischen und angereisten Beamten? An Weihnachten 1998 entwickelt sich im Städtchen Poso in Mittel-Celebes aus einer Schlägerei zwischen Jugendlichen ein Aufstand von hunderten Muslimen; um das Blut eines der Jugendlichen zu rächen, werden Häuser und Geschäfte der Christen demoliert. Im Gegenzug rückt die Masse der Christen gegen den von Muslimen beherrschten Markt vor, was wiederum die Musli12 Vgl. die unveröffentlichte Magister-These von LUMlRA, Ahmen Mylthis: Islam dan anti kekerasan. Suatu upaya menuju ukhuwah insaniyah, dengan titik tolak kasus konflik Poso. Universitas Duta Wacana, Program Pasca Sarjana Magister Theologiae, Yogyakarta 2001, S.16-28. [weiterhin: LUMlRA: Islam dan anti kekerasan] 13 LUMlRA: Islam dan anti kekerasan, S.32; S.34.
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me der Stadt und der umliegenden Dörfer gegen Ladengeschäfte von Christen mobilisiert. Bevor am 30. Dezember vor dem anwesenden Gouverneur Frieden geschlossen wird, sind Häuser verwüstet und der kommunale Konfliktstoff für die nächste Auseinandersetzung vorbereitet. Sechzehn Monate, hält der Friede. Ergebnis der zweiten Runde Gewalt (wegen der Bestellung eines Christen zum stellvertretenden Gouverneur?): die Polizeistation ist abgebrannt und ebenso ein von Christen bewohntes Viertel. Ende April 2000 wird der Friede besiegelt; Ende Mai setzen sich zwei christliche - Dörfer in Marsch gegen zugewanderte Muslime, für mehr Gerechtigkeit für die Einheimischen. Höhepunkt der dritten Welle ist der christliche Überfall auf ein muslimisches Internat. Als Ende Juli 2000 ein neuer Vergleich gesucht wird, sind mindestens 1000 Menschen ums Leben gekommen - Zehntausende auf der Flucht. Am 22. August 2000 wird in Anwesenheit von Präsident Abdurrahman Wahid erneut Frieden geschlossen. Das Gewaltpotential hat sich in der Zwischenzeit freilich erhöht; auf allen Seiten gibt es automatische Waffen; es gibt keinen Staat, der unter Streitenden vermitt:elt; wachsende Armut verschärft die seit zweihundert Jahren üblichen Fehden. 14 Und seit Juli 2001 haben die Unruhen neue Qualität, da 750 (?) Laskar-Jihad-Kämpfer aus Java anrücken, um die muslimischen Gebiete des Po so-Distrikts von Christen zu säubern und um die christlichen Dörfer dem Erdboden gleichzumachen. 15 Am 20. Dezember 2001 wurde zum fünften Mal eine Verständigung aller Parteien inszeniert: alle Gewaltakte werden eingestellt, jeder indonesische Bürger hat das Recht, in Freiheit in Poso zu leben, alle Flüchtlinge können in ihr Heimatdorf zurückkehren, im gegenseitigen Respekt, in der Achtung vor der Religion des anderen. 16 Das Weihnachtsfest 2001, eine Woche nach dem Ramadhan, wird zum - vorläufigen - Versöhnungsfest. Denn in Poso (1) sorgt ein lokaler Streit für Gewalttätigkeiten, der schwache Staat kann unter Konfliktparteien nicht vermitteln oder wenigstens die Gewalt kontrollieren; (2) die religiöse Motivation erhöht die Konfliktbereitschaft und "globalisiert" den lokalen Konflikt; (3) der Streit wird von mehr oder weniger direkt betroffenen Eliten (mit Hilfe von Privatmilizen) zum (politischen, wirtschaftlichen und vielleicht auch religiösem) Vorteil ausgebeutet.
Nach TEMPO, 23.Dezember 2001, S.27-28. Nach TIME ASIA, 17.Dezember 2001, S.28-32. Ende November 2001 wendet sich eine lokale Friedensinitiative für Poso an die Vereinten Nationen und an den Generalsekretär. Unter anderem " [...] weil die Sicherheitskräfte Indonesiens (Armee und Polizei) unfahig sind, Sicherheit im einem Gebiet zu garantieren, das augenblicklich durch die Laskar-Jihad-Kämpfer kontrolliert wird. Außerdem hat sich die Regierung Indonesiens als unfahig erwiesen, den Konflikt zu lösen, der seit drei Jahren andauert und tausende Opfer gefordert hat." (pressemitteilung, Menado Post, 1. Dezember 2001). 16 Nach KOMPAS, 21.Dezember 2001, S.l; S.l1. 14
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Von Flüchtlingen und Gottesstreitern Die Ereignisse auf den Molukken, in Ambon und Poso haben viel Aufmerksamkeit auf militante Gruppen in Indonesien gerichtet: Laskar Jihad (Gottes Landsknechte), Front Pembela Islam (Truppe zur Verteidigung des Islam), KISDI (Komite-Indonesia-Solidaritas-Dunia-Islam; Indonesisches Komitee weltweiter muslimischer Solidarität) und vielerlei ähnliche Gruppen haben schätzungsweise etwa 10.000 Aktive, die Waffen tragen und dafür nach indonesischem Recht verurteilt werden könnten. Doch keiner tut's. Sie trainieren und mobilisieren ihre Anhänger für den heiligen Krieg: den Krieg gegen den (amerikanischen) Angreifer in Afghanistan und in indonesischen Hotels gegen amerikanische Touristen und Geschäftsleute; Krieg auf den Molukken und in Poso, um die Muslime gegen ungläubige Unterdrückung zu verteidigen; Krieg in den Vergnügungsvierteln auf Java, gegen Alkohol, Prostitution und GlÜcksspiele17 . Die Führer dieser Gruppen sind teilweise Afghanistan-Veteranen aus den achtziger Jahren - zwischen 400 und 800 (?); ehemalige Studenten islamischer Universitäten in Malaysia und Pakistan. So auch Ustaz (Lehrer) Jafar Umar Thalib, der im Streit mit einem seiner Lehrer das AI-Maududi Institute für Islam-Studien in Karachi verlässt und sich den Mujahidin in Afghanistan anschließt. Heute leitet Jafar die Ausbildung der Laskar Jihad in der Nähe von Y ogya; die meisten seiner früheren Mitstreiter in Afghanistan sind - nach seinen Angaben - heute in Ambon und Mittel-Celebes. 18 Der Landtag Muslimischer Führer Indonesiens (Majelis Ulama Indonesia) hat im Oktober 2001 die indonesischen Muslime" [...] aufgerufen zum jihad, zur Verteidigung von Afghanistan, sollte dieses Land von den Vereinigten Staaten angegriffen werden"19. Die großen Muslim-Organisationen Indonesiens und die politischen Parteien haben den Satz vom jihad ausdrücklich als unangebracht kritisiert: "Emotionale Äußerungen lösen keine Probleme; wenn Krieg durch Krieg beantwortet wird, werden die Probleme nur größer. "20 Doch andererseits sehen sich die großen Muslim-Organisationen außer Stande, sich klar von gewalttätigen Gruppen zu distanzieren: "Was die Lehre angeht, ist der Islam eine Einheit; in den politischen Haltungen ist der Islam sehr vielfältig. Wenn auch die Grundausrichtung durch die Muhammadiah und die Nahdlatul Ulama verkörpert wird, sind diese Z.B. im Oktober 2001 in Ngawi, Ost java. Nach Indonesia's Afghan-trained Mujahideen, in: TEMPO (Englische Ausgabe), 8.0ktober 2001, S.19-20. 19 Zitiert nach War ofwords, TEMPO (Englische Ausgabe), 8.0ktober 2001, S.20. 20 Masdar F.Mas'udi, in: TEMPO (Englische Ausgabe), 8.0ktober 2001, S.20. 17 18
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beiden Organisationen doch nicht in der Lage, allen verschiedenen Richtungen Raum zu geben. Unsere Aufmerksamkeit gilt anderen Fragen und Gebieten, wie zum Beispiel der Erziehung. Die radikalen Gruppen fordern, dass wir zusammen einen Islam-Staat aufbauen; da können wir nicht mitmachen." Für den Islam in Indonesien sind solch radikalen Gruppen eher unbedeutend und uninteressant - stehen sie doch "außerhalb der Moschee" (prof.Simuh). "Ich bin überzeugt", sagt Syafli Maarif, der Vorsitzende der Muhammadiah, " [...] diese Gruppen werden von selbst verschwinden, wenn wir unsere politischen und wirtschaftlichen Probleme lösen können. "21 Ein Bericht der Vereinten Nationen vom September 2001 spricht von 1,3 Millionen Internally Displaced Persons - Flüchtlinge, die vor der wütenden Nachbarschaft oder vor den heranrückenden Milizen ihre Häuser und Dörfer geräumt haben: im Norden der Insel Sumatra sind es mehr als 18.000 Einheimische in Aceh, die vor den Kämpfern für ein unabhängiges Aceh ihre Dörfer verlassen haben, und 30.000 Transmigranten aus Java, die das Gebiet von Aceh verlassen haben. Ein halbe Million Muslime und Christen haben auf den Molukken ihre Dörfer verlassen und leben in Lagern, einschließlich der geschätzten 200.000, die sich über das Meer nach Nord-Celebes gerettet haben. Mehr als 150.000 Flüchtlinge befinden sich in Ost-Java, hauptsächlich Maduresen, die in der ersten Hälfte von 2001 Borneo verlassen haben und in ihrer ursprüngliche Heimat kaum willkommen sind. In Poso rechnete man im September 2001 (vor der letzten Welle der Gewalt) mit bis zu 70.000 Flüchtlingen. 22 Eine ähnliche Anzahl Flüchtlinge aus Ost-Timor befindet sich23 seit mehr als zwei Jahren in den Lagern um Kupang und Atambua auf WestTimor. Ihre Rückkehr ist zum Polit-Handel geworden zwischen der UNVerwaltung in Ost-Timor und den Milizen, welche die Lager beherrschen und zum Geldgeschäft von Subventionsprogrammen, an dem sich jeder ein bisschen bereichern kann. "Im den vergangenen anderthalb Jahren hat sich die Zahl interner Flüchtlinge in Indonesien verdoppelt. [...] Es gibt keine einfache Beschreibung der Lage. Die Gründe für die Konflikte sind von Gegend zu Gegend verschieden. Man kann dieses Land mit der Ausdehnung eines Kontinents nicht einfach als Entwicklungsland charakterisieren, noch als Land in einer humanitären Notlage. Beides trifft zu, und gerade deshalb sieht die internationale Gemeinschaft auch keine Lösung. ,,24 Interview mit Syafti Maarif, in: TEMPO, 11. November 2001, S.56. Nach einem vom Jesuit Refugee Service verbreiteten UN-Bericht, 17. September 2001. 23 Nach Angaben des Jesuit Refugee Service. 24 UN-Bericht, 17.September 2001. 21
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Gottes Landsknechte in unserer Stadt zeigen, wie Gunge) Menschen ihr Leben für das Vernichten hergeben. Die Flüchtlinge auf allen Inseln sind das Symbol für eine multikulturelle Gesellschaft auf Wanderschaft, im sozialem Umbruch, ohne Orientierung. Manchmal sind die Flüchtlingslager Ort von Versöhnung, öfters Ort neuer Gewalt und unbeschreiblichen Leids. 25
Gewalt hat System Ende November 2001 haben die Kirchen in den Molukken zu drei Tagen des Schweigens, Erinnerns und Besinnens aufgerufen" [...] damit wir wieder zu uns kommen und eine Lösung fmden für unsere Konflikte". Die Initiative der K.irchen wurde allerdings von Nazir, dem Leiter einer lokalen MuslimGemeinschaft mit der Bemerkung quittiert: " [...] ein Polit-Trick mit Hintergedanken! Warum nicht schon früher?"26 Denn trotz muslimischer Toleranz und trotz christlicher Spiritualität der Mitmenschlichkeit: Auf den Molukken (auch in Poso) markiert die Religion eine tiefe Spaltung in einer Gesellschaft, in der man die Alltags-Konflikte nicht im Alltags-Dialog lösen kann. Da gibt es Brunnen für die Christen mit christlichen Namen und solche für die Muslime mit muslimischen. Die Fernsehspots vom christlichen Obet und seinem muslimischen Freund Acang, inszeniert als Brücke über den garstigen Graben zwischen den Parteien, mussten abgesetzt werden, weil die beiden Jungen zum Symbol der Feindschaft geworden sind. In der Stadt Ambon wurden die al-Fatah Mosche ebenso wie die Maranatha Kirche zum Brennpunkt der jeweiligen Angriffe. Denn ein auffälliger Kirchturm oder eine weithin sichtbare Moschee ist das christliche oder muslimische Wahrzeichen eines Dorfes, Zeichen für ein Gemenge von Religion und Politik. Seit eh und je kamen die Missionare mit den Kolonialschiffen, die katholischen mit den portugiesischen und die protestantischen mit den niederländischen. "Die christlichen Missionare haben - nicht immer notgedrungen mitgespielt, die Herzen der Ambonesen für die winzigen, weit entfernten Niederlande zu gewinnen, indem man die Herzen für Gott gewann. "27 In der kolonial-niederländischen Armee galten die Soldaten aus den Molukken als "loyal and zuverlässig"; vor dem zweiten Weltkrieg waren die einheimischen Beamten ausschließlich Christen. In der Zeit der Republik verschiebt sich das Verhältnis; Muslime sind in der Zwischenzeit eine wachsende Mehrzah128 und verständlicherweise gelten in der Jakarta-Republik nicht die Minorität der Z.B.: Lest we should forget, in: TEMPO (Englische Ausgabe), 25.Dezember 2000, S.18-19. Vgl. Agama bagi masyarakat yang sakit, in: Forum Keadilan, 30. Dezember 2001, S.118. 27 KLINKEN, The Maluku Wars, S.13. 28 1971: 49.9%; 1985: 54,8%; 1990: 56,8%. 25
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Christen, sondern die wachsende Mehrheit der Muslime als die verlässlicheren Kantonisten. Religion - egal welche - garantiert politische Zuverlässigkeit. In den N ordmolukken - wie in vielen anderen Gesellschaften - muss die Kirche und die Moschee im Dorf bleiben - sozusagen als Mitte. Die Dorfgemeinschaft - desa - und das Wohnviertel in der Stadt - kampong - sind der entscheidende, soziale und mythische Bezugspunkt: Zugehörigkeit begründet Solidarität, garantiert (Rechts-) Sicherheit und trennt den akzeptierten "insider" vom beargwöhnten "outsider". Vor allem in den Molukken hat die Kolonialverwaltung diese Ortsgemeinschaft mit dem Namen "negeri" (Reich) gleichsam zur nationalen Größe hochgespielt und die Autorität des Dorfhäuptlings mit dem Titel "raja" potenziert. 30 Jahre später hat die zentrale Zivilverwaltung der Suharto-Zeit den Bürgermeister zum Dorf-Kaiser gemacht. Zwischen einzelnen Ortsgemeinschaften bestanden (und bestehen) so etwas wie ungeschriebene Beistandsabkommen (pela gandong) und (entsprechende) Erbfeindschaften, die sich bis in die zerteilte Stadt Ambon hinein verfolgen lassen. 200 Jahre lang waren die Beistandsabkommen der Trick kolonialer Politik, welche die Interessen der raja's gegeneinander mobilisierte, zum Nutzen der Kolonialmacht; während 30 Jahren Suharto waren die gegenseitigen Spannungen das System, in dem - nach Verdienst und Belohnung - Posten verteilt und Loyalität garantiert wurden. 29 Im Rahmen des Systems verfechten die führenden Familien ihre Interessen. Divide et impera! Cooptation and Enmitization! Die Molukken-Unruhen sind so etwas wie ein Stellvertreterkrieg. Bis heute sind Ortsgemeinschaften durch hierarchische Strukturen charakterisiert30, wo die Zugehörigkeit zu einer der Aristokratenfamilien die Grundvoraussetzung für eine - demokratisch verschleierte - Leitungsfunktion ist, und wo feudale Abhängigkeiten die "Gemeinen" und die "Leibeigenen" dazu verpflichten, für den raja und seine Interessen in den Krieg zu ziehen - wenn es sein muss z.B. in die Stadt Ambon. Denn dort kommt seit Jahrhunderten das Geld an, aus den Niederlanden und dann von Jakarta, und dort werden auch die Pöstchen verteilt. So kann eine "blühende Stadt Ambon" (wo seit Jahrhunderten Geld und Posten umverteilt werden) zum Kriegsschauplatz werden, wo die in ihren Dörfern verankerten Familien ihren Konflikt um die Posten (z.B. des Gouverneurs) und um den Gewinn aus den Projekten austragen.
29 Zum Entstehen des "Systems", und wie Christianisierung ein Teil des Systems war siehe auch: CHAUVEL, R.: Nationalists, soldiers and separatists. The Ambonese islands from colonialism to revolt. 1880-1950, Leiden 1990, S.4-23. 30 G. v.Klinken unterscheidet für die Südmolukken mel-mel oder orang kaya (Aristokraten), renren (commeners, Bürger), iri-iri (Leibeigene).
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Die Verlierer auf jedem Kriegsschauplatz sind die Söldner - auf den Molukken in mehrfacher Hinsicht. Vor Beginn der Unruhen 1999 war die Provinz der Südmolukken bekannt für den überdurchschnittlich hohen Anteil der Jugend der Bevölkerung, und bekannt auch für den überdurchschnittlich hohen Anteil an Jugendarbeitslosigkeit. Wenn überhaupt, dann bekamen junge Muslime Arbeit als Händler und Arbeiter in der Nachbarschaft der Märkte, während die christliche Jugend eher die - statistische - Chance hatte, einen Posten als Lehrer oder Verwaltungsbeamter zu bekommen. Der durch die Asienkrise nochmals gesteigerte Frust junger Leute wird zu kriegerischer Wut umfunktioniert; in einem Krieg, in dem es freilich nicht um Arbeitsplätze für Jugendliche geht, sondern um die Politik einer Familie, die den Gouverneur stellen möchte. Feudale Abhängigkeiten sind zur ausbeuterischen Ungerechtigkeit geworden. Wütende junge Leute sind die Landsknechte in einem Krieg, der nicht ihrer ist, gefangen in einem Konflikt, aus dem sie anscheinend kein Weg hinausführt. Oder ist ihre gewalttätige Wut ihr erster Versuch, aus der Gefangenschaft auszubrechen? Die Stammesgesellschaft auf den Molukken ist ein krasses Beispiel feudaler Abhängigkeiten, die Menschen in einen Käfig von Dorf, Feudal-Hierarchie und Religion einschließen. In den eher städtischen Kulturen Javas sind solch feudale Abhängigkeiten weniger augenfallig, jedoch täglich bitter erfahren von allen, die an der Unterseite der Gesellschaft leben: von den jungen Lehrkräften an der Universität bis zu den arbeitslosen Jugendlichen in den Wohnvierteln. 31 Ungerechtigkeit ist die Wurzel der Gewalt (Sobrino) - auch in Indonesien; die Ungerechtigkeit feudaler Abhängigkeit zum Zwecke der Elite.
Gewalt hat ein menschliches Gesicht Gewalt ist mehr als Schlägerei, Aufruhr oder Totschlag; Gewalt ist mehr als Terror, der nur kaputt schlägt, mehr als brutale Unterdrückung. Gewalt zeigt uns ihr Gesicht erst, wenn wir feststellen müssen, wie gewalttätig unsere guten Nachbarn sind (welche die Indonesier sogar ihre saudara - Geschwister nennen), wie gewaltsam wir selbst mit anderen umgehen zu müssen meinen, um des Friedens willen. Gewalt hat ein menschliches Gesicht, das es zu sehen gilt, wollen wir verstehen, was Gewalt heißt. 31 Vgl. zum Beispiel: SULLIVAN, J. - SULLIVAN, N.: Playing by local roles: A communal view of ethic-religious conflict, in: Interface 4 (2001) S.83. Bedingungen für eine friedliche Gesellschaft ist " [...] die Entwicklung einer Zivil-Gesellschaft und eines Gemeinwesens, in dem Bürger realen Anteil haben.".
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In einer "ersten Reaktion" wollte Ben Anderson Indonesiern die Augen öffnen für die Unmenschlichkeiten im Mai 1998 (vor alletn) gegen Chinesen, Frauen, Christen: Wollt ihr Indonesier mit den abscheulichen Quälereien eure Mitbürger nur allemal ins Meer jagen? Oder müssen wir aus eurem gewalttätigen Lärm den Schrei nach Solidarität hören: Warum bist du so anders? Sei so wie wir! Geschäfte werden geplündert, und mancher Fernseher oder Kühlschrank ist nach den Unruhen ganz friedlich ins ausgeplünderte Geschäft zurückgekehrt - gegen ein Trinkgeld, selbstverständlich! Gewalt sucht nicht Reichtum, sondern will, dass alles seine Ordnung hat. Wenn das Zusammenleben ins Rutschen kommt (zum Beispiel am Ende von 30 Jahren Suharto, beim Wechsel von Präsident Habibie zu Abdurrahman Wahid), wenn dabei Konflikte zum Vorschein kommen, dann wird mobilisiert gegen den anderen: gegen das feindliche Nachbardorf (mit Vertreibung wie in Ambon) oder (mit einer Razzia) gegen den moralischen Verfall derer, die Schnaps und Bier trinken. Bis alles wieder seine Ordnung hat. Die militante Gesellschaft macht mobil gegen den Andersdenkenden, gegen seinen Mut, anders zu sein. So leben indonesische Muslime in diesem - entmutigenden - Belagerungszustand, in Angst und Entschlossenheit, sich nicht heimlich christianisieren zu lassen. Ebenso die indonesischen Christen, die immer öfters sagen, dass sie nur eine Minderheit sind und sich nicht durchsetzen können. Beide, Muslime und Christen, versuchen zu rechtfertigen, dass sie dem Anderen ihren Willen aufzwingen müssen, damit wir allemal überleben können. Zum Beispiel: Jeder möge bitte einsehen, dass die muslimische Rechtsordnung für eine Moral der Mitmenschlichkeit und für eine gerechte Gesellschaft ins Grundgesetz muss! Oder umgekehrt: Jeder möge einsehen, dass wir Christen den besondern Schutz durch die öffentliche Gewalt brauchen, weil die anderen immer die Stärkeren sind. Um der Menschenrechte willen legen sich die Studenten auf die Straße und blockieren den Verkehr. Jeder rechtfertigt seine Gewaltsamkeit mit seiner eigenen Logik. Das "Ermunternde" an gewalttätigen Vorgängen ist" [...] dass es einen Adressaten gibt und einen Adressanten, die verpflichtend verpflichtet aufeinander verwiesen sind."32; entmutigend ist es, sich zu rechtfertigen vor jemandem, der nicht hören kann; erschütternd ist es, wenn wir für Gewaltsamkeit Rechenschaft ablegen müssen vor den Opfern. Können wir einen Kniefall machen - wie Pater Sandyawan? Wie oft wird gefragt: Wie kann es passieren, dass friedliche Indonesier, Generationen lang Nachbarn, sich plötzlich gegenseitig die Häuser anzünden? 32 HIRSCH, A.: Notwendige und unvermeidliche Gewalt? Zur Rechtfertigung von Gewalt im philosophischen Denken der Moderne, in: DABAG, M. (Hg): Gewalt: Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S.67f. [weiterhin: HIRSCH: Notwendige und unvermeidliche Gewalt?].
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Antwort: Konflikte gibt es nur unter Nachbarn und Geschwistern: dort, wo wir mit Hab und Gut, Leib und Leben aushalten müssen neben dem, der ebenso mit Haus und Arbeit auf Gedeih und Verderb auf uns als hautnahen Nachbarn angewiesen ist. Weil wir leibhaftig Nachbarn sind, brauchen wir einander, zur Freiheit und zum Überleben; weil wir so hautnah beieinander wohnen, können wir uns verletzen und auch verständigen; weil wir einmal Geschwister geworden sind, sei es durch Heirat oder weil wir noch Schulden beieinander haben, haben wir auch Verantwortung. Hunger und Arbeit zwingen uns, uns zusammenzuraufen, ohne Aufschub, und zwar leibhaftig mit unseren richtigen Nachbarn, in unserer so genannten Öffentlichkeit. 33 Und jeder denkt natürlich erst einmal: Am besten ist doch jeder - ganz von sich aus - so wie wir! Womit - wie jeder nachfühlen kann - in unserer Nachbarschaft die Konflikte immer schon vorgegeben sind, und die Gewalt bereits eingefädelt ist. Gleichheit aller gibt es ja nur, wo in derselben Nachbarschaft Dayaks Dayak bleiben und Maduresen Maduresen, in hautnaher Nachbarschaft und nicht in kühler Distanz oder durch Mauern und Stacheldraht getrennt. In der Nachbarschaft von Dayaks und Maduresen gibt es allerdings keinen Habermas'schen gewaltfreien Raum, ohne Zwang und ohne Grenzen; jeder hat schon das Recht auf seiner Seite, das er durchzusetzen angetreten ist. Im Raum der Nachbarschaft gilt nicht die Ethik der Gewaltfreiheit, sondern der Rhythmus der Aggression. Mit der Gewalt, die meint, dem anderen den eigenen Willen vernünftigerweise aufzwingen zu sollen, lotet jeder aus, was ihn mit Nachbarn verbindet. Gewalt hat ein sehr menschliches Gesicht. Gewalt bringt uns bei, dass wir Nachbarn sind. Gewalt ist der Schrei nach Solidarität.
Gewalt kommt von Herzen Im Mai 1998 erreichen die Unruhen aus Jakarta auch Solo, eine Geschäftstadt in Mitteljava; Warenhäuser, Autosalons, Banken in den drei Hauptstraßen brennen; auch in Kandang Sapi, einem Kampong am Stadtrand, will die aufgebrachte Masse gegen die Chinesen vorgehen. Frau Ersien besorgt dort einen kleinen Laden, in dem seit drei Generationen die ganze Nachbarschaft den täglichen Bedarf findet, oft genug auf Pump oder gar gratis. Hinter dem kleinen Laden befindet sich der enge Familienhaushalt, wo Frau Ersien ihre beiden schulpflichtigen Kinder großzieht und den halbseitig gelähmten Mann pflegt. Jeder hat Respekt vor Frau Ersien, auch als es brenzlig wird. Mit ihren Kindern überquert sie die Straße und drückt den Schlüssel zum Laden dem Nachbarn in die Hand. "Holt euch alles aus dem Laden, was ihr braucht zum J)
Vgl. HIRSCH: Notwendige und unvermeidliche Gewalt?, S.75-78.
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Leben und was ihr brauchen könnt in euren Häusern - und macht nichts kaputt - es gehört ja euch und uns." Während Frau Ersien ihren Mann über den Zaun ins Nachbarhaus rettet, wird im Laden alles kurz und klein geschlagen. Es waren die Nachbarn - und alle haben's gesehen! Keiner ist umgekommen in Kandang Sapi, verletzt wird niemand. Wie aber soll man begreifen, dass ein sonst so hilfsbereiter Nachbar zusammen mit einer Handvoll Anderer alles demolieren kann, was ihnen allen das Leben bedeutet. Braucht er nicht selbst schon übermorgen den Reis und die Seife, die er gerade in die Gosse geworfen hat? In einer Welle von Wut kann vieles passieren, was wir anschließend bereuen! Doch das erklärt nicht die tiefe Ratlosigkeit von Frau Ersien: Hat sie nicht den Schlüssel ihrem guten Nachbarn in die Hand gedrückt, zu dessen Nutzen, nicht zum Schaden? Dass unter den Gesetzen der Krieges erlaubt und geboten ist, was in Friedenszeiten verpönt und verboten ist, klärt nicht das Gewissen des Nachbarn. Seit dem Priester und dem Leviten, die an dem halb tot Geschlagenen auf dem Weg nach Jerusalem vorbeigehen, von den ganz gewöhnlichen Soldaten in Russland oder Vietnam und den bewaffneten Christen, die in Poso ein Muslim-Internat überfallen, bis hin zum guten Nachbarn in Solo, erhebt sich immer die gleiche Frage: wo unglaublicher Schmerz wehrloser Mitmenschen eigentlich Mitleid weckt, wenn Grausamkeit das eigene Gewissen plagt und blockiert - wie kommt es dann doch zu einer solchen Perversion im Herzen, die verhindert, dass sich unsere Gefühle und Gewissensbisse in Verantwortlichkeit verwandeln? Wir sehen und kennen unsere wehrlosen Nachbarn; was reizt uns denn, gerade sie anzugreifen und dies gerade deshalb, weil sie wehrlos sind? Gibt es da - in unserem Herzen und unserer Verantwortung so etwas wie eine "Grauzone des Zwiespalts"? Unsere Freiheit ist zwiespältig: wir sehen unseren wehrlosen Nachbarn und erkennen ihn, um ihn gleichzeitig zu ignorieren34, wie ein Blinder ein Hindernis erkennt und ihm ausweicht. Unsere Freiheit ist zwiespältig: wir begegnen unserem Nachbarn, und bevor wir ihn kennen, haben wir ihm sein Gesicht genommen und eine Maske verpasst: Muslim oder Christ, Demonstrant oder Türke. In Solo hat keine Autorität den guten Nachbarn unter Druck gesetzt; keine Raub- und Tötungslizenz hat das Tötungsverbot überlagert. Er hat ohne Not sich und dem wehrlosen Nachbarn sein Leben kaputtgemacht. In der Gewalt gegen den wehrlosen Anderen kommt unsere Freiheit zum Vorschein, die nicht so unschuldig ist, wie die katholische Moraltheologie uns immer einredet.
)4 KApUST, A.: Zivilisierte Grausamkeit: Feindschaft und Vernichtung, in: DABAG, M.(Hg.): Gewalt: Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S.212.
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Religion als Friedensstifter? Auch unkontrollierte Gewalt hat System - sie entspringt aus einem System ausbeuterischer Abhängigkeiten; und Frieden fangt damit an, dass man sich gegen Unterdrückung wehrt; wenn nötig mit harten Mitteln! Gewalt ist mitmenschlich; in der wütenden Menge muss ich irgendwie meinen Nachbarn entdecken, .seinen Schrei nach Solidarität hören. Dann können wir uns vielleicht auch zusammenraufen. Vorausgesetzt, wir reden offen miteinander, von Herzen. Nicht immer waren Missionare in Indonesien Friedensstifter; oft . rechtfertigen Gemeinden ein System von Abhängigkeiten, vor allem wenn ein bescheidener Wohlstand, Ruhe und Ordnung die Zahl der Taufen in die Höhe treiben. War unsere Religion der Friedenstörer? Wir bestreiten, dass Glaubensüberzeugung und Missionseifer an der Wurzel der alltäglichen und der brutalen Gewalt zu finden sind. Doch die Alltags-Zwistigkeiten werden oft unter der Flagge der Religion ausgetragen; und mit dem religiösen Hilfeschrei bekommen die lokalen Konflikte weltweite Bedeutung. Mit Religion hat man Geschäfte gemacht, seitdem die portugiesischen Kolonisatoren sich des päpstlichen Segens versichert haben - und die niederländischen sich antipapalistisch gaben. Kann Religion zum Friedensstifter werden? Für die christlichen Kirchen in Indonesien stellen sich drei Fragen: Erstens: Kann Religion mobil machen gegen die Geschichte, die abhängige Bauem, Arbeiter, Soldaten, jugenciJiche in den Krieg schickt für die Interessen lokaler Eliten? Ja - wenn wir das Evangelium zur Politik der Befreiung werden lassen. [J
Die Kirche in Indonesien hat politische Tradition, seit P.Frans van Lith Anfang des 20. Jahrhunderts als Missionar in Mitteljava wirkte. Er wollte Javaner mit den Javanern sein, im äußeren Lebensstil und in der Religiosität. Seine ersten Versuche von Katechese mit Insertion waren ein Fiasko; deshalb setzte van Lith auf die Option mit der unterdrückten javanischen Elite; er sammelte bildungshungrige Javaner mit sozial-politischem Engagement in einer Schule (mit Internat) zur Lehrerausbildung (eine für Jungen und im gehörigen Abstand eine für Mädchen). Javaner sollten - gut ausgebildet und infiziert mit christlichem Geist - die soziale und politische Erneuerung selbst vorantreiben. Van Liths politische Analyse deckt sich im wesentlichen mit den Überzeugungen der zeitgenössischen "ethischen Erneuerer" wie Snouck Hourgronje, van Deventer, Idenburg oder van Limburg-Stirum: gegenüber den bisher ausgebeuteten Javanern haben die europäischen Kolonisatoren die Verpflichtung zur sozial-politischen Entwicklung. Van Lith teilte die Welt, nicht in Christen und Nicht-Christen ein, eher in Unterdrücker und Unter-
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drückte, " [...] was ungefähr mit der Rassenunterschied zusammenfällt und mit dem sozialen und wirtschaftlichen Antipoden, Arbeitgeber und Arbeitnehmer. [...] Wir haben allergrößtes Interesse, dass die Katholiken nicht für eine Regierungsordnung verantwortlich gemacht werden, welche die einheimische Bevölkerung unterdrückt und erniedrigt." Van Lith hatte persönliche Bekannte in der javanischen Aristokratie und Bildungs-Elite (z.B. K.H.Dewantara [Suwardi Suryaningrat] und Pangeran Sasraningrat); van Lith hatte Kontakte mit den Führern der Serikat Islam (z.B. Haji Agus Salim) und an Kardinal van Rossum, den Präfekten der Propaganda fide, schrieb van Lith (1926), dass wir " [...] muslimischen Angriffen auf das Christentum nur effektiv entgegnen, wenn die Kirche ausdrücklich Stellung bezieht an der Seite der einheimischen Bevölkerung und ihre Sympathie bezeugt für deren Interessen" . Van Lith setzte auf die trans formative Kraft von Bildung und auf die politische Rolle von Lehrern. Van Liths Schüler Kasimo wurde - zusammen mit Soegijapranata, dem ersten einheimischen Bischof - zur nationalen Figur in der politischen Unabhängigkeitsbewegung und zum kritischen Partner von Indonesiens erstem Präsidenten Soekarno. Im kolonialen Katholizismus blieb van Lith ein Außenseiter, als Sozialist beargwöhnt; in der Gesellschaft Jesu geachtet für seine Leistung im Aufbau des Kollegs in Muntilan, von seinen javanischen Schülern (und Mit-Jesuiten Satiman und Soegijapranata) als "unser Befreier" verehrt. Die vielfältigen Konflikte um und mit van Lith wurden und werden bis heute eher verschwiegen. M.P.M.MUSKENS35 stellt van Lith als Garant dafür dar, dass der Katholizismus von Anfang an eng mit dem Aufbau einer unabhängigen Nation verknüpft war, im Kampf gegen einen Kolonialismus, den es seit 1950 ja Gott sei Dank nicht mehr gibt. Seit van Liths Zeiten betrachtet die katholische Kirche die Bildung (heute vor allem die value-education!!) als ihren entscheidenden Beitrag zum Aufbau einer unabhängigen Nation; fraglich bleibt, ob dieser Beitrag immer demokratisch war. 36 Doch der Beitrag des Katholizismus zum sozialen und politischen Leben ist nicht auf Bildung beschränkt. In der Atmosphäre von Stabilität und Ordnung der 30 Jahre Suharto bietet der Katholizismus seine guten Dienste zur Überwindung der Armut und zum Aufbau eines friedlich-sicheren Zusammenlebens an; im Gegenzug erfreuen sich die Christen - ebenso wie die Muslime - der Aufmerksamkeit des Staates, der die Religion in seinem eigenen Interesse fördert. Vor allem die katholische Kirche verzeichnet einen MUSKENS, M.P.M.: Indonesie: Een strijd om nationale identiteit - nationalisten, islamieten, katholieken, 0.01969. 36 Engagierte Christen wie der katholische Priester, Architekt und Essayist JB.Mangunwijaya haben diesen Beitrag eher kritisch bewertet. 35
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Zuwachs an Mitgliedern. Kirchliche Sozialarbeit versteht sich als Mitarbeiter in den Fünf-Jahre-Autbau-Plänen; die katholische Gemeinschaft als Gemeinde im Pancasilastaat (1985); Gott sei Dank: Die christlichen Werte finden sich im Wortlaut der Pancasila wieder und in der Pancasila-Ordnung (Orde Baru) wird Religionsfreiheit garantiert. Präsident Suharto kommt zu den christlichen Weihnachtsfeiern, die versammelte Bischofskonferenz zum Besuch in das Präsidenten-Palais; die kritischen Anfragen nach mehr Demokratie in den ersten Jahren der Suharto-Zeit verstummen bald, prophetische Aufrufe kommen nur noch von einzelnen charismatischen Persönlichkeiten. Übrigens: Auch der indonesische Islam gewinnt in den achtziger Jahren an politischem Gewicht: aus den Traditions-Muslimen werden praktizierende; überall tauchen die Schleier auf, überall bilden sich sozial-politischphilosophische Diskussionsgruppen. Die Welle von muslimisch religiöser und sozial-politischer Literatur erreicht die Buchgeschäfte. Nurcholish Madjid und Abdurrahman Wahid werden Repräsentanten eines neuen, bürgerlichen Islam, der den Islam von der Staatsordnung trennt, gleichzeitig aber auch muslimisches Engagement in Staat und Gesellschaft einfordert. Als letztes offiziell-katholisches Dokument aus dieser Zeit einer stabilen politischen Ordnung formuliert eine Programmschrift für die Katholische Kirche Indonesiens (1995) die Grundrichtung des Gemeindelebens: " [...] die Koinonia feiern im Gottesdienst und zusammen mit den Gläubigen anderer Religionen den Heilsauftrag in unseren Diensten zum Ausdruck bringen". 18 Monate später (die Anzeichen der politischen Krise sind sichtbar) ermutigt der Wahl-Hirtenbrief die Christen und alle anderen Mitbürger, von der Freiheit der Wahl kritisch Gebrauch zu machen: Sollten sie der Ansicht sein, dass keine der Parteien die Interessen des Landes vertritt, sollen sie das deutlich kennzeichnen. Der Wahl-Hirtenbrief wird als öffentliche Kritik an der Regierung Suhartos empfunden. Seitdem haben die Bischöfe wiederholt zur Versöhnung und zur Friedensarbeit aufgerufen, ebenso wie der letzte Indonesische "Katholikentag" im November 2000. In Ambon, auf Borneo und im Norden Sumatras haben Katholiken Hilfszentren eingerichtet, welche Informationen nach draußen und Hilfe an die betroffene Bevölkerung weiterleiten. Die Vollversammlung der Indonesischen Bischofskonferenz im November 2001 hat in einem umfangreichen Dokument dazu aufgerufen" [...] die Würde des Menschen und der Schöpfung wieder herzustellen". Denn das Leben wird bedroht: im Bürgerkrieg und in Gewalttätigkeiten von N ord-Sumatra bis Timor; in der Missachtung der Menschenrechte; in Korruption, im Zusammenbruch der Moral, in der unkontrollierten Zerstörung der Umwelt. Das Dokument spricht klar die Betroffenheit vieler Menschen aus, und es ermuntert dazu" [...] einen neuen Anfang geschwisterlicher Offenheit zu wagen. In
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dieser gegenseitigen Offenheit bezeugen wir einander Anerkennung und bieten wir einander unsere Besorgtheit an, in tiefer Ehrlichkeit". Positive Ansätze zu solcher Offenheit zwischen Menschen verschiedener Religion und verschiedener Ethnien sind überall sichtbar. Der Aufbau einer menschenfreundlichen Gesellschaftsordnung wird als klare christliche Pflicht dargestellt; die Leiden der Opfer dürfen nicht vergessen werden. Doch ein solcher Appell wäre wahrscheinlich wirksamer, wenn er auf einer politischen Analyse aufbauen könnte, welche Abhängigkeiten benennt und einen politischen Auftrag der Befreiung formuliert. In 100 Jahren haben indonesische Katholiken sich politisch engagiert, allerdings nicht immer "trans formativ". Hatte die katholische Kirche, hatten wir Christen die Grundfrage nach demokratischer Kultur im Blick? Wie werden Bürger fahig zu eigenständiger, demokratischer, solidarischer Verantwortlichkeit - entgegen aller feudaler Gängelung zu den politischen Zwecken weniger? Van Lith wollte javanische Christen zu freien Bürgern werden lassen - gegen den westlichen Kolonialismus; seit 1945, im Rahmen einer indonesischen Nation, wurde das Programm der Befreiung nicht politisch fortgeschrieben. 100 Jahre nach van Lith geht es wieder um Bildung zur Freiheit gegenüber den ausbeuterischen Abhängigkeiten. Zweitens: Kann Religion im Theater unserer gewaltsamen Umwelt das Gegenstück in Szene setzen: das Drama menschlicher Erlösung? Ja - wenn unsere Gemeinden die Aggressivität unserer Gesellschaft nicht friedliebend verschleiern, sondern den Konflikten Raum geben; wenn Gemeinden verschiedener Religionen zusammenarbeiten für soiJale Gerechtigkeit, und wenn sie Vertrauen anbieten. Im Glauben den erläsenden Gott. [J
Indonesische Katholiken waren aktive Partner in der indonesischen Gesellschaft bei den kleinen Verwicklungen und großen Kämpfen, seitdem 1936 Soegijapranta, ein Schüler von van Lith und einer der ersten indonesischen Priester, seine erste Pfarrgemeinde in ihren jeweiligen Wohnvierteln versammelt hat, im Haus eines engagierten Christen. Damit sollte - vor Ort - die Freude und Not der Nachbarschaft in die Kirche eingebracht werden. Bis heute bewegt sich die tägliche Pfarrpastoral in den Bahnen solcher "Basisgemeinden". Und die Freude und Not der Nachbarschaft kam in die Kirche: von den Qandwirtschaftlichen) Kooperativen und Arbeiter-Organisationen der fünfziger Jahre bis zur heutigen Flüchtlingshilfe in Timor. Die Christen waren für die Opfer der Gewalt da, für die niedergemachten Kommunisten 1948, für die politischen Gefangenen seit 1966 und ebenso 1997 für die vom Militär gejagten demonstrierenden Studenten. Nothilfe wird heute ökume-
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nisch geplant und organisiert - in Zusammenarbeit mit Nicht-RegierungsOrganisationen; Frauensolidarität ebenso wie Friedensdemonstrationen werden von Muslimen und Hindus, evangelischen Christen und Katholiken gemeinsam getragen. Gegen Gewaltsamkeiten in der Gesellschaft gibt es eine gemeinsame Front: in den Nächten des muslimischen Fastenmonats waren christliche Beobachter unterwegs, um - falls nötig - Streit zu schlichten, und in der Weihnachtsnacht haben die paramilitärischen Organisationen der Muslime vor den Kirchen Wache geschoben. Dass dennoch die Bomben in den Kirchen explodieren, gehört anscheinend zum Alltag unserer Gemeinden, wo Raum sein muss für Konflikte. Immer schon waren die javanischen Basisgemeinden Nachbarschaftsgemeinden. Bevor man sich zum Gebet versammelte unter dem Schutz des Heiligen Petrus oder der Heiligen Katharina, haben Arbeit und die täglichen Sorgen, Todesfälle und Hochzeiten, Ramadhan und Weihnachten ein Netz selbstverständlicher Zusammengehörigkeit von Helfen und Feiern geknüpft. Heirat und Freundschaft, Kollegialität am Arbeitsplatz und das unausweichliche Zusammenleben sind primordiale Bindungen; von ihnen bekommen die kirchlichen Basisgemeinden ihre Vitalität; sie verbinden und verwickeln die Christen in eine Gemeinschaft, die - in einer pluralistischen Umwelt wie auf Java und besonders in den Städten - weiter ist als die jeweilige Religion. Um des sozialen Überlebens willen wird jeder in ein Netzwerk mit vielerlei Verpflichtungen eingebunden. Partizipation ist eigentlich kein Problem. Dagegen mahnen der Indonesische Katholikentag im Jubiläumsjahr 2000 ebenso wie zuletzt die Indonesische Bischofskonferenz an, dass Basisgemeinden nicht nur verbindend und verbindlich, sondern vor allem auch "trans formativ" sein müssen. "Basisgemeinschaften sind trans formativ dank eines kritischen Bewusstseins, das ihnen Selbstbewusstsein gibt und Vertrauen in die eigene Kraft, so dass sie dem gesellschaftlichen Druck widerstehen können. Unsere Gemeinschaften sind trans formativ, wenn wir durch unsere Gemeinschaft dazu gelangen, uns selbst zu ändern wie auch die Lebensverhältnisse: von weniger zu mehr Sicherheit und Frieden, von weniger zu mehr Zugang zu den Lebensressourcen, von weniger zu mehr kritischem Bewusstsein, von sozialer Schwäche wegen unserer Zerstrittenheit zu mehr sozialer Kraft dank Einigkeit, von weniger zu mehr Konsistenz, damit unser Zusammenleben nicht zum Spielball fremder Interessen wird. ,,37 Nicht "Sicherheit und Frieden", sondern "Uneinigkeit" und "sozialer Druck" sind der Normalzustand unserer Gesellschaft; die erbsündliche Grundverfas37 Aus der Denkschrift der Indonesischen Bischofskonferenz "Unser Beitrag zur Erneuerung der Würde des Menschen und der Schöpfung",Jakarta 15. November 2001.
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sung unseres Zusammenlebens sind die Konflikte, auch und gerade unter religiösen Menschen verschiedener Konfessionen und Religionen. Die Arena unseres pluralistischen Zusammenlebens ist aggressiv, noch bevor wir miteinander ins Benehmen kommen, auch in den Basisgemeinden. Diese aber werden trans formativ, wenn sie Raum haben für Aggressivität. Können sich Basis-"Gemeinschaften" zusammenfinden, ehrlich und ohne über den anderen herzuziehen, wo eine Menge Leute meinen, dass man dem anderen nicht trauen könnte? Haben Christen (zusammen mit den nicht-christlichen Nachbarn) den langen Atem zur Zusammenarbeit, wenn man zum Beispiel den katholischen Schulen einen muslimischen Religionslehrer ins Haus zwingt, oder wenn im Kampong keine Kapelle gebaut werden darf, oder wenn christliche Mädchen zur muslimischen Heirat gezwungen werden? Es gibt keinen Grund, die Konflikte zu verschweigen - aber auch noch weniger Grund, die Suche nach einer Lösung aufzugeben, bei der alle zum Zuge kommen. Streitende Parteien, die nach einer Lösung suchen, schaffen Zusammengehörigkeit, und solche streitbaren Gemeinsamkeiten sind transformativ, wenn damit glaubende Menschen Rechenschaft ablegen für ihre Hoffnung: Es ist Hoffnung, wenn Menschen in ihre abgebrannten Dörfer zurückkehren, gleichsam in der zerstörten Welt dennoch auf den lebendigen Gott zugehen, der das Leben will und nicht den Tod. Ist es Hoffnung im Gedächtnis an Christus, der gekommen ist, damit Menschen das Leben in Fülle haben, wenn ein katholisches Mädchen in eine Moslem-Familie hineinheiratet, damit ihr Kind einen Vater hat und eine Familie, in der es aufwächst? In der Arena der Aggressivität werden Basisgemeinschaften lebendig, wenn sie das Drama von Gottes Erlösung spielen; dabei können sie übrigens überraschenderweise damit rechnen, dass die muslimischen Nachbarn in diesem Drama ihren Part mitspielen. Denn immer häufiger sprechen muslimische Theologen von der gnädigen Güte Gottes, vom Optimismus Gottes, der im menschlichen Zusammenleben sichtbar werden soll - durch Versöhnung. Außerdem: In den vergangen Monaten wurde wieder einmal zur Debatte gestellt, ob nicht im größten muslimischen Land der Welt, wo die Muslime mehr als 80% der Bürger ausmachen, die islamische Rechtsordnung (Syaria) wesentlicher Bestandteil der nationalen Verfassung sein sollte. Ist nicht die Syaria als Grundgesetz der eigentliche Weg zur Lösung der Konflikte? Eine Reihe muslimische Politiker weisen allerdings darauf hin, dass nicht ein Gesetz (auch nicht die geheiligte Syaria) den Frieden schafft, sondern soziale Gerechtigkeit. Einsatz, nicht ein Buch, ist der Weg (Islam), auf dem Glaube lebendig wird. Das Drama von der Erlösung muss gespielt werden; Zusammenarbeit mit den muslimischen Nachbarn legt sich geradezu nahe.
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Drittens: Kann Religion zu Herzen gehen, so dass Taten herauskommen, wenn wir Not sehen? Ja - wenn wir nach Gott suchen müssen, weil wir nach Gott gefragt werden. a
Korruption ist die Krankheit unserer Nation, in der die Moral zusammengebrochen ist, und wo deshalb jedes Verhältnis zur Bedrohung wird: die Schüler bedroht und betrogen durch die Lehrer - die Lehrer durch die Studenten - die Bürger durch die Polizei - die Polizei durch die Bürger ... Korruption bedeutet: alles ist käuflich und deshalb kann man niemandem trauen - auch die Kinder den Eltern nicht mehr, die Patienten nicht mehr der Krankenschwester. Ein Neuanfang der Moral ist dringend notwendig, wenn unser Leben weitergehen soll: Solidarität, für die jeder von uns verantwortlich ist. Doch offenbar braucht es mehr als nur Verantwortungsbewusstsein, damit einer - angesichts himmelschreiender Not - Initiative an der Seite der Ausgestoßenen ergreift. Einsatz für das Gemeinwohl aus Liebe (Altruismus) lernt man nur in einer Gemeinschaft. Es braucht mehr als nur eine versöhnliche Gemeinde, damit der Halbtote am Straßenrand uns zur Hilfe bewegt - wirklich und nicht nur im Herzen. Viele sind apathisch geworden in der Zeit, die in Indonesien die verlängerte Krise heißt. Die Not ergreift das Herz, aber sie setzt nicht mehr die helfende Motorik in Gang; Not weckt - im Gegenteil Ängste und Misstrauen. Die Opfer unserer Gewaltsamkeiten müssen uns über den toten Punkt, der unser Engagement blockiert, hinwegschieben. Die Andersgläubigen müssen unseren Unglauben in Frage stellen, wenn uns die Religion und Liturgie wichtiger ist als Gott. Was bewegt uns zur Umkehr? Prof. AMIN ABDULLAH wurde vor zwei Monaten Rektor an der Staatlichen Theologischen Hochschule des Islam in Yogya - einem der beiden wichtigsten Ausbildungszentren in Indonesien, wo die eifrigen (manchmal fanatischen) Schüler aus den Koranschulen zu verantwortlichen Leitern in einer muslimischen Gemeinde ausgebildet werden. Ein Jahr vor seinem Amtsantritt veröfffentlichte AMIN sein Programm unter dem Titel "Theologische Forschung an einer Islamischen Theologischen Hochschule". Für den Islam ist Offenbarung Mitteilung von Gottes Wort in Menschensprache. Deshalb muss das Wort Gottes so verstanden und so in menschlicher· Sprache zu Ausdruck gebracht werden, dass es den Menschen anspricht - aktual und tatkräftig. "Das klassische Gebäude der Theologie erweist sich als baufällig, wenn man eine Antwort sucht auf die existenzielle Frage, wie denn ein aufrichtig- gläubiger Mensch Leuten aus einer anderen Religion begegnen soll, mit ihnen verkehren, gute Nachbarschaft pflegen und in gesellschaftlicher
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Praxis, In Fragen der Kultur, Wirtschaft und Politik zusammenarbeiten soll."38 Eine lebendige islamische Theologie muss die Dynamik wiederfinden, die Gott im Koran zu Wort kommen ließ; zugleich muss sich die Theologie den zwei Grundfragen unserer Zeit stellen. Erstens: Wie kann der Islam unsere Welt und Kultur mitgestalten? Zweitens: Was heißt - für einen Moslem Glauben in einer multireligiösen Welt? Wie arbeiten die Religionen zusammen - im Glauben? Dabei geht es nicht nur um Religionsfreiheit, sondern um das Zusammenleben der Religionen; nicht in friedlicher Koexistenz, sondern in zielgerichteter Zusammenarbeit; nicht nur um soziale Praxis, sondern um unser Grundverständnis: Was bedeutet uns die Religion? Wie glauben wir " [...] in Zusammenarbeit unter Menschen verschiedener Religionen, in der Realität des Lebens, in Anerkennung der Autonomie und metaphysischen Eigentümlichkeit jeder Religion"?39 Bei Muslimen wie bei Christen setzt sich folgende Überzeugung durch: In Asiens multi-religiöser Gesellschaft hören wir Gottes Wort nur dann aufrichtig, wenn wir auf Gott hörend zugleich im lebendigen Glaubensgespräch mit den vielen Menschen anderen Glaubens bleiben; im Gespräch mit den Nachbarn, mit denen uns das Leben zusammenbringt, und mit denen Gott handelt, auf seine Weise - auf ihre Weise. Im Augenblick ist solch kritisches Hören die einzige Garantie, dass es uns um Gottes Wort geht und nicht um die Glorie unserer Religion. Das Angebot glaubender Muslime liegt bei uns auf dem Tisch; schiebt es uns hinweg über den toten Punkt unserer hartnäckigen religiösen Überzeugung, die uns oft so un-glaubend macht? Die Bibliothek des Ignatius-Kollegs in Yogyakarta ist Treffpunkt vieler; hier vollzieht sich der Dialog zwischen Menschen verschiedenen Glaubens in der geschäftigen Ruhe des Lesesaals. Der Leiter der Bibliothek kommt von selbst in Kontakt mit den Studenten, zum Beispiel mit den beiden von der Muslimischen Theologie, die ihre Diplomarbeit über das Bußsakrament in der katholischen Kirche besprechen wollten. Die beiden waren auf der Höhe über die Kirchenbuße der ersten christlichen Jahrhunderte ebenso wie über die Ordnung des Bußsakramentes nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Am Ende des Gesprächs kam dann die entscheidende Frage: "Sind Sie sicher, dass im Sakrament Gott die Sünden verzeiht - wirklich?" Solch eine Frage wird nicht beantwortet mit dem Hinweis auf das Trienter Konzil; vor einem Andersgläubigen zählt nur die Erfahrung, dass einem wirklich das Herz um-
AMIN ABDULLAH, M.: Kajian Ilmu Kalam di, in: IAIN, al'Jami'ah 65 (2000), S.80. [weiterhin: AMIN ABDULLAH: Kajian Ilmu Kalam di] 39 AMIN ABDULLAH: Kajian Ilmu Kalam di, S.98. 38
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gekehrt wurde von Gott. Den Beweis dafür liefern wir, wenn es uns wirklich gelingt, Frieden zu stiften.
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Literaturoerzeichnis: ADITJONDRO, G.J.: Guns, pamphlets and handie-talkies. How the military exploited local ethno-religious tensions in Maluku to preserve their political and economic privileges, in: WESSEL, W. (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg 2001, S.100-128. AMIN ABDULLAH, M.: Kajian Ilmu Kalam di, in: IAIN, alJami'ah 65 (2000). BUBANT, Niels: Themes in the dynamies of violence in eastern Indonesia, in: WESSEL, W. (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg 2001, S.228-253. COLOMBIJN, Z.B.F.: What is so Indonesian about violence, in: Wessel, W. (Hg.): Violence in Indonesia, Hamburg 2001, S.25-46. HIRSCH, A.: Notwendige und unvermeidliche Gewalt? Zur Rechtfertigung von Gewalt im philosophischen Denken der Moderne, in: DABAG, M. (Hg): Gewalt: Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000. KAMPSCHULTE, Theodor: Zur Lage der Menschenrecht in Indonesien - Religionsfreiheit und Gewalt, Aachen 2001. KLINKEN, G.v.: The Maluku Wars: Bringing society back, in: Indonesia 71 (2001). KAPUST, A.: Zivilisierte Grausamkeit: Feindschaft und Vernichtung, in: DABAG, M.(Hg.): Gewalt: Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000. LUMIRA, Ahmen Mylthis: Islam dan anti kekerasan. Suatu upaya menuju ukhuwah insaniyah, dengan titik tolak kasus konflik Poso. Universitas Duta Wacana, Program Pasca Sarjana Magister Theologiae, Yogyakarta 2001. SULLIVAN, J. - SULLIVAN, N.: Playing by local rules: A communal view of ethic-religious conflict, in: Interface 4 (2001).
DEMOKRATISCHE REPUBLIK KONGO: FRIEDEN DURCH DEMOKRATISIERUNG ODER MILITARISIERUNG? ACHlUE MUTOMBO-MWANA Einer der bedeutendsten afrikanischen Theologen, der Kameruner JEANMARC ELA, hält den Politikern seines Kontinents vor, sie hätten den Baum des Palavers aus der Mitte des Dorfes entfernt und träfen seither willkürliche Entscheidungen über das Schicksal der Bevölkerung. JEAN-MARC ELA war der erste Theologe, der Anfang der achtziger Jahre den Schrei des afrikanischen Menschen ausdrücklich zum Thema seiner Veröffentlichungen machte. Damit leitete er einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung der Kirche auf dem schwarzen Erdteil ein. Statt nun die Aufgabe der Theologie hauptsächlich darin zu sehen, die kulturellen Wurzeln der verschiedenen V olksgruppen freizulegen, um sie in Einklang mit der Botschaft· des Evangeliums zu bringen, zieht er es vor, den Kampf gegen die Unterdrückung der Massen durch eine Minderheit schriftlich aufzunehmen. Er spart auch nicht an kritischen Worten gegenüber seiner Kirche. Er wirft ihr unter anderem vor, sie sei eloquent, wenn es darum ginge, die Vielehe oder die Auswüchse der Tradition des Brautpreises anzuprangern. Gegenüber der himmelschreienden Ungerechtigkeit, welche der Mehrheit der Bevölkerung widerfährt, ist sie dagegen erstaunlich wortkarg. Da Politik und Theologie in seinen Augen miteinander verzahnt sind, kann er kein Verständnis dafür aufbringen, dass das Buch Exodus, das von der konkreten Befreiung der Israeliten aus den Ketten der Sklaverei durch den Glauben an Jahwe berichtet, kaum Erwähnung in der Verkündigung findet. 1 Im Folgenden werde ich zunächst auf einige Aspekte der langen Leidensgeschichte der Völker Zentralafrikas aufmerksam machen. Dieser knappe Überblick wird sodann durch die für die Theologen nicht abzuweisende Frage nach der Rolle der Kirchen und der Religionen ergänzt. Schließlich wird nach Alternativen gesucht, um den Friedensprozess in diesem Krisengebiet zu beschleunigen.
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ELA, J.M: Le cri de l'homme africain, Paris 1980.
Achille Mutombo-Mwana
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Die Leidensgeschichte der Völker Zentralqfrikas
Anlässlich eines wichtigen Symposiums von Afrikanisten, das im Dezember 1978 in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, abgehalten wurde, hielt JOSEPH KI-ZERBO einen programmatischen Vortrag mit dem viel versprechenden Titel: De l'Afrique ustensile a l'Afrique partenaire (Afrika: Vom Werkzeug zum Partner)2. Blickt man auf das Jahrhundert zurück, das seit dem Beginn der systematischen Besatzung afrikanischer Gebiete durch die kolonialen Mächte vergangen ist, dann fällt auf, dass diese Geschichte ständig durch den Kampf gekennzeichnet wurde, den der aus Burkina-Fasso stammende Historiker angesprochenen hat. Während es politisch wie wirtschaftlich im Interesse der Europäer lag, den Status quo zu bewahren, strebten die Afrikaner danach, diesen Übergang vom Werkzeug zum Partner zu vollziehen. In seinen jetzigen Grenzen existiert die Demokratische Republik Kongo erst seit der Berliner Kongokonferenz (1S.November 1884 - 2S.Februar 1885), welche Otto von Bismarck einberufen hatte. Veranlasst wurde sie durch den Streit um den Handel auf dem Fluss Kongo wie im ganzen Kongobecken, der zwischen den teilnehmenden 14 europäischen Nationen entstanden war. Die entscheidenden Rollen spielten dabei Deutschland, England und Frankreich. Es ist bezeichnend, dass der Schlussbericht dieser Konferenz die Gründung des Freistaa,tes Kongo (Etat Independant du Congo) als letzten Punkt erwähnt. An erster Stelle steht der freie Handel in dem ganzen Gebiet; dann wird die Neutralität im Kriegsfall erwähnt und schließlich die Abschaffung der Sklaverei ... 3 Die Auswirkungen der Beschlüsse, die von allen 14 Beteiligten verfasst und unterzeichnet wurden, um diesen in erster Linie inneneuropäischen Konflikt zu schlichten, sind bekannt. Die politische Landkarte Afrikas wurde gezeichnet. Die Grenzen zwischen den Ländern wurden gezogen. Ungeachtet der gemeinsamen Geschichte und des kulturellen Hintergrundes wurden hier und dort Volksgruppen gespalten. Von heute auf morgen bekamen sie Befehle von politischen Regierungen, die sich im Grunde feindlich gegenüberstanden. Die Lunda und die Bemba leben nun in Angola, Zambia und in der Demokratischen Republik Kongo. Dasselbe gilt für das Volk der Bakongo, deren Mitglieder in Nord-Angola, an der atlantischen Küste der Demokratischen Republik Kongo und in der Volksrepublik Kongo ansässig sind. Als diese willkürlichen Entscheidungen getroffen wurden, gab es schon eine zahlenmäßig nicht zu unterschätzende schwarze Diaspora in 2 K I-ZERBO, Joseph: De l'Afrique ustensile a l'Afrique partenaire, in: MUDIMBE,V.Y (Hg.): Africa's. Dependence and the Remedies, Paris 1980. J GOCHET, Alexis-Marie: Le Congo belge illustre ou l'Etat Indepenant du Congo, Liege 1887, S.138-139.
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Europa. Wie HANS WERNER DEBRUNNER zeigt, waren viele dieser Menschen afrikanischer Herkunft durchaus in der Lage, sich selbst zu artikulieren. Als Beispiel sei hier lediglich das Buch von dem aus Westafrika stammenden Arzt JAMES AFRICANUS B. HORTON erwähnt, der bereits 1868 für eine Selbstverwaltung der afrikanischen Völker eintrat. 4 Die in Berlin lebende Schwarzamerikanerin PAULETTE REED-ANDERSON hat in ihrer Untersuchung über die afrikanische Diaspora bewiesen, dass Menschen afrikanischer Herkunft mehr als ein Jahrhundert in der Hauptstadt Deutschlands leben. 5 Daniel Sorur Pharim Den, ein gelehrter Ordensmann aus dem Gebiet der Dinkas im Sudan, hatte zum Beispiel Kardinal Lavigerie zu seinen Konferenzen nach Paris, London und Brüssel begleitet. Es wurde aber bei keinem ein ernstzunehmender Gedanke vermutet, den man hätte berücksichtigen sollen. Keiner dieser Betroffenen wurde jedoch nach seiner Meinung zu der Aufteilung des african cake gefragt. Afrika war nichts besseres als ein Werkzeug. Doch die systematische Eroberung des schwarzen Erdteils war oft kein geruhsamer Spaziergang im Urwald oder in der Savanne. Das Beispiel der Okkupation der Kupferprovinz Katanga im Süden der Demokratischen Republik Kongo macht deutlich, wie schwierig es oftmals war, neue Gebiete unter Kontrolle zu bringen. M'siri, der König von Garenganze, herrschte über das ganze Gebiet der heutigen Katangaprovinz. Trotz vieler Überredungsversuche seitens der Belgier, erlaubte der Tyrann nicht, dass die Fahne Königs Leopolds 11 in seiner Hauptstadt Bunkeya gehisst wurde. Erst nachdem ihn Kapitän Bodson in einem Feuergefecht, bei dem er selbst umkam, erschoss, wurden die politischen wie wirtschaftlichen Interessen der neuen Herren in Katanga garantiert. Sicher duldete die Grausamkeit M'siris keinen Widerstand in der Bevölkerung. Doch er ist in die Geschichte als eine Person eingegangen, die gegen einen militärisch viel stärkeren Gegner Widerstand leistete. Er soll 1890 einem englischen Missionar gesagt haben: "I am master here and while I'm alive the kingdom of Garanganja
shall have no other master than me. "6 Er wollte als Partner betrachtet und behandelt werden. Leopold 11 wird oft als der Wohltäter der Belgier und der Kongolesen gefeiert. Ihm verdanken die Belgier, dass er ihnen sein privates Eigentum, das Kongogebiet, welches die Berliner Konferenz ihm zugesprochen hatte, hinterlassen hat. Mit einer so reichen Kolonie konnte Belgien es sich selbstverständlich leisten, die beiden Weltkriege ohne Schulden zu überstehen. Davon DEBRUNNER, Hans-Werner: Presence and Prestige: Africans in Europe, Basel 1979, S.256. REED-ANDERSON, Paulette: Berlin und die afrikanische Diaspora; die Ausländerbeauftragte des Senats, Berlin 2000. [weiterhin: REED-ANDERSON: Berlin und die afrikanische Diaspora] 6 PAKENHAM, Thomas: The Scramble for Africa; London 1994, S.393.
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konnten die großen Nationen wie Frankreich und Deutschland nur träumen. Die Kongolesen sollten ihrerseits König Leopold H. dafür dankbar sein, dass er in ihrem Gebiet eine Unmenge für die Ausbildung, die Wirtschaft und den Handel bewjrkt hatte. Man konnte dieser Meinung Glauben schenken, jedenfalls spätestens bis zum Erscheinen des gut recherchierten Buches. des Amerikaners Adam Hochschild über die Verbrechen des Königs der Belgier in Kongo. Allein der Titel erschüttert jede Gleichgültigkeit: "Schatten über .dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen". Dass die Bevölkerung des Kongogebietes zwischen 1885 und 1909 fast halbiert wurde, darf nicht allein dem Zufall zugeschrieben werden. Dass durch willkürliche Maßnahmen wie Zwangsrekrutierungen und Zwangsumsiedlungen viele Volksgruppen aus dem Gleichgewicht gebracht wurden, hat man fast vergessen. Es klingt wie ein Märchen, wenn man sagt, dass alles verlief, als ob jemand in ein Dorf einbrechen würde und unter Zwang von allen Bewohnern verlangte, sie sollten von nun an nach seiner Musik tanzen. Wer nicht bereit sei, sich an diesem Spielchen zu beteiligen, müsste diesen Mut mit seiner Gesundheit oder sogar mit seinem Leben bezahlen. Auf diese Verbrechen hatten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts einige Kritiker aufmerksam gemacht. Das Buch des Engländers ARTHUR CONAN DOYLE über "Le crime du Congo" ist ein überzeugendes Beispiel. Das Cover des Buches zeigt ein Mädchen, dem ein Teil des rechten Armes und des linken Beines fehlen. Unter dem Bild stehen die Worte: Comment vous me protegez (So beschützen Sie mich). Die Härte der Ausdrücke des Verfassers gegenüber der belgischen Regierung ist sicherlich auf dem Hintergrund der Konkurrenz zwischen den europäischen Ländern in Afrika zu verstehen. Untertöne vermitteln den Eindruck, die englischen und deutschen Methoden seien besser gewesen als die belgischen. Die Zusamme.nfassung ist in ihrem Urteil über die Belgier und deren König vernichtend: "Sous leur anden regime sauvage tel que Stanley l'observa, les tribus etaient infiniment plus heureuses, plus riches et plus dvilisees qu'aujourd'hui. Si elles retournaient tranquillement acette existence, on echapperait du moins a cet avilissement de l'ideal de la race blanche qui est impliquee par l'occupation belge [...]. Ils ont eu vingt-cinq ans de possession tranquille et ils en opt fait un enfer [...] Danke, dass ist sehr nett von ihnen"7. (Unter ihrem alten, wilden Regime, wie Stanley es beobachtet hatte, waren die Stämme viel glücklicher, reicher und zivilisierter als heute. Wenn sie ruhig zu dieser Existenz zurückkehren würden, würde man wenigstens das Verkommen des Ideals der weißen Rasse vermeiden, das in der belgischen Okkupation impliziert ist. Sie haben das Gebiet 25 J ahte lang sorglos in Besitz gehabt, und sie haben daraus eine Hölle gemacht). 7
DOYLE, Arthur Conan: Le crime du Congo, Paris 1910, S.117.
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Weder unter dem mächtigen Leopold 11 (1885-1909) noch unter der belgischen Herrschaft (1909-1960) haben sich die Afrikaner kampflos ihrem Schicksal gefügt. Boykottierungen der Entscheidungen der belgischen Metropole waren die gewöhnlichen und wirksamen Maßnahmen, zu denen sie griffen, um sich selbst als Partner zu behaupten. Dieser Widerstand zwang die Kolonialherren zu der Methode des indirect rule. Nur indem sie sich der Zusammenarbeit mit Einheimischen durch Einheimische versichern konnten, waren die Interessen der Kolonie nicht gefährdet. Trotzdem wuchs der Unmut von Jahr zu Jahr. In Europa meldeten sich viele Afrikaner zu Wort, um gegen die Demütigung der Völker durch die Kolonialmächte zu protestieren. Wie PAULETfE REED-ANDERSON berichtet, gab es 1898 unter anderem eine " [...] Petition gegen die deutsche Kolonialpolitik in Kamerun durch den Präsidenten der ,African Association' in London, Henry Sylvester Williams (1869-1911) an Kaiser Wilhelm 11"8. Dieses Beispiel betrifft nicht direkt den Kongo. Aber es macht deutlich, dass sich die Afrikaner nicht auf die europäischen Anwälte verließen. Sie ergriffen selbst die Initiative. Die kongolesischen Eliten organisierten regelmäßige Treffen, um zu überlegen, wie man die Last des Kolonialismus abwerfen könnte. Politische Parteien wurden gegründet. Die Forderungen nach der Unabhängigkeit wurden immer lauter in der Bevölkerung. Die Bestrebung der Kongolesen, sich selbst als Partner zu behaupten, wurde am Vorabend der Entlassung in die Unabhängigkeit und gleich danach in der Person von Patrice Emery Lumumba verkörpert. Wie der jüngste Film des aus Haiti stammenden Raoul Beck (Lumumba: la mort d'un prophete) deutlich macht, wurde Lumumba von den Kolonialmächten ermordet, da er mit ihnen auf gleicher Augenhöhe verhandeln wollte. In der überraschenden Rede, die er anlässlich der Feierlichkeiten der Unabhängigkeit in der Gegenwart des damaligen jungen belgischen Königs Baudouin 1 hielt, erinnerte er ungeschminkt an die Grausamkeiten, die die Bevölkerung unter Leopold 11 und der belgischen Herrschaft erlitten hatte. Mit dieser Kühnheit ohnegleichen besiegelte er sozusagen sein Schicksal. Dass man ihm der schweren Sünde des Kommunismus bezichtigte, war nur eine Ausrede, um seine Verhaftung und seine Ermordung zu rechtfertigen. Herr Soete, ein Belgier aus Gent, scheint keine Gewissenbissen zu haben, wenn er vor laufender Kamera erzählt, wie er mit einem anderen Belgier die Leiche Lumumbas zerstückelt und in einer Säure aufgelöst habe. Dabei hat er nicht versäumt, einen Zahn Lumumbas sorgfältig als kleines Souvenir zu bewahren! Es ist ein trauriges Kapitel Belgiens, dass die Regierung trotz aller Beweise, die sich jeden Tag anhäufen, immer noch von einer moralischen und keineswegs von einer direkt 8
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zu verantwortenden Schuld im Fall der physischen Liquidierung Lumumbas spricht. Mobutu, der an der Verhaftung und Ermordung Lumumbas nicht unbeteiligt war, übernahm· fünf Jahre nach der politischen Unabhängigkeit mit Hilfe der eIA die Macht. Mit der Unterstützung der Belgier, Franzosen und Amerikaner, die alle erstaunlicherweise einen guten Freund in ihm sahen, gelang es ihm, sein Land in einen unbeschreiblichen wirtschaftlichen Ruin zu stürzen. Er, der in kurzer Zeit zu einem der reichsten Männer der Welt emporsteigen konnte, herrschte 32 Jahre über eines der ärmsten Völker dieses Planeten. In seinen Augen waren seine Landsleute keine Partner, sondern lediglich Werkzeuge. Von den Kolonialherren unterschied er sich diesbezüglich nur durch die Hautfarbe und die Stammesherkunft. Wie einst vor der politischen Unabhängigkeit, so wurden auch die Eliten sowie das Fußvolk im Lauf der Jahre immer unzufriedener mit den Verhältnissen, die im Reich Mobutus herrschten. Willkürliche Verhaftungen, Todesurteile ohne Gerichtsverfahren, Vetternwirtschaft, Verstummen der freien Presse usw. waren an der Tagesordnung. Anfang der achtziger Jahre zogen 13 vom Volk gewählte Abgeordnete eine traurige Bilanz der Amtszeit Mobutus. Wie zu erwarten war, bezahlten sie ihren Mut mit Aufenthalten in verschiedenen Gefängnissen unter unmenschlichen Bedingungen. Was sie verlangten war lediglich das politische und wirtschaftliche Mitspracherecht. Erst Anfang der neunziger Jahre wurde Mobutu gezwungen, sein Einparteiensystem aufzugeben. Der Druck innerhalb des Landes und auf internationaler Ebene war zu stark geworden. 1991 wurde eine Nationalkonferenz einberufen, um eine schonungslose Bilanz der Ara Mobutu zu ziehen und die Zukunft auf neue Fundamente zu bauen. Es war das erste Mal in der ganzen Geschichte der Demokratischen Republik Kongo, dass sich Vertreter aller Schichten und Tendenzen frei äußern durften. Es war das erste Mal, dass sich alle Volksgruppen nicht als Werkzeuge, sondern als Partner fühlten. Meisterhaft geleitet wurde diese Konferenz von dem katholischen Erzbischof von Kisangani, Laurent Monsengwo Pasinya. Der wesentliche Erfolg dieser Versammlung bestand nicht - wie manchmal zu hören ist - darin, dass Etienne Tshisekedi wa Mulumba mit einer überwältigenden Mehrheit zum Premier Ministre gewählt wurde, sondern darin, dass die Teilnehmer beschlossen, jedes diktatorische Verhalten seitens der Regierenden oder der Bevölkerung endgültig zu verabschieden. Mit dieser Nationalkonferenz war zum ersten Mal der Übergang vom Werkzeug zum Partner vollzogen. Umso weniger Verständnis kann ich dafür aufbringen, dass man - aus welchem Grund auch immer - beim Rückblick auf die jüngste Geschichte der Demokratischen Republik Kongo diese wichtige Etappe hier und dort überspringen will.
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Selbst der Befreiungskrieg, den Laurent Desire Kabila 1996 gegen das Regime Mobutus aufgenommen hatte, wurde unter anderem damit gerechtfertigt, dass Mobutu und seine Anhänger die Nationalkonferenz verraten hatten, und dass es an der Zeit sei, zu deren Beschlüssen zurückzukehren. Indem Laurent Desire Kabila dies versprach, löste er in der Bevölkerung eine Welle der Begeisterung aus, die nicht zu bremsen war. Kein Wunder, dass er überall mit offenen Armen empfangen wurde. Doch wie ein afrikanisches Märchen erzählt, wurde ihm Beifall geschenkt, bevor er überhaupt seine Geschichte erzählt hatte. Nur die wenigsten hatten jene verdächtigen Signale wahrgenommen und gedeutet, die er auf dem Siegesweg in die Hauptstadt Kinshasa ausgesandt hatte. War es Zufall, dass CNN regelmäßig über seine militärischen Erfolge berichtete? Wie kam er dazu, Verträge mit amerikanischen Firmen zu schließen, bevor er die Macht ergriffen hatte? Man hatte guten Grund zu fragen, warum keine abweichenden politischen Meinungen in den Gebieten, die er inzwischen unter Kontrolle hatte, geduldet wurden. Wie Dr. HELMUT STRrZEK auf dem deutschen Katholikentag in Hamburg sagte, war dieser Krieg von den USA gesteuert, um ganz Zentralafrika zu militarisieren. Und wir sind nun soweit, dass überall Soldaten an der Macht sind. Bald nach seinem Putsch gegen Mobutu am 17. Mai 1997 legte Laurent Kabila sein neues politische Programm dar: das Einparteiensystem wurde wieder eingeführt; die schon unter der Diktatur Mobutus aktiven politischen Parteien wurden verboten; Todesurteile wurden oft ohne Gerichtsverfahren verhängt; ein Gespräch mit den Rebellen, die seit August 1998 große Gebiete des Landes kontrollieren, wurde nicht ernsthaft angestrebt; widersprüchliche und sich neutralisierende Äußerungen zu demokratischen Wahlen wurden gemacht. 9 Für ihn wie für seinen Vorgänger waren die Menschen Werkzeuge und keine Partner. Seit der Ermordung Laurent Desire Kabilas regiert sein Stiefsohn Joseph Kabila. Bis jetzt hat der neue Machthaber keinen überzeugenden Beweis dafür geliefert, dass er die Bahnen der Willkür verlassen will. Erstaunlich und bedenklich ist jedoch, dass er von vielen alten Freunden Mobutus und europäischen Spezialisten der Afrikapolitik (George W. Bush in Washington, Louis Michel in Brüssel, Jaques Chirac in Paris und Ushi Eidt in Berlin) als Hoffnungsträger angesehen wird. Deswegen hören die Verfechter der Nationalkonferenz nicht auf, darauf zu drängen, dass ein innerkongolesischer Dialog stattfinde. Die Teilnehmer haben sich ein doppeltes Ziel gesetzt: den seit 1998 tobenden Rebellenkrieg zu beenden und eine von allen politischen Par-
HOEBEN Henry: Human Rights in the DR Congo: 1997 until the present day. Tbe predicaments of the Churches, in: Missio (2001) 2.
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teien unterstützte Übergangsregierung zu wählen, die dann zu demokratischen Wahlen führen soll. Eines ist nun deutlich geworden: Trotz der Gewalt von innen und von außen, die darauf abzielt, die Volksgruppen der Demokratischen Republik Kongo zu widerstandsunfahigen Werkzeugen werden zu lassen, sind die berechtigten Bestrebungen der dort lebenden Menschen, als Partner behandelt zu werden, nie ganz zum Verstummen gebracht worden.
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Die Rolle der Kirchen und Religionen
Was lässt sich nun über die Rolle der Kirchen und der Religionen während dieses hundert Jahre langen Kampfes gegen die Unterdrückung durch ausländische und einheimische Kräften sagen? Das Weltparlament der Religionen zählt die afrikanischen Religionen nicht zu den Großreligionen der Welt. Was aus Afrika kommt, gehört in die Kategorie der Natur-oder Elementarreligionen. In ihrer Entwicklung sind sie, so wird leise argumentiert, nicht über die Schwelle des Primitivismus hinausgegangen. Ihre Konzeptionen haben nirgendwo einen schriftlichen Niederschlag in Form einer Heiligen Schrift gefunden. Sie sind außerdem auf bestimmte Stämme bezogen. Zum Wesen einer Großreligion gehört aber, so wird stillschweigend angenommen, dass ihre Hauptdogmen schriftlich fixiert sind, und dass sie einen Universalanspruch erheben. Nun lässt sich fragen, ob die Stifter des Christentums und des Islams eigenhändige Texte hinterlassen haben, und ob das Judentum sowohl in seiner Entstehungsphase als auch in seiner jetzigen Lage - keine Stammesreligion ist. Dringt man zum Kern der afrikanischen traditionellen Religionen vor, dann stellt man fest, dass sie, wie die so genannten Großreligionen der Welt, den ganzen Menschen ansprechen. Selbst wenn die Systematisierung ihrer Anthropologie, Kosmologie und Theologie erst spät zu Stande gekommen ist, so haben sie dem afrikanischen Menschen durch mündliche Überlieferung Antworten auf die entscheidenden Fragen, die ihn bewegen, vorgeschlagen. Die Berichte von Marcel Griaule über die "Schwarze Genesis" der Bambara aus Mali, von Fourche und Morlighem über die "Bible Noire" der Baluba aus der Demokratischen Republik Kongo oder von Katena Schlosser über "Die Bantubibel des Blitzzauberers .Laduma Madela. Schöpfungsgeschichte der Zulu" machen eines deutlich: Unabhängig von der Anerkennung durch das Weltparlament begleiten die afrikanischen Religionen den Menschen durch die wichtigsten Stationen seines Lebens: Geburt, Heirat, Schicksalsschläge, Krankheit, Tod und Jenseits.
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Unter der belgischen Herrschaft waren diese Religionen der geistige Ort des Widerstandes. Die Versuche, aus den afrikanischen Heiden Christen werden zu lassen, waren nicht immer von dem erhofften Erfolg gekrönt. Viele afrikanische Schriftsteller legen davon ein überzeugendes Zeugnis ab. Die Ablehnung des Christentums wurde nicht nur damit begründet, dass die Vertreter der neuen Religion mit denen der Kolonialmacht Hand in Hand gingen, sondern auch damit, dass das Besondere an der neuen Religion nicht ganz deutlich war. So fragt sich Mudimbe in seinem Roman "Entre les eaux" (In Gewässern), wozu der Umweg über den Nazoräer, wenn der Gott des Christentums und der der afrikanischen Religionen der gleiche sind. Viele Häuptlinge, die es nicht zulassen wollten, dass Fremde über ihre Gebiete herrschen, beriefen sich unter anderem auf die Ahnen oder Vorfahren, die ihnen das Land anvertraut hatten. Sie empfanden die Unterwerfung als Verrat am Erbe der Stammesgründer. Dass die afrikanischen Religionen Menschen widerstandsfähig machten, zeigt sich auch daran, dass sich die afrikanischen unabhängigen Kirchen - deren unausgesprochene Absicht es war, die koloniale Last abzuwerfen - vielfach aus der Symbolik und den Konzeptionen der afrikanischen Kulturen speisen. Viele Aspekte ihrer Kosmologie, Anthropologie und Theologie wandern in die neuen Kirchen ein. Die Prophetin Kimpa Vita (Dona Beatrice) aus dem Kongokönigreich musste bereits Anfang des 18. Jahrhunderts für den Mut bezahlen, den sie aufgebracht hatte, die Bahnen des Christentums abendländischer Prägung zu verlassen. Sie stemmte sich gegen die religiöse Bevormundung der Afrikaner durch die Kapuziner aus Italien auf. Indem sie sich auf eine himmlische Eingebung berief, fing sie ungehemmt an, ihren Stammesgenossen von einem Heiligen Antonius von Padua zu erzählen, der ein Schwarzer geworden sei. Das politische Potential und die Gefahr dieser Bewegung der Antonianer hatten die Missionare schnell erkannt. Um die Begeisterung zu bremsen, die ihre Botschaft in der afrikanischen Bevölkerung des Kongoreiches ausgelöst hatte, wurde schnell beschlossen, ihrem Leben nach den damaligen Methoden der heiligen Inquisition ein Ende auf dem Scheiterhaufen zu setzen. Der Prophet Simon Kimbangu, der im 20. Jahrhundert in der gleichen Gegend den Anspruch geltend machte, in Kamba persönlich ein Pfingstereignis erlebt zu haben, fing ebenso an, zu seinen Stammesgenossen über Gott in einer neuen Sprache zu sprechen. Die politischen Auswirkungen seines Auftritts waren kaum zu übersehen. Deshalb wurde auch in seinem Fall unverzüglich die Entscheidung getroffen, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Er verbrachte 30 Jahre im Gefängnis von Elisabethville (heute Lubumbashi), wo er 1951 starb. lO Aus selbstverständlichen 10
LOTH, Heinrich: Vom Schlangenkult zur Christuskirche, Frankfurt am Main 1987, S.157-176.
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Gründen messen seine Anhänger dem katholischen Glaubensbekenntnis keine besondere Bedeutung bei, welches er auf dem Sterbebett im Krankenhaus der gleichen Stadt gegenüber einem belgischen Ordensmann gemacht hatte. Dona Beatrice und Simon Kimbangu sind aber nicht die einzigen afrikanischen Propheten, deren religiöser und politischer Widerstand sich reichlich aus afrikanischen Quellen speist. In seiner Untersuchung über die "Eglises nouvelles et mouvements religieux" berichtet der kongolesische Schriftsteller NGANDU NKASHAMA über dieses Phänomen. l1 Entstanden ist seine Studie 1978. Als Professor an der Universität von Lubumbashi war er der Regierung unerträglich geworden. So wurde er festgenommen und mit Handschellen in seine Geburtstadt Mbujimayi gebracht. Er nutzte diese Gelegenheit, um alle unabhängigen Kirchen der Diamantenstadt zu besuchen. Aus den vielen Gesprächen, die er sowohl mit den Stiftern als auch mit den Mitgliedern dieser neuen Kirchen und religiösen Bewegungen führte, geht deutlich hervor, dass keiner unter Minderwertigkeitskomplexen gegenüber dem Westen leidet. Sie fühlen sich von Gott berufen, genau wie alle großen Propheten der Geschichte. In ihrer Organisation wie in der Formulierung ihrer Lehre sind sie auf keine höhere Instanz angewiesen. Dass diese explosions artige Entwicklung auch eine politische Bedeutung hat, ist aber nicht zu leugnen. Und wie sieht es aus mit der heiligen katholischen Kirche? Vor der Unabhängigkeit konnte man nicht mit einer Stimme der Bischofskonferenz rechnen, die sich gegen die Unterdrückung und die Besatzung erheben konnte. Die Hierarchie wurde 1959 vom Heiligen Stuhl eingerichtet. Die ersten einheimischen Bischöfe wurden erst am Vorabend der Unabhängigkeit ernannt. In den Augen der Bevölkerung haben sie seither unterschiedliche Rollen gespielt. Einige haben zur Selbstbehauptung der Bevölkerung beigetragen, wobei andere durch Worte, Taten oder Schweigen die Bevormundung begünstigt haben. Der spätere Kardinal Joseph Albert Malula hatte schon als Gemeindepfarrer von der Erzdiözese Kinshasa entscheidend bei der Erweckung eines nationalen Bewusstseins unter den afrikanischen Eliten mitgewirkt. Er gehörte zu dem Kreis, der 1956 das "Manifeste de la conscience africaine" verfasst hatte. Seine klaren Worte und seine Haltung gegenüber dem Diktator Mobutu musste er 1971 mit einem einjährigen Exil in Rom bezahlen. 12 Viele bedauern es, dass er nicht mehr gelebt hat, als die Nationalkonferenz eröffnet und durchgeführt wurde. Sie sahen in ihm einen Hoffnungsträger für die ganze Nation.
NKASHAMA, Ngandu: Eglises nouvelles et mouvements religieux, Paris 1990. LUYEYE LUBOLOKO, Francois: Le Cardinal Joseph Albert Malula: un pasteur prophetique, Kinshasa 2000. 11
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Bischof Laurent Monsengwo wird heute vorgeworfen, er habe die Beschlüsse der Nationalkonferenz, die er übrigens meisterhaft geleitet hat, übersehen, als er einen von dieser Versammlung nicht vorgesehenen Weg beschritt. Es ist nicht auszuschließen, dass er als Präsident des Übergangsparlaments gute Gründe hatte, den treuen Freund Mobutus, Leon Lubitsch Kengo wa Dondo, als Premier Ministre vorzuschlagen. Indem er Etienne Tshisekedi wa Mulumba de facto absetzte, wollte er vielleicht das Schlimmste verhindern. Das kleinste Übel ist ja immer zu bevorzugen. Auf einer Tagung, die am 28. April 2001 von Pax Christi in Bonn organisiert wurde, nahm Bischof Tshibangu aus Mbujimayi seinen Amtskollegen in Schutz, als er die Frage eines Teilnehmers zur Rolle der katholischen Kirche bei der Verschärfung der politischen Krise beantwortete. Er bat ihn, davon auszugehen, dass Bischof Monsengo bei seiner Entscheidung reiflich überlegt habe. Dies steht jedoch nicht zur Debatte. Keiner bezweifelt, dass es Gründe gibt, die eine solche Entscheidung plausibel machen könnten. Was diskutiert wird ist die Frage, ob Erzbischof Laurent Monsengwo Pasinya solch wichtige Entscheidungen im N amen der katholischen Kirche treffen durfte, ohne mit dem von ihm geleiteten Parlament Rücksprache zu halten. Der Traum, dass die katholische Kirche in der Demokratischen Republik Kongo noch eine ähnliche Rolle zugewiesen bekommt, ist inzwischen so gut wie ausgeträumt. Auf Grund seiner mutigen Stellungnahmen gegen die Menschenrechtsverletzungen oder für den innerkongolesischen Dialog kommt der Kardinal Etsou von Kinshasa sehr gut in der Bevölkerung an. Er musste aber lange um dieses Vertrauen der Christen kämpfen. Denn er hatte eine von Christen aller Konfessionen geplante Demonstration am 16. Februar 1992 ausdrücklich abgelehnt. Diese Christen wollten durch die Demonstration die Wiedereröffnung der Nationalkonferenz erzwingen, mit der sie eine große Hoffnung für die Zukunft des Landes verknüpften. Ungeachtet dessen, was das katholische Oberhaupt der Kirche sagte, gingen Priester und Laien auf die Straße, um ihren Willen, der Diktatur ein Ende zu setzen, öffentlich zu bekunden. Das, was der Kardinal befürchtet hatte, trat leider ein. Die Demonstration wurde blutig niedergeschlagen. Trotzdem stieß er mit dem Verbot der Demonstration auf nur wenig Verständnis. Der Jesuitenbischof Christophe Munzirwa wird heute noch als Märtyrer der Unabhängigkeit des Landes, insbesondere der Kivuprovinz gefeiert. Als der Befreiungskrieg Kabilas begann, nahm er kein Blatt vor dem Mund, um an die Rechte der Bevölkerung zu erinnern. Die Umstände seines Todes sind bis heute ungeklärt geblieben. Sein Nachfolger, Bischof Kataliko, durfte die Bischofstadt Bukavu monatelang nicht betreten. Seine Botschaft gegen die Besatzung durch ruandische Soldaten war nicht zweideutig. Als er vor mehr als einem Jahr in Rom in seinem Zimmer zusammenbrach, lag es nahe, den Rebellen und deren ruandischen Verbündeten, die ihn ins Exil nach Beni Bu-
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bellen und deren ruandischen Verbündeten, die ihn ins Exil nach Beni Butembo geschickt hatten, für schuldig an seinem Tod zu halten. Es darf hier nicht der Eindruck entstehen, dass der Kampf gegen die Unterdrückung nur von den Bischöfen geführt wird. Der Pfarrer Jose Mpundu aus Kinshasa leistet eine gute Arbeit mit der Gruppe Amos, die er gleich nach der Liberalisierung politischer Parteien ins Leben gerufen hat. In der Kivuprovinz ist vor allem die Gruppe J eremie am bekanntesten. Wie ihre Schwester aus Kinshasa, prangert sie die ungerechten Strukturen an, die die Menschen unterdrücken. Viele Nichtregierungsorganisationen, die an keine religiöse Konfession gebunden sind, verfolgen genau das gleiche Ziel. Kommen wir zum Prophetismus zurück. Es entwickelt sich davon eine neue Art, die sich ganz von der Überzeugung der alten traditionellen Religionen und des alten Prophetismus unterscheidet. Wenn die alten Religionen und der alte Prophetismus den afrikanischen Menschen zum Kampf gegen die Unterdrückung aufgerüstet hatten, dann gilt es heute in vielen Kreisen, den Menschen mit religiösen Sprüchen zu betäuben. Viele Sekten, die in Europa und Nordamerika am Aussterben sind, finden erstaunlicherweise großen Zulauf in Kongo. Während meines letzten Aufenthaltes in Kinshasa im Juli 2001 ist mir aufgefallen, wie oft und wie lang religiöse Sendungen ausgestrahlt werden. Es gibt sogar Privatsender, die mehr als 12 Stunden am Tag nur religiöse Sprüche und Gesänge in die Fernsehkanäle schleudern. Alle diese neuen Propheten finden, dass die Politik ein schmutziges Geschäft sei. Einem der alten Freunden Mobutus, Dominique Sakombi Inongo, ist es vor fünf oder sechs Jahren gelungen, die Herzen der Leute wieder zu erobern, indem er öffentlich von seiner Bekehrung zu Gott sprach. Er nennt sich seither Bruder Dominique. 13 Und dies scheint auszureichen, damit man ihm die Verbrechen verzeiht, die er gegen sein Volk begangen hat. Inzwischen hat er sich auf die Seite der neuen Machthaber geschlagen und spielt das gleiche Doppelspiel weiter. Im Unterschied zum Prophetismus, der die politische Unabhängigkeit vorbereitet hat, beschränkt sich der neue Prophetismus darauf, die Menschen aufzufordern, für solche Kinder Gottes wie Bruder Dominique zu beten. Wie kann man in diesem Kontext der These zustimmen, die religiöse Erweckung Afrikas wird die Emotion in eine emotionslose Welt bringen? Verfolgen diejenigen, die solche Gruppierungen finanziell unterstützen, wirklich keine politische Absicht? Der neue Prophetismus wirkt wie Opium. Er erlahmt die Kräfte der Menschen, die dann auf politische Wunder warten. Er verspricht Heilung und Wohlstand ohne Anstrengung. Welche 13 NKASHAMA, Ngandu: Les magiciens du repentir: les confessions de Frere Dominique (Sakombi Inongo), Paris 1995.
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Rolle kann das Exodusbuch noch spielen, wenn die Gläubigen auf diese Art und Weise religiös versorgt und betäubt werden? Ein Wort von dem vor kurzem verstorbenen Schriftsteller aus Kamerun, Mongo Beti, findet hier leicht eine Anwendung: " [...] sie hatten die Bibel und wir das Land. Nun haben sie das Land und wir die Bibel"
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Alternativen zur Beschleunigung des Friedensprozesses
Was ist nun zu tun? Ich bin weit davon entfernt, die Meinung von HELMUT STRIZEK zu teilen, wenn er meint, die Chancen für den Kongo ständen im Augenblick günstiger denn je. 14 Das Fundament für eine demokratische Entwicklung im Kongo und in Zentralafrika wurde vor zehn Jahren mit der Nationalkonferenz gelegt. Bis jetzt gibt es kein Dokument, das in seiner Analyse der Probleme tiefer gegangen wäre und das weiterreichende Zukunftsperspektiven aufweist. Die Argumente derer Theologen und Politiker, die zur Beendigung der Krise beitragen wollen, sind im Grunde genommen Wiederholungen dessen, was die 2800 Delegierten aus dem ganzen Land fast ein ganzes Jahr gedacht und niedergeschrieben haben. Viele, die die Texte der Nationalkonferenz kritisieren, beweisen durch ihre ungenauen Äußerungen, dass sie nicht wissen, wovon sie reden. Es lässt sich dann mit Recht fragen, warum die gewaltlosen Kräfte nie eine Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft bekommen haben. Es hätte genügt, darauf zu bestehen, dass von der Linie der Nationalkonferenz - koste es was es wolle - nicht abgewichen wird. Dann wäre uns der Befreiungskrieg mit all seinen schlimmen Folgen erspart geblieben. Als Mobutu an Krebs erkrankte, war leider die Option der Weltmächte: Militarisierung statt Demokratisierung. Nun stehen wir wieder vor der gleichen Alternative. Seit dem Beginn des Rebellenkrieges im August 1998 fordern die gleichen demokratischen Kräfte, die gewaltlos gegen die Diktatur kämpfen, einen innerkongolesischen Dialog. Zunächst hieß es, dass die Regierung von Laurent Desire Kabila dagegen war. In den Aussagen seines Stiefsohnes Joseph Kabila ist keine konsequente Linie zu Gunsten eines solchen Gespräches zu erkennen. Eines ist sicher: Wer den friedlichen Dialog ablehnt, hat Schwäche zu verheimlichen. Davon abgesehen gibt es ein anderes Problem, das zur Verzögerung dieses Treffens geführt hat: die Frage nach der Finanzierung. Die Kosten einer solchen Konferenz belaufen sich auf fünf Millionen US-Dollars. Der Aufenthalt der Vertreter der UNO, die den Waffenstillstand überwachen, kostet pro Tag eine halbe Million! Ist es nun verständlich, dass das Geld für die UNO-Beamten leichter aufzubringen 14 STRIZEK, Helmut: Externe Faktoren der zentralafrikanischen Staatskrise, in: Internationales Afrikaforum (2001) 4, S.363-367.
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ist, als die bescheidene Summe, die man zur Beendigung der Krise bräuchte? Verdienen die Armeen und die Firmen, die direkt oder indirekt an diesem Krieg beteiligt sind, nicht zu gut, um ernsthaft sein baldiges Ende herbeizuwünschen? Es kostet viel weniger Geld, Druck auf alle Parteien auszuüben, damit der Friedensprozess beschleunigt wird, statt einen Krieg zu führen. Doch: Für den Frieden in der demokratischen Republik Kongo führt kein Weg an diesem Dialog vorbei. Der Eindruck verstärkt sich leider, dass die Option derjenigen, die die Welt regieren, die Militarisierung bleibt. Der glücklicherweise gescheiterte Versuch des belgischen Außenministers Louis Michel, im Vorfeld mit den Kriegsparteien die Entscheidungen des innerkongolesischen Dialogs vorwegzunehmen, ging offensichtlich in diese Richtung. Ihm wird unterstellt, dass er unbedingt wolle, dass der junge Kabila legitimiert würde. Und wenn es trotzdem zu einer Demokratisierung des Landes kommen sollte, dann wünschen sich die Weltmächte, dass dies unter Ausschluss derjenigen geschieht, die für den Kongo den Übergang vollziehen könnten: Vom Werkzeug zum Partner. Will die Kirche dieses verhindern, dann soll sie sich stärker einmischen. Umso besser werden ihre Außerungen zu Fragen der Moral bei der Bevölkerung ankommen.
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"DAS EVANGELIUM NICHT PREDIGEN, SONDERN ES LEBEN ... "DAS HAUS GNADE, HAlFA, UND DER DIALOG DES LEBENS DIRK BIESTMANN-KOTrE Der Weise rühme sich nicht seiner Weisheit, der Starke rühme sich nicht seiner Stärke, der Reiche rühme sich nicht seines Reichtums. Nein, wer sich rühmen will, rühme sich dessen, dass er Einsicht hat und mich erkennt, dass er weiß: Ich, der Herr, bin es, der auf der Erde Gnade, Recht und Gerechtigkeit schafft. Jer 9, 22f.
Abu]amal ist gestorben Am Pfingstsonntag des Jahres 2000 verstarb nach langer, schwerer Krankheit im Alter von 46 Jahren Kamil Shehade-Bieger. Abu J amal, so wurde der Verstorbene von vielen genannt, war Israeli, Palästinenser, griechischkatholischer Christ und Gründer und Direktor des Sozialpro;ektes Haus Gnade/ Beil Na'ami in Haifa. Seiner Bestattung wohnten tausende von Menschen aus Israel, Palästina und dem Ausland bei. Israelis betrauerten ihn genauso wie Palästinenser; Juden genauso wie Christen und Muslime; Angehörige der Christenheit des Heiligen Landes und Christen aus Westeuropa begleiteten Abu Jamal auf seinem letztem Weg. Kamil Shehade-Bieger war keine bedeutende politische Figur und kein hoher Amts- und Würdenträger. Obgleich kein maßgeblicher Theologe im akademischen und kein Priester im formal kirchenrechtlichen Sinne, war Abu Jamals Leben dem Bemühen gewidmet, nicht mehr und nicht weniger zu sein als ein wahrhaftiger Diener Gottes.
Die Entstehung des Soiialprojekts Kamil Wadia Shehade wurde 1954 in Haifa geboren. Seine Eltern waren christliche Palästinenser mit israelischem Pass. Er besuchte die Schule der französischen Schwestern von Nazareth und erlernte den Beruf eines Malers und Konstrukteurs. Als er 16 Jahre alt war, gründete er eine Jugendgruppe, die sich der Sorge und Pflege in Not geratener Menschen verschrieb. Ende der siebziger Jahre besuchte Kamil Shehade die Schweiz. Dort lernte er Ag-
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nes Bieger kennen. Sie wurden ein Paar und heirateten im Sommer 1981. In Haifa bezogen sie eine Wohnung. Nach zwei Wochen nahmen sie zum ersten Mal einen auf Bewährung endassenen Strafgefangenen bei sich auf. Bald folgte darauf der zweite. In dessen Folge richteten sich weitere Anfragen und Bitten um Unterschlupf an Kamil und Agnes Shehade-Bieger. Schon bald erwies sich die Wohnung als zu klein. Von Kamils Shehades Elternhaus aus kann man noch heute direkt auf das Anwesen und den Bau der alten griechisch-katholischen Erzbischofskathedrale von Haifa blicken. Anfang der achtziger Jahre siechte sie - mitten im Hafengebiet Haifas gelegen - verlassen und verwahrlost ihrem völligen Verfall entgegen. Schon lange hatte Kamil Shehade " [...] mit dem Gedanken geliebäugelt, dieses seit 1948 verlassene Bischofsund Schulgebäude für die Arbeit mit Strafgefangenen zu restaurieren.· Mit einigen Bedenken willigte der [damals] neue Bischof Maximos Salloum ein, dieses Pionierwerk im Vertrauen auf Karnil zu wagen, ohne jedoch dafür die nötigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen zu können. ,,1 Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Schweiz und der tatkräftigen Unterstützung von Familienangehörigen, Nachbarn und Freunden, begannen die Shehade-Biegers im Januar 1982 mit der Renovierung der Bischofskirche und der zu ihr gehörenden Gebäude. Elf Monate später war es soweit: Am 8. Dezember, dem Fest der Jungfrau Maria, wurde das Sozialprojekt Haus Gnade und mit ihm die alte Erzbischofskirche "Unserer Lieben Frau" von Erzbischof Maximos feierlich eingeweiht.
Ein Werk der Liebe Was sich bereits vor der Eröffnung von Haus Gnade - mit der Aufnahme zweier Strafgefangener in die kleine Wohnung - abgezeichnet hatte, setzte sich fort und nahm in kurzer Zeit immer größere Ausmaße an. "Immer mehr Hilfsbedürftige fanden Einlaß in dieses sehr junge Sozialwerk: primär auf Bewährung entlassene Strafgefangene, aber auch Drogensüchtige, Alkoholiker und Tramps [...], ledige Mütter mit ihren Babys und Kindern, Obdachlose, Familien in ausweglosen Situationen [...], es
I BIEGER, Thomas: Aus der Geschichte des Haus Gnade, in: ZIMMER-WINKEL, Rainer (Hg.) BIESTMANN-KOlTE, Dirk (Red.): Christentum in Galiläa. Das Beispiel des ,Haus Gnade' in Haifa. Trier 2001, S.28-33; S.29. [weiterhin: BIEGER: Aus der Geschichte des Haus Gnade]
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herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. Das Haus glich einem Taubenschlag inmitten von sozialen, ökonomischen und kulturellen Umbrüchen."2 Es gehört zum Geist des Haus Gnade, dass jedem, der anklopft, geöffnet wird. Niemand wird abgewiesen oder hat je erfahren müssen, dass sich Kamil und Agnes Shehade-Bieger etwa "nicht zuständig" fühlten oder dass einer auf Grund seines Status' in der Gesellschaft, wegen seines Aussehens, seiner Nationalität oder um seiner politischen oder religiösen Überzeugung willen abgewiesen oder zum Verlassen des Hauses bewegt wurde. Zur großen Tischund Wohngemeinschaft gehören neben den Mitgliedern der Familie ShehadeBieger Hilfsbedürftige, in Not Geratene, aber auch Mitarbeiter, Volontäre und Besucher aus dem Ausland - Juden, Christen und Muslime, jüdische Israelis, israelische Palästinenser, Einwanderer aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Christen aus dem westlichen Ausland, Christen des Heiligen Landes usw. Kamil und Agnes Shehade-Bieger haben ihre Arbeit mit den Armen und Marginalisierten der israelischen Gesellschaft immer als ein Werk der IJebe verstariden. Ihr Handeln - ein schöpferischer Akt der Liebe, aus dem wiederum Liebe hervorgehen soll - basiert zum einem auf einem tiefen Glauben an die Kraft des Evangeliums, zum anderen auf ihrer Liebe zueinander. Beides der universelle Heilswillen Gottes und das enge Verhältnis von Kamil und Agnes Shahede-Bieger zueinander - haben deren soziales Handeln zu einer Praxis im Zeichen der Anerkennung des Anderen reifen lassen. . ,,Als ich noch jung war, habe ich mir vorgestellt, daß eins zu sein bedeutet, gleich zu sein. Im Zusammenleben mit Kamil habe ich aber gemerkt, daß dies nicht möglich ist. Im Gegenteil: Es ist gerade die Andersartigkeit, die vereint. Durch sie erfassen wir die Vielfalt von Gottes Schöpfung. Durch die Liebe wird uns die Einsicht geschenkt, daß die Annahme des Anderen in seiner Andersartigkeit möglich ist, die dann zu einer Bereicherung und zu einem Segen für das gemeinsame Leben wird. ,,3
Haus Gnade wurde gegründet und lebt seither nach der Vorgabe, das Antlitz Gottes in jedem Menschen aufscheinen zu lassen. Beheimatet in einer kirchlichen Tradition, der die Ikone zum zentralen theologischen Symbol gereicht,
BIEGER: Aus der Geschichte des Haus Gnade, 8.30. 8HEHADE-BIEGER, Agnes: Den Anderen anerkennen, in: ZIMMER-WINKEL, Rainer (Hg.) BIESTMANN-KOTfE, Dirk (Red.): Christentum in Galiläa. Das Beispiel des ,Haus Gnade' in HaiFa, Trier 2001, 8.48ff; 8.48. 2 J
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verstand sich der griechisch-katholische Christ Kamil Shehade-Bieger als ein Diener Gottes im Menschen. Wie eine auf Holz geschriebene Ikone "kein allein ästhetisches Vergnügen" darstellen soll, sondern das inkarnierte Heil, den "Abglanz des Ewigen auf das Irdische", aufscheinen lässt, so geht es auch bei jenem Beistand, der den Menschen in Haus Gnade zuteil wird, - bei der Anerkennung des Anderen in seiner Andersartigkeit - nicht um das Spenden von Almosen. 4 Haus Gnade steht vielmehr für den Versuch, allen Menschen in ihrer jeweils eigenen Lebenssituation die einschließende Liebe Gottes zu vergegenwärtigen und erfahrbar zu machen. Das Leben Kamil Shehades stand immer im Zeichen eines Evangeliums) das nicht gepredigt, sondern gelebt werden will. Es ging ihm dabei nicht um Proselytismus oder um die Missionierung anderer, sondern darum, für den Nächsten da zu sein; Heimat zu sein für jeden, der anklopft - ohne Unterschied, wer immer es auch sei.
Aus der konkreten Arbeit Solch versöhnende Praxis bleibt in einer Region wie Israel-Palästina und angesichts der Situation, die dort vorherrscht, nicht ohne Brisanz, spielt doch bei der in Haus Gnade Tag für Tag gelebten Praxis die Koexistenz und Versöhnung von jüdischen Israelis und Palästinensern eine ebenso große Rolle wie die Verwirklichung eines Dialogs zwischen Juden, Christen und Muslimen - eines Dialogs, der seinen Ort im konkret erfahrbaren und erfahrenen Alltag der Menschen hat, und so weniger ein Dialog der Institutionen und Fachkonferenzen, als ein Dialog des Lebens ist. Auf zwei Ebenen hat sich die in Haus Gnade verrichtete Arbeit als wirksam erwiesen. Zum einen dient Haus Gnade vielen Menschen als Unterschlupf Außer Strafgefangenen sind es mittlerweile auch u.a. Wohnungslose, die für einen befristeten Zeitraum Quartier und Nahrung erhalten. Den Betreuten soll im Zuge ihres Aufenthaltes die Möglichkeit zu einem neuen Anfang, zu einem perspektivenreicheren Leben in Selbständigkeit gegeben werden. Haus Gnade hilft bei der Arbeits- und Wohnungssuche. Es bietet Hilfe und Anleitung, soll selbst jedoch nicht mehr als eine Durchgangsstation sein.
Vgl. ZIMMER-WINKEL, Rainer: Christus ist unsere Versöhnung. Informationsblatt zur PaxChristi-Ikone, Bad Vilbel- Berlin 2000. Vgl. auch: DERIEV, Alexander: How to Write leons - Secrets and Formulas of the Holy Art. Foreword by Ulf Abel. Epilogue by Kirsten S. Pedersen, Trier 2001. 4
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Zum anderen steht das Projekt allen Menschen offen, die Rat suchen und der Hilfe, sei es finanzieller, materieller oder auch ideell-moralischer Art, bedürfen. Haus Gnade fungiert hier als Beratungsstelle und Hilfswerk. Beratung bei Eheproblemen, in der Kindererziehung und in Sachen staatlicher Unterstützung wird ebenso geleistet, wie die direkte Unterstützung notleidender Einzelpersonen und Familien. Im Laufe der Jahre hat sich so ein ständiger Kontakt zwischen Haus Gnade und den Versorgungs organen und Sozialstellen des Staates Israel entwickelt. Im Folgenden ein kurzer Überblick über Aktivitäten und Dienste, die im Laufe der Jahre seit der Gründung der Einrichtung geleistet worden sind:
Betreuung und Rehabilitation von palästinensischen undJüdischen Strafgefangenen Schon vor der Gründung von Haus Gnade hatte Kamil Shehade-Bieger als ehrenamtlicher Sozialarbeiter in israelischen Gefängnissen gearbeitet. Noch 1984 verbrachte er drei bis vier Vormittage in der Woche in Haftanstalten. Er war der erste und zu der Zeit einzige Palästinenser, der freien Zutritt genoss und mit den zuständigen Organen des israelischen Staates zusammenarbeitete. Dabei beschränkte er sich nicht auf die Betreuung ausschließlich palästinensischer Gefangener. Im Rahmen der Tätigkeiten von Haus Gnade haben es sich neben Kamil ein Kriminologe und ein Psychologe zur Aufgabe gemacht, jährlich bis zu 500 Besuche bei Strafgefangenen durchzuführen, gegebenenfalls ihre Aufnahme in Haus Gnade zu erwirken und zu koordinieren bzw. denen, deren Haftentlassung unmittelbar bevorsteht, bei der Rückkehr ins Leben außerhalb von Gefängnismauern und Stacheldraht behilflich zu sein.
Betreuung von hi!fsbedüiftigen Hausbewohnern Kamil Shehade-Bieger hat immer großen Wert darauf gelegt, dass die zu betreuenden Bewohner zu verschiedenen aktiven Tätigkeiten angehalten werden. Dazu gehören manuelle Arbeiten wie die Reinigung der Zimmer und Wohnräume, die Reparatur von Haushaltsgegenständen, das Ausbessern von gebrauchten Möbeln, das Sortieren von Kleidungsstücken in der hauseigenen Kleiderkammer. Darüber hinaus erhalten die Betreuten Unterricht in verschiedenen Fremdsprachen oder in Buchhaltung. Regelmäßig finden in Haus Gnade öffentliche Seminarkurse und Tagungen, Vorträge und Diskussionsveranstaltungen statt, zu denen die Bewohner des Hauses eingeladen werden.
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Die Offenheit und der Elan, die von Anfang an ein besonderes Kennzeichen von Haus Gnade und seiner BetreiberInnen waren, soll sich auch auf jene übertragen, die um Unterschlupf und Hilfe bitten.
Unterstützung von Armen und Bedürftigen und ihren Familien Täglich klopfen Bedürftige, Mütter mit unehelichen Kindern und ganze Familien in großer Not an die Tür von Haus Gnade. Deren Grundbedürfnisse zu befriedigen, ist zunächst einmal das Ausgangsziel: Nahrung, Kleidung und Medikamente müssen bereitgestellt, Miet- und Wohnkosten mitgetragen, ärztliche, soziale und juristische Betreuung geleistet werden. Die akutesten Probleme vor allem palästinensischer Familien in Israel sind zumeist sozialer Natur: "Die meisten Familienprobleme entstehen durch mangelndes Einkommen und dessen Folgen. In vielen Familien lebt nur noch ein Elternteil (oder ist fähig, die Verantwortung zu übernehmen). Körperliche Krankheit, Todesfall, Auswanderung oder Scheidung verunmöglichen die große Kinderzahl. ,,5 Zur Realität dieser Familien gehört zudem, dass " [...] 30% aller über 35jährigen Frauen [...] nicht verheiratet [sind], da sehr viele Männer das Land verlassen, um anderswo eine neue Existenz aufzubauen."6 1997 lebten allein in Israel 738.000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Die seit den achtziger Jahren andauernde Einwanderungswelle von Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion hat nicht wenig zur weiteren Verschärfung der sozialen Situation besonders arabischer Israelis beigetragen. Weil jüdische Israelis bei der Vergabe von Arbeitsplätzen vonseiten des Staates bevorzugt werden, bleiben arabischen Israelis oft nur schlecht bezahlte und wenig karriereträchtige Jobs und Anstellungen. Kamil Shehade hat es selbst oft genug erfahren müssen: Sozial- und Arbeitsämter finden auch heute ~ SCHULER, Alois: Wo Gnade konkret erfahrbar wird, in: NZN, 20.12.1997.
[weiterhin: SCHULER: Wo Gnade konkret erfahrbar wird] SCHULER: Wo Gnade konkret erfahrbar wird. Die anhaltende Emigration vor allem christlicher Familien stellt gerade im Hinblick auf die Frage nach einer Zukunft der indigenen Kirche des Heiligen Landes ein ernstes Problem dar. Vgl. dazu: MUSSALLAM, Adnan: Christian Arab Emigration and the Land, in: AI-Uqa' Journal (1996) 6, S.l 05-1 09, sowie SABELLA, Bernard: Prome of the Christian Communities: Challenges and Hopes, in: ATEEK, Naim - DUAYBIS, Cedar - SCHRADER, Marla (Hgg.): Jerusalem: What Makes for Peacel A Palestinian Christian Contribution to Peacemaking, London - J erusalem 1997, S.132-140. 6
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noch immer wieder vermeintlich triftige Gründe, die verschiedenen Menschen innerhalb der israelischen Gesellschaft unterschiedlich zu behandeln. "Israels Araber leben inmitten ihrer früheren Heimat als diskriminierte Minderheit. Die so genannten arabischen Israelis oder israelischen Araber sind Nachkommen der etwa 160.000 Palästinenser, die nach dem Krieg von 1948 in Israel geblieben waren. Für sie gab es die Alternative, entweder das Land zu verlassen oder eine Form der Existenz zu suchen, die ihre nationalen und zivilen Rechte als arabische Bürger Israels langfristig sichern könnte. Allerdings hat sich in Israel bis heute offiziell keine Definition des Staatsvolks herausgebildet, die Araber und Juden im Innern als vollkommen gleichwertig begreift. ,,7
Bis heute ist Israel ein Staat und ein Staatswesen ohne feste Grenzen geblieben. Seit 1948 hat sich zudem keine israelische Regierung bereit gefunden, Israel als Staat all seiner Bürger zu deklarieren. Der Wunsch nach Bewahrung des so genannten "jüdischen Charakters" und der Etablierung Israels als exklusiv jüdischen Staat steht über der Verwirklichung von Demokratie und Chancengleichheit für alle. "Ungeachtet der historischen Ursachen hinter dieser Realität ist sie schlicht und einfach unvereinbar mit einem grundsätzlichen Erfordernis der Demokratie - der Existenz eines demos. "8 Die Menschen in ihren Nöten auf- und ernstzunehmen, sie anzuhören und ihnen ein Bewusstsein zu vermitteln, etwas gegen ihre Situation zu unternehmen - auch dies gehört zu jener Art von Familienpastoral, wie sie in Haus Gnade betrieben wird. Ziel ist es, jeden Menschen fähig und frei zu machen, damit er oder sie sich als geliebtes und von Gott unbedingt erwünschtes Geschöpf mit ganz eigenen Neigungen, Fähigkeiten und Möglichkeiten erfahren kann. Darüber hinaus soll ein neuer Kontakt zwischen dem Betroffenen und jener Gesellschaft hergestellt werden, aus der er sich verstoßen fühlt. Vonseiten des Haus Gnade findet er Unterstützung und Ermutigung bei seiner Rückkehr in den Alltag und bei der Bewältigung anfallender Probleme, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Bekämpfung der eigenen Drogen- oder Alkoholsucht.
RIES, Matthias: Die palästinensische Minderheit in Israel, in: ZIMMER-WINKEL, RAINER (Hg.) BIESTMANN-KOTIE, Dirk (Red.): Christentum in Galiläa. Das Beispiel des ,Haus Gnade' in Haifa, Trier 2001, S.13ff.; S.13. 8 Yiftachel, Oren: Demokratie oder Ethnokratie: Territorium und Siedlerpolitik in Israel/ Palästina, in: Marxistische Blätter Special: Israel, die Palästinenser und wir. Essen 2001, S.32-39; S.35. V gl. auch BISHARA, Azmi: Ein Staat für alle seine Bürger, in: PAX CHRISTI - DEUTSCHES SEKRETARIAT (Hg.): Naher Osten - Ferner Frieden? Idstein 1997, S.43ff. 7
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Arbeit mitjungen Leuten und Studierenden 1990 schlossen die Universität Haifa und Haus Gnade ein Abkommen: Studierenden an der Pädagogischen Fakultät sollte die Möglichkeit gegeben werden, Praktika in Haus Gnade abzuleisten. Fortan waren zahlreiche Studierende über verschieden lange Zeiträume im Sozialprojekt als freiwillige MitarbeiterInnen tätig. Aus der Mitarbeit junger Menschen ergab sich für Haus Gnade noch ein weiteres Betätigungsfeld: die Unterstützung bedürftiger Studierender und ihrer Familien. Schon im Zuge der Familienpastoral hatte man einkommensschwache Eltern und Alleinerziehende unterstützt, damit sie das Schulgeld für die eigenen Kinder aufbringen konnten. Nun sponsorte man auch die akademische Ausbildung vorwiegend junger Palästinenser mit Stipendien, damit diese Universitäten in Israel oder im Ausland besuchen konnten. Neben der Verbesserung der Aussichten junger Menschen aus einkommensschwachen Familien auf dem Arbeitsmarkt und der Anhebung des Bildungsniveaus, gerade auch bei jungen Palästinensern, sind die Kooperation mit der Universität Haifa, die Bereitstellung von Praktikumsplätzen, wie auch die direkte Unterstützung von Studierenden durch Haus Gnade immer auch dem Ziel geschuldet, mittel- bis langfristig neue und kompetente MitarbeiterInnen an sich zu binden - sei es als externe Kontaktpersonen, sei es als Teil des Hauspersonals.
Aspekte einer Friedens- und Dialogpastoral in Haus Gnade Kamil Shehade-Bieger war sich nur zu bewusst, dass das von ihm und seiner Frau ins Leben gerufene Sozialwerk inmitten einer geradezu feindseligen Umwelt und einem rauen Klima geboren war und überleben musste. Schon der Standort des Haus Gnade spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. Bis nach Haifa zu gelangen ist ein Leichtes, aber man muss schon sehr geduldig und ausdauernd suchen - dies mitunter stundenlang - bis man inmitten einer Landschaft aus immer neue ren Bankhäusern, Büros aus Beton und Stahl und Glas endlich bis zum Eingangsbereich des Sozialprojektes vorgedrungen ist. Jener Teil Haifas, der bis 1948 ökonomischer und kultureller Mittelpunkt arabischen Lebens in GaWäa war, ist im Laufe der Zeit bis aufs Kläglichste heruntergekommen, und was an alten verlassenen Gebäuden abgerissen wurde, ist im Laufe der Zeit durch die Fassade eines hochmodernen europäischen Verwaltungs- und Wirtschafts standortes ersetzt worden. ,,Am 21. und 22. April 1948 eroberte die Haganah die Stadt, eine jener mythenumwobenen Untergrundbewegungen der späten vorstaatlichen Phase
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des zionistischen Besiedlungsprojekts. Von den ursprünglich 80.000 arabisch-palästinensischen Einwohnern blieben nur etwa 3000 bis 4000. Heute ist Haifa mit 280.000 Einwohnern die drittgrößte Stadt in Israel. Der arabisch:-palästinensische Bevölkerungsanteil beläuft sich auf etwa 16 Prozent."9 Kaum besser ist es um den Zustand der einheimischen Kirche bestellt. Allein ,,[...] zur melkitischen Gemeinde hatten einst fünf Kirchen mit insgesamt 22 Priestern gehört. Heute gibt es nur noch eine Kirche und drei Priester. "10 In ganz GaWäa - dem Norden Israels - leben heute - die Gebiete Haifas und des seit 1967 israelisch besetzten Golan-Gebirges mit eingerechnet - zwischen 83.000 und 90.000 Christen. Ist die Lage palästinensischer Christen auf Grund verschiedener soziologischer, gesellschaftlicher wie auch politischer Faktoren prekärer denn je,ll so scheint die Situation der Christen GaWäas in einem kaum besseren Licht: "Unsere Kirche ist die am meisten vernachlässigte auf der ganzen Erde! [...] Für die arabischen Länder existieren wir nicht, für die Juden sind wir Palästinenser, für Europa gehören wir nicht zu den Drittweltländern, und die Christen im Westen sind an den historischen Stätten mehr interessiertals an den Urchristen, die Geschichte machen."12 GaWäische Christen leiten einen beträchtlichen Teil ihres Selbstverständnisses aus der Tatsache ab, Erben und Bewohner der Heimat des historischen Jesus von Nazareth zu sein. Als regionale Nachfahren der ersten Empfangenden der Botschaft J esu verbindet gaWäische Christen mit ihrer Heimat mehr als Sentimentalität und Romantik. GaWäische Christen sehen sich selbst als unmittelbaren Teil christlicher Heilstradition, als Mit-Verwaltende des urchristlichen Erbes im Heiligen Land; eines Erbes, das noch vor der Gründung der Jerusalemer Urgemeinde seinen historischen 'Anfang nahm: In der Person J ~sus von N azareth selbst. Boulos Marcuzzo, lateinischer Bischof von
BIEGER: Aus der Geschichte des Haus Gnade, S.29. BIEGER: Aus der Geschichte des Haus Gnade, S.29. 11 Vgl. u.a. ATEEK, Naim: Recht, nichts als Recht! Entwurf einet palästinensisch-christlichen Theologie, Freiburg im Breisgau 1990. BECHMANN, Ulrike - RAHEB, Mitri (Hgg.): Verwurzelt im Heiligen Land. Einführung in das palästinensische Christentum, Frankfurt am Main 1995. GRÄBE, Uwe: Kontextuelle palästinensische Theologie. Streitbare und umstrittene Beiträge zum ökumenischen und interreligiösen Gespräch, Heidelberg - Erlangen 1999. Ri\HEB, Mitri: Ich bin Christ und Palästinenser. Israel, seine Nachbarn und die Bibel, Gütersloh 21995. 12 So die karmelitische Schulleiterin Sr. Albertina, zitiert nach: BIEGER, Thomas: Präsidialbericht 1996/97 des Schweizerischen Heillgland-Vereins, Wesemlinstr. 2, CH-6006 Luzern 6. 9
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Nazareth, bringt es auf die Formel: "Kirche des Heiligen Landes, Kirche von GaWäa, Kirche J esu Christi. "13 Der Einsatz Kamil Shehades für Versöhnung und Ausgleich zwischen den Volksgruppen und Religionen in Israel ist neben dem Anspruch, selbst Ansprechpartner zu sein für alle Menschen - gleich welcher Ethnie oder welchen Glaubens - , auch ein deutliches Signal im Hinblick auf den Präsenzanspruch israelischer Araber und darüber hinaus arabisch-palästinensischer Christen im Staate Israel. Auf Dauer wird es sich der Staat Israel nicht leisten können, sich der Realität seiner eigenen multi-ethnischen Gesellschaft zu verschließen. Auch wird es der Weltkirehe nicht erspart bleiben, sich ihrer eigenen urkirchenhistorischen Wurzeln im Heiligen Land stärker bewusst zu werden. Oft genug stießen Kamil und Agnes Shehade-Bieger auf die Voreingenommenheit und Ignoranz so genannter "westlicher" Christen, die das Heilige Land offenbar nur besuchen, um, wenn es denn um Zeugnisse christlicher Präsenz und Provenienz geht, archäologische Stätten zu besichtigen und in christlichen Hospizen zu übernachten, die von europäischen und nordamerikanischen Missionaren zur Zeit des Kolonialismus errichtet worden sind. "Es ist nicht Gottes Wille, daß Ihr [die Christen des nordatlantischen Westens] bei uns Spitäler, Kliniken und Schulen baut und wir dann Eure Diener sein und Euren Müll beseitigen müssen. Ihr seid Gäste in meinem Haus, aber Ihr könnt nicht über mich bestimmen!"14
Die in Haus Gnade geleistete Arbeit hat im Laufe der Jahre auf Grund der gewachsenen Aufmerksamkeit, die in der israelischen und zunehmend auch internationalen Öffentlichkeit gewonnen werden konnte, dazu beigetragen, dass im ökumenischen Konzert der Religionen und Traditionen nun auch die Stimme der einheimischen Kirche GaWäas zumindest vernommen werden kann. Doch auch die Interessen der palästinensischen Bevölkerung innerhalb Israels, deren Situation sich ja erheblich von der ihrer Landsleute etwa in der Westbank oder im Gazastreifen unterscheidet, müssen im Zuge des zähen Ringens um eine friedliche Zukunft für alle Menschen in Israel-Palästina stärker berücksichtigt werden. Wie eng das Ringen um Verständigung und die Bereitschaft zum Dialog im Sozialprojekt Haus Gnade verbunden ist mit dem Kampf des galiläischen \J MARCUZZO, Boulos: The Importance of Jerusalem to the Christians of Galilee, in: ATEEK, Naim - DUAYBIS, Cedar - SCHRADER, Marla (Hgg.): Jerusalem: What Makes for Peacel A Palestinian Christian Contribution to Peacemaking, London - Jerusalem 1997, S.221-225; S.221. 14 Zitiert nach: BIEGER: Aus der Geschichte des Haus Gnade, S.31.
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Christen Shehade-Bieger, seiner marginalisierten Volksgruppe und Kirche in Israel eine Stimme zu verleihen, zeigt ein Blick auf konkrete Aktivitäten, die Haus Gnade in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Friedens- und Dialogarbeit initiierte: • Durchführung von Demonstrationen und Protestmärschen, sowie Verfassen von Protestbriefen an die israelische Regierung und andere Politiker; • Organisation und Durchführung von Tagungen und Vortragsveranstaltungen zu friedenspädagogischen und -politischen Themen; • Beteiligung an Publikationen zum Thema Gewaltfreiheit und gewaltfreie Lösung von Konflikten; • Organsisation und Durchführung von gemeinsamen Aktionen von jüdischen und palästinensischen Israelis; • Besuche bei palästinensischen Familien, deren Haus von israelischen "Sicherheitskräften" zerstört oder deren Boden durch den israelischen Staat enteignet wurde; • Neuanpflanzungen von entwurzelten Olivenbäumen; • Kontakte zu Palästinensern in der Westbank und im Gazastreifen; regelmäßige Hilfstransporte in Flüchtlingslager und abgesperrte Dörfer; • Zusammenarbeit mit hiesigen und internationalen Friedens- und Menschenrechtsorganisationen, z.B. Amnesty International, International Fellowship of Reconciliation, einem Netzwerk für gewaltlose Konfliktlösungsstrategien, Rabbis for Human Hights. Als wie wichtig sich die in Haus Gnade geleistete Arbeit im Hinblick auf einen Dialog des Lebens erweist, zeigt ein letzter Blick auf das Alltagsleben im Sozialprojekt: Beispielsweise finden an Hochfesten und Feiertagen von Juden, Christen und Muslimen gemeinsame Feiern statt, zu denen alle Hausbewohner, Mitarbeiter und Familienangehörige eingeladen werden. Darüber hinaus wird dem Leben jedes einzelnen Mitglied der großen und sich oft verändernden Tischgemeinschaft in Haus Gnade besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Geburtstage werden miteinander gefeiert, Todesfälle gemeinsam betrauert. Es wird deutlich, dass es bei einem Dialog des alltäglich gelebten Lebens letztlich nicht nur darauf ankommen kann, diesen Dialog theologisch auszudeuten und ihn im Zuge von sporadisch anberaumten, wie auch immer ökumenischen, Fachkonferenzen zu beschwören, ihn also in ein institutionelles Korsett zu kleiden und zu sterilisieren. Der Dialog des Lebens bedarf keiner Institutionalisierung, damit ihm Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit zuteil werde. Umgekehrt jedoch täte es so manchem von Gelehrten wie von Politikern geführten hochbedeutsamen Dialog sicherlich gut, wenn der Erfahrungswelt des menschlichen Alltags mehr Bedeutung zugemessen würde.
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Diese Reihenfolge einzuhalten - das heißt sich des vielfältig und täglich sich erneuernden Dialog des Lebens als Vorbild für die uns beweg~nden Dialogprojekte in Weltkirche und Einer-Welt-Gesellschaft zu vergewissern- ist einer der Ansatzpunkte, die sich aus dem Beispiel des Haus Gnade auch für jede Theologie, die der Ökumene und dem Dialog verpflichtet sein soll, ergeben.
Haus Gnade ist ein Ort des alltäglichen Miteinanderlebens geworden. Verbringt man dort nur kurze Zeit als Gast, gewöhnt man sich schnell - allzu schnell - an eine Tisch- und Wohngemeinschaft von Juden, Christen und Muslimen, westlichen und arabischen Christen, die doch nach wie vor eine Besonderheit darstellt. Als Ergebnis der Geschichte eines seit über hundert Jahren andauernden Konfliktes sind beide Seiten, Juden und Palästinenser, immer mehr brutalisiert und beiden Gesellschaften schwerste Schäden zufügt worden. Glauben auf der einen Seite islamistisch-fundamentalische Gruppierungen und ihre Führer, den Koran zur Rechtfertigung von Selbstmordattentaten auf Zivilisten heranziehen zu können, um so die eigene Resignation und Ohnmacht zu übertünchen, versuchen auf der anderen Seite nationalistische Kreise und ihre vermeintlich "israelfreundlichen" Sympathisanten, die Besetzung von Westbank und Gazastreifen, den völkerrechtswidrigen Bau von Siedlungen und den zwangsweisen "Transfer" von Palästinensern in andere arabische Staaten mit der Bibel rechtfertigen zu können. Die Rolle der Religion in diesem seit über hundert Jahren andauernden Territorialkonflikt scheint festgeschrieben. 15 Das Beispiel des Haus Gnade bleibt eine Ausnahme. Das Projekt führt ein Inseldasein, buchstäblich wie auch im übertragenen Sinne. Inmitten einer Umwelt, in der Demokratie und Modernität als Fassade für gesellschaftliche Ächtung und politische Unterdrückung herhalten, hat sich eine Tisch- und Wohngemeinschaft zusammengefunden, die bewerkstelligt, was kein Staat der Welt aus sich heraus vermag: Sie rettet Leben. In ihr scheint die einzig wahre und mögliche Zukunft auf: eine Zukunft, vor der sich niemand zu fürchten braucht; eine Zukunft, auf die alle Menschen des Heiligen Landes hoffen können und dürfen; eine Zukunft, in der sich jeder angenommen und sicher fühlt, in der jeder den eigenen Glauben leben kann, ohne seinen andersgläubigen Nachbarn aus dessen Haus vertreiben bzw. ihn töten zu müssen.
15 Zur Problematik eines religiös motivierten Extremismus im Nahostkonflikt vgl. u.a. Höpp, Gerhard: Islam und Islamismus in der palästinensischen Nationalbewegung, in: Marxistische Blätter Specia~ S.60-68. KHOURY, Adel Theodor: Politische Ziele religiös verbrämt. Die Motive der militanten ,Gotteskrieger', in: Freiburger Rundbriefe (2002) 1, S.11-16. SHAHAK, Israel- MEZINSKY, Norton: Jewish Fundamentalism in Israel, Pluto Press 1999.
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Auch nach Abu Jamals Tod lebt Haus Gnade weiter. Dringetlder denn je ist es auf den Einsatz seiner Mitarbeiter, Freunde und Unterstützer angewiesen; und öfter denn je klopfen Hilfsbedürftige an die Eingangstür. Indes entstehen in unmittelbarer Nähe immer neue Bürotürme aus Beton und Glas. Angesichts der zur Zeit wieder einmal verheerenden politischen Verhältnisse im Lande hat sich auch an dem Inseldasein des Haus Gnade nicht geändert. Die Lage ist ernster denn je. Wie es momentan um die Zukunftsaussichten von Israel-Palästina bestellt ist, wird durch die schrittweise Zubetonierung des Sozialprojekts symbolisiert. Aber: Unter dem Pflaster ist der Strand
Das Haus Gnade, Haifa, und der Dialog des Lebens
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CHRISTEN UND MUSLIMEN: ZWEI BEISPIELE FÜR GELUNGENES ZUSAMMENLEBEN AUF DER IBERISCHEN HALBINSEL - VOR DER RECONQUISTA, IM MITTLEREN OSTEN - VOR DEN KREUZZÜGEN ULRICH SCHOEN 1
Themen
Dieser Beitrag soll von positiven Erfahrungen berichten. Hierfür müssen wir zunächst auf Vet;gangenes zurückgreifen. Leider. Denn das Heute und vielleicht auch das Morgen sind in dieser Hinsicht wenig rosig. Dieser Rückgriff hat aber auch sein Gutes. Denn Potentiale des Friedens, die verborgen in uns stecken und auf ihre Verwirklichung warten, werden dabei entdeckt. Von einer intelligent verwalteten Kollektiverinnerung können sie aufgezeigt und zur Aktivierung angeboten werden. Es geht hier um die christlich-islamischen Be~e hungen, um Absichten oder Nicht-Absichten von gegenseitiger Mission, um Erfolge und um Misserfolge. Es geht um zwei Weltdiirftr, nämlich die christliche Kirche und die islamischen U mma, um deren friedliches Miteinander oder kriegerisches Gegeneinander. Und es geht um Gewalt. Um alle Formen der Gewalt, bis hin zur Definitionsgewalt. Diese wird ja - oft unbewusst auch von Religionen ausgeübt. Wenn sie nämlich unbekümmert ihre Opfergaben darbringen, ohne zu bemerken, dass sie durch Falschaussagen, die sie über ihre Nachbarreligionen verbreiten, diese verletzt haben. Besser wäre eswie J esus sagt und wie es ähnlich in einem Prophetenspruch Muhammeds heißt - den Religionsbetrieb zeitweise einzustellen, um vorrangig das Verletzende zu berichtigen und sich um Aussöhnung zu kümmern.
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Gemeinsames
Inmitten der bunten Vielfalt der Religionen gehören Christentum und Islam zu ein und derselben Familie. Sie sind Schwesterreligionen. Auch wenn sie sich manchmal als feindliche Schwestern gebärden und ihre Ähnlichkeiten zu Unterschieden ummünzen. Die dritte Schwester, das Judentum, soll als solche hier nebenbei erwähnt, aber nicht vergessen werden. Diese drei Schwestern kommen aus der gleichen Region: dem Mittleren Osten. Sie stammen aus dem gleichen Sprachraum: dem semitischen. Sie beziehen sich auf religiöse Normen, die von Hause aus zur selben soziokulturellen Gesellschaftsstruktur gehören: nämlich zu der vom Patriarchat beherrschten. Besagte Schwestern
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trafen und treffen auch die gleichen theologischen Gmndentscheidungen. Hierzu vier Beispiele: o Die Zeit sehen sie als linear. o Das Jenseitige erleben sie als einen persönlichen Gott. o Der Bruch zwischen dem Diesseitigen und dem Jenseitigen - die Transzendenz - ist für sie radikal: Allaahu akbar! Gott ist größer! Deus semper maior! o Trotz aller Anfechtungen bleibt bei ihnen die Wirklichkeit Eine: auch angesichts des Bösen werden sie nicht zu Dualisten. Gemeinsam sind ihnen auch die Probleme (insbesondere diejenigen, die aus den genannten Grundoptionen entstehen). Zum Beispiel: o Wie kann der transzendente Gott in die Welt eingehen, sich inverbieren (=Wort werden), sich inkarnieren (= Fleisch werden)? o Wie können die Allmacht Gottes und die Freiheit des Menschen unter einen Hut gebracht werden? o Wie kann Gott gleichzeitig barmherzig und gerecht sein? o Wie kann die in der Vergangenheit erfolgte Offenbarung für heute aktualisiert werden? o Wie hängen Kirche und Staat bzw. Din und Daula zusammen? o Ist der Mensch mehr ein kollektives, oder mehr ein individuelles Wesen?
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Unterschiedliches
Die Unterschiede erwuchsen und erwachsen aus unterschiedlichen Schicksalen im Lauf der Geschichte. Drei Unterschiede sollen hier bedacht werden, zwei davon sind wesentlich und wegweisend, der dritte dagegen ist eher eingebildet (= "imagined difference"): • Konstitutiv für das Gründungsereignis des Christentums sind Misserfolg, Gewaldosigkeit und Formierung der Glaubensgemeinschaft in einem von fremdem öffentlichen Recht besetzten Raum • Im Islam folgt dieses Ereignis zunächst - in Mekka - ähnlichen Bahnen. Hinzu kommt jedoch - in Medina - der Erfolg und die Notwendigkeit, ei-. gengesetzlich Gemeinschaftsregelungen zu treffen. Denn im arabischen Zwischenraum besteht ein Machtvakuum zwischen den drei Großmächten Persien, Äthiopien und Byzanz. Wenn also für das Christentum die Abfolge von: "zuerst staatstragendes vorexilisches Altes Testament, dann staatsfreies Altes und Neues Testament" als normativ gilt, so ist im Islam die Reihenfolge der beiden Entsprechungen
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umgekehrt: zuerst die mekkanische Staatenlosigkeit, dann medinensische Staatlichkeit. Der Verlauf der Kirchengeschichte im Westen allerdings - die von einer kleinen Minderheit zur mächtigen Christenheit führt - wird dann wieder der islamischen Sequenz entsprechen. Ein wesentlicher Unterschied venPischt sich so und wird zur A·hnlichkeit. Was reichlichen Zündstoff liefert für Konkurrenz, Feindseligkeit und Gewalt (zu vergleichen wäre hiermit der teilweise Übergang des in Zerstreuung lebenden Judentums zur jüdischen Staatsform des heutigen Israel). Der ~eite kennzeichnende Unterschied ist die Nicht-Reziprozität der christlich-islamischen und der islamisch-christlichen Beziehung. Sie erwächst aus der zeitlichen Abfolge der Offenbarungsereignisse: • Der Islam ist eine nach-christliche Religion. Er ist die große Überraschung für das Christentum. Denn es darf von Gott nichts Neues mehr kommen nachdem in Christus die volle Wahrheit erschienen ist. Der Islam gerät von daher in die Kategorie "Häresie". Das heißt, er wurde (und wird) als etwas Satanisches betrachtet, dem die freche "Sünde wider den Heiligen Geist" zu Grunde liegt. Das traditionelle christlich-missionarische Projekt lautet deshalb: "Entweder diesen Satan austreiben oder die von ihm Besessenen dem höllischen Feuer überlassen". Da Ersteres fast immer erfolglos blieb, wurde Letzteres umso mehr praktiziert. • Für den Islam dagegen ist das Christentum eine Vorstufe, der man wohlwollend einen besonderen Status verleihen kann. Die man nicht zu missionieren braucht. Denn die Christen werden von selbst zur Einsicht gelangen, dass das Christentum der Erfüllung bedarf. Dennoch war der Islam im christlichen Bereich erstaunlich erfolgreich. Allerdings erst nach und nach, im Lauf von Jahrhunderten. Von daher konnte sich schließlich ein christliches Trauma ausbilden: "Der Islam beerbt und beraubt uns!" Auch hier beginnt sich der Unterschied in dem Maße zu verwischen, wie sich islamische Gruppierungen wie die Ahhmadiyya, beeinflusst von christlichen Missionsmethoden, direkt an Christen wenden. Demgegenüber ist der dritte Unterschied, der heute oft als wesentlich empfunden wird, von Haus aus kein Unterschied. Nämlich dass das Christentum etwas Westliches, der Islam dagegen etwas Orientalisches sei. Der viel zitierte Gegensatz zwischen "dem Westen" (genauer gesagt: dem Nord-Westen) und "dem Islam" hat mit der genuin christlich-islamischen Beziehung nichts zu tun! Wenn allerdings das Kreuzzugsdenken und -handeln a la George W.
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Bush und der Dschihadismus sich breit machen sollten, was die Existenz der christlichen Minderheiten im Haus des Islam und die von muslimischen Minderheiten im Westen zum Erliegen bringen könnte (vgl. hiermit die Gründung des Staates Israel und das fast vollständige Verschwinden der jüdischen Minderheiten aus der islamischen Welt), dann könnte dieser eingebildete Unterschied zu einem tatsächlichen werden. Zu einem Unterschied, den wir ernst nehmen müssten. So ähnlich wie den Rassenwahn, der Fronten aufgerissen hat, denen kein wirklicher Unterschied zu Grunde liegt.
Ursprünglich nämlich verlief die Ausbreitung des Islam - wie die des Christentums - in allen vier Himmelsrichtungen. So entstand zum Beispiel ein islamisches Abendland - mit Cordoba als Brennpunkt - , das in Konkurrenz trat zum islamischen Morgenland - mit Bagdad als Brennpunkt. Ein Antagonismus ähnlich dem zwischen Karl dem Großen und Byzanz. Erst nach dem christlichen Jahr Tausend - ungefähr - entstand ein Ungleichgewicht. Denn die Intensitäten des islamischen Brennpunkts im Westen und des christlichen Brennpunkts im Osten nahmen ab. Und zwar durch den Erfolg der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel und durch die misslungenen Kreuzzüge im Mittleren Osten, die als Reaktion eine verstärkte Islamisierung dieser Weltgegend nach sich zogen.
Später kam einerseits hinzu, dass westliche Missionen auf der ganzen Erde Kirchen vom westlichen Typ schufen und dabei die einheimischen orientalischen Kirchen schwächten, spalteten und deren Mitglieder abwarben. Andererseits verschaffte das nahezu gänzliche Verschwinden der (nestorianischen) "Kirche des Ostens dessen wahre Ursachen bisher ungeklärt sind - dem Islam in Asien Zuwachs. H
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Faift. Abgesehen von je einer Insel in Äthiopien und in Indien wurde so die Christenheit zu einer scheinbar westlich-mittelöstlichen Angelegenheit. Wobei zu bedenken ist, dass der Mittlere Osten und seine Kirchen, von Osten aus gesehen, auch etwas Westliches sind. Hinzu kommt, dass manche Kirchen selbst zur Schwächung oder gar zum Verschwinden der Christenheit in ihrem eigenen Land beitrugen. Indem sie nämlich der Versuchung erlagen, auf die Karte mächtiger, von außer kommender Feinde Zu setzen: • Um die muslimischen Landesherren von der Iberischen Halbinsel zu vertreiben und sich selbst an deren Stelle zu setzen, paktierten asturische Könige und Kirchenführer mit den Franken, was den Tod der einheimi-
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schen und gut "inkulturierten" (wie wir heute sagen würden) mozarabischen Kirche einleitete. • Christen in Nordwest-Afrika hatten sich in ähnlicher Weise zuerst mit den Byzantinern, dann mit den sizilianischen Normannen verbunden und damit den Zorn der Muslimen erweckt. • Im Mittleren Osten waren es Armenier und Maroniten, die mit den Kreuzfahrern gemeinsame Sache machten. Nestorianer kollaborierten damals mit den Mongolen: eine verhängnisvolle Entscheidung. Wichtig wird in diesem Zusammenhand der so genannte Gelbe Kreuzzug, den die Mongolen mit christlicher Unterstützung gegen Jerusalem unternahmen. Doch zurück zu der Zeit vor dem christlichen Jahr Tausend, in eine Zeit, in der von Verhärtungen, die aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt entstehen, noch wenig zu spüren war. Zuerst ein Blick ins damalige islamische Abendland, auf die Iberische Halbinsel, dann ein Blick in den Mittleren Osten, nach Armenien:
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Elipandus vom Toledo
Ab dem Jahr 711 - als Tarik bei Gibraltar landete - wurde innerhalb von nur wenigen Jahren fast die gesamte Iberische Halbinsel von den muslimischen Mauren in Besitz genommen. Es war wohl eher ein Regierungswechsel als eine Eroberung. Die christliche (und jüdische) Bevölkerung scheint diesen Wechsel gelassen hingenommen zu haben. So konnte sich eine Symbiose der drei Religionsgemeinschaften entwickeln. Die christliche Liturgie wurde ins Arabische übersetzt. Es entstand der "mozarabische", das heißt "arabisierte" Ritus. Elipandus, Erzbischof von Toledo und theologischer Denker, formulierte eine Christologie, die aus der mozarabischen Liturgie und offenbar auch aus dem Dialog mit dem Islam erwachsen war: In Übereinstimmung mit den altkirchlichen Konzilien lehrte er, dass Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Hierzu präzisierte er, dass Christus - das "Wort Gottes", "Gottes eingeborener Sohn" - seiner göttlichen Natur nach von Gott gezeugt, seiner menschlichen Natur nach jedoch Gottes Adoptivsohn ist. IstJesus doch, wie alle anderen Menschen auch, ein Geschöpf Gottes. Asturischen Christen aber, insbesondere dem Herrscherhaus westgotischen Ursprungs, das im äußersten Nordwesten der Iberischen Halbinsel außerhalb des muslimischen Machtbereichs einen christlichen Mini-Staat besaß, war der "Kompromiss", den die große Mehrheit der Christen im übrigen 1berien mit dem Islam eingegangen war, ein Dorn im Auge. Es gelang ihnen,
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Elipandus bei den Franken anzuschwärzen - bei den Erbfeinden der Iberer, deren Land die Franken seit je begehrten. Karl der Große, beraten von seinem angelsächsischen Hoftheologen Alkuin, setzte nun die Anti-KetzerMaschinerie in Gang: Elipandus wurde der altbekannten Häresie des "Adoptianismus" bezichtigt. Da dieser jedoch unter dem Schutz des islamischen Staates lebte, konnte er von Karl nicht belangt werden. Dieser ergriff dafür Felix, den Bischofvon Urgel, dessen Diözese im von den Franken besetzten Teil der Pyrenäen lag. Felix, der sich zu Elipandus hielt und sich zu dessen Lehre bekannte, starb in fränkischer Haft. Der Versuch, das was Christen von Christus glauben auf breiter und ökumenischer Basis in einer sinnvollen, auch für Muslimen verständlichen Form auszudrücken, war gescheitert. Der Koran bezeichnet ja Jesus als "Wort Gottes", betont aber gleichzeitig, dass er ganz und gar Mensch war. Im Islam ist Jesus der neue Adam. Seine jungfräuliche Geburt ist ein Schöpfungsakt, der Gottes kommende Welt einleitet. Die french connection des machthungrigen asturischen Herrscherhauses und die in Asturien entwickelte Pilger fahrt nach Santiago, zum Apostel Jakobus, dem matamorus (Maurentöter), wurden dann zu den Ausgangspunkten der Reconquista, die um das Jahr 1000 einsetzte. Die Kriege des Sultans Manssuur, besonders sein Raubzug nach Santiago kurz vor der Jahrtausendwende, wurden damals als Untaten des Antichrist verstanden Dass die Reconquista sofort nach 711 eingesetzt habe, ist eine pseudohistorische Projektion späterer Verhältnisse hinein in eine frühere Vergangenheit. In Wirklichkeit lagen zwischen der Landung Tariks in Gibraltar und dem Beginn der Reconquista drei Jahrhunderte einer relativ friedlichen islamisch-christlichen Koexistenz - wenn nicht Symbiose. Sie lässt sich durch Elipandus kennzeichnen, den christlichen Theologen, der sich vom Islam inspirieren ließ.
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Gregor von Narek
Das seit langem christliche Land Armenien war zweigeteilt: Ein Teil besaß eine relative Autonomie, zu der Byzanz seinen Segen erteilen musste. Der andere Teil praktizierte eine Autonomie von Bagdads Gnaden. Im zur islamischen Machtsphäre gehörigen Teil lebte um die Jahrtausendwende im Kloster Narek ein gelehrter Bischof, Gregor mit Namen, der außerdem ein begnadeter Dichter war: eine Art armenischer Paul Gerhardt. Von ihm sind einige wundeschöne "Oden" erhalten, die aus seiner Jugendzeit stammen. Haupt-
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werk aber ist sein berühmtes "Buch der Klagen": Angesichts des drohenden Jüngsten Tages tritt Gregor mit diesen Klagen vor Gott und spricht ihn auf seine Barmherzigkeit an, einzig und allein auf seine Barmherzigkeit. Denn wenn Gott seiner Gerechtigkeit folgen wolle, seien wir ohnehin alle verlorene Sünder. Auf diese Weise sucht Gregor das Endgericht überflüssig zu machen: ein kühnes Unternehmen! Zu diesem Zweck identifiziert sich Gregor mit Adam, das heißt mit der gesamten Menschheit - auch mit der vergangenen, die Christus ja bei seiner Höllenfahrt Tod und Teufel entrissen hat. Und J esus nachahmend nimmt Gregor die Sünden aller Menschen auf sich, indem er sich vor Gott für Missetaten anschwärzt, die er selbst nicht begangen hat. Was hier an Gregor besonders interessiert ist sein Offen-Sein für Einflüsse verschiedenster Art, auch für solche, die aus dem Bereich des Islam stammen. Selbstverständlich ruht Gregor, als gut armenischer Christ, mit seinem Standbein in der biblischen Tradition, der kanonischen und der außerkanonischen. Doch spielt bei ihm die armenische Volksdichtung"eine große Rolle, in die viel der vorchristlichen armenischen Religion eingegangen ist: Die armenische Christenheit ist ja ein Musterbeispiel für erfolgreich vollzogene Inkulturation. Hinzu kommen zoroastrische und manichäische Einflüsse, die sich besonders in Sündenbekenntnis und Bußpraxis bemerkbar machen. Versmaß und poetischer Stil aber weisen Züge auf, die aus der damals herrschenden arabischen und persischen Dichtung stammen. Die Art und Weise jedoch, sich der Sünden anderer zu bezichtigen und darauf zu hoffen, dass Gott einst die Hölle ausleeren werde, weil seine strafende Gerechtigkeit eine Sache des Diesseits, nicht aber des Jenseits ist, weist in Richtung der damals blühenden islamischen Mystik: Der in Träumen versunken durch die Straßen gehende Bistami hört - wie erzählt wird - die Polizei rufen: "Haltet den Dieb, nehmt ihn festl" Worauf Bistami antwortet: "Nehmt mich fest, ich bin der Dieb!" Und Rabi'a, die große Mystikerin geht in der Stadt umher mit einem Eimer Wasser und einer Fackel. Man fragt sie, was sie damit vorhabe, und sie erklärt: "Ich will das Feuer der Hölle löschen und das Himmelsgebälk anzünden!" Denn im Blick auf das Jenseits sollen weder Angst vor Strafe gelten, noch Hoffnungen auf Verdienst, sondern allein die Gottesliebe. Eine derartige Öffnung für islamische Kultur und Religion vonseiten eines Armeniers - und wahrscheinlich war Gregor in dieser Hinsicht keine Einzelerscheinung, verblüfft uns Heutige. Denn Armenier und Armenierinnen sind im Laufe des zweiten Jahrtausends durch all das, was sie durchgemacht haben, zu Prototypen des Verschlossen-Seins gegenüber allem Islamischen geworden. Zu diesen schmerzlichen Ereignissen zählen der Einfall der Seldschuken im 11. Jahrhundert, die späte Antwort der Mamluken auf das armenische Zusammengehen mit den "Franken" (d.h. den Kreuzrittern) zur Zeit
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der Kreuzzüge und schließlich die grauenvolle türkische Rache wegen des armenischen Parteiergreifens für die russische Seite im Ersten Weltkrieg.
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virtual history
Nach Art der virtuellen Geschichtsbetrachtung ("was wäre geschehen, wenn ... ") könnte nun gefragt werden, wie die Welt und die christlich-islamischen Beziehungen sich gestaltet hätten, wenn ... Was wäre, wenn die Reconquista misslungen und die Kreuzzüge gelungen wären? Spanien und Portugal sähen dann dem Mittleren Osten ähnlich, so wie er bis zur Geburt des Zionismus war: eine muslimische Mehrheit mit je einer starken jüdischen und einer starken christlichen Minderheit. Und der Mittlere Osten gliche der heutigen Iberischen Halbinsel: mit einer triumphierenden Christenheit, die Juden und Muslimen vertrieben oder in den Untergrund getrieben hat und die Konsequenzen dieser auf sich geladenen Schuld zu tragen hat. Man könnte weiter fragen, was geschehen wäre, wenn Karl Martell bei Tours und Poitiers nicht gesiegt, sondern verloren hätte: Europa besäße dann vielleicht 50 % Muslimen, 25 % Christen und 25 % Juden. Dann wären die islamische und die jüdische Option zu zwei weiteren Möglichkeiten für die Bekehrung zum Beispiel der Sachsen geworden, die ja keinerlei Lust verspürten, sich von den Franken christianisieren zu lassen. Als ich die Möglichkeit einer Niederlage bei Poitiers einmal in Beirut beim Abendessen im Hause eines armenischen Pfarrer-Ehepaares in Erwägung zog, waren die beiden zutiefst empört. Und als ich die Möglichkeit einer anders verlaufenen Sachsenbekehrung einem deutschen Theologen vor Augen führte, stellte er mir die mahnende Gretchenfrage, ob ich mich denn nicht über die Taufe Widukinds freue.
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Auswertung
Die tatsächliche Geschichte verlief und verläuft so, dass die Kriege dabei fast immer aus nicht-religiösen Motiven angezettelt wurden und werden. Der von Haus aus mögliche und auch gelebte Religionsfriede wird so zerstört. Denn die religiösen Friedenspotentiale werden ausgeblendet und die Religionen als Waffen benutzt. Das interreligiöse Zusammenleben gleicht ja einer religionsverschiedenen Ehe. Wie die Erfahrung lehrt, stellt in solchen Ehen - solange sie gut gehen die Religionsverschiedenheit als solche zumeist kein Problem dar. Erst wenn
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- aus anderen Gründen - die Ehe in die Krise gerät, dann ist auch die Religion als Waffe zur Stelle. Dann sagt etwa die christliche Ehefrau, die bisher davon überzeugt war, das "Islam" und "Frieden" nicht nur sprachlich aus derselben Wurzel stammen, ihr Mann sei eben" [...] von seinem Glauben her als Fanatiker geprägt". Und der muslimische Ehemann, der bisher auf Jesus den Segen Gottes herabwünschte, wird sich an blutrünstige Stellen des Alten Testaments und an die Kreuzzüge erinnern. Religion und ihre normgebenden Schriften sind also wie ein großer Sack, aus dem Freundliches und Unfreundliches, Friedliches und Kriegerisches hervorgezogen werden kann - je nachdem, wie es gebraucht wird. Das bedeutet: wenn jemand sich unfreundlich verhält, wird sein Gegenüber Unfreundliches aus dem Sack ziehen. Diese Gesetzmäßigkeit ließe sich an den jeweils uneinheitlichen Aussagen aufzeigen, die Bibel und Koran über Nachbarreligionen machen, und daran, wie diese Aussagen jeweils zu friedlichen und zu unfriedlichen Zeiten gebraucht werden. Mit anderen Worten: Die interreligiöse Hermeneutik hängt davon ab, ob in einer gegebenen Gesellschaft Frieden oder Unfrieden, Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit herrschen. Einfacher gesagt: "Es ist nicht der religiöse Hass, der den Krieg bewirkt, vielmehr bewirkt der (aus nichtreligiösen Gründen begonnene) Krieg den religiösen Hass." Oder, die Küng'sche Formel umgedreht: Kein Religionsfriede ohne Weltfriede. Die Konsequenz, die aus dieser Einsicht resultiert, ist nicht die Abwertung des interreligiösen Dialogs als Friedensstifter, sondern die Aufwertung der den Krieg verhindernden Mittel. Dass diese in den jüngsten Kriegen - Kuwait, Bosnien, Kosovo, Afghanistan - nicht ausgeschöpft wurden, ist von schwerwiegender Bedeutung. Es geht darum, den Ausbruch eines Krieges um (fast) jeden Preis zu verhindern. Denn es zeigt sich, dass nach dem Krieg alles immer nur noch schlimmer ist als vorher. Die beiden dargestellten Persönlichkeiten Elipandus und Gregor zeigen ebenso wie die Situationen, in denen sie lebten - welches Friedenspotential, welche Möglichkeit der Öffnung - ohne Aufgabe der eigenen Identität - im "abrahamistischen Erbe" stecken. Möglichkeiten, die auch nach den vielen negativen Erfahrungen des zweiten Jahrtausend immer noch echte Möglichkeiten für das dritte Jahrtausend bleiben. Ganz allgemein scheint ja auch das "adamitische Erbe" voller derartiger Möglichkeiten zu stecken. Denn homo neandertalensis und homo sapiens sapiens waren offenbar nicht zum "Kampf der Kulturen" verurteilt. Vielmehr haben sie wahrscheinlich miteinander verkehrt und sich gegenseitig positiv beeinflusst.
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Wenn zwischen den "Kantonen", in die die Menschheit zerteilt ist - Völker, Religionen und ähnliche Entitäten - , wieder einmal Krieg auszubrechen droht, könnten sie sich gesagt sein lasen, was Klaus von Flüe, der heilige Einsiedler, den Schweizer Ur-Kantonen sagte, als diese dabei waren, aufeinander loszuschlagen. Er sagte: "Der Unfriede geht tlnter/~ Die Kantonsräte verstanden damals, dass Krieg ein Unternehmen ist, in das es sich nicht zu investieren lohnt, weil es keine Zukunft hat. Sie verstanden, dass der Friede das einzige Unternehmen ist, das die große Krise des Weltuntergangs übersteht. Ähnliches sagt Abraham im Koran, wenn er von den "Untergehenden" (Afiliin) redet. Er meint damit die Gestirne, die er angebetet hatte, bevor er entdeckte, das auf sie kein Verlass ist. Weil nämlich Gott der allein Vertrauenswürdige ist. Auf dessen Friedenskarte man schon vor Anbruch des Großen Tages setzen kann. Nach dem Muster der "Nacht der Bestimmung", von der es heißt - wie Friedrich Rückert in seiner KoranÜbersetzung ausdrückt - "Friede ist sie bis der Tag erwacht'. Ähnliche heilige Friedensnächte, in denen Engel auf einer Leiter zwischen Himmel und Erde auf- und absteigen, gibt es ja auch in der Bibel.
"RELIGIONEN UND GEWALT"ZUSAMMENFASSENDE THESEN JOSEF ESTERMANN
1. Angeblich religiös motivierte Gewalt hat meistens religionsfremde Ursachen und Motive, denen von relativ kleinen Interessengruppen eine religiöse Flagge aufgepflanzt wird. Dadurch kann die Gewalt ausgeweitet und sogar globalisiert werden. Die religiöse Legitimierung politischer, ökonomischer oder kultureller Vormachtstellung und Durchsetzung von Interessen bildet einen klaren ideellen ,Mehrwert', weil sie einen Konflikt von einer rein profanen Ebene in die sakrale hebt und ihm dadurch den Anspruch von Legitimität oder gar Unentrinnbarkeit verleiht.
2. Keine einzige religiöse Tradition, nicht einmal die oft als pazifistisch angesehenen Religionen des Buddhismus oder Hinduismus, sind gegen Gewaltausübung und Instrumentalisierung durch nicht-religiöse Interessengruppen gefeit. Die angeblich signifikant höhere Gewaltbereitschaft, bzw. Anfalligkeit auf Instrumentalisierung der monotheistischen Religionen wird durch die Erfahrung erheblich relativiert; auch religiöse Traditionen, die auf Grund ihres Lehrgehaltes als inklusiv und nicht-absolutistisch gelten, neigen unter bestimmten Umständen zur Gewaltanwendung (z.B. in Indien, Sri Lanka, Japan). 3. Ein Rekurs auf die Lehraussagen oder die Heiligen Schriften religiöser Traditionen hilft in der konkreten und praktischen Auseinandersetzung mit religiös motivierter Gewalt relativ wenig. Da religiöse Texte oft im Sinne der (nachträglicher) Legitimierung von Konflikten und der Durchsetzung von Interessen herangezogen werden, trifft ein theoretisch theologischer Diskurs meistens nicht den Kern des Gewalt-Problems. Der Rekurs auf kanonische Texte kann innerhalb einer bestimmten Tradition durchaus eine ideologiekritische Funktion haben, indem er die ungebührliche religiöse Legitimierung von Gewalt entlarvt. 4. Es ist wichtig, in den spirituellen und religiösen Traditionen Räume zu finden, wo menschliche Aggressivität Ausdruck finden kann, ohne dass es zu tatsächlicher Gewaltanwendung kommt.
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Josef Estermann
Viele Religionen haben im Verlaufe ihrer jeweiligen Geschichte Mechanismen entwickelt, wie die menschliche Aggressivität und Gewaltbereitschaft ,sublimiert' werden kann. Eine Verdrängung oder gar Unterdrückung gewalttätiger Regungen im Namen spiritueller und religiöser Werte fördert aber deren ,Verschiebung' auf rassistische, sexistische und ethnische Konflikte. Um solche ,Stellvertretergewalt' zu vermeiden, müssen religiöse und spirituelle Praktiken Räume bieten, aufgestaute menschliche Aggressivität abzubauen. 5. Der Alltäglichkeit und Banalisierung von Gewalt müssen starke und wirkungsvolle Symbole von Versöhnung und Frieden entgegengesetzt werden, die aus den religiösen Traditionen erwachsen. Praktisch alle Religionen haben starke Bilder und Symbole für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben der Menschen und der außermenschlichen Natur. Diese ,kollektiven Archetypen' der Menschheit sollten bewusst als Gegen-Bilder zu den in den Massenmedien und der Gesellschaft allgegenwärtigen Gewalt-Bildern mobilisiert und bekräftigt werden. 6. Der interreligiöse Dialog ist primär ein Dialog des Lebens, und erst sekundär ein Dialog von religiösen Auffassungen und Lehrinhalten. Der akademische Diskurs eines Dialogs zwischen unterschiedlichen ,Lehrinhalten' spiegelt nicht nur eine abendländische Sicht von ,Religion' und ,Dialog', sondern scheitertmeistens entweder an der Inkompatibilität theologischer Standpunkte oder an der (relativen) Unerheblichkeit für die konkrete (gewaltsame) Auseinandersetzung. Die Erfahrung (interreligiöser) ,menschlicher Basisgemeinschaften' und des alltäglichen Zusammenlebens sind für Konfliktlösungen religiös motivierter Gewalt - nicht zuletzt auf Grund des Zeugnis charakters - bei weitem wichtiger. 7. Wir sollten uns durch die jeweils Anderen und Andersgläubigen über unsere dunklen und blinden Flecken aufklären lassen. Wenn Dialog ,kein konservatives Prinzip' ist, dann setzen sich die Dialogpartner der Wahrnehmung durch die Anderen aus und können dadurch in ihrer Selbstwahrnehmung verändert werden. Im interkulturellen und interreligiösen Dialog erfahre ich nicht nur etwas über die andere Position, sondern werde mir wesentlich neu meiner eigenen Position bewusst. Jede Religion hat ihre ,toten Winkel', die sich erst dann ausleuchten lassen, wenn von außen ein Licht auf sie geworfen wird.
"Religionen und Gewalt" - zusammenfassende Thesen
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8. Es gilt auch, marginalisierte religiöse Traditionen (z.B. indigene und synkretischel Religionen) und geschichtlich verdrängte Modelle positiver interreligiöser Interaktion in unsere Bemühungen um Dialog und Versöhnung einzubeziehen. Religionen haben genauso wie jede kulturelle Manifestation Herrschaftscharakter; es gibt herrschende und beherrschte religiöse Traditionen. Die ,vorrangige Option für die Armen' im interreligiösen Dialog bedeutet, ein besonderes Augenmerk für jene religiösen Traditionen zu entwickeln, die im Zuge geschichtlicher Prozesse marginalisiert, unterdrückt oder gar einverleibt worden sind. Dies gilt auch für die (fast vergessenen) Erfahrungen gelungenen interreligiösen Zusammenlebens, sei es in der Vergangenheit, sei es heute an verschiedenen Orten dieser Erde. 9. Religionen sind in ihrer Bereitschaft zu Gewalt, bzw. in ihrem Vermögen, Gewalt einzudämmen, sehr ambivalent. Sie und ihre jeweiligen Anhänger sind für das eine oder andere relativ leicht zu manipulieren. Die Ambivalenz religiöser Traditionen in der Gewaltfrage bedeutet, essentialistische Interpretationen zurückzuweisen, nach denen Religionen ,prinzipiell' und ,wesenhaft' gewalttätig oder aber gewaltlos sind. Als grundsätzlich kulturelle Außerungen der Menschheit sind Religionen der ambivalenten Natur menschlicher Betätigung ausgesetzt. Weil religiöse Gefühle den Charakter starker ,Bindung' an Heiliges und Unumstößliches haben, sind sie auch umso leichter für Profanes und Umzustoßendes zu manipulieren. lO.Religiös sein heißt im Zeitalter zunehmender Migration und intensivierter Globalisierung immer auch inter-religiös sein. Wie kulturelle, so beginnen sich auch klare religiöse Identitäten immer mehr aufzulösen. Phänomene ,religiöser Mehrsprachigkeit' und ,synkretischer religiöser Identitäten' entwickeln sich von Minderheitsidentitäten im Verlaufe der Zeit zu Standardmodellen des religiösen Selbstverständnisses (patchwork religiosity). Die gegenteilige Bewegung der I
Da im Deutschen nur der Begriff "synkretistisch", bzw. "Synkretismus" besteht, ist eine erklärende Bemerkung zu dem von mir eingeführten Begriff "synkretisch" unumgänglich. Die Bezeichnung "synkretistisch" spiegelt eine bestimmte (ideologische) Position, nach der "synkretistische" Elemente oder Religionen einen Abfall von einem reinen religiösen Idealtyp darstellen; "synkretistische" Elemente sind kulturelle und religiöse "Verunreinigungen" einer bestimmten Tradition. Mit dem Begriff "synkretisch" möchte ich diese Wertung vermeiden und die Tatsache zum Ausdruck bringen, dass jede kulturelle Leistung - und Religionen gehören dazu - das Ergebnis transkultureller Durchdringung ist. Auch das (abendländisch verfasste) Christentum ist eine in höchstem Masse "synkretische" Religion, Produkt des Zusammenwachsens (!Jn-km/ein) zweier Traditionsstränge, eines semitischen und eines hellenistischen.
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Fundamentalisierung allerdings schafft durch die Unversöhnlichkeit der Positionen ein neues Potential religiös motivierter Gewalt. Das Modell des inter-religiösen Zusammenlebens vermeidet sowohl die fundamentalistische (Exklusion) wie postmoderne (Inklusion) Versuchung. l1.Wir müssen im gemeinsamen Austausch entdecken, inwiefern und wo unsere jeweiligen religiösen Traditionen uns für Gewalt anfällig machen bzw. für den Widerstand gegen Krieg und Gewalt inspirieren. Diese interreligiöse ,Hermeneutik der Gewalt' schärft unsere Wahrnehmung für verborgene Fallgruben und Potenziale in der eigenen, aber auch in den fremden religiösen Traditionen.
RELIGION UND GEWALTDIALEKTIK VON GLOBALISIERUNG UND FUNDAMENTALISIERUNG JOSEF ESIERMANN Seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 in den USA hat ein Sprachgebrauch inflationäre Ausmaße angenommen, der die beiden Phänomene "Religion" und "Gewalt" in direkten Zusammenhang bringt: Es ist die Rede von einem neuen "Kreuzzug", vom "Heiligen Krieg", vom "islamitischen Terrorismus", aber auch von dem von SAMUEL P. HUNTINGTON heraufbeschworenen Clash of Civilizations. 1 Die beiden Begriffe "Globalisierung" und "Fundamentalismus" stehen schon seit längerer Zeit ganz oben auf der Liste der zeitgenössischen Schlagwörter und werden in jüngster Zeit immer mehr auch als "Erschlag-Worte" von allen möglichen Seiten in die Arena der ideologischen Auseinandersetzung um die Weltordnung geworfen. Dabei ist die Zuordnung von "Religion" und "Gewalt" keineswegs nur eine Erscheinung unserer Tage. Seit der im ersten Buch der Hebräischen Bibel beschriebenen archetypischen Szene des Brudermordes Abels durch Kain durchzieht eine Blutspur die Geschichte der meisten Religionen und Kulturen. Das Christentum als Religion der "Nächsten- und Feindesliebe" bildet dabei keine Ausnahme; erinnert sei nur an die Kreuzzüge im Mittelalter, die Inquisition, die Konfessionskriege der beginnenden Neuzeit und - als zeitgenössisches Beispiel - der noch immer anhaltende gewalttätige Konflikt in Nordirland. Dass in den letzten Jahren der Islam in das Visier der Weltöffentlichkeit geraten ist, hat weniger mit dem von gewissen Seiten behaupteten "gewaltsamen" Charakter der islamischen Religion 2 als mit der veränderten Weltlage und einer gewissen dualistischen Weltsicht zu tun, die I Nach der bereits berühmt gewordenen These von dem religiösen und kulturellen Charakter künftiger kriegerischer Auseinandersetzungen "In dieser Welt werden die hartnäckigsten, wichtigsten und gefährlichsten Konflikte nicht zwischen sozialen Klassen, Reichen und Armen oder anderen ökonomisch definierten Gruppen stattfInden, sondern zwischen Völkern, die unterschiedlichen kulturellen Einheiten angehören" (HUNTINGTON, S. P.: Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München - Wien 51997, S.24 [weiterhin: HUNTINGTON: Kampf der Kulturen] ) werden die Szenarien der großen Rüstungsstrategen bereits auf eine Konfrontation zwischen den Happy Few Rich des Nordens und den großen verarmten Massen des Südens ausgerichtet. 2 Der immer wieder zitierte sprichwörtliche "islamische Fundamentalismus" ist relativ jungen Datums. Der Islam galt zum Beispiel im Mittelalter als eine ausgesprochen liberale und weltoffene Religion, ohne die viele großen Kulturleistungen des Abendlandes nicht zu denken wären. Man könnte sogar behaupten, dass es einen Thomas von Aquin ohne die Vermittlungsarbeit der islamischen Philosophen und Theologen gar nicht gäbe. Fundamentalisierungsbestrebungen innerhalb des Islam kamen erst um die Jahrhundertmitte des vergangenen Jahrhunderts auf.
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Weltlage und einer gewissen dualistischen WeItsicht zu tun, die seit dem 11. September - bei Al Qhaida (und Osama Bin Laden) und der AntiTerrorismus-Koalition gleichermaßen - geradezu euphorische Zustimmung gefunden hat. Was heute mehr denn je Not tut, ist eine ideologische Abrüstung und eine behutsame Differenzierung. Die Welt ist komplexer und vielschichtiger denn je geworden, und dies bedeutet auch, dass einfache Lösungen und Antworten nicht mehr möglich sind. Manichäische Schemata, wie sie im Windschatten der Anschläge auf das World Trade Centre und das Pentagon in den Medien hüben und drüben lautstark zu hören waren, vermögen den wirklichen Umständen und Vorkommnissen nicht gerecht zu werden. Viele fühlen sich angesichts dieser Komplexität und der zumindest subjektiv so wahrgenommenen "Unordnung" in der Welt maßlos überfordert und ziehen einfache Lösungen vor. Und damit wären wir bereits beim Thema unserer Reflexion, der Dialektik von Globalisierung und Fundamentalisierung. Ich möchte zuerst ein paar klärende und differenzierende Überlegungen zu den beiden Phänomenen der "Globalisierurig" und "Fundamentalisierung" anstellen, um die Diskussion dann mit einer Reihe von Thesen zum Verhältnis von "Religion" und "Gewalt" anzustoßen.
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Das KonfliktpoteniJal der Globalisierung
Mit dem Mauerfall von Berlin und dem Bankrott des real existierenden Sozialismus in den Einflusssphären der ehemaligen Sowjetunion verschwand nicht nur das bipolare Weltbild, nach dem das "Reich des Bösen" sich je nach Gesichtspunkt im kapitalistischen Westen oder im kommunistischen Osten befand; damit schien sich vielmehr auch ein "Ende der Ideologien" insgesamt, ja sogar ein "Ende der Geschichte"3 abzuzeichnen, wie mancher Vorreiter der Postmoderne lauthals verkündete. Die schon lange vor 1989 eingesetzte und gezielt programmierte neoliberale Globalisierungswelle in Wirtschaft und Kultur erfuhr plötzlich keinen Widerstand mehr; alles und jedes sollte in den
3 Der Begriff der post-histoire stammt von Francis Fukuyama, dem eigentlichen Theoretiker und Philosophen des Neoliberalismus (FUKUYAMA, Francis: The end of historyand the last man, New Yürk 1992). Es ist bezeichnend, dass seit dem Ende des real existierenden Sozialismus in den theoretischen Schriften neo-kapitalistischer Denker der Jargon des ,Endes' dominiert: "Ende der Geschichte", "Ende der Ideologien", "Ende der Utopie". Die Postmoderne sekundiert dabei mit dem schon von Nietzsche prophezeiten "Ende des Subjektes" und schließlich dem "Ende des Menschen".
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Griff eines als Heilsbotschaft daherkommenden transnationalen Kapitalismus kommen. Dabei ist das Phänomen der "Globalisierung" keineswegs eine auf die vergangene Dekade beschränkte Erscheinung. Man spricht von verschiedenen ,Globalisierungswellen', die je unterschiedliche Intensität hatten und sich in ihren Auswirkungen dementsprechend voneinander unterscheiden. Eine erste Welle der ,Globalisierung' fand im Römischen Reich statt, das seinen Einfluss wirtschaftlicher und kultureller Art auf die gesamte damals bekannte (,zivilisierte') Welt auszudehnen trachtete. Es muss allerdings einschränkend hinzugefügt werden, dass es zeitgleich andere Globalisierungsbestrebungen gab (etwa von China), die aus dem Blickwinkel der Eurozentrik gar nicht wahrgenommen werden konnten. 4 Ein zweite Welle ergriff die damals bekannte Welt mit der Kolonisierung Lateinamerikas, Afrikas und Asiens durch die europäischen Mächte und dem damit einhergehenden Export der abendländischen Kultur im 16. und 17. Jahrhundert. Diese merkantilistische und imperialistische ,Globalisierung' war historisch betrachtet eng mit den christlichen Missionsbestrebungen verbunden; andererseits wurde in dieser Epoche zum ersten Mal im eigentlichen Sinne ,Welthandel' getrieben. Die so genannten unzivilisierten Weltteile wurden als Rohstoff- und Arbeitskraftlieferanten entdeckt und dem aufkommenden Frühkapitalismus subsidiär einverleibt. 5
Nach Enrique Dussel (DUSSEL, Enrique: Etica de la liberaci6n en la edad de la globalizaci6n y de la exclusi6n, Madrid/Mexiko 1998) wurde Europa erst durch die Eroberung Amerikas zum wirtschaftlichen Zentrum des Planeten; bis ins 17. Jahrhundert waren China und die davon abhängigen Handelsgebiete eigentlicher Motor wirtschaftlicher Globalisierung, und Europa war nichts anderes als die Peripherie der chinesischen Einflusssphäre. Siehe auch die deutsche Teilübersetzung des erwähnten Werkes: DUSSEL, Enrique: Prinzip Befreiung. Kurzer Aufriss einer kritischen und materialen Ethik (Concordia Monographien 31), Aachen 2000. S Bereits MARX hat die Globalisierung (oder Internationalisierung) des Kapitals und Handels, die sich durch die Eroberung von Amerika und die Kolonisierung Asiens eröffnete, als eine Folge der inneren Dynamik des Kapitalismus beschrieben: "Die Großindustrie hat einen Weltmarkt geschaffen, der bereits durch die Entdeckung Amerikas vorbereitet worden ist. Der Weltmarkt hat die Entwicklung des Handels, der Schifffahrt und der Transportwege zu Lande gewaltig beschleunigt. [...] Durch die Ausbeutung des Weltmarkts hat die Bourgeoisie der Produktion und dem Konsum einen kosmopolitischen Charakter verliehen. An die Stelle der alten Bedürfnisse, die durch einheimische Produkte befriedigt werden konnten, treten neue Bedürfnisse, die für ihre Befriedigung Produkte aus weit entfernten Ländern und anderen Klimazonen erfordern. [...] Dank der schnellen Verbesserung der Produktionsinstrumente und dem ständigen Fortschritt der Kommunikationsmittel bindet die Bourgeoisie sogar die barbarischsten Nationen in das Projekt der Zivilisation ein." (MARX, Karl- ENGELS, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4, Berlin 1972, S.463; S.466). 4
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Eine dritte ,Globalisierungswelle' schließlich fing in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts an und gewann in den achtziger und neunziger Jahren an Intensität und Durchschlagskraft. Dies ist denn auch das Phänomen, das wir normalerweise mit dem Neologismus "Globalisierung" zu bezeichnen pflegen. Der eigentliche ,Quanten sprung' des gegenwärtigen Prozesses gegenüber den früheren Wellen besteht im wesentlichen aus drei komplementären Tendenzen: a) Die kybernetische (oder elektronische) Revolution in der Informationstechnologie, die alle geografischen Regionen und sozialen Strukturen des Globus miteinander vernetzt (das World Wide Web ist das bekannteste Symbol dafür). b) Die Liberalisierung der Finanz- und (zum Teil) Warenmärkte und damit der freie, elektronisch unterstützte Fluss von Kapital an die gemäß den Gesetzen des Freien Marktes attraktivsten Nischen. c) Die praktisch ungehinderte und offensive Durchsetzung des neoliberalen Wirtschaftsmodells für den gesamten Planeten Erde, nachdem der real existierende Sozialismus zusammengebrochen ist, und das bipolare einem unipolaren Weltbild Platz gemacht hat. Diese drei komplementären Prozesse haben in ihrer Synergiewirkung zu einer ökonomisch dominierten ,Globalisierung' praktisch aller Bereiche und Regionen geführt, wie sie noch vor zwanzig Jahren für illusorisch gehalten wurde. In allen Winkeln der Erde, wo man im Zuge der zweiten Globalisierungswelle das Kreuz aufgepflanzt hatte, findet man jetzt auch Coca Cola, McDonalds und Panasonic. Dieser neoliberale Siegeszug ist der Sitz im Leben der postmodernen Konzeption vom ,Ende der Geschichte', dem ,Ende der Ideologien', dem ,Ende der Utopie' und überhaupt der Rede von den verschiedenen ,Enden'. Für manchen Theoretiker des Kapitalismus ist der Kampf der Ideologien und Weltanschauungen definitiv gestritten und zu Gunsten der neoliberalen ,Heilslehre' entschieden worden. Die Dialektik der Geschichte kommt - ganz anders als es sich MARX ausgemalt hatte - an ihr Ende und räumt einer ideologiefreien post-histoire den Platz. 6 Diese ökonomistische Konzeption der ,Globalisierung' wird von K.C. ABRAHAM (einem indischen Befreiungstheologen) mit den folgenden Worten umrissen: "Globalisierung ist ein Prozess, durch den die Ökonomien verschiedener Länder in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert werden. 6 Fredric Jameson bezeichnet die Postmoderne als die neueste "kulturelle Mutation des Kapitalismus", die bezeichnenderweise in den USA entstanden ist und nach Westeuropa exportiert und daselbst modiftziert wurde (JAMESON, Fredric: Ideologische Positionen in der Postmodernismus-Debatte, in: Das Argument 155 (1986), S.18-28). Vgl. auch Fußnote 3.
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Dessen wichtigster Aspekt ist die zunehmende Zentralisierung der Weltproduktion und des Welthandels in den Händen von ein paar Hundert multinationalen Gesellschaften und Finanzinstituten wie dem Internationalen Währungs fond (lWF) und der Weltbank (WB). Er ist in der Kultur des Kapitalismus verwurzelt, dessen vorherrschende Entwicklungslogik das Profitstreben ist. "7 Die letzten zehn Jahre haben uns aber vor Augen geführt, dass die Heilslehre des unbeschränkten Wachstums und Konsumismus nicht nur ökologisch und politisch an Grenzen stößt, sondern auch erbitterten Widerstand derer erfährt, für welche die Geschichte noch nicht einmal begonnen hat und die von der Bonanza des Marktes ausgeschlossen sind. Dieser Prozess der "Vereinheitlichung der Welt", der nicht etwa mit "Internationalisierung" oder "Universalisierung" gleichzusetzen ist,8 bringt neue Widersprüche und Ungereimtheiten mit sich, die vor allem von den Globalisierungsverlierern des "Südens" kritisch hervorgehoben werden. 9 lch möchte einige nennen: a. Der real existierende Prozess der neoliberalen Globalisierung ist für die meisten Regionen, Nationen und Kulturen dieser Erde einfremdbestimmter Votgang, welcher der freien Entscheidung und Souveränität von Staaten und Staatenverbänden entzogen ist. Die große Mehrheit der Erdbevölkerung hat keinerlei Kontrolle über die Prozesse, deren Opfer sie wird und
7 ABRAHAM, KC.: Globalization: A Gospel and Culture Perspective, in: International Review of Mission 85 (1996), S.85-92; S.87 (Übersetzung von J. Estermann). 8 In der Diskussion werden verschiedene Begriffe oft undifferenziert und austauschbar verwendet: ,Globalisierung', ,Mundialisierung', ,Internationalisierung', ,Universalisierung', ,Uniformisierung'. Es sprengt den Rahmen dieser Arbeit, eine genaue Begriffsanalyse und -deftnition vorzunehmen. Aber einige Kriterien sollen hier festgehalten werden: 1. Der Begriff der ,Globalisierung' wird im germanischen Sprachraum im Sinne der kapitalistisch orientierten Durchdringung des gesamten Weltmarktes verstanden. 2. Die romanischen Sprachen verwenden im Gegensatz zu globalisation (oder globalizacion, bzw. globaliza;t1o) den Begriff der ,Mundialisation' (mondialisation, mrmdializacion) im Sinne eines (nicht nur ökonomisch orientierten) ZusammeßtÜckens der Menschheit in der späten Neuzeit. 3. ,Internationalisierung' ist in erster Linie ein politischer Begriff, der das Netzwerk von (idealiter; gleichwertigen Beziehungen zwischen (inter; politischen und sozialen Gebilden und die zunehmende Interdependenz hervorhebt, welche die Grundlagen für eine ,Weltinnenpolitik' bilden. 4. ,Universalisierung' meint als philosophischer Begriff den (synthetischen) Prozess, die Kultur- und Zeitrelativität kontingenter und partikulärer Ereignisse und Werte zu übersteigen. 9 Die theologischen Beiträge zum Thema ,Globalisierung' aus dem "Süden" gehen in die Tausende. Eine vom Missionswissenschaftlichen Institut Missio e.V. herausgegebene kommentierte Bibliographie zählt 416 Titel: MISSIONSWISSENSCHAFTLICHES INSTITUT MISSIO E.V. (Hg.): Annotated Bibliography on Globalisation (fheology in Context. Supplement 11), Aachen 2001. Vgl. insbesondere: AMALADOSS, Michael (Hg.): Globalization and its victims, as seen by its victims, Delhi 1999.
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deren Kosten sie zu tragen hat. Der Freiheitsbegriff - so zentral in der (neo-)liberalen Theorie - wird halbiert. Der wirkliche Vorgang der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung ist asymmetrisch, weil er innerhalb der Weltbevölkerung eine Elite erzeugt, welche in den Genuss einer Casino-Ökonomie (casinofinance) kommt, während die großen Massen immer tiefer in Armut und Verzweiflung versinken. 258 Personen besitzen mehr als die Hälfte des Reichtums des Planeten Erde! Die neoliberale Globalisierung führt in Wirklichkeit nicht - wie die Theorie vom trickle down efftct glauben macht - zu einer besseren Verteilung des Weltreichtums, sondern zu einer noch größeren Dualisierung oder Zweiteilung, deren Demarkationslinie nicht mehr länger zwischen Ost und West, sondern zwischen Nord und Süd verläuft. Fast zwei Milliarden Menschen befinden sich heute in größerer Misere als noch vor 16 Jahren; die Kluft zwischen Arm und Reich wird nicht kleiner, sondern wächst zusehends. Die politischen Entscheidungsträger (Staaten und Staatenverbände), die diese Prozesse induziert haben, werden durch die Macht des internationalen Finanzkapitals immer mehr entmachtet und zu Marionetten des so genannten Freien Marktes. Es findet eine deutliche Entpolitisierung und damit Entdemokratisierung im Entscheidungsfindungsprozess statt. Wichtige Entscheidungen hinsichtlich Globalisierungsstrategien fallen nicht an den Urnen, sondern in den Chefetagen der transnationalen Konzerne und Finanzinstitute. Die mit der neoliberalen Globalisierung einhergehende kulturelle und politische Vereinheitlichung (Uniformisierung) führt zu gegenteiligen Prozessen der Fundamentalisierung und Nationalisierung. Ethnisch und religiös motivierte Kriege und Konflikte nehmen (oft als "Stellvertreterkriege'') zu, sektiererisches Verhalten und rechtsradikales Gedankengut füllen die dunklen Nischen des Globalisierungsprozesses. Der real stattfindende kapitalistische Globalisierungsprozess führt sich selber ad absurdum, indem er zwei Drittel der Weltbevölkerung vom Markt und seinem Segen ausschließt und so tut, als gehörten diese Menschen gar nicht zur Gemeinschaft der humanitas. Ganze Kontinente - wie Afrika werden in der Logik des Marktes als ,uninteressant' oder ,überflüssig' aufgegeben und ihrem Schicksal überlassen. Die Globalisierungsgewinne werden privatisiert, die Globalisierungsverluste dagegen sozialisiert. Es sind wieder einmal mehr die Armen und Ausgesteuerten, welche die Rechnung zu bezahlen haben: Devisenzerfall, Korruption, Misswirtschaft, ökologische Katastrophen, Abfall-Dumping, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, kultureller Zerfall. Dazu gehören auch die vielen aus den Zentren der Globalisierung ausgelagerten Kriege wie jene im Kongo, Sudan, und jetzt in Afghanistan. Die Ereignisse des
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11. Septembers 2001 wurden deshalb als so großer Schock empfunden, weil die USA, der eigentliche Motor der gegenwärtigen Globalisierungswelle, zum ersten Mal direkt getroffen wurde und die Bilder mittels globalisierter Medien entsprechend verbreitet werden konnten. In anderen Kontexten fanden und finden immer noch viele" 11. September" statt, die kaum ins Bewusstsein der abendländischen Telegesellschaft vorzudringen vermögen (Chile, EI Salvador, Tschetschenien, Kongo, Sudan usw.). Dem Gefühl der (postmodernen) Euphorie in den Chefetagen der mächtigen transnationalen Unternehmen entspricht im umgekehrten Verhältnis die zunehmende Verzweiflung bei den Ausgeschlossenen ob der Aussichtslosigkeit, je überhaupt noch auf diesen immer schneller dahin rasenden Zug aufspringen zu können. Viele Menschen - in Nord und Süd, aber auch in Ost - fühlen sich in immer stärkerem Maße betrogen; Unmut und Ressentiment regen sich bei den Globalisierungsverlierern. Dies ist der sozioökonomische Nährboden für den heute in vielen Teilen der Welt festzustellenden Rückgriff auf die identitätstiftenden Elemente von Ethnie, Rasse und Religion.
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Es rumort also ziemlich stark im "globalen Dorf e• lo Es gibt nicht nur den fein herausgeputzten Marktplatz und die glitzernden Schaufenster, die Börse und den Nachtclub, sondern auch das Slumviertel und die stinkenden Abwässer, die Schwindsucht und die schiere Verzweiflung, der man begegnet, wenn man sich nur ein paar Schritte von der Dorfmitte entfernt. Die Hoffnungen, die viele Nationen auf das so genannte "post-ideologische Zeitalter" gesetzt hatten, sind größtenteils verflogen: die Reichtümer sind nicht neu verteilt worden, die ,,McWorld-Kultur" kennt keine Grenzen ihres Heißhungers, die große Mehrheit sieht mit wehen Augen zu, wie der Schnellzug des "besse10 Der idyllische Begriff des "Weltdorfes" (global village) hatte sicher bei seiner Einführung (und bis heute) einen gewissen utopischen und humanistischen Sinngehalt. Im Gegensatz zur ,Ökonomisierung' der Welt durch die neoliberale Globalisierungssttategie könnte man bei diesem humanistisch verstandenen Modell der Globalisierung von einer ,Ökumenisierung' der Erde sprechen: Die Menschheit (und schließlich der ganze Kosmos) wird zu einem globalen ,Haus' (oikos) als Gemeinschaft aller Geschöpfe, in dem die Ideale des Friedens, der Gerechtigkeit und der Bewahrung der Schöpfung wegleitend sind. In den Augen vieler indigener Völker müsste diese planetarische oder globale ,Ökumene' zu einer kosmischen und allumfassenden ,Hausgemeinschaft' ausgeweitet werden. Andererseits aber spiegelt das reale ,Weltdorr die antiutopischen und anti-humanistischen Folgen eben dieser unbegrenzten ,Ökonomisierung': "Das globale Dorf existiert. Nur: Es ist ein Dorf ohne Bürgermeister und ohne eine wirkliche Ordnungsmacht, ein Dorf, wo der Pfarrer oder wer auch immer an seine Stelle tritt, nicht sehr gern gehört wird." (DUQUESNE, Jacques: La Croix, zitiert nach: Zitat der Woche, in: Christ in der Gegenwart 9 (99), S.67).
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ren Lebens" mit einigen wenigen Glücklichen (the happy few) an ihnen vorbei zieht. Dabei sind die "Schuldigen" und "Feinde" nicht mehr so leicht auszumachen. Wie sollte man die "unsichtbare Hand" (ADAM SMITH) des Freien Marktes vor das Tribunal der Völker ziehen können? Schon längst machen die Eliten in den Ländern der so genannten "Dritten Welt" mit den Globalisierungsgewinnern im Norden gemeinsame Sache. Die Grenzen und Abgrenzungen haben sich aufgelöst, auch jene in den Köpfen. Der inflationäre Gebrauch von Anführungszeichen und der adjektivischen Einschränkung durch "so genannt" ist ein Symptom für die Zunahme der Komplexität und den Wegfall einfacher Parameter und Erklärungskategorien. Die Theologinnen und Theologen von EATWOT (Ecumenical Association ofThird World Theologians) diskutieren zum Beispiel darüber, ob man die Bezeichnung "Dritte Welt" noch verwenden könne;12 Begriffe wie "Globalisierung", "Fundamentalismus", "Westen", "Süden", "Hochreligionen" oder "Weltreligionen" werden zu Recht mit Anführungszeichen versehen. Hieb- und stichfest geglaubte Bezeichnungen und Schemata greifen nicht mehr; der aktuellen WeltUnordnung entspricht eine epistemologische und emotionale Unsicherheit und Heimatlosigkeit. Ist es da nicht verständlich, wenn sich Individuen, Gruppen und ganze Ethnien aus Hilflosigkeit gegenüber der Komplexität und Unübersichtlichkeit der heutigen Welt auf bewährte Erklärungsmodelle ihrer eigenen Traditionen zurückziehen und der (postmodernen) Differenzierung und Relativierung den Rücken zukehren? Durch die mit der heutigen Globalisierungswelle induzierten Migrationswellen und die kybernetische Vernetzung aller Völker, Religionen, Kulturen und Ereignisse auf dem Planeten Erde wird der/die Einzelne immer mehr mit Phänomenen konfrontiert, die er/sie mit den herkömmlichen SinnKategorien nicht mehr einzuordnen mag. Zeitliche und örtliche Verschiedenheit wird durch die Instant-Medien zu einem einzigen Ort und Moment der "Gleich-Gültigkeit" zusammengeschweißt. 13 Infotainment ist das Zauberwort. Wir kennen es in letzter Zeit zur Genüge in der Berichterstattung aus Afgha-
12 Dies war auch wieder der Fall anlässlich der 5. Generalversammlung von EA1WOT, die vom 24. September bis 2. Oktober 2001 in Quito stattfand. Trotz vieler Bedenken hielten die Mitglieder der Vereinigung ausdrücklich am Begriff "Dritte Welt" fest, um damit die reale Situation dieses Teils der Menschheit zum Ausdruck zu bringen. 13 Der Leitbegriff der Postmoderne - die ,Differenz' - wird unter den Bedingungen der kapitalistischen Globalisierung zur ,In-differenz', zur ,Gleich-gültigkeit'.
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nistan und dem Nahen Osten. Ist es nicht pervers, unter den Bildern vom Krieg die aktuellen Börsenkurse vorbeilaufen zu sehen? Der multikulturelle Mix in unserer eigenen Lebenswelt überfordert uns, sodass der Wunsch nach einfachen (und vereinfachenden) Erklärungsmodellen und Lösungen immer brennender wird. Manche Politiker und Religionsführer spielen geschickt auf die "ideologische Verunsicherung" ihrer jeweiligen Massen ein und befreien sie durch einfache Rezepte von der Last, die zunehmende Komplexität und Vernetztheit der Welt wirklich intellektuell und emotional "durchzuarbeiten". Das antagonistische - und zuweilen manichäisch anmutende - Schema von "Ost" und "West hatte Jahrzehnte lang diese Funktion der Komplexitäts- und Kontingenzentlastung. Eine ähnliche Funktion hatten die traditionell verfassten Religionen. Heute sind wir auf der Suche nach neuen "Eindeutigkeiten", die uns wie Felsen in der Brandung orientieren und an denen wir uns festhalten können, um nicht im Strudel der völligen Orientierungslosigkeit zu versinken. CC
Die Aussagen der Administration Bush - wie auch die Erklärungen der Taliban etwa - bedienen sich der Tastatur des ethischen, kulturellen und religiösen Antagonismus und der religiösen Ausschließlichkeit: Entweder-Oder; /ertium non da/ur. Die USA verwenden Begriffe des Kulturkampfes: Es geht um einen Kampf des "Guten gegen das "Böse", der "Zivilisation" gegen die "Barbarei", der "Freiheit" gegen die "Knechtschaft", der "Moderne" gegen das "finstere Mittelalter" oder gar die "Steinzeit". Die Taliban und ihre Sekundanten zahlen mit gleicher Münze, aber umgekehrten Vorzeichen zurück: Es geht um einen Heiligen Krieg (jihad) der "Gläubigen" gegen die "Ungläubigen", der wahren "Sitten" gegen die westliche Unsittlichkeit, der "Religion" gegen den "flachen Materialismus" des Abendlandes. CC
Dabei waren es immer schon die Religionen, die eigentlich von Natur aus solche Orientierungshilfen anbieten sollten, also "Fundamente", worauf die Menschen mit sicherem Tritt auf das wogende Meer hinausblicken können. Auf Grund ihrer "göttlichen" oder zumindest "sakralen" Natur erachtete man diese Gewissheiten in der abendländischen Vor-Modeme, und tut es in vielen außer-abendländischen Kulturen auch heute noch, als immun gegen die historischen Veränderungen und kulturellen Besonderheiten. Da Gott als kultur- und geschichtstranszendent betrachtet wird (zumindest in den monotheistischen Religionen), wurden generell auch die von ihm offenbarten "Wahrheiten" als solche interpretiert.
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Während in den meisten außerabendländischen Kulturen der Rekurs auf die religiösen "Fundamente" als Orientierungshilfen für das Leben praktisch unangefochten bestehen blieb, setzte im Abendland eine kontinuierliche Erosion dieses "Felsens" ein. Dieser oft als "Säkularisierung" bezeichnete Prozess fortschreitender Entmachtung religiöser Sicherheiten durch Ersatzkonstruktionen 01ernunft, Recht, Diskurse) vermochte aber das dadurch entstandene Sinn- und Orientierungsvakuum nicht vollständig aufzufüllen. Vielmehr brachte sie (die ,Säkularisierung') - als Teil des so genannten Modernisierungsprozesses - ihre eigenen Widersprüche hervor und führte zwangsläufig zu Gegenbewegungen, die man oft undifferenziert als "Fundamentalismus" bezeichnet. Der Begriff "Fundamentalismus" stammt vom Namen der Schriftenreihe The Fundamentals, die in den USA zwischen 1910 und 1915 von christlichen Gruppen herausgegeben wurde, die insbesondere an der Verbalinspiration und der absoluten Irrtumslosigkeit der Bibel festhielten. Viele der in letzter Zeit von extremistischen Moslems und insbesondere von den Wortführern der Taliban und AI-Qhaida vorgebrachten Antagonismen und Denkbilder können zum Teil fast wörtlich - mutatis mutandis - in den christlich motivierten Schriften "fundamentalistischer" Kreise in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachgelesen werden: die historisch-kritische Bibelwissenschaft und ihre Anhänger werden als "ungläubig" bezeichnet; Säkularismus, Modernismus und liberale Theologie sind "des Teufels", gegen die es in aller Entschiedenheit vorzugehen gilt; das Weitende ist nahe, bei dem die "Ungläubigen" zu Grunde gehen und die auf die Fundamentals vertrauenden Gläubigen gerettet werden. 14 Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde der ursprünglich im orthodoxen Protestantismus beheimatete Begriff des "Fundamentalismus" auch auf andere religiös-politische Protestbewegungen unter Muslimen, Juden, Sikhs, Hindus, Theravada-Buddhisten und japanischen Religionsangehörigen, später auch auf katholische Integralisten übertragen. Trotz unterschiedlichen inhaltlichen Programmen erscheinen die als "fundamentalistisch" bezeichneten Bewegungen als kämpferischer Versuch - der bisweilen auch gezielte Gewaltanwendung beinhaltet -, die im Zug der abendländischen Modernisierung eingetretene Liberalisierung, Säkularisierung und funktionale Differenzierung des sozialen Lebens zu Gunsten einer einheitlichen sakralen Orientierung aufzuheben, ohne dem historisch gewachsenen Plura14 Zu den Ursprungen des ,Fundamentalismus' in Nordamerika: SANDEEN, Emest R.: The roots of Fundamentalism, New York 1970. Eine gute Übersicht des Phänomens bietet: KÜENZLEN G. F.: Aufstand gegen die Modeme, in: GABRIEL, Karl - HOHN, Hans-Joachim (Hgg.): Krise der Immanenz. Religion an den Grenzen der Modeme, Frankfurt am Main 1996, S.50-71.
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lismus Rechnung zu tragen. In einem spezifischen Sinne wird "Fundamentalismus" als "Politisierung der Religion" verstanden, wie sie etwa in der direkten Umsetzung der religiösen Offenbarung auf die politische Konstitution und das Rechtswesen (sharia) in gewissen islamischen Theokratien seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne richtet sich der religiöse "Fundamentalismus" auch gegen demokratische Einrichtungen und die als abendländisch verstandenen Menschenrechte. Gegenüber dem statischen und ideologisch gefärbten Begriff des "Fundamentalismus" , bzw. der "Fundamentalisten" (die "Zurückgebliebenen", die "Ewiggestrigen", die "Fanatiker'') möchte ich den dynamischen Begriff der "Fundamentalisierung" einführen, der einen Prozess beschreibt, in den nicht nur die Religionen, sondern Kulturen im Allgemeinen, aber auch Wirtschaftsmodelle und politische Projekte eintreten und darin agieren können. Allerdings sollte er nicht etwa als Gegenbegriff zur "Globalisierung" verstanden werden,15 die ebenso "fundamentalistische" Züge annehmen kann wie etwa ein politisch extremer Indigenismus oder der Gottesstaat der Taliban. Alternative Begriffe zu beiden Prozessen (also das als unmöglich erachtete tertium datur) wären etwa der herrschaftsfreie interkulturelle Dialog, die Internationalisierung des Rechts, die Koexistenz und Konvivenz unterschiedlicher Lebensentwürfe, symbolischer Universen, wirtschaftlicher Modelle, politischer Entwürfe, religiöser Überzeugungen. 16 Nun hat ja die neoliberale "Globalisierung" - mit der Schützenhilfe der postmodernen Philosophie - ihre Mission gerade mit dem Anspruch angetreten, die Völker zu verbinden, die Distanzen zu verkleinern, die Differenzen zu wahren und die unterschiedlichsten Kulturen und Weltanschauungen miteinander in Beziehung zu setzen. Das idyllisch anmutende Bild vom global village zeugt von dieser noch in vielen Köpfen und Herzen von (vor allem abendländischen) Wirtschaftsleuten und Politikern anwesenden "Utopie" des Marktes als harmonia praestabilitata, die gleichsam die Synthese des postmoder-
IS Auch wäre es verfehlt, die "Säkularisierung" als Gegenbegriff zur "Fundamentalisierung" zu sehen; es gibt durchaus auch ,säkulare Fundamentalismen', wie etwa ein dogmatischer Materialismus oder Empirismus. Alle Lebensbereiche (die Wissenschaften eingeschlossen) sind der Versuchung der ,Fundamentalisierung' ausgesetzt, die in einer ungebührlichen und als unverrückbare Wahrheit daherkommenden Simplifizierung des Lebens und der Welt besteht. Fundamentalistische Auffassungen tendieren zu monistischen oder dualistischen Erklärungsmodellen und schließen pluralistische und holistische Deutungen der Wirklichkeit aus. 16 Es gehört zur ,ideologischen' Strategie der kapitalistischen Globalisierung, sich als einzig mögliche Alternative zur ,Fundamentalisierung' anzupreisen; die postmoderne Philosophie leistet auf Grund eines ethisch indifferenten Hedonismus diesem Exklusivismus nolens volens Schützenhilfe, auch wenn sie als ,pluralistisches' Sprachspiel daherkommt.
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nen af!)'thing goes und der quasi-göttlichen Vorsehung der "unsichtbaren Hand" von ADAM SMITH darstellt. Damit aber ist der solidarische Globalisierungs-Gedanke im Sinne einer kosmopolitischen Internationalisierung (die ,Eine Welt'), wie er etwa noch in den romanischen Bezeichnungen mondialisation / mundializacion aufscheint, völlig ad absurdum geführt: Statt zu einer weltweiten Geschwisterlichkeit und gerechter Verteilung der Ressourcen zu führen, hat die neoliberale (oder kapitalistische) Globalisierung das "Weltdorf" derart gespalten, dass sich Globalierungsgewinner (the global North) und Globalisierungsverlierer (the global South) bereits in Kriegen gegenüber stehen. Ist es bloßer Zufall, dass eines der reichsten Länder der Erde mit der Rechtfertigung eines "gerechten Krieges" gegen den Terrorismus eines der ärmsten Länder dieser Erde in die größtmögliche Misere zurückbombt? Der komplementär17 dazu verlaufende Prozess der "Fundamentalisierung" ist eine Antwort auf die zunehmende reale Unordnung (ökologische Katastrophen, Korruption, Drogenhandel, Kriminalität usw.) und die subjektiv empfundene Ungewissheit und Ohnmacht gegenüber einer namenlosen und meistens unsichtbaren "Macht".18 Das genuin Neue gegenüber den zuvor geschilderten Fundamentalisierungs-Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts besteht darin, dass die Fundamentalisierung des 21. Jahrhunderts einen "globalisierten" Gegner vor sich hat und sich deshalb als transkulturell oder gar transreligiös versteht. Durch die Monopolposition des kapitalistischen Wirtschaftssystems und den damit einhergehenden Werten von Konkurrenz, 17 Auch wenn die ,Fundamentalisierung' als Gegenbewegung zum gegenwärtig ablaufenden Prozess ökonomischer und kultuteller Globalisierung interpretiert wird, handelt es sich um eine komplementäre Begleiterscheinung desselben. Je radikaler die kulturelle Homogenisierung und Auferlegung eines bestimmten Zivilisationsmodells, umso militanter erweisen sich die Widerstandsbewegungen und umso ,fundamentalistischer' der Rekurs auf die kultutelle, religiöse und ethnische Identität. 18 Es ist wohl kein Zufall, dass der globalisierte Neoliberalismus seine eigene Theologie hervorgebracht hat und sich selber durchaus in religiösen Gewändern zeigt. Die Theologisierung des Neoliberalismus durch ihre Protagonisten im Anschluss an die Kritik an der Befreiungstheologie ist ein interessantes Phänomen, das die Prophezeiung eines ,Endes der Ideologien' Lügen straft. Namhafte Vertreter des theoretischen Neoliberalismus (Hayek, Novak, Rorty, Camdessus, Fukuyama) beerben die großen ,Erzählungen' des Historizismus (Marxismus, Christentum), um dessen utopisches und metaphysisches Potential auf die innerweltliche kapitalistische ,Heilslehre' umzubiegen. Siehe dazu: CAMDESSUS, Michel: Markt und Reich Gottes - die doppelte Zugehörigkeit, in: Weltkirche 15 (1995), S.304-314; RORlY - HAYEK- NOVAK: La metafisica del Liberalismo, in: ~En verdad liberara?, San Jose 1990; HINKELAMMERT, Franz J.: EI huracan de la globalizaci6n: la exclusi6n y la destrucci6n del medio ambiente vistos desde la teorfa de la dependencia, in: Pasos 69 (1997), S.21-27; ASSl\-L'\NN, Hugo - HINKELAMMERT, Franz J.: A idolatria do mercado, Säo Paulo 1989; RICHARD, Pablo: Crftica teol6gica a la globalizaci6n neoliberal, in: Pasos 71 (1997), S.31-34. .
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Hedonismus, Konsum, Materialismus und Schrankenlosigkeit fühlen sich die kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Minderheiten vor die Alternative gestellt, entweder zu kapitulieren oder sich in die Nischen ihrer (oft als irrational betrachteten) "Fundamente" zurückzuziehen. Es ist nicht von ungefähr, dass unmittelbar nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 auf das WorM Trade Centre in New York die GlobalisierungsGegner (zum Beispiel anlässlich des Gipfels in Göteborg) unter Fundamentalismus- oder gar Terrorismus-Verdacht gerieten. Plötzlich fangen die (ideologischen und politischen) Parameter an, sich zu verschieben: Die Menschen, die sich auf die kulturelle und politische Selbstbestimmung berufen und damit für die Freiheit in Gerechtigkeit kämpfen, werden zu undemokratischen "Feinden der Freiheit" gestempelt; jene aber, die ihren "Fortschritt" und Lebenssti11 9 allen anderen aufzwingen möchten, zeigen sich der Welt als die Verteidiger der wahren Demokratie und der "unendlichen Gerechtigkeit" (infinite juslice). Das Paradoxon wird in diesen Tagen vollends offenbar, wenn der "Kampf für die Freiheit und Demokratie" nicht nur höchst undemokratische Maßnahmen bedingt, sondern zu einem eklatanten Abbau demokratischer Verhältnisse und Freiheiten, ja sogar zu einem regelrechten Überwachungsstaat führt, der dem als "fundamentalistisch" bezeichneten Mul1ahstaat erstaunlich nahe kommt. 20 Noch einmal: Globalisierung und Fundamentalisierung sind nicht sich gegenseitig ausschließende Alternativen (/ertium non da/ur;, sondern radikale und extreme Formen von Herrschaft, die in ihrer Zielrichtung einander entgegengesetzt, in ihrer inneren Logik aber miteinander verwandt und zueinander komplementär sind. Beiden geht es um Einheitlichkeit, Uniformität, Monokulturalität und Absolutheit, und beide vertragen sich nicht mit wirklicher Pluralität, Vielfalt, Interkulturalität und Relationalität. Die Hindutva in Indien 19 Ganz auf dieser Linie ist die Begründung der Administration Bush, das Protokoll von Kyoto (Maßnahmen zur Erhaltung der Umwelt) nicht zu unterschreiben: "Wir (die Amerikaner) haben ein Recht auf unseren Lebensstil." Es ist klar, dass dieser Anspruch (im Sinne des kategorischen Imperativs von Kant) nicht universalisierbar ist; ein globalisierter Amencan wqJ of life bedeutet den Kollaps des Planeten Erde. Zudem bedeutet es auch eine klare Absage an die trans-generationale Verantwortung politischer Entscheidungsträger. 20 Die weltweit feststellbare Krise der klassischen politischen Parteien hat nicht nur mit der Implosion des real existierenden Sozialismus, sondern mit der postmodernen ,Beliebigkeit' ethischer und ideologischer Positionen, angesichts der übermächtigen wirtschaftlichen ,Sachzwänge', zu tun. Die Programme der unterschiedlichen politischen Parteien in den westlichen Demokratien sind einander oft zum Verwechseln ähnlich; traditionell ,linke' Gruppierungen vertreten liberalistisches Gedankengut und eigentlich ,rechte' Bewegungen entwerfen politische Modelle für eine Verteilungsgerechtigkeit. A,!ything gou.
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erträgt keinen kulturellen und religiösen Pluralismus; die Taliban in Afghanistan können sich eine Kombination von Islam und Demokratie nicht vorstellen; für christliche Kreuzzügler gibt es nur einen christlichen Himmel (und deshalb auch nur eine christliche Erde); für Coca Cola ist es unvorstellbar, dass jemand in Peru Inka-Cola trinkt. Multikulturalität, Multireligiosität und ökonomisch-politische Vielfalt sind für Fundamentalisten und Globalisierer gleichermaßen bedrohend. 21 Aber sind es denn nicht gerade die Religionen und die parareligiösen Heilslehren, die eine erstaunliche Pluralitäts-Immunität an den Tag legen? Liegt es nicht in der Natur des Religiösen als der "Bindung" an das Unverfügbare und Absolute, dass alternative Heilsangebote eigentlich nicht geduldet werden können, ja sogar nicht einmal geduldet werden dürfen? Religionen scheinen doch auf Grund ihres jeweiligen Absolutheitsanspruches geradezu für die "Globalisierung" prädestiniert zu sein? Ist es nicht eigentlich zutiefst "religiöse Energie" (im Sinne eines Eifers für den eigenen Glauben), welche die Globalisierer und Fundamentalisten gleichermaßen antreibt und auch zu extremen Formen der Gewaltanwendung(strukturell oder terroristisch) hochschwingt? Oder nochmals anders gefragt: Sind Religionen überhaupt pluralismusfahig?
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Religiös motivierte Gewalt?
Im Anschluss an die Terrorakte in New York und Washington wurden Stimmen laut, welche die "Abschaffung der Religion" forderten, denn nur so " [...] könne endlich die menschliche Gewaltgeschichte ein Ende nehmen". Abgesehen davon, dass schon manche weltgeschichtlichen Persönlichkeiten insbesondere im Abendland - diesen Versuch unternommen haben und daran gescheitert sind,22 stellt sich natürlich die Frage, ob die zu Grunde liegende Während das ,fundamentalistische' Paradigma Kulturen als inkommensurable Einheiten betrachtet und sich in die kulturellen ,Monaden ohne Fenster' zurückzieht, geht das Globalisierungs-Paradigma von der These der Super-Kulturalität eines gewissen Zivilisationsmodells aus, das sich - analog dem ökonomischen trickle down effect - nach und nach in allen partikulären Kulturräumen breit macht. Beide Paradigma ta weisen die Vorstellung der ,Interkulturalität' im Sinne eines möglichen Dialogs unter Beibehaltung der Differenzen und Partikularitäten zurück. 22 Die oft zitierte "religiöse Renaissance" in den Kemgebieten des praktischen Atheismus - die als szientifizistisch und säkular verstandenen Industriegesellschaften - darf nicht darüber hinweg täuschen, dass es sich um höchst diffuse und relativ individualistische Prozesse der Sinngebung und Kontingenzbewältigung handelt, welche die klassischen Religionen und Konfessionen kaum berühren. ,Jeder ist ein Sonderfall" - so der Titel einer empirischen Untersuchung des Pastoralsoziologischen Instituts in Zürich anfangs der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts. 21
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These wahr sei, wonach die Religionen Hauptursache (oder gar einzige Ursache) von Gewalt und Gewalttätigkeiten seien. Dass der Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen die Taliban in Afghanistan - trotz mehrmaliger gegenteiliger Beteuerung von Bush - von vielen Menschen ganz im Sinne der These von SAMUEL P. HUNTINGTON23 als ein Kampf des "abendländischen Christentums" gegen den "arabischen Islam" wahrgenommen wird, könnte als Indiz für die Richtigkeit dieser These gedeutet werden. Der Freudsche lapsus linguae von Bush unmittelbar nach den Anschlägen, als er von einem "Kreuzzug" sprach, hat sich im Unterbewusstsein der Amerikaner wohl stärker festgesetzt als die spätere Korrektur, bei dem Krieg gegen den Terrorismus handele es sich nicht um einen "Krieg gegen den Islam". Die Gegenseite ist viel unverblümter und spricht von einem Jihad gegen die Ungläubigen, um eine Ehrenrettung des Islam und einen Kampf für die Sache Allahs. Fortschrittliche (christliche) TheologInnen beeilen sich, die Religion (vor allem die christliche) aus dem Schussfeld zu bringen, indem sie die aktuellen interreligiösen Konflikte (Sri Lanka, Indien, Palästina, Tschetschenien, Nigeria, Sudan usw.) und das Phänomen des "islamitischen Terrorismus" auf politische, wirtschaftliche und kulturelle Ursachen zurückzuführen versuchen. Für nicht-abendländische Augen dagegen ist eine derartige Isolierung des religiösen Faktors nicht annehmlich und zeugt von einer eurozentrischen Auffassung von ,Religion'24 und ihrer Beziehung zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gestaltung der Lebenswelt. In Zeitungs kommentaren liest man immer und immer wieder, dass nur der Säkularismus, also die Trennung von Religion und Staat, einen Terrorismus und eine Gewalt dieser Größe und Natur bändigen könne. Genau dieser "Säkularismus" wird von der Gegenseite als Zeichen des "Unglaubens" und der "Gottlosigkeit" gewertet. Spricht man in diesem "Dialog von Tauben" überhaupt von ein und derselben Sache? Nach einer Studie des New Religious Movement Research Institute zählte man 2001 weltweit 9900 eigenständige Religionen; täglich kommen zwei bis drei neue Bewegungen dazu (siehe: BARRET, Davis - KURlAN, George - JOHNSON, Todd (Hgg.): World Christian Encyclopedia, Nairobi 1981, Oxford 22001). 23 Siehe Huntington: Kampf der Kulturen. 24 Im Anschluss an eine Kritik der eurozentrischen Bestimmung von ,Religion' und ,Religiosität' plädiere ich für einen polyzentrischen Religionsbegriff: ESTERMANN, Josef: Schritte zu einem polyzentrischen Religionsbegriff. Herausforderungen für die ReIigionspädagogik aus der Perspektive der interkulturellen philosophischen Diskussion, in: SCHREIJÄCK, Thomas (Hg.): Christwerden im Kulturwandel. Analysen, Themen und Optionen für Religionspädagogik und Praktische Theologie, Freiburg 2001, S.200-223.
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Auch wenn die institutionelle Trennung von Kirche und Staat, die offizielle Entpolitisierung und weitgehende Entfernung der Religion aus dem öffentlichen Raum im westlichen Kulturraum (neben Fehlern) positive Resultate gezeitigt hat, braucht das für andere Kulturräume nicht auch zu gelten. Der Religionsbegriff selber ist kulturrelativ und nicht an eine bestimmte Kultur normativ gebunden; dasselbe gilt auch für die Begriffe von "Freiheit", "Demokratie" und "Recht".25 Nicht nur im real existierenden Prozess der Globalisierung, sondern auch in den Debatten um den "Kampf gegen den Terrorismus", "den Islam", "den Fundamentalismus" und die Rolle der "Religion" herrschen monokulturelle, sprich: abendländisch verkürzte Wert- und Erkenntnisschemata vor. Der Ort und die Rolle des Religiösen in einer Bauerngemeinde der Hochanden oder unter den Massai in Kenia sind ganz andere als im als "säkular" bezeichneten nord-atlantischen Kulturraum. Die Bestimmung des Verhältnisses von ,Religion' und ,Gewalt' reicht von der ideellen Entflechtung (Exklusion) bis hin zur wesentlichen Zuordnung (Inklusion) beider Phänomene. Die Positionen können idealtypisch wie folgt dargestellt werden: 1. Eine erste These (,Inklusion') geht vom grundsätzlich in den Religionen beheimateten Gewaltpotential aus. Diese Position - sie entspricht der oben erwähnten Auffassung, ,Religion' gehöre generell abgeschafft - sieht die religiös motivierte oder gar legitiniierte Gewalt nicht als eine Entgleisung oder zufälliges Nebenprodukt religiöser Überzeugungen, sondern systemlogisch als zwingende Folge der Inkompatibilität von Absolutheitsansprüchen, die religiöse Traditionen geltend machen. 26 Religionspluralismus ist nach dieser Position immer eine Quelle von Gewalt, Ausgrenzung und Ausschluss. SAMUEL P. HUNTINGTON gründet seine Idee eines Clash of Civilizations auf diese These. Alle religiösen ,Fundamentalismen', ange2S Zur Kulturrelativität von Menschenrechten und Demokratiekonzeptionen vgl.: FORNETBETANCOURT, Raul (Hg.): Menschenrechte im Streit zwischen Kulturpluralismus und Universalität. Dokumentation des VII. Internationalen Seminars des Dialogprogramms Nord-Süd, Frankfurt am Main 2000; FORNET-BETANCOURT, Raul- SANDKÜHLER, Hans Jörg (Hgg.): Begründungen und Wirkungen von Menschenrechten im Kontext der Globalisierung. Dokumentation des VIII. Internationalen Seminars des Dialogprogramms Nord-Süd, Frankfurt am Main 200l. 26 Es ist also nicht eine empirische These, die sich auf die geschichtliche Verflechtung von Religion und Gewalt stützt und dies auch phänomenologisch bei praktisch allen religiösen Traditionen nachweisen könnte; es geht vielmehr um eine prinzipielle Zuordnung von ,Religion' und ,Gewalt': ,Religion' erzeuge aus ihrem ureigenen Wesen Gewalt. Ihre Gewaltbereitschaft erfolge nicht per accidens, sondern sei eine (logische) Ableitung ihrer Verfassung. Natürlich wäre hier der Mayor des Syllogismus (,Religionen haben per se Absolutheitsansprüche') zu befragen, und zwar auch hinsichtlich der monotheistischen Religionen. Außerdem ist es philosophisch nicht korrekt zu behaupten, (transzendente) Absolutheit sei mit (empirischer) Pluralität unvereinbar.
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fangen von den Kreuzzügen, der Inquisition und der Conquista, bis hin zum Jihad im Islam, der militanten Hindu-Partei (BJP) in Indien, den ,Sonnen templern' oder der ugandischen ,Bewegung zur Wiederherstellung der Zehn Gebote', beharren auf der Unumstößlichkeit ihrer Wahrheit und der absoluten Unversöhnlichkeit mit anderen Sinngebungstraditionen. Die Folge ist Aus- und Abgrenzung, Repression nach innen und Aggression nach außen, kurz: ein Teufelskreis religiös (und daher auch ethisch) legitimierter Gewaltanwendung. Nicht selten geht diese religiös motivierte Gewalt einher mit ,ethnischer Säuberung', Fremdenhass und extremem Ethnozentrismus. 2. Die gegensätzliche These (,Exklusion') betont das in allen Religionen vorhandene Potential der Gewaltlosigkeit und deren Triebkraft für den Frieden. Nicht nur die in vielen religiösen Traditionen vorhandenen Utopien des Friedens (z.B. das chinesische T'ien, das buddhistische Nirwana oder das christliche Gottesreich), sondern auch die religiös motivierte ethische Praxis von Versöhnung und Respekt dienen dazu, diese Position zu untermauern. Herausragende Figuren wie Mahatma Gandhi, Thich Nhat Hanh oder Martin Luther King gelten als Fürsprecher eines auf Dialog und gegenseitigen Respekt gegründeten Verhältnisses zwischen den verschiedenen Glaubenstraditionen. HANS KÜNG ist mit seinem ,Weltethos' überzeugt, dass es ohne den Frieden zwischen den Religionen keinen Frieden zwischen den Nationen geben könne. Mehr noch: ein gewaltfreies Zusammenleben der Menschen ist nicht trotz religiösem und kulturellem Pluralismus möglich, sondern gerade dank der reichen Bestände eines allen religiösen Traditionen gemeinsamen Ethos. 27 Die Religion ist somit der eigentliche Motor, um den Hume'schen ,Wolf (homo homini lupus) zu zähmen und in ein ,Lamm' zu verwandeln; und der interreligiöse Dialog ist das Experimentierfeld für diese welthistorische Aufgabe. Religionen sind "eigentlich" pazifistisch und der Gewaltanwendung abgeneigt. Dieser Auffassung gemäß ist die scheinbar religiös motivierte Gewalt (z.B. Heilige Kriege, Inquisition, Zwangsbekehrungen, Konfessionskriege) in Wirklichkeit anderer Natur; Religion und religiöse Gefühle werden für Gewaltakte instrumentalisiert und politisch geschickt ausgebeutet. 3. Eine dritte These (,Ambivalenz') distanziert sich von jeglicher essenzialistischen (das heißt wesenhaften und somit ungeschichtlichen) Definition von ,Religion' und ihrer Anfälligkeit für oder ihrer Abwehr von Gewalt. Religion ist - wie jedes kulturelle, aus der Menschheitsgeschichte erwachVgl. KÜNG, Hans (Hg.): Ja zum Weltethos. Perspektiven für die Suche nach Orientierung, München 1995.
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sene Phänomen - in sich weder auf Gewaltanwendung und Ausschluss noch auf Gewaldosigkeit und Integration angelegt. Je nach ihrer Funktion in einem ganz bestimmten (sozio-politischen und historischen) Kontext und ihrer ,Verwendung' (lnstrumentalisierung), kann sie hinsichtlich Gewalt ein ganz unterschiedliches Gesicht zeigen. Das heißt: Das Verhältnis von Religion und Gewalt ist sehr ambivalent und komplex, in jedem Falle aber kontingent. Das in gewissen Tiefenschichten einer Religion angelegte Gewaltpotential (dasselbe wäre übrigens auch von der Sexualität zu sagen) kann durch externe Faktoren wie ökonomische Interessen, politische Unterdrückung, kulturelle Hegemonie oder soziale Ungerechtigkeit ,angezapft' und aktualisiert werden. Religion wird in diesem Fall für die Gewaltanwendung instrumentalisiert, indem sie ,profanen' Vorhaben den Geruch des Heiligen und Geheiligten verleiht und diese dadurch legitimiert. Aber auch das Umgekehrte ist möglich: Das in den religiösen Traditionen angelegte spirituelle und ethische Potential von Versöhnung, Respekt und Gewaldosigkeit kann in bestimmten Kontexten mobilisiert werden, um ,profane' Konflikte friedlich zu lösen. Religionspluralismus ist für diese Position sowohl eine Chance wie ein Risiko; er kann je nach der Haltung der Akteure integrierend oder ausgrenzend, aufbauend oder zerstörerisch wirken. Für Ersteres ist der interreligiöse Dialog auf der Grundlage des gegenseitigen Respekts unabdingbar: Das Göttliche hat viele Namen und Gesichter.
4 Zehn Thesen zum Spannungsviereck Religion, Gewalt, Globalisierung und Fundamentalisierung Ich möchte die bisher angestellten Überlegungen mit ein paar Thesen abschließen, die zu mehr Differenzierung animieren und vor einfachen und vorschnellen Lösungen warnen sollen: 1. Die Religionen sollten nicht vorschnell vom Verdacht ihrer "Gewaltbereitschaft" befreit werden, und zwar ohne Ausnahme. 28 2. Das Christentum wird insofern mit der real existierenden neoliberalen Globalisierung kausal in Verbindung gebracht, als es ihm nicht gelingt, sich vom Eurozentrismus (resp. Okzidentozentrismus) zu befreien.
Die These, dass die monotheistischen Religionen stärker zur Ausübung von Gewalt neigen als polytheistische oder atheistische, ist nicht haltbar. Die Erfahrungen in den letzten Jahren mit hinduistischen und buddhistischen Gewaltausbruchen in Indien und Sri Lanka etwa widerlegen empirisch einen oft vorgebrachten lehrmäßigen Pazifismus dieser religiösen Traditionen.
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3. Keine Religion existiert in Reinkultur (als "Idealtyp") und sollte weder von ihrer idealen "Lehre" noch von ihren extremen Manifestationen (z.B. Fundamentalismen), sondern von ihrer realen Praxis her verstanden und beurteilt werden. 4. Globalisierung und Fundamentalisierung sind komplementäre Phänomene, die sich beide aber in der Ablehnung echter Pluralität finden. 5. Fundamentalismus ist eine bestimmte Erscheinungsform aller Religionen und geht weit über diese hinaus (politischer, ökonomischer, kultureller und gender Fundamentalismus). 6. Der real existierende Globalisierungsprozess vergrößert das Konfliktpotential unter den Völkern und Religionen und trägt zu einer neuen Polarisierung bei. 7. Der Grad der kulturellen Globalisierung abendländischer Werte und Vorstellungen verhält sich proportional zur Zunahme kultureller und politischer Unversöhnlichkeit. 8. Der wachsende Graben zwischen Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern ist ein wichtiger Nährboden für Terrorismus und die quasi-religiöse Rechtfertigung desselben. 9. Religionen sind sowohl Gewalt fördernd als auch Gewalt hemmend; religiöse Gefühle können leicht für das eine oder andere manipuliert und instrumentalisiert werden. 10. Die einzige Alternative zu (kapitalistischer) Globalisierung und Fundamentalisierung ist ein wirklicher interkultureller und interreligiöser Dialog, der als Ziel das Leben und Überleben der Menschen in einer planetarischen Makroökumene hat.
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In unserer Zeit zeigt sich immer wieder, dass bei der Entstehung und im Verlauf zahlreicher nationaler und internationaler gewaltsamer Konflikte sich religiöse Faktoren nachweisen lassen. Das überrascht insofern nicht, als die Religionen seit je her mit dem Phänomen menschlicher Gewaltanwendung verbunden sind: "Gewalt und Krieg wurden religiös gedeutet, allzu häufig religiös legitimiert oder gar gefordert. Doch ebenso findet die grundsätzliche Kritik an der Gewalt und die Klage über ihre leidvollen Konsequenzen für die Opfer ihren beredtesten Ausdruck in religiös-ethischen Zusammenhängen" (Gerechter Friede, 192).