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12 mm
10 mm
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15 mm 10 mm
Walter Dietrich, Moisés Mayordomo in Zusammenarbeit mit Claudia Einsele und einem studentischen Autorenteam
Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel
Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel
Dietrich, Mayordomo
10 mm
ISBN 3-290-
Format: 150 x 225 mm
PANTONE 396 PANTONE Rubine Red
Walter Dietrich, Moisés Mayordomo Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel
Walter Dietrich, Moisés Mayordomo in Zusammenarbeit mit Claudia Henne-Einsele und einem studentischen Autorenteam
Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel
Theologischer Verlag Zürich
Gedruckt mit Unterstützung der Reformierten Kirchen Bern–Jura–Solothurn und der «Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern». Umschlaggestaltung www.gapa.ch – gataric, ackermann und partner, zürich unter Verwendung der Studienfolge «Krieg und Frieden» 4. 12. 1953 von Pablo Picasso. Copyright ProLitteris, 2005, 8033 Zürich. Druck ROSCH-BUCH, Scheßlitz Die Deutsche Bibliothek – Bibliographische Einheitsaufnahme Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 3-290-17341-0 © 2005 Theologischer Verlag Zürich Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotografischen und audiovisuellen Wiedergabe, der elektronischen Erfassung sowie der Übersetzung, bleiben vorbehalten.
Vorwort Angeregt durch die vom Ökumenischen Rat der Kirchen 2001 eröffnete «Dekade zur Überwindung von Gewalt» hat die Christkatholische und Evangelische Theologische Fakultät der Universität Bern in letzter Zeit eine Reihe von thematisch miteinander vernetzten Veranstaltungen zum Problem der Gewalt durchgeführt. Dies ist das zweite Buch, das aus dieser konzentrierten Zusammenarbeit hervorgegangen ist. Das erste, im vorigen Jahr erschienen (W. Dietrich / W. Lienemann [Hrsg.], Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen, Stuttgart 2004), enthält Beiträge aus den verschiedenen theologischen und re ligionswissenschaftlichen Fachrichtungen. Die bibel-exegetische Perspektive ist dort nur eine unter vielen, so dass wichtige Aspekte unberücksichtigt sind. Anders verhält es sich mit dem vorliegenden Buch. Es verfolgt – unseres Wissens erstmalig – die Thematik von Gewalt und Gewaltüberwindung in voller Breite durch die ganze Bibel hindurch. Unser Buch richtet sich an alle in Kirche und Gesellschaft, die an der Allgegenwart der Gewalt leiden und nach Möglichkeiten ihrer Überwindung suchen. Wir sind überzeugt: Die Bibel kann dabei eine Hilfe sein. Sie verlangt freilich sorgfältiges Zuhören und selbstständiges Mit- und Weiterdenken. Dementsprechend haben wir versucht, allgemeinverständlich zu formulieren und dabei doch wissenschaftlich fundiert zu informieren. Unser Ziel war es, ein Lese- und Fachbuch, ein Studien- und Werkbuch zugleich zu schaffen. Die Anfänge dieses Buches gehen auf ein Seminar über «Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel» zurück, bei dem wir – ein Alttestamentler und ein Neutestamentler – zweierlei im Blick hatten: die spannende Thematik und eine besondere Didaktik. Die Teilnehmenden waren darüber informiert, dass alle zu diesem Seminar geleisteten Beiträge (Referate, Literaturrecherchen, Thesen, schriftliche Arbeiten usw.) in der Perspektive eines geplanten Buchprojekts zu sehen waren. Entsprechend hoch waren Intensität und Aufwand bei allen Beteiligten; denn es war jeweils nicht nur an den eigenen Erkenntnisgewinn zu denken, sondern daran, wie dieser an eine weitere Öffentlichkeit vermittelt werden könnte. Nach dem Seminar wurden alle entstandenen Texte nach und nach gesammelt. Wir, die Seminarleiter, sahen sie durch, machten Vorschläge für die Überarbeitung, prüften die revidierten Texte erneut, sorgten für gegenseitige Abstimmung und formale Angleichung. Für noch nicht abgedeckte Teilbereiche zogen wir andere, im Entstehen begriffene Arbeiten herbei, vieles schrieben wir selbst. Ohne die Verdienste anderer schmälern zu wollen, übernehmen wir für das Ganze die Verantwortung. Wir haben die vielfältigen, hier zur Sprache kommenden Positionen, Fragehinsichten und Materialien zu einem Ganzen gefügt, das in seinem Aufbau einem fünfteiligen Altarbild ähnelt. In der Mitte (Teil C) steht ein
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Vorwort
Gemälde von der endlichen Abschaffung der Gewalt, zusammengesetzt aus biblischen Hoffnungsbildern über Gottes versöhnliche Zuwendung zu seiner Welt und den Frieden zwischen den Menschen (und Tieren!). Links und rechts davon sind die beiden sachlichen Hauptteile platziert: auf der einen Seite (Teil B) eine Phänomenologie der Gewalt in der Bibel, die sich gliedert in Gewalt zwischen Individuen, in der Gesellschaft, zwischen Religionen, zwischen Staaten und gegenüber der Kreatur; auf der anderen Seite (Teil D) eine biblische Wegbeschreibung zur Überwindung der Gewalt unter den Leitwörtern Vorbeugung, Verarbeitung, Begrenzung, Verzicht und Versöhnung. Ganz zu Beginn (Teil A) werden einige Vor- bzw. Grundsatzfragen geklärt: Was meinen wir, wenn wir von Gewalt reden? Wie redet die Bibel davon? Was könnte die Beschäftigung mit der Bibel für den heutigen Umgang mit Gewalt austragen? Und ganz am Schluss (Teil E) stehen einige Anwendungsbeispiele christlicher Rede von Gewalt und Gewaltüberwindung. Die Struktur des Gesamtbildes und seine verschiedenen Teilszenen lassen sich aus dem Inhaltsverzeichnis ersehen. Zusätzlich hilft ein Bibelstellenregister, die einzelnen biblischen Facetten aufzufinden. Ausserdem geben kleine Bibliographien am Ende jedes Abschnitts Hinweise auf Möglichkeiten zur Vertiefung (oder auch Korrektur!) des jeweils Dargestellten. Die Anlage des Buches erlaubt es durchaus, einzelne seiner Elemente gesondert zu lesen und zu nutzen. Gleichwohl macht es auch Sinn, den sachlichen Bogen, den es insgesamt schlägt, als ganzen zu verfolgen. Wir haben vielen zu danken: zunächst allen Mitautoren und -autorinnen für ihre Textentwürfe – und auch für die Geduld, mit der sie unsere Überarbeitungsvorschläge aufgenommen haben. Ihre Namen sind, wie die unseren, am Schluss der Einzelbeiträge durch Initialen angezeigt; diese lassen sich über die Autorenliste am Ende des Buches entschlüsseln. Wir danken namentlich Frau Pfarrerin Claudia Henne-Einsele, die im Rahmen einer Teilassistenz die Lektorats- und Redaktionsarbeit an diesem Band übernommen hat, sowie Mary-Gabrielle Mouthon, die Korrektur gelesen hat, und Roman Häfliger, der bei den Korrekturen geholfen und dazu auch das Formatieren und das Erstellen des Registers übernommen hat. Dem Theologischen Verlag Zürich und speziell Frau Marianne Stauffacher sowie Frau Lisa Briner danken wir für die Betreuung dieses Bandes und insbesondere dafür, dass wir bei Bibelzitaten den noch vorläufigen Text der noch nicht publizierten Neuen Zürcher Bibel (NZB) benutzen durften (obwohl wir gelegentlich auch eigene Übersetzungen zugrunde gelegt haben). Schliesslich danken wir den Reformierten Kirchen Bern–Jura– Solothurn und der «Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung an der Universität Bern» für die Gewährung von Druckkostenzuschüssen. Bern, im Frühjahr 2005
Walter Dietrich, Moisés Mayordomo
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 A. Hinführung 1. Einstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Definitionen, Unterscheidungen und Ursachen von Gewalt 3. Die Sprache der Gewalt in der Bibel . . . . . . . . . 4. Gewalt in der Bibel und Gewalt heute – hermeneutische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . 9 . . 11 . . 17 . . 23
B. Die Realität der Gewalt in der Bibel I. Gewalt im Nahbereich 1. Gewalt zwischen Brüdern: Kain und Abel (Gen 4,1–16) . . 2. Gewalt zwischen Bruder und Schwester: Amnon und Tamar (2Sam 13,1–22) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewalt in der Kindererziehung? – Eine Anfrage an das Alte Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. «Gewalt» in der Familie – Devianz, Familienkonflikte und Jesusnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Konflikte in den Gemeinden . . . . . . . . . . . . .
. 28 . 33 . 37 . 43 . 47
II. Gewalt in Staat und Gesellschaft 1. Staatliche Gewalt im Alten Israel . . . . . . . . . . . . 50 2. Gewalt in der israelitischen Gesellschaft . . . . . . . . . 55 3. Rebellen, Räuber und Eiferer zur Zeit Jesu . . . . . . . . 58 III. Gewalt zwischen Religionen 1. Religiös legitimierte Gewalt im Alten Testament? . . . . . . 65 2. Religiöse Gewalt im Neuen Testament? . . . . . . . . . . 73 IV. Gewalt gegen die Kreatur im Alten Testament 1. Bedrohung des Menschen und Entsakralisierung der Welt . . 76 2. «Herrschaft» des Menschen über Tiere: das so genannte Dominium Terrae . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Das Tier als Opfer und als Ausbeutungsobjekt . . . . . . . 79 V. Gewalt zwischen den Völkern 1. Kriegerische Gewalt im Alten Testament . . . . . . . . . 80 2. Eine besondere Facette: Davids Kriege . . . . . . . . . . 90 3. Kriegerisches im Neuen Testament . . . . . . . . . . . 93 C. Gegenbilder zur Gewalt in der Bibel 1. Alttestamentliche Erwartungen von Frieden für Israel und die Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Alttestamentliche Bilder vom Frieden in der Schöpfung . . . 110
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Inhaltsverzeichnis
3. Die Hoffnung auf Frieden und Erlösung der Natur im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 4. Die Mächte und Gewalten – Das Ende der Gewalt . . . . . 123 5. Die Basileia als Zeichen des Friedens . . . . . . . . . . . 129 D. Wege zur Überwindung der Gewalt in der Bibel I. Vorbeugung gegen Gewalt 1. Tugenden des Friedens im Neuen Testament . . . . . . . . 134 2. Die Entfeindung des Fremden im Alten Testament . . . . . . 140 3. Die Menschenwürde als Movens zur friedensethischen Tat, am Beispiel der Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . 144 II. Begrenzung der Gewalt 1. Ansätze zur Minimierung der Gewalt gegen Tiere im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 2. Das alttestamentliche Recht als Versuch zur Minimierung der Gewalt unter den Menschen . . . . . . . . . . . . . 157 3. Die Pflicht der «Staatsgewalt» (Röm 13,1–7) . . . . . . . . 166 III. Verarbeitung der Gewalt 1. Gewaltphantasien in der Offenbarung des Johannes . . . . . 174 2. Rache: Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema . . . 182 IV. Verzicht auf Gewalt 1. Gewaltverzicht beim Gott Israels . . . . . . . . . . . . 191 2. Gewaltverzicht im Alten Israel . . . . . . . . . . . . . 194 3. Gewaltverzicht und Feindesliebe in der Bergpredigt . . . . . 200 V. Versöhnung statt Gewalt 1. Jakob und Esau. Annäherungen an eine biblische Versöhnungsgeschichte . . . . . . . . . . . 2. Die Josefsgeschichte als Modell für Versöhnung . 3. Das Sterben Jesu als «Opfer» der Versöhnung – Erwägungen zu einer These René Girards . . . . 4. Zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung im Neuen Testament . . . . . . . . . . . .
. . . . . 218 . . . . . 227 . . . . . 237 . . . . . 243
E. Praktische Ausblicke 1. Eine Frau lehrt den König Gewaltverzicht: Elemente eines Gottesdienstes zu 1Samuel 25 . . . . . . . . . . . . . 251 2. «Das Schwert in der Bibel»: Elemente eines Gottesdienstes zu einem biblischen Thema . . . . . . . . . . . . . . . 260 Anhang Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 Bibliographische Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . 268 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270
A. Hinführung
1. Einstieg Als Herr Keuner, der Denkende, sich in einem Saale vor vielen gegen die Gewalt aussprach, merkte er, wie die Leute vor ihm zurückwichen und weggingen. Er blickte sich um und sah hinter sich stehen – die Gewalt. «Was sagtest du?», fragte ihn die Gewalt. «Ich sprach mich für die Gewalt aus», antwortete Herr Keuner. Als Keuner weggegangen war, fragten ihn seine Schüler nach seinem Rückgrat. Herr Keuner antwortete: «Ich habe kein Rückgrat zum Zerschlagen. Gerade ich muss länger leben als die Gewalt.» (aus: Bertolt Brecht, Geschichten vom Herrn Keuner)
Wie Herr Keuner sind alle gegen Gewalt, viele reden gegen sie wie er. Doch wenn sie kommt, bringt sie immer wieder Leute dazu wegzulaufen, wegzusehen, stillzuhalten, zu schweigen, sich zu verbiegen und sich zu beugen. Herr Keuner beugt sich, um zu überleben. Offenbar ist er von extremer Gewalt unmittelbar bedroht – und er will nur eines: sie «überleben», über sie hinaus leben. Die Brecht-Geschichte geht weiter mit der Parabel von einem Mann, bei dem sich ein Agent der tyrannischen Staatsgewalt einnistet. Der ungebetene Gast benimmt sich flegelhaft-herrisch und fragt schliesslich: «Wirst du mir dienen?» Der Mann antwortet nicht, bedient den Gewalttäter vielmehr wortlos, bis der nach sieben Jahren «vom vielen Essen, Schlafen und Befehlen» stirbt. Dann endlich gibt er die Antwort: «Nein.» Hinausgezögert wegen des blanken Terrors, steht am Ende also doch das «Nein» zur Gewalt. Dieses «Nein» hat sich der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) für das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts auf die Fahnen geschrieben und eine «Dekade zur Überwindung der Gewalt» ausgerufen. Nach einem der gewalttätigsten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte war es dafür höchste Zeit. Der Ausbruch des zweiten Irak-Kriegs hat zwar der Hoffnung auf ein grundlegendes Umdenken der Menschheit einen Dämpfer versetzt. Dennoch ist kaum zu bestreiten, dass es in den letzten Jahren gerade innerhalb der Christenheit verstärkte Anstrengungen zur Überwindung von Gewalt gegeben hat. In zahllosen Kirchgemeinden und Gemeindegruppen haben Gottesdienste, Diskussionsveranstaltungen und Aktionen zur Thematik der Dekade stattgefunden. Es hat sich – gerade auch in christlichen Kirchen und Kreisen – eine starke, so wohl noch nie da gewesene Gegenbewegung gegen jenen Krieg entfaltet. Anlass für solche Aktionen geben jedoch nicht nur kriegerische Ereignisse in der Ferne, sondern bedenkliche Entwicklungen in unserer
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A. Hinführung
unmittelbaren Umgebung, wo es zum Teil schon heiss und drohend brodelt: Neonazitreffen, schlafende Terrorzellen, Blutbad im Kantonsparlament, Zwangsprostitution, Gewalt an Schulen und der alltägliche mediale Mord- und Totschlag. Was tun gegen die Gewalt? Das Mindeste ist: über sie reden, sie kenntlich machen, ihre Teufelskreise nachzeichnen und sie hier und da zu durchbrechen versuchen. Dazu können alle beitragen, auch und nicht zuletzt die Kirchen. In der christlichen (wie in jeder anderen) Religion gibt es grosse Potenziale: für Gewalt, aber auch für Gewaltüberwindung. Das ist schon im Grund-Buch der christlichen (und der jüdischen) Religion so. Die Bibel scheint an manchen Stellen schier zu bersten vor Gewalt, an vielen anderen gibt sie kostbare Lehren und Beispiele von Gewaltvermeidung, Versöhnung und Friedfertigkeit. Diese Vielfalt ist zunächst auf die einfache Tatsache zurückzuführen, dass die Bibel eigentlich nicht ein Buch ist, sondern eine ganze Bibliothek von Büchern höchst unterschiedlicher Art und Gattung, entstanden über mehr als ein Jahrtausend hinweg. Gewalt kommt darin auf vielfältige Weise vor. Freilich wird sie nicht irgendwo thematisch und ausführlich behandelt; es gibt in der Bibel keinen speziellen Traktat zur Gewalt. Wohl gibt es biblische Textbereiche, in denen sich Erzählungen, Aussagen, Gedanken zur Gewaltfrage häufen. Doch finden sich Anspielungen auf dieses wahrhaft universelle und zu allen Zeiten aktuelle Problem auf fast jeder Seite der Bibel. Die biblischen Autoren haben allerdings keine Register und keine Resümees angefertigt, anhand derer man rasch zu den einschlägigen Stellen finden könnte. Angesichts dieser Sachlage liegt es nahe, nach einschlägiger Sekundärliteratur zu greifen. In der Tat gibt es einige neuere Arbeiten über «Gewalt in der Bibel», erstaunlicherweise aber viel weniger, als man vielleicht vermuten möchte. Einige Bücher beschäftigen sich vorrangig mit gewaltförmigen Zügen im biblischen Gottesbild, sind also dezidiert theologisch ausgerichtet1. Nur relativ wenige Studien behandeln die Thematik aus der Sicht zwischenmenschlicher Gewalt. Von ihnen konzentrieren sich wiederum die meisten auf bestimmte Textbereiche oder Teilthemen; auf sie werden wir im Folgenden von Fall zu Fall verweisen2. Eine ausführliche Gesamtdarstellung des Themas in seinen vielen Verästelungen über die gesamte Bibel Alten und Neuen Testaments hinweg ist bisher noch nicht vorgelegt worden3. Genau dies versuchen wir in dem vorliegenden Buch. 1
Vgl. Görg, Gott; Römer, Dieu; Dietrich / Link, Dunkle Seiten. Baudler, Töten, 165–334, behandelt das Thema aus der Perspektive der Opferproblematik in den Religionen. 2 Vgl. die bibliographischen Hinweise am Ende der einzelnen Unterkapitel und die gelegentlichen Bezugnahmen in Fussnoten. 3 Zur Thematik aus gesamtbiblischer Sicht gibt es lediglich einige, ausgesprochen skizzenhafte Überblicke: rund 50 Seiten eines Themenhefts der populärwissenschaft-
2. Definitionen, Unterscheidungen und Ursachen von Gewalt
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Literatur
G. BAUDLER, Töten oder Lieben. Gewalt und Gewaltlosigkeit in Religion und Christentum, München 1994. – J. EBACH, Das Erbe der Gewalt. Eine biblische Realität und ihre Wirkungsgeschichte, Gütersloh 1980 (GTB 378). – W. DIETRICH, Im Zeichen Kains. Gewalt und Gewaltüberwindung in der Hebräischen Bibel, in: EvTh 64 (2004), 252–267. – W. DIETRICH / C. LINK, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1: Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 42002. – M. GÖRG, Der un-heile Gott. Die Bibel im Bann der Gewalt, Düsseldorf 1995. – M. KÄSSMANN, Gewalt überwinden. Eine Dekade des Ökumenischen Rates der Kirchen, Hannover 32001. – W. LIENEMANN, Gewalt und Gewaltverzicht. Studien zur abendländischen Vorgeschichte der gegenwärtigen Wahrnehmung von Gewalt, München 1982 (FBESG 36). – N. LOHFINK (Hrsg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament, Freiburg i.Br. 1983 (QD 96). – Themenheft zu «Ein Gott der Gewalt?», in: BiKi 51 (1996), 94–132. – T. RÖMER, Dieu obscur. Le sexe, la cruauté et la violence dans lʼAncien Testament, Genf 1996.
WD / MM 2. Definitionen, Unterscheidungen und Ursachen von Gewalt Das Wort «Gewalt» gehört sicherlich zu jenen, die am häufigsten im öffentlichen Diskurs Verwendung finden. Wir finden es in allen möglichen Kombinationen («Staatsgewalt», «Gewaltspirale», «Gewaltphantasien»), in festen Schlagworten («Gewalt gegen Frauen», «Gewalt an der Schule»), in ganz unterschiedlichen Adjektiven («gewaltig», «gewaltsam») und in verwandten Verben («walten», «verwalten»). Nicht alle diese Begriffe sind negativ gefärbt. Jedoch reflektiert die «sprachliche Vielfalt und Unübersichtlichkeit […] die bedrängende Allgegenwart der unterschiedlichsten Gewaltphänomene»4. Doch: Was meinen wir, wenn wir «Gewalt» sagen? Während viele Sprachen begrifflich zwischen physischer Gewaltanwendung und legitimer institutioneller Gewalt unterscheiden (lateinisch violentia / potestas, englisch violence / power, französisch violence / pouvoir), zeichnet sich der Gewaltbegriff im Deutschen durch eine besondere Vagheit aus. Die Wortgeschichte belegt mindestens vier Verwendungsweisen5:
lichen Zeitschrift «Bibel und Kirche» (1996), relativ knappe Ausführungen in Ebach, Erbe, 14–69; Kässmann, Gewalt, 44–54, und Lienemann, Gewalt, 36–77. Zum Alten Testament existiert ein etwas ausführlicherer Zeitschriftartikel über «Gewalt und Gewaltüberwindung in der Hebräischen Bibel» (Dietrich 2004). Bei dem Band mit dem umfassenden Titel «Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament» (Lohfink 1983) handelt es sich in Wirklichkeit um eine Sammlung von Einzelstudien zu bestimmten Texten und Themen, wobei freilich der vom Herausgeber vorangestellte Forschungsüberblick (15–50) einen weiteren Horizont eröffnet. 4 Lienemann, Kritik der Gewalt, 11. 5 Imbusch, Gewaltbegriff, 30; vgl. zur Philosophiegeschichte Röttgers, Gewalt.
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A. Hinführung 1. Öffentliche Herrschaft, die an eine Rechtsordnung gebunden ist, 2. territoriale Obrigkeit, Staatsgewalt bzw. deren konkrete Träger, 3. Verfügungs- oder tatsächliches Besitzverhältnis und 4. physische Gewaltanwendung, politischer Zwang, gewaltsame Handlungen.
Trotz dieser Vielfalt tendiert der gegenwärtige Sprachgebrauch immer stärker zu einer rein negativen Verwendung im Sinne von «Zwang» und «Gewalttat». In dieser Hinsicht definiert auch Heinrich Popitz «Gewalt» als eine Machtaktion, «die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt»6. Ähnlich versteht Wolfgang Lienemann Gewalt als «Bezeichnung einer zwingenden physischen Verletzung des Willens und der Integrität und damit der Freiheit eines Menschen»7. Johan Galtung, einer der führenden Gewaltforscher, schlägt eine wesentlich umfassendere Definition vor: «Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische [= körperliche, MM] und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung […]. Gewalt ist das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrössert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert.»8
Nach dieser sehr weiten Definition ist jede äussere Einwirkung auf ein Individuum, die dessen positive Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt, als «Gewaltakt» zu deuten. Allerdings gerät auch in dieser Begriffsbestimmung Gewalt gegen Sachen, gegen Tiere oder allgemein gegen die Natur nicht in den Blick. Problematisch ist ferner das Verhältnis von Gewalt und Macht. Während Hannah Arendt beide scharf gegeneinander absetzt9, lässt sich im Gefolge von Max Weber «Gewalt» als eine Form der Machtausübung verstehen10. In diesem Sinne versucht Heinz-Horst Schrey den Machtbegriff aufzufächern: «Begegnet Macht der freiwilligen Zustimmung, so hat sie die Gestalt der Autorität; legt sie ihren Willen von aussen zwingend fest, hat sie die Form der Gewalt. Wird Macht ohne Rücksicht auf den Konsensus der Beherrschten ausgeübt, gewinnt sie den Charakter des Zwangs.»11
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Popitz, Macht, 48. Lienemann, Kritik der Gewalt, 12. 8 Galtung, Beiträge, 9. 9 Arendt, Macht und Gewalt. 10 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 28f: «Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht. […] Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.» 11 Schrey, Gewalt, 168. 7
2. Definitionen, Unterscheidungen und Ursachen von Gewalt
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Ob eine enge oder eine weite Begriffsbestimmung vorzuziehen ist, hängt zum Teil davon ab, in welchem Kontext wir über Gewalt reden. Wenn es darum geht, möglichst klare Leitlinien für die Gewaltbekämpfung zu entwerfen, ist eine enge Definition im Sinne absichtlicher, körperlicher Schädigung sicherlich nützlicher, weil sie die Problematik auf einen erkennbaren Punkt projiziert. Steht jedoch das Interesse im Zentrum, die komplexe Vernetzung von Gewaltphänomenen zu analysieren, dann ist eine weit gefasste Definition wie die von Galtung hilfreich. Nach welchen Kriterien lassen sich Phänomene analysieren, die – je nach Definition – als Gewaltakte verstanden werden? Die folgende Tabelle bietet dazu eine Hilfe12: Kategorie Wer? (Subjekte)
Analysekriterien Täter als Akteure
Definitionsbestandteile Personen, Gruppen, Institutionen, Strukturen Personen, Sachen
Was? (Phänomenologie der Gewalt)
Verletzung, Schädigung, andere Effekte
Wie? (Art und Weise der Gewaltausübung) Wem? (Objekte) Warum? (Ursachen und Gründe) Wozu? (Ziel und Motive)
Mittel, Umstände (auch «bystanders») Opfer Interessen, Zufälle, Möglichkeiten Grade der Zweckhaftigkeit
physisch, psychisch, symbolisch, kommunikativ Personen, Tiere, Sachen Begründungsvarianten
Weshalb? (Rechtfertigungsmuster)
Normabweichung, Normentsprechung
legal/illegal, legitim/illegitim
Absichten
Die folgenden Begriffe dienen dazu, weitere Dimensionen der Gewalt erkennbar zu machen: 1. Psychische Gewalt13: Während physische Gewalt als absichtliche Verletzung oder Tötung einer Person im Sinne von «Ursache und Wirkung» leicht von aussen erkennbar ist, zielt psychische Gewalt darauf, jemanden einzuschüchtern, zu ängstigen oder gefügig zu machen. Da sie manchmal auch unbeabsichtigt geschehen kann, ist sie sehr viel subtiler und komplexer. Zu ihren Vorgehensweisen gehören Worte, Gebärden, Bilder, Symbole, Entzug von Lebensnotwendigem, «Belohnungen», seelische Folter usw. Ihre Wirkung ist schwer einzuschätzen, da Abwehrmechanismen und Verdrängungen im Spiel sind und die tatsächliche Schädigung oft erst viel später als Trauma auftreten kann. 12 13
Imbusch, Gewaltbegriff, 34–37; vgl. Lienemann, Kritik der Gewalt, 18. Imbusch, Gewaltbegriff, 37–39.
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A. Hinführung
2. Institutionelle Gewalt: Institutionen können ihren «Hoheits- und Gehorsamsanspruch« über Untergebene und Abhängige «durch physische Sanktionen» abstützen und dadurch Hierarchien festigen14. Damit sind in Bezug auf das Subjekt der Gewalt nicht mehr Individuen im Blick, sondern komplexe Gebilde wie der Staat, die Kirche (als Institution) oder grosse Firmen. 3. Strukturelle Gewalt: Dieser von Johan Galtung geprägte Begriff macht auf den engen Zusammenhang zwischen konkreten Gewaltakten und gesellschaftlichen Strukturen (wie z.B. Armut, Krankheit) aufmerksam. Direkte Täter sind dabei nicht benennbar, vielmehr ist die Gewalt Teil fest gefügter gesellschaftlicher Systeme15. 4. Symbolische Gewalt: Vor allem die Beziehung zwischen Sprache und Gewalt macht auf die symbolische Dimension von Gewalt aufmerksam16. In diesem Sinne sind Sprachhandlungen wie Beschimpfung, Beleidigung, Verleumdung, Diskreditierung, Abwertung und alle weiteren Formen von «hate speech» als symbolische Akte der Gewaltausübung zu verstehen. Über die Ursachen menschlicher Gewalt sind viele Theorien und Hypothesen aufgestellt worden. Auch wenn die Wahrnehmung von Gewalt kulturbedingten Variationen unterliegt, sind Gewaltphänomene ein dominanter Faktor in allen Kulturen17. Die Vermutung liegt nahe, Gewalt auf die biologische «Instinktgebundenheit des Menschen» zurückzuführen18. Gewalt ist insofern auch eine verlockende Option, weil «ihr Einsatz sicherer, unbedingter und allgemeiner als andere Zwangsmittel Wirkung zeitigt» und weil «sie ein im Ernstfall allen anderen überlegenes Kontrollwerkzeug und politisches Machtinstrument ist»19. Gewalt wäre damit der ungeduldige Arm der Macht. Zu denken gibt weiterhin der spezifische Bezug zwischen Gewalt und männlicher Identitätsbildung. Die evolutionsbiologische These, dass männliche Aggression der Erhaltung der Spezies und dem Schutz von Frau und Kind diene, wird durch die Tatsache in Zweifel gezogen, dass es überall und zu allen Zeiten Belege von männlicher Brutalität gerade gegenüber Frauen und Kindern gibt20. Wenn es – abseits der biologischen Diskussion – um die soziale 14
Waldmann, Politik und Gewalt, 431. Vgl. Galtung, Gewalt. Neuerdings spricht Galtung von «kultureller Gewalt» (vgl. Cultural Violence), um all jene Legitimierungsmechanismen zu bezeichnen, die innerhalb einer Kultur für die Anwendung von Gewalt bereitstehen (z.B. durch Religion, Ideologien, Sprache, Kunst, Wissenschaft usw.). In diesen Bereich gehören auch ritualisierte Formen von Gewalt. 16 Vgl. dazu Butler, Hass; Erzgräber / Hirsch, Sprache. 17 Hugger, Kulturanthropologie, 19f. 18 Popitz, Macht, 48ff. Zu denken wäre etwa an die alte ethologische These von Lorenz (vgl. ders., Böse), der Aggression als lebens- und arterhaltenden Instinkt deutet. 19 Neidhart, Gewalt, 134. 20 Ernüchterndes, Einseitiges und Erwägenswertes dazu in Aaken, Männliche Gewalt. 15
2. Definitionen, Unterscheidungen und Ursachen von Gewalt
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Konstruktion von Geschlecht (im Sinne des englischen «gender») geht, ist das Ausmass, in dem auch heute noch Männlichkeit mit Stärke, Herrschaft und Gewalt in Verbindung gebracht wird, geradezu erschreckend. Ein psychologischer Erklärungsversuch für männliche bzw. menschliche Gewalt beruft sich auf den Zusammenhang zwischen Frustration bzw. Angst und Aggression21. Erwiesenermassen verstärken mangelnde Kommunikationsfähigkeit und fehlendes Selbstvertrauen die Neigung, unter Druck als erste Option die Anwendung von Gewalt zu wählen. Die Behauptung, Aggression gehe immer auf Frustration zurück, ist jedoch zu einseitig. Frustration führt vielmehr zu einer Intensivierung jeder Reaktionsform; wobei die aggressive Reaktion deswegen besonders häufig auftritt, weil sie leichter zu lernen ist. Konstruktive Bewältigungsmechanismen sind demgegenüber schwerer zu lernen. Aggression wäre demnach nicht in erster Linie ein angeborener Instinkt, sondern ein durch zwei Modelle erlerntes Verhalten: durch «operantes Konditionieren» (also durch eigene Erfolgserfahrungen) und durch das «Lernen am Modell» (also durch Beobachten erfolgreicher Vorbilder und Übernahme ganzer Handlungssequenzen). Die Ursachenforschung hat für die Entstehung von Gewalt biologische, kulturelle, soziale und psychologische Gründe geltend gemacht. Einen ebenso anregenden wie einseitigen Erklärungsversuch hat der Literaturund Kulturwissenschaftler René Girard vorgelegt. Als Ursache der Gewalt identifiziert er das «mimetische Begehren», das jedem Menschen zu Eigen ist. Anhand wichtiger Romane arbeitet Girard die psychologische «Dreiecksstruktur» des Begehrens heraus22: In einer einfachen Version wird das Begehren durch ein Objekt geweckt, etwa wenn der Anblick von Essen Hunger hervorruft. Es gibt aber eine kompliziertere Konstellation, bei der das Begehren durch einen Mittler oder ein Vorbild hervorgerufen wird. Je nachdem, in welchem Verhältnis Mittler und Subjekt zueinander stehen, unterscheidet Girard zwischen «externer Vermittlung», bei der Rivalität ausgeschlossen ist, und «interner Vermittlung», bei der Subjekt und Mittler in ein kompliziertes Geflecht von Faszination, Verteidigung und Hass geraten. «Nur wer uns daran hindert, ein Begehren zu befriedigen, das er selbst in uns geweckt hat, ist wirklich Objekt des Hasses. Wer hasst, hasst in erster Linie sich selbst, und zwar wegen der im eigenen Hass verborgenen Bewunderung. Um diese grenzenlose Bewunderung vor den anderen, aber auch vor sich selbst zu verbergen, will er in seinem Mittler bloss noch das Hindernis sehen.»23
21
Vgl. Denker, Angst; Sobez / Verres, Ärger. Girard, Begehren, 11–60. 23 Girard, Begehren, 20. 22
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A. Hinführung
Girard belegt diese These allgemein anthropologisch24: Menschen lernen wie Tiere durch Nachahmung. Sind aber ihre Grundbedürfnisse gestillt, lernen sie durch Nachahmung zu begehren. «Um wahrhaft zu begehren, müssen wir auf die uns umgebenden Menschen zurückgreifen, wir müssen ihnen ihr Begehren entleihen.»25 Der Konflikt liegt also in der Natur der höheren Lebewesen in ihrer Eigenschaft als mimetisch begehrende Wesen. «Mimetische Rivalität ist die Hauptquelle zwischenmenschlicher Gewalt.»26 Der mimetische Konflikt führt schliesslich zu einer Form von Gewalt, bei der die Gegenstände der Rivalität zunehmend in Vergessenheit geraten; aus der Aneignungsrivalität wird Prestigerivalität und «Gegenspielermimesis»: «Jeder Rivale wird für den anderen das anbetungswürdige und hassenswerte Modell-Hindernis, zu dem, den man gleichzeitig niedermachen und in sich aufnehmen muss.»27 Da das mimetische Begehren «ansteckend» ist, wachsen Konflikte so lange «epidemisch» an, bis sie durch Krieg, Opfer oder Gesetze eingedämmt oder gelöst werden28. Die aktuelle Gewaltdiskussion ist noch sehr viel komplexer. Als knappe Entfaltung der wichtigsten Diskussionsbeiträge dürfte dieser Überblick jedoch ausreichen. Unsere Darstellung der Gewaltphänomene in der Bibel wird sich vorwiegend auf Aspekte physischer Gewalt konzentrieren, zuweilen aber auch auf einen weiter gefassten Gewaltbegriff rekurrieren. Literatur
V. van AAKEN, Männliche Gewalt, Düsseldorf 2000. – H. ARENDT, Macht und Gewalt, München 1970; 142000. – J. BUTLER, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. – R. DENKER, Angst und Aggression, Stuttgart 1974. – U. ERZGRÄBER / A. HIRSCH (Hrsg.), Sprache und Gewalt, Berlin 2001 – J. GALTUNG, Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975. – DERS., Cultural Violence, in: Journal of Peace Research 3 (1990), 291–305. – R. GIRARD, Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität, Thaur / Münster 1999 (Beiträge zur mimetischen Theorie 8) (= franz.: 1961). – DERS., Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg i.Br. 1983 (= franz.: 1978). – DERS., Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München 2002 (= franz.: 1999). – P. HUGGER, Elemente einer Kulturanthropologie der Gewalt, in: P. Hugger / U. Stadler (Hrsg.), Gewalt. Kulturelle Formen in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1995, 17–27. – P. IMBUSCH, Der Gewaltbegriff, in: W. Heitmeyer / J. Hagan (Hrsg.), Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, 26–57. – W. LIENEMANN, Kritik der Gewalt. Unterscheidungen und Klärungen, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. 24
Girard, Ende, 18–21. Girard, Satan, 31. 26 Girard, Satan, 26. 27 Girard, Ende, 37. 28 Girard, Ende, 38. Vgl. zur Opfertheorie Girards D.V.4.2. 25
3. Die Sprache der Gewalt in der Bibel
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Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 10–30. – K. LORENZ, Das so genannte Böse, Wien 291971. – F. NEIDHART, Gewalt. Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen eines Begriffs, in: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Was ist Gewalt? Bd. 1: Strafrechtliche und sozialwissenschaftliche Darlegungen, Wiesbaden 1986, 109–147. – H. POPITZ, Phänomene der Macht, Tübingen 21992. – K. RÖTTGERS, Art. Gewalt, in: HWP 3 (1974), 562–570. – H.-H. SCHREY, Art. Gewalt / Gewaltlosigkeit I. Ethisch, in: TRE 13 (1984), 168–178. – I. SOBEZ / R. VERRES, Ärger, Aggression und soziale Kompetenz, Frankfurt a.M. 1980 (Konzepte der Humanwissenschaften). – P. WALDMANN, Politik und Gewalt, in: D. Nohlen / R.-O. Schultze (Hrsg.), Politische Theorien. Lexikon der Politik Bd. 1, München 1995, 430–435. – M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 1976.
MM
3. Die Sprache der Gewalt in der Bibel 3.1 Zur Semantik der Gewalt in der Hebräischen Bibel Die Annäherung an das Thema «Gewalt in der Bibel» hat schon sprachlich einige Hürden zu überwinden. So gibt es im Hebräischen kein präzises Äquivalent zum deutschen Wort «Gewalt», von einer eigenen Begriffsdefinition ganz zu schweigen. In hebräisch-deutschen Lexika, die im Anhang über einen deutsch-hebräischen Index verfügen, finden sich unter diesem Stichwort zwar durchaus Hinweise – aber verwirrend viele. In dem alteingeführten Lexikon von Gesenius / Buhl29 etwa wird unter diesem Stichwort auf nicht weniger als acht hebräische Nomina verwiesen, die «Gewalt» bedeuten sollen. In der Tat tragen sie allesamt gewaltförmige Aspekte an sich, dies aber in je spezifischer Weise: 1. ’el: allermeist eine Gottesbezeichnung, wird an wenigen Stellen (z.B. Gen 31,29; Mi 2,1) übertragen für (durchaus menschliche) «Stärke, Gewalt» gebraucht; 2. ©åzqāh kann physische «Gewalt» meinen (z.B. Ri 4,3), aber auch eher psychische «Kraft, Heftigkeit» (z.B. Ri 8,1: «kräftig schimpfen», Jon 3,8: «heftig zu Gott rufen»); 3. ©āmas bezeichnet die konkret zugefügte Gewalttat, das angetane Unrecht, sehr oft im sozialen Bereich; 4. yād ist einfach die «Hand», häufig die starke, zuweilen aber eben auch die gewalttätige Hand («in jemandes Hand fallen» bedeutet soviel wie «in seine Gewalt geraten»); 5. koa© hat eine grosse Bedeutungsbreite: «Vermögen, Tüchtigkeit, Kraft, Macht, Gewalt»; 29
Gesenius / Buhl, Handwörterbuch, 961.
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A. Hinführung
6. kaf, eigentlich «Handfläche, hohle Hand» (vgl. 4.), mit einer GewaltKonnotation in der Wendung «in jemandes Hand (d.h. Gewalt) geben» (Ri 6,13; Jer 12,7); 7. ‘ôz trägt Bedeutungen von «Gewalt» (z.B. Ps 90,11) über «Macht» und «Kraft» bis «Festigkeit» und «Schutz»; 8. toqæf, nur im Ester-Buch begegnend, steht für «Stärke, Gewalt», aber auch für «Nachdruck, Energie». Betrachtet man diese Liste, wird deutlich, wie abstrakt und schwer zu fassen unser deutscher Begriff «Gewalt» gegenüber dem hebräischen Sprachgebrauch ist, wo sehr anschaulich und konkret von Gliedmassen geredet wird, die Gewalt üben können, oder von Verhaltensweisen oder Vorgängen oder Fähigkeiten, denen zuweilen ein Gewaltelement innewohnt. Irritierend ist zudem, dass einige dieser Begriffe genauso von Gott wie von Menschen gebraucht werden; entfallen damit negative Assoziationen – oder fällt umgekehrt von daher ein dunkler Schatten auf das Gottesbild? Deutlich haben einige der Begriffe eine positive Seite, ja öfters (z.B. bei den Nummern 1, 4 und 7) überwiegt diese. Nur ein einziger Begriff wird allein negativ gebraucht (3). Die meisten Wörter oszillieren zwischen eher positiven und eher negativen Konnotationen. Ein ähnlich farben- und facettenreiches Bild stellt sich bei Betrachtung der in Frage kommenden Verben ein30. • Drei von ihnen hängen mit oben erwähnten Nomina etymologisch eng zusammen. Davon ist nur eines klar negativ gefärbt: ©ms (vgl. oben 3) heisst «gewaltsam Unrecht zufügen». Die beiden anderen haben ein weites Bedeutungsfeld, das nur unter Umständen Gewalttätigkeit einschliesst: ©zq (vgl. oben Nr. 2) meint so viel wie «fest sein, stark sein, festhalten, zupacken», ‘zz (vgl. oben 7) «stark sein, Macht ausüben». • Einige Verben beinhalten das Auslöschen von Leben und haben insofern etwas klar Gewalttätiges. Doch nur eines meint prägnant «morden» (rø©), während die Ausdrücke für «töten» (mwt, Hif.) oder «(er)schlagen» (nkh) auch ethisch ambivalentere Handlungen wie Feindabwehr, Notwehr, Töten im Krieg oder Todesstrafe einschliessen. • Weniger physische als vielmehr strukturelle Gewalt drückt sich in einer Reihe anderer Verben aus: ‘šq bedeutet «bedrücken, ausbeuten, erpressen», ørr «einschnüren, bedrängen, anfeinden», rdh «herrschen», oft mit dem Nebensinn des Unterdrückens (z.B. Jes 14,2), kbš «dienstbar machen, versklaven» (z.B. Neh 5,5; aber auch «vergewaltigen»: Est 7,8), ‘nh (II) «erniedrigen, demütigen» (allerdings auch «vergewaltigen»: Gen 34,2; 2Sam 13,12ff; Ri 19,24; Klgl 5,11). 30 Bei Verben werden als Grundform im Hebräischen nur die drei tragenden Konsonanten angegeben; die Vokale wechseln je nach der konkreten Verbform. Bei der Bestimmung der Bedeutungsfelder wird im Folgenden zugrunde gelegt: Köhler / Baumgartner / Stamm, Lexikon.
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Viele Verben bezeichnen zunächst «nur» ein kraftvolles Agieren oder auch zerstörerisches Wirken und lediglich in bestimmten Zusammenhängen dezidiert Gewalt gegen Menschen: so etwa šbr («zerbrechen, zerschlagen»), š©t («verderben, vernichten»), šmm («veröden, verstören»), ntø («niederreissen, abbrechen», meist von Häusern oder Altären, von Menschen aber Ps 52,7; Hiob 19,10), rms («zertreten, zertrampeln», von Menschen etwa 2Kön 7,17.20), prø, («einschneiden, durchbrechen», im Sinne von Gewaltanwendung Hos 4,2), bq‘ («aufschlitzen, spalten,» von Holz Gen 22,3, von schwangeren Frauen Am 1,13). Hinzuweisen wäre schliesslich noch auf grössere Wortfelder, in denen Gewalt generell präsent ist, wie etwa das vom Krieg. Zu ihm gehören Wörter wie ©ajil oder øābāʼ («Heer»), mil©āmāh («Schlacht, Krieg»), gæbær/gibbôr («Krieger, Elitesoldat»), sowie diverse Handlungen («Krieg führen», «ausrücken» «mustern», «vorrücken», «belagern», «anstürmen», «erobern») und Waffen (z.B. «Schwert», «Spiess», «Bogen», «Schleuder», «Streitwagen» usw.). Überblickt man all dies, ergeben sich folgende Einsichten: • Gewaltphänomene begegnen in grosser sprachlicher Breite und Differenzierung. Was oben nicht aufgezeigt werden konnte, ist hier nachzutragen: Die aufgeführten Begriffe sind äusserst weit gestreut, einige von ihnen sind fast etwas wie Allerweltswörter. Darin spiegeln sich die Allgegenwart der Gewalt und die Vielgestaltigkeit der Erfahrungen mit ihr sowie des Nachdenkens über sie. • Es gibt keinen herausgehobenen hebräischen Gewalt-Begriff. Wie sonst, so ist das Hebräische (wie übrigens das hebräische Denken überhaupt) auch hier gekennzeichnet durch Konkretheit, Farbigkeit und Anschaulichkeit – negativ könnte man sagen: durch einen Mangel an Abstraktion und Systematik. • So ist es im Hebräischen auch nicht möglich, zwischen legitimer, erstrebenswerter «Macht» und illegitimer, verurteilenswerter «Gewalttätigkeit» sprachlich zu unterscheiden, wie dies in anderen Sprachen der Fall ist31. • Einzelne hebräische Wörter können sehr Unterschiedliches beschreiben: vom verabscheuungswürdigen Gewaltexzess über ambivalente Machtausübung und unvermeidlichen Energieaufwand bis hin zur bewundernswerten Krafttat. • Menschliche und göttliche Gewalt werden mit der gleichen Terminologie beschrieben, wodurch menschliche Gewalt sowohl legitimiert als auch in Frage gestellt werden, wodurch das Gottesbild kraftvoll, aber auch unheimlich erscheinen kann. Wir werden auf all diese Aspekte im Folgenden immer wieder stossen. 31
Vgl. oben Abschnitt A.2.
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Literatur
W. GESENIUS / F. BUHL, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin u.a.O. 1915 = 171962. – L. KÖHLER / W. BAUMGARTNER / J.J. STAMM, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Leiden 1995.
WD 3.2 Zur Semantik der Gewalt im Neuen Testament32 Im Gegensatz zum Hebräischen kennt das Griechische einen Begriff für «Gewalt» im Sinne von «Gewalttat», nämlich das seit Homer belegte Nomen bia und, davon abgeleitet, das Verb biazô («Gewalt anwenden»), das Adjektiv biaios («gewalttätig, gewaltsam») und das Nomen biastês («der Gewalttätige»). Die Septuaginta gebraucht diese Wortgruppe an über 60 Stellen, und in der Geschichtsdarstellung des Josephus spielt sie eine wichtige Rolle, immer wenn es um militärische, physische oder sexuelle Gewaltakte geht33. Dass die gesamte Wortgruppe mit nur sieben Belegen im Neuen Testament vorkommt, macht deutlich, wie wenig über Gewalt direkt als Thema reflektiert wird. Eher beiläufig wird bei der Verhaftung von Petrus und Johannes hervorgehoben, dass die Soldaten diese aus Furcht vor dem Volkszorn «nicht mit Gewalt» herbeiführten (Apg 5,26), und an anderer Stelle, dass Paulus wegen der «Gewalt der Volksmenge» von den Soldaten getragen werden musste (21,35). Ebenso bedrohlich wirken Naturgewalten wie Wellen auf hoher See (27,41) oder das Brausen des Windes an Pfingsten (2,2). Mysteriös ist das Wort vom Eindringen der Gewalttätigen in die Gottesherrschaft (Mt 11,12 par Lk 16,16). Zum direkten Wortfeld von Gewalt gehören noch chalepos (2x: «bösartig, gewalttätig» von zwei Besessenen in Mt 8,28 oder als charakteristisches Zeichen der letzten Zeiten in 2Tim 3,1), sklêros (5x: «hart, streng, heftig» von einem ungerechten Herrn in Mt 25,24 oder von Verbalaggression gegen Gott in Jud 1,15), harpax (5x: «räuberisch» von «reissenden» Wölfen in Mt 7,15 oder von gewalttätigen Räubern in Lk 18,11; 1Kor 6,10), anêmeros (1x: «wild, brutal, grausam» als Untugend in 2Tim 3,3) und barys (6x: «gewichtig, schwierig, grausam» von wilden Wölfen in Apg 20,29). Wesentlich häufiger belegt sind die folgenden mit der Gewaltthematik verwandten Wortfelder:
32 Ich greife hier auf Begriffsfeldanalysen der folgenden Studierenden zurück: Annemarie Beer, Nora Blatter, Andreas Lüdi, Lukas Mühlheim, Markus Reist und Martin Schranz. Einen guten Überblick über das semantische Feld der «Gewalt» bieten Louw / Nida, Lexicon, 222–238. Die Einträge in Bauer / Aland / Aland, Wörterbuch, Balz / Schneider, Exegetisches Wörterbuch und Coenen / Haacker, Theologisches Begriffslexikon sind durchgehend befragt worden. 33 Vgl. zum Wortfeld in Josephus die Studie von Moore, BIAZÔ.
3. Die Sprache der Gewalt in der Bibel
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1. Verletzen: kakoô (6x: «Böses zufügen, schlecht behandeln»), kakôsis (1x: «Misshandlung»), kakopoieô (4x: «Verbrechen begehen, schädigen»), blaptô (2x: «jmdn. schädigen»), blaberos (1x: «schädlich»), katastrophê (2x: «Zerstörung, Untergang»), hybris (3x: «Beleidigung, Misshandlung»), pateô (5x: «mit Füssen treten»), phtheirô (9x: «vernichten, zerstören»), lymainomai (1x: «vernichtet werden»), daknô (1x: «beissen»), traumatizô (2x: «verwunden»), trauma (1x: «Wunde»), môlôps (1x: «Strieme»), basanos (3x: «Folter, Qual»), basanizô (12x: «verhören, quälen») und basanistês (1x: «Folterknecht»). 2. Schlagen: typtô (13x: «schlagen, verprügeln»), plêgê (22x: «Schlag, Hieb, Streich, Wunde, Plage»), plêssô (1x: «schlagen, treffen»), paiô (5x: «schlagen, stossen»), derô (15x: «prügeln»), patassô (10x: «schlagen, erschlagen»), rapizô (2x: «schlagen mit Stock, Rute oder Peitsche»), rapisma (3x: «Schlag, Hieb»), proskoptô (8x: «sich stossen»), prosrêssô (2x: «sich an etwas brechen»), kolaphizô (5x: «mit der Faust schlagen, ohrfeigen, misshandeln»), rabdizô (2x: «Stockhiebe versetzen, mit Rute schlagen, auspeitschen»), phragelloô / mastizô / mastigoô (2x / 1x / 7x: «auspeitschen, geisseln»), mastix (6x: «Peitsche, Geissel»), kataballô (2x: «niederwerfen»), kephalioô (1x: «auf den Kopf schlagen»). 3. Töten: apokteinô (74x: «töten» mit und ohne Absicht), diacheirizomai (2x: «an jmdn. Hand anlegen»), katastrônnymi (1x: «niederstrecken, töten»), edaphizô (1x: «zerstören, töten»), thanatoô (11x: «töten, dem Tod überliefern»), apagô (16x: «zur Hinrichtung abführen»), machaira (29x: «Schwert», übertragen «gewaltsamer Tod»), kentron (4x: «tödlicher Stachel»), thyô (14x: «opfern, schlachten, abschlachten»), sphazô (10x: «schlachten, hinschlachten»), katasphazô (1x: «abschlachten, niedermachen»), sphagê (3x: «das Schlachten»), patassô (10x: «erschlagen»), kopê (1x: «Schlacht»), thigganô (3x: «berühren, umbringen» in Hebr 11,28), stauroô (46x: «kreuzigen»), prospêgnymi (1x: «anschlagen»), kremannymi epi xylou (4x: «ans Holz nageln»), lithazô / katalithazô / lithoboleô (9x / 1x / 7x: «mit Steinen bewerfen, steinigen»), pelekizô (1x: «enthaupten»), apagchomai (1x: «sich erhängen»), phoneuô (12x: «illegal töten, morden»), phonos (9x: «illegale, absichtliche Tötung, Mord, Totschlag», plural: «Bluttaten»), haima [ekcheô] (97x [7x]: «Blut [vergiessen], töten»), phoneus (7x: «Totschläger, Mörder»), androphonos / anthrôpoktonos (1x / 3x: «Mörder»), mêtrolôas (1x: «Muttermörder»), patrolôas (1x: «Vatermörder»), sikarios (1x: «Dolchträger, Sikarier»). 4. Kämpfen: machê (4x: «Kampf, Streit, Zank, Wettkampf»), machomai (4x: «kämpfen, streiten, hadern»), amachos (2x: «kampflos, friedfertig»), polemos (18x: «Kampf, Krieg»), polemeô (7x: «Krieg führen, kämpfen»). 5. Zerstören: apôleia (18x: «Zerstörung, Verwüstung»), [syn]apollymi (90x [1x mit syn]: «zerstören, [gemeinsam] umkommen, verderben»),
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A. Hinführung
lymainomai (1x: «verwüsten»), olethros (4x: «Verderben»), olothreuô (1x: «verderben»), exolethreuô (1x: «ausrotten»), olothreutês (1x: «Verderber»), portheô (3x: «vernichten, zugrunde richten»), phthora (9x: «Verderben, Zerstörung, Vergänglichkeit»), phtheirô / diaphtheirô (9x / 6x: «verderben, zerstören»), erêmoomai (5x: «verwüstet werden»), erêmôsis (3x: «Verwüstung»), kathaireô (9x: «herabnehmen, herabstossen, niederreissen»), kathairesis (3x: «Zerstörung»), airô (101x: meistens «nehmen, tragen», aber auch «zerstören» in Joh 11,48), katesthiô (14x: «auffressen», übertragen «komplett zerstören»), aphanizô (5x: «verstellen, zerstören»), analoô / katanaliskô (2x / 1x: «verzehren»), ptôsis (2x: «Fall»), katapinô (7x: «verschlingen»), lyô (42x: meistens «lösen, freilassen», «in Stücke schlagen» in Apg 27,41; Eph 2,14), katalyô (17x: «auflösen, abbauen, zerstören»), kataskaptô (2x: «zerstören, in Trümmern liegen»), edaphizô (1x: «vernichten, zu Boden werfen»). 6. Waffen: panoplia (3x: «Waffenrüstung»); hopla (6x: allgemein «Waffen»); machaira (29x: «Kurzschwert»; als Symbol für Gefahr in Röm 8,35 und für staatliche Gewalt in Röm 13,4), romphaia (7x: «Langschwert»: Offb 2,12), xylon (5x im Sinne von «Schlagstock»), lonchê (1x: «Speer»), belos (1x: «Pfeilgeschoss»), toxon (1x: «Bogen»), perikephalaia (2x: «Schutzhelm»), thôrax (5x: «Brustpanzer»), thyreos (1x: «Schutzschild»). 7. Kraft / Macht: dynamis (118x: «Vermögen, Kraft, Macht»), dynamai (210x: «vermögen, können»), dynastês (3x: «Herrscher»), dynamoô / endynamoô (2x / 7x: «stark machen»), dynatos (32x: «stark, mächtig»), dynateô (3x: «stark sein, vermögen»), exousia (108x: «Vollmacht, Befugnis, ungehinderte Handlungsfreiheit»), kratos (12x: «Kraft, Macht, Herrschaft»), pantokratôr (10x: «Allherrscher, Allmächtiger»). Dieses Wortfeld steht am stärksten im Zusammenhang mit Gott und am wenigsten in Zusammenhang mit Gewalt im Sinne von «violence». Diese auf Vollständigkeit angelegte Liste zeigt, dass der neutestamentliche Sprachgebrauch dem des Alten Testaments durchaus ähnelt. Gewaltphänomene werden mit einer sehr reichen Begriffspalette zur Sprache gebracht, wobei die spezifische Begrifflichkeit (griech. bia) kaum gebraucht wird. Es ist deutlich: Über «Gewalt» als abstrakte Grösse handelt das Neue Testament nicht. Im Blickpunkt stehen vielmehr die konkreten Ausdrucksweisen von Gewalt in schädigenden und verletzenden Handlungen. Offenbar spiegelt sich das Chaotische, Zerstörerische und Unsystematische der Gewalt auch in der auf sie Bezug nehmenden Sprache. Und gerade das macht die Analyse der Gewalt zu einem so schweren Unternehmen. Literatur
H. BALZ / G. SCHNEIDER (Hrsg.), Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Stuttgart, 2., verb. Aufl. 1992 (3 Bde.). – W. BAUER / K. ALAND / B. ALAND, Griechisch-
4. Gewalt in der Bibel und Gewalt heute
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deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin 61988. – L. COENEN / K. HAACKER (Hrsg.), Theologisches Begriffs lexikon zum Neuen Testament, Wuppertal / Neukirchen-Vluyn, 2. überarb. Aufl. 1997/2000. – J.P. LOUW / E.A. NIDA, Greek-English Lexicon of the New Testament based on Semantic Domains, New York 1988. – E. MOORE, BIAZÔ, ARPAZÔ and cognates in Josephus, in: NTS 21 (1975), 519–543.
MM 4. Gewalt in der Bibel und Gewalt heute – hermeneutische Überlegungen Ein Rabbiner und ein Pastor nehmen an einer Tagung teil und müssen ein Schlafzimmer teilen. Am nächsten Morgen treffen sie sich beim Frühstück. Da sagt der Pastor: «Hoffentlich habe ich Sie gestern abend nicht dadurch gestört, dass ich so lange das Licht brennen liess. Aber wissen Sie, wenn ich nicht abends eine Viertelstunde Gottes Wort gelesen habe, dann kann ich nicht schlafen.» Darauf sagt der Rabbiner: «Wie merkwürdig! Wenn ich abends eine Viertelstunde Gottes Wort läse, ich glaube – ich könnte nicht schlafen.»34
Diese Geschichte macht etwas von der Ambivalenz unserer Rezeption der Bibel deutlich. Wer diese «Ein-Buch-Bibliothek» zu einem so diffizilen Thema wie «Gewalt» befragt, sollte von ihr keine glatten Lösungen und ultimativen Anweisungen erwarten. Die Bibel ordnet nicht an, sondern regt an, sie sorgt nicht für Ruhe, sondern für Unruhe, sie ersetzt nicht eigenes Denken, sondern fordert es heraus. Warum sollte ein Buch über Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel mehr und anderes wollen? Doch gerade im Hinblick auf die Gewaltthematik gehen die Auffassungen über den angemessenen Umgang mit der Bibel ganz unterschiedliche Wege – von blinder Apologetik über naive Beschönigung bis zu vernichtender Kritik. Eine Einsicht ist dabei von grundlegender Wichtigkeit: Das Thema «Gewalt» ist kein Behandlungsobjekt, welches sich nüchtern, wie unter einem Mikroskop betrachten liesse. Wir sind nicht nur von Gewalt betroffen, sondern auch dazu fähig. Sie drängt sich uns nicht nur von aussen auf, sie brodelt auch in unserem Inneren. Bevor also biblisches Reden über Gewalt und ihre Überwindung kritisch unter die Lupe genommen wird, sollte man sich von vornherein jenen Gestus verbieten, der mit allzu leichter Hand Schuldurteile über biblische Texte ausspricht – so als ob nicht jeder und jede selbst eine abgründige Verbindung zur Gewalt hätte! Gibt sich eine solche Scheinheiligkeit
34
Erzählt von Altbundespräsident Johannes Rau in seiner Rede zur Ehrenpromotion zum Dr. theol. h.c. an der Ruhr-Universität Bochum (Rau, Christsein, 23).
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A. Hinführung
als «Sachkritik» aus, verhindert sie nur die aufrichtige Reflexion über die eigenen Gewaltverstrickungen und -phantasien. Hermeneutisch darf dieser Aspekt nicht unberücksichtigt bleiben. Erst aus der Einsicht in eine gewisse «Gewalt-Komplizenschaft» lässt sich der Dialog mit den Texten aufnehmen, kritisch nicht nur gegenüber den Texten und ihren zum Teil unverantwortbaren Wirkungen und Rezeptionen, sondern auch gegenüber mir selbst. Wichtigste Tugend für den exegetischen Dialog ist daher die Geduld, die aufmerksam versucht, den Texten alle Entfaltungsmöglichkeiten zu gewähren. Nun angenommen, es liessen sich die biblischen Aussagen zu Gewalt und Gewaltüberwindung in diesem Sinne einigermassen umfassend und sachgerecht zusammenstellen und beschreiben, so wäre doch noch offen, was dies für uns Heutige bedeuten mag. Zwischen der Bibel und uns klafft ein zeitlicher Graben von Jahrtausenden, die Welt der Bibel ist nicht unsere Welt, ihre Wertvorstellungen müssen nicht die unseren sein. Der historische Abstand zwischen uns und den biblischen Texten ist ein Faktor, der das Verstehen zwar erschwert, der es aber nicht unmöglich macht. Sofern in der Bibel Lebensrealitäten zur Sprache gebracht werden, die in Kontinuität zu unserer Wirklichkeit stehen – und Gewalt ist gewiss eine traurige Kulturkonstante –, können wir die Texte nicht nur historisch und philologisch zu erhellen versuchen, sondern in einen Sachbezug zu ihnen treten. Wenn Texte – egal welchen Alters – solche «zeitlosen» Fragen thematisieren, reden wir nicht mehr aus grosser Distanz über sie, sondern können sie zu einem Bestandteil unserer eigenen Suche nach Antworten machen35. Es ist also keineswegs ausgeschlossen, dass wir aus Texten der Vergangenheit entscheidende Impulse für unsere Gegenwart erhalten können. Diese Möglichkeit ist ganz grundsätzlich auch der Bibel zuzugestehen. Doch – wie bereits gesagt – ist die Bibel kein einheitliches Buch, das eine geschlossene Position zur Frage von Gewalt und Gewaltvermeidung präsentierte. Wie gehen wir mit der biblischen Pluralität um? Nun, zunächst sind viele Stimmen nicht schlechter als eine. Nur ein hierarchisch geformtes und zudem biblizistisch geprägtes Denken wünschte sich die eine und einzige und autoritative Anweisung aus der Bibel zum Thema Gewalt. Wer demokratisch und diskurshaft geschult denkt, wird dankbar sein für eine ausgiebige, facetten- und nuancenreiche Diskussion dieses Themas zwischen den biblischen Autoren, die zu eigenem Weiterdenken und Abwägen und Positionbeziehen anregt. Die Bibel ist kein Dekret, das Gehorsam verlangt, sondern sie dokumentiert ein Gespräch und lädt ein zum Zuhören und zum Mitreden. 35 Vgl. die erhellenden, an die Hermeneutik Gadamers anknüpfenden Überlegungen dazu in Tugendhat, Egozentrizität, 163–170.
4. Gewalt in der Bibel und Gewalt heute
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In der Bibel klingen Töne auf, schrill von Gewalt, und es sind Töne zu vernehmen voll betörender Sanftmut. Ist das eine schlimm und böse, das andere schön und gut? Schnelle Urteile ziehen zu wenig in Betracht, dass die divergenten Töne verschiedene Situationen zum Hintergrund haben und unterschiedliche Intentionen verfolgen. Auch heute wäre es nicht gut, wenn gewaltförmige Realitäten schöngeredet würden, und gegen erfahrene Gewalt muss «Gewalt!» geschrien werden. Gewaltphobien wie Gewaltphantasien dürfen, ja müssen sich sprachlichen Ausdruck verschaffen, sollen sie nicht zu tätigem Ausbruch kommen; gegen manche Gifte helfen nur Gegengifte. Insbesondere dem Alten Testament haftet der Ruf an, eine Schlagseite zur Gewalt zu haben. Sein Gott, so schon der urchristliche Ketzer Markion36 und so bis heute mehr oder weniger untergründige Vorurteile in der Christenheit, neigt zu Eifersucht und Gewalttat, und das von ihm erwählte Volk eifert ihm darin nach; der Gott des Neuen Testaments hingegen und das Gottesvolk des Neuen Bundes, eben die Christenheit, haben sich Liebe und Barmherzigkeit aufs Panier geschrieben. So ist es eben nicht. Es wäre grundverkehrt, die beiden Testamente gegeneinander ausspielen und gar noch den Juden den Schwarzen Gewalt-Peter zuschieben zu wollen; bekanntlich war die Christenheit um ein Vielfaches gewalttätiger als die Judenheit37. Die Anlage unseres Buches widerspricht von Grund auf derartigen Neigungen. Wir wollen versuchen, die alt- und die neutestamentlichen Stimmen nacheinander, miteinander, nebeneinander zu hören und sie als ein grosses Gespräch über diverse Zeit-, Sprach-, Denk- und Kulturgrenzen hinweg zu verstehen. Es wundert uns nicht, wenn es in diesem Gespräch gelegentlich zu lauten Tönen, vielleicht Misstönen kommt, und wenn andere so leise sind, dass man sie leicht überhört; ja, selbst Schweigen kann bedeutsam und beredt sein. Gewiss haben wir unsere Präferenzen. Kaum jemand würde nicht mit uns sagen: «Wir sind gegen Gewalt und für Überwindung von Gewalt.» Wir freuen uns, wenn wir solche Stimmen auch in der Bibel hören – freilich neben anderen, z.T. erschreckend anderen Tönen. Doch ist, wenn uns nicht alles täuscht, der Grundton der Bibel – und dies in eher zu- als abnehmendem Mass38 – der Ton der Gewaltüberwindung, nicht der Gewaltverherrlichung. Zwar klingen noch 36 Vgl. Harnack, Marcion. Besonders eindrücklich in dieser Hinsicht sind die sog. «Antithesen», in denen Markion Altes und Neues Testament antithetisch gegeneinander profiliert (ebd. 89ff). 37 Das Buch von Dohmen und Sternberger, Hermeneutik, zeigt in diesem Punkt besondere Empfindsamkeit, indem es ein ‹jüdisches› Lesen des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel nicht nur erlaubt, sondern empfiehlt, um eine christliche Lektüre (vom Neuen Testament her) als Re-lecture eigenen Rechts davon abzuheben. Bemerkenswert ist das Plädoyer gegen «Israelvergessenheit» und für «Israelverbundenheit» im christlichen Gebrauch des Alten Testaments (200). 38 Vgl. die Erwägungen dazu bei Dietrich (/ Crüsemann / Schmitt), Ethik.
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A. Hinführung
mitten im Neuen Testament ungemein harte Töne auf, doch der Geist Jesu, den die neutestamentlichen Zeugen als den Christus, den Messias, bekennen, ist eindeutig nicht ein Geist der Gewalt, sondern der Liebe. Jesus aber war Jude, er lebte aus dem Alten Testament. Er nahm aus der jüdischen Bibel und aus dem ihn umgebenden Judentum diejenigen Stimmen auf, die ihm entsprachen, und verstärkte und vereindeutigte sie39. Der von ihm angeschlagene Ton hallt im Neuen Testament vielfach wider – und dies bringt wiederum die entsprechenden Töne im Alten Testament neu zum Schwingen40. Freilich, um die sanften und friedenwirkenden Töne recht zu vernehmen, muss man bereit sein, auch die Gegentöne zu hören und auszuhalten, die schrillen, dissonanten, von Gewalt erfüllten bzw. durch sie entstellten. Dementsprechend ist unser Buch aufgebaut: Zunächst bringen wir die Stimmen der Gewalt zu Gehör, dann Stimmen, die eine Gegenwelt zur Welt der Gewalt entwerfen, und schliesslich diejenigen, die Anleitung geben zur Überwindung von Gewalt. Und in jedem dieser Hauptteile wie auch in prinzipiell jedem Unterkapitel suchen wir das Alte wie das Neue Testament zur Sprache zu bringen. Nach alledem bleibt freilich immer noch die Frage, was die Beschäftigung mit biblischen Gewaltaussagen heute lebenden und der Gewalt konfrontierten Menschen nützen soll. Nimmt man die Bibel zunächst einfach als historisches Dokument, so kann die Wahrnehmung der in ihr vertretenen Positionen zum Thema Gewalt von ebensolchem (sei es sehr grossem oder begrenztem) Nutzen sein wie etwa die Lektüre von Homers Ilias oder Cäsars De bello Gallico oder Shakespeares King Lear oder Goethes Faust unter diesem Gesichtspunkt. Die Betrachtung eines drängenden Themas gewissermassen durch einen Aussenspiegel, auch einen historischen, ist oft ungemein hilfreich. Unterschiede wie Analogien zwischen damaligen und heutigen Fragestellungen und Antwortversuchen können sehr erhellend wirken. Nun ist die Bibel aber nicht irgendein historisches Dokument, sondern dasjenige, das für die Entstehung und die Geschichte des Christentums und des Judentums und überhaupt der abendländischen Welt von kaum zu überbietender Bedeutung geworden ist. Wohl meint man in dieser Hinsicht in jüngster Zeit einen gewissen Erosionsprozess feststellen zu können, gilt doch die Bibel in den Augen vieler Zeitgenossen nicht mehr als so autoritativ und erscheint sie nicht mehr als so allgegenwärtig wie in früheren Zeiten. Gleichwohl sind Kunst und Literatur und ist auch die Alltagswelt (bis hinein in die Werbung)
39
So darf man unterstellen, dass Jesus mit dem Josuabuch, das von einer kriegerischen Landnahme Israels erzählt, mehr Mühe gehabt hätte als mit friedfertigeren Schriften der jüdischen Bibel. 40 Zu solch mehrfachem Hör- bzw. Lesevorgang vgl. wiederum Dohmen / Stemberger, Hermeneutik.
4. Gewalt in der Bibel und Gewalt heute
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durchsättigt von biblischen Motiven, Elementen und Gestalten. Sich dessen zu vergewissern, was die Bibel über die Gewalt und Möglichkeiten ihrer Überwindung sagt, hat insofern recht unmittelbar gesellschaftliche Relevanz. Schliesslich ist die Bibel nach wie vor das Grunddokument der christlichen, auch der jüdischen und in gewisser Weise der islamischen Religion. Wer diesen Religionen etwas abzugewinnen vermag – und das sind ja auch in unseren Breiten noch immer grosse Mehrheiten –, wird es nicht gleichgültig finden, wie die Bibel zu dieser Frage steht. Bei Juden und Christinnen steht die Bibel nach wie vor in hohem Ansehen, und dies umso mehr, je enger sie sich ihren Religionsgemeinschaften verbunden fühlen. Gewiss gibt es in dieser Hinsicht Unterschiede zwischen einzelnen Individuen, Gruppen, Richtungen, Kirchen, Konfessionen; doch ganz generell geniesst die Bibel unter Christen und Jüdinnen einen erheblichen Vertrauens- und Autoritätsvorschuss. Freilich, nicht allen, die auf die Bibel etwas geben (und erst recht nicht denen, die nichts auf sie geben), sind die biblischen Positionen zum Thema Gewalt sehr geläufig, und oft noch weniger wissen sie zwischen ihnen zu gewichten und ihnen gegenüber zu einer eigenen Position zu finden. Eben dazu will unser Buch eine Hilfe sein. Literatur
F. CRÜSEMANN / W. DIETRICH / H.-C. SCHMITT, Was leistet eine Ethik des Alten Testaments? Gerechtigkeit – Gewalt – Frieden, in: B.M. Levinson / E. Otto / W. Dietrich (Hrsg.), Recht und Ethik im Alten Testament, Münster 2004 (ATM 13), 145–169. – C. DOHMEN / G. STEMBERGER, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments, Stuttgart 1996. – A. von HARNACK, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1924 = Darmstadt 1996. – J. RAU, Vom Christsein in weltlicher Verantwortung. Betrachtungen eines protestantischen Politikers, in: Ehrenpromotion zum D. theol. Dr. h.c. mult. Johannes Rau, Bochum 1997 (Universitätsreden – Neue Serie 1). – E. TUGENDHAT, Egozentrizität und Mystik, München 2003.
MM / WD
B. Die Realität der Gewalt in der Bibel
I. G EWALT
IM
N AHBEREICH
1. Gewalt zwischen Brüdern: Kain und Abel (Gen 4,1–16) 1.1. Zur erzählerischen Eigenart des Textes Jedes Kind kennt Gen 4,1–16: die Geschichte von Kain und Abel, dem ersten Bruderpaar und dem ersten Brudermord auf Erden. Umso mehr lohnt es sich, sorgfältig neu zu lesen. 4,1–2 bilden die Erzählexposition. Anknüpfend an die Schöpfungs- und Paradies-Geschichte werden Kain und Abel als Söhne des ersten Menschenpaares, Adam und Eva, vorgestellt. Sie verdienen sich ihren Lebensunterhalt auf unterschiedliche Weise: als Bauer und als Hirt. Dem Erstgeborenen gebührt nach damaliger Vorstellung ein Vorrecht, und auch der Beruf des Bauern hat ein höheres Ansehen als der des Hirten. 4,3–5 schildern den entstehenden Konflikt. Er erwächst daraus, dass Gott das Opfer Abels «ansieht», dasjenige Kains nicht.1 In der Auslegungsgeschichte hat man immer wieder versucht, die rätselhafte Ungleichbehandlung zu enträtseln: Der eine sei von frommer, der andere von böser Denkungsart, das Opfer des einen sei kostbar und korrekt, das des anderen kleinlich und unvollkommen gewesen. Nichts davon steht im Text. Vielmehr scheint Gott (wie später noch öfter in der Genesis: Ismael-Isaak, Esau-Jakob, Lea-Rahel, Manasse-Efraim) ein Faible gerade für die Jüngeren, also die sozial Nachgeordneten zu haben. Woran das im Falle Kains und Abels abzulesen war, erfahren wir nicht. Bilder wie das vom aufsteigenden und vom niedergehaltenen Opferrauch muss man sich aus dem Kopf schlagen. Es hatte wohl «einfach» nur der eine Erfolg, der andere nicht. Damit sind ebenso banale wie unerklärliche Grunderfahrungen geschildert: Menschen leben verschieden, opfern auch verschieden und werden von Gott (bzw. vom Schicksal) verschieden behandelt. «Life is unfair. God is free» (Brueggemann) – das ist der Ursprung der Gewalt! 4,6–7 zeigen ein retardierendes Moment: Gott bemerkt die negative Veränderung in Kain (Abel anscheinend nicht!) und versucht die Katastrophe zu verhüten: nicht durch physische Einwirkung, sondern durch den Appell an Kains Einsicht und Verantwortung: «Zorn» ist nicht «gut», die «Sünde» 1
Der Passus 4,1–4 ist durchzogen von kunstvollen Chiasmen: Kain-Abel / Abel-Kain / Kain-Abel / Abel-Kain: So verschlingen sich Reihenfolgen und Schicksale.
1. Kain und Abel
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(wörtlich: das Ziel-Verfehlen) «lauert vor der Tür», doch niemand muss ihr erliegen, man kann sie «beherrschen». Die Antwort Kains ist – Schweigen. Es ist dies der klassische Fall eines einseitigen, misslungenen Dialogs. Gott hat keine Mittel, sich erfolgreich zu Gehör zu bringen. Klar ist jetzt allerdings, dass Kain nicht mehr im blinden Affekt handeln wird. 4,8–12 beschreiben Kains Mordtat und ihre Ahndung. Kain spricht seinen Bruder an. Im hebräischen Text fehlt hier die wörtliche Rede; soll dies Wortlosigkeit kennzeichnen? Oder sollen wir uns barsche Worte denken? Die meisten Versionen ergänzen: «Lass uns aufs Feld gehen!» Dort «erhebt sich» Kain gegen Abel und «tötet» ihn. Das geht ganz schnell, auf dem schrecklichen Geschehen liegt kein erzählerischer Akzent. Jeder Mord an einem Menschen indes ist Geschwistermord (beachte das ausdrückliche «seinen Bruder»). Und niemals, auch auf dem «Feld» nicht (vgl. Dtn 22,25), gibt es ein Verbrechen ohne Zeugen. Gott ist sofort zur Stelle. Warum ist er es nicht früher? Ist er zuweilen unaufmerksam? Oder ohnmächtig? Kain jedenfalls beantwortet seine forschende Frage mit dem «lästerlichen Witz» (Zimmerli), ein Hirte benötige doch wohl keinen Hüter! Damit leugnet der Bruder die Verantwortung für den Bruder. Gott aber hört das lautlose Schreien der blutgetränkten Erde – nicht nur damals. Und seine Strafe ist hart. Kain verliert, was ein Bauer auf keinen Fall verlieren möchte: die Scholle. Schlimmer noch, er wird zur Nichtsesshaftigkeit verurteilt: einer Lebensweise, die allen Sesshaften gleichermassen unerwünscht und unheimlich erscheint. 4,13–16 erzählen von der Begrenzung der Strafe. Kain stöhnt auf (jetzt immerhin kommt eine Art Dialog zustande!): Die über ihn verhängte «Strafe» (das Wort bedeutet auch: «Schuld»!) sei unerträglich «gross», er werde nun nicht nur heimatlos, sondern vogelfrei sein. Daraufhin gewährt Gott dem Mörder Schutz gegen erneutes Morden durch schwerste Strafandrohung und durch ein (auf die Stirn geprägtes?) Zeichen. Dieses signalisiert beides, «guilt and grace» (Brueggemann). Das also wird Kains Leben sein: jenseits von Eden, fern von Zuhause, aber auch dort unter Gottes Obhut! 1.2. Zur Entstehungsgeschichte des Textes Die Kain-Abel-Erzählung und die sog. Sündenfall-Geschichte (Gen 3) waren ursprünglich selbstständige Überlieferungen. Jetzt sind sie Teile der (nichtpriesterschriftlichen) Urgeschichte. Deren Verfasser hat zwischen beiden Erzählungen eine Reihe von Verbindungslinien gezogen. Dadurch dürfte sich eine Reihe auffälliger, wörtlicher Bezüge zwischen beiden Texten erklären, die im Folgenden aufgeführt werden (die vermutlich redaktionellen Erweiterungen kursiv.)
30 Gen 4 7
B.I. Gewalt im Nahbereich
Nach dir steht ihr (der Sünde) Verlangen, du aber herrsche über sie
9 10
Wo ist dein Bruder Abel? Was hast du getan?
11
Verflucht bist du weg von (min) dem Acker
14 16
Du vertreibst mich … Östlich von Eden
Gen 3 16
Nach deinem Mann steht dein (der Frau) Verlangen, aber er wird über dich herrschen
9 13
Wo bist du? Warum hast du das getan?
14 14
Weil du das getan hast … Verflucht bist du unter (min) allen Lebewesen. Verflucht ist der Acker um deinetwillen
17 24 24
Und er vertrieb den Menschen … Östlich des Gartens Eden
Erläuterungen: • Die Gottesrede an Kain in 4,6f bleibt seltsam wirkungslos. Der ursprüngliche Text könnte gut von 4,5 direkt nach 4,8 weitergelaufen sein. • Auch 4,12 schliesst an 4,10 an, ohne dass 4,11 eine sachliche oder stilistische Lücke hinterliesse. • In 4,16 erfüllt sich der in 4,12 ausgesprochene Fluch: Kain soll «unstet und flüchtig sein auf Erden», und dann geht er hinweg von Jhwhs Angesicht und wohnt «im Lande Flüchtig». Dazwischen schiebt sich jetzt ein Dialog (4,13–15), der nicht die Bestrafung, sondern die Bewahrung des Täters zum Thema hat (und insgesamt redaktionell sein dürfte). Das Motiv des «Vertreibens» ist aus 3,24 übernommen, wo es unentbehrlich ist. • Der Begriff «Eden» ist in Gen 3 fest verankert, in 4,16 hingegen nicht, wird also hier zugefügt sein. • Im Falle der «Wo»–Frage (4,9 / 3,9) ist die Sachlage umgekehrt: In der Kain-Geschichte kann sie nicht fehlen, in 3,9b hingegen schon, dort kann V. 10 sofort auf V. 9a folgen. • Die parallelen Formulierungen in 4,10 und 3,13.14 dürften auf beiden Seiten zum Grundbestand gehören. Als Grundbestand der Brudermord-Geschichte schält sich somit heraus: das Opfer der beiden Brüder und ihre ungleiche Behandlung durch Gott (4,3f), die Verfinsterung Kains (4,5), der Mord an Abel (4,8), das Verhör Kains durch Gott (4,9), die Überführung des Mörders (4,10), seine Verurteilung zur Nichtsesshaftigkeit (4,12), die Vollstreckung des Urteils (4,16). Die Eingriffe des Gesamterzählers sind erheblich. Sie dienen der Verknüpfung mit der Paradiesgeschichte (4,1f.11); die Konflikte verlagern sich von der Vertikale (Gott-Mensch, Gen 3) in die Horizontale (Bruder-Bruder, Gen 4). Doch Gott bleibt präsent: Er warnt Kain und appelliert an seine Verantwortung (4,6f), und er stellt ihn nach seiner Untat doch unter seinen Schutz (4,13–15).
1. Kain und Abel
31
Sara Kipfer, Kain und Abel, 330 x 470 mm, 2003.
1.3. Zu Motiven und Traditionen im Text Gen 4 gehört – zusammen mit der Schöpfungs- und Paradies-, der Sintflutund der Turmbau-Geschichte (Gen 2f; 6–8; 11) – zu den «Ur-Geschichten», in denen Grundgegebenheiten des Menschseins fixiert werden. Zu diesen gehören laut unserem Text die Hauptformen damaliger (Land-)Wirtschaft, Kleinviehzucht und Ackerbau; zu ihnen gehört aber auch das Gewalttätige im Menschen. Das Kapitel zerfällt in zwei Hauptteile: die Brudermord-Geschichte (4,1–16) und den sog. Keniter-Stammbaum (4,17–24). Die Keniter sind ein im Alten Testament wohlbekannter, in Südpalästina lebender Stamm nichtsesshafter
32
B.I. Gewalt im Nahbereich
Kleinviehnomaden (vgl. Ri 1,16; 1Sam 27,10; 30,29). Sie führen sich auf Kain zurück. Doch dabei denken sie natürlich nicht an einen Brudermörder. Dazu wurde Kain von anderen erklärt: von den judäischen Nachbarn, die offenbar so lebten wie «Kain» vor dem Mord, nämlich als Bauern – und die darum die Keniter nicht mochten. Deren karge und bedrohte nomadische Lebensweise erachteten sie als eine Strafe Gottes: für einen Mord eben. «Abel» (zu Deutsch «Windhauch, Nichts») wird es nie gegeben haben; er wurde erfunden, um als Mordopfer Kains das Schicksal der Keniter zu begründen. Diese (anti-kenitische) Sicht der Dinge spiegelt sich in dem oben herausgearbeiteten Grundbestand von Gen 4,1–16. Beim Einbau in die Urgeschichte verschob sich die Sicht. Jetzt ist nicht mehr ein Beduinenstamm im Blick, sondern die Menschheit. Nicht mehr das Schicksal der Keniter steht im Mittelpunkt, sondern das Thema Gewalt. Wie kommt es zur tödlichen Gewalt zwischen Menschen, und wie steht Gott dazu? Gott verschärft Konflikte zwischen Menschen (4,5). Er will zwar Blutvergiessen verhindern (4,6f), in diesem wie in anderen Fällen aber erfolglos. Er ahndet Gewalttat – jedoch nicht durch volle Gegengewalt (das hiesse in diesem Fall: Todesstrafe!), sondern durch Eindämmung: Der Gewalttäter wird an weiterer Gewalttat gehindert (durch Verbannung), darf aber nicht vogelfrei und selber zum Opfer von Gewalt werden. Das «Kainszeichen» ist weniger Brandmarkung als Schutzzeichen. Vielleicht trugen die Keniter eine solche Markierung auf der Stirn, und der Erzähler der Urgeschichte deutet dies auf seine Weise: Hände weg von den Nichtsesshaften (heute vielleicht: von den Obdachlosen, Fahrenden und Migranten)! Denn jeder Mensch – erschiene er als noch so befremdlich oder bedrohlich und hätte er noch so Schlimmes getan – steht, einfach weil er Mensch ist, unter Gottes Schutz. Literatur
R. BRANDSCHEIDT, Kain und Abel, in: TThZ 106 (1997), 1–21. – W. BRUEGGEMANN, Genesis, Atlanta GA 1982 (Interpretation). – W. DIETRICH, «Wo ist dein Bruder?» Zu Tradition und Intention von Genesis 4 [1976], in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2003, 159–172. – F.A. SPINA, The «Ground» for Cainʼs Rejection (Gen 4). ʼadāmāh in the Context of Gen 1–11, in: ZAW 104 (1992), 319–332. – W. VOGELS, Cain: lʼêtre humain qui devient une non-personne (Gn 4,1–16), in: NRTh 114 (1992), 321–340. – E. VAN WOLDE, The Story of Cain and Abel, in: JSOT 52 (1991), 25–41. – W. ZIMMERLI, 1. Mose 1–11, Zürich 31967 (ZBK.AT 1,1).
WD Abbildung
© S. KIPFER, Kain und Abel, 2003.
2. Amnon und Tamar
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2. Gewalt zwischen Bruder und Schwester: Amnon und Tamar (2Sam 13,1–22) 2.1. Zur erzählerischen Eigenart des Textes a) Die Erzählung von der Vergewaltigung der Prinzessin Tamar durch den Prinzen Amnon ist ein schreckliches Beispiel individueller Gewalt (speziell: von Männergewalt gegen Frauen) und eine der trostlosesten Geschichten des Alten Testaments. In gewisser Hinsicht ist sie eine Zwillingsgeschichte zu Gen 4. Die Begriffe «Bruder» und «Schwester» kommen 17-mal vor – womit nur umso schmerzlicher markiert ist, wie hier Geschwisterlichkeit unter die Räder kommt. Lüsternheit, Brutalität und Rachgier vergiften die Familie Davids. b) Die Erzählung ist chiastisch aufgebaut: Am Anfang steht Amnons Liebe zu seiner Halbschwester Tamar (V. 1f), am Ende (V. 21f) der Hass von deren Vollbruder Abschalom gegen Amnon (der sich tödlich Bahn brechen wird: 13,23ff). Die Mittelachse bildet die Gewalttat an Tamar und der Umschlag in den Gefühlen des Täters von Liebe zu Hass – wahrscheinlich hasst Amnon statt sich selbst sein Opfer (V. 14b.15a). Die Auftritte der einzelnen Erzählfiguren sind konzentrisch um diese Mitte aufgebaut: Jonadab als Helfer und Abschalom als Gegner Amnons (V. 3–5.20), Davids Helfen und sein Schweigen (V. 6.21), das Kommen und Hantieren Tamars und ihr Weglaufen und Schreien (V. 6–9a.18f), das Hinausgeschickt- und das Hereingerufenwerden von Amnons Diener (V. 9b.17). Als engster Rahmen um das Zentrum legen sich zwei Dialoge zwischen Amnon und Tamar (V. 11–14a.15b–16). Beide beginnen mit einem Befehl Amnons („Komm, leg dich zu mir!» «Los, verschwinde!»), beide Male widerspricht Tamar sanft, aber entschieden, beide Male «will Amnon nicht hören» und setzt seinen Willen mit brutaler Gewalt durch. c) Die Erzählcharaktere sind knapp und doch höchst eindrücklich gezeichnet: der liebeskranke und gehemmte, dann aber zielstrebige und rücksichtslose Amnon, die liebreizende, hilfsbereite, klug sich wehrende und am Ende «verwüstete» Tamar, der verschlagene «Freund» Jonadab, der zuerst ahnungsund dann tatenlose Vater David, der bedrohlich-finstere Abschalom, der nur an sich und seine Rachepläne, nicht aber an das Leid seiner geschändeten Schwester denkt. Die Männer (man bedenke: die damalige Staatsspitze!) stehen in einem denkbar schlechten Licht da, der einzige Lichtstrahl, Tamar, wird gebrochen. Tamars Reden an den sie bedrohenden Amnon – natürlich nicht protokolliert, sondern ihr in den Mund gelegt – bieten ein Muster an Geistesgegenwart und Geschicklichkeit, an Anmut und an Wagemut. d) Gott spielt, anders als in Gen 4, keine erkennbar aktive Rolle. Das Drama bahnt sich ohne ihn an und nimmt ohne ihn seinen Lauf. Das ist durchaus irritierend, aber erfahrungsnah. Gott schweigt oft, wo er nach unserem Empfinden zu reden, mehr noch: zu handeln hätte. So schweigt der Erzähler von ihm – jedoch nicht in der Meinung, er sei nicht präsent und bleibe untätig.
34
B.I. Gewalt im Nahbereich
Die Geschichte hat ein Vor- und ein Nachspiel, den Batscheba-Urija-Skandal und den Abschalom-Aufstand (2Sam 11f; 14–19); auch dort greift Gott nicht vom Himmel her ein, lenkt aber deutlich das Geschehen – keineswegs immer in beruhigende Bahnen! 2.2. Zur Entstehungsgeschichte des Textes 2Sam 13 ist in vielfältiger Weise mit dem Kontext verwoben (und man kann sicher sein, dass diese Verbindungen schriftstellerisch gewollt und angelegt sind). Die Zusammenhänge nach hinten sind unverkennbar: Abschalom wird sich bzw. Tamar an Amnon rächen, woraus sich wieder neues Unheil entwickeln wird. Weniger leicht sind die Verbindungslinien nach vorne zu erkennen. Doch auch in der Batscheba-David-Urija-Geschichte geht es um einen sexuellen Übergriff eines Mannes auf eine ihm eigentlich verwehrte Frau (nur dass dort nicht so deutlich gesagt wird, dass es sich um eine Vergewaltigung handelt). Beide Erzählungen sind durch eine Reihe paralleler Formulierungen verknüpft: Beide Frauen sind sehr «schön» (11,2; 13,1), David «schickt» sie bzw. nach ihnen (11,4; 13,7), worauf beide «hineingehen» zu dem Mann, der sie dann «nimmt» (11,4; 13,11.14); beide Male ist der König «erzürnt» über die Gewalttat: über Amnons genauso wie über die eigene, die ihm der Prophet Natan, getarnt in einer Parabel, vor Augen führt (12,5; 13,21). Gerade diese berühmte Natan-Parabel (12,1–4) verwendet in auffälliger Weise Begriffe, die in der Tamar-Geschichte wiederholt wiederkehren: «essen», «liegen», «nehmen». Auf diese Weise wird David in bedenkliche Nähe zu dem Vergewaltiger Amnon gerückt. Unwillkürlich stellt sich der Gedanke ein: Wie der Vater, so der Sohn! Ist es etwa Davids eigene Fehlbarkeit, die ihn blind macht gegen die Fehlbarkeit Amnons (und dann auch Abschaloms)? Hat er insgeheim Verständnis für seinen Ältesten und «schickt» deshalb Tamar zu ihm? Ist er darum unfähig, gegen ihn nach vollbrachter Untat etwas zu unternehmen (13,20 – die Versionen wissen einiges über seine Hemmungen zu sagen, der hebräische Text nicht)? «Schickt» er darum den Vergewaltiger an Abschaloms Gastmahl und damit in den Tod (13,27), und ist er deswegen unfähig, den Brudermörder zur Rechenschaft zu ziehen (13,39)? Es ist, als stünde das Davidhaus seit der Batscheba-Urija-Affäre unter einem Fluch. In der Tat hat damals Natan dem König geweissagt, wie sein doppelter Fehltritt – Ehebruch und Mord – geahndet werden soll: Seine eigenen Frauen werden ihm weggenommen (12,11, realisiert in 16,22) und das «Schwert wird nie mehr weichen» von seinem Haus (12,10, realisiert mit dem Tod zuerst Amnons, dann Abschaloms – und noch vieler weiterer Mitglieder des davidischen Königshauses). Diese weit und kunstvoll gespannten Erzählbögen lassen die Hand eines weitsichtigen und genialen Erzählers erkennen. Seit einem Epoche machenden Buch Leonhard Rosts von 1926 bezeichnete man sein Werk als die «Erzählung von der Thronnachfolge Davids». Es sei noch
2. Amnon und Tamar
35
Sara Kipfer, Prinzessin Tamar, 330 x 470 mm, 2003.
im 10. Jh. v. Chr. entstanden, habe im Wesentlichen die Abschnitte 2Sam 7–20 und 1Kön 1f umfasst und den Übergang der Macht von David vorbei an Amnon, Abschalom und Adonija auf Salomo (den Zehnten in der Reihe der Davidsöhne!) zwar kritisch, aber doch mit innerer Zustimmung geschildert. Neuerdings mehren sich skeptische Stimmen gegenüber diesem Bild: Innerhalb der genannten Textabschnitte gibt es schwere formale und inhaltliche Spannungen, die an eine mehrstufige Entstehung denken lassen. Zudem laufen die Erzählfäden über die von Rost ausgegrenzten Abschnitte noch hinaus bis an den Anfang der Samuelbücher und bis zur Mitte des 1. Königsbuches. Auch lässt die Sprach- und Denkwelt der Texte auf einen grösseren zeitlichen Abstand zu den dargestellten Ereignissen schliessen.
36
B.I. Gewalt im Nahbereich
2Sam 13 könnte seinen Ursprung in einer relativ knappen mündlich tradierten Erzählung über schlimme Vorfälle im Königshaus haben: Davids Erstgeborener hat sich an seiner Halbschwester vergriffen und ist deshalb von deren Vollbruder ermordet worden. Diese Story mag mit einem Kern der Abschalom-Erzählungen zu einer grösseren Novelle vereinigt worden sein, ehe (vielleicht im 8. oder 7. Jh.) ein grosser Schriftsteller diese Stoffe aufgriff und in ein umfassendes Erzählwerk über die frühe Königszeit in Israel einbaute. Er schuf die Verknüpfungen zwischen 2Sam 11f und 2Sam 13, er gab der TamarGeschichte ihren eigentlichen traurigen Glanz: indem er von den wechselnddumpfen Gefühlen Amnons, vom schlauen Ratschlag Jonadabs, von Davids Verwicklung in die Affäre, von der düsteren Rolle Abschaloms schrieb – und indem er mit den beiden Reden Tamars an ihren Vergewaltiger das Denkmal einer sittsamen, klugen, tapferen und doch unglücklichen jungen Frau in Israel schuf. Eben dieser Grosserzähler entwarf in den Samuelbüchern ein Bild von Staat und Macht, von Gewalt und Moral, von Gott und Geschichte, nicht zuletzt: von Männern und Frauen, das bis heute seine Faszination nicht verloren hat. 2.3. Zu einzelnen Motiven im Text a) Die Liebe eines jungen Mannes zu seiner Halbschwester scheint als rechtlich und moralisch zulässig empfunden zu werden. In V. 1 wird fast das Mitleid des Lesers (auch der Leserin?) mit dem liebeskranken Amnon geweckt, und in V. 13 schlägt Tamar vor, er möge doch bei Vater David um ihre Hand anhalten, dieser werde gewiss zustimmen. In einer rechtmässigen Ehe wäre Tamar eigenes Subjekt gewesen, doch Amnon betrachtet und behandelt sie als blosses Objekt (wie übrigens alle anderen Männer der Erzählung auch). Was ihn hindert, sich sofort an ihr zu vergreifen, ist, dass sie «die Schwester Abschaloms» und überdies eine «Jungfrau» ist (V. 2). b) Der «sehr weise» Jonadab weiss Rat. «Weisheit» war die erwartete Berufseigenschaft der königlichen Berater, der Gelehrten und Lehrer am Königshof. Der Stand der «Weisen» brachte eine eigentümliche, bedeutsame Literatur hervor (z.B. Spr, Koh) und hatte beträchtlichen Einfluss auf die Gesellschaft Israels (und des ganzen alten Orients). Weisheit musste offenbar nicht unbedingt moralisch sein – wenngleich Jonadab wohlweislich verschweigt, worauf sein dem Prinzen unterbreiteter Plan hinausläuft. Hat er etwa auch die katastrophalen Folgen seines Rates vorausgesehen und den Tod seines «Freundes» einkalkuliert? c) Meisterhaft ist die Schilderung der in der Küche hantierenden und den «kranken» Bruder versorgenden Tamar: Man spürt ihre mädchenhafte Unschuld und seine sengende Gier. Dass sie als Krankenspeise «Herzkuchen» bäckt, ist eine gewollt zweideutige Anspielung auf Amnons schwüle Phantasien.
3. Gewalt in der Kindererziehung?
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d) In ihrer ersten Widerstandsrede verweist Tamar wiederholt auf Normen, die «in Israel» gelten und die auch ein Königssohn nicht ungestraft übertritt. In der zweiten Rede bittet sie Amnon, sie nicht doppelter «Schande» auszusetzen: wieder ein Ausdruck der Eingebundenheit in soziale Normen, deren Verletzung sie, die Königstochter, zugrunde richten wird. Amnons Sturheit und Gemeinheit lässt sie in trauriger Weise Recht behalten. e) In dem absolut Gültigen ist nicht nur «Israel» präsent, sondern ungenannt auch Jhwh. Ohne dass es gesagt werden muss: Leserinnen und Lesern der Tamar-Amnon-Geschichte ist sofort klar, auf welcher Seite Gott steht – und sie selbst zu stehen haben. In ihrem Unglück gewinnt Tamar Verbündete, und das lässt darauf hoffen, dass sich ihre Leidensgeschichte nicht dauernd wiederholen muss. Literatur
S. BAR-EFRAT, Narrative Art in the Bible, Sheffield 1989 (JSOT.S 70), 239–282. – H.-J. DALLMEYER / W. DIETRICH, David – ein Königsweg. Psychoanalytisch-theologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002 (bes. 172–224). – W. DIETRICH, Die frühe Königszeit in Israel, Stuttgart 1997 (BibEn 3; bes. 259–273). – J.P. FOKKELMAN, Narrative Art and Poetry in the Books of Samuel. Vol. I: King David (II Sam. 9–20 & I Kings 1–2), Assen 1981 (SSN), 99–125. – I. MÜLLNER, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2Sam 13,1–22), Basel u.a.O. 1997 (HBS 13).
Abbildung
© S. KIPFER, Prinzessin Tamar, 2003.
WD 3. Gewalt in der Kindererziehung? Eine Anfrage an das Alte Testament 3.1. Befremdliche Regeln im Buch der Sprüche Im alttestamentlichen Sprüchebuch finden sich Aussagen, die heute nur irritierend wirken können. «Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn, wer ihn liebt, nimmt ihn früh in Zucht» (Spr 13,24). Demnach wäre Erziehung ohne Schläge keine rechte Erziehung und erst recht kein Ausdruck väterlicher Liebe. In Spr 23,13–15 werden die Erzieher ermahnt, Stock und Schläge nicht zu sparen, da der Sohn sonst dem Tod verfalle. Nach Spr 22,15 hatten auch damals heranwachsende Knaben allerlei Dummheiten im Kopf («Torheit im Herzen»), die mit Strenge und Härte auszutreiben waren. Offenbar meinte man, Schläge auf die Aussenseite des Kindes dienten der Behebung innerer Schäden, und legitimierte so die Züchtigung als erzieherisches Mittel. Es gab allerdings Grenzen des Züchtigens: «Züchtige deinen Sohn, solange noch Hoffnung ist, doch lass dich nicht hinreissen, ihn zu töten» (Spr 19,18–20).
38
B.I. Gewalt im Nahbereich
Das heisst, mit der Zucht musste, wenn sie erzieherisch etwas bewirken sollte, früh begonnen, durfte aber nicht zu lange fortgefahren werden. Auf keinen Fall durfte es zu Exzessen kommen – ein Hinweis darauf, dass im Vordergrund das Wohl des Kindes stand. Was waren die Erziehungsziele? In Spr 13,1ff ist zu lesen, das Resultat guter Erziehung sei ein weiser Sohn – im Unterschied zu einem hochmütigen. Ein gut geratener, kluger Sohn war der Stolz der Eltern. Und weil die Kinder auch so werden wollten, werden sie strenge «Zucht» von ihren Eltern nicht nur hingenommen, sondern geradezu erwartet haben. Nun stellt sich freilich die Frage, was «Zucht» nach damaligem Verständnis überhaupt bedeutete. Für uns verbindet sich mit diesem Wort die Vorstellung von Strenge und Schlägen. Muss aber «Zucht» im alttestamentlichen Sinn immer gewalttätig sein? Der hebräische Schlüsselbegriff, das Verb jāsar, hat eine Reihe von Bedeutungsfacetten, die von «unterweisen», «zurechtweisen» über «erziehen», «warnen» bis «züchtigen» reichen. «Die primäre Aufgabe der Unterweisung (jāsar) ist die Wissensvermittlung zur Formung eines bestimmten Verhaltens. Der gewöhnliche Adressat der Unterweisung ist das Kind, und nach der Spruchweisheit soll der elterliche Teil diese Aufgabe mit Eifer erfüllen, um die geziemende Entwicklung des Kindes zu einem nützlichen Glied der Gesellschaft sicherzustellen». Oft «erscheint jāsar in der Bedeutung ‹korrigieren›, d.h. jemanden unterweisen durch ‹Korrektur› seiner vergangenen Taten mittels Strafe»2. So äusserte sich also «Zucht» nicht ausschliesslich physisch durch Schläge, sondern konnte auch mündlich geschehen. Möglicherweise war die Meinung, dass für verständige Kinder die mündliche Mahnung ausreichte und Schläge im Grunde nur für Uneinsichtige und Toren bestimmt waren. Delkurt stellt in der Struktur des Sprüchebuches einen formalen Unterschied zu anderen altorientalischen Erziehungstexten fest, den er für sehr aufschlussreich hält. Demnach beruhte die ägyptische Erziehung auf dem Auswendiglernen starrer Regeln; der Schüler kann mit einem zu dressierenden Tier verglichen werden. Der Imperativ ist vorherrschende Sprachform. Demgegenüber beinhaltet das biblische Sprüchebuch im Kern, nämlich in den Kapiteln 10–29, zu 95% kurze einprägsame Aussagesätze, in denen unter anderem auch mit dem Stilmittel der Satire um die Anerkennung und Gutheissung durch den Schüler geworben wird. Diese Sprachform ist als ein bewusst eingesetztes pädagogisches Mittel zu verstehen. Dem Kind wird vor Augen geführt, welche Konsequenzen ein bestimmtes Verhalten nach sich zieht. Statt es zum Auswendiglernen fixer Regeln zu zwingen, will man es zu Einsicht führen. Einsicht wiederum lässt sich kaum durch Schläge erreichen. Gleichwohl wird im Sprüchebuch zu Schlägen geraten. Die Ratio 2
Branson, jāsar / musār, 691.
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dahinter wird sein, dass auf diese Weise Schlimmeres verhütet werden soll. Schläge wären dann in der Erziehung ein untergeordnetes Mittel, das dem Kind einen Vorgeschmack dessen gibt, was es erwartet, wenn es die Regeln des Zusammenlebens weiterhin verletzt. 3.2. Weisheit als Erziehungsziel? Immer wieder ist die Rede davon, dass das Hören auf die Gebote des Vaters und das Annehmen der Zucht zu Weisheit führt. Gibt es aber eine Weisheit, die sich lernen lässt? Heute würde man eher denken, Weisheit sei etwas, das man nicht erlernen und schon gar nicht einem Kind anerziehen könne; wir halten die Einsicht in tiefere Lebenszusammenhänge, wie man sie oft bei älteren Menschen findet, für weise. Die Menschen des Alten Testaments kannten diesen Aspekt der Weisheit auch (hätten aber wohl darauf bestanden, dass der Mensch von früh auf lernen muss, weise zu werden, auch wenn das Ziel vielleicht erst im Alter zu erreichen ist). Doch Weisheit ist für sie mehr: Weisheit ist auch das Erlernen, Praktizieren und Weitergeben von Leben-Können, von Lebenskunst. «Gottesfurcht ist der Anfang der Weisheit» (Spr 1,7; 9,10; 15,33). «Furcht» meint dabei nicht Angst, sondern eher das Vertrauen, dass Gott trotz allen Störungen und Gefährdungen die ganze Schöpfung durchwaltet und den Lebensweg jener Menschen gelingen lässt. Die ältere Weisheit Israels wird deshalb auch als ‹Theologie der praktischen Vernunft› bezeichnet, der es nicht primär um theoretisch-theologisches Wissen geht, sondern um gute Lebenspraxis; sie gilt es zu suchen und anderen zu vermitteln. So ist es nicht verwunderlich, dass zwischen Akzeptieren und Befolgen der Mahnungen der Eltern und dem Erlangen von Weisheit ein enger Zusammenhang gesehen wird. 3.3. Geschichtlicher und kultureller Kontext Um das Eltern-Kind-Verhältnis und die Erziehungsmethoden zur Zeit des Alten Testaments zu verstehen, muss man den kulturellen Kontext mit in Betracht ziehen. Für die mediterrane Kultur gehören die Werte Ehre und Schande zu den zentralen Grundwerten der Gesellschaft. Diese ist nicht durch Individualismus, sondern durch Gruppendenken geprägt. Einzelpersonen definieren sich in erster Linie über die Anerkennung durch die Gesellschaft und nicht aufgrund ihrer Leistungen oder eines persönlichen Schuld- oder Gerechtigkeitsempfindens. Die Anerkennung durch die Gesellschaft bescheinigt dem alttestamentlichen Menschen seine Ehrbarkeit und macht ihn zu einem vollwertigen Mitglied der Gemeinschaft. Ehre lässt sich folglich als die Forderung einer Person oder Gruppe nach allgemeiner Wertschätzung beschreiben. Schande im Gegenzug bedeutet, dass eine ehrenhafte Person entehrt wird oder es nicht schafft, die persönliche Ehre zu bewahren. Ehrenhafte Personen zeichnen sich durch Schamgefühl aus, während unehrenhafte Menschen schamlos sind. Die
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B.I. Gewalt im Nahbereich
Bandbreite der möglichen Ehrverletzungen reicht von kleineren Kränkungen, die leicht zu beheben sind, über schwerere, die Wiedergutmachung verlangen, bis zu solchen, die nur durch Rache, speziell durch Blutrache, wieder gut gemacht werden können. In der mediterranen Welt gibt es unzählige Möglichkeiten, sich mit Schande zu bedecken. Zum Beispiel Torheit (Spr 3,35; 26,1.8), Frevel und Schandtat (Spr 18,3), Hochmut (Spr 18,12; 29,23), Streitsucht (Spr 20,3), Faulheit (Spr 10,5) und Ehebruch (Spr 6,32) werden als schändliche Taten genannt. Auffällig ist der Zusammenhang zwischen Ehre und Unterweisung beziehungsweise Tadel. Ehre resultiert aus dem Befolgen von Unterweisung und dem Annehmen von Tadel, Schande hingegen aus der Verachtung von Zucht (zuweilen aber auch aus Armut! vgl. Spr 13,18). Die Konsequenz eines Fehlverhaltens war nicht in erster Linie persönliches Schuldbewusstsein des Betreffenden, sondern Schande für ihn und eventuell für seine ganze Familie. Die Verbindung zwischen Kindererziehung und Ehre der Familie mag ein Grund gewesen sein, weshalb auch drastische Massnahmen empfohlen wurden und zur Anwendung kamen – und dies wohl vor allem dann, wenn die mündliche Erziehung und gütliche Ermahnung beim Kind auf taube Ohren stiessen. Ohne die z.T. überholten «Zucht»-Vorstellungen des Alten Testaments beschönigen zu wollen, ist doch auch heute festzustellen, dass sich Nachsicht und lasche Erziehungspraktiken nicht unbedingt mit grösserer Liebe zum Kind gleichsetzen lassen. Im Gegenteil ist es für die gesunde psychische Entwicklung eines Kindes äusserst wichtig, dass ihm von den Eltern Grenzen gesetzt werden. In der gruppenorientierten Welt des Alten Testaments spielte die individuelle Veranlagung und freie Entfaltung eines Kindes eine viel weniger bedeutende Rolle als in unserer Zeit. Oberstes Gebot war daher die Konformität mit den Werten, Normen und Verhaltensmustern der Familie und der Gesellschaft. Die Erziehung richtete sich infolgedessen hauptsächlich auf den Gehorsam. Das Kind musste lernen, einen guten Eindruck zu machen und dadurch die Anerkennung der Gemeinschaft zu erlangen. Ein sicherer Umgang mit den gesetzten Werten und Normen garantierte dem Kind die Akzeptanz in der Gesellschaft. 3.4. Schwere Strafen bei Verstoss gegen die Pflicht der Elternehrung Eltern, die ihre Kinder sorgfältig erzogen haben, haben diesen gegenüber einen Anspruch auf ehrerbietige Behandlung. «Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit du lange lebst in dem Land, das Jhwh, dein Gott, dir gibt», heisst es im Dekalog (Ex 20,12, vgl. Dtn 5,16). Dieses Gebot zielt nicht auf Unterwürfigkeit der Kinder gegenüber den Eltern, sondern in erster Linie auf die Pflicht zu deren Versorgung im Alter. Wie leicht es auch damals zu Übergriffen der erwachsen gewordenen Kinder gegen ihre alt gewordenen Eltern kam, belegt einer der Todesrechtssätze im Alten Testament: «Wer seinen Vater oder seine Mutter
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schlägt, wird mit dem Tod bestraft» (Ex 21,15). Zwei Verse später heisst es: «Wer seinen Vater oder seine Mutter verflucht, wird mit dem Tod bestraft» (Ex 21,17; ähnlich Lev 20,9). Zwischen diesen beiden Versen befindet sich ein dritter, der Menschenraub (zum Zweck der Versklavung) mit dem Tod bedroht. Elternmisshandlung ist also so schlimm wie Menschenraub, und beides soll so hart bestraft werden wie Mord. 3.5. Kindererziehung damals und heute – ein Positionsbezug In der Rückschau können wir feststellen, dass die Erziehung der Kinder im alten Israel nicht grundsätzlich gewalttätig war. So wie heute, so waren auch damals durchschnittliche Eltern darauf bedacht, das Beste für ihre Kinder zu erreichen. Erziehung erfolgte primär in Form von Unterweisung im Sinne einer Einweisung in angemessene Verhaltensweisen. Erst wenn grundlegende Werte oder Gesetze von den Kindern gebrochen wurden, wurde Gewalt ein Thema. Die «Zucht» konnte handgreiflich werden, wenn Kinder (vor allem wohl Jungen, ihnen hauptsächlich galt die «Zucht») den Unterweisungen und Mahnungen keine Folge leisteten. Einmal – allerdings ausserhalb der Weisheitsliteratur – wird sogar der Gedanke der Todesstrafe für besonders renitente Söhne gedacht (Dtn 21,18–21); dazu war indes ein reguläres Gerichtsurteil nötig, und ob ein solches jemals gefällt und vollstreckt wurde, ist sehr zu bezweifeln. Unter Todesrecht stellt das Gesetz auch das Verfluchen oder Schlagen der (alt gewordenen) Eltern. Alle diese Formen der Gewaltanwendung scheinen jedoch Ausnahme, keineswegs die Regel zu sein. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass zum alttestamentlichen Erziehungsstil eine gewisse Strenge gehört zu haben scheint. Strenge indes ist nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit Gewalt. Im Ansatz basierte Erziehung im alten Israel auf Einsicht und Freiwilligkeit der zu Erziehenden. Gewalt gegen diese kam offenbar erst als letzte Konsequenz in Betracht. Vergleicht man damit die heutige Situation in unserem westlichen Kontext, springen die Unterschiede ins Auge. Gewalt gegen Kinder dient kaum mehr der Durchsetzung bestimmter pädagogischer Ziele oder gesellschaftlicher (gar religiöser) Normen, sondern sie geschieht überwiegend im Affekt: etwa weil Eltern überfordert sind und sich nicht anders zu helfen wissen. Es könnte indes sein, dass Ratlosigkeit und daraus resultierende Gewalttätigkeit ihren Grund gerade auch darin haben, dass in unserer Zivilisation klare Ziele und Normen abhanden gekommen sind. Heutige Erziehende wissen oft nicht recht, woraufhin sie, ja, ob sie überhaupt erziehen sollen. So wird die Verantwortung für die Erziehung der jungen Generation zwischen den Institutionen hin und her geschoben: Familie, Schule, Armee, Arbeitswelt, Polizei, Politik usw. Dabei hätte Erziehung heute wie damals wohl ein fundamentales Ziel: den Kindern und Jugendlichen dabei zu helfen, dass sie einen angemessenen Platz
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im Leben finden und verantwortungsbewusste Mitglieder der Gesellschaft werden. Schlüssel- und Fernsehkinder mahnen hier zu erneuter Anstrengung. Das Erziehungssystem Altisraels kann kaum unmittelbare Anleitung zur Lösung heutiger Probleme auf diesem Feld bieten. Es kann nicht darum gehen, Errungenschaften unserer Zeit und unserer Kultur – wie etwa den Grundsatz der Gewaltfreiheit in der Erziehung oder das Bemühen um die bestmögliche Förderung jedes einzelnen Kindes – aufzugeben zugunsten antiker Vorstellungen vom Vorrang des Kollektivs vor den Bedürfnissen der Einzelnen. Glücklicherweise stehen wir nicht unter dem Druck, den eine antike Ehre-Schande-Gesellschaft ausüben konnte. Kaum jemand hat mehr unter Repressalien zu leiden, wenn die eigenen Kinder missraten sind und die elterliche «Ehre» beschmutzen. Auch Blutrache haben wir nicht zu fürchten. So ist es nicht verwunderlich, und auch nicht zu bedauern, dass gewalttätige Methoden wie etwa Schläge mit der Rute aus der heutigen Erziehung weitgehend verschwunden sind. Was aber hoffentlich nicht verschwindet, ist das Interesse am Kind und an der Traditionsvermittlung. Das Alte Testament nimmt die Kinder ernst als diejenigen, die als nächste Generation das Leben prägen werden, und widmet daher ihrer Unterweisung viel Aufmerksamkeit. Das Ziel der Unterweisung ist, die Tradition von Generation zu Generation weiterzureichen und damit die eigene Kultur am Leben zu erhalten. Im Alten Testament finden sich genaue Anleitungen, wie z.B. die Geschichte des Passahfestes an die Kinder vermittelt werden soll (Ex 13,1–16). Noch heute ist es in jüdischen Familien Tradition, dass das jüngste Kind die Frage nach dem Sinn des Festes stellt und vom ältesten Mann am Tisch über den Auszug aus Ägypten belehrt wird. Im zentralen Teil des Sederfestes rücken damit das Kind und seine Unterweisung ins Zentrum. Auch in intellektueller Hinsicht wird das Kind im Alten Testament ernst genommen. Die «Weisheit» wird ihm nicht eingeprügelt, sondern argumentativ, auch mit Witz und Humor, vermittelt. Das Kind soll verstehen, einsehen – und nicht nur auswendig lernen. Diese Methode ist aufwändiger, denn sie verlangt nicht blinden Gehorsam, sondern die Fähigkeit, selber die moralisch wünschenswerten Schlüsse zu ziehen. Dazu aber muss dem Kind der Sachverhalt geduldig erklärt werden. Dies wiederum bedingt, dass ihm genügend Zeit gewidmet wird – etwas, das in der heutigen schnelllebigen und arbeitszentrierten Zeit oft zu kurz kommt. Das Ernstnehmen des Kindes in intellektueller Hinsicht wie auch in seiner Funktion als Zukunftsträger der eigenen Tradition, das gehegt und gepflegt werden will, sind Werte in der alttestamentlichen Kindererziehung, die wohl nie veralten werden. Auch die Erwartung, dass Kinder den Weisungen und Mahnungen ihrer Eltern Beachtung schenken und diesen gegenüber Respekt
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bewahren, ist bis heute nicht überholt, sollte es zumindest nicht sein. (Dass die Erziehenden diesen Bonus oft verspielen, steht auf einem anderen Blatt.) Literatur
R. ALBERTZ, Hintergrund und Bedeutung des Elterngebots im Dekalog, in: ZAW 90 (1978), 348–374. – R.D. BRANSON, Art. jāsar / musār, in: ThWAT 3, 688–697. – H. DELKURT, Erziehung im Alten Testament, in: Glauben und Lernen 16 (2001), 26–39 (vgl. www.uni-essen.de/Ev-Theologie/courses/course-stuff/lit-delkurt-erziehung.htm; Stand: April 2005). – W. DIETRICH, Den aufrechten Gang lernen. Ein alttestamentlicher Beitrag zu einer zeitgemäßen Didaktik, in: Religion heute (1983), 191–194. – W. GESENIUS / F. BUHL, Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament, Berlin u.a.O. 1915 = 171962. – W. KÖHLER / W. BAUMGARTNER, Hebräisches und Aramäisches Lexikon zum Alten Testament, Leiden 1995. – B.J. MALINA / J.H. NEYREY, Honor and Shame in Luke-Acts. Pivotal values of the Mediterranean World, in: J.H. Neyrey (Hrsg.), Social World of Luke-Acts. Models for Interpretation, Peabody MA 1991, 25–65. – A. MEINHOLD, Die Sprüche, Zürich 1991 (ZBK.AT 16). – J.J. PILCH, Introducing the Context of the Old Testament, New York 1991. – J. SCHARBERT, Exodus, Würzburg 1989 (NEB). – E. ZENGER, Einleitung in das Alte Testament, Stuttgart 4 2001.
NB / LM 4. «Gewalt» in der Familie – Devianz, Familienkonflikte und Jesusnachfolge Unter dem Stichwort «Devianz» diskutiert die Soziologie Verhaltensweisen von Einzelnen oder Gruppen, die von der gesellschaftlich akzeptierten Norm abweichen3. Jedes Gemeinwesen verfügt über differenzierte Mechanismen, um Kontrolle über das Verhalten des Einzelnen auszuüben, z.B. durch moralischreligiöse Vorschriften, durch Vorstellungen von Ehre und Schande oder durch Formen öffentlicher Anerkennung und Sanktionierung. Gerade traditionelle Gesellschaften sind in der Lage, aufgrund ihres engen Sozialgefüges individuelle Formen der Selbstbestimmung ohne zentrale Machtorgane massiv zu beschränken. Wenn sich ein Einzelner oder eine Gruppe durch gezielte Normverletzungen und Tabubrüche dieser Kontrolle entzieht, hat dies meistens unterschiedliche Folgen: Es stärkt einerseits die Identität der Gruppe nach innen, es verursacht aber zugleich Irritation und Aggression seitens der gesellschaftlichen Mehrheit. Abweichendes Verhalten kann daher indirekt Aggression fördern und Gewalt verursachen. Betrachtet man die Jesusbewegung und das frühe Christentum unter dem Blickpunkt der «Devianz», dann wird deutlich, dass sie in vielen Aspekten als «normabweichende» Gruppierung wahrgenommen werden musste und dadurch über ein grosses Irritationspotenzial verfügte. Da in der Antike (wesentlich stärker als heute) der Konformitätsdruck in erster Linie innerhalb der hierarchisch geordneten 3
Vgl. Lamnek, Neue Theorien.
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Familie ausgeübt wurde (s.o. B.I.3.3.), erstaunt es nicht, dass Familienkonflikte von Beginn an zu den Folgeerfahrungen des christlichen Glaubens gehörten. Zwei Aspekte sind hierbei in Betracht zu ziehen: a) Die Erfahrung von Familienkonflikten ist eine Realität, die auf Jesus selbst zurückzuführen ist. In einer kurzen Szene in Mk 3,20f machen sich Angehörige der Familie Jesu auf, um ihn aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit zu ziehen, weil sie befürchten, er sei von Sinnen4. Das Verb krateô («ergreifen, sich jemandes bemächtigen») in 3,21 legt die Absicht nahe, Gewalt zu gebrauchen5. Durch die Verknüpfung von 3,20f mit dem darauf folgenden Abschnitt über den Vorwurf der Schriftgelehrten, dass Jesus im Bündnis mit dem Satan stehe (3,22–30), stellt der Evangelist Markus die Familie Jesu in eine Reihe mit seinen Todfeinden (vgl. 3,6). Die Ablehnung Jesu durch seine Verwandten ist ein historisches Detail, das sicherlich nicht im Überlieferungsinteresse der frühen Christen lag6. Selbst wenn es in dieser Darstellung nicht zur Ausübung von Gewalt kommt, hat der Auftritt der Familie Jesu etwas Bedrohliches und latent Gewalttätiges. Der religiös «deviante» Sohn bringt der Familie Schande und muss, wenn nötig gewaltsam, aus der Öffentlichkeit entfernt werden. Nach damaligem Verständnis handelte die Familie nicht ohne guten Grund, denn Jesus war in vielerlei Hinsicht ein Regelbrecher, ein «Dissident»7. Er überschritt restriktiv gedeutete Vorschriften (Sabbat: Mk 1,21–31; 3,1–6; Reinheit: 1,40–45; 2,15–17; 7,1–13) und er relativierte häufig gesellschaftlich anerkannte, ja zum Teil geradezu heilige Familiennormen. So ist die Nachfolge Jesu wichtiger als die Verabschiedung vom Kreis der Familie (Lk 9,61f), als die Pflicht, den Vater zu bestatten (Mt 8,21f//Lk 9,59f), und als die Heirat (Lk 14,20; vgl. 17,26f; Mk 12,18–25); ja der Hass bzw. die Geringachtung der Familie gehört zu den Bedingungen der Nachfolge (Lk 14,25f; vgl. Mt 10,37)8. Der Ruf in die Nachfolge war daher mit dem Bruch innerhalb der eigenen Familie verbunden (vgl. die Berufungsgeschichten in Mk 1,16–20; 2,13f; s.a. 10,29f) und der Aufnahme in eine «neue» Familie (Mk 3,31–35). Dieser Bruch hatte mit der «devianten» Lebensform Jesu zu tun: Er und sein engster Kreis waren nicht-sesshaft (Mt 8,19f//Lk 9,57f) und wanderten mit karger Ausstattung von Ort zu Ort (Mt 10,9f//Lk 10,4). Sehr wahrscheinlich 4
Die Wendung «die Seinigen» in 3,20 bezieht sich nicht auf Jesu Jünger, sondern auf seine Familie, und greift damit auf 3,31-35 voraus. 5 Das Verb wird im Markusevangelium in diesem Sinne noch in 6,17; 12,12; 14,1.44.46.49.51 (Passionsgeschichte!) verwendet. 6 Die Parallelüberlieferung im Matthäus- und im Lukasevangelium überspringt diese knappe Szene. 7 Vgl. die Auslegung von van Iersel, Dissident, der auch den Bogen zum wichtigen Konzept von Schande und Ehre spannt. 8 Die meisten dieser Sprüche stammen nach der Zwei-Quellen-Hypothese aus der Logienquelle (vgl. die Analysen in Jacobson, Jesus against the Family).
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gab es ein Interesse daran, solche Erzählstoffe zu überliefern, weil sich darin Erfahrungen widerspiegeln, die zur Realität der frühen Christen und Christinnen gehörten9 – wie sich am Schicksal des reisenden Missionars Paulus zeigen lässt (vgl. Röm 8,35; 2Kor 6,4–10; 11,23–29; Phil 4,11–13)10. Im Bereich der häuslichen Gewalt schweigt das Neue Testament, obgleich das Haus damals (wie heute!) ein Hort der Gewalt war11. In der Kindererziehung, gegenüber der Ehefrau, und vor allem auch gegenüber den Haussklaven und -sklavinnen war Gewalt in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen in der Antike stets präsent. Etwas von dieser Realität scheint hinter der «Haustafel» im 1. Petrus durch: «(18) Ihr Haussklaven, ordnet euch den Herren mit allem gebührenden Respekt unter, nicht allein den guten und freundlichen, sondern auch den skrupellosen. (19) Denn wenn jemand aufgrund des Gewissens vor Gott irgendeine Belastung erträgt und dabei unrechtmässig leidet, dann ist das eine Gnade. (20) Denn was für eine Art Ehre stellt es dar, wenn ihr es geduldig ertragt, geschlagen zu werden aufgrund eines Vergehens? Wenn ihr aber geduldig ertragt, indem ihr Gutes tut und dabei trotzdem leidet, dann ist das Gnade bei Gott. (21) Denn dazu seid ihr berufen worden, da auch Christus für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen hat, damit ihr seinen Fussspuren nachfolgt.» (1Petr 2,18–21)
Diese sehr ambivalente Anweisung kann gelesen werden als christliche Festlegung der Sklaverei oder auch als ein Weg, innerhalb der bestehenden Verhältnisse von Sklavenhaltung und häuslicher Gewalt im Sinne Jesu der Gewalt ehrenvoll und geduldig zu widerstehen. b) Solche latent gewaltsamen Familienkonflikte wurden mithilfe einer alttestamentlich-jüdischen Tradition als Zeichen der Endzeit gedeutet. Am stärksten dürfte die prophetische Rede in Micha 7,5–6 gewirkt haben: «Glaubt nicht dem Gefährten, verlasst euch nicht auf den Vertrauten! Vor der, die an deinem Busen liegt, hüte die Pforten deines Mundes! Denn der Sohn behandelt den Vater verächtlich, die Tochter erhebt sich gegen ihre Mutter, die Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter; die Feinde eines Mannes sind seine eigenen Hausgenossen.»
Der Verlust von Familien- und Freundschaftsbanden erscheint in den apokalyptischen Szenarien jüdischer Texte als ein Zeichen für die Verdichtung des Bösen in der Endzeit. 9
Solche Erfahrungen können auch als «Kehrseite» frühchristlicher Mission gesehen werden; vgl. dazu Luz, Absolutheitsanspruch, 276–280. 10 Vgl. zur «Devianz» der paulinischen Mission Downing, Deviants. 11 Zum gewaltsamen Umgang mit Sklaven vgl. Ex 21,26f; Spr 29,19–21; Sir 23,10; 33,24–26; Lk 12,45–47; Seneca, De Ira III,27,3; Epist. 47. Das Thema ist in der Altertumswissenschaft wenig behandelt; vgl. die Studie von Clark, Women, die anhand der Autobiographie Augustins das Problem der Gewalt in der römischen Familie beleuchtet.
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So wird in den Visionen des äthiopischen Henochbuches «ein Mann seine Hand nicht von seinen Söhnen und von dem Sohn seiner Söhne zurückhalten, ihn zu töten, und der Sünder hält seine Hand nicht von seinem geachteten Bruder zurück: Vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang morden sie sich» (äthHen 100,2)12. Ähnliches findet sich in 4Esra 5,9: «Freunde bekämpfen einander plötzlich»13. Auch die syrische Baruchapokalypse sieht voraus, dass die Menschen einander hassen und sich gegenseitig zum Streit reizen werden (70,3). Und Pseudo-Philo, LAB 6,1: «Siehe, es wird geschehen, dass wir getrennt werden, ein jeder von seinem Bruder, und in den letzten Tagen werden wir uns, einer den anderen, bekämpfen.»14
Dieser apokalyptische Allgemeinplatz war das geeignete Vehikel, nicht nur um die eigenen Erfahrungen familiärer Konflikte in Sprache zu kleiden, sondern auch um diese als Zeichen der angebrochenen Endzeit zu deuten. So liegt es ganz auf dieser Linie, dass familiäre Auseinandersetzungen in einer Reihe von Worten Jesu als natürliche Folge der Jüngerschaft betrachtet werden: «(34) Meint nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern Schwert. (35) Denn ich bin gekommen, um einen Mann gegen seinen Vater, eine Tochter gegen ihre Mutter und eine Schwiegertochter gegen ihre Schwiegermutter aufzubringen. (36) Und des Menschen Feinde – seine eigenen Hausgenossen!» (Mt 10,34–36; vgl. Lk 12,49–53)
Dieses Wort mutet seltsam an15, steht es doch quer zum Friedensgruss der Jünger (Mt 10,13) und zur Seligpreisung der Friedensstifter (5,9). Trotz populärer Entwürfe eines revolutionären Jesus gibt er sich hier weniger als Widerstandskämpfer zu erkennen. In dieser polemisch zugespitzten Antithese wendet er sich gegen die allgemeine Erwartung, dass mit dem Kommen des Messias die Einsetzung eines politischen Friedensreichs verbunden sei16. Der Hinweis auf das Kurzschwert (machaira) steht mit der «Entzweiung» der Familie in V. 37 in einem metaphorischen Zusammenhang. Von einer wörtlichen kriegerischen Auseinandersetzung ist hier nicht die Rede, aber doch von innerfamiliären Konflikten, deren tatsächliche Gewaltförmigkeit zwar nicht genauer bestimmt werden kann, die aber zweifellos vorhanden war. Jesus, der solche Konflikte aus seiner eigenen Familie kannte, sieht sich mit seinem radikalen Ruf in die Nachfolge als direkter Auslöser dieser Konflikte. In einem erschreckenden Zukunftsszenario brechen alle Familienbande auseinander (Mk 13,12a // Mt 10,21): Brüder liefern (paradidômi) ihre Brüder der mörderischen Justiz aus, Väter ihre Söhne (vgl. Lk 21,16), Kinder 12
Übers. S. Uhlig, JSHRZ, 1985. Übers. J. Schreiner, JSHRZ, 1981; ähnlich 6,24. 14 Übers. Dietzfelbinger, JSHRZ, 1979. 15 Vgl. zur Auslegung Luz, Mt II, 133–140. 16 Vielleicht möchte Jesus sich auch gegenüber der Botschaft der falschen Heilspropheten, die nur vom Frieden reden (Jer 6,14; 8,11; Hes 13,10.16), abheben (so Walter, Nicht Frieden, 182). 13
5. Konflikte in den Gemeinden
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rebellieren gegen ihre Eltern bis zu dem Punkt, dass sie ihren Tod herbeiführen. Der Loyalitätskonflikt zwischen Glaube, Ehre und Familie hat hier seinen Siedepunkt erreicht: Aus der Tatsache, dass die Loyalität zur Familie gegenüber der Nachfolge an Bedeutung verliert, ergibt sich, dass sich Familienmitglieder im Falle offener religiöser Auseinandersetzung und Verfolgung nichts (mehr) schuldig sind. Jeder kann jeden verraten und dem Tod ausliefern. In diesen Bildern überleben nicht nur erschreckende Visionen der Auflösung von Familien- und Freundschaftsbanden, sondern auch die Spur der Gewalt im Bereich der Familie, wie sie von vielen Christen und Christinnen erfahren wurde. Literatur
P. CLARK, Women, Slaves and the Hierarchies of Domestic Violence. The Family of St. Augustine, in: S.R. Joshel / S. Murnaghan (Hrsg.), Women and Slaves in GrecoRoman Culture, London 1998, 109–129. – F. DOWNING, Paulʼs Drive for Deviants, in: NTS 49 (2003), 360–371. – B. VAN IERSEL, Ein Dissident von Format. Der Jesus von Mk 3,20–35, in: Conc(D) 35 (1999), 204–211. – A.D. JACOBSON, Jesus against the Family. The Dissolution of Family Ties in the Gospel Tradition, in: J.M. Asgeirsson, u.a. (Hrsg.), From Quest to Q (FS J.M. Robinson), Leuven 2000 (BEThL 146), 189–218. – S. LAMNEK, Neue Theorien abweichenden Verhaltens, München 1994 (UTB 1774). – U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1990 (EKK I/2). – DERS., Absolutheitsanspruch und Aggressionspotential im frühen Christentum, in: EvTh 64 (2004), 268–284. – N. WALTER, ‹Nicht Frieden, sondern das Schwert›? Mt 10,34 (Lk 12,51) im Kontext der Verkündigung Jesu (1982), in: Praeparatio evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen 1997 (WUNT 98), 169–186.
MM 5. Konflikte in den Gemeinden Für die Gemeinschaftserfahrung der frühen Christen und Christinnen hatte die Gemeinde einen familienähnlichen Status. Von Konflikten innerhalb der Gemeinden und zwischen Einzelpersönlichkeiten geben die Apostelgeschichte und Briefe des Neuen Testaments beredt Auskunft. Soweit sich daraus ersehen lässt, ist es im Rahmen des frühchristlichen Gemeinschaftslebens nicht zur Anwendung physischer Gewalt gekommen. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit! Ein kurzer Überblick über die sich im Neuen Testament widerspiegelnden Konfliktgeschichten mag dies veranschaulichen17:
17 Zur frühchristlichen Konfliktgeschichte vgl. Fenton, Controversy; Kremer, Konflikte; Mayordomo, Paul as Mediator; Roloff, Konflikte.
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B.I. Gewalt im Nahbereich
Apg 6,1–7 berichtet von einer Auseinandersetzung zwischen «Hebräern» und «Hellenisten», weil die Witwen der «Hellenisten» bei der täglichen Verpflegung benachteiligt wurden. Dahinter verbirgt sich wahrscheinlich eine tiefer gehende Auseinandersetzung zwischen den palästinischen Judenchristen und -christinnen, die Aramäisch sprachen (= «Hebräer»), und den aus der Diaspora zurückgekehrten Judenchristen und -christinnen, die Griechisch sprachen (= «Hellenisten»). In Apg 15,1–2 bahnt sich der nächste Konflikt an: Welchen bindenden Charakter soll das jüdische Gesetz für die Christen und Christinnen nicht-jüdischer Herkunft haben? Dieser Disput führt in der lukanischen Darstellung zum sog. «Jerusalemer Konzil» (vgl. Apg 15 und Gal 2). Das missionarische Tandem Barnabas und Paulus bricht in Apg 15,36–46 auseinander, weil sie sich über die Tauglichkeit zur Mission von Johannes Markus nicht einig werden. Für Aufsehen sorgte auch die Auseinandersetzung zwischen Paulus und Petrus, von der Paulus in Gal 2,11–15 berichtet: Nachdem Petrus sich am «antiochenischen Experiment» einer umfassenden Gemeinschaft von Christen und Christinnen jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft beteiligt hatte, macht er aus Angst vor einer gesetzesstrengen Gesandtschaft aus Jerusalem einen Schritt zurück und verleitet dadurch andere zu einem ähnlichen Rückzug. Für Paulus ist das eine unerträgliche Inkonsequenz mit dem Engagement für ein gesetzesfreies Evangelium! Der erste Korintherbrief gibt einen Einblick in so viele Konflikte und Spaltungen, dass man diese Gemeinde als eine «Konflikt-Fabrik» bezeichnen könnte: Um die Figuren des Petrus, des Paulus und des Apollos haben sich geradezu rivalisierende Gruppierungen gebildet (1,10ff; 3,5–9); Geschwister der gleichen Gemeinde ziehen gegeneinander vor Gericht (6,1–7); hinsichtlich der Frage, ob man Götzenopferfleisch konsumieren dürfe, zieht sich eine weitere Spaltung durch die Gemeinde zwischen «Starken» und «Schwachen» (Kap. 8–10); ein weiterer Streit betrifft die Frage nach Geschlechterrollensymbolen (v.a. hinsichtlich der Haartracht) von Männern und Frauen im Gottesdienst (11,2–16); auch die Feier des Herrenmahls ist von der sozialen Auseinandersetzung zwischen Reichen und Armen nicht ausgenommen (11,18–34); weiterhin sind sie sich uneins im Hinblick auf den Wert und die Bedeutung besonderer Geistesgaben (Kap. 12–14) und die zukünftige Auferstehung (Kap. 15). Neben diesen explizit erwähnten Konflikten spiegeln viele Briefe ähnliche Auseinandersetzungen wider. Röm 14–15 setzt einen Streit zwischen Christen und Christinnen jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft voraus. Aus einigen Texten des zweiten Korintherbriefes lassen sich Konflikte zwischen Paulus und einem angesehenen Gemeindemitglied (2,3–11; 7,6–11) und zwischen ihm und konkurrierenden Aposteln (Kap. 10–13) ablesen. Der Galaterbrief setzt deutlich eine Situation voraus, in der strenge judenchristliche Missionare die Gemeinden in Galatien auf das Halten jüdischer Identitätsmerkmale verpflichten wollen (1,6–9; 3,1; 6,12–17). Ähnliche Konflikte sind auch hinter anderen Briefen erkennbar (vgl. Phil 3,2–21; Kol 2,6–3,6; 2Thess 2,1–3; 1Joh 2,18–19; 4,1–6; 3Joh 9–10; 2Petr 2–3; Judas; Offb 2–3).
All diese Konfliktgeschichten mögen zwar ein grosses Aggressionspotenzial haben, eine tatsächliche Anwendung von Gewalt ist jedoch nicht belegt. Man wird im Gegenteil mit Achtung wahrnehmen müssen, dass das frühe
5. Konflikte in den Gemeinden
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Christentum trotz der vorhandenen Pluralität und der erkennbaren Konflikte über ein funktionierendes «Krisenmanagement» verfügte18. Am ehesten in den Bereich der Gewalt gelangen wir vielleicht im Falle des Jakobusbriefes, dessen sozialer Konflikthintergrund wenigstens umrisshaft erkennbar wird19: Der Brief setzt voraus, dass sich arme Christen und Christinnen (1,9; 2,5; vgl. die Fälle in 1,27 und 2,15), zu denen wahrscheinlich auch Tagelöhner (5,4) und Bauern (5,7b) gehörten, einer Reihe von reichen Landbesitzern (5,1–6), die zuweilen den Gottesdienst besuchten (2,1–2), gegenübergestellt sehen. Das eigentliche «Sorgenkind» des Briefes bildet jedoch eine angepasste «Mittelschicht» (z.T. Kaufleute), die ihre soziale Verantwortung gegenüber den Armen aus den Augen verloren hat und sich stattdessen auf der Aufstiegsleiter nach oben befindet (2,1.4.6.9.15f; 4,13–17). Der Druck von aussen polarisiert die Gemeindeglieder. Die einen, vornehmlich die Armen, können sich nicht wehren (5,6); die anderen, vornehmlich die Wohlhabenden, versuchen dem Druck durch Anpassung auszuweichen. Eine solche opportunistische Haltung wird auf Kosten der eigenen – wenn auch sozial niedrigen – Geschwister erkämpft. Das Begehren nach den Gütern der Reichen führt zum innergemeindlichen Kampf, dessen Härte in 4,1–3 zum Ausdruck kommt: «(1) Woher kommt so viel Krieg und Kampf (polemoi kai machai) unter euch? Kommt das nicht daher, dass eure leiblichen Lüste (hêdonôn) miteinander streiten? (2) Ihr wollt immer mehr haben und erlangt nichts. Ihr mordet und neidet (phoneúete kai zêloute), könnt jedoch dadurch nichts erreichen. Ihr streitet und führt Krieg. Ihr habt (echete) nichts, weil ihr nicht bittet. (3) Gewiss bittet ihr, aber ihr empfangt nichts, weil ihr falsch bittet, nur um eure selbstsüchtigen Wünsche zu befriedigen.»
Trotz der starken Sprache ist kaum anzunehmen, dass hier an echten Mord und Totschlag zu denken ist, denn sonst wäre Jakobus sicherlich viel ausführlicher und ernster darauf eingegangen. Vielleicht denkt er eher daran, dass man auch mit der Zunge tödliche Wunden zufügen kann (vgl. Sir 28,17.21 und die Rede von Tod bringendem Gift in Jak 3,8). Erstaunlich bleibt jedoch die Analyse für den Ursprung dieses Konflikts: die Lust, das Begehren (vgl. 1,14). Nach jüdisch-hellenistischer Sicht äussert sich das Begehren in «Prahlerei, Geldgier, Ehrgeiz, Zank- und Klatschsucht» und weiterhin in «Fressen und Schlingen» (4Makk 1,25). «Für dieses ‹Begehren› gilt die Erfahrungsregel: von der Begierde zum Genuss und vom Genuss zur Begierde, aber niemals zum
18 Zur «Mediationskunst» des Paulus in 1Kor 8–10 und Röm 14–15 vgl. Mayordomo, Paul as Mediator. Zur rechtlichen Regelung von Konflikten im frühen Christentum vgl. Koch, Regelung. 19 Vgl. zum Hintergrund des Briefes Popkes, Adressaten, 53–63.
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
bleibenden, seligen Besitz; denn das Präsens echete (= ihr habt, MM) besagt dauernden Besitz. Dieser bleibt der ‹Begierde› versagt.»20 Die Konfliktanalyse des Jakobus erhält eine erstaunliche Aktualität dadurch, dass sie sich mit den Theorien Girards deckt (s.o. S. 17). Der Wurm des «mimetischen Begehrens» war bereits von Anfang an im Leben der christlichen Gemeinden. Literatur
J.C. FENTON, Controversy in the New Testament, in: E.A. Livingstone (Hrsg.), Studia Biblica 1978, vol. 3: Papers on Paul and other New Testament authors, Sheffield 1980 (JSNT.S 3), 97–110. – S. KOCH, Rechtliche Regelung von Konflikten im frühen Christentum, Tübingen 2004 (WUNT 2:174). – J. KREMER, Konflikte und Konfliktlösungen in der Urkirche und frühen Christenheit, in: Ders., Die Bibel beim Wort genommen, Freiburg 1995, 361–380. – M. MAYORDOMO, Paul as Mediator, in: F. Enns / S. Holland / A.K. Riggs (Hrsg.), Seeking Cultures of Peace. A Peace Church Conversation, Telford PA 2004, 171–181. – F. MUSSNER, Der Jakobusbrief, Freiburg 5 1987 (HThK 13/1). – W. POPKES, Adressaten, Situation und Form des Jakobusbriefes, Stuttgart 1986 (SBS 125/126). – J. ROLOFF, Konflikte und Konfliktlösungen nach der Apostelgeschichte, in: C. Bussmann / W. Radl (Hrsg.), Der Treue Gottes trauen. Beiträge zum Werk des Lukas, FS G. Schneider, Freiburg 1991, 111–126.
MM II. G EWALT
IN
S TAAT
UND
G ESELLSCHAFT
1. Staatliche Gewalt im Alten Israel Die biblischen Zeiten waren nicht besser als die unseren, freilich in manchem anders. Heute definieren sich Menschen vorrangig als Individuen, und dazu als Mitglieder einer Familie und Bürger eines Staates. Der Individualismus war in biblischer Zeit, wenn überhaupt, dann sehr schwach ausgeprägt. Die Menschen damals verstanden sich vorrangig als Mitglied einer Familie, einer Sippe, eines Stammes (tribales System) und als Bewohner eines Städtchens (grössere Städte gab es nur wenige) oder eines Dorfes (kommunales System). Bürger eines Staates war man eher beiläufig. Die damals einzig mögliche Staatsform war die Monarchie. Israel existierte als Königreich knapp 300, Juda etwas mehr als 400 Jahre (von ca. 1000 bis 722 bzw. 587 v. Chr.). Das sind im Blick auf die mehr als tausendjährige biblische Geschichte nur Teilstrecken. Die substaatlichen Strukturen hingegen – Kommune, Familie/Stamm, übrigens auch Religion – waren immer präsent. Und beides war nicht frei von Gewalt. Aufgabe eines Staates ist es, für ein gesichertes und geordnetes Zusammenleben seiner Bürger zu sorgen. Das ist nicht möglich ohne den Gebrauch von 20
Mussner, Jakobusbrief, 178.
1. Staatliche Gewalt im Alten Israel
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Macht, zuweilen auch von Gewalt (etwa von Polizeigewalt zur Unterbindung krimineller Machenschaften, vielleicht auch von militärischer Gewalt zur Abschreckung oder Abwehr äusserer Feinde; davon wird unten bei D.II.2. zu handeln sein). Um solche Gewalt (im Sinne von lateinisch potestas) soll es hier nicht gehen, sondern um illegale und illegitime Gewalt (im Sinne von vis), die durchaus auch vom Staat gegen die eigenen Bürger ausgeübt werden kann. Für Israel war diese Situation namentlich dann gegeben, wenn man einem fremden Reich untertan war und dessen Vertreter – Könige, Militärs, Behörden – zu Gewaltmitteln gegen die unterworfenen Israeliten griffen. Die Bibel stellt gleich an den Anfang ihrer Schilderung der israelitischen Volksgeschichte als grosses Exempel die Unterdrückung durch den Pharao von Ägypten (Ex 1–14). Da wird erzählt, wie die israelitischen Migranten ausgebeutet, bedrängt und gequält, bei aller Fremdenfeindlichkeit aber mit Gewalt am Weggehen gehindert wurden. Diese Erfahrung wird später in der Bibel als Leben im «Haus der Sklaverei» beschrieben (z.B. Ex 20,2). Schliesslich gelang dann doch die Flucht. Danach war man frei – aber in der Wüste, aus der sich prompt viele zu den «Fleischtöpfen Ägyptens» zurücksehnten. Staatliche Organisation und Ordnung bedeuten eben – selbst unter einem Pharao – nicht nur ein bedrücktes, sondern auch ein halbwegs gesichertes Leben. Die biblische Darstellung der Herrschaft Pharaos ist transparent auf die Herrschaft späterer eigener Könige hin – namentlich diejenige Salomos21. Salomo soll unermesslich reich gewesen sein. Auch wenn es damit historisch nicht gar so weit her gewesen sein wird: Die Kosten für staatliche Verwaltung, Bautätigkeit usw. mussten aufgebracht werden, sei es von unterworfenen Vasallen22, sei es von den eigenen Untertanen. Salomo scheint dafür vor allem die Nordgebiete Israels herangezogen zu haben, während seine judäische Hausmacht verschont blieb23. Später wirkte sich das dann so aus, dass die Nordstämme sich von Salomos Sohn und Nachfolger Rehabeam lossagten und einen eigenen König kürten. Als dieser, wie das Könige im ganzen Orient zu tun pflegten, Staatsheiligtümer begründete, da weihte er sie Jhwh und empfahl sie der Frömmigkeit seiner Untertanen mit den beziehungsreichen Worten: «Siehe, das ist dein Gott, der dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat24» (1Kön 12,28). Die Loslösung aus dem davidisch-salomonischen Reich wird hier gleichgesetzt mit der längst zum Mythos gewordenen Befreiung aus der ägyptischen Sklaverei! 21
Vgl. Särkiö, Exodus. Eine Art Aussenexpansion soll David gelungen sein, vgl. 2Sam 8 und dazu Halpern, Davidʼs Secret Demons, 107–226. Doch schon für Salomo scheint diese Einnahmequelle wieder versiegt zu sein, vgl. 1Kön 11,14–25. 23 Vgl. 1Kön 4,7–20; 5,7f und dazu Fritz, Verwaltungsgebiete. 24 Die pluralische Formulierung «deine Götter, die dich heraufgeführt haben» verdankt sich judäischer Polemik gegen den nordisraelitischen Staatskult. 22
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
Jahrhunderte später dann erlag das nordisraelitische Königreich dem Expansionsdrang des neuassyrischen Grossreichs. Juda entging diesem Schicksal nur knapp: halb durch ein Wunder, halb durch die absolut Assur-hörige Politik des Königs Manasse, der wie zum Lohn die längste Regierungszeit aller Könige auf dem Davidsthron geniessen durfte: 55 Jahre (696–641 v. Chr.). Seine Herrschaft stützte sich auf die assyrischen Bajonette, und so empfanden viele sie als Fremdherrschaft und pure Unterdrückung – was sie vermutlich auch war25. Als Manasse endlich starb, hatte das Assyrerreich den Zenit seiner Macht überschritten (612 wurde seine Hauptstadt Ninive dem Erdboden gleich gemacht). In Juda kam es zu einer kurzen Blütezeit unter Joschija (639–609 v. Chr.), ehe das kleine Land dann in die Turbulenzen hineingeriet, die das Ringen zwischen dem ägyptischen Pharaonenreich und dem frisch aufgekommenen neubabylonischen Reich um die politische und militärische Vorherrschaft in Syrien-Palästina auslöste. Juda erlebte die furchtbarste Form staatlicher Gewaltausübung, als babylonische Truppen ab 589 das Land überschwemmten und brandschatzten, Jerusalem jahrelang belagerten und aushungerten, es schliesslich eroberten, verbrannten, unter den Verteidigern und Einwohnerinnen ein Blutbad anrichteten und von den Überlebenden Hunderte und Tausende nach Mesopotamien verschleppten26. An den grossen und den kleineren Katastrophen, von denen die Geschichte der Staaten Israel und Juda so viele aufweist, waren jeweils die eigenen Könige und ihre Machteliten nicht unschuldig, ja für viele waren sie durch ihre unvernünftige Politik mitverantwortlich. Schon aus diesem Grund wurde staatliche Macht in Israel bzw. in der Bibel generell kaum glorifiziert, sondern im Gegenteil für altorientalische Verhältnisse ausserordentlich häufig und scharf kritisiert. Insbesondere nach der Exilskatastrophe wurden königskritische Stimmen so laut und gewannen so viel Einfluss, dass nach dem Ende des Exils nur mehr kleine Gruppen eine Restitution des Königtums anstrebten, die geistig und politisch am Ende Ausschlag gebenden Strömungen aber den Verzicht auf staatliche Macht für das der Jhwh-Gemeinde Angemessene hielten27. So entwickelte sich, unter persischer Oberhoheit, in Juda eine Art Theokratie, ein wesentlich nach den Normen der biblischen Tora sich ausrichtendes Gemeinwesen, in dem es keine Könige gab, sondern allenfalls noch Hohepriester. (Als es diese nach der Zerstörung des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. nicht mehr geben konnte, bestand das Judentum trotzdem fort.) 25 Vgl. 2Kön 21,1–18 und dazu die Zeugnisse der Prophetenschriften Nahum und Habakuk (in ihrem Grundbestand: s. Dietrich, Widerstand). 26 Vgl. die Berichte in 2Kön 25; Jer 39; 52 sowie die Reflexe der Katastrophe namentlich in Klageliedern wie Ps 74; 89; Klgl 1f; 4f. Eine gründliche Darstellung der Ereignisse bietet Albertz, Exilszeit, 65–80. 27 Siehe Dietrich, Niedergang; Müller, Königtum.
1. Staatliche Gewalt im Alten Israel
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Israeliten und Judäer erfuhren durch Königtum und Staat indes nicht nur äussere Unterdrückung und aussenpolitische Katastrophen, sondern auch schwere innenpolitische Krisen und rücksichtslose soziale Repression – und auch dies war mit teilweise exzessiver Gewaltanwendung verbunden. Damals wie heute waren die Plätze an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide begehrt und umstritten. Wer wird König, welche Klientel profitiert jeweils davon? Im Südreich Juda wurden die Kämpfe um die Thronnachfolge dadurch etwas kanalisiert und teilweise überdeckt, dass von vornherein nur Mitglieder des Davidhauses als Herrscher in Betracht kamen. Doch gab es in der Regel mehrere Thronprätendenten mit jeweils ihrer politischen und wirtschaftlichen Klientel. Die beiden wichtigsten Widerlager scheinen die Jerusalemer Stadtaristokratie und der judäische Landadel gewesen zu sein. Schon bei der Nachfolge Davids stehen sie sich feindselig gegenüber, beide Lager mit einem Prinzen als Galionsfigur: das eine mit Salomo, das andere mit Adonija; den Ausschlag zu Gunsten des Ersteren scheint gegeben zu haben, dass sich David unter dem Einfluss der Königin Batscheba (und Mutter Salomos) auf diese Seite schlug (1Kön 1f). Zur mittleren Königszeit nahm die Stadtjerusalemer Gruppierung eine Art Vasallenrolle gegenüber dem nordisraelitischen Königshaus der Omriden ein – wofür sie, als dieses durch einen Putsch beiseite gefegt wurde, einen hohen Blutzoll zu entrichten hatte (2Kön 10,12–14). Die landjudäische Gegenpartei entmachtete und tötete ihrerseits in einem Putsch die als Interimsherrscherin angetretene Königsmutter – manche behaupteten auch: die Königsmörderin – Atalja (2Kön 11). In der ausgehenden Königszeit schliesslich verfolgte die landjudäische Partei eine probabylonische, die Stadtjerusalemer Partei eine proägyptische Politik, und bald vermochte die eine Seite, bald die andere ihre Richtlinien durchzusetzen, was die Lebensfähigkeit des Kleinstaates nicht gerade erhöhte (2Kön 24f). Im Nordreich Israel wirken die Verhältnisse noch chaotischer, insofern hier häufige Dynastiewechsel stattfanden. Jeder von ihnen war mit einem gewaltsamen Thronsturz, manche sogar mit einer Serie von Putschen und Gegenputschen verbunden (z.B. 1Kön 16; 2Kön 15). Dabei war es regelmässiger Brauch (und machtpolitisch anscheinend geraten), den Vorgängerkönig samt seiner gesamten Familie zu liquidieren. Dies widerfuhr schon der Familie Sauls (vgl. vor allem 2Sam 21) und dann jeder nachfolgenden Dynastie in Nordisael, z.B. derjenigen Jerobeams I. (1Kön 15,25–31) oder Omris (2Kön 9f) oder Jehus (2Kön 15,10). Irritierend ist dabei, dass die biblischen Berichte solche Vorgänge eher mit Zustimmung als mit klarer Ablehnung darzustellen scheinen. Die Gewaltwellen bei Thron- und erst recht bei Dynastiewechseln erschütterten nicht nur die Königshäuser selbst, sondern jeweils auch die beteiligten Machteliten. Wie ein König reagiert, der um seine Macht fürchtet, schildern anschaulich die Erzählungen von Saul: Dieser ist bereit, nicht nur
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
seinen Gegenspieler David, sondern auch angeblich mit ihm Konspirierende gnadenlos zu liquidieren (1Sam 18,11; 19,10; 21f). Davids Sohn und Nachfolger Salomo sichert seine Machtergreifung durch Säuberungen bei der Gegenpartei, denen nicht nur der Gegenkandidat Adonija (immerhin sein Halbbruder!), sondern auch mit diesem verbündete Militärs (Joab, Schimi28) und Religionsbeamte (Abjatar) zum Opfer fallen (1Kön 2). Jehu rottet bei seinem Putsch nicht nur zwei Königshäuser aus – das nordisraelitische und das damals mit ihm verbundene judäische –, sondern auch die Angehörigen der religiösen und wohl auch gesellschaftlichen Elite der Königsstadt Samaria, die im Staatsheiligtum als «Baalsverehrer» niedergemacht werden (2Kön 9f). Gewalttätige Übergriffe von Königen beschränken sich nicht auf die politisch natürlich besonders heikle Situation beim Machtwechsel. Auch sonst gingen Könige immer wieder gegen eigene Untertanen vor, wenn ihnen das aus irgendeinem Grund geraten erschien. Die Herrscher mochten dabei ihre Helfershelfer und Claqueure haben, die Zustimmung der biblischen Autoren jedoch bleibt in solchen Fällen aus. Das zeigen verschiedene biblische Kriminalfälle, die den König als skrupellosen Gewalttäter zeigen: David etwa, der unbedingt eine Frau besitzen will und deren Ehemann heimtückisch ermorden lässt, dafür aber vom Propheten Natan hart zur Rede gestellt wird; oder König Ahab und seine Gattin Isebel, die den unbescholtenen Bürger Nabot samt seinen Söhnen durch einen perfide angezettelten Justizmord ums Leben bringen, um in den Besitz eines Stückes Land zu gelangen, dafür aber vom Propheten Elija mit Unheil bedroht werden (1Kön 21; 2Kön 9,26). Der Prophet Jeremia tadelt den König Jojakim scharf dafür, dass er seinen Palast «mit Unrecht» baut und den Arbeitern «keinen Lohn» gibt (Jer 22,13–19); derselbe König war es denn auch, der unbequeme Mahner wie Jeremia bis auf den Tod verfolgte (Jer 26,20–24; 36,26). Nicht von ungefähr wird in der israelitischen Spruchweisheit der König immer wieder im Bild des Raubtiers geschildert, vor dessen Unberechenbarkeit und Mordlust man sich in Acht zu nehmen hat: «Wie Knurren eines Jungleuen ist des Königs Groll, und seine Gunst ist wie Tau auf dem Grase» (Spr 19,12). Oder: «Wie Knurren eines Jungleuen ist des Königs Drohen; wer ihn reizt, fehlt gegen das eigene Leben» (20,2). Und noch einmal, und diesmal deutlich mit (a)sozialer Komponente: «Ein knurrender Löwe, ein gieriger Bär, so ist ein ungerechter Herrscher über ein armes Volk» (28,15, NZB). Man begegne einem König – so wie Gott – immer mit Ehrfurcht; denn vom einen wie vom andern kann Verderben ausgehen (24,21f). Lange bevor sie von der Einführung des Königtums in Israel berichtet, rückt die Bibel das Königtum in ein äusserst negatives Licht. Die sog. Jotamfabel (Ri 9,7–15) erzählt, wie einst die Bäume einen König suchten, unter den edlen, 28
Zu dessen Identität siehe Dietrich, Thronfolgegeschichte.
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fruchttragenden Bäumen aber keinen fanden, der zur Übernahme dieses Amtes bereit gewesen wäre. Schliesslich gelangten sie an den Dornstrauch. Der war nur zu gern bereit – und rief, kaum war er gekürt: «Kommt, bergt euch in meinem Schatten!» – purer Hohn bei diesem Gewächs. Und umgehend folgt die Drohung: «Wo nicht, da wird Feuer ausgehen vom Dornbusch und die Zedern des Libanon verzehren!» «Und bist du nicht willig, so brauchʼ ich Gewalt», sagt auch der Erlkönig … 2. Gewalt in der israelitischen Gesellschaft In jeder Gesellschaft gibt es Konflikte zwischen widerstreitenden Interessen. Auch wer sich vor ideologisch gefärbten monokausalen Erklärungen hütet, wird feststellen, dass die meisten gesellschaftlichen Spannungen und Kämpfe einen ökonomischen Wurzelgrund oder doch Hintergrund haben. Ungleiche Teilhabe an den Ressourcen und Gütern einer Gesellschaft birgt Anlässe für gewalttätige Ausbrüche und Umstürze. Das war auch in biblischer Zeit so. Damals war die wichtigste Ressource das bebaubare Ackerland; rund 95% der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft. Nur wer Boden besass, war Vollbürger. Deshalb begrenzten strenge Regeln den Landverkauf. Jede Familie sollte eine na©alah (ein Stück Erbland) besitzen, und die gesamte Sippe sollte darauf achten, dass dieses nie endgültig in fremde Hände fiel. Daher der kompromisslose (und ihn letztlich das Leben kostende) Widerstand Nabots gegen die Veräusserung eines Stücks seiner na©alah an den König (1Kön 21,3). Daher aber auch der Versuch nicht nur des Königshauses, sondern der gesamten Oberschicht, an möglichst viel Bauernland zu kommen. Reiche und bedeutende Personen in einer Agrargesellschaft sind Eigentümer von viel Land. Also galt es an solches zu kommen. Weil kriegerische Eroberung über die meiste Zeit der Geschichte Israels kaum eine valable Möglichkeit war und weil Neuland durch Rodung und Kultivierung nur sehr begrenzt zu gewinnen war, blieb vor allem eine Möglichkeit für Grundbesitzer, zusätzliches Land und damit zusätzlichen Wohlstand zu gewinnen: das Land anderer Grundbesitzer zu übernehmen. Die schwächsten Opfer solcher Bemühungen waren Kleinbauern, die um ihre selbstständige Existenz rangen. Die Existenzfähigkeit war durch das Prinzip der Erbteilung – jeder Sohn ein Anteil, der Älteste zwei – ohnehin gefährdet und konnte dann aus ganz unterschiedlichen Gründen völlig verloren gehen: etwa wenn Mitglieder der Familie ums Leben kamen (im Fall von Nabot durch Justizmord, viel häufiger wird der Tod durch Krankheit oder Krieg verursacht worden sein) oder bei klimatisch ungünstigen Verhältnissen (längere Dürrezeiten) oder wenn einzelne Bauern einfach individuell wenig tüchtig und erfolgreich waren oder bei sich verändernden Marktbedingungen (neue Tauschrelationen, Verknappung an benötigten oder Überangebot an
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
produzierten Waren) oder in Fällen von Behörden- oder Justizwillkür, bei erhöhten Steuerabgaben (etwa wegen Tributzahlungen ins Ausland), bei Verschiebung der Handelswege und der internationalen Handelsbeziehungen) – kurzum, es gab genügend Gründe, aus denen kleinbäuerliche Betriebe in wirtschaftliche Schieflage geraten konnten. Im Falle von Überschuldung blieben Bauern dann grundsätzlich zwei Möglichkeiten: der Verzicht auf Eigentums- oder auf Persönlichkeitsrechte. Entweder wurden Immobilien veräussert bzw. verpfändet, um Schulden begleichen zu können, oder man begab sich in die Schuldsklaverei, um diese abzuarbeiten. Letzteres sollte grundsätzlich nicht mehr als sechs Jahre dauern, wird aber faktisch oft in lebenslange Abhängigkeit gemündet sein (vgl. Dtn 15,12–18). So oder so eröffnete sich den grossen Landbesitzern auf diesem Weg die Möglichkeit, Land und/oder Arbeitskräfte zu akkumulieren. In der Bibel finden sich vielfache Widerspiegelungen dieser Art struktureller Gewalt29. Die Gesetzgebung versucht sie zu begrenzen30 – und beweist gerade dadurch ihre Virulenz. Die Spruchweisheit kennt (und verurteilt) Manipulationen am Getreidemarkt (Spr 11,26), eine bestechliche und damit den Reichen willfährige Justiz (17,23), Landarrondierungen zu Ungunsten sozial Schwacher (23,10), «Beraubung der Kleinbauern, weil sie Kleinbauern sind» (22,22). Besonders scharfe Kritik kommt von Propheten des 8. Jahrhunderts: in einer Zeit also, als sich das staatliche Machtsystem einerseits fest etabliert hat, andererseits aber durch die Assyrer schon wieder bedroht ist. Der Jerusalemer Jesaja empört sich über Angehörige der Machtelite, «die Haus an Haus reihen und Feld an Feld rücken», bis sie «allein Vollbürger sind im Land» (Jes 5,8); er wendet sich gegen «Schreiber, die immerfort Qual schreiben», also sozial einseitige Rechtsverordnungen und Knebelverträge aufsetzen (10,1). Sein landjudäischer Zeitgenosse Micha wirft der (Jerusalemer) Oberschicht vor, sie giere nach der na©alah der kleinen Bauern (Mi 2,1–5), ja, er beschuldigt sie geradezu des Sozialkannibalismus (3,1–4)31. Amos ortet im Nordreich Israel die gleichen Missstände: Reiche Damen der samarischen Oberschicht, von ihm wenig schmeichelhaft «Baschanskühe» genannt (d.h. besonders wohlgenährte Exemplare vom besten Weideland), haben nichts im Sinn als Luxusleben auf Kosten der Armen (Am 4,1f). Ihre Männer lieben dieses Leben ebenso (6,1–6) – und scheuen sich nicht, wegen lächerlich kleiner Schulden Verarmte 29 Zur Diskussion dieses Begriffs Lienemann, Kritik der Gewalt; so richtig es ist, zwischen unmittelbarer physischer und solcher struktureller Gewalt zu unterscheiden, ist es m.E. doch angebracht, letztere auch als solche zu benennen. 30 S. dazu unten D.II.2. Im hiesigen Zusammenhang wären hauptsächlich die Gesetze zur Regelung der Schuldsklaverei und der Abtretung von Landbesitzrechten zu nennen: Ex 21,2–11; Lev 25; Dtn 15. Zum Verständnis vgl. Dietrich, Evangelium der Armen. 31 Vgl. dazu Kessler, Staat, 22–60, der sämtliche einschlägigen Jesaja- und MichaStellen bespricht.
2. Gewalt in der israelitischen Gesellschaft
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in die Schuldknechtschaft zu zwingen (2,6)32. Wir begegnen hier einer «antiken Klassengesellschaft»33, in der nicht, wie im modernen Kapitalismus, Gewinne für die wirtschaftliche Innovation und Expansion eingesetzt werden, sondern Wohlstand für ein sorgen- und arbeitsfreies Genussleben angehäuft wird34. Die krass ungerechten und damit latent gewaltförmigen Unterschiede in der Teilhabe an wirtschaftlichem Wohlstand und gesellschaftlichem Einfluss waren in der nachstaatlichen Zeit Israels keineswegs behoben. Eine Zeitlang konnte es so aussehen, als würde durch die gezielte Deportierung gerade der Oberschichten durch die Assyrer und Babylonier Raum geschaffen für eine Art gewaltsamer, von den Siegern erzwungener Landreform. Was sich in Wahrheit ereignete, war aber neues Unrecht35. Als das Babylonische Exil durch den Sieg der Perser über die Babylonier zu Ende gegangen war, stützten sich die neuen Herren beim Aufbau der Provinz Jehud eher wieder auf die alte Elite, und es dauerte nicht lange, bis die judäische Gesellschaft erneut das alte Bild von Oben und Unten, von Reich und Arm bot. Dies lässt sich ablesen an den neuerlichen sozialkritischen Mahnungen prophetischer Stimmen (Jes 58,6f; 59,1–8) oder am Bericht des von den Persern entsandten Statthalters Nehemia von einem mit knapper Not abgewendeten Schuldneraufstand (Neh 5)36 oder an den eindringlichen Schilderungen sozialen Unrechts und gesellschaftlicher Marginalisierung im (perserzeitlichen) Buch Hiob (24,1–17; 30,1–7) oder an der spöttischen Feststellung des (im Zeitalter des Hellenismus lehrenden) Kohelet, dass eben immer und überall im Land «der Arme bedrückt» und «Recht und Gerechtigkeit vorenthalten» werden (Koh 5,7). Das biblische Menschen- bzw. Gesellschaftsbild ist in dieser Hinsicht nicht besonders optimistisch. Seit dem ersten Brüderpaar der Menschheitsgeschichte «lauert die Sünde» der Eigensucht und Gewaltbereitschaft «vor der Tür» (Gen 4,7, s.o. bei B.I.1.). Das Gottesvolk schlägt in diesem Punkt kaum aus der Menschenart. Der Prophet Hosea sieht Gott in einen Rechtsstreit «mit den Bewohnern des Landes» eintreten (also nicht nur mit bestimmten Gruppen oder Schichten, sondern mit ganz Israel): «Da ist so gar keine Treue und keine Liebe und keine Gotteserkenntnis im Land. Man schwört und lügt, man mordet
32 Der Amosʼsche Kern des langen Schuldaufweises Am 2,6–12 ist allein der Vers 6, vgl. Dietrich, Israel und die Völker. Eine umfassende Analyse der Amosʼschen Sozialkritik bietet Fleischer, Menschenverkäufer. 33 Dies der von Kessler (Klassengesellschaft) gegenüber «Frühkapitalismus» oder «Rentenkapitalismus» bevorzugte Begriff. 34 Die neuesten Erfahrungen mit unverhältnismässig hohen Vergütungen für Topmanager und Verwaltungsräte gemahnen indes wieder an antike Zustände. 35 Vgl. Ez 7,23; 11,1–3; 33,24 und dazu Dietrich, Wem das Land gehört. 36 Vgl. dazu die gute historische Analyse von Kippenberg, Religion, 54–77.
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
und stiehlt, man bricht die Ehe und übt Gewalttat, und Blutschuld reiht sich an Blutschuld» (Hos 4,1f)37. Also überall in der Gesellschaft: Gewalt! Literatur
R. ALBERTZ, Die Exilszeit, Stuttgart 2001 (BibEn 7). – W. DIETRICH, Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002. Darin die Arbeiten: « … den Armen das Evangelium zu verkünden.» Vom befreienden Sinn biblischer Gesetze, 184–193; Israel und die Völker beim Propheten Amos, 194–203; Der eine Gott als Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts, 204–223; Wem das Land gehört. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte Israels im 6. Jahrhundert v. Chr., 270–286. – W. DIETRICH, Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, Stuttgart 2002 (BWANT 156). Darin die Arbeiten: Das Ende der Thronfolgegeschichte, 32–57; Niedergang und Neuanfang. Die Haltung der Schlussredaktion des deuteronomistischen Geschichtswerkes zu den wichtigsten Fragen der Zeit, 252–271. – V. FRITZ, Die Verwaltungsgebiete Salomos nach 1Kön 4,7–19, in: Meilenstein, FS H. Donner, Wiesbaden 1995 (ÄAT 30), 19–26. – G. FLEISCHER, Von Menschenkäufern, Baschankühen und Rechtsverkehrern: die Sozialkritik des Amosbuches in historischkritischer, sozialgeschichtlicher und archäologischer Perspektive, Frankfurt a.M. 1989 (BBB 74). – B. HALPERN, Davidʼs Secret Demons. Messiah, Murderer, Traitor, King. Grand Rapids MI / Cambridge UK 2001. – R. KESSLER, Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda. Vom 8. Jahrhundert bis zum Exil, Leiden 1992 (VT.S 47). – R. KESSLER, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaft des alten Israel, in: EvTh 54 (1994), 413–427. – H.G. KIPPENBERG, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, Göttingen 1978. – W. LIENEMANN, Kritik der Gewalt. Unterscheidungen und Klärungen, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 10–30. – R. MÜLLER, Königtum und Gottesherrschaft, Tübingen 2004 (FAT 2/3). – P. SÄRKIÖ, Exodus und Salomo. Erwägungen zur verdeckten Salomokritik anhand von Ex. 1–2; 5; 14, Göttingen 1998.
WD 3. Rebellen, Räuber und Eiferer zur Zeit Jesu «Ein gewisser Mensch ging von Jerusalem nach Jericho hinab und fiel Räubern in die Hände, die ihn sowohl auszogen als auch verprügelten und danach weggingen und ihn dabei halbtot liegen liessen.» (Lk 10,30)
Mit dieser kurzen Szene beginnt die berühmte Gleichniserzählung vom barmherzigen Samariter in Lk 10,30–37. Die Selbstverständlichkeit, mit der 37 Ähnlich sucht der Prophet Jeremia «Treue» und «Recht» ausdrücklich bei der Unter- wie bei der Oberschicht – und wird nirgendwo fündig: «Sie alle haben das Joch zerbrochen, die Stricke zerrissen», d.h. jegliche Bindung an Gott und seinen Willen abgeworfen (Jer 5,1–5).
3. Rebellen, Räuber und Eiferer zur Zeit Jesu
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vom brutalen Überfall auf einen Reisenden die Rede ist, deutet darauf hin, dass solche Bedrohungsszenarien zur Erfahrungswelt damaliger Menschen gehörten. Die Begegnung mit solchen Strassenräubern gehört auch zum Gefahrenhorizont des Reisenden Paulus: «… oft auf Reisen, in Gefahren von Flüssen, in Gefahren von Räubern, in Gefahren von Volksgenossen, in Gefahren von den Nationen, in Gefahren in der Stadt, in Gefahren in der Wüste, in Gefahren auf hoher See, in Gefahren unter falschen Brüdern …» (2Kor 11,26)
Diese Form von Kriminalität bildete nur einen Teil der antiken Gewaltgeschichte. Höhepunkt der sich im Palästina des 1. Jhs. n. Chr. abzeichnenden Gewaltspirale war der jüdische Aufstand in den Jahren 66–70, welcher mit der Zerstörung Jerusalems und des Tempels durch die Römer endete. Aber beginnen wir etwas früher und zeichnen einige Stationen der Gewalt nach: Zur Zeit Jesu befand sich die Gesellschaft Palästinas bereits seit Jahrhunderten unter imperialer Oberaufsicht: Nach den Persern im 5. und 4. Jh v. Chr. hatten die hellenistischen Reiche der Ptolemäer (3. Jh.) und Seleukiden (2. Jh.) den judäischen Tempelstaat übernommen. Schliesslich hatte – nach einer Zeit kurzer «Eigenstaatlichkeit» unter den Hasmonäern (nach dem Makkabäer-Aufstand 166 v. Chr.) – das «Imperium Romanum» im 1. Jh. v. Chr. die Macht im Osten des Mittelmeers und so auch in Palästina übernommen (Eroberung Jerusalems durch Pompejus 62 v. Chr.). Ein wichtiges Mittel der Unterdrückung bestand darin, den eroberten Gebieten hohe Steuerpflichten aufzuerlegen. Dazu kamen für die jüdische Bevölkerung noch religiöse Abgaben an den Tempel in Jerusalem. Diese doppelte Steuerlast wird unter G. Julius Cäesar (Diktator 47–44 v. Chr.) deutlich, wenn der jüdische Geschichtsschreiber Josephus38 festhält: «Gajus Caesar, zum zweiten Mal Imperator, verordnet wie folgt: (I.) Zum Vorteil der Stadt Jerusalem hat ganz Judaea […] jährlich eine Abgabe zu entrichten, es sei denn, dass es das siebente so genannte Sabbatjahr ist, in welchem weder Baumfrüchte geerntet noch Felder bebaut werden. (II.) In Sidon muss alle zwei Jahre der vierte Teil der Feldfrüchte als Abgabe geliefert werden, und ausserdem sind dem Hyrkanus [Hyrkan II 63–40 v. Chr.] und dessen Söhnen die Zehnten ebenso zu entrichten, wie sie deren Vorfahren entrichtet worden sind.»39
38
Flavius Josephus (37–100 n. Chr.) war jüdischer Historiker im Dienste der römischen Kaiserfamilie der Flavier (Vespasian, Titus und Domitian; 69–96 n. Chr.), nachdem er zu Beginn des jüdischen Aufstandes die Seiten gewechselt hatte. Seine beiden Werke «Vom Jüdischen Krieg» (De Bello Judaico = Bell., 71 n. Chr.) und «Jüdische Altertümer» (Antiquitates Judaicae = Ant., 93 n. Chr.) sind die einzigen ergiebigen (allerdings auch tendenziösen) Quellen für die Zeit des jüdischen Aufstandes. 39 Josephus, Ant. 14.202 (übers. Clementz, II 240).
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
Die Steuerfrage ist auch im Neuen Testament mit dem «Census» – der römischen Variante von Steuererklärung (vgl. Lk 2,1–5) – und der Frage nach der Steuer an den Kaiser (Mk 12,13–17) ein Thema. Darauf wird noch zurückzukommen sein, war doch die immense Steuerbelastung ein wichtiger Ausgangspunkt für die Gewaltbereitschaft mancher Gruppen. Aus den Wirren des römischen Bürgerkriegs im 1. Jh. v. Chr. ging schliesslich 31 v. Chr. Octavian – der spätere Kaiser Augustus – als Sieger hervor. Parallel dazu kam in Palästina der aus einer zwangsjudaisierten Idumäer-Familie stammende Herodes (der Grosse) mit Hilfe der Römer an die Macht. Er regierte in Palästina von 37–4 v. Chr. und wird in der matthäischen Geburtserzählung als Auftraggeber eines systematischen Kindermordes denkbar negativ dargestellt (Mt 2,16). Die Geschichte selbst, die in Josephus nicht belegt ist, macht den Anschein einer antiherodianischen Legende. Es ist jedoch bezeugt, dass Herodes weder in der eigenen Familie, noch bei Gegnern allzu viel Skrupel zeigte. Neben Gegnern liess er auch seine Schwiegermutter, seine geliebte Frau und seine eigenen Söhne aus Angst vor einer Rebellion gegen ihn hinrichten40. Bereits mit 25 Jahren (47 v. Chr.) hatte er als junger Aufsteiger und Befehlshaber in Galiläa die «Banditenfrage» ziemlich umzimperlich gelöst. Wie uns Josephus überliefert, liess er die in den Höhlen von Arbela verschanzten «Räuber» und deren Familien unter anderem mit Haken herausziehen und in den Abgrund stürzen (Ant. 14.413–433 = Bell 1.303–316): «Diese Krieger machten dann die Räuber samt deren Familien nieder und schleuderten Feuerbrände auf die, welche sich zur Wehr setzten.»41
Als Machthaber in Jerusalem machte sich Herodes insbesondere durch aufwändige Bauten in ganz Palästina einen Namen (u.a. Ausbau des Tempels in Jerusalem, Städtebau, Festungs-, Palast- und pagane Tempelanlagen). Das alles kostete (sehr viel) Geld, welches durch Steuern eingebracht werden musste. So wurde laut Josephus bei den Thronfolgeverhandlungen in Rom nach dem Tod von Herodes [4 v. Chr.] folgende Klage laut: «Als nun den Gesandten der Juden das Wort erteilt wurde, fürchteten sie sich, von Auflösung des Reiches zu sprechen, und begannen daher mit der Klage über die Ungerechtigkeiten des Herodes. Dem Namen nach, sagten sie, sei derselbe wohl König gewesen, in der Tat aber habe er die ärgste Tyrannei ausgeübt […]. Eine grosse Anzahl Menschen habe er, was in früheren Zeiten niemals geschehen sei, auf verschiedene Art aus dem Wege geräumt. Diejenigen aber, welche er am Leben gelassen, seien noch viel unglücklicher, einmal wegen der Angst, die sein
40
Vgl. Josephus, Ant. 15.54–56; 15.174–178; 15.231; 15.247–251. Ausgiebig zur Person des Herodes informiert Schalit, Herodes (vgl. bes. S. 657–664). 41 Bell. 1.311 (übers. Michel / Bauernfeind I, 83).
3. Rebellen, Räuber und Eiferer zur Zeit Jesu
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blutdürstiges Wesen ihnen eingeflösst habe, dann aber auch wegen der beständigen Besorgnis, ihr Vermögen zu verlieren. Die benachbarten, von Ausländern bewohnten Städte habe er verschönert, um die in seinem eigenen Reiche gelegenen durch Steuern zu erschöpfen und zu Grunde zu richten […].»42
Herodes der Grosse und die ihm nachfolgenden Könige Archelaus in Judäa (4 v.–6 n. Chr.) und Herodes Antipas in Galiläa (4 v.–39 n. Chr.) waren im Volk äusserst unbeliebt. Auch im Neuen Testament werden sie bzw. ihre Anhänger, die «Herodianer», als Gegner Jesu erwähnt. An zwei Stellen hegen diese Mordabsichten (Mk 3,6 und Lk 13,31) und in Mk 12,13–17 ist ihr Auftreten mit der bereits oben erörterten Frage nach der Kaisersteuer verknüpft. Kämpfe um die Steuereinkünfte liessen sich laut Josephus auch innerhalb der Priesterklasse beobachten: «Um diese Zeit übertrug der König Agrippa die hohepriesterliche Würde an Ismaël [59–61 n. Chr.], den Sohn des Phabi. Übrigens gerieten jetzt auch die Hohepriester mit den Priestern und den Vornehmsten zu Jerusalem in Streit, sodass jeder von ihnen eine Schar verwegener und aufrührerischer Gesellen um sich sammelte, die, wo sie sich trafen, sich gegenseitig mit Beschimpfungen und Steinwürfen überschütteten. Niemand fand sich, der sie zurechtgewiesen hätte, sodass die Willkür sich immer breiter machte, als sei keine Obrigkeit mehr vorhanden. Schliesslich gingen die Hohepriester in ihrer Dreistigkeit und in ihrem Übermut so weit, dass sie sich nicht scheuten, ihre Knechte auf die Tennen zu schicken und die den Priestern zustehenden Zehnten wegnehmen zu lassen, was zur Folge hatte, dass die ärmeren Priester aus Mangel an Lebensmitteln dem Tode verfielen. So war an die Stelle von Recht und Gerechtigkeit die zügelloseste Tyrannei unruhiger Köpfe getreten.»43
Die Vorstellung der Pax Romana – des «römischen Friedens» –, die zu jener Zeit im Reich verbreitet wurde, entspricht insgesamt wohl weniger der Realität als vielmehr dem Ideal jener mächtigen Eliten, welche von der Ausbreitung des Römischen Imperiums profitieren konnten44. Die verdeckte und offene Macht des römischen Staatsapparates führte in allen Provinzen zu politischen Unruhen, Aufständen und Protestaktionen45. Judäa bildete hier keine Ausnahme. Die in den Texten bemerkbaren sozialen und religiösen Spannungen zwischen einheimischer Bevölkerung und der römischen Besatzungsmacht, welche in Judäa ab 6 n. Chr. den unfähigen Herodesnachfolger durch römische Statthalter ersetzte, waren erheblich. Trotzdem macht Josephus in seiner Darstellung des jüdischen Krieges allein eine kleine extremistische Gruppe und die Unfähigkeit der regierenden römischen Statthalter für die letztlich in die Katastrophe führende Rebellion verantwortlich. 42
Ant. 17.304–6 (übers. Clementz, II 493f). Ant. 20.179–182 (übers. Clementz, II 663f). 44 Vgl. Janzen, Friede, 165–195 und Wengst, Pax Romana, 19–71, der auch zu Recht die naive Übernahme dieses Ideals durch moderne Historiker kritisiert. 45 Vgl. Pekáry, Seditio und Raaflaub, Opposition. 43
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft
Die darauf aufbauende «Zeloten»-These46 (von griech. zêloô «eifern») bestimmt immer noch die Diskussion. Sie geht von einer einheitlichen «Zeloten»-Partei aus, welche von Judas dem Galiläer 6 n. Chr. anlässlich der Umwandlung Judäas in eine römische Provinz und der Durchführung eines «Census» gegründet worden sein soll47. Diese «homogene» Partei habe sich im Verlaufe des Aufstandes in verschiedene Gruppierungen aufgespalten48. Überzeugender erscheint jedoch die These, dass die sich aus unterschiedlichsten Konfliktbereichen und -gebieten sammelnden gewaltbereiten Kleingruppen von Aufständischen unter römischem Druck zu gemeinsamen Aktionen (konkret zuletzt zur Verteidigung Jerusalems und des Tempels) fanden und sich im Übrigen – was auch Josephus immer wieder betont – auf das Heftigste gegenseitig bekämpften. Josephus verwendet den Begriff «Zeloten» als Parteibezeichnung erst in der letzten Phase des jüdischen Aufstandes (nach 67/68 n. Chr.)49. Bei der Betrachtung von Eifer und Gewaltbereitschaft gilt es im Weiteren festzuhalten, dass eine Agrargesellschaft wie die palästinische zur Zeit des zweiten Tempels wohl zu 90% aus zumeist nicht schriftkundigen Bauern bestand50. Die Einsichten von Eric Hobsbawm zum modernen Phänomen des «sozialen Banditentums» haben der sozialgeschichtlichen Erforschung des frühen Judentums interessante neue Zugänge eröffnet51:
46
Vgl. z.B. Hengel, Zeloten. Vgl. Bell. 2.117f; 2.433; 7.253–257; Ant. 18.4–10; 18.23–25; 18.102. 48 Zur Forschungsgeschichte vgl. Donaldson, Rural Bandits, 20–30. Die beiden grossen «Gegenentwürfe» sind Hengel, Zeloten und Horsley / Hanson, Bandits. 49 Das Verb zêloô (= «eifern») hat ein sehr breites Bedeutungsspektrum. Der griech. Begriff zêlôtês wird entsprechend im NT nicht-terminologisch benutzt: Einer der zwölf Jünger heisst «Simon, der Eiferer» (Lk 6,15; Apg 1,13). Die jesusgläubigen Juden sind «Eiferer für das Gesetz» (Apg 21,20), ebenso auch Paulus (Apg 22,3; Gal 1,14). Die Christen und Christinnen sollen Eiferer «der Geistesgaben» (1Kor 14,12), «der guten Werke» (Tit 2,14) und «des Guten» sein (1Petr 3,13). 50 Vgl. Donaldson, Rural Bandits, 19. 51 Hobsbawm (*1917) ist ein renommierter britischer Historiker, der das Phänomen des «sozialen Banditentums» als eine typische Form politischen Aufstandes in Agrargesellschaften im Europa des 19. Jhs. untersucht hat. Auf analoge Merkmale zur Situation in Palästina im 1. Jh. haben Horsley / Hanson, Bandits, 48–63 aufmerksam gemacht. 47
3. Rebellen, Räuber und Eiferer zur Zeit Jesu
Gründe Typische politische Konstellationen Typische Merkmale
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Bauern werden durch die Regierung und/oder durch die Landpächter ausgebeutet. Ökonomische Unsicherheit der Bauern, allgemeine Krisen (z.B. durch Hungersnöte, Kriege oder politische Übergangssituationen), ineffiziente Administration, hohe Steuerlast. Volkshelden mit enger Anbindung an und Unterstützung durch die Landbevölkerung verkörpern oftmals Gerechtigkeitsideale des verarmten Volks, manchmal verbunden mit Umwälzungsutopien, die zu Bauernaufständen führen.
Viele dieser Merkmale treffen auf die jüdische Agrargesellschaft zur Zeit Jesu zu: Der Kleinbauer brauchte Land, Verpflegung für sich, seine Familie und die Tiere, ausreichend Saat für die kommende Ernte, einen profitablen Ernteertrag, um ein gewisses Mass an Kaufkraft und Liquidität zu besitzen, und eine Reserve für Feste und religiöse Rituale. Jüdische Bauern waren zusätzlich durch religiöse und staatliche Pflichtabgaben in ihrer Existenz bedroht. Dabei kann ein Übergang der Gewaltaktionen von vorpolitischen (Diebstahl durch Individuen und kleinere Streifscharen) zu politischen Kontexten (Rebellion durch grössere Gruppen) beobachtet werden, was sich anhand der Quellen, wie sie uns bei Josephus und im Neuen Testament vorliegen, durchaus nachvollziehen lässt52. Die hohe Steuerlast, das Joch der Fremdherrschaft und die überall brodelnde Gewalt wurden zu einem Nährboden für alle möglichen religiös und/oder politisch motivierten Volksbewegungen. Viele Menschen schlossen sich diesen Bewegungen an und flohen in die Berge oder in die Wüste, teilweise weil sie bis zu dem Punkt verarmt waren, dass sie sich problemlos von ihren traditionellen Lebensgepflogenheiten lösen konnten53. Ein direkter Hinweis auf solche Massenbewegungen und ihre Gewaltgeschichten findet sich z.B. in der Apostelgeschichte. Als der Hohe Rat in Jerusalem überlegt, wie man am besten gegen die neue religiöse Gruppierung der Jesusanhänger und -anhängerinnen vorgehen solle, richtet Gamaliel ein Wort der Besonnenheit an sie: «(35) Und er sprach zu ihnen: Israeliten, überlegt euch genau, was ihr mit diesen Leuten tun wollt. (36) Vor dieser Zeit nämlich trat Theudas auf, der von sich behauptete, etwas Besonderes zu sein; ihm schloss sich eine Schar von etwa vierhundert Männern an. Er wurde getötet, und alle, die ihm vertraut hatten, wurden versprengt, und seine Bewegung löste sich in nichts auf. (37) Nach diesem trat Judas der Galiläer auf, zur Zeit der Steuereinschätzung; und er machte Leute abtrünnig 52 53
Vgl. Hanson, Social Bandits, 293. Horsley / Hanson, Bandits, 50.
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B.II. Gewalt in Staat und Gesellschaft und scharte sie um sich. Auch er ging zugrunde, und alle, die ihm vertraut hatten, wurden zerstreut in alle Winde. (38) Deshalb rate ich euch jetzt: Lasst ab von diesen Menschen und lasst sie gehen! Denn wenn das, was hier geplant und ins Werk gesetzt wird, von Menschen stammen sollte, dann wird es sich zerschlagen; (39) wenn es aber von Gott kommt, dann werdet ihr sie nicht aufhalten können; ihr aber könntet als solche dastehen, die sogar gegen Gott kämpfen.» (Apg 5,35–39, NZB)
Mit dieser Rede besänftigt Gamaliel eine aufgebrachte Menschenmenge. Er stellt den gewaltsamen Niedergang messianischer Aufbrüche in einen Zusammenhang mit dem menschlichen bzw. göttlichen Charakter einer Bewegung. An dieser Logik mag man zweifeln, ebenso auch an der Schlussfolgerung aus den beiden erwähnten Fällen, aber der Zusammenhang zwischen Messianismus und Gewalt ist hier ebenso evident wie selbstverständlich. Auch bei der Verhaftung von Paulus kommt es in Jerusalem zu tumultartigen Szenen und er wird als Rebellenführer verdächtigt (Apg 21,30–38). Die Gewalt des Volkes gegen einen Einzelnen lässt in der militärischen Führung den Verdacht aufkommen, dass hier wieder ein messianischer Führer am Werke sein könnte. In diesem Falle entsteht eine Verwechslung mit «dem Ägypter» (21,38), welcher zur Zeit des römischen Statthalters Felix [52–60 n. Chr.] aufgetaucht war. Josephus berichtet: «Einen noch grösseren Schaden fügte den Juden der falsche Prophet aus Ägypten zu. Es kam nämlich ein betrügerischer Wundertäter ins Land, der sich selbst für einen Propheten ausgab und 30ʼ000 Opfer seines Betruges um sich sammelte. Er führte sie auf Umwegen von der Wüste auf den so genannten Ölberg, von dort hätte er mit Hilfe seiner bewaffneten Begleiter gewaltsam in Jerusalem eindringen, die römische Besatzung überrumpeln und sich zum Herrscher über das Volk aufwerfen können. Felix aber kam seinem Angriff zuvor und trat ihm mit den römischen Soldaten entgegen; auch das ganze Volk beteiligte sich an der Abwehr, so dass der Ägypter in dem folgenden Gefecht zwar mit Wenigen entfliehen konnte, die meisten seiner Anhänger aber getötet oder gefangen wurden. Der Rest zerstreute sich und jeder suchte sich zu Hause zu verbergen.»54
Auf dem Hintergrund dieser exemplarischen Texte erhalten auch die mehrmaligen Hinweise auf «Räuber» in den Evangelien ein deutliches Gepräge. Bei der Reinigung des herodianischen Tempels in Jerusalem (Mk 11,17) erinnert man sich an die von Herodes dem Grossen in Galiläa gereinigten Räuberhöhlen (s.o.). Und Jesus selbst «beschwert» sich bei seiner Gefangennahme, deren Brutalität nicht dem Charakter Jesu entspricht, mit den Worten: «Seid ihr mit Schwertern und Stöcken ausgezogen wie gegen einen Räuber, um mich zu fangen? Jeden Tag sass ich lehrend bei euch im Tempel und ihr habt mich nicht ergriffen.» (Mt 26,55)
54
Bell. 2.261-263 (übers. Michel/Bauernfeind I, 83).
1. Religiös legitimierte Gewalt im Alten Testament?
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In Joh 18,40 findet sich schliesslich der explizite Hinweis darauf, dass Barabbas, welcher Jesus zur Freilassung vorgezogen wird, ein «Räuber» war. Dem äusseren Anschein nach wurde Jesus als ein politischer Aufwiegler und Räuber festgenommen und hingerichtet. Dieses Urteil wird noch dadurch unterstrichen, dass er zwischen zwei Räubern gekreuzigt wurde: «Und mit ihm kreuzigen sie zwei Räuber, einen zu seiner Rechten und einen zu seiner Linken.» (Mk 15,27).
Literatur
H. CLEMENTZ, Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, 1900, Nachdruck: Wiesbaden 1982. – T.L. DONALDSON, Rural Bandits, City Mobs and the Zealots, in: JSJ 21 (1990), 19–40. – K.C. HANSON, Jesus and the Social Bandits, in: W. Stegemann / B.J. Malina / G. Theissen (Hrsg.), The Social Setting of Jesus and the Gospels, Minneaopolis 2002, 283–300. – M. HENGEL, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr., Leiden 21976 (AGJU 1). – R.A. HORSLEY / J.S. HANSON, Bandits, Prophets, and Messiahs. Popular Movements in the Time of Jesus, San Francisco 1988. – A. JANZEN, Der Friede im lukanischen Doppelwerk vor dem Hintergrund der Pax Romana, Frankfurt a.M. 2002 (EHS.T 752). – O. MICHEL / O. BAUERNFEIND, Flavius Josephus. De Bello Judaico / Der Jüdische Krieg, Darmstadt, 1959–1969 (3 Bde.). – T. PEKÁRY, Seditio. Unruhen und Revolten im römischen Reich von Augustus bis Commodus, in: Ancient Society 18 (1987), 133–150. – K. RAAFLAUB, Grundzüge, Ziele und Ideen der Opposition gegen die Kaiser im 1. Jh. n. Chr. Versuch einer Standortbestimmung, in: A. Giovannini / D. van Berchem (Hrsg.), Opposition et résistances à lʼEmpire, dʼAuguste à Trajan, Genf 1987 (Entretiens sur lʼantiquité classique 33), 1–63. – A. SCHALIT, König Herodes. Der Mann und sein Werk, Berlin 2 2001. – K. WENGST, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit: Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986.
MR / MM III. G EWALT
ZWISCHEN
R ELIGIONEN
1. Religiös legitimierte Gewalt im Alten Testament? Dieses Thema weckt ungute Assoziationen und heftige Emotionen. Erinnerungen an Religionskriege und Zwangsmissionierungen stellen sich ein, Erfahrungen unserer Zeit mit fanatischen Gläubigen und «Heiligen Kriegern». Auch die asiatischen Religionen, die aus europäischer (und wahrscheinlich seit je romantisierender) Sicht als von Grund auf friedfertig galten, haben ihre Gewaltexzesse: sei es durch Hindus gegen Muslime im indischen Ayodya oder durch Buddhisten gegen Christen in Indonesien. Die sog. monotheistischen Religionen stehen ohnehin im Verdacht, besonders zur Gewalt zu neigen,
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B.III. Gewalt zwischen Religionen
scheint doch die Anerkennung nur eines Gottes geradezu sachnotwendig die Herabsetzung und Bekämpfung anderer Götter und ihrer Verehrerschaft mit sich zu bringen. Doch dieser Schluss ist vorschnell. Die jüdische Religion, die älteste der drei monotheistischen, hat nie missionarischen und gar militanten Impetus gezeigt; jüdisch sein hiess und heisst wohl, sich abzugrenzen gegen alle Götter ausser dem einen, es impliziert aber nicht den Wunsch oder den Auftrag, anderen Menschen und Völkern den Glauben an diesen Gott gewaltsam aufzuzwingen. Das Christentum wiederum ist zwar in seiner Wurzel missionarisch eingestellt, doch hatte christliche Mission Jahrhunderte lang und hat in den meisten Fällen bis heute nichts mit Gewalt zu tun, sondern erfolgte friedlich durch Vorbild, Überzeugung und Hilfe. Schliesslich der Islam. Grösstenteils zu Unrecht haftet ihm der Ruch einer besonderen Gewaltbereitschaft und kriegerischen Grundhaltung an. Zwar hat schon der Prophet Muhammed Macht und Gewalt eingesetzt, um seine Sache zu schützen und auszubreiten. Doch der Koran ist alles andere als eine Gewaltfibel, und der Islam in seiner Geschichte war mindestens so sehr auf Philosophie und Frömmigkeit und Kunst bedacht wie auf Macht und Herrschaft. Gleichwohl ist nicht zu leugnen, dass jedenfalls zwei der monotheistischen Religionen nicht nur Güte und Frieden ausgestrahlt, sondern (auch) eine Spur von Gewalt und Blut durch die Geschichte gezogen haben. Es ist gar nicht nötig, Beispiele vor Augen zu führen – gerade die christlichen sind wohl bekannt: Donatistenkriege, Sachsenbekehrung, Kreuzzüge, Bauernkriege, Täuferverfolgung, Eroberung Amerikas, Dreissigjähriger Krieg, Hexenwahn, Kolonialisierung Afrikas und Asiens, religiös verbrämter Rassismus. Bis in unsere Tage wird politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen gern auch ein religiöser Anstrich gegeben: in Nordirland, auf dem Balkan, sogar im Irak. Unvermeidbar stellt sich die Frage nach den Gründen. War der Mann aus Nazaret etwa doch nicht so friedfertig, wie meist angenommen? Oder reichen die Wurzeln der Gewalt an ihm vorbei – ins Alte Testament? In der Tat enthält die Hebräische Bibel viele Passagen, in denen Gewalt um religiöser Überzeugungen willen gedacht oder geschildert oder propagiert zu werden scheint. Es ist jedoch gleich klarzustellen: Nirgendwo im Alten Testament ist von Gewaltanwendung die Rede, die darauf zielt, NichtIsraeliten die israelitisch-jüdische Religion aufzuzwingen. Insofern ist das Judentum (anders als das Christentum!) seinen alttestamentlichen Wurzeln treu geblieben. Die Idee der Zwangsmissionierung konnte im gesamten Alten Orient kaum gedacht werden. Die religiöse Welt dort war von Grund auf polytheistisch: Man kannte und ehrte viele, jedenfalls mehrere Göttinnen und Götter. Die Völker gaben ihnen unterschiedliche Namen, doch lassen sich immer wieder bestimmte Typoi erkennen: der Schöpfergott (meist mit Gattin, beide oft betont väterlich und mütterlich), der Wetter- und Fruchtbarkeitsgott (naheliegenderweise fast immer mit Partnerin), die Liebes-
1. Religiös legitimierte Gewalt im Alten Testament?
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und/oder Kriegsgöttin (eine Dame, zuweilen mit diesem doppelten Gesicht), der Todesgott, der Meeresgott, der Sonnen- und der Mondgott und manche andere mehr. Das Götter-Pantheon hatte in verschiedenen Ländern und zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Ausprägungen. Prinzipiell waren die Götterfamilien untereinander mischungsfähig. Tendenziell verkleinerten sie sich im Lauf des 2. Jahrtausends, so dass im 1. Jahrtausend neben Israel auch andere Völker faktisch nur noch einen Gott, allenfalls ein Götterpaar, verehrten. Doch diese Entwicklung hatte in der Regel keinen exklusiv-ausschliessenden Charakter, denn die jeweiligen Götter(paare) hatten viele göttliche Funktionen in sich aufgenommen, und ihre VerehrerInnen wussten sehr wohl, dass es anderswo ähnliche Göttinnen und Götter anderen Namens gab, deren Existenz nicht grundsätzlich bestritten wurde. Den Glauben anderer durch den eigenen Glauben ersetzen zu wollen, gab es kaum Anlass und Antrieb. Ausnahmen von der Regel traten dann ein, wenn die Religion zur Waffe der Politik wurde. Etwa das neuassyrische Grossreich des 8. und 7. Jahrhunderts führte unterworfenen Staaten gelegentlich die eigene Überlegenheit dadurch vor Augen, dass man ihre Götterstatuen entführte und entweihte; vielleicht ist das auch 722 v. Chr. bei der Eroberung Samarias mit einer Statue des Gottes Israels geschehen. Umgekehrt scheinen die Assyrer Wert darauf gelegt zu haben, dass in den Vasallenstaaten – namentlich in den Hauptstädten, z.B. in Jerusalem – Symbole nicht nur der ‹besiegten›, sondern auch der Sieger-Religion zu sehen waren. Nicht, dass überall die Verehrung allein der assyrischen Götter erzwungen worden wäre, doch wäre es inopportun gewesen, sich der Kultur und Religion (und natürlich auch der Wirtschaft und Politik) Assurs demonstrativ zu verschliessen – derlei schätzen Weltmächte bis heute nicht. So gab es auch im assyrisch dominierten Jerusalem des 7. Jahrhunderts typisch assyrische Kultobjekte; mochten sie in erster Linie dazu dienen, assyrischen Diplomaten, Händlern, Soldaten die Gelegenheit zu angestammter Religionsausübung zu geben, so übten sie offensichtlich auch auf Einheimische eine gewisse Anziehungskraft aus. Der wohl folgenreichste religionspolitische Eingriff eines ausländischen Herrschers in Jerusalem war die Aufstellung einer ZeusStatue im dortigen Tempel im Jahr 164 v. Chr. durch den Diadochenherrscher Antiochos IV. Dieser wollte damit keineswegs die jüdische Religion als solche in Frage stellen oder gar abschaffen, er wollte sie ‹nur› zum Hellenismus hin öffnen und der antiseleukidisch-antihellenistischen Haltung weiter Kreise Judäas die Spitze brechen. Das Resultat war der Makkabäer-Aufstand, der das Ende der Seleukidenherrschaft über Judäa herbeiführte. Hier berühren wir nun den empfindlichen, den gleichsam gewalt-sensiblen Punkt der alttestamentlich-jüdischen Religion: Hat sie auch nie gewaltsam nach aussen gedrängt, so konnte sie doch auf äussere Bedrängnis mit Gewalt reagieren (und konnte entsprechend auch nach innen gewalttätige Formen entwickeln). Die Israeliten und Judäer reagierten auf Pressionen, durch die sie
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B.III. Gewalt zwischen Religionen
die eigene Identität in Frage gestellt sahen, wie alle Völker: zuweilen apathisch oder hilflos, zuweilen aber auch entschlossen und aggressiv. Die Identität von Völkern definierte sich in der Antike – und definiert sich teilweise bis heute – wesentlich über die Religion. Gerade unterdrückte Völker empfinden Eingriffe in ihre Religionsausübung als doppelt demütigend und bedrohlich. Und von aussen bedrohte Völker sahen (und sehen zuweilen noch immer) ihre Religion mit bedroht. Entschliessen sie sich zur Gegenwehr, nimmt diese oft betont religiöse Züge an. So erheben die Israeliten, die mit ihrem Heerführer Gideon in den Kampf gegen die Midianiter, ein räuberisches Nomadenvolk, ziehen, den Schlachtruf: «Schwert für Jhwh und für Gideon!» (Ri 7,20) Sind hier Erinnerungen aus Israels Frühzeit eingefangen, so ertönt noch in einem späten, nachexilischen Hymnus der Ruf: «Jhwh ist ein Kriegsmann!» (Ex 15,3) Gott wehrt sich für sein Volk, das Volk wehrt sich für seinen Gott bzw. für seine Religion. Von da her ist es zu verstehen, dass der judäische König Joschija im Jahr 622 v. Chr. eine Kultreform durchführte, die sich nicht zuletzt gegen religiöse Symbole der verhassten assyrischen Vormacht richtete (2Kön 23,11f). Mit Genuss erzählte man sich auch, wie schon viel früher, vor Beginn der Königszeit, als Israel von den Philistern unterdrückt war, der Gott Jhwh sich bei einer Schlacht von den siegreichen Philistern gewissermassen gefangen nehmen und (unsichtbar über dem Kultsymbol der heiligen «Lade» thronend) in Feindesland abführen liess; wie er (bzw. ‹seine› Lade) als Ausdruck seiner Demütigung in den Tempel des philistäischen Korn- und Fruchtbarkeitsgottes Dagon verbracht wurde; wie dort aber ein seltsamer Spuk anhob, indem zuerst die Dagon-Statue zweimal des Nachts umfiel, das zweite Mal so unglücklich, dass ihr Kopf und Hände abbrachen (welch eine Demütigung für diesen Gott!), und indem dann in jeder Philisterstadt, in die die Lade überführt wurde, eine hässlich-tückische Epidemie ausbrach – bis schliesslich philistäische Religionsfachleute entschieden, dieser nichts als Unheil bringende Kultgegenstand müsse umgehend das Land verlassen: und zwar in Richtung Israel bzw. Juda. Diese sog. Lade-Geschichte (1Sam 4–6) ist mit einem humorigen Unterton erzählt, verhandelt jedoch ein höchst ernstes Thema: die Unter- oder Überlegenheit der Götter oder Religionen Israels und der anderen Völker. Die Philister waren militärisch überlegen, religiös aber (so meinten die biblischen Autoren) unterlegen. Die Philister können zuerst triumphieren, müssen dann aber leiden; die Israeliten haben zunächst zu leiden, dürfen dann aber triumphieren; denn der Gott Israels, dem Verhöhnung zugedacht war, erringt sich Ehrerbietung, während der Philistergott, dem Ehrerbietung zuteil werden sollte, Verhöhnung erfährt. Gewalt um der Religion willen, religiös gefärbte Gewalttätigkeit? In gewisser Weise ja. Freilich übt diese Gewalt nicht Israel, sondern sein Gott, und er übt sie in bemerkenswert unblutiger Weise aus. Geistige religiöse Gewalt steckt in dieser Geschichte durchaus. Israel bzw. Juda
1. Religiös legitimierte Gewalt im Alten Testament?
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als Erzählgemeinschaft kehrt seine oft erlebte Unterlegenheit in (imaginierte?) Überlegenheit um, indem es Jhwh starke und Dagon schwache Figur machen lässt. Man meint, das Lächeln der Erzähler zu sehen und das Lachen der Zuhörerschaft zu vernehmen – und spürt die Gefahr von Überheblichkeit und Eitelkeit. Über andere Götter und Religionen lachen: das ist kein unbedenkliches Spiel. In der Bibel wird es sehr weit getrieben in den sog. Götzenbildpolemiken im Buch Deuterojesaja. «Das Standbild giesst der Handwerker, und der Schmied überzieht es mit Gold und schmiedet daran silberne Ketten. Wer nicht so viel geben kann, wählt ein Holz, das nicht fault, er sucht sich einen geschickten Handwerker, um das Standbild zu befestigen, es soll ja nicht wackeln.» (Jes 40,19f; NZB) «Die Bildner der Bilder sind alle nichtig, und ihre Lieblinge nützen nichts, und ihre Zeugen, sie sehen nichts und verstehen nichts, damit sie zuschanden werden. Wer hat je einen Gott gebildet und ein Bild gegossen, damit es nichts nützt? Sieh, alle seine Gefährten werden zuschanden, und die Handwerker, sie sind Menschen! Sollen sie sich doch alle versammeln, sich aufstellen, sie werden erschrecken, allesamt werden sie zuschanden. Man hat Eisen zum Messer geschmiedet und es in der Kohlenglut bearbeitet und unermüdlich hat man es mit Hämmern geformt, und mit starkem Arm hat man es schliesslich angefertigt. Sogar gehungert hat man, und die Kraft ist geschwunden, man hat kein Wasser getrunken und ist ermattet. Der Zimmermann hat die Richtschnur ausgespannt, unermüdlich hat er mit dem Griffel vorgezeichnet, es mit den Schnitzmessern ausgeführt und mit dem Zirkel vorgezeichnet, und wie das Bild eines Menschen hat er es schliesslich ausgeführt, wie ein Prachtstück von einem Menschen, damit es in einem Haus stehe. [Er ist gegangen,] um sich Zedern zu fällen und hat eine Steineiche genommen oder einen Allon [gr. Baum], und unter den Bäumen des Waldes hat er ihn kräftig werden lassen für sich. Er hat Lorbeer gepflanzt, und der Regen hat ihn gross gemacht, und dann hat er einem Menschen als Brennholz gedient. Und dieser hat davon genommen
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B.III. Gewalt zwischen Religionen und hat sich damit gewärmt. Er zündet es an und backt Brot! Er macht einen Gott daraus! Und schliesslich hat er sich niedergeworfen, hat es zum Bild gemacht und sich vor ihm verbeugt. Die eine Hälfte davon hat er im Feuer verbrannt, auf dieser Hälfte isst er Fleisch, brät einen Braten, damit er satt wird. Auch wärmt er sich und sagt dann: Ah, mir ist warm geworden, ich habe das Feuer gesehen. Und was davon übrig ist, hat er zu einem Gott gemacht, zu seinem Bild, vor ihm verbeugt er sich und wirft sich nieder, und zu ihm betet er und spricht: Rette mich, denn du bist mein Gott! Sie haben nichts erkannt und begreifen nichts, denn ihre Augen sind so verklebt, dass sie nichts sehen, und ihr Herz ist so verklebt, dass sie keine Einsicht haben! Und er nimmt es sich nicht zu Herzen und hat keine Erkenntnis und keine Einsicht, dass er sagen würde: Die eine Hälfte davon habe ich im Feuer verbrannt und auf den Kohlen habe ich Brot gebacken, nun brate ich Fleisch und esse es. Und was davon übrig ist, sollte ich zu einer solchen Abscheulichkeit machen? Vor einem Holzklotz sollte ich mich verbeugen? Wer sich mit Asche abgibt, dessen Herz wurde getäuscht, es hat ihn verführt; sich selbst rettet er nicht, und er sagt nicht: Ist das nicht Lüge, woran ich mich halte?» (Jes 44,9–20; NZB)
Solche Texte entspringen dem erdrückenden Gefühl der Ohnmacht und Unterlegenheit der staatenlos gewordenen Judenschaft in exilischer und nachexilischer Zeit (ab dem 6. Jahrhundert v. Chr.). Die Exulanten in Babylon sahen sich Kultstätten und Kulten gegenüber – namentlich zu Ehren der babylonischen Hauptgottheiten Marduk und Ischtar –, die eine ungeheure Majestät und Dominanz ausgestrahlt haben müssen. Vor ihnen blieb der kleinen jüdischen Gemeinde mit ihrem tempellosen Gottesdienst zu Ehren eines unsichtbaren Gottes kaum etwas anderes als entweder kleinmütige Selbstaufgabe oder verzweifelte Selbstbehauptung. Wo man aber die eigene Identität bedroht sieht, bringt man kaum die Gelassenheit auf, die religiösen Vorstellungen und kultischen Verrichtungen von Andersgläubigen sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen und korrekt zu beschreiben. Und wo an die Stelle ruhiger Wahrnehmung aufgeregte Polemik tritt, können sich Werte wie Fairness und gar Toleranz gegenüber dem Anderen kaum entfalten.
1. Religiös legitimierte Gewalt im Alten Testament?
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Vom Geist ängstlicher Abwehr ist auch das sog. Mischehenverbot zur Zeit Nehemias und Esras geprägt (5. Jahrhundert v. Chr.). Es war die Zeit, als man sich bemühte, um das wieder aufgebaute Jerusalem mit dem neu errichteten Tempel die Provinz Jehud zu etablieren. Ihr war, unter persischer Oberhoheit, eine gewisse kulturelle und speziell religiöse Autonomie zugestanden. Und nun hatten die Verantwortlichen die Sorge, das wichtigste Fundament des neuen Gemeinwesens, die gemeinsame Jhwh-Religion, könne beschädigt werden, wenn Mitglieder der «Bürger-Tempel-Gemeinde» mit Frauen verheiratet waren, die sich nicht zum Jhwh-Glauben bekannten. Derartige Ehen wurden zwangsgeschieden (vgl. Neh 13; Esr 10): eine schier unglaublich rigide Massnahme, der durchaus etwas Gewaltmässiges anhaftet. Der Streit um Wahr und Falsch in der Religion war indes in Israel schon viel älter. Wenn nicht alles täuscht, gab es schon ab dem 9. Jahrhundert v. Chr. mehr oder weniger gewalttätige Auseinandersetzungen um die Frage, ob Jhwh einer unter anderen Göttern oder der von Israel allein zu verehrende Gott sei. (Das ist noch kein förmlicher Monotheismus, aber eine Monolatrie; diese bestreitet die Existenz anderer Götter nicht, anerkennt aber für das eigene Volk nur einen als relevant.) Auch hier stehen jeweils politisch-gesellschaftliche Gegensätze mit im Raum, die dann religiös überhöht werden, was im Extremfall bis hin zur Tötung Falschgläubiger im Namen Jhwhs führen kann. Die erste Welle scheinbarer oder wirklicher Religionskämpfe hat sich, wie es scheint, im 9. Jahrhundert im Königreich Nordisrael ereignet: Der Streitwagenoberst Jehu profilierte sich als kompromissloser Jhwh-Verehrer, indem er im omridischen Palastheiligtum in Samaria, das dem Gott Baal geweiht war, ein Blutbad unter Verehrern dieser Gottheit anrichtete. Er hatte wohl Grund zu der Annahme, mit dieser schaurigen Tat ultrareligiöse Kreise in Israel hinter sich scharen zu können. Offenbar eine Abschattung dieser blutigen Ereignisse ist die Notiz, dass der Prophet Elija Hunderte von Baal-Propheten abgeschlachtet habe (1Kön 18,40). Die nächste Welle im Kampf um Religion (und Politik) wühlte im 7. Jahrhundert das Königreich Juda auf. Unter dem Druck der assyrischen Fremdherrschaft, die, wie wir sahen, durchaus auch religiöse Komponenten einschloss, bildete sich die deuteronomische Bewegung heraus: eine Koalition Jhwh-treuer Kreise bei Hofe, am Tempel und unter den Notabeln der Landschaft Juda, die gegen die Assur-treue Politik des Königs Manasse (696–640) opponierte und nach dessen Tod für die Inthronisierung Joschijas sorgte: eines damals erst 8-jährigen Prinzen (2Kön 22,1), der als Erwachsener dann den Kern des Deuteronomiums zum Staatsgesetz erhob. Dieses steht unter der Parole «Jhwh ist unser Gott – Jhwh ist der Einzige!» (Dtn 6,4) und schreibt im ersten Gesetz (Dtn 12) die Zentralisierung des Kultus auf Jerusalem und seine Reinigung von allen nicht-jahwistischen Einflüssen vor. Daraufhin kam es unter Joschija vielleicht nicht gerade zu einer Religionsverfolgung, aber doch zur Absetzung der gesamten Priesterschaft an den Landheiligtümern
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B.III. Gewalt zwischen Religionen
und zur gezielten Entweihung bisher als heilig geltender Stätten: durchaus gewaltförmige Massnahmen, vollbracht im Namen der Jhwh-Religion. In sekundären Zusätzen zum Deuteronomium wird überdies die Anwendung physischer Gewalt gegen solche Bürger gefordert, die sich der Forderung nach der Alleinverehrung Jhwhs nicht fügen (Dtn 13,1–19; 17,2–5). Ob die dort vorgesehenen Sanktionen je ergriffen worden sind, steht dahin, doch verströmen allein die betreffenden Texte einen heissen Hauch von Drohung und Repression. So zieht sich durch eine Reihe alttestamentlicher Texte eine Spur von religiöser Intoleranz. Im Einzelfall lässt sich durchaus nachvollziehen, warum und wie es zu den jeweiligen Spannungen und Auseinandersetzungen gekommen ist. Dennoch bleibt es beunruhigend, dass solche Passagen in der Bibel stehen: einem Buch, das zur Grundlage zweier, in gewisser Weise dreier Weltreligionen wurde, von denen jedenfalls zwei sich nicht durch überströmende religiöse Toleranz ausgezeichnet haben. Im Namen des Einen Gottes wurde viel Leid über Menschen gebracht, was zu einer kritischen Lektüre der betreffenden Passagen in der Bibel verpflichtet. Doch gilt es jeweils mitzubedenken: Manche der einschlägigen Schilderungen sind rein fiktiv; andere erklären sich aus bestimmten geschichtlichen Zwangssituationen. Und vor allem: Weite Teile der Bibel (Alten wie Neuen Testaments) sind frei von jeglichem Hang zu Intoleranz, zeigen zum Teil eine wohltuende und befreiende Offenheit gegenüber dem Anderen und Fremden. So gilt es gleichsam mit der Bibel gegen die Bibel anzulesen und sich dabei von Einseitigkeiten und Vorurteilen möglichst frei zu halten. Literatur
R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 2, Göttingen 1992. – A. BERLEJUNG, Die Theologie der Bilder. Herstellung und Einweihung von Kultbildern in Mesopotamien und die alttestamentliche Bilderpolemik, Fribourg / Göttingen 1998 (OBO 162). – S. BRETFELD, Gewaltlosigkeit und ihre Suspendierung im TheravâdaBuddhismus Sri Lankas, in: W. Dietrich / W. Lienemann, Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 47–58. – F. CRÜSEMANN, Die Tora, München 1992. – W. DIETRICH, Über Werden und Wesen des biblischen Monotheismus. Religionsgeschichtliche und theologische Perspektiven, in: W. Dietrich / M.A. Klopfenstein (Hrsg.), Ein Gott allein? JHWHVerehrung und biblischer Monotheismus, Fribourg / Göttingen 1994 (OBO 139), 13–30 = Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 71–83. – W. DIETRICH, Der Eine Gott als Symbol politischen Widerstands. Religion und Politik im Juda des 7. Jahrhunderts, in: W. Dietrich / M.A. Klopfenstein (Hrsg.), Ein Gott allein? JHWH-Verehrung und biblischer Monotheismus, Fribourg / Göttingen 1994 (OBO 139), 463–490 = Ders., Theopolitik, Neukirchen-Vluyn 2002, 204–223. – W. DIETRICH, Jehus Kampf gegen den Baal von Samaria, in: ThZ 57 (2001) 115–134 = Ders., Von David zu den Deuteronomisten 164–180. – W. DIETRICH / U. LUZ, Universalität und Partikularität im Horizont des biblischen Monotheismus, in: FS R. Smend, Göttingen 2002, 369–411. – W. DIETRICH / T. NAUMANN, Die
2. Religiöse Gewalt im Neuen Testament?
73
Samuelbücher, Darmstadt 1995 (EdF 287). – E. HAAG, Das hellenistische Zeitalter. Israel und die Bibel im 4. bis 1. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 2003 (BibEn 9). – H.G. KIPPENBERG, Religion und Klassenbildung im antiken Judäa, Göttingen 1978. – K. KOLLMAR-PAULENZ, Tötung als Befreiung? Gewalt als Konfliktlösungsstrategie in Tibet und das buddhistische Postulat der Gewaltlosigkeit, in: W. Dietrich / W. Lienemann, Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 31–46. – S. OTTO, Jehu, Elia und Elisa. Die Erzählung von der Jehu-Revolution und die Komposition der Elia-ElisaErzählungen, Stuttgart 2001 (BWANT 152) – A. SCHENKER, La profanation dʼimages cultuelles dans la guerre, in: Ders., Studien zu Propheten und Religionsgeschichte, Stuttgart 2003 (SBA 36), 177–184. – R. SMEND, Der biblische und der historische Elia [1975], in: Ders., Die Mitte des Alten Testaments, Tübingen 2002, 188–202. – H. SPIECKERMANN, Juda unter Assur in der Sargonidenzeit, Göttingen 1982 (FRLANT 129). – T. VEIJOLA, Wahrheit und Intoleranz nach Deuteronomium 13, in: Ders., Moses Erben. Studien zum Dekalog, zum Deuteronomismus und zum Schriftgelehrtentum, Stuttgart 2000 (BWANT 149), 109–130.
WD 2. Religiöse Gewalt im Neuen Testament? Das frühe Christentum ist seiner Struktur nach weder mit dem Volk Israel noch mit späteren christlichen Nationen zu vergleichen. Charakteristisch für die Anfangszeit des christlichen Glaubens ist der sehr gewagte Versuch, innerhalb des religiösen Symbolsystems des jüdischen Glaubens eine messianische Reformbewegung zu etablieren, die Nichtjuden einschliesst, und zwar ohne diese an die strikte Einhaltung der jüdischen Tora zu binden. In diesem Sinne kann das frühe Christentum nicht als «Religion» im Gegenüber zu einer jüdischen oder paganen Religion bezeichnet werden. Der Begriff der «religiösen Gewalt» ist daher in diesem Umfeld problematisch. Doch selbst wenn die Frage allgemeiner gestellt wird, finden wir im Neuen Testament keinen Akt physischer Gewalt gegen andere aus Gründen der religiösen Identitätsfindung oder mit dem Ziel der «Missionierung». Wo auch immer diese Grenze im Namen des christlichen Glaubens überschritten worden ist – und das ist leider häufig geschehen –, ist jede Berufung auf das Neue Testament mit aller Schärfe zurückzuweisen. Wenn jedoch der Begriff der Gewalt ausgeweitet wird in Richtung Verbalaggression und «relationale Aggression», dann finden wir im Neuen Testament durchaus Zeichen von Gewalt55. Kehrseite der frühchristlichen Missionsverkündigung ist die Gerichtsdrohung für jene, die dem Ruf zur Umkehr nicht folgen56. Diese Ablehnungserfahrung mündet zum Teil in schroffe 55 56
Vgl. zum Folgenden bes. Luz, Absolutheitsanspruch. Vgl. Mt 18,31-34; 25,11–13; Lk 6,49; 10,11–15; 12,9; 13,34; 14,24.
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B.III. Gewalt zwischen Religionen
Polemik gegen die «Gegner» der Verkündigung57. Der Absolutheitsanspruch, mit dem bereits Jesus in die Nachfolge rief, hat immer wieder Irritationen ausgelöst (s.o. B.I.4.). Dies hat indirekt zu Verfolgungen, Ausgrenzungen, Synagogenausschlüssen und anderen Formen tätiger Gewalt gegen die christlichen Missionare geführt58. Schärfer war der Ton im Umgang mit «Abtrünnigen» und «Irrlehrern», also mit solchen, die mit zentralen Identitätsmerkmalen des verbindlichen Glaubens brachen. Hier lässt sich der Begriff der «relationalen Aggression» anwenden, denn gegenüber «Dissidenten» finden wir im Neuen Testament viele Beispiele für polemische Verunglimpfung59 und für Sanktionierung durch Entzug der Gemeinschaft60. Der Kampf um die Festlegung der Grenzen des christlichen Glaubens bzw. des christlich tolerierbaren Verhaltens wird in den Spätschriften des Neuen Testaments verstärkt spürbar. Diese Auseinandersetzung wird in der Folgezeit noch sehr viel schärfer als Bekämpfung der Irrlehrer geführt werden61. Wann immer die Frage gestellt wird, ob der christliche Glaube von seinen Anfängen an eine natürliche Anlage zur Aggression hatte, fällt das Stichwort des Monotheismus oder der Unterscheidung von «wahr» und «falsch»62. Intoleranz liege demnach in der Natur jeder Religion, die mit einer gewissen Absolutheit einen Wahrheitsanspruch erhebe. Nun gibt es auch in nicht-monotheistischen Religionen Grenzziehungen, Polemik und Gewalt63. Der aktuelle politische, religiöse und theologische Diskurs zeigt zudem, dass die Toleranzforderung dort an ihre Grenzen gelangt, wo unbedingt geltende Wahrheiten (z.B. die Menschenrechte, Schutz der Schwächeren, Freiheit der Forschung usw.) angegriffen werden. Es bleibt ein Dilemma der Toleranz, dass sie uns dann am einfachsten fällt, wenn uns eine Sache nicht besonders bedeutsam ist64. Man wird daher auf der einen Seite dem Neuen Testament vorhalten können, dass es zum Teil religiöse Intoleranz fördere65. Aber man muss auf der anderen Seite zugeben, dass man weder Jesus noch Paulus fehlende Leidenschaft für 57 Am stärksten ausgeprägt in der sog. «Pharisäerrede» in Mt 23. Vgl. auch Joh 8,44: «Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun.» 58 Vgl. Mt 10,23; Lk 6,22f; 11,49–51; 12,4–9; 1Thess 2,15. 59 Vgl. 2Kor 11,4f; 1Tim 1,6f; 2,17f; 4,1; 6,4f; 2Tim 3,1–7; Tit 1,10–12; Jud 4.8.10–13; 2Petr 2,2f.10–22; 1Joh 2,18; 3,8.10.12; 4,3; 2Joh 7; Offb 2,2.14.20. 60 Mt 18,15–20; 1Kor 5,1–5; 2Tim 2,2.16; Tit 3,10f; 2Joh 5.10; Offb 2,14f. 61 Vgl. Brox, Häresie. 62 So neuerdings Assmann, Unterscheidung. 63 Vgl. Kollmar-Paulenz, Tötung. 64 Vgl. Weder, Eleutheria, 311f; vgl. allgemein zum Problemfeld Christentum und Toleranz die Aufsätze in Broer, Christentum; zu Paulus vgl. Harnisch, Toleranz. 65 Andererseits hat sich John Locke in seinem bahnbrechenden «Brief über die Toleranz» von 1689 über weite Strecken auf das Neue Testament bezogen.
2. Religiöse Gewalt im Neuen Testament?
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das Wahre und Gute vorwerfen kann. Ohne diese unbedingte Hingabe wäre die frühchristliche Bewegung wohl im Keim erstickt worden. Dennoch bleibt die Tatsache, dass wir im Neuen Testament subtile Formen von religiös motivierter Aggression finden, die in Spannung zum Gebot der Feindesliebe stehen. Die moralische Bewertung dieses Phänomens ist indes keineswegs einfach. Ohne eine selbstkritische Wahrnehmung der heute üblichen Formen von Polemik und Verunglimpfung und der geduldeten Vorurteile und Schwarzmalereien (auch in Theologie und Kirche!)66, sollte der moralische Zeigefinger nicht gegen das Neue Testament (und die Bibel insgesamt) gerichtet werden. Gewiss lässt sich frühchristliche Verbalaggression als Folge der Frustration aufgrund von missionarischem «Misserfolg» deuten67. Aber die Entwicklung des Paulus in seiner Auffassung über das Volk Israel von 1Thess 2,15f zu Röm 9–11 zeigt, dass die Ablehnungserfahrung keineswegs den polemischen Ton gegenüber Israel verschärft hat, sondern dass im Gegenteil das frühe Aufbrausen des Apostels einer tiefer gehenden Reflexion Raum gemacht hat. Der Umgang im Neuen Testament mit «Dissidenten» ist sprachlich so tief geprägt von Stereotypen, dass die Polemik wohl eher der Stabilisierung der eigenen Gruppe diente als der wirklichen Auseinandersetzung mit Andersdenkenden68. Alles in allem finde ich es ungemein schwer, in dieser Frage das rechte Mass zwischen Fairness, Beschönigung und Selbstkritik zu finden. Wenn uns die sprachliche Härte mancher im Neuen Testament bezeugten Umgangsformen stört, dann ist das im Blick auf das Feindesliebegebot durchaus verständlich. Zugleich stellt diese Wahrnehmungsdissonanz einen Appell dar, es besser zu machen … Literatur
J. ASSMANN, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. – I. BROER (Hrsg.), Christentum und Toleranz, Darmstadt 1996. – N. BROX, Art. Häresie, in: RAC 13 (1986), 248–297. – W. HARNISCH, ‹Toleranz› im Denken des Paulus? Eine exegetisch-hermeneutische Vergewisserung (1996), in: Ders., Die Zumutung der Liebe. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1999 (FRLANT 187), 185–205.– K. KOLLMARPAULENZ, Tötung als Befreiung? Gewalt als Konfliktlösungsstrategie in Tibet und das buddhistische Postulat der Gewaltlosigkeit, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 31–46. – J. LOCKE, Ein Brief über Toleranz, übers. von J. Ebbinghaus, Hamburg 21966 (La philosophie et la communauté mondiale 1).
66 Man beachte nur, in welchen Zusammenhängen der Fundamentalismusvorwurf begegnet und mit welchen Allgemeinplätzen von anderen Konfessionen und Denominationen zum Teil gesprochen wird. 67 So Luz, Absolutheitsanspruch, 279. 68 So Luz, Absolutheitsanspruch, 283.
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B.IV. Gewalt gegen die Kreatur
– U. LUZ, Absolutheitsanspruch und Aggressionspotenzial im frühen Christentum, in: EvTh 64 (2004), 268–284. – H. WEDER, Eleutheria und Toleranz, in: Ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik, Göttingen 1992, 309–321.
MM IV. G EWALT
GEGEN DIE
K REATUR
IM
A LTEN T ESTAMENT
1. Bedrohung des Menschen und Entsakralisierung der Welt Der Begriff «Natur» ist kein hebräisch-alttestamentlicher. Die Sache der Gewalt gegen die Natur begegnet hier aber sehr wohl. Alle Texte, die von Verboten und Geboten, von Anweisungen und Einschränkungen mit dem Ziel eines heilvollen Zusammenlebens des Menschen mit der aussermenschlichen Schöpfung handeln, sind zugleich erstens Zeugnisse dafür, dass diese Form von Gewalt vorhanden war, wie zweitens auch dafür, dass nach Möglichkeiten ihrer Überwindung gesucht wurde. Und nicht nur das, sie sind zum Dritten auch Zeugnis dafür, dass die so neuzeitlich anmutende Frage des Umgangs mit der Natur schon damals als dringend empfunden wurde. Das ist nicht selbstverständlich. Denn Natur in der damaligen Welt ist etwas ganz anderes, ungleich Realistischeres, Alltäglicheres, weniger Romantisches, als sie es für uns in einer anderen Zeit, einem anderen ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Umfeld ist. Manfred Weippert hat dies in seinem Aufsatz, dem er den Titel «Tier und Mensch in einer menschenarmen Welt»69 gegeben hat, schön zum Ausdruck gebracht. Kurz gesagt ist Natur nicht eine in wenige Nischen verdrängte geschützte Unberührtheit, sondern geliebte und gehasste, gehegte und bekämpfte, bearbeitete und gefürchtete Lebenswelt. Um überleben zu können, musste mit der Natur gerungen werden, in dem Sinne, dass die Erträge dem kargen Boden abzutrotzen waren, dass die Ernte und die Herden und mitunter auch das eigene Leben vor wilden Tieren geschützt werden mussten. Wenn wir diesen Hintergrund im Kopf behalten, gewinnen die biblischen Aussagen über Gewalt und Gewaltüberwindung gegenüber der Natur an Profil. Die Kulturen in der Nachbarschaft des alten Israel (v.a. Ägypten) kannten die Verehrung der Natur und mancher Tiere als göttlicher Wesenheiten. Spuren davon sind auch im Alten Testament noch zu entdecken – freilich überwiegend negative. Denn der heranreifende Monotheismus verlangte die scharfe Trennung zwischen Gott, dem Schöpfer, und allem anderen, von ihm Geschaffenen. In der Zerstörung des goldenen Kalbs durch Mose (Ex 32,20) 69
Weippert, Tier, 35–55.
2. Das so genannte Dominium Terrae
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widerspiegelt sich noch der in Kanaan praktizierte Kult des Wettergottes in Stiergestalt. König Hiskija beseitigte laut 2Kön 18,4 einen Schlangenkult70. Solche Texte zeigen, dass die Verehrung tiergestaltiger Götter keineswegs in weite Ferne gerückt war. Doch spätestens seit der bestimmenden deuteronomisch-deuteronomistischen Bewegung im 6./5. Jahrhundert v. Chr. lehnte Israel derlei als mit der monotheistischen und bildlosen Jhwh-Religion unvereinbar ab. Diese Entgötterung der Natur hatte sicherlich ein verändertes Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt zur Folge, ein Verhältnis, das eine objektive, angstfreie, sachgerechtere Betrachtung der Natur und insbesondere der Tiere zuliess. Dass dabei auch schon ein Stück Respekt und Ehrfurcht vor nichtmenschlichem Sein und Leben verloren ging, blieb zu biblischen Zeiten ohne Konsequenzen, hat aber wirkungsgeschichtlich betrachtet später schlimme Folgen gehabt. Gleichwohl hafteten gewisse numinose Aspekte einzelnen Tieren auch in der Jhwh-Religion noch an. So prägen z.B. Stier- und Löwenbilder die Innendekoration des Tempels71. Gelegentlich treten Tiere auch als Träger dämonischer Kräfte auf, v.a. Nachttiere und Bewohner von dem Menschen nicht zugänglichen Gebieten. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dieser Zuordnung gewisser Tiere zum Bereich des Dämonischen und der Klassifizierung ähnlicher und z.T. der gleichen Tiergattungen als «unreiner» Tiere, die uns heute so unverständlich ist72. 2. «Herrschaft» des Menschen über Tiere: das so genannte Dominium Terrae Bei weitem den grössten Nachhall und die intensivste Rezeption erfuhr unter den Texten des Alten Testaments, die das Verhältnis des Menschen zum Tier und zur Natur reflektieren, der priesterliche Schöpfungsbericht Gen 1,1–2,4a, und darin besonders die berühmten Worte des Dominium Terrae Gen 1,26–28. «(26) Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen gemäss unserem Bild in Ähnlichkeit zu uns, und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels, über das Vieh, über das ganze Land und über alles Getier, das sich auf der Erde bewegt. (27) Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie. (28) Und Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, mehrt euch und füllt die Erde, unterwerft (kbõ) sie euch und herrscht (rdh) über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und über alles Leben, das sich auf der Erde bewegt.»
70
Vgl. dazu den Beitrag von Othmar Keel in Janowski u.a., Gefährten, 155–193. Vgl. Keel / Schroer, Schöpfung, 65. 72 Vgl. Keel u.a., Orte und Landschaften, 104. 71
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B.IV. Gewalt gegen die Kreatur
Es hat mancherlei Versuche gegeben, diese Textstelle in einem freundschaftlicheren und gemeinschaftlicheren Sinn auszulegen, als es das deutsche Wort «herrschen» auf den ersten Blick nahe legt. Das Verb rdh kommt im Alten Testament 22-mal im qal-Stamm vor. Es bedeutet einmal das Treten von Trauben in der Kelter und ist ansonsten mit ‹herrschen› zu übersetzen, wobei mindestens zehnmal eindeutig die gewaltsame Herrschaft von Feinden oder über Feinde gemeint ist, nur zweimal dasjenige in einem zukünftigen Friedensreich; die restlichen Belege sind in dieser Hinsicht neutral. Gleichwohl ist viel spekuliert worden über die Bedeutung des Wortes an unserer Stelle: ob es nun, eindeutig mit Gewalt behaftet, gemäss Joel 4,13 «mit den Füssen treten» heisst, ob es eher auf eine verantwortungsvolle, dem altorientalischen Königsideal entsprechende Herrscheraufgabe hindeutet oder ob es, in der Dimension des Hirt-Herde-Verständnisses aus dem akkadischen redû(m) abgeleitet, «führen, leiten, regieren» meint73. Die Tatsache indes, dass rdh in Gen 1,28 direkt neben kbš steht, widersetzt jeglichem Versuch, dem Verb eine gewaltfreie Bedeutung entnehmen zu wollen74. Denn kbš, das im qal-Stamm achtmal vorkommt, steht viermal im Zusammenhang mit Sklavenunterwerfung (Jer 34,11.16; Neh 5,5; 2Chr 28,10) und einmal gar mit einer Vergewaltigung (Est 7,8)75. Aus semasiologischen Gründen scheint es mir geraten, den gewaltsamen Aspekt aus dem Dominium Terrae nicht wegdeuten zu wollen76. Wenn man die oben geschilderte Situation des Menschen in der damaligen Zeit im Auge hat und ausserdem die Entstehungszeit des Textes berücksichtigt, überrascht dies auch gar nicht. Der Autor lebte entweder im babylonischen Exil und sehnte sich nach der Heimat, die er den wilden Tieren ausgesetzt glaubte, oder er war vor noch nicht langer Zeit zurückgekehrt und mit dem Wiederaufbau 73
Eine gewaltfreie Interpretation vertreten viele Autoren, so zum Beispiel Janowski, Zukunft der Tiere; H.-J. Boecker, Gefährten, 81; Liedke, Bauch, 136. Für einen Überblick über die einzelnen Positionen vgl. Schmitz-Kahmen, Geschöpfe Gottes, 18–28. Schmitz-Kahmen selbst vertritt ein Nebeneinander des hegenden/pflegenden und des gewaltsamen Aspekts, doch tritt letzterer in seiner Übersetzung «in Obhut nehmen» (ebd. 27) gänzlich in den Hintergrund. 74 Ähnlich auch Weippert, Tier, 52. Anders sieht es Schmitz-Kahmen, der kbš als einen rechtssymbolischen Terminus versteht, welcher die Inanspruchnahme eines zugewiesenen Herrschaftsbereiches bezeichne, und es dementsprechend mit «betreten» oder «in Anspruch nehmen» übersetzt. Er räumt selber ein, dass bei dieser Übersetzung der Aspekt des gewaltsamen Handelns vernachlässigt werde, findet dies aber nicht weiter bedeutsam und problematisch, «da sich die Gewalt in diesem Fall allein gegen unlebendigen Boden richtet» (Schmitz-Kahmen, Geschöpfe Gottes, 17 Anm. 54). Diesem Urteil ist kaum zuzustimmen. 75 Vgl. auch Weippert, Tier, 48ff. 76 Ähnlich auch Keel / Schroer, Schöpfung, 181: «Apologetische Exegese, die die Gewaltaspekte völlig auszuklammern sucht und nur auf die Verantwortung abhebt, trägt zur Verarbeitung der Wirkungsgeschichte dieses Herrschaftsbefehls nicht bei.»
3. Das Tier als Opfer und Ausbeutungsobjekt
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beschäftigt, der u.a. einen harten Kampf gegen die Macht der Natur bedeutete. Es muss nicht betont werden, dass unser Lebenskontext, in dem von vielen wilden Tieren nur noch kleine Restpopulationen in Reservaten existieren, ein völlig anderer ist. 3. Das Tier als Opfer und als Ausbeutungsobjekt Das Töten von Tieren war wichtig nicht nur für die Nahrungsbeschaffung, sondern auch im kultischen Bereich77. Ein Tieropfer war viel mehr als die Hingabe materieller Werte, das Leben des Tieres übernahm sozusagen die Stellvertretung für das eigentlich geforderte Leben des Menschen. Das Opfer diente zur Sühne, zur Versöhnung, welche die ins Wanken geratene Beziehung zu Gott wieder heilen konnte. Geopfert wurde aber auch, wenn man die Gottheit gnädig stimmen wollte, wenn man sie um etwas bat, ferner zum Dank oder anlässlich eines Gelübdes, einer Weihe, einer Reinerklärung oder als Auslösung der menschlichen Erstgeburt und natürlich v.a. an den Festtagen: Sabbat, Passah, Versöhnungstag. Als Opfertiere kamen nur die reinen Haustiere Rind, Schaf, Ziege, gelegentlich die Taube in Betracht78, also Tiere, die für das Leben der Menschen von zentraler Bedeutung waren. Wesentlicher Aspekt eines jeden Opfers ist es, etwas aus dem eigenen Besitz der Gottheit zu überlassen. Deshalb kommen als Opfertiere keine Wildtiere in Frage. Auch unreine Tiere wie Unpaarhufer, Kamele, Schweine, Hunde usw. waren als Opfertiere ausgeschlossen, ebenso kranke oder mit Fehlern behaftete Tiere (vgl. Lev 22,17–25). Es ist offensichtlich, dass infolge der besonderen Bedeutung des Blutes in Israel geschächtet wurde, das heisst: dem gebundenen Tier wurde die Halsschlagader aufgeschnitten, so dass das Blut ausfloss. Diese Schlachtmethode ist im Alten Testament nur angedeutet und wird erst in den jüdischen Schriften im Detail beschrieben und geregelt; sie ist im Prinzip nicht gewalttätiger als andere Schlachtmethoden, vielleicht sogar im Gegenteil. Als düsteres Beispiel eines offenkundig gewalttätigen Umgangs mit Tieren sei die Geschichte von Simson und den Füchsen genannt, in der Simson dreihundert Füchsen die Schwänze paarweise zusammenbindet, diese anzündet und die Tiere in Panik in die reifen Kornfelder der Philister laufen lässt (Ri 15,4f). Ferner gibt es Nachrichten über die Lähmung hunderter von Pferden des feindlichen Heeres in 2Sam 8,4 und Jos 11,6.9. Der Tierschutzgedanke ist hier noch fern. Die dunkle Prophezeiung Jeremias an den von ihm wegen asozialen Verhaltens scharf angegriffenen König Jojakim redet von einem «Eselsbegräbnis», das ihm zukommen wird (Jer 22,19), sprich: gar keinem Begräbnis, denn 77 78
Zum Tieropfer vgl. ausführlicher: Janowski u.a., Gefährten, 240–244. Vgl. die Zusammenstellung bei Janowski u.a., Gefährten, 240ff.
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
Esel lässt man einfach vor der Stadt tot liegen. Das Gebot in Ex 23,5, dem unter seiner Last zusammengebrochenen Esel des Feindes aufzuhelfen, zeigt, dass solche Situationen offensichtlich vorkamen und dass Hilfe dann keine selbstverständliche Reaktion war. Auch die schöne Erzählung von Bileam und seiner Eselin (Num 22,22–35) zeigt, wie wenig der Dienst dieser für das tägliche Leben und Wirtschaften der biblischen Welt so zentralen Tiere normalerweise gewürdigt wurde. Eine noch schlechtere Behandlung erfährt der Hund, das einzige Tier, dessen Name im Alten Testament als Schimpfwort gebraucht wird (1Sam 24,15; 2Sam 3,8). Literatur
H.J. BOECKER, «Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden». Überlegungen zur Wertung der Natur im Alten Testament, in: B. Janowski / U. Neumann-Gorsolke / U. Glessmer (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 67–84. – F. HORST, Hiob. 1. Teilband Hiob 1–19, Neukirchen-Vluyn 41983 (BK XVI/1). – B. JANOWSKI / U. NEUMANN-GORSOLKE / U. GLESSMER (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993. – B. JANOWSKI / P. RIEDE (Hrsg.), Die Zukunft der Tiere. Theologische, ethische und naturwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 1999. – O. KEEL, Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst, Göttingen 1978 (FRLANT 121). – O. KEEL / S. SCHROER, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Fribourg 2002. – O. KEEL / M. KÜCHLER / C. UEHLINGER, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studienreiseführer zum Heiligen Land, Bd. 1: Geographisch-geschichtliche Landeskunde, Einsiedeln u.a.O. 1984. – T. KRÜGER, «Kosmo-theologie» zwischen Mythos und Erfahrung. Psalm 104 im Horizont altorientalischer und alttestamentlicher «Schöpfungs»-Konzepte, in: BN 68 (1993), 49–74. – G. LIEDKE, Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie, Berlin / Stuttgart 1979. – G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis, Göttingen 111981 (ATD 2/4). – F. SCHMITZ-KAHMEN, Geschöpfe Gottes unter der Obhut des Menschen. Die Wertung der Tiere im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1997 (NThDH 10). – M. WEIPPERT, Tier und Mensch in einer menschenarmen Welt. Zum sog. Dominium Terrae in Gen 1, in: H.-P. Mathys (Hrsg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen, Neukirchen-Vluyn 1998 (BThSt 33), 35–55.
SB V. G EWALT
ZWISCHEN DEN
V ÖLKERN
1. Kriegerische Gewalt im Alten Testament Die Geschichte des biblischen Israel umfasst ungefähr ein Jahrtausend. Auf dieser langen Zeitstrecke hat Israel viele Kriege erlebt. An einigen hat es aktiv
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mitgewirkt, die meisten rollten über es hinweg. Israel war ein kleines Volk. Es war umgeben von einer Vielzahl kleiner Völker in Syrien-Palästina, und mit diesen zusammen lag es im Gravitationsfeld der grossen Machtzentren am Nil und an Euphrat und Tigris. Israel lebte auf einer Landbrücke, auf der die kleinen und die grossen Heere hin und her zogen. Die Frage in Israel war nicht so sehr, ob man sie daran hindern konnte, sondern ob man mitzog, und wenn ja, mit wem. Ein wenig vergröbernd lässt sich sagen, dass die Bibel die Kriege umso positiver beurteilt, je früher in der biblischen Geschichte sie sich ereignet haben. Ob man nun an den Untergang der ägyptischen Streitwagentruppen im Schilfmeer denkt (Ex 14) oder an das Zurückwerfen der amalekitischen Wüstenbanditen kurz danach (Ex 17,8–16), ob an die angeblich gewaltsame Eroberung des Landes Kanaan (Jos 1–12) oder an die Abwehr diverser äusserer Feinde durch die grossen Retter der Frühzeit und noch durch den ersten König, Saul (Ri 3–16; 1Sam 11; 13–15): Nirgends scheinen sich auch nur leise Zweifel an der Rechtmässigkeit und Notwendigkeit dieser Kriegsereignisse zu regen. Dabei haben an den einschlägigen Berichten viele verschiedene Schriftsteller aus unterschiedlichen Zeiten mitgewirkt. Offenbar waren sich alle einig: Das musste so sein! Über die Beweggründe lässt sich nur spekulieren. Vielleicht lagen diese Vorgänge, wenn sie denn überhaupt stattgefunden haben, zu weit zurück, als dass man von ihnen noch eine reale Vorstellung hatte; so konnte sich um sie ein schöner Glorienschein legen. Es gibt ja durchaus viele Völker und Kulturen, die ihre frühesten Anfänge in kriegerisch-heroischen Farben schildern. Im Falle Israels kommt hinzu, dass anscheinend von früh an der Name des Gottes Jhwh mit jenen Erfahrungen verbunden war. Die Anfänge Israels und der Beginn der Jhwh-Verehrung fallen nicht nur zeitlich, sondern auch sachlich zusammen. Im sog. Schilfmeerlied wird Jhwh als «Kriegsmann» gefeiert, der «Pferd und Streitwagen ins Meer schleuderte» (Ex 15,3.21). Und laut Deboralied zog Jhwh vom Gebirge Seïr herab, um an der Seite Israels gegen Kanaan zu kämpfen (Ri 5,4). So sehr ineinander verwoben sind Krieg und Jhwh-Glaube im Alten Testament (und speziell in den Berichten über die Frühzeit Israels), dass man in der Forschung geradezu vom «Heiligen Krieg im alten Israel» gesprochen hat. Dies geschah vor rund 50 Jahren und hatte damals vermutlich eine Spitze gegen die extrem unheilige Art der Kriegführung in der jüngsten Vergangenheit. Im alten Israel dagegen, so die These Gerhard von Rads, war der Krieg eine Art religiöse Handlung, die vor Gott verantwortet war und einem immer gleichen rituellen Ablaufschema folgte. Bald schon erhob sich Kritik an dieser Sicht: Der Krieg habe nicht nur in Israel, sondern auch bei anderen Völkern des alten Orients eine religiöse Aura gehabt, und umgekehrt: Die Kriegsschilderungen im Alten Testament seien keineswegs so gleichmässig rituell und religiös, dass man von dem «Heiligen Krieg» in Israel sprechen könne. Heute würde man hinzufügen, dass
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
mit diesem Begriff äusserst zurückhaltend umzugehen wäre, ist er mittlerweile doch besetzt mit Konnotationen wie Extremismus, Fundamentalismus und Fanatismus: Kategorien, die den biblischen Berichten abgehen. Die Kriege, die Israel nach der biblischen Darstellung in seiner Frühzeit führte bzw. zu führen hatte, führte es nie aus der Position der Stärke und der Überlegenheit, gar der Überheblichkeit heraus (die einzige Ausnahme Num 14,39–45 führt bezeichnenderweise zu einer Katastrophe). Regelmässig befindet sich Israel in so gut wie aussichtsloser Lage: als Flüchtlingshaufe am Schilfmeer und in der Wüste, als Migranten-Haufe vor den stark befestigten Städten Kanaans, als schlecht bewaffneter Bauern-Haufe gegen die Kamelreiter der Midianiter, die Kampfwagen der Kanaaniter oder die Berufskrieger der Philister. So kommt es, dass man beim Lesen der Erzählungen unwillkürlich mit Israel um den Sieg zittert und sich mit ihm über diesen freut. Ein Spezialfall in dieser Hinsicht ist der Sieg am Schilfmeer. Damals sollen die Streitwagentruppen des Pharao ertrunken sein, während Israel dem Feind und dem Wasser knapp entrann. Das Ereignis wird zuerst im Mirjamlied, einem uralten Hymnus, besungen (Ex 15,21), dann im Schilfmeerlied (Ex 15), das Jhwh als «Mann des Krieges» feiert (15,3), und nach und nach wurde es zum Grundstein des geschichtlichen Glaubensbekenntnisses Israels. Im 136. Psalm, der die Heilsgeschichte nachsingt und auf jede Aussage den Refrain «Denn seine Güte währet ewig» folgen lässt, entsteht die bemerkenswerte Zeilenfolge: «Und er (Jhwh) schüttelte den Pharao mit seinem Heer ins Schilfmeer – denn seine Güte währet ewig». Den Philosophen Leszek Kołakowski veranlasst dies zu einer kleinen Satire unter der Überschrift «Gott oder die Güte ist relativ», in der er die bissige Frage stellt: «Was denken die Ägypter und der Pharao über die Barmherzigkeit Gottes?» Im Talmud wird jedenfalls darüber reflektiert, was Gott darüber denkt (und mit ihm Israel): «In ebendieser Stunde [des Schilfmeerwunders] wollten die Dienstengel ihr Loblied sagen vor dem Heiligen, gelobt sei er. Da sprach zu ihnen der Heilige, gelobt sei er: Meiner Hände Werk ertrinkt im Meer, da wollt ihr ein Loblied sagen vor mir!» (Traktat Sanhedrin 39b) Nicht Triumph, Trauer ist angebracht, wenn Israel nur um den Preis ertrunkener Ägypter gerettet werden kann. Gleichwohl hinterlässt die kriegerische Gewalt, die gleichsam an der Wiege des Volkes Israel stand, ein ungutes Gefühl. Ist dieses Volk gleichsam im Kriegslager geboren – und hat sich dorthin immer wieder zurückgesehnt? Ist das Alte Testament auf weite Strecken gar Literatur zur Stärkung des Wehrwillens und zur Hebung der Wehrfähigkeit? Bei oberflächlicher Betrachtung könnte dieser Eindruck entstehen, doch übersähe man dann die vielen, ganz und gar unmilitärischen Farbtöne in den biblischen Kriegsgemälden. Da werden wohl am Schilfmeer die Ägypter besiegt bzw. ertränkt – aber nicht infolge israelitischer Gegenwehr oder Kriegslist, sondern durch die von Gott (oder, nach einer Version: vom Wind) herbeigeführten Wassermassen (Ex 14). Da
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werden wohl die Amalekiter geschlagen – aber weniger durch die von Josua geführten Krieger Israels als durch die zum Gebet erhobenen Arme Moses (Ex 17,8ff). Da stürzen wohl die Mauern Jerichos ein – aber nicht, weil Israel Belagerungswerkzeug, sondern weil es Posaunen eingesetzt hat (Jos 6). Da werden wohl die Kanaaniter geschlagen – aber nicht von den Truppen Israels, sondern von Steinen, die vom Himmel regnen (Jos 10). Da wird wohl der feindliche Feldherr Sisera getötet – aber nicht von einem wackeren Krieger, sondern von einer Beduinenfrau namens Jaël (Ri 4,17–21; 5,24–27). Da schlägt wohl Gideon die Midianiter – aber nicht mit dem Heerbann Israels, sondern mit dreihundert Mann, die nichts weiter tun, als in der Nacht Licht und Lärm zu machen (Ri 7). Da verjagt Samuel die Philister – nicht einmal durch Licht und Lärm, sondern mittels einer gottesdienstlichen Begehung (1Sam 7). Solche Geschichten eignen sich kaum zur Aufnahme in eine Ausbildungsfibel für Soldaten. Sie wollen Staunen und Ehrfurcht wecken gegenüber einem Gott, der alle möglichen Mittel und Wege findet, sein immer wieder in Not geratenes Volk zu schützen und zu retten. Die Lehre aus diesen Erzählungen ist: Nicht Truppenstärke und Waffenqualität entscheiden über Sieg oder Niederlage, sondern der Wille Gottes, sein Volk zu erhalten. Weisen die biblischen Erzählungen über die Frühzeit Israels diese Grundtendenz auf, so verschiebt sich der Akzent mit der beginnenden Königszeit. Es ist, als realisierten die biblischen Autoren, dass Israel ab jetzt selbst eine Militärmacht ist: keine sehr bedeutende zumeist, aber doch eine, die sich in das Machtgerangel in Syrien-Palästina und im Vorderen Orient mit manchmal grösserem, überwiegend mit geringerem Erfolg einmischt. Der erste König, Saul, wird streckenweise noch im Bild der früheren «Richter» bzw. Retter gezeichnet. Die Ammoniter besiegt er, weil ihn der «Geist» Jhwhs befallen hat (1Sam 11), gegen die Philister gewinnt er bzw. sein Sohn Jonatan, weil ein «Gottesschrecken» über die Feinde gefallen ist (1Sam 13f). Doch schon er stützt sich auf solide militärische Macht, nämlich eine Truppe von Berufskriegern (1Sam 14,52). David baut diese Söldnerarmee aus – so weit, dass er in der Lage ist, mit ihr die Milizarmee Israels zu schlagen, die sein Sohn Abschalom bei einem Aufstandsversuch gegen den Vater um sich geschart hat (2Sam 18f). Hauptsächlich mit den Berufssoldaten wird David seine militärischen Erfolge errungen haben; die Miliz setzte er nur im Notfall ein (2Sam 8; 10; 12,26–31; s. dazu B.V.2.). David erscheint in der Bibel als strahlender Held und erfolgreichster Heerführer Israels. Doch in dieses Bild mischen sich kritische Töne. Nicht nur wird ihm der Sieg über den Philisterrecken Goliat (1Sam 17) streitig gemacht durch die – historisch sehr plausible – Nachricht, der eigentliche Goliatbezwinger sei ein gewisser Elhanan gewesen (2Sam 21,19). Sein offenbar militärpolitisch motivierter Versuch einer Volkszählung endet in einem Desaster (2Sam 24). Das schlimmste von ihm berichtete Verbrechen – der Ehebruch mit Batscheba
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und die anschliessende Ermordung ihres Gatten Urija – ereignet sich während eines Kriegszuges, den David von seinen Söldnern, darunter Urija, führen lässt, während er selbst in Jerusalem seine Intrigen spinnt (2Sam 11). Dass an seinen Händen so viel Blut klebt, wird als Grund dafür angegeben, dass er Jhwh nicht, wie eigentlich beabsichtigt, einen Tempel bauen darf (1Kön 5,17f; 1Chr 22,8f; 28,3; vgl. schon 2Sam 7,8–16). Die Behauptung sei gewagt, dass David nicht zu einer biblischen Schlüsselfigur hätte werden können, wenn sein Bild nicht einer grundlegenden Metamorphose vom Krieger zum Beter unterworfen worden wäre. Die wenigen Nachrichten der Samuelbücher über Gebete und Gesänge Davids wurden der Ansatzpunkt dazu, ihn zum Dichter von zunehmend mehr Psalmliedern umzugestalten. Erstaunlich ist, dass dies im biblischen Psalter vor allem Klagelieder sind – womit David gleichsam vom Heldendenkmal heruntersteigt und sich als Bittender und Büssender zu den Gläubigen Israels gesellt. Diese kaum mehr nur implizit zu nennende Kritik am Krieger David wird noch dadurch verstärkt, dass die Bibel seinen Nachfolger Salomo als durch und durch friedfertigen Herrscher darstellt. Kein einziger Kriegszug wird ihm zugeschrieben, dafür aber dies: «Ganz Juda und Israel wohnten sicher, ein jeder unter seinem Weinstock und unter seinem Feigenbaum, von Dan bis Beerscheba» (1Kön 5,5). Salomo ist es denn auch, der für Jhwh in Jerusalem einen Tempel bauen darf. Das beträchtlich grosse Reich, das David unter Anwendung von viel militärischer Gewalt aufgebaut haben soll, bröckelt schon unter Salomo an den Rändern ab (1Kön 11,14–25). Und sofort nach dessen Tod fällt das Kernland in seine zuvor in Personalunion verbundenen Teile Juda und Israel auseinander (1Kön 12). Die beiden Kleinkönigtümer müssen sich nun zurechtfinden im politischen Kräftefeld Syrien-Palästinas. Viel Energie verwenden sie zunächst darauf, sich gegenseitig zu bekämpfen, wobei auf längere Sicht die Judäer den Kürzeren gezogen zu haben scheinen (1Kön 14f). Doch alsbald rückt ein anderes Problem in den Vordergrund: der mit zunehmendem Nachdruck vorgebrachte Hegemonialanspruch von Aram-Damaskus und der dahinter sich aufbauende Grossmachtanspruch von Assur. Das 9. und das 8. Jahrhundert v. Chr. brachte sowohl Israel als auch Juda viel mehr Kriegsleid als Kriegsglück. Die israelitische Dynastie der Omriden war noch stark und weitsichtig genug, im Zweckbündnis mit den Aramäern den expandierenden Assyrern in der Schlacht bei Qarqar (853 v. Chr.) entgegenzutreten. Doch die Nachfolgedynastie der Nimschiden warf das Steuer herum, schlug sich auf die Seite der Assyrer – und provozierte damit wütende Angriffe der Aramäer, deren Schrecken in der Bibel mehrfach widerhallt. Auch die ostjordanischen Moabiter nutzten die Gelegenheit und revanchierten sich für die ihnen von den Omriden (und schon von David) zugefügten Demütigungen. Das volle Grauen des Krieges brach über Israel und dann auch Juda herein, als die assyrischen Heere die aramäische Barriere überrannt hatten
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und von Syrien nach Palästina und weiter bis nach Ägypten strömten. Von ihrer grausamen Kriegführung und ihrem unaufhaltsamen Vorrücken künden nicht nur ihre eigenen Königsinschriften und -annalen, sondern auch die archäologisch nachweisbaren Spuren der Verwüstung, die sie hinterlassen haben, und nicht zuletzt die Hebräische Bibel in vielfachen Reflexen. Zwei Texte aus dem Jesajabuch mögen veranschaulichen, wie ein aufmerksamer Beobachter damals diese Walze auf Juda hat zukommen sehen. Der erste beschreibt die offenbar schier unbesiegliche assyrische Armee, der zweite den unersättlichen Expansionsdrang und das unerhörte Selbstbewusstsein der assyrischen Herrscher: «Kein Müder, kein Strauchelnder in ihm [dem assyrischen Kriegsvolk], nicht schläft noch schlummert es; keinem geht auf der Gurt seiner Lenden, keinem zerreisst der Riemen seiner Schuhe Seine Pfeile sind geschärft und alle seine Bogen gespannt; die Hufe seiner Rosse sind wie Kiesel zu achten und seine Wagenräder wie der Sturmwind. Sein Brüllen ist wie das der Löwin es brüllt wie junge Löwen und knurrt, packt den Raub und schleppt ihn fort und niemand rettet» (Jes 5,27–29). «Durch die Kraft meiner Hand habe ich es getan und durch meine Weisheit, denn ich bin klug. Ich beseitigte die Grenzen von Völkern und plünderte ihre Vorräte. Es fand meine Hand wie ein Nest den Reichtum der Völker, und wie man verlassene Eier einsammelt, habe ich die ganze Erde gefunden – da war keiner, der mit dem Flügel flatterte und den Schnabel aufsperrte und piepte» (Jes 10,13f).
Das Königreich Israel wurde, nachdem es zweimal einer Kriegsallianz gegen Assyrien beigetreten und zweimal mit ihr besiegt worden war, im Jahr 722 v. Chr. von der Landkarte getilgt. Es gab Hekatomben von Toten, die Hauptstadt Samaria wurde geschleift, die israelitische Oberschicht wurde in aller Herren Länder verschleppt, das ehemalige Staatsgebiet war fortan assyrisches Provinzgebiet. Juda war zu diesem Zeitpunkt bereits Vasall Assyriens. Gelegentlich spürte es die Versuchung, sich der unerwünschten Herren zu entledigen, hielt sich aber noch zurück. Als im Jahr 705 v. Chr. Sargon II., ein besonders kraftvoller und erfolgreicher Herrscher, starb, gab es kein Halten mehr. König Hiskija beteiligte sich führend am Aufbau eines
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breiten antiassyrischen Bündnisses unter Einschluss Ägyptens. Als Assur jahrelang nicht reagierte, mochten Optimisten glauben, man habe den Löwen gebändigt oder ihm doch wenigstens einen Teil seines Jagdgebietes entwunden. Es waren aber lediglich Thronwirren in der assyrischen Hauptstadt, die an den Rändern des Reichs für eine kurze Atempause gesorgt hatten. Dann, im Jahr 701, kam der neue Herrscher, Sanherib – und er kam mit Macht. Reihenweise unterwarfen sich ihm die Abtrünnigen, das Widerstand leistende Juda wurde besetzt, die letzte grosse Festung vor Jerusalem, Lachisch, fiel, und bald war Hiskija in seiner Hauptstadt «eingeschlossen gleich einem Käfigvogel» (so die Eigenaussage des Assyrerkönigs). Wieder kann ein Jesajatext die Situation veranschaulichen: «Wohin wollt ihr noch geschlagen werden, dass ihr den Abfall fortsetzt? Das ganze Haupt ist krank das ganze Herz siech. Von der Fusssohle bis zum Haupt gibt es nichts Heiles an ihm. Beule und Strieme und frische Wunde, nicht ausgedrückt und nicht verbunden und nicht mit Öl gelindert. Euer Land: eine Wüste. Eure Städte: verbrannt mit Feuer. Euer Ackerland euch gegenüber: Fremde zehren es auf. Und übrig geblieben ist die Tochter Zion wie eine Hütte im Weinberg, wie eine Nachthütte im Gurkenfeld – wie eine eingeschnürte Stadt!» (Jes 1,5–8)
Aus einem solchen Text spricht Kriegsleid. Und die andere Seite war stolz auf ihre Kriegsmacht, ja rühmte sich ihrer Grausamkeit. Es wird kaum je zu klären sein, warum Jerusalem im Jahr 701 nicht erobert und zerstört wurde. Die Tatsache allein jedoch, dass dies nicht geschah, trug dazu bei, dass sich um die Stadt eine Aura göttlicher Präsenz und militärischer Unantastbarkeit legte. Sie gewinnt Ausdruck in dem Psalm, den Luther in seinem Choral «Ein feste Burg ist unser Gott» nachdichtete: «Gott ist in ihrer Mitte – so wankt sie nicht; es hilft ihr Gott, wenn der Morgen naht. Völker tobten, Königreiche wankten – er erhob seine Stimme, und die Erde bebte. Jhwh Zebaot ist mit uns, unser Schutz ist der Gott Jakobs» (Ps 46,6–8).
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So beeindruckend solche Zuversicht ist, sie könnte auch in falsche Sicherheit wiegen (und hat das vermutlich getan). Vorerst blieb Jerusalem und Juda Kriegsnot freilich erspart. Diesen Vorzug wenigstens hatten die absolute militärische Überlegenheit Assurs und die absolute Assur-Treue des Königs Manasse (696–641). Doch dann brach das assyrische Imperium – wenige Jahrzehnte, nachdem es mit der Eroberung Ägyptens 669 v. Chr. den Zenit
Eroberung einer Stadt durch die Assyrer; Tötung von Gefangenen. Relief aus Nimrud, Zentralpalast des Tiglatpileser III (745–727 v.Chr.).
seiner Macht erklommen hatte – urplötzlich in sich zusammen. Und plötzlich hatte der Krieg neue Konjunktur. Die Babylonier wollten mit Gewalt die Assyrer beerben, die Ägypter genau das verhindern, und das kleine Juda geriet fast unvermeidlich in die damit ausbrechenden Turbulenzen. König Joschija (639–609), für viele Menschen in Juda ein Hoffnungsträger nach dem Ende der assyrischen Vorherrschaft (vgl. unten C.1.), fiel in einer Kriegshandlung gegen die Ägypter. Der von den Ägyptern eingesetzte Jojakim (609–598) wechselte mehrfach die Front: zuerst zu den Babyloniern, dann zurück zu den Ägyptern – womit er eine babylonische Strafaktion im Jahr 598/97 provozierte, die zur Deportation der Oberschicht und zur Dezimierung des Staatsgebietes Judas führte. Der von den Babyloniern eingesetzte Zidkija (598–587) blieb seinem Oberherrn, dem König Nebukadnezar (605–562), nur wenige Jahre treu und wechselte dann auf die ägyptische Seite. Damit war das Ende des Staates Juda besiegelt. Wieder brach schwerstes Kriegsleid über das kleine Land herein. Es wurde von babylonischen Truppen überschwemmt, die Hauptstadt drei Jahre lang erbarmungslos belagert, schliesslich erstürmt und dem Erdboden gleich gemacht. Ungezählte Menschen verloren das Leben, die Überlebenden fristeten teils im Exil, zum grösseren Teil im Land ein hartes Dasein. Möglicherweise hat zur riskanten Kriegspolitik der letzten Könige Judas jene Vorstellung von Jerusalems Unverletzlichkeit beigetragen.
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Das Leiden unter den Schrecken des Krieges, unter Besetzung, Belagerung, Eroberung und Verschleppung, hat den Menschen in Juda furchtbar zugesetzt. Im Buch der Klagelieder wie im Psalter finden sich erschütternde Klagen über schier unvorstellbare Geschehnisse (Klgl 1f; 3f; Ps 73; 89 u.ä.). Im besiegten, nun unter babylonischer Kontrolle stehenden Juda muss man sich eine Nachkriegszeit vorstellen: unter erschwerten Lebensbedingungen, aber immerhin ohne weitere Kriegsgewalt. Wie seinerzeit die Pax Assyrica, so sorgte jetzt die Pax Babylonica für einigermassen ruhige äussere Verhältnisse – jedoch nicht lange. Schon 538 v. Chr. fiel dem Perserkönig Kyros Babylon in die Hände und damit die Nachfolge der babylonischen Grosskönige. Der Wechsel ging relativ undramatisch vonstatten, nach Juda jedenfalls sandte er keine kriegerischen Wellen. Die Perserzeit nun, die immerhin zwei Jahrhunderte anhielt, war für die bald eingerichtete Provinz Jehud und für die über das Reich verteilte Judenschaft eine Zeit relativen Friedens bzw. des Nicht-Krieges. Erst das Vorrücken der griechischen bzw. makedonischen Heere in der und nach der Zeit Alexanders d. Gr. stürzte den Vorderen Orient wieder in kriegerische Turbulenzen. Es scheint, dass diese einen Widerhall finden in dem grossen Interesse, das die Verfasser der biblischen Chronikbücher für Krieg und Kriegführung entwickeln. Scheinbar schreiben sie von der Vergangenheit, nämlich der staatlichen Zeit Israels und vor allem Judas, im Blick aber haben sie eine wiederum unruhige und von Kriegen geschüttelte Gegenwart. Deutlich erwarten sie dabei wenig von eigener Kriegskunst und Kriegstüchtigkeit, viel dagegen von der rechten, gläubigen Einstellung zu Jhwh und alles von dessen Hilfe: Wie in der Vergangenheit, so wird er auch in Gegenwart und Zukunft sein Volk nicht untergehen lassen, mögen die Feinde mit noch so gewaltigen Armeen daherkommen. Das Danielbuch schliesslich ist in seiner Endfassung zur Zeit der Makkabäerkriege entstanden, in denen sich Juda von der Seleukidenherrschaft zu befreien vermochte. Doch anders als in den (deuterokanonischen) Makkabäerbüchern gewinnt die Kriegsgewalt im Danielbuch nur noch symbolhafte Gestalt: in gewaltigen Herrscherstatuen und in gewalttätigen Riesenbestien, denen die Menschen hilflos ausgeliefert scheinen, die aber in einem Endzeitdrama von Gott entmächtigt werden (Dan 2; 7). Was Menschen dazu (etwa durch Gewaltanwendung) beizutragen vermögen, kann allenfalls als «kleine Hilfe» gelten (Dan 11,34). Das Alte Testament weiss und erzählt viel über kriegerische Gewalt. Relativ selten indes – und vor allem in der Rückschau auf die früheste Zeit Israels – redet es vom Krieg mit spürbarer Zustimmung. Damals war er nötig und gerechtfertigt, doch damals gehorchte er auch noch anderen Gesetzen als denen der Militärs. Je unmittelbarer die Texte reale Kriege spiegeln, mit ihren durch militärische und politische «Notwendigkeiten» bestimmten Gründen, Abläufen und Folgen, desto distanzierter ist die Art des Berichtens. Hinzu kommt, dass
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Israel und Juda zunehmend in eine politisch-militärische Grosswetterlage gerieten, in der eigene Kriegsmacht und Kriegskunst nicht viel auszurichten vermochten. Man wurde von den Kriegen mehr überrollt, als dass man sie führte. Der faktische Verlauf der Geschichte Israels liess das Alte Testament zu einem zwar an Kriegsschilderungen sehr reichen, an Kriegsbegeisterung aber recht armen Buch werden. Wäre aus der israelitischen Staatenbildung ein
Massaker assyrischer Soldaten an Beduinen. Auszug aus den Araberkampfreliefs. Ninive, Nordpalast, Raum L; aus der Zeit Assurbanipals (668–627 v.Chr.).
Pharaonen- oder ein Assyrerreich von langer Lebensdauer hervorgegangen, wäre das möglicherweise anders. Das aber geschah nicht – darf man sagen: dei providentia (aus weiser Voraussicht Gottes)? Denn dann hätte das Alte Testament viel weniger beizutragen gehabt zur Frage, wie sich Gewalt – auch kriegerische Gewalt – überwinden lässt. Literatur
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
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Abbildungen
Eroberung einer Stadt: O. KEEL, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, Abb. 132. © Vandenhoeck & Ruprecht. Massaker an Beduinen: O. KEEL / M. KÜCHLER / CH. UEHLINGER (HRSG.), Orte und Landschaften der Bibel. Bd. 1: Geographisch-geschichtliche Landeskunde. Einsiedeln / Zürich / Köln / Göttingen 1984, Abb. 105. © Vandenhoeck & Ruprecht.
WD 2. Eine besondere Facette: Davids Kriege Den ersten Königen Israels, Saul und David, schreibt die Bibel eine ganze Reihe mehr oder weniger erfolgreich geführter Kriege zu. Anscheinend hatte sich das neue Königreich gegen missgünstige oder besorgte Nachbarn auch mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Die in den einschlägigen Erzählungen und Aufzählungen der Samuelbücher genannten Völker beschreiben einen fast vollständigen Kreis um Palästina herum: die Aramäer im Nordosten, die Ammoniter, Moabiter und Edomiter im Osten, die Amalekiter und andere Nomadenstämme im Süden, die Philister im Südwesten. Einzig die Phönizier im Nordwesten fehlen. Davids Karriere soll ihren Anfang damit genommen haben, dass er Waffenträger des Königs Saul wurde (1Sam 16,14–23), den Philisterriesen Goliat tötete (1Sam 17), als Truppenführer in Sauls Heer vor allem die Philister
2. Davids Kriege
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erfolgreich bekämpfte (1Sam 18), dann aber von Saul verfolgt und vertrieben wurde und sich im südlichen Juda und am Ende gar bei den Philistern als eine Art Warlord durchschlug (1Sam 23–27; 29f; vgl. auch unten E.2), bis er nach Sauls Tod und nach blutigen Auseinandersetzungen mit dessen Nachfolger Eschbaal zum König zuerst über Juda und dann über Israel und Jerusalem (2Sam 2; 5) aufstieg. Seine Kriege und Siege als König sind in einer Erzählung (2Sam 10,1–19; 12,26–31) und in einer Auflistung (2Sam 8) geschildert. Sie werden im Folgenden in der Form eines fingierten Zeitungsberichtes wiedergegeben. Jerusalem. Erneut hat sich die Hoffnung auf Frieden im Gebiet Palästinas zerschlagen. Bei heftigen Kämpfen zwischen den israelitischen Truppen und den verbündeten Ammonitern und Aramäern wurden auf der gegnerischen Seite 700 Streitwagen vernichtet und 40 000 Soldaten getötet. Auch der feindliche Heerführer kam ums Leben. Auslöser des Konflikts war eine gescheiterte diplomatische Bemühung König Davids. Nach dem Tod des Ammoniterkönigs Nahasch schickte er von Jerusalem aus eine staatliche Delegation nach Rabbat-Ammon, um dem Sohn des Verstorbenen, Hanun, Beileidsbezeugungen überbringen zu lassen. Dieser jedoch witterte, beraten durch seine Fürsten, in der Handlung einen Spionageakt und liess den Gesandten Bärte und Kleider zur Hälfte abschneiden; eine Demütigung sondergleichen. Als der israelitische König davon erfuhr, gebot er den Geschändeten, vorerst in der Grenzstadt Jericho zu verbleiben. Die Ammoniter, inzwischen unterrichtet über den Zorn des israelitischen Königs, warben die Aramäer als Kriegsgehilfen an, die Israeliten ihrerseits boten ihre Truppen ebenfalls auf. Durch eine taktisch geschickte Aufteilung des Heeres in zwei Abteilungen gelang bei einem ersten Zusammenstoss ein doppelter Sieg über die Feinde. Nachdem sich diese neu organisiert hatten, kam es in Helam zur verheerenden Schlacht, die Davids Truppen für sich entschieden. Jhwh half David überall, wohin er ging. Dieser Zusammenstoss war nur der Abschluss eines lang anhaltenden Konflikts. Bereits der Vorgänger-König, Saul, trug schon vor seiner Krönung ein Gefecht mit den Männern des Nahasch aus (wir berichteten darüber in 1Sam 11). Auch unter König David konnte die Feindschaft nicht beigelegt werden. Überhaupt hatte dieser noch einige militärische Probleme zu Ende zu führen, die Saul noch nicht hatte erledigen können. Zuerst entledigte sich David der Herrschaft der Philister. Anschliessend bekämpfte er die Moabiter, vernichtete zwei Drittel ihrer wehrfähigen Mannschaft und machte ihr Land tributpflichtig. Weitere Unruhen folgten, als der Herrscher des aramäischen Königtums Zoba, Hadadeser, seine Herrschaft zum Euphrat hin ausdehnen wollte. König David zog gegen ihn zu Felde, nahm 1700 Reiter und 20 000 Mann Fussvolk gefangen und liess nur 100 Streitwagen unversehrt übrig. Nun wollten die übrigen Aramäer-Könige Hadadeser zu Hilfe eilen. Der israelitische König erschlug von ihren Truppen 22 000 Mann und machte ihre Länder tributpflichtig. Nach den Kriegshandlungen schafften die Israeliten eine Unmenge an Gold und Kupfer als Kriegsreparation nach Hause. Auf dem Rückweg erschlugen sie ausserdem 18 000 Edomiter und machten den Rest zu tributpflichtigen Untertanen. Jhwh half David überall, wohin er ging.
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B.V. Gewalt zwischen Völkern Soweit der Bericht nach israelitischen Quellen. Die Gegenparteien haben den Verlauf der Gefechte sowie die Anzahl der Gefangenen und der Todesopfer bis Redaktionsschluss weder bestätigt noch dementiert. Es ist anzunehmen, dass es bei einer Berichterstattung von nichtisraelitischer Seite Akzentverschiebungen hinsichtlich der Gründe für die Kriege und des Gefechtverlaufs geben würde. Wahrscheinlich müsste ebenso die Zahl der Todesopfer und Kriegsgefangenen korrigiert werden, zumal zu befürchten ist, dass es – entgegen dem vorliegenden Bericht – auch auf israelitischer Seite Opfer zu beklagen gibt.
Die biblischen Berichte werten die von David offenbar angewandte militärische Gewalt nicht direkt. Zweimal (in 2Sam 8,6 und 8,14) steht aber zu lesen, Jhwh habe David bei seinen kriegerischen Unternehmungen unterstützt, und in 8,13 heisst es, David habe sich mit seinen kriegerischen Erfolgen «einen Namen gemacht». Aus diesen Sätzen kann man indirekt eine positive Bewertung der Gewalt herauslesen. Allerdings kann diese positive Einschätzung sich auch auf die erreichte Endsituation beziehen, nicht auf die Gewalthandlungen selbst. Was sollen wir zu den Texten denken? Wir sind vertraut mit Berichten über Kriege. Sie gehören zu den täglichen Informationen, die uns überfluten. Wir beachten sie längst nicht mehr alle, sie lassen uns in unserem geschützten Umfeld oftmals kalt. Das ist anders (oder sollte anders sein), wenn wir solche Berichte in der Bibel finden und wenn diese Gott in das geschilderte Geschehen hineinziehen. Plötzlich erscheint dann Gott auf der Seite von Kriegstreibern. Was, wenn dies nicht unsere Seite ist? Was, wenn die Grausamkeiten, die Menschen einander antun, von Gott gefördert oder verlangt würden? Die Einschätzung derartiger Texte hat unweigerlich Auswirkungen auf das Gottesbild, und umgekehrt beeinflusst das Gottesbild die Haltung gegenüber den Texten: Je heiliger der Text erscheint, desto mehr hat man sich wohl oder übel und konsequenterweise mit einem Gott abzufinden, der auch eine blutige Seite hat, der es nicht mit allen Menschen gut meint. Wer andererseits an einen Gott der Liebe glauben will, wird solche Texte zwangsläufig als sehr menschlich und wenig göttlich einschätzen. Gibt es einen gangbaren Ausweg aus diesem Entweder-Oder? Literatur
W. DIETRICH, Die frühe Königszeit in Israel. 10. Jahrhundert v. Chr., Stuttgart 1997 (BibEn 3). – B. HALPERN, Davidʼs Secret Demons. Messiah, Murderer, Traitor, King, Grand Rapids MI / Cambridge UK 2001. – U. HÜBNER. Die Ammoniter. Untersuchungen zur Geschichte, Kultur und Religion eines transjordanischen Volkes, Wiesbaden 1992 (ADPV 16). – H.J. HOERTH / G.L. MATTINGLY / E.M. YAMAUCHI (Hrsg.), Peoples of the Old Testament World, Cambridge UK / Grand Rapids MI 1994.
AB
3. Kriegerisches im Neuen Testament
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3. Kriegerisches im Neuen Testament «Krieg» wird allgemeinhin als ein Thema betrachtet, das für das Alte Testament charakteristisch ist. Bei genauerem Hinsehen mag es daher überraschen, wie häufig die neutestamentlichen Autoren auf Krieg und kriegerische Zusammenhänge zu sprechen kommen. Die Realität, die sich darin widerspiegelt, ist geprägt von teils traumatischen Erinnerungen und Erfahrungen rund um den Krieg, der Präsenz des Militärs im Alltag und der Allgegenwart kriegerischer Metaphern und Bildfelder in der Alltagssprache. 3.1. Erinnerung an die Kriegshelden Am Ende einer langen Liste von Glaubenshelden und -heldinnen in Hebr 11 fügt der Autor noch einen recht allgemein gehaltenen «Siegerkatalog» an: «(32) Und was soll ich noch sagen? Es würde mir an der Zeit fehlen, (im einzelnen) zu erzählen von Gideon, Barak, Simson, Jiftach, David und Samuel und den Propheten, (33) die durch Glauben Königreiche zwangen (katêgônisanto basileias), Gerechtigkeit übten, in den Besitz von Verheissungsgütern gelangten, Löwenrachen verstopften, (34) Feuersgewalt auslöschten, dem zweischneidigen Schwert entrannen, aus Schwachheit zu Kraft kamen, stark im Krieg wurden (ischyroi en polemô), gegnerische Schlachtreichen zum Wanken brachten (parembolas eklinan allotriôn).»79
Zu den «Leistungen» des Glaubens gehört zuletzt auch der Krieg. Ausgedrückt in präziser militärischer Fachterminologie, werden die in Schlachtordnung aufgestellten Soldaten (parambolê) der Fremdvölker (hoi allotrioi) zu Fall gebracht bzw. in die Flucht geschlagen (klinein). Dies ist der einzige positive Hinweis im Neuen Testament auf den sog. «Heiligen Krieg» (s.o. B.V.1.). Die Selbstverständlichkeit, mit der ein neutestamentlicher Autor Kriegshelden als Glaubensvorbilder feiert, stellt in der Tat ein Problem in der frühchristlichen Wahrnehmung des Krieges dar. Man wird wohl sagen können, dass diese Sentenz «nicht den ‹Krieg› als solchen, sondern das in ihm bewiesene Starksein» verherrliche, ja dass es nicht um die «kriegerische Leistung», sondern um den Glauben der Zeugen, um die im Krieg «bewiesene Haltung der Standhaftigkeit und Treue zu Gottes Verheissungen gemäss 10,39» geht80. Dennoch gehört es zu den Begründungsmustern kriegerischer Handlungen, dass sich vermeintlich darin der «wahre Charakter» eines Mannes zeige. Auch der Hinweis, dass es aus damaliger Sicht «um den Kampf des heiligen Volkes des Höchsten mit der widergöttlichen Weltmacht» ging und dass daher «eine bloss säkulare Wertung […] den Aussagewillen der Texte verfehlen» würde81, läuft Gefahr, den 79
Übers. Grässer, Hebräer, 186f. Grässer, Hebräer, 201f. 81 Grässer, Hebräer, 202. 80
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
gefährlichen Zusammenhang zwischen Erwählungsbewusstsein und Gewalt zu verschleiern. Insgesamt scheint mir Hebr 11,34 näher der Makkabäerliteratur und manchen Qumrantexten (v.a. die Kriegsrolle 1QM) zu stehen als der Jesustradition. Ich schliesse mich dem Fazit von Otto Bauernfeind an: «Diese Beiläufigkeit und das sonst durchgehende Schweigen über diese Kriege kann nur so verstanden werden, dass der Gedanke an ein Wiederaufleben der heiligen Kriege, die Berechtigung zur Durchführung neuer heiliger Kriege seitens der Teilhaber am Neuen Bund dem gesamten Neuen Testament einschließlich der Apokalypse völlig fernliegt.»82
3.2. Das Militär in neutestamentlichen Erzählungen83 In den neutestamentlichen Erzählungen treten Soldaten zumeist in Konfliktzusammenhängen als «Ordnungshüter» auf. Sie sind die Exekutive staatlicher Macht. Die moralische Bewertung ihres Auftretens hängt meist davon ab, in wessen Namen und mit welchem Auftrag sie handeln. Eine mit dem Soldatenstand an sich verbundene Abwertung ist dem Neuen Testament nicht zu entnehmen. Dabei gilt es einen wichtigen Unterschied zum heutigen Militär zu bedenken: Während wir heute klar unterscheiden zwischen Militär und Polizei, erfüllte das Militär in der Antike zugleich auch Polizeiaufgaben und war daher auch für die Erhaltung eines gewissen Masses an gesellschaftlicher Stabilität zuständig84. a) In einem negativen Licht erscheinen Soldaten immer dann, wenn sie im Auftrag eines schlechten Herrschers den Unschuldigen Gewalt antun. Diese Rolle erfüllen z.B. die Soldaten (nicht nur römische, sondern z.T. auch jüdisches Tempelwachpersonal) in der Passion Jesu, die als bewaffnetes Ausführungsorgan des Statthalters Jesus festnehmen (Joh 18,3)85, ins Prätorium verschleppen (Mk 15,16 // Mt 27,27), ihn verhören, foltern und verspotten (Lk 23,11.36; Joh 19,2). Die Soldaten am Grab Jesu spielen eine ähnliche Rolle (Mt 28,12). Die Apostelgeschichte erwähnt häufig Soldaten, die zum Schaden der jungen Gemeinde handeln: Der Hauptmann des Jerusalemer Tempels (4,1; 5,24: stratêgos tou hierou) nimmt die Apostel Petrus und Johannes gefangen86, König Herodes lässt durch seine Soldaten Petrus festnehmen und bewachen (12,4.6; vgl. V. 18), die Verwalter der römischen Kolonie Philippi 82
Bauernfeind, polemos, 514/33–37. Vgl. zum historischen Hintergrund Saddington, Roman Military. 84 Vgl. ausführlich Nippel, Aufruhr; etwas knapper: Ders., Public Order; und zusammengefasst in seinem Artikel zu Polizei. 85 Laut Lk 22,4.52 handelt es sich um eine Art «Tempelpolizei» (vgl. Apg 4,1). 86 Die Popularität des neuen Glaubens ist im Volk mittlerweile so gross, dass polizeiliche Gewalt nur sehr vorsichtig angewandt wird: «Da ging der Hauptmann mit den Dienern hin und führte sie herbei, nicht mit Gewalt, denn sie fürchteten das Volk, sie könnten gesteinigt werden.» (5,26) 83
3. Kriegerisches im Neuen Testament
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(stratêgoi = Prätoren) lassen Paulus und Silas durch ihre «Bodyguards» (die mit Rutenbündel und Beil ausgestatteten Liktoren) schlagen und ins Gefängnis werfen (16,20–23.35–39). b) Neutraler ist die Rolle der Soldaten und Hauptleute (21,32: stratiôtas kai hekatontarchas), die Paulus zunächst festnehmen, ihn aber dann vor einem lynchwütigen Mob retten (21,35; 23,10.27; vgl. auch 23,17–22). Als sie erfahren, dass Paulus römischer Bürger ist (22,23–29), wird er unter Bewachung nach Cäsarea zum Sitz des Statthalters der Provinz Judäa gebracht (23,23.31) und dort in Gewahrsam genommen (24,22–23). Später als Gefangener auf dem Weg nach Rom wird Paulus von Soldaten bewacht (27,1.6.11.31–32). Das Vorhaben der Soldaten, nach dem Schiffbruch ihre Gefangenen zu töten, wird vom Hauptmann vereitelt (27,42–43). In Rom steht Paulus während seines «Hausarrests» ein Soldat zur Seite (28,16). c) Daneben finden wir auch Vertreter des Soldatenstands, die eine exemplarische Funktion erfüllen: Der Hauptmann (kenturiôn) am Kreuz Jesu (Mk 15,39.44–45; Mt 27,54; Lk 23,47), der die Urteilsvollstreckung zu überwachen hat, bildet einen Kontrast zur Gewalt der Soldaten beim Verhör. In allen Evangelien kommt ihm insofern eine Schlüsselrolle zu, weil durch sein Bekenntnis die besondere theologische Schwerpunktsetzung der synoptischen Passionserzählungen zum Ausdruck gebracht wird. Der Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5–13 // Lk 7,1–10), der als Centurio (hekatontarchos/ês) eine Abteilung von hundert Männern (1/60 einer römischen Legion) befehligte, wird von Jesus als Vorbild des Glaubens gerühmt (Mt 8,10). Ein Vergleich aus den alltäglichen Abläufen des Heerlebens dient hier als Ausdruck seines Glaubens: «Denn auch ich bin ein Mensch unter Befehlsgewalt (hypo exousian) und habe Soldaten unter mir (hypʼ emauton stratiôtas); und ich sage zu diesem: Geh hin! und er geht; und zu einem anderen: Komm! und er kommt; und zu meinem Knecht: Tue dies! und er tutʼs.» (Mt 8,9 // Lk 7,8)
Die militärische Befehlskette wird hier zur Analogie für die Vollmacht zum Heilen, die der Glaube in Jesus erblickt. Lk 7,3–5 hebt die Wohltätigkeit und Beliebtheit des Nicht-Juden hervor und weist damit voraus auf einen weiteren wichtigen Hauptmann seiner zweibändigen Erzählung: den Hauptmann (hekatontarchês) Kornelius, der nach der Erzählung in Apg 10 der erste nichtjüdische Christ ist87. Er befehligt in Cäsarea eine Abteilung, «die die Italische genannt wurde» (10,1) und wird vom Erzähler wie folgt charakterisiert: «Er war fromm und gottesfürchtig (eusebês kai phoboumenos ton theon) mit 87
Untergassmair, hekatonarchês, 984, vermutet, dass der in beiden Fällen konstatierte Kontakt mit der jüdischen Umgebung impliziere, dass beide im Verwaltungsbereich tätig waren.
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
seinem ganzen Haus und gab dem Volk viele Almosen und betete immer zu Gott.» (10,2) Nach einer Engelserscheinung schickt er zwei Knechte und einen «frommen Soldaten von denen, die ihm dienten (stratiôtên eusebê tôn proskarterountôn)» nach Joppe (10,7). In all diesen Texten ist eine explizite Ablehnung des Soldaten- bzw. Polizeidienstes nicht erkennbar. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Anweisung des Täufers an eine Gruppe Soldaten: «Es fragten ihn aber auch Kriegsleute (strateuomenoi) und sprachen: Was sollen auch wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemand Gewalt (mêdena diaseisête), und erpresst niemanden (mêde sykophantêsête), und begnügt euch mit eurem Sold (askeisthe tois opsôniois hymôn).» (Lk 3,14)
Die Verkündigung des Täufers in Lk 3,7–18 zielt vor allem auf die praktische Busse im Horizont des nahen Zorngerichts Gottes (3,7–9). Wie solche «der Busse würdigen Früchte» (V. 8) aussehen sollen, beantwortet eine lukanische Sondertradition (V. 10–14). Auf die Frage der Menge «Was sollen wir denn tun?» (V. 10) antwortet Johannes: «Wer zwei Unterkleider hat, teile mit dem, der keines hat; und wer Speise hat, tue ebenso.» (V. 11) Im Anschluss daran erscheinen noch zwei Gruppen mit Fragen: «Es kamen aber auch Zöllner, um getauft zu werden; und sie sprachen zu ihm: Lehrer, was sollen wir tun? Er aber sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch bestimmt ist.» (3,12f)
Schliesslich fragen einige Kriegsleute: «Und wir, was sollen wir tun?» (3,14a) Diese «Soldaten» sind wohl eher nicht als Repräsentanten der römischen Besatzungsmacht zu betrachten. Im Zusammenhang mit den Zöllnern (beachte kai hymeis = «auch wir» in Vers 14a) wäre vielleicht an eine Art jüdische «Polizei» im Dienste von Herodes Antipas, die zugleich den Zöllnern bei ihrer Arbeit zur Seite stand, zu denken. Die beiden Verben diaseiô und sukopsanteô sind schwer voneinander zu unterscheiden88. Wahrscheinlich ist daran zu denken, dass Soldaten kraft ihrer Waffengewalt falsche Anklagen gegen Einzelne vorbringen und sich dann durch Bestechung vom Strafvollzug abhalten lassen konnten89. Ferner sollen sie zufrieden sein (arkeô) mit ihrem «Sold»90. Zufriedenheit ist wohl die Kehrseite der negativen Haltung, sich durch Zwang und Erpressung 88
Bauer / Aland, Wörterbuch, geben als deutsche Entsprechung «schütteln, misshandeln (um Geld zu erpressen)» und «falsch anklagen, schikanieren, drangsalieren, erpressen» an. 89 Das Verb sykopsanteô erscheint auch in der Rede des reuigen Zachäus: «Siehe, Herr, die Hälfte meiner Güter gebe ich den Armen, und wenn ich von jemand etwas durch falsche Anklage genommen habe (esykopsantêsa), so erstatte ich es vierfach.» (Lk 19,8) 90 Das Substantiv opsônion kann «Ration» oder «Lohn» bedeuten.
3. Kriegerisches im Neuen Testament
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Sondereinnahmen verschaffen zu wollen91. Eine ähnliche Anweisung gibt der Feldherr und Historiker Josephus seinen Soldaten: «Als ich unter sie trat und zu ihnen zu reden begann, akklamierten sie mir alle, ich sei ‹Wohltäter› und ‹Retter› ihres Landes. Ich bekundete ihnen meinen Dank und redete ihnen zu, niemanden anzugreifen noch sich durch Plünderung die Hände zu beflecken, sondern in der Ebene ihre Zelte aufzuschlagen und sich an der eigenen Verpflegung genügen zu lassen; ich wolle nämlich, sagte ich, die Unruhen ohne Blutvergiessen beilegen.»92
Der Täufer steht zwar ausserhalb der Gesellschaft, aber er ruft (ähnlich wie die Propheten Israels) nicht dazu auf, gesellschaftliche Verhältnisse auf den Kopf zu stellen oder sich völlig aus dem Leben zurückzuziehen. Seine ethische Unterweisung zielt vielmehr auf die soziale Beziehungsfähigkeit von Menschen93. Johannes lehnt den Soldatenstand als solchen nicht ab, sondern warnt lediglich vor Machtmissbrauch. Weiterführende ethische Konsequenzen sind jedoch daraus nicht zu ziehen. 3.3. Militärische Sprache Die neutestamentliche Sprache ist an vielen Stellen von der Welt des Krieges geprägt (s.o. A.3.2.). a) Militärische Bilder: Paulus spricht im übertragenen Sinne von «Waffen» (hopla: 2Kor 10,4), konkret «Waffen des Lichts» (Röm 13,12) oder «der Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit» (Röm 6,13; 2Kor 6,7). Gemeint sind konkrete Handlungen (in Röm 13,12 daher als Gegenteil zu «Werke der Finsternis»). Christen und Christinnen sollen ferner «den Brustpanzer des Glaubens und der Liebe und als Helm die Hoffnung des Heils» anziehen (1Thess 5,8). Sie sollen wachen, fest stehen, mannhaft und stark sein (1Kor 16,13; vgl. Phil 1,27) und den gleichen Kampf wie Paulus kämpfen (Phil 1,30). In der Auseinandersetzung mit gegnerischen Missionaren in Korinth sieht sich Paulus in einen Kampf verwickelt, welcher nicht «mit den Waffen dieser Welt» geführt werden kann (2Kor 10,3–6). In der spätpaulinischen Tradition wird diese Terminologie ausgebaut: Timotheus soll im Glauben «den guten Kampf (strateia) kämpfen» als ein «guter Streiter Christi Jesu» (stratiôtês Christou Iêsou: 1Tim 1,18; 2Tim 2,1–6)94. Und schliesslich sollen alle Christen und Christinnen «die ganze Waffenrüstung Gottes (panoplian tou theou) anziehen, damit sie gegen die Tücken des Teufels bestehen können» (Eph 6,11–17; vgl. 1Petr 4,1)95. Die Allegorie überträgt einzelne Elemente der Rüstung des Fusssoldaten (mit 91
Vgl. Heidland, opsônion, 591/29–35. Vita, §244 (übers. Siegert). 93 Nolland, Luke, 149. 94 Vgl. Bauernfeind, strateuomai, 711f. 95 Vgl. Yoder Neufeld, Armour. 92
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
Schild, Schwert, Wurfspiess, Helm, Panzer und Beinschienen) auf den Kampf der Glaubenden für die Durchsetzung der Herrschaft des Schöpfers über die Welt (vgl. Eph 1,20–23). b) Die Realität des Krieges wird auch als Bezugsgrösse für Vergleiche verwendet. In den Gleichnissen Jesu – das wird nur selten wahrgenommen – wird mit militärischer Gewalt nicht gespart: Ein zorniger König sendet Truppen (strateumata) aus, bringt die Mörder seines Sohnes um und steckt die Stadt in Brand (Mt 22,7). Ein bewaffneter Mann bewacht so lange Hof und Besitz, bis ihn ein Stärkerer (ischyroteros) überwältigt, die Waffenrüstung (panoplian) an sich nimmt und seine Beute verteilt (Lk 11,21f). Auch für die Nachfolge benutzt Jesus einen militärischen Vergleich: Niemand zieht in den Krieg, ohne die eigene und die gegnerische Heeresstärke zu berechnen (Lk 14,28–32). Um für das Recht eines Missionars auf finanziellen Beistand zu argumentieren, verweist Paulus darauf, dass niemand auf eigenen Sold in den Krieg zieht (1Kor 9,7a: strateuomai; vgl. 2Tim 2,4)96. Ähnlich wie der undeutliche Ton der Posaune niemanden dazu bewegt, sich für den Kampf zu rüsten, bleibt die unübersetzte Zungenrede ohne erbaulichen Wert (1Kor 14,8). Die Auswertung dieses Befundes ist nicht einfach. Wir sollten nicht allzu schnell vom Wortgebrauch auf eine positive Bewertung des Krieges schliessen. Auch heutige Friedensaktivisten und -aktivistinnen führen kämpferische Rhetorik im Munde, ohne dass dadurch ihr Engagement bestritten werden könnte97. Eine Gedankenanregung aus 2Kor 10,1–7 möchte ich hier aufnehmen: Paulus reagiert in diesem Abschnitt auf Kritik gegen seine Person, nämlich dass er in den Briefen hart, im persönlichen Umgang jedoch allzu milde sei (10,1). Er kündigt nun an, dass er bei seinem nächsten Besuch kühn und unerschrocken auftreten wird, dass er kämpfen wird – aber nicht «mit den Waffen dieser Welt» (10,2f). Im Folgenden gebraucht Paulus das Bild eines Feldzugs (strateia), bei dem Festungen erobert, die Bewohner gefangen genommen und bestraft werden (10,3–6), enthebt ihn aber ausdrücklich der Ebene des Irdischen (10,4). Der bildliche Redegebrauch steht hier also in bewusstem Gegensatz zum wörtlichen Gebrauch. 3.4. Kriege der Endzeit Eine besondere und daher auch eigenständige Bedeutung hat die Sprache des Krieges in vielen Endzeitvisionen des Neuen Testaments. Gewiss ist ein Reich des Friedens und des Wohlstands die Zielvorstellung des frühchristlichen Erlösungsglaubens (s.u. C.5.). Doch Kriege spielen in diesem «Heilsdrama» in zwei Kontexten eine tragende Rolle, nämlich als Vorzeichen des Endes in 96
Der Weinbergbauer, der von seiner Frucht isst, und der Hirt, der Milch der Herde trinkt, sind weitere Beispiele dieser «Versorgungslogik» (1Kor 9,7b.c). 97 Besonders deutlich im «pazifistischen» Kampfruf «Krieg dem Krieg».
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Form von Kriegen zwischen den Nationen und als finale Schlacht des Messias gegen die Feinde Gottes. a) Kriege als Vorzeichen kommen v.a. in der synoptischen «Endzeitrede» vor, die von Mk 13 aus in Mt 24–25 und (stärker bearbeitet) in Lk 21 überliefert wird. Diese Rede entwickelt sich als «Antwort» auf die Frage der Jünger: «Wann wird dies sein und welches ist das Zeichen dafür, dass dies alles im Begriff ist sich zu vollenden?» (Mk 13,4; beinahe wörtlich in Lk 21,7) «Wann wird dies sein und welches ist das Zeichen für dein siegreiches Kommen (parousias) und für das Ende des Zeitalters?» (Mt 24,3b)
Die Frage nach dem Zeichen (Singular!), das die Wende von Unheils- zu Heilszeit ankündigt, ist charakteristisch für die apokalyptische Erwartungshaltung im Judentum des 1. Jhs. n. Chr. Seit der kryptischen Vorausschau des Danielbuches erfüllen Kriege eine solche Hinweisfunktion auf das baldige Ende: «Nach den zweiundsechzig Wochen aber wird der Gesalbte vernichtet werden, und nichts wird ihm bleiben. Und das Volk des Fürsten, der kommt, wird die Stadt und das Heiligtum vernichten. Und sein Ende kommt mit einer Flut, und bis zum Ende ist Krieg: beschlossene Verwüstungen.» (Dan 9,26, NZB)
Dass die Verknüpfung von Krieg und «Zeichen» der Wende derart ins Bewusstsein apokalyptischer Bildwelten eingehen konnte, zeigt, wie stark die Propheten und Seher von der sie umgebenden Kriegswirklichkeit geprägt waren. Anhand einiger Texte jüdischer «Apokalypsen» soll dieser Zusammenhang beleuchtet werden98: «In jenen Tagen geraten die Nationen in Aufruhr, und die Geschlechter der Nationen erheben sich am Tage der Vernichtung der Sünde.» (äthiop. Henochbuch 99,3–9) «Wenn in der Welt erscheinen Erschütterungen an (verschiedenen) Orten, Verwirrung unter den Völkern, Anschläge unter den Nationen, Unruhen unter den Führern, Verwirrung unter den Fürsten, dann wirst du erkennen, dass der Höchste darüber gesprochen hat seit den Tagen, die zuvor im Anfang gewesen sind.» (4. Esra 9,3–4) «Siehe, Tage werden kommen, da der Höchste die erlösen will, welche auf der Erde sind. Dann wird Entsetzen über die Erdenbewohner kommen. Sie werden danach trachten, Krieg gegeneinander zu führen, Stadt gegen Stadt, Ort gegen Ort, Volk gegen Volk und Reich gegen Reich. Wenn dies geschieht und die Zeichen eintreten, die ich dir früher verkündet habe, dann wird mein Sohn sich offenbaren, den du als den heraufsteigenden Mann gesehen hast.» (4. Esra 13,29–32) Eine regelrechte Abfolge von Schreckensereignissen listet die syrische BaruchApokalypse auf: «Und er antwortete und sprach zu mir: In zwölf Abschnitte ist jene Zeit geteilt; und jeglicher davon ist aufbewahrt für das, was für ihn vorgesehen ist. Im ersten Abschnitt tritt der Beginn der Unruhen ein. Im zweiten das Hinschlachten der Grossen (dieser Welt). Im dritten sinken viele in den Tod. Im vierten Abschnitt wird 98
Alle Übersetzungen stammen aus der Sammlung «Jüdische Schriften aus hellenistischrömischer Zeit» (JSHRZ).
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B.V. Gewalt zwischen Völkern das Schwert entsandt. Im fünften kommt die Hungersnot, und festgehalten wird der Regen. Im sechsten bebt die Erde, und Spaltungen reissen ein. Im achten Abschnitt: viele Gespenster und Zulauf von Dämonen. Im neunten Abschnitt fällt herab das Feuer. Im zehnten: Vergewaltigung und grosse Freveltat. Im elften Abschnitt: Unrecht und Exzess. Im zwölften dann: Unordnung von Vermischung alles dessen, was vorher genannt ist. Diese Zeitabschnitte werden (zunächst) vorbehalten werden; dann werden sie untereinander vermischt werden und einander helfen. Denn einige halten etwas vom Ihrigen zurück und nehmen (dafür) von anderen an; andere wiederum werden das Ihrige und was von anderen ist, vollstrecken. So sollen die Bewohner dieser Erde in jenen Tagen nicht bemerken, dass das Ende aller Zeiten gekommen sei.» (syrische Baruch-Apokalypse 27,1–15) Zum Teil wird der Krieg gegen das Volk Israel ausdrücklich als göttliche Strafe aufgefasst: «Und es wird eine grosse Plage sein über dem Werk dieses Geschlechts vom Herrn her. Und er wird sie an das Schwert geben und an die Strafe und an die Gefangenschaft und an die Plünderung und an das Aufgefressenwerden. Und er wird erwecken gegen sie die Sünder der Heidenvölker, die weder Barmherzigkeit noch Güte haben und die niemandes Person werten, weder den Alten noch den Jüngling, noch irgendjemanden. Denn sie sind böser und mächtiger als alle Menschenkinder, dass sie böse handeln. Und sie werden an Israel Gewalt tun und an Jakob Vergehen, und es wird viel Blut vergossen werden auf der Erde. Und es gibt keinen, der sammelt (die Toten) und keinen, der begräbt.» (Jubiläen 23,22–23)
Ganz im Rahmen dieser Vorstellungswelt bewegt sich auch die Offenbarung des Johannes: Die unzähligen Katastrophen, die ab Kap. 6 Erwähnung finden, stellen Krieg und Verwüstung als Zeichen des Endes in einen apokalyptischen Zusammenhang99. Nach diesem Schema muss die Geschichte, bevor sie ihr Ziel erreicht, durch eine leidvolle Verdichtung von Gewalt und Krieg. Hierbei zeichnen sich zwei Konzeptionen ab, um das Kriegschaos in einen Bezug zu Gott zu bringen: Entweder stachelt Gott Kriege unter nicht-jüdischen Gegnern an, um diese zu richten100, oder die Nationen führen Krieg gegen Israel als Zeichen göttlicher Strafe gegenüber seinem untreuen Volk101. Demgegenüber ist der synoptische Text durch einige Auffälligkeiten charakterisiert: Es geht nicht nur objektiv um aktuelle Kriege, sondern auch
99 Vgl. die Heere in 9,7–10.16 und den Krieg des «Tieres» und des Drachens gegen die Treuen in 11,7; 12,17; 13,4.7. Diesem Kampf auf Erden entspricht ein Krieg im Himmel zwischen Michael und dem Drachen/Satan (12,7). Vgl. zur Entsprechung von irdischem und himmlischem Kriegsgeschehen Collins, Daniel, 133–138. 100 Vgl. Jes 19,2: «Dann werde ich Ägypten gegen Ägypten aufstacheln, und jeder wird gegen seinen Bruder kämpfen und jeder gegen seinen Nächsten, Stadt gegen Stadt, Reich gegen Reich.» (NZB) 101 Vgl. Dan 7,21: «Ich schaute, und jenes Horn führte Krieg gegen die Heiligen, und es besiegte sie.» (NZB)
3. Kriegerisches im Neuen Testament
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um Kriegsgerüchte102. Die Glaubenden sollen aufgrund der Kriegsgerüchte nicht aufschrecken, denn diese bedeuten noch nicht das eigentliche Weltende (Mk 13,7 // Mt 24,6 // Lk 21,9). Damit werden Kriege als eindeutige Zeichen des Endes in Frage gestellt103. Eine wie auch immer geartete Beziehung dieser Kriege zu einem göttlichen Geschichtswillen wird mit keinem Wort nahegelegt. b) Die finale apokalyptische Schlacht ist ein Motiv, das vor allem in der Offenbarung des Johannes begegnet. Dass diese Vorstellung nahtlos an die der Kriegsvorzeichen anschliesst, macht ein Text aus der syrischen BaruchApokalypse deutlich: «(6) Dann wird es sein, wenn jene Dinge eingetreten sind, die man vorhergesagt hat, dass alle Menschen von Verwirrung überfallen werden. Und einige von ihnen fallen im Krieg, andere werden durch Trübsal umkommen, und wieder andere von ihnen werden von den Ihrigen behindert werden. (7) Der Höchste wird dann jenen Völkern, die er vorbereitet hat, ein Zeichen geben – sie kommen her und streiten mit den Herrschern, die dann noch übrig sind. (8) Und jeder, der sich aus dem Kriege rettet, wird durch Erdbeben sterben, und wer sich aus dem Beben retten kann, wird im Feuer verbrennen. Und wer sich aus dem Feuer rettet, der kommt durch Hunger um. (9) Und jeder, der sich rettet und allen diesen hier vorhergesagten Dingen dann entkommt – mag er nun Sieger oder Unterlegener sein – sie alle fallen in die Hände meines Knechtes, des Gesalbten. (10) Verschlingen wird die ganze Erde dann ihre Bewohner.» (syrBarApk 70,6–10)
Bezeichnenderweise ist die Christus-Vision am Anfang der JohannesApokalypse (1,12–18) bereits mit Militärsymbolik angereichert: In der Beschreibung des Gewands mischen sich Elemente priesterlicher und militärischer Kleidung104. Der militärische Kontext der ehernen Füsse und der rauschenden Stimme (15) ist nicht eindeutig. Das «zweischneidige, scharfe Schwert», das aus dem Mund des Menschensohns herausragt (16: rhomphaia), gehört jedoch klar zur militärischen Ausrüstung. Die Tatsache, dass das Schwert aus dem Mund ragt und nicht in der rechten Hand geführt wird, deutet jedoch eine Verfremdung auf der Sachebene an: Nicht die physische Gewalt, sondern die Kraft der Wortes steht im Zentrum. Das «Schwert des Mundes» steht in der Offb immer im Zusammenhang mit dem Zornesgericht und wird entsprechend von Gewaltbildern umgeben (vgl. 2,12.16; 19,15.21). 102
Vgl. Dan 11,44; syrische Baruch-Apokalypse 48,34: «Nachrichten werden viele sein, und nicht wenige Gerüchte und Phantasiegebilde werden sichtbar sein. Nicht wenige Verheissungen wird man sich erzählen, von denen einige eitel sind, die andern aber gehen in Erfüllung.» 103 Näher erscheint das Ende, wenn Jerusalem von Heerscharen (stratopedôn) umzingelt wird (Lk 21,20). 104 13b: «bekleidet mit einem bis zu den Füssen reichenden Gewand und an der Brust umgürtet mit einem goldenen Gürtel». Vgl. dazu Aune, Revelation I, 93f.
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
In Offb 16,14.16 wird erstmals das Motiv der zum Endkampf sich sammelnden gottfeindlichen Mächte gebraucht105. Auffällig ist die konkrete Ortsangabe, die nur in 16,16 begegnet: Armageddon106. Die Wortbedeutung ist nicht eindeutig geklärt worden. Am ehesten leitet sich diese Angabe von har = Berg und magedon = Megiddo ab107. Ein erster Kampf zwischen den Gottesgegnern (in diesem Fall die grosse Hure Babylon) und dem Lamm findet in 17,14 statt: «Diese werden gegen das Lamm Krieg führen (polemêsousin), und das Lamm wird sie besiegen (nikêsei); denn es ist Herr der Herren und König der Könige, und die mit ihm sind, sind die Berufenen und Auserwählten und Treuen.»
Die finale Schlacht wird noch in 19,19 und 20,8 erwähnt, ist aber besonders in 19,11–15 Gegenstand eines Visionsberichts, der in seiner blutigen Bildlichkeit heute als Rede von Gottes Handeln wenig angemessen erscheint: «(11) Und ich sah den Himmel geöffnet, und siehe: ein weisses Pferd108. Und der darauf sitzt, heisst ‹Treu und Wahrhaftig›, und er richtet und führt Krieg in Gerechtigkeit (en dikaiosunê krinei kai polemei)109. (12) Seine Augen sind wie eine Feuerflamme, und auf seinem Haupt sind viele Diademe, und er trägt einen Namen geschrieben, den niemand kennt als er selbst; (13) und er ist bekleidet mit einem in Blut getauchten Gewand, und sein Name ist: Das Wort Gottes. (14) Und die Kriegsheere (strateumata), die im Himmel sind, folgten ihm auf weissen Pferden, bekleidet mit weissem, reinem Leinen. (15) Und aus seinem Mund geht ein scharfes Schwert hervor, damit er mit ihm die Nationen schlage; und er wird sie hüten mit eisernem Stab, und er tritt die Kelter des Weines des Grimmes des Zornes Gottes, des Allmächtigen. (16) Und er trägt auf seinem Gewand und an seiner Hüfte einen Namen geschrieben: König der Könige und Herr der Herren.»
Eine zeitgeschichtliche und psychologische Erklärung dieser Vorstellungswelt soll später versucht werden (s.u. D.III.1.). Hier soll der Hintergrund zum Motiv des «göttlichen Kriegers» anhand einiger Texte beleuchtet werden: Dass Gott ein «Kriegsheld» ist, wird bereits in Ex 15,3–4 mit der Vernichtung des Pharaos
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Vgl. weiterhin 19,17.19; 20,8. Das Motiv der Ansammlung von nicht-jüdischen Heeren gegen Israel begegnet in aller Breite in Hes 38f und Sach 12,1-9. Vgl. weiterhin Sach 14,2; Ps 2,1–2; 4Esra 13,29–38; äthHen 56,5–8; 90,13–19 (der letzte Angriff der Nationen); TestJos 19,1–9; Targ. Pseudo-Jonathan zu Num 11,26 (in: Berger / Colpe, Textbuch, 327 Nr. 625). 106 In 19,19 und 20,9 wird kein konkreter Ort genannt. 107 Während der römischen Besiedlungszeit war Megiddo Sitz einer Legion; vgl. Aune, Revelation II, 898. 108 Ein Pferd ist nicht Bestandteil frühchristlicher Vorstellungen vom Wiederkommen Jesu. Hier handelt es sich deutlich um den Anführer einer Armee. 109 Beide Verben stehen im sog. «gnomischen» Präsens und bezeichnen damit für den Kommenden typische Handlungen.
3. Kriegerisches im Neuen Testament
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und seiner Streitmacht im Meer in Verbindung gesetzt. Die Schilderung in Offb 19 ist zudem deutlich sprachlich von Jes 63,1–3 beeinflusst: «(1) Wer ist es, der da aus Edom kommt, aus Bozra in grellen Kleidern, so auffallend in seinem Gewand, einherschreitend in der Fülle seiner Kraft? Ich bin es, der ich in Gerechtigkeit spreche, stark genug, um zu retten. (2) Warum ist dein Gewand so rot und sind deine Kleider wie bei einem, der in der Kelter tritt? (3) Allein habe ich im Keltertrog getreten, und niemand war bei mir von den Völkern. Da trat ich sie in meinem Grimm, und in meinem Zorn zerstampfte ich sie, und ihr Saft spritzte auf meine Kleider, und ich besudelte alle meine Gewänder. » (NZB)
Eine interessante Umschreibung der letzten Plage gegen Ägypten, die das Wort Gottes als Ausführungsorgan der Strafe beschreibt, findet sich in der Weisheit Salomos 18,14–16: «(14) Als die Ruhe des Schweigens nämlich das Universum umfing und die Nacht in der ihr eigenen Geschwindigkeit bis zur Mitte vorgedrungen war, (15) da sprang dein allmächtiges Wort (ho pantodynamos sou logos) vom Himmel, vom königlichen Thron, als unbeugsamer Krieger (apotomos polemistês) mitten in die Zerstörung auf der Erde. (16) Als scharfes Schwert trug es deinen unwiderruflichen Befehl; es erfüllte, während es stand, das Universum mit Tod, und es berührte den Himmel, schritt aber auf der Erde.»110
Es ist deutlich, dass der Seher der Offenbarung die Vorstellung eines göttlichen Kriegers zum Teil seiner Heilsvision gemacht hat. Dennoch wäre eine Anwendung der Kategorie «heiliger Krieg» in diesem Falle aus zwei Gründen unangebracht: Zunächst handelt es sich um eine hochgradig symbolisch verschlüsselte Vision, die an vielen Stellen die normale Bildlogik durchbricht (z.B. «Schwert aus dem Mund»). Dann aber muss auf die auffällige Tatsache aufmerksam gemacht werden, dass der messianische Endzeitkrieger nicht von den christlichen Märtyrern oder von den Treuen auf der Erde im Kampf begleitet wird, sondern von den Engeln und dass auch nur er in Ausführung der Strafe geschildert wird. Es ist so, als hätten sich alle gewalttätigen Gerichtsvorstellungen auf diesen einen Punkt konzentriert, auf Jesus, das Lamm111. Literatur
D.E. AUNE, Revelation, 3 Bde., Dallas 1997–1998 (WBC 52). – W. BAUER / K. ALAND / B. ALAND, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin 61988. – K. BERGER / C. COLPE, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1987 (Texte zum Neuen Testament. Textreihe 1). – O. BAUERNFEIND, Art. polemos, in: ThWNT 6 (1958), 501–515. – DERS., Art. strateuomai, in: ThWNT 7 (1964), 701–713. – J.J. COLLINS, 110 111
Für weitere Belege vgl. Aune, Revelation III, 1049f. Vgl. zum Problem der Gewaltphantasien in der Offb D.III.1.
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B.V. Gewalt zwischen Völkern
Daniel. A Commentary on the Book of Daniel, Minneapolis 1993 (Hermeneia). – E. GRÄSSER, An die Hebräer, Bd. 3: Hebr. 10,19–13,25, Neukirchen-Vluyn 1997 (EKK 17/3). – HEIDLAND, Art. opsônion, in: ThWNT 5 (1954) 591–592. – W. NIPPEL, Aufruhr und «Polizei» in der römischen Republik, Stuttgart 1988. – DERS., Public Order in Ancient Rome, Cambridge 1995. – DERS., Art. Polizei, in: DNP 10 (2001), 34–35. – J. NOLLAND, Luke, Vol. 1 (1–9:20), Dallas 1989 (WBC 35A). – D.B. SADDINGTON, Roman Military and Administrative Personnel in the New Testament, in: ANRW II/26,3 (1996), 2409–2435. – F.G. UNTERGASSMAIR, Art. hekatonarchês, in: EWNT 1 (1980) 983–984. – T.R. YODER NEUFELD, «Put on the Armour of God». The Divine Warrior from Isaiah to Ephesians, Sheffield 1997 (JSNT.S 140).
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C. Gegenbilder zur Gewalt in der Bibel 1. Alttestamentliche Erwartungen von Frieden für Israel und die Menschheit Der Realität der Gewalt, wie sie in der Bibel (und speziell im Alten Testament) äusserst vielgestaltig vor Augen tritt, stellt die Bibel (und auch wieder speziell das Alte Testament) Utopien vom Ende der Gewalt entgegen. Utopien beschreiben eine Wirklichkeit, die es noch nicht gibt, die aber eintreten soll, die sich jetzt schon anbahnt und auf die sich das gegenwärtige Handeln ausrichten kann. Die bedeutendste neutestamentliche Utopie ist die vom Gottesreich, dessen Kommen Jesus ankündigt, dessen Gesetzmässigkeiten er beschreibt (sie sind der Gegenwartsrealität zum Teil diametral entgegengesetzt!) und von dessen jetzt schon anbrechender Verwirklichung er kündet. Vergleichbar sind die alttestamentlichen Utopien. Sie finden sich hauptsächlich in Prophetenbüchern. Im Grundsatz ist es unwichtig, wer sie gesprochen hat: ob der Prophet, nach dem das betreffende Buch benannt ist, oder Spätere (meist wird das Zweite zutreffen). Utopien haben etwas Zeitlos-Gültiges und Zukünftig-Derzeitiges. So lange das in ihnen benannte Ziel nicht erreicht ist – und das war es, seit sie gesprochen wurden, noch nie –, so lange weisen sie voraus auf noch Einzulösendes. Und so wahr der in ihnen geschilderte Zustand hier und dort in Ansätzen schon realisiert ist – und das war er in glücklichen Momenten der Menschheitsgeschichte oder eines Menschenlebens immer wieder –, so wahr wird da nicht eine Phantasiewelt erträumt, sondern eine Gegen-Wirklichkeit zur vorfindlichen beschrieben. Rufen wir uns einige der bekanntesten Texte dieser Art in Erinnerung und halten uns dabei an die oben in Teil B beschriebenen Gewaltfelder. Der Mensch, und schon gar der mit der jüdisch-christlichen Tradition vertraute Mensch, weiss wohl, dass zerstörerische Gewalt nicht sein dürfte. Er kennt die einschlägigen Gebote der biblischen Tora: von der Nächstenliebe (Lev 19,18), von der Grosszügigkeit gegen Feinde (Ex 23,4f), von der Schutzbedürftigkeit der sozial Schwachen (Ex 22,21f; Dtn 15,1–11), vom Schutz der Tiere (Dtn 5,14; 25,4). Es ist aber so, wie Paulus es von sich bekennt: «Das Wollen ist zwar bei mir vorhanden, das Vollbringen des Guten aber nicht» (Röm 7,18). Die Erfahrung, dass man die Gebote einhalten möchte, es aber allzu oft nicht vermag, machten schon die Menschen des Alten Testaments. Und die Geschichtsschreibung Israels steht nicht zuletzt unter dem Vorzeichen, dass Israel gegenüber der ihm anvertrauten Tora versagte und daraus ein Unheil nach dem anderen folgte: als katastrophalstes das babylonische Exil. Die Überlebenden quälte die Frage, ob dieses Scheitern nicht unvermeidlich gewesen sei und ob es sich in der Zukunft je würde vermeiden lassen. Darauf
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C. Gegenbilder zur Gewalt
fand man drei Antworten (die einander nicht strikt ausschliessen): Entweder nahm man sich noch verpflichtender und noch strenger die Einhaltung der Gebote vor; oder man liess sich Wege zeigen, auf denen die Beziehung zu Gott trotz eigener Unzulänglichkeit immer neu aufgenommen werden konnte; oder man erhoffte sich von Gott, er werde den Seinen die Befolgung der Tora ermöglichen, indem er die condition humaine veränderte. Die erste Lösung ist die gesetzestheologische (für sie können späte Schichten des Buches Deuteronomium stehen), die zweite die kultische (am reinsten ausgeprägt im Buch Leviticus), die dritte die prophetische – die gleichsam utopischste. Als herausragendes Beispiel hierfür kann die Verheissung des Neuen Bundes im Jeremiabuch gelten (die sich, wohlgemerkt, an jüdische Leserinnen und Hörer und allenfalls in zweiter Linie auch an die Christenheit richtet!): «Dies ist der Bund, den ich mit dem Haus Israel schliessen werde nach jenen Tagen, Spruch des HERRN: Meine Weisung habe ich in ihr Inneres gelegt, und in ihr Herz werde ich sie ihnen schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie, sie werden mein Volk sein.» (Jer 31,33, NZB)
Die Tora, tief eingeschrieben ins «Herz», in das Zentrum menschlicher Entschluss- und Willenskraft: das schliesst das Ende aller Gewalt zwischen Individuen ein. Gewalt zwischen Völkern begleitete Israel und Juda durch die gesamte Zeit ihrer staatlichen Existenz (und auch davor und danach). Ein Höhepunkt der Grausamkeit und des Blutvergiessens war erreicht, als die assyrischen Heere im 8. Jahrhundert über Syrien-Palästina hinwegwogten. Der Staat Israel wurde ausgelöscht, das Königreich Juda überlebte knapp als absolut höriger Vasallenstaat. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts eroberten die Assyrer gar noch Ägypten und schienen damit in dieser Weltgegend keine Feinde mehr zu haben. Doch dann ereignete sich, höchst überraschend, eine Art Implosion: Innere Wirren und äusserer Widerstand liessen das Riesenreich erzittern und schliesslich bersten. In dieser Zeit wurde in Juda ein erst 8-jähriger Prinz namens Joschija auf den Thron gehoben: ein Akt, in dem sich die Hoffnung auf Befreiung und Erneuerung ausdrückte. Es scheint, dass im Jesajabuch eine Weissagung erhalten ist, in der sich diese Ereignisse und Erwartungen spiegeln. (Die Christen lesen sie seit jeher als Ankündigung des Christus.) «Das Volk, das in der Finsternis wandelt, sieht ein grosses Licht; die im Lande des Dunkels wohnen, über ihnen strahlt ein Licht auf. Du hast das Volk zahlreich werden lassen, hast seine Freude gross gemacht. Sie haben sich vor dir gefreut, wie man sich freut in der Erntezeit, wie man jubelt, wenn man Beute verteilt. Denn das Joch, das auf ihnen lastet, und den Stab auf ihrer Schulter, den Stock dessen, der sie treibt, hast du zerschmettert, wie am Tag Midians. Denn jeder Stiefel, der dröhnend aufstampft,
1. Frieden für Israel und die Menschheit
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und der Mantel, der im Blut geschleift ist, wird brennen, wird ein Frass des Feuers sein. Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und auf seine Schulter ist die Herrschaft gekommen, und er hat ihm seinen Namen gegeben: Wunderbarer Ratgeber, Heldengott, Starker, Friedensfürst. Die Herrschaft ist gross und der Friede grenzenlos auf dem Thron Davids.» (Jes 9,1–6a, NZB)
Nicht etwa nur ein Rückzug der Assyrer aus Juda wird hier in Aussicht gestellt, sondern, ausgedrückt im Bild vom Verbrennen der Militärstiefel und -mäntel, das Ende ihrer Fähigkeit zu militärischer Gewaltanwendung. Dem Kind auf Davids Thron wird eine so grosse Herrschaftsmacht geschenkt, dass «des Friedens kein Ende» mehr sein wird. Was hier noch geschichtlich-kontingent wirkt, ist an anderer Stelle im Jesajabuch (und ein zweites Mal in Mi 4,1–5) zur generellen Verheissung des Friedens zwischen allen Völkern überhöht. «Denn vom Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des HERRN von Jerusalem. Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen.» (Jes 2,3b–4, NZB)
Nicht aufgrund eigener Vernunft und Anstrengung finden die Völker der Welt zum Frieden, sondern dadurch, dass Gottes Tora unwiderstehlich von Jerusalem ausgeht. (Wenn man sich die heutige Realität dort und in der Welt vor Augen hält, wird das Utopische eines solchen Textes überdeutlich. Und doch ist die Utopie nicht hohl, gibt es die Tora und bemühen sich Menschen in Jerusalem und in aller Welt, auf sie zu hören und ihr zunehmend mehr Gehör zu verschaffen.) Mehrere alttestamentliche Weissagungen ranken sich um eine geheimnisvolle Gestalt, die man später den «Messias» genannt hat: einen Abkömmling des Davidshauses, den Gott am Ende der Zeit mit dem Auftrag sendet, seinem Volk nicht nur äusseren, sondern auch inneren Frieden zu bringen. Schon die Joschija-Weissagung in Jes 9 endet mit dieser Thematik: «Gross wird die Herrschaft sein und des Friedens kein Ende auf dem Throne Davids und über seinem Königreiche, da er es festigt und stützt durch Recht und Gerechtigkeit, von nun an bis in Ewigkeit. Das wird der Eifer Jhwh Zebaots tun.» (Jes 9,6)
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Andere sog. messianische Weissagungen im Jesajabuch legen allen Nachdruck darauf, dass der Messias von gesellschaftlicher Gewalt befreien wird: «Er wird die Armen richten mit Gerechtigkeit und den Elenden im Land Recht sprechen mit Billigkeit. Er wird den Tyrannen schlagen mit dem Stab seines Mundes und den Übeltäter töten mit dem Hauch seiner Lippen Gerechtigkeit wird der Gürtel seiner Lenden und Treue der Gurt seiner Hüften sein.» (Jes 11,4f)
Ebenso soll die Gewalt in der und gegen die Schöpfung einmal aufhören. Die zuletzt zitierte Weissagung geht in eine solche vom Tierfrieden über, den der Messias durch sein Wirken heraufführen wird und in dem kein Raum mehr ist für das ewige Fressen und Gefressenwerden (Näheres dazu unten bei D.II.1.): «Da wird der Wolf zu Gast sein bei dem Lamm und der Panther bei dem Böckchen lagern. Kalb und Jungleu weiden beieinander, und ein kleiner Knabe leitet sie. Kuh und Bärin werden sich befreunden, und ihre Jungen werden zusammen lagern. Der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind. Der Säugling wird spielen an dem Loch der Otter, und nach der Höhle der Natter streckt das kleine Kind die Hand aus.» (Jes 11,6–8)
Was nicht eigens gesagt sein muss: Sind die Kreaturen untereinander friedfertig und schont sogar die Schlange das Kleinkind, so besteht keinerlei Anlass mehr, dass der Mensch gewaltsam gegen seine Mitgeschöpfe vorgeht. (Was das im Blick auf Schlachthöfe bedeutet oder auf Labors, in denen Tierversuche angestellt werden, wird noch zu erwägen sein; s.u. C.2.) Schliesslich die Gewalt zwischen Religionen: Auch sie soll dereinst ein Ende haben. Wiederum im Jesajabuch findet sich eine höchst bemerkenswerte Weissagung, derzufolge «Assyrien» und «Ägypten» auf dem Weg über Jerusalem zueinander finden und mit den Juden zusammen ein Gottesvolk aus vielen Völkern bilden sollen: «An jenem Tage wird eine gebahnte Strasse von Ägypten nach Assyrien führen, der Assyrer wird nach Ägypten kommen und der Ägypter nach Assyrien, und die Ägypter werden mit den Assyrern [Jhwh] verehren. An jenem Tage wird Israel der Dritte im Bunde sein neben Ägypten und Assyrien, ein Segen inmitten der Erde, die Jhwh Zebaot segnet, indem er spricht: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assyrien, das Werk meiner Hände, und Israel, mein Erbbesitz!» (Jes 19,23–25)
Im kleinen Zefanjabuch wird noch allgemeiner Nichtjuden eine Tür zum Gott Israels geöffnet:
1. Frieden für Israel und die Menschheit
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«Alsdann will ich den Völkern andere, reine Lippen geben, dass sie alle den Namen Jhwhs anrufen und ihm einträchtig dienen» (Zef 3,9). «Alle Götter der Welt werden dahinschwinden, und man wird an allen Gestaden der Heidenvölker Jhwh anbeten, jeder von seinem Ort aus» (Zef 2,11).
Der hebräische Begriff für «Ort» (māqôm) kann beides meinen: die Wohnstatt oder die Kultstätte. Sollte hier (auch) das Letztere gemeint sein, dann wäre das ein äusserst kühner Gedanke: Überall auf der Welt, wo Menschen einen Gott oder Götter anbeten – in Synagogen, Kirchen, Moscheen oder Tempeln –, erreichen sie immer nur den einen, wahren Gott. Dann gibt es also nicht mehr ‹wahre› und ‹falsche› Religionen und schon gar nicht mehr Gewaltanwendung im Namen irgendeiner Religion, sondern nur mehr einmütiges Sich-Hinwenden zu Gott und Sich-Zuwenden zu den anderen Glaubenden. Die Utopien vom Ende der Gewalt zwischen Individuen, Völkern und Religionen, in der Gesellschaft und in der Schöpfung setzen ein Gegengewicht zu der verbreiteten Rede von der Gewalt, die immer sein wird, wie sie schon immer gewesen ist. Stimmte dies, dann wäre das Ankämpfen gegen die Gewalt eine vielleicht ehrenwerte, letztlich aber naive und zwecklose Bemühung so genannter «Gutmenschen». Wer sich aber von der Überzeugung anstecken lässt, dass Gott eine Welt mit weniger und am Ende ohne Gewalt zum Ziel hat, wird das Sich-Abfinden mit der Gewalt als Ausdruck nicht von Realismus und Nüchternheit ansehen, sondern von Opportunismus und Perspektivlosigkeit. Und umgekehrt: Mit Gott rechnen, heisst auf die Überwindbarkeit von Gewalt setzen. Literatur
R. BARTELMUS, Die Tierwelt in der Bibel II. Tiersymbolik im Alten Testament – exemplarisch dargestellt am Beispiel von Dan 7, Ez 1,10 und Jes 11,6–8, in: B. Janowski / U. Neumann-Gorsolke / U. Glessmer (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 283–306. – H. BARTH, Die Jesaja-Worte in der Josiazeit. Israel und Assur als Thema einer produktiven Neuinterpretation der Jesajaüberlieferung, Neukirchen-Vluyn 1977 (WMANT 48). – F. CRÜSEMANN, Israel, die Völker und die Armen. Grundfragen alttestamentlicher Hermeneutik am Beispiel des Zefanjabuches, in: W. Dietrich / M. Schwantes (Hrsg.), Der Tag wird kommen. Ein interkontextuelles Gespräch über das Buch des Propheten Zefanja, Stuttgart 1996 (SBS 170), 123–133. – C. DOHMEN, Mitgeschöpflichkeit und Tierfriede, in: Bibel und Kirche 60 (2005), 26–31. – B. JANOWSKI, Sühne als Heilsgeschehen. Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterschriftlichen Sühnetheologie, Neukirchen-Vluyn 22000 (WMANT 55). – E. OTTO, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient. Aspekte für eine Friedensordnung in der Moderne, Stuttgart 1999. – H. SEEBASS, Herrscherverheissungen im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1992 (BThSt 19). – E.-J. WASCHKE, Der Gesalbte. Studien zur alttestamentlichen Theologie, Berlin u.a.O. 2001 (BZAW 306).
WD
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C. Gegenbilder zur Gewalt
2. Alttestamentliche Bilder vom Frieden in der Schöpfung Das Alte Testament bietet eine Reihe von Bildern, in denen das Verhältnis zwischen den verschiedenen Geschöpfen, namentlich zwischen Menschen und Tieren, als nicht gewaltförmig dargestellt wird (wie es tatsächlich ja weithin ist), sondern als versöhnt und friedfertig. In den nachfolgenden Abschnitten werden die bedeutsamsten dieser Texte vor Augen gestellt. 2.1. Die priesterliche Vision einer gewaltfreien Schöpfung (Gen 1) Der reichste Text, der das Verhältnis des Menschen zur Natur und zur Tierwelt reflektiert, ist zweifellos Gen 1. Erstaunlicherweise beschränkte sich die Wirkungsgeschichte dieses Textes in den Diskussionen zum MenschNatur-Verhältnis zu einem grossen Teil auf die Worte des Dominium Terrae (Gen 1,26.28, s. oben B.IV.2.). Doch damit wird der Text in all seinen Facetten nicht ernst-, ja nicht einmal wahrgenommen. Es kann hier keine ausführliche Exegese geboten, sondern nur auf einige wichtige Ergebnisse exegetischer Untersuchung hingewiesen werden Nach der Erschaffung der Leuchten am vierten Schöpfungstag schafft Gott am fünften Tag die Meerestiere und die Vögel. Wie alle vorhergehenden Werke besieht er sie und qualifiziert sie als gut: æôb. Die Wasser- und Himmelsbewohner bekommen überdies einen Segen zugesprochen (V. 22): «Seid fruchtbar und vermehrt euch und füllt die Wasser des Meeres, und die Vögel sollen sich mehren auf der Erde.» Am folgenden Tag nun, dem sechsten Schöpfungstag, schafft Gott zuerst die Landtiere und dann, am gleichen Tag (!), die Menschen. Auch bei einer betont anthropozentrischen Lesart von Gen 1 fallen doch zwei Dinge auf: Der Mensch bekommt keinen eigenen Schöpfungstag zugesprochen. Einen solchen erhalten das Licht, der Himmel, die Erde, dann jeweils paarweise Sonne und Mond, Meerestiere und Vögel, Landtiere und Menschen. Dies rückt die Menschen in unverkennbare Nähe zu den Landtieren, mit denen sie Schöpfungstag und Lebensraum teilen. Ausserdem ist der Mensch nicht, wie oft dargestellt wird, die Krone der Schöpfung. Denn es folgt der siebte Schöpfungstag und erst mit ihm die Vollendung der Schöpfung: die Ruhe, der Sabbat. Doch werfen wir einen noch etwas genaueren Blick auf den sechsten Schöpfungstag (Gen 1,24–31): «(24) Und Gott sprach: Die Erde soll hervorbringen lebendige Wesen nach ihrer Art, Vieh, Kriechtiere und Tiere der Erde (Wildtiere) nach ihrer Art; und so geschah es. (25) Gott machte die Tiere der Erde nach ihrer Art, das Vieh nach seiner Art und alle Kriechtiere des Erdbodens nach ihrer Art. Und Gott sah, dass es gut war. (26) Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen, gemäss unserem Bild in Ähnlichkeit zu uns, und sie sollen herrschen über die Fische des Meeres und die Vögel des Himmels, über das Vieh, über das ganze Land und über alles Getier, das sich auf der Erde bewegt. (27) Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild,
2. Frieden in der Schöpfung
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nach dem Bild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie. (28) Gott segnete sie, und Gott sprach zu ihnen: Seid fruchtbar, mehrt euch und füllt die Erde, unterwerft sie euch, und herrscht über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und über alles Lebendige, das sich auf der Erde bewegt. (29) Und Gott sprach: Siehe ich habe euch gegeben alles Samen hervorbringende Kraut, das auf der Oberfläche der ganzen Erde ist, und jeden Baum, an dem Baumfrüchte sind, die Samen hervorbringen, es soll euch Nahrung sein. (30) Allen Tieren des Landes aber, allen Vögeln des Himmels und allem, was auf der Erde kriecht, in dem eine lebendige Seele ist, alles grüne Kraut zur Nahrung. Und so geschah es. (31) Und Gott besah alles, was er gemacht hatte, und siehe da: es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen: der sechste Tag.»
Die Erschaffung der Landtiere und der Menschen unterscheidet sich in nicht unwesentlichen Einzelheiten von den anderen Schöpfungsvorgängen: Den Landtieren fehlt der Segen und der Befehl zur Vermehrung, der sonst auf alle Schöpfungswerke folgt. Das Schaffen der Landtiere wird nicht mit br’, dem Ausdruck für das unverwechselbare Schöpferhandeln Gottes, beschrieben, sondern mit dem Allerweltswort ʻsh («machen»). Die Tiere werden aus der Erde hervorgebracht. Diese schöpferische Mitbeteiligung der Erde zeigt das unmittelbare Verhältnis der Tiere zur ʼadāmāh, dem Erdboden: Von ihm kommen sie und zu ihm gehen sie. Die Erschaffung des Menschen wird durch eine eigentümliche Selbstaufforderung Gottes im Kohortativ eingeleitet. «Lasst uns Menschen machen.» Den Menschen fehlt die Qualifizierung als æôb («gut»). Diese erscheint erst wieder am Schluss des sechsten Schöpfungstages, verstärkt als «sehr gut», bezieht sich dort aber auf das Ganze der Schöpfung. Grosse Bedeutung hat in der Rezeptionsgeschichte das Wort von der «Imago Dei», der Gottebenbildlichkeit des Menschen (V. 26.27), erlangt. Anders als vielleicht zu vermuten, sind die beiden Begriffe øælæm und demût («Bild» und «Ähnlichkeit») keineswegs spezifisch theologisch gefüllt. demût kommt am häufigsten im Prophetenbuch Ezechiel vor und wird dort zur Beschreibung der Visionen des Propheten gebraucht, die sich in der sprachlichen Unschärfe von Vergleichen (im Sinne von «etwas wie …») am ehesten darstellen lassen. øælæm meint ganz allgemein Bild/Abbild und kann zuweilen sogar ein Götzenbild meinen. Die Thematik der Imago Dei wurde alttestamentlich erst von Sirach (Sir 17,3) rezipiert1. Wahrscheinlich sind die Wurzeln der Aussage im ägyptischen Verständnis des Pharaos als eines Abbildes Gottes auf der Erde zu suchen oder noch eher in der verbreiteten altorientalischen Praxis, in einer entfernten Provinz das Bild des grossen Herrschers aufzustellen, das nicht nur an die Gegenwart seiner Herrschaft erinnern sollte, sondern diese repräsentierte
1
Vgl. Keel / Schroer, Schöpfung, 177.
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C. Gegenbilder zur Gewalt
und gleichsam vor Ort wirksam machte2. Ein Bild (øælæm) ist mehr als eine materielle Wiedergabe, es bedeutet ein Stück Gegenwart und Wirksamkeit des Abgebildeten. In diesen Verständnishorizont eingebettet, deutet øælæm in Gen 1,26.27 also auf den Menschen als Repräsentanten Gottes auf der Erde, als jenes Wesen, das die Gegenwart und Herrschaft Gottes erfahrbar macht. Zu diesem Aspekt der Herrschaftsrepräsentation kommt nach Silvia Schroer und Othmar Keel auch «das Verständnis der Gottebenbildlichkeit als Ausdruck einer familiären Verwandtschaft» hinzu, da in Gen 5,3 die gleichen hebräischen Worte die Verwandtschaft zwischen Vater und Sohn beschreiben. «Die Menschen sind Gott ähnlich wie die Kinder den Eltern»3. Ein eigenes Problem stellen die für die Herrschaft des Menschen gebrauchten Verben dar: rdh («herrschen») und kbš («unterwerfen»). Mit ihnen tut sich eine gewisse Spannung auf, die kaum aufzulösen ist. Die stellvertretende Herrschaft für den Schöpfergott kann nicht unterdrückerisch und gewalttätig sein, jedenfalls nicht in diesem Text, in dem gerade liebevoll und detailreich beschrieben worden ist, wie dieser Schöpfergott jedes einzelne Wesen erschaffen und ihm seinen Lebensraum und seine Nahrung zugewiesen hat. Andererseits wohnt den beiden Verben ein Aspekt des Gewalttätigen inne (s. oben B.IV.2.). Gleichwohl scheinen mir die positiven Impulse aus Gen 1 mehr Gewicht zu haben. Diese können etwa folgendermassen zusammengefasst werden: Der zu øælæm und demût Gottes geschaffene Mensch hat die Pflicht, sich dementsprechend zu verhalten, d.h. seine Königsstellung in der Welt im Sinne des Schöpfergottes, des eigentlichen Herrschers, auszufüllen. Tut er dies nicht, so lebt er an der schöpfungsmässigen, ihm von Gott bestimmten Aufgabe vorbei. Der Mensch und die Landtiere leben insofern in einer Schicksalsgemeinschaft, als sie am gleichen Tag erschaffen sind, den gleichen Lebensraum teilen und ihnen gleichermassen næfæš («Leben», «Vitalität», «Lebenskraft») zugesprochen wird. Es sei hervorgehoben, dass dem Wortlaut von Gen 1 zufolge eine vegetarische Lebensweise die einzige dem Wollen des Schöpfers angemessene Möglichkeit des Zusammenlebens zwischen Menschen und Tieren wäre: eine durchaus utopische, in die Zeit der Schöpfung zurückgespiegelte Vision. Freilich können die priesterlichen 2
Vgl. Keel / Schroer, Schöpfung, 178f. Dort der Hinweis, dass sich im ägyptischen Bedeutungsfeld des Wortes gar die Bedeutung «Double», «Zweitausgabe» nahe legt. 3 Keel / Schroer, Schöpfung, 180. Ob freilich die Menschen den in sie gelegten Möglichkeiten faktisch gerecht werden, bleibt im Text offen. Mit de Pury (Gemeinschaft, 143–146) verstehe ich die Imago Dei nicht als Qualitätsbeschreibung, sondern als Zweckbestimmung. Der Mensch könnte und sollte Gottes Ebenbild werden, d.h. mit Gott in eine Beziehung treten, die allen anderen Beziehungen Sinn gäbe. Ähnlich fasst auch Gross die Gottebenbildlichkeit nicht als eine Aussage auf, die irgendeine Qualität des ’ādām («Mensch») betrifft, sondern dessen Funktion als Herrscher über die Tiere (Gottebenbildlichkeit, 47).
2. Frieden in der Schöpfung
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Autoren dabei nicht stehen bleiben. Die Realität und die Notwendigkeit, dass Tiere genützt und getötet werden, zwingen sie, den Idealzustand von Gen 1 durch nachsintflutliche Regelungen in Gen 8,15–9,17 dem Istzustand anzupassen. Hier findet eine dramatische Wendung statt. Die Menschen haben in die Schöpfung Gewalt gebracht, und Gewalttätigkeit bestimmt fortan das Zusammenleben der Geschöpfe. Der in Gen 1 selbstverständlich erscheinende Vegetarismus bleibt auch nach der Sintflut aufgehoben: «Alles Getier, das da lebendig ist, soll euch zur Speise werden, wie grünes Kraut gebe ich euch das alles» (Gen 9,3). Zwar wird die Katastrophe der Vernichtung allen Lebens durch die Sintflut mit einem göttlichen Versprechen als sich nie mehr wiederholendes, einmaliges Ereignis dargestellt. Zwar wird in Gen 9 das Weiterbestehen der Welt, von Mensch und Tier bejaht. Zwar erhalten nun auch die Tiere den Vermehrungsauftrag (8,17), der ihnen in Gen 1,25 noch vorenthalten war. Zwar wird der Segen über die Menschen und ihr Auftrag zur Vermehrung aus Gen 1,26f in 9,1f wiederholt und mit alldem Gottes Ja zu Schöpfung bekräftigt. Doch in dieser Schöpfung klafft von nun an ein Riss. Die Gewalt, die zur Katastrophe der Sintflut geführt hat, wird jetzt wohl reguliert und kontrolliert, jedoch nicht mehr völlig beseitigt: Sie wird auf die Tiertötung eingegrenzt4. Die Herrschaft des Menschen über die Schöpfung wird eingeschränkt: «(Ehr)furcht und Schrecken vor euch soll sein auf allem Lebendigen der Erde und auf allen Vögeln des Himmels, mit allem, was kriecht auf dem Erdboden und mit allen Fischen des Meeres sind sie in eure Hand gegeben! Alles Getier, das da lebendig ist, soll euch zur Speise werden, wie grünes Kraut gebe ich euch das alles.» (9,2.3) Damit ist der gnadenlose und scheinbar nie endende Kampf zwischen den Geschöpfen um Lebensraum und Leben eröffnet5. Heute dürfte der «Gewinner» feststehen. Doch das war in der biblischen Welt anders. Die Verfasser schrieben in einer «menschenarmen Welt» (Weippert) – und überdies wohl im Exil, wo man sich die Heimat als verwildert und der Macht der wilden Tiere ausgesetzt vorstellte. Von daher bekommen die Worte «in eure Hand/Gewalt sind sie gegeben» einen ganz anderen Sinn6. Zudem findet sich in V. 4 eine wesentliche Einschränkung des Tötens: Das Blut darf nicht verzehrt werden. Wenn man sich die Bedeutung des Blutes als Sitz des Lebens in Erinnerung ruft, wird deutlich, dass ein uneingeschränktes Recht zum Töten durch die weitreichende Ehrfurcht vor allem vom Schöpfergott geschaffenen Leben begrenzt wird. Bei jeder Schlachtung soll sich der Mensch vor Augen halten, dass hier etwas angetastet wird, das eigentlich allein Gott zusteht. Der «Bund» mit «allem Fleisch, das auf der Erde ist», soll das von der Gewalttat und Verdorbenheit auf der Erde verwirrte Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung neu klären und auf eine verlässliche Grundlage stellen7. Gottes Selbstverpflichtung gilt nicht nur Noah und 4
Vgl. Liedke, Bauch, 143; Janowski u.a., Tiere, 42f. Boecker (Ochsen, 83) und Liedke (Bauch, 142f) weisen darauf hin, dass hier die Sprache des Jahwekrieges gebraucht wird. 6 Hinzu kommt, dass in den Ausdruck «das Lebendige der Erde» (©ajat hā’æræø) das «liebe Vieh» (hebr. behemāh) nicht unbedingt eingeschlossen ist, vgl. ihr Nebeneinander in Gen 1,24.25; 7,14; 8,17; 9,10. Wohl möglich, dass die Haustiere nicht als Objekt menschlicher Herrschaft angesehen wurde, dass hier vielmehr der partnerschaftliche Aspekt überwog. 7 Vgl. von Rad, Genesis, 101. 5
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C. Gegenbilder zur Gewalt
seinen Nachkommen, sondern allen Geschöpfen, und sie ist an keine Bedingungen gebunden. Was auch immer geschehen wird, Gott will alles Leben auf der Erde, und er wird dessen Vernichtung nie mehr zulassen.
2.2. Die Ausdeutung der priesterschriftlichen Utopie in Jes 11 Oben in C.1. wurde die berühmte Weissagung vom Tierfrieden zitiert. Selbst wenn Jes 11,6–8 älter sein sollte als Gen 1 (was aber nicht sicher und nicht einmal wahrscheinlich ist), lässt sich in synchroner Lesart dieser Text doch als Erneuerung oder Reaktualisierung der Idealvorstellung verstehen, die Gen 1 zugrunde liegt. Verbindungsglied zwischen beiden Texten ist die vegetarische Lebensweise von Mensch und Tier, die am Uranfang war und die in der Endzeit wiederkehren soll. Die Raubtiere fressen Gras, das Tier bedroht den Menschen nicht mehr und der Mensch nicht das Tier. Eindrückliches Bild dafür ist das ungefährdete Spiel des Säuglings bei der Schlange (Jes 11,8). Darin ist erkennbar auf Gen 3,15 angespielt, wo die ewige Feindschaft zwischen Schlange und Mensch, genereller: die Gewalt zwischen Mensch und Tier ätiologisch grundgelegt wird. In der prophetischen Vision wird der ursprüngliche Zustand des Schöpfungsfriedens wieder hergestellt. In der eschatologischen Heilszeit wird der Kampf zwischen Mensch und Tier überwunden sein. Damit wird die Gewalt zwischen Mensch und Tier (mittlerweile fast nur noch eine Gewalt der Menschen gegen die Tiere) als schmerzhafter Bruch in einer ursprünglich anders gemeinten Schöpfung deklariert. Das in Gen 3 und Gen 9 dargestellte Mensch-Tier-Verhältnis steht gleichsam eingeklammert zwischen Ur- und Endzeit. Innerhalb dieser Klammer ist Leben auf Kosten von anderem Leben eine Realität; doch was ausserhalb der Klammer steht, zeigt, dass diese Realität weder unabänderlich noch ewig ist. 2.3. Mensch und Tier in der nicht-priesterlichen Urgeschichte (Gen 2) In Gen 2,4b–25, dem zweiten Schöpfungsbericht der Bibel, ist ein anderes Verhältnis zur Natur als in Gen 1 spürbar. Die als eigene Komposition lesbare Urgeschichte Gen 2,4–8,22*8 ist zentriert auf eine bäuerliche Perspektive. Das Leben sesshafter Ackerbauern, nicht z.B. von Halbnomaden, steht als Ideal vor 8
Oft wird dieser Text (Gen 2,4b-25) als «jahwistischer Schöpfungsbericht» bezeichnet, da er Teil eines sehr früh entstandenen sog. Jahwistischen Geschichtswerkes sei. In der neueren Forschung wird die Existenz eines solchen aber bezweifelt. In jedem Fall ist die Urgeschichte Gen 2,4–8,22* als in vorexilischer Zeit entstandene eigene Überlieferung zu sehen. Die einzelnen Erzählstränge in dem Text, also der Menschenschöpfungsstrang 2,4b–7.9a.15*.18–23 und der Garten-Eden-Strang, zu dem der Abschnitt über die Paradiesströme V. 10–14 wohl nur sekundär gehört (vgl. von Rad, Genesis, 55), beruhen aber auf viel älteren Traditionen, die vielleicht schon vor der Verschriftung zum heutigen Textganzen zusammengewachsen sind (vgl. von Rad, Genesis, 51).
2. Frieden in der Schöpfung
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Augen. Die nahe Beziehung des Menschen, ’ādām, zur Erde, zur ’adāmāh, ist deutlicher Ausdruck dessen. Die uns interessierenden Verse des Textes lauten: «(7) Und Jhwh Gott formte den Menschen aus Staub vom Erdboden und blies in seine Nase Lebensatem, und der Mensch wurde zu einem lebendigen Wesen. (8) Jhwh Gott pflanzte einen Garten in Eden im Osten, und er setzte dorthin den Menschen, den er geformt hatte. … (15) Und Jhwh Gott nahm den Menschen und setzte ihn in den Garten Eden, ihn zu bearbeiten und ihn zu bewahren. … (18) Und Jhwh Gott sprach: das Sein des Menschen allein für sich ist nicht gut, ich werde ihm eine Hilfe machen als sein Gegenüber. (19) Und Jhwh Gott formte aus dem Erdboden alle Lebewesen des Feldes und alle Vögel des Himmels. Und er brachte sie zu dem Menschen, um zu sehen, was er ihm zurufe. Und alles, was der Mensch ihm zurufen wird, dem lebendigen Wesen, dies sei sein Name. (20) Und der Mensch rief Namen für all das Vieh und für alle Vögel des Himmels und für alle Lebewesen des Feldes. Aber für den Menschen fand er keine Hilfe als sein Gegenüber.»
Der Mensch wird als erstes Werk geschaffen, erst danach pflanzt Gott den Garten, in den hinein er den Menschen setzt. Das Verhältnis des Menschen zur Natur wird sehr anders als in Gen 1,26.28 als ein «Bebauen und Bewahren» beschrieben. Das Verb šmr bezeichnet sicher kein «Herrschen», sondern eindeutig ein liebevolles Bewahren, Behüten und Achtgeben, auch im Sinne des Einhaltens einer eingegangenen Verpflichtung. Wie der Mensch, so sind auch alle anderen Geschöpfe, das Getier (das Lebendige) des Feldes und die Vögel des Himmels, aus einem konkreten Formen (jør) entstanden. Aus dem Staub des Erdbodens schafft Jhwh zuerst den Menschen und dann, als er merkt, dass diesem das Alleinsein nicht gut tut, auch die Tiere. Das Bezogensein auf die Erde wird also von Anfang an feierlich ins Zentrum gerückt und verbindet Mensch und Tier. Dem Menschen hat Gott seinen Lebensatem eingeblasen, was ihn zu einem Lebewesen (næfæš ©ajāh) macht. Dies steht bei den Tieren nicht ausdrücklich da. næfæš ©ajāh wird aber im übrigen Alten Testament immer wieder als allgemeine Bezeichnung für die Tiere gebraucht. So wird hier der Mensch eigentlich als Tier bezeichnet, so stark möchte der Text die schöpfungsmässige Nähe zwischen Mensch und Tier betonen. Gott schafft die Tiere, um dem Menschen eine «Hilfe» zu verschaffen. Dass ‘ezær in den meisten alttestamentlichen Texten das hilfreiche Handeln Gottes bezeichnet, zeigt die Qualität dieser Hilfe. Es geht nicht um ein unterwürfiges Dienstverhältnis, sondern um ein partnerschaftliches Miteinander, in dem man sich aufeinander verlassen kann. Dieser Aspekt verdeutlicht sich noch im nachfolgenden kenægdô («als sein Gegenüber»). Die «Hilfe» ist ein Gegenüber, ein Ansprechpartner, der die Einsamkeit des Menschen beenden soll. Die Beziehung, in der der Mensch zu den Tieren steht, wird unmittelbar nach deren Erschaffung auf noch andere Weise illustriert: in der Namengebung. Gott bringt die Tiere zum Menschen, um zu sehen, wie er sie benennt (wörtlich: was er ihnen zuriefe, V. 19), das meint auch, in welcher Art der Mensch seine
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Beziehung zu den Tieren aufnehmen wird. Einem Wesen einen Namen geben, bedeutet, dass eine Beziehung zu ihm vorhanden sein muss, dass man es als Gegenüber, als ein Du wahr- und annimmt. Das Benannte wird als etwas Eigenes, Unterschiedenes anerkannt und als solches in die Vorstellungs- und Lebenswelt des Benennenden eingeordnet. Nun hat dem Menschen das Tier als Gegenüber nicht genügt, es ersetzt ihm nicht die eigentliche, ihm entsprechende Partnerin. Die Beziehung zu den Tieren wird aber durch die danach folgende Erschaffung der Frau nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil ergänzt und vervollständigt. 2.4. Das Eigenrecht der Tiere in Weisheitstexten Einen wieder anderen Aspekt liefern einige weisheitliche Texte. In ihnen wird, da sie von Gottes liebevoller Ordnung der ganzen Schöpfung handeln, die doch stark auf den Menschen zentrierte Sichtweise der Genesistexte relativiert. Hier wird den Tieren, ganz abseits von dem Nutzen, den sie für Menschen haben, ein eigener Wert, ja sogar eine eigene Gottesbeziehung zugesprochen . Das Hiobbuch erzählt die Geschichte eines leidenden Mannes, der an die Adresse Gottes anklagende Fragen zum Sinn und Grund seines Leidens richtet. Die Ganzheit des Hiobbuches ist ein in Dialogform aufgebautes, von einer (jüngeren?9) Prosaerzählung gerahmtes, weisheitliches Streitgespräch10. Dutzende von Kapiteln ringt Hiob mit Gott und mit seinen Freunden. Im Laufe der Reden und Gegenreden spitzt sich die Frage nach dem Grund des Leidens dramatisch zu und gipfelt in der Herausforderung Gottes zum Rechtsstreit in Kap. 31. Auf diese Herausforderung und auf die in Kap. 3 und 9 komprimierten Anklagen reagieren die Gottesreden in den Schlusskapiteln 38–42. Sie geben auf Hiobs Anklage und Anfrage eine eigentümliche, unerwartete Antwort: Gott offenbart sich in zwei langen Reden, die wohl zu den schönsten Texten der Bibel zählen. Er stellt sich darin als den Herrn der Tierwelt, als den alles umfassenden Schöpfer dar. Alle führt er sie Hiob vor Augen: den Ibis, den Löwen, den Raben, die Felsziege, die Hirschkuh, den Wildochsen, den Wildstier, die Störchin, das Schlachtross, den Geier (Hiob 38,36–39,30)11. Die Aufreihung der prächtigen Naturbilder hat laut Othmar Keel einen wichtigen traditionsgeschichtlichen Hintergrund: Das Bild des «Herrn der Tiere» ist in der vorderasiatischen Glyptik von der Mitte des 2. Jahrtausends an bis in die Perserzeit ausserordentlich häufig anzutreffen: Eine heroenhafte Gestalt steht meist in der Mitte zwischen zwei Tieren und 9
Vgl. Maier / Schroer, Ijob, 194; Horst, Hiob, IX. Zu den verschiedenen Versuchen, die Hiobdichtung anderen Gattungen zuzuordnen vgl. Keel, Jahwes Antwort, 24–28. 11 Eine schöne Übersetzung bietet Horst, Hiob, 332–334. 10
2. Frieden in der Schöpfung
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hält sie fest im Griff. Die Darstellungen variieren zwischen eher bändigendem, herrschendem und eher beschützendem Charakter der Figur. Gerade die in Hiob 39 genannten Tiere kommen in diesen Bildern oft vor. Allesamt vertreten sie den chaotischen, für den Menschen unfassbaren und unbegreiflichen Raum einer wilden Gegenwelt zur menschlichen Ordnung, deren Darstellung leicht in den Bereich des Dämonischen kippen kann12. Dem Hiobbuch zufolge kümmert sich Gott um diese dem Menschen als sinnlos und zwecklos, ja sogar schädlich und gefährlich erscheinenden Wesen, indem er sie nährt, schützt, bewahrt und sich an ihnen freut. Nicht nur um den ihn ansprechenden Menschen kümmert sich Gott, sondern um die Gesamtheit seiner Kreaturen. Auch in dem von Hiob als chaotisch Verkannten sieht Gott seine Ordnung, auch auf diese Schöpfungswerke ist er stolz. Warum nun teilt Gott dies ausgerechnet dem leidenden und hadernden Hiob mit? Die von Hiob gestellte und unendlich oft wiederholte Theodizeefrage wird im Hiobbuch nicht gelöst. Und doch zeigen sich in den beiden Antwortreden Gottes Möglichkeiten, mit der Theodizeefrage zumindest umzugehen: Hiobs Gottesbild wird aufgesprengt. Er hatte es fixiert auf sein eigenes existenzielles Problem und wollte das Wirken Gottes auf das enge Raster des ihm bekannten und vertrauten, nun aber zutiefst in Frage gestellten Tun-Ergehen-Zusammenhangs festlegen. Sein Leiden hatte ihn (verständlicherweise) egozentrisch gemacht. Doch Jhwh lässt sich nicht auf menschliche Denksysteme und Verhaltensmuster festlegen und beschränken. Durch die Vorstellung Jhwhs als des Schöpfers der Welt und als des Herrn der Tiere wird Hiob dazu aufgefordert, sein Bild des ihm persönlich verpflichteten Gottes zwar nicht aufzugeben, aber auszuweiten. Jhwh ist der konkrete, ansprechbare Gott, der auf die Sorgen des menschlichen Individuums reagiert, aber er ist noch viel mehr! Er ist Schöpfer und Herr der Welt, dessen Pläne und Weisheit sich menschlicher Beurteilung entziehen. Diese Ausweitung des Gottesbildes ist ein nicht nur für den Umgang mit dem Theodizeeproblem wichtiges Lehrstück. Auch einer zeitgemässen ökologischen Schöpfungstheologie liefert sie einen unverzichtbaren Ansatz. Hiob wird davon befreit, den Sinn des Chaotischen verstehen zu müssen. Durch den unausgesprochenen und doch offenkundigen Hinweis darauf, dass ihm als menschlichem Individuum Einsicht und Weisheit fehlen, Gottes Handeln und seinen Weltenplan zu verstehen, wird ihm zwar nicht gesagt, dass er nicht versuchen darf zu verstehen, dass er es aber nicht verstehen muss! Dies bedeutet eine enorme Entlastung13. Das in den Gottesreden aufscheinende Bild des Chaotischen unterscheidet sich in einigen Punkten von den in der altorientalischen Welt gängigen Chaosvorstellungen. Im Hiobbuch erscheinen die dem Chaos nahe stehenden 12 13
Vgl. die ausführliche Darstellung in Keel, Jahwes Entgegnung, 86–125. Vgl. Maier / Schroer, Ijob, 200.
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Wesen, einschliesslich den personifizierten Chaosungeheuern Behemot und Leviatan (40,15.25), allesamt als Geschöpfe Gottes, was sie in anderen altorientalischen Traditionen nicht sind14. Laut Hiobbuch gehören sie zur Schöpfung. Mögen Menschen sie für chaotisch, sinnlos und ungeordnet halten, in den Augen Gottes sind sie es nicht. Über die Vorstellung der Welt als von Gott geschaffener und erhaltener Ordnung, die dem Menschen gegenübersteht und ihm nicht einsehbar ist, geht Psalm 104 noch einmal hinaus. Hier erscheint der Mensch im Gesamt der Schöpfung als Gleicher unter Gleichen. Der Psalm beginnt mit der lobenden Beschreibung Jhwhs als König (1–4) und der Darstellung der Schöpfung der Erde und der Zähmung der Urflut (5–9). An das Thema Wasser anknüpfend, setzt V. 10 mit dem Wunder des von Gott gelenkten Wasserhaushalts ein, der Bedingung und Quelle allen Lebens ist15: «[Du, der] Quellen in die Bäche schickt; die laufen dahin zwischen den Bergen, sie tränken alle Wildtiere, es löschen die Wildesel ihren Durst. An ihnen wohnen die Vögel des Himmels, aus dem Dickicht erheben sie die Stimme. [Du, der] die Berge netzt von seinem Obergemach – von der Frucht deines Wirkens sättigst du die Erde. [Du, der] spriessen lässt Gras für die Tiere und Saatgrün für die Bearbeitung durch den Menschen, so dass hervorgeht Brot aus der Erde. Und Wein erfreut das Gemüt des Menschen, um erglänzen zu lassen das Antlitz von Öl. Und Brot begründet die Kraft des Menschen. Satt werden die Bäume Jhwhs, die Libanonzedern, die er gepflanzt hat, worin die Vögel nisten; der Storch hat in den Wipfeln sein Haus. Hohe Berge sind für die Steinböcke da, Felsen als Versteck für die Klippdachse. Angefertigt hat er den Mond für die Zeiteinteilung, die Sonne weiss ihren Untergang. Du befiehlst Finsternis, und es wird Nacht, worin sich tummelt alles Waldgetier; die jungen Löwen brüllen nach Beute, 14 Das Chaotische ist nach altorientalischer Vorstellung etwas, das dem Schöpferhandeln Gottes nicht unterworfen ist, das diesem im Gegenteil vorausgeht und von Gott bzw. den Göttern höchstens bekämpft und in gewisse Nischen abgedrängt werden kann. 15 Für eine genauere Darstellung und Analyse des Psalms sei auf Krüger verwiesen (Kosmo-theologie, 52–60).
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um von El zu fordern ihr Fressen. Geht die Sonne auf, ziehen sie sich zurück und nehmen in ihren Höhlen ihr Lager. Heraus tritt der Mensch zu seinem Schaffen und zu seiner Arbeit bis zum Abend. Wie zahlreich sind deine Werke, Jhwh, alles hast du in Weisheit gemacht, voll ist die Erde von dem, was dir gehört. Da ist das grosse Meer, weit nach beiden Seiten, dort sind Kriechtiere ohne Zahl, kleine und grosse Lebewesen; dort ziehen Schiffe dahin, Leviatan hast du da gebildet, um mit ihm zu scherzen.» (Ps 104,10–24)
Erst recht spät treten in dem Psalm die Menschen auf den Plan. Sie nehmen keinen besonderen Rang ein, sondern fügen sich ein in die Aufreihung der Geschöpfe. Psalm 104 ist ein Hymnus, der in traditionsgeschichtlicher Verwandtschaft zum sog. Grossen Amarnahymnus des Echnaton aus Ägypten steht16. Sein Thema ist die allumfassende Darstellung der Schöpfung mit dem Ziel des Lobes des Schöpfergottes. Die Schöpfung selbst erscheint als Loblied auf den, der sie geschaffen hat und erhält. Den Tieren werden neben und auf gleicher Stufe wie dem Menschen ihr eigener Lebensraum, ihre Zeit und ein eigenständiges Verhältnis zu Gott zugesprochen. Dies deutet sich darin an, dass die Löwen von Gott etwas «fordern» (V. 21); das hier verwendete Verb bqš («fordern, suchen» begegnet häufig in dem Ausdruck «Gottes Angesicht suchen», besitzt also religiöse Konnotation17. Selbst der dem israelitischen Menschen fremd und unberechenbar erscheinende Lebensbereich des Meeres ist von Gott geordnet: Mit der furchtbarsten seiner Gestalten, dem Leviatan, «spielt» Gott – und damit ist die Macht des Chaotischen gebrochen. Selbst das Chaosungeheuer ist eingeschlossen in die Welt der Geschöpfe, die sämtlich Jhwh ernährt und sättigt (V. 27f). Sie alle bedürfen der rua©, der schöpferischen Lebenskraft Gottes, ohne die sie alle zu Staub werden (V. 29): Leviatan, Meerestiere, Vögel, Landtiere und – selbstverständlich eingeschlossen – der Mensch. 16 Ps 104 ist «als Ableger ägyptischer Sonnenhymnen, wahrscheinlich der Amarnazeit, anzusehen, die durch die phönizische Kultur vermittelt und in Israel theologisch rezipiert und modifiziert worden» sind (Keel / Schroer, Schöpfung, 166). Zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den beiden Texten im Aufbau vgl. Krüger, «Kosmo-theologie», 64f, zum unterschiedlichen Wirklichkeitsverständnis vgl. ebd., 65–68. 17 So Henry, Tier, 46. Auch nach Schmitz-Kahmen (Geschöpfe, 71–73) deutet sich im Wort bqš ein Gottesverhältnis der Tiere an, doch unterscheide es sich von dem des Menschen, sofern ihr Gegenüber nicht Jhwh, sondern ‹nur› El («Gott») sei.
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Während also in Hiob 38f Gott die Ordnung seiner Schöpfung gegenüber den dem Menschen bekannten und vertrauten Bereichen des Lebens schildert, geht Ps 104 noch ein Stück weiter und schliesst eben diese Bereiche des Menschen in das Schöpfungsganze ein. Kein alttestamentlicher Text verbindet Mensch und Tier enger miteinander und stellt sie klarer auf die gleiche Stufe als Psalm 104. All diese Texte zeugen von genauer Kenntnis der Tierwelt, von echtem Respekt für sie und von zuweilen fast zärtlicher Zuneigung zu ihr – und entwerfen insofern Gegenbilder zu der oft von Gewalt geprägten Realität im Verhältnis zwischen Mensch und Tier. Literatur
H.J. BOECKER, «Du sollst dem Ochsen, der da drischt, das Maul nicht verbinden». Überlegungen zur Wertung der Natur im Alten Testament, in: B. Janowski u.a. (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 67–84. – W. GROSS, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen nach Gen 1,26–27 in der Diskussion des letzten Jahrzehnts, in: BN 68 (1993), 35–48. – M.L. HENRY, Das Tier im religiösen Bewusstsein des alttestamentlichen Menschen, in: B. Janowski u.a. (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 20–61. – F. HORST, Hiob. 1. Teilband Hiob 1–19, Neukirchen-Vluyn 41983 (BK XVI/1) – B. JANOWSKI / U. NEUMANN-GORSOLKE / U. GLESSMER (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993. – B. JANOWSKI / P. RIEDE (Hrsg.), Die Zukunft der Tiere. Theologische, ethische und naturwissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 1999. – O. KEEL, Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38–41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst, Göttingen 1978 (FRLANT 121). – O. KEEL / S. SCHROER, Schöpfung. Biblische Theologien im Kontext altorientalischer Religionen, Göttingen / Fribourg 2002. – O. KEEL / M. KÜCHLER / C. UEHLINGER, Orte und Landschaften der Bibel. Ein Handbuch und Studienreiseführer zum Heiligen Land, Bd. 1: Geographisch-geschichtliche Landeskunde, Einsiedeln u.a.O. 1984. – T. KRÜGER, «Kosmo-theologie» zwischen Mythos und Erfahrung. Psalm 104 im Horizont altorientalischer und alttestamentlicher «Schöpfungs»-Konzepte, in: BN 68 (1993), 49–74. – G. LIEDKE, Im Bauch des Fisches. Ökologische Theologie, Berlin / Stuttgart 1979. – C. MAIER / S. SCHROER, Das Buch Ijob, in: L. Schottroff / M.-Th. Wacker (Hrsg.), Kompendium feministische Bibelauslegung, Gütersloh 1998, 192–207. – A. DE PURY, Gemeinschaft und Differenz. Aspekte der Mensch-Tier-Beziehung im alten Israel, in: B. Janowski u.a. (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, Neukirchen-Vluyn 1993, 112–149. – G. VON RAD, Das erste Buch Mose. Genesis, Göttingen 111981 (ATD 2/4). – F. SCHMITZ-KAHMEN, Geschöpfe Gottes unter der Obhut des Menschen. Die Wertung der Tiere im Alten Testament, NeukirchenVluyn 1997 (NThDH 10). – M. WEIPPERT, Tier und Mensch in einer menschenarmen Welt. Zum sog. Dominium Terrae in Gen 1, in: H.-P. Mathys (Hrsg.), Ebenbild Gottes – Herrscher über die Welt. Studien zu Würde und Auftrag des Menschen, NeukirchenVluyn 1998 (BThSt 33), 35–55.
SB
3. Frieden und Erlösung im Neuen Testament
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3. Die Hoffnung auf Frieden und Erlösung der Natur im Neuen Testament Am Ende der berühmten Erzählung von Jesu Versuchung in der Wüste finden wir im Markusevangelium einen erstaunlichen Hinweis: «Und während er vierzig Tage in der Wüste war, wurde er vom Satan versucht; und er war mit den wilden Tieren (ên meta tôn thêriôn) und die Engel dienten ihm.» (Mk 1,13)
Der knappe Hinweis auf Jesu Gemeinschaft mit den wilden Tieren findet sich nicht in der lukanischen und matthäischen Fassung dieser Geschichte. Wahrscheinlich konnten diese frühen Interpreten der Markusgeschichte die Anwesenheit der Tiere schwer einordnen. Sie wirkt auch für uns in dieser schlichten und unvermittelten Form geheimnisvoll. Die Wüste gilt als ein mythisch-gefährlicher Ort. Hier wird der Mensch Gefahren ausgesetzt, kommt in Berührung mit dem Bösen und ist schutzlos wilden Tieren ausgeliefert. Die Realität der Gefährdung durch wilde Tiere führt in der alttestamentlich-jüdischen Vorstellungswelt zum Allgemeinplatz, dass Tiere auch Verbündete der Feinde des Gerechten sein können18. Es schwingt in dem kurzen Markustext aber noch mehr mit: Wenn der Satan, der Gegner alles Guten, besiegt ist, erweist sich die Gefahr der Tiere für die Menschen als gegenstandslos. Entsprechend heisst es in den Testamenten der Zwölf Patriarchen, einer für das Verständnis des Neuen Testaments wichtigen Schrift aus dem 2. Jh. v. Chr.: «Wenn ihr das Gute tut: werden euch Menschen und Engel segnen, und Gott wird durch euch unter den Völkern verherrlicht werden und der Teufel wird von euch fliehen, und die (wilden) Tiere werden euch fürchten, und der Herr wird euch lieben und die Engel werden sich euer annehmen.»19
Auch die Verheissung vom Tierfrieden aus Jes 11,6–9 (vgl. C.2.2.) schwingt hier mit20. Dieses prägende Friedensbild entspricht der Vorstellung, dass die heilvolle Zukunft dem paradiesischen Zustand entsprechen wird, der von Anfang an vorgesehen war (man spricht vom «Urzeit-Endzeit-Schema»). Entsprechend wird der «natürliche» Zustand im Paradies auf die Bilder der Heilszeit übertragen. Die kleine Notiz in Mk 1,13 erhält im Horizont dieser Vorstellungswelt deutlich endzeitlich-messianische Konnotationen: Indem 18 Vgl. Ps 91,11–13; Hes 34,5.8.25. Zu den Tieren als «feindliche Gegenwelt» vgl. Keel, Allgegenwärtige Tiere, 178–184. 19 Testament Naphtali 8,4 (übers. Becker, JSHRZ). 20 Vgl. auch Jes 68,17–25; Hos 2,20. Aus der frühjüdischen Literatur ist ein Text aus der syrischen Baruch-Apokalypse (Ende 1. Jh. n. Chr.) interessant: «Die wilden Tiere werden aus dem Walde kommen und den Menschen dienen, aus ihren Höhlen werden Ottern dann und Drachen kommen, um einem Kinde sich zu unterwerfen.» (73,6, übers. Klijn, JSHRZ)
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Jesus den besiegt, der nach der alttestamentlichen Paradieserzählung die verhängnisvolle Schuldgeschichte in Gang setzt, nimmt er den Tierfrieden vorweg, der für das endzeitliche Heil erhofft wird21. Die Hoffnung, die Mk 1,13 punktuell in Jesus verwirklicht sieht, spricht auch Paulus in einem kühnen Entwurf, der die gesamte Schöpfung umfasst, aus: «(18) Denn ich rechne damit, dass die Leiden (ta pathêmata) der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen gegenüber der zukünftigen Herrlichkeit (tên doxan), die uns gegenüber offenbar werden soll. (19) Denn mit Sehnsucht erwartet die Schöpfung (tês ktiseôs) die Offenbarung der Söhne Gottes. (20) Denn die Schöpfung ist der Nichtigkeit (mataiotêti) unterworfen – nicht freiwillig, sondern durch den, der sie unterworfen hat -, auf Hoffnung hin, (21) dass auch die Schöpfung selbst von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit wird hin zur herrlichen Freiheit der Kinder Gottes. (22) Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis jetzt mit (uns) seufzt und in Geburtswehen liegt.» (Röm 8,18–22)
Mensch und Tier sind nicht nur im Leid vereint, sondern auch in der Hoffnung auf Erlösung. Wobei in diesem Szenario der Mensch der Schöpfung im Heil vorausgeht und damit die umfassende Befreiung allen Lebens vom Kreislauf der Vergänglichkeit einläutet. Schöpfung und Erlösung sind dabei aufs Engste miteinander verwoben. Angesichts dieser umfassenden Aussage ist es erstaunlich, wie wenig christliche Theologie Notiz genommen hat (und teilweise noch nimmt) vom realen «Seufzen der Kreatur»22. Dabei ist – wie der Text betont – die aussermenschliche Schöpfung nicht freiwillig (V. 20: ouch hekousa) der Nichtigkeit unterworfen, sondern sie ist durch den Fall Adams mit hineingezogen worden. Wie im Sündenfall die Menschen vorausgingen, so auch in der Erlösung. Darauf setzt die Natur ihr hoffnungsvolles Erwarten. Ihr Seufzen bis dahin ist letztendlich Ausdruck von Lebendigsein und Schmerzempfindlichkeit23. Literatur
R.J. BAUCKHAM, Jesus and the Wild Animals (Mark 1:13). A Christological Image for an Ecological Age, in: J.B. Green / M. Turner (Hrsg.), Jesus of Nazareth. Lord and Christ, FS I.H. Marshall, Grand Rapids 1994, 3–21. – E. FASCHER, Jesus und die Tiere, in: ThLZ 90 (1965), 561–570. – J. GNILKA, Das Evangelium nach Markus, Bd.1, NeukirchenVluyn 1978 (EKK 2/1). – E. GRÄSSER, KAI EN META TÔN THERIÔN (Mk 1,13b). Ansätze einer theologischen Tierschutzethik, in: W. Schrage (Hrsg.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments, FS H. Greeven, Berlin 1986 (BZNW 47), 21 Vgl. zu dieser Deutung Fascher, Jesus; Bauckham, Jesus; Grässer, Tierschutzethik. Vielleicht spielt auch ein Vergleich zwischen Adam und Christus (eine sog. «Typologie») hier eine Rolle (so Gnilka, Markus, 58). 22 Vgl. Grässer, Seufzen, 97, der zu Recht feststellt: «An sachgemässer Exegese von Röm 8,19–22 ist kein Mangel. Wohl aber an daraus zu ziehenden Konsequenzen.» 23 Grässer, Seufzen, 104–106.
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144–157. – DERS., Das Seufzen der Kreatur (Röm 8,19–22). Auf der Suche nach einer ‹biblischen Tierschutzethik›, in: JBTh 5 (1990), 93–117. – O. KEEL, Allgegenwärtige Tiere. Einige Weisen ihrer Wahrnehmung in der hebräischen Bibel, in: B. Janowski u.a. (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen, Neukirchen-Vluyn 1993, 155–198.
MM 4. Die Mächte und Gewalten – Das Ende der Gewalt Das Neue Testament, v.a. das paulinische Schrifttum, benutzt eine Reihe von Begriffen, um Engelwesen und/oder abstrakte Strukturen zu bezeichnen: exousiai («Mächte»), dynameis («Gewalten»), archôntes («Herrscher»), thronoi («Throne»), kyriotêtes («Herrenmacht»), kosmokratores («Weltherrscher») und stoicheia («Elemente»). Eng verwandt damit sind Begriffe wie angelos («Engel, Himmelsbote»), diabolos / Satanas («Teufel», «Satan»), daimôn / daimonion («Dämon», «böser Geist»), eidôlon («Götze», «falscher Gott»), ho theos tou aiônos toutou (2Kor 4,4: «der Gott dieses Zeitalters»).
Eine hierarchische Klassifizierung der einzelnen Glieder ist nicht möglich. Auch ist der genaue Referenzbereich aussergewöhnlich schwer in unsere Vorstellungswelt zu übertragen. Ein wichtiger Aspekt jedoch dürfte die elementare Erfahrung sein, wenn Menschen sich von «Mächten» kontrolliert sehen, die sie nicht beeinflussen können, wenn sie ihre Welt erfahren als ein Schicksal, dem sie ausgeliefert, worin sie verloren sind. Im paulinischen Sprachgebrauch ist es nicht immer möglich, zwischen der rein politischen und der «spirituellen» Ebene zu unterscheiden – vielleicht deswegen, weil beide Aspekte nicht als etwas Getrenntes angesehen wurden24. So nennt Paulus in 1Kor 2,6–8 das Evangelium vom Gekreuzigten eine Weisheit, die weder in das Schema dieses Zeitalters (tou aiônos toutou) passt noch den «Herrschern dieses Zeitalters» (tôn archontôn tou aiônos toutou) entspricht. Als Beweis dafür, dass die «Herrscher» diese Weisheit nicht erkannt haben, führt Paulus die Kreuzigung an: «Keiner der Herrscher dieses Zeitalters hat sie [= die Weisheit] erkannt – denn wenn sie (diese) erkannt hätten, so hätten sie wohl kaum den Herrn der Herrlichkeit gekreuzigt.» (1Kor 2,8)
Paulus geht in seiner Argumentation hypothetisch von der Annahme aus, die Weltherrscher hätten die Weisheit Gottes erkannt. In diesem Fall hätten sie wohl kaum den «Herrn der Herrlichkeit» gekreuzigt. Und zwar nicht nur, weil es sich um den «Herrn» handelt, sondern auch weil göttliche Weisheit friedvoll ist und eine solche Unrechtstat nicht hervorbringen kann. Nun trifft 24 Die Vorstellung, dass «Engel» als Vertreter des himmlischen «Hofstaates» den Verlauf des politischen Geschehens mitbestimmen, ist in der Bibel an einigen Stellen belegt: Jes 6,1–8; Hes 1,1–28; Dan 7,9–10; 8,15–19; Offb 7,1–12; 10,1–7.
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dies nicht zu, sie haben Jesus gekreuzigt! Demnach steht fest: Sie haben die Weisheit Gottes niemals erkannt. Paulus spricht von der Kreuzigung Jesu als einer Unrechtstat, die nicht von einem Einzelnen verantwortet wurde, sondern generell von den «Herrschern dieses Zeitalters». Hier schwingen deutlich politische und «geistliche» Vorstellungen mit25. Die politische, strukturelle und transzendentale Gewalt ist fehlgeleitet, weil sie nicht mit göttlicher Weisheit ausgestattet und damit vergänglich ist. Dass das Evangelium in eine Welt tritt, die «systemisch» die Botschaft vom Gekreuzigten ablehnt, wird auch in 2Kor 4,4 deutlich: Den Menschen, die das Evangelium nicht im Glauben empfangen, hat «der Gott dieser Welt (ho theos tou aiônos toutou) den Sinn verblendet». Für Paulus liegt ein Schleier über den Wahrnehmungsorganen der Menschen, so dass sie das «Licht des Evangeliums» nicht zu sehen vermögen. Obwohl der Apostel hier nicht vom «Satan» oder vom «Teufel» spricht, nimmt er unsichtbare Einflusskräfte in der Welt wahr, die sich dem Evangelium entgegenstellen. Dem entspricht auch die Bewertung der vorchristlichen Existenz als eines Zustands von Unmündigkeit und «Knechtschaft unter den Weltelementen» (hypo ta stoicheia tou kosmou êmetha dedoulômenoi: Gal 4,3; vgl. 4,8). Christlicher Glaube bedeutet Befreiung von diesen Mächten (Gal 4,4–7) und die Verkündigung des Evangeliums impliziert für Paulus zugleich auch das Zeugnis gegen die Gewalten (1Kor 2,6–7; vgl. Eph 3,10). Diese werden in einer umfassenden Zukunftsschau am Ende von Christus vernichtet und dem Vater übergeben (1Kor 15,24). Bis dahin steht die Gemeinde unter dem Schutz der Liebe Gottes, von der «weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur» sie trennen kann (Röm 8,38–39). Im Kolosser- und Epheserbrief wird die Kritik an den Mächten weitergeführt. Angesichts der Gefahren eines «Rückfalls» in Bindungen und Abhängigkeiten des «früheren» Lebens besingt der wunderbare Christus-Hymnus in Kol 1,15–20 die Geschaffenheit aller Mächte: «Denn in ihm [= Christus] wurde alles im Himmel und auf Erden geschaffen, das Sichtbare und das Unsichtbare, sowohl Throne als auch Herrschaften, sowohl Mächte als auch Gewalten (eite thronoi eite kuriotêtes eite archai eite exousiai); alles wurde durch ihn und auf ihn hin geschaffen.» (1,16)
Im Lichte dieses christologischen Bekenntnisses werden in Kap. 2 die Adressaten und Adressatinnen davor gewarnt, sich einfangen zu lassen «durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Lehre von Menschen und auf die Mächte der Welt (ta stoicheia tou kosmou) und nicht auf Christus» (2,8). Gegen diese hintergründig wirkenden Einflüsse ist die Gemeinde gewappnet, 25
Vgl. Wink, Naming, 40–45.
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weil sie durch den Glauben und die Taufe an der göttlichen «Fülle» dessen teilhat, «der das Haupt (bzw. der Ursprung) aller Mächte und Gewalten (hê kephalê pasês archês kai exousias) ist» (2,10–13). In beinahe poetischen Bildern wird der Sieg am Kreuz über die Gewalten als triumphaler Siegeszug gemalt, bei dem diese «ihrer Macht entkleidet und öffentlich zur Schau gestellt» werden (2,16). Besonders im Epheserbrief steht die Kirche im Kampf gegen diese Mächte (Eph 2,2; 3,10; 6,12), einem Kampf, der in der Klammer zweier christologischer Überzeugungen steht: Christus hat die Mächte geschaffen und er hat sie überwunden (Eph 1,21; vgl. Kol 1,16). In Eph 2,2–3 wird die gesamte Metaphorik der Mächte auf die vorchristliche Existenz übertragen: Die Christen und Christinnen haben früher in Sünden gelebt «nach der Art dieser Welt (kata ton aiôna tou kosmou toutou), unter dem Mächtigen, der in der Luft herrscht (kata ton archonta tês exousias tou aeros), nämlich dem Geist, der zu dieser Zeit am Werk ist in den Kindern des Ungehorsams (tou pneumatos tou nun energountos en tous hyiois tês epeitheias). (3) Unter ihnen haben auch wir alle einst unser Leben geführt in den Begierden unseres Fleisches und taten den Willen des Fleisches und der Sinne und waren Kinder des Zorns von Natur wie auch die andern.»
Auch die ausgefeilte Allegorie der «geistlichen» Waffenrüstung steht im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung: «Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit den Mächtigen und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in dieser Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel (pros tas archas, pros tas exousias, pros tous kosmokratoras tou skotous toutou pros ta pneumatika tês ponêrias en tois epouraniois). Deshalb ergreift die Waffenrüstung Gottes, damit ihr an dem bösen Tag Widerstand leisten und alles überwinden und das Feld behalten könnt.» (Eph 6,12–13)
Der gesamte Abschnitt Eph 6,10–17 bedarf noch einer kurzen Deutung26 (zur militärischen Sprache s.o. B.V.3.3.). Der Abschnitt ist wichtig für die Thematik der Mächte, weil der Epheserbrief insgesamt sehr «triumphalistisch» klingt27, am Ende jedoch einen realistischen Zug erhält: die Zeit ist «böse» (6,13). Die Gemeinde bewegt sich also in einem gefährdeten Raum, der trotz des Sieges von der Auseinandersetzung zwischen Licht und Finsternis geprägt ist28. Das Bild der «Waffenrüstung» steht sachlich im Zusammenhang mit der Hauptmahnung (6,10): «Werdet stark im Herrn!»29 Das «Stark26
Vgl. zur Auslegung Luz, Epheser, 175–179; Schnackenburg, Epheser, 272–292. Die Gläubigen thronen endgültig mit Christus im Himmel (2,6), die bösen Mächte sind Jesus unterworfen (1,20–22). Was soll da noch kommen? 28 Schnackenburg, Epheser, 277. 29 Vgl. Röm 13,12; 1Kor 16,13; 2Kor 6,7; 10,3–5; 1Thess 5,8; Kol 1,11. 27
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Werden» ist passivisch formuliert. Es geht also um die Stärke des Herrn, um die Waffenrüstung Gottes für den Kampf gegen seinen Widersacher, den Teufel (6,11; vgl. 1Petr 5,8). Die heimtückischen Angriffe und listigen Machenschaften (methoeiai), die für den Teufel charakteristisch sind, können äussere Verfolgungen oder auch innere Spannungen, Spaltungen, Streitigkeiten sein. Man kann hier von «mythologischer» Sprache reden, denn der «Teufel» ist kein Einzelgegner, sondern eine Art Generalcode für gegnerische Mächte (6,12), hinter denen pagane Gottheiten, Himmelsgestirne, magische Kulte und Mysterienreligionen, Laster, Weltherrscher, politische Zwangssysteme, Schicksalsglaube, Dämonenfurcht usw. vermutet werden können. Die christliche Gemeinde untersteht nicht mehr diesen negativen, zerstörerischen Mächten. Es geht um den «Kampf der Christen um ein neues Leben in der Welt gegen den Bösen selbst»30. Die Waffenrüstung Gottes (6,13; vgl. Röm 13,12; 1Thess 5,8) erinnert an das Bild von Gott als Kriegsherrn31. Die Anweisung, sich dieser Rüstung zu bedienen, zielt jedoch auf Verteidigung und nicht auf Vernichtung. Es geht um Standhaftigkeit und nicht darum, den Gegner zu überwältigen. Daher fehlen in der folgenden Rüstungstypologie (6,14–17) die Angriffswaffen des römischen Soldaten: Lanze, Langschwert, Pfeil und Bogen32. Die Rüstung schützt und befähigt zum Kampf. Sie bildet wichtige Werte und Haltungen aus: Wahrheit (Gürtel), Gerechtigkeit (Brustpanzer), Bereitschaft zum Evangelium des Friedens (Sandalen), Glaube (Schild), Heil/Rettung (Bronzehelm), Wort Gottes (Kurzschwert des Geistes). Insgesamt steht die Rüstung im Dienst des Friedens und des Heils. Die Überzeugung, dass alle Mächte durch den Gekreuzigten besiegt worden sind, erhält im Kampf für die Werte des Evangeliums eine ethische Konsequenz. Dadurch wird die Vision einer heilvollen Zukunft zur gelobten Gegenwart. Die bisherige Beschäftigung mit der Sprache des Paulus und seiner Schüler nimmt uns nicht das Befremden über diese Gedankenwelt. Wenn wir von übernatürlichen Mächten, bösen Geistwesen, Dämonen, dem Satan usw. reden, wird ein angemessenes Verständnis durch die vielen mitschwingenden Assoziationen aus Kunst, Film und populärer Frömmigkeit ungemein erschwert. Dies lässt sich exemplarisch am wechselnden Umgang mit der Gestalt des Teufels ablesen. Die Auffassungen reichen von einem wörtlichen Verständnis als personhaftes Geistwesen (ab dem Mittelalter in Bockgestalt mit Pferdefuss) über den Entmythologisierungsversuch als «Code» für die Verdichtung des Bösen (bereits bei 30
Luz, Epheser, 177. Vgl. Jes 42,13; 59,17; Hab 3,8f; Ps 35,1ff; Weish 5,17–22; dazu ausführlich Yoder Neufeld, Armour. 32 Der Gegner setzt jedoch «Brandpfeile» ein (6,12). 31
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Kant) bis zur säkularen Auflösung im Sinne eines irregeleiteten Aggressionstriebs oder gesellschaftlicher Zwänge. Schnackenburg hebt hervor, dass der Teufel als widergöttliche Macht des Bösen «eine Hintergründigkeit in sich birgt, die eine rein menschliche Erklärung überschreitet. […] Hinter aller unbegreiflichen und unerklärlichen menschlichen Bosheit wird eine geistige Potenz des Bösen sichtbar, die menschliches Wollen und menschliche Geschichte unheilvoll umfängt.»33
Weder die unkritische Übertragung des Engel- und Dämonenglaubens noch der Hinweis auf ein längst überholtes Weltbild, aus dem heraus diese Begrifflichkeit ihren Sinn erhalte, fördert ein wirkliches Verstehen. Der neuzeitliche Empirismus hat ausschliesslich jenen Bereich zur Wirklichkeit erklärt, der sich an sichtbaren Dingen überprüfen lässt. Damit ist zwar viel gewonnen und vieles aus dem Bereich menschlicher Angst entfernt worden, aber wir müssen uns ernsthaft fragen, was durch eine solche Entzauberung der Welt unter Umständen auch an Wahrnehmungsmöglichkeiten verloren gegangen ist34. Auch wir reden von Gesellschaft, Ideologie, Institution, Nationalidentität, Paradigma, Strömung, Struktur, System, Verhaltensmuster, Weltanschauung, Weltbild, Zeitgeist usw.; also von «Dingen», die unsichtbar auf unser Denken und Handeln einwirken. Die Macht des Geldes, des globalen Marktes, des Staates, der einzelnen politischen Systeme, der Gesellschaft usw. sind Realitäten, die häufig die Grenzen unserer individuellen Freiheit markieren35. Diese Mächte (z.B. die «Staatsgewalt») sind zwar von einzelnen Personen abhängig, sind aber immer mehr als die Summe ihrer einzelnen «Organe»; sie sind also «transpersonal» bzw. «über-menschlich». An dieser Stelle setzt die Analyse von Walter Wink ein, der einen Mittelweg zwischen Entmythologisierung und Biblizismus sucht36: Die biblische Rede übersetzt er in ein ganzheitliches Weltbild, welches jeder sichtbaren Realität auch eine unsichtbare Seite zuordnet. Die «Mächte» treten äusserlich als erkennbare politische Systeme 33
Schnackenburg, Epheser, 279. Dass Engel ausser in der Wissenschaft überall präsent sind (in Literatur, Kunst, Film, Werbung, persönlichem Glauben usw.), sollte auch die Theologie davor bewahren, Geistwesen allzu schnell im Namen von Naturwissenschaft und Technik in der Mottenkiste überholter Weltbilder zur Ruhe zu legen. 35 Vgl. nur den Anfang von Adornos Minima Moralia: «Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muss dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen.» (S. 13) 36 Der folgende Abschnitt verdankt viel einem Seminarbeitrag von Markus Reist. Vgl. neben den drei Bänden von Wink, Naming the Powers (1984); Unmasking the Powers (1986); Engaging the Powers (1993) auch die Arbeit von Zeilinger, Zwischen-Räume, der S. 71–108 ausführlich auf Winks Arbeit eingeht und im Anschluss daran versucht, den biblischen Sprachgebrauch im Rahmen heutiger wissenschaftlicher Diskurse zu deuten. 34
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und Organisationen auf, haben aber zugleich eine innere eigene «Spiritualität», einen «Geist», eine «treibende Kraft». Der «Himmel» ist nicht das Jenseits gegenüber zur Welt, sondern das «Innere» der Dinge, ihre verborgene Beziehung zu Gott. Diese «Archetypen» (Jung) und unsichtbaren Realitäten sind nur durch Bilder und Vorstellungen greifbar. Aus dem Neuen Testament entnimmt nun Wink drei Grundsätze: Die Mächte sind geschaffen und gefallen, sie sind nicht an sich schlecht und sie gehören zum Herrschaftsbereich Jesu. Den Fall der Mächte deutet Wink so, dass sie zu einem «System der Beherrschung» (domination system) geworden sind. Der Geist dieses Systems besteht in der Annahme, dass das Böse Priorität vor dem Guten hat und deshalb mit Macht und Gewalt beherrscht werden muss. Diese Grundideologie hat sich nicht nur in vielen politischen Systemen verfestigt, sondern insbesondere auch im männlichen Herrschaftssystem (der sog. «Androkratie»). Die alles durchdringende Kultur der Gewalt ist Ergebnis der gefallenen Mächte37. Jesus hat diese Mächte dadurch ausser Kraft gesetzt, dass er der Kultur der Herrschaft eine Kultur der Gewaltlosigkeit entgegengestellt hat. Seine aktive Gewaltlosigkeit führte ihn ans Kreuz. Dadurch hat er das Gottesbild revidiert: Gott ist nicht auf der Seite der Macht, er ist kein Rivale für das menschliche Machtstreben. Dieses «Christus-Prinzip» kann zum «Archetypen der Menschheit» werden für die, die sich zu ihm hingezogen fühlen. Aufgabe der Kirche ist es, mit den Analysemitteln des Evangeliums die Hintergründigkeit der Mächte offen zu legen, ihren Anspruch zu hinterfragen und durch Gegenmassnahmen zu entkräften. Die erhabenste Form dieser «Gegenkultur» ist die Feindesliebe. Sie geht einen ganz eigenen Weg zwischen Flucht, Unterwerfung, Rückzug und Ergebung auf der einen Seite und Kampf, Gewalt, Rebellion, Vergeltung und Rache auf der anderen Seite.
Das gesamte System Winks ist zu weitgreifend, um hier ausgiebig diskutiert zu werden. Er hat jedoch mit aller Klarheit auf den Zusammenhang zwischen Macht, Mächten und Gewalt aufmerksam gemacht und die schwere Sprache des Neuen Testaments dafür in Anspruch genommen. Theologische Kritik der Gewalt sollte es sich zur Aufgabe machen, im Licht des Kreuzgeschehens Akzeptiertes zu hinterfragen, Hintergründiges an die Oberfläche zu bringen und Verschleiertes sichtbar zu machen. Sie sollte auch den Mut aufbringen, den «Teufel» beim Namen zu nennen und jeder Form von Gewalt den Spiegel vorzuhalten. Trotz des aufrichtigen Bemühens um einen vernünftigen und nachvollziehbaren Diskurs sollte Theologie schliesslich auch der Kraft biblischer Erlösungsbilder zu ihrer Wirkung verhelfen. Literatur
T.W. ADORNO, Minima Moralia, Frankfurt a.M. 1951. – U. LUZ, Der Brief an die Epheser, in: J. Becker / U. Luz, Die Briefe an die Galater, Epheser und Kolosser, Göttingen 1998 (NTD 8/1), 107–182. – R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser, NeukirchenVluyn 1982 (EKK 10). – W. WINK, Naming the Powers, Philadelphia 1984. – DERS., 37
Im Prinzip handelt es sich hier um eine Theologisierung von Galtungs Begriff der strukturellen Gewalt (dazu s.o. S. 14).
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Unmasking the Powers, Philadelphia 1986. – DERS., Engaging the Powers. Discernment and Resistance in a World of Domination, Minneapolis 1993. – T. YODER NEUFELD, Put on the Armour of God. The Transformation of the Divine Warrior in Isaiah 59, Wisdom of Solomon 5, 1Thessalonians 5, and Ephesians 6, Sheffield 1997 (JSNT.S 140). – T. ZEILINGER, Zwischen-Räume. Theologie der Mächte und Gewalten, Stuttgart 1999.
MM 5. Die Basileia als Zeichen des Friedens Die Verkündigung Jesu hat ihr Zentrum im Begriff der «Basileia»38, dessen Verwendungsweisen in den synoptischen Evangelien allerdings eine verwirrend grosse Bandbreite aufweisen: Die «Basileia» ist ewig (Mt 25,34; Lk 1,33), sie ist da (Lk 17,21), ist nahe (Mt 3,2; 4,17; 10,7; Mk 1,15) und sie wird noch kommen (Mt 6,9–10; 25,34; 26,29; Mk 9,1; Lk 22,18). Doch wenn sie kommt, sieht man sie nicht (Lk 17,20). Man muss sie suchen (Mt 6,33) und in sie eintreten (Mt 5,20; 7,21; 23,13), obwohl dies aus menschlicher Sicht unmöglich ist (Mt 19,23–26). Sie gehört den Armen (Lk 6,20) und denen, die wie Kinder sind (Mt 18,3f; 19,14), aber schwerlich den Reichen (Mt 19,23–24). Rein sprachlich kann der griechische Ausdruck stärker räumlich («Reich, Königreich») oder stärker funktional («Herrschaft, Monarchie, Königswürde») gebraucht werden. Jesus spricht aber kaum von Gott als König, blendet also die theokratisch-politische Komponente aus39. Der Gottesherrschaft steht nicht etwa die römische Herrschaft gegenüber, sondern die Herrschaft des Satans. Es lassen sich mindestens drei Bedeutungskomponenten voneinander abheben: • Die Herrschaft und Regierungsgewalt, die Gott aktiv immer und überall ausübt; • der Machtbereich, in den Menschen jetzt bereits eintreten können, um Heilserfahrungen zu machen und eine neue ethische Verantwortung wahrzunehmen; • das kommende Reich als eine von der Anwesenheit Gottes durchdrungenen Realität, die mit dem Gericht einhergeht. Lokales und Dynamisches, Zukünftiges und Gegenwärtiges überkreuzen und verschränken sich auf so ungewöhnliche Weise, dass man in der Aufhebung sprachlich-gedanklicher Grundstrukturen eine theologische Absicht vermuten darf. Das Heil gelangt dergestalt zu den Menschen, dass es nicht einfach in Worte gefasst werden kann. Bei dem Versuch, diese alternative Raum- und Zeitauffassung präzise zu beschreiben, gelangt auch die Theologie an ihre Grenzen. Jesus lüftet das Geheimnis der Basileia weder durch eine griffige 38 Vgl. Becker, Jesus, 100–275; Hoffmann, Eschatologie; Luz, basileia; Merklein, Gottesherrschaft; Theissen / Merz, Jesus, 221–255. 39 Luz, basileia, 486.
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Definition noch durch einen thematischen Diskurs. Er hat ihr vielmehr in Bildern, Gleichnissen, Heilungen und Symbolhandlungen Ausdruck verliehen und diese in seiner eigenen Person als Teil der Wirklichkeit erfahrbar gemacht. Dabei wird auf verschiedenen Ebenen die enge Verknüpfung zwischen der Basileiaverkündigung Jesu und seiner Forderung nach Frieden und Gewaltverzicht deutlich. 1. Die Form des Gleichnisses ist typisch für die Art und Weise, wie Jesus die Gottesherrschaft zur Sprache brachte. Viele Gleichnisse haben eine Verhaltensänderung im Blick, die zu Versöhnung und sozialem Frieden führt: Es geht dabei z.B. um den unlösbaren Zusammenhang von göttlicher und menschlicher Vergebung (Mt 18,23–35), um die Aufnahme und Wiederherstellung des reuigen Sünders (Lk 15,4–32)40, um die Gefahr, andere vorzeitig zu verurteilen (Mt 13,24–30), um die Notwendigkeit, sich um das Verlorene zu kümmern (Mt 18,12–14), um die Gleichheit aller angesichts des Heils (Mt 20,1–6), um die tätige Barmherzigkeit, die den Menschen zum «Nächsten» werden lässt (Lk 10,30–37). Zu den Bildern des Heils gehören eine prunkvolle Hochzeitsfeier (Mt 22,1–14; vgl. 25,1–13), der arme Lazarus in Abrahams Schoss (Lk 16,23) und v.a. immer wieder Bilder des Entdeckens, des (Wieder-)Findens und des unerwarteten Statusgewinns. Die Gottesherrschaft hängt als Heilserfahrung mit dem Gerichtswirken Gottes zusammen. Viele empfinden heute zwar darin eine Spannung, aber in der Vorstellungswelt Jesu (wie überhaupt in der des frühen Judentums) gehören Gericht und Heil zusammen. Für die Kehrseite des Gerichts, das Unheil, finden viele Gleichnisse jedoch nur Bilder der Gewalt: Die bösen Weinbergpächter, die die beiden ersten Gesandten des Eigentümers verprügeln, den dritten töten und schliesslich seinen Sohn umbringen, werden im Gegenzug vom Eigentümer umgebracht (Mk 12,3–9). Dem unbarmherzigen Knecht wird am Ende seine bereits getilgte Schuld wieder auferlegt und er wird den Folterknechten übergeben (Mt 18,34). Die Hochzeitsgäste, die mit fadenscheinigen Gründen die Teilnahme am Fest absagen und dazu noch die Gesandten des Königs misshandeln und töten, werden von königlichen Truppen umgebracht und ihre Stadt dabei in Brand gesetzt (Mt 22,6f). 2. Die Wunder Jesu sind Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft41: «Wenn ich aber die Dämonen durch den Finger Gottes austreibe, dann ist doch die Gottesherrschaft zu euch gekommen.» (Lk 11,20 par Mt 12,28) Die Heilungen ebenso wie die Befreiung von «Dämonen» entfalten dabei eine Heilsvision, die Seele und Leib umfasst. «Wo Essen und Trinken […] die Leiblichkeit der Gottesherrschaft bekunden, sollte die andere Seite der 40 41
Vgl. zu diesen beiden wichtigen Gleichnissen D.V.4. Becker, Jesus, 219f; Theissen / Merz, Jesus, 279.
5. Die Basileia als Zeichen des Friedens
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Leiblichkeit, also die Gesundheit, nicht ins dunkle Abseits gehören können.»42 Viele verbinden mit Wundern ein veraltetes Weltbild und können sich eine «Austreibung von Dämonen» nur in Bildern eines Horrorfilms vorstellen. Es geht dabei jedoch nicht um die Durchbrechung der Naturgesetze oder um einen Hang zum Schauderhaften, sondern um die Ganzheit des Heils. Mk 5,1–16 erzählt z.B. von einem gewalttätigen, unberechenbaren und Furcht einflössenden Mann, der zwischen Gräbern lebt. Als Jesus den Mann fragt, wie er denn heisse, antwortet er mit «Legion», dem Namen einer römischen Militäreinheit. Die Erfahrung der Fremdherrschaft und Unterdrückung hat diesen Menschen aus den seelischen Fugen geraten lassen. Ebenso wie Israel von einer fremden Macht beherrscht wird, wird auch er von einer fremden Macht beherrscht. Durch die Begegnung mit Jesus gelangt er zur Besonnenheit, kommt wieder zu sich selbst und wird «bekleidet und vernünftig» von den Menschen gesehen (Mk 5,15). 3. Einen weiteren Hinweis auf dieses umfassende Wohlergehen finden wir in den vielen Gastmahlszenen in den Evangelien43. Das Gastmahl war generell ein Zeichen zwischenmenschlicher Gemeinschaft und ganzheitlichen Wohlbefindens (als Heilsbild in Jes 25,6–8). Jesus und seine Jünger wurden häufig zu gemeinsamen Mählern eingeladen, wobei das Motiv vom brotbrechenden Jesus (etwa Mk 6,41; Lk 24,30) vermuten lässt, dass er die Rolle des Gastgebers einnahm. Das Mahl war offen für alle, ungeachtet ihrer religiösen oder sozialen Stellung (vgl. Lk 14,21): Arme, Kranke und Steuerpächter bzw. Zöllner, und ebenso Frauen (vgl. Mk 14,3; Lk 7,37; 10,38–40)44. Jesus galt daher seinen Gegnern als «Freund der Zöllner und Sünder» (Mt 11,19 par). Diese besonderen Mahlzeiten vermittelten echte und lebendige Erfahrungen sozialer Integration im Rahmen der anbrechenden Gottesherrschaft. Für viele Arme und Verachtete war damit ein Statusgewinn verbunden, denn im Alltag war ihnen die Tischgemeinschaft mit Höherstehenden nicht vergönnt. Nimmt man die präsentische Dimension der Gottesreichsverkündigung ernst, dann sind diese Mahlgemeinschaften nicht blosse Vorwegnahmen des endzeitlichen Freudenmahls, sondern wie die Gleichnisse und die Wunder bereits Ereignisse der Gottesherrschaft. In manchen Zukunftsbildern sind die Gastmähler jedoch ambivalent: So sitzen zwar Nichtjuden mit den Stammvätern Abraham, Isaak und 42
Becker, Jesus, 213. Vgl. Becker, Jesus, 194–211; Koch, Tischgemeinschaft. Hinweise auf Mahlzeiten finden sich bereits in Q (Mt 11,18f = Lk 7,33f; Lk 10,7 = Mt 10,11; Lk 14,15–24 = Mt 22,1–10) und im Mk-Evangelium (1,31; 2,15–17.18–20; 3,20; 7,1–2; 14,3–9). Eine bewusste Akzentuierung erfährt das Mahlmotiv allerdings erst im Lk-Evangelium: Neben den Markusparallelen vgl. Lk 7,36ff; 8,1–3; 10,8.38–42; 11,37ff; 13,26; 14,1–24; 15,1f; 19,1ff; 24,28ff. 44 Vgl. Blank, Frauen. 43
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C. Gegenbilder zur Gewalt
Jakob am Tisch, aber gleichzeitig werden die «Erben des Reiches» davon ausgeschlossen (Mt 8,11f par Lk 13,28f). Während die Mahlzeitpraxis Jesu keine Beschränkungen zu kennen scheint, verdunkelt sich das Zukunftsbild durch die klare Grenzziehung zwischen Feiernden und Ausgeschlossenen (Mt 25,1–13). Die Basileia-Verkündigung behält im Blick auf die Gewaltfrage etwas Zwiespältiges. Für das umfassende Heil finden sich in vielen Gleichnissen Bilder der Freude, der Ganzheit und des Friedens zwischen den Menschen und mit Gott. Sobald jedoch die Kehrseite des Gerichts ins Blickfeld gerät, werden wir mit Bildern der Gewalt konfrontiert. Gewiss dienen solche Bilder dazu, den Ernst der Nachfolge einzuschärfen; sie wollen nicht das Ende ausmalen, sondern den Ruf Jesu als Entweder-Oder zur Sprache bringen45. Es liegt jedoch in der Natur der Drohung, dass sie nur dann wirkt, wenn eine reale Umsetzung dem Drohenden zugetraut wird. Die christliche Eschatologie hat in ihren Zukunftsvisionen den Aspekt der Gewalt leider nicht überwinden können46. Freude am Heil kann sich dabei ganz ungetrübt mit der Vorstellung ewiger Höllenqualen verbinden. Wenn dies heute zunehmend als ein Problem empfunden wird, dann entspringt das nicht einer modernen Verflachung oder sanften Umdeutung des Evangeliums. Es geht vielmehr darum, das göttliche Gericht im Sinne seiner Liebe und Gnade neu zu buchstabieren47. Eine Hilfe dazu bieten Jesu Gastmähler, seine Therapien und Dämonenbefreiungen, die als Antizipationen von umfassender Integration, Wohlergehen und Menschwerdung zu verstehen sind. Im Leben Jesu gehört Gewalt eindeutig zum Bereich des Dämonischen, das durch die Gottesherrschaft überwunden wird. Wenn Jesus daher von einer Visionserfahrung berichtet, dass er «den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen sah» (Lk 10,18), dann kündigt sich damit auch das Ende der Gewalt, jeder Gewalt, an. Literatur
J. BECKER, Jesus von Nazaret, Berlin / New York 1996. – J. BLANK, Frauen in den Jesusüberlieferungen, in: G. Dautzenberg u.a. (Hrsg.), Die Frau im Urchristentum, Freiburg 1983, 9–91. – P. HOFFMANN, Eschatologie und Friedenshandeln in der Jesusüberlieferung, in: U. Luz u.a., Eschatologie und Friedenshandel. Exegetische Beiträge zur Frage christlicher Friedensverantwortung, Stuttgart 1981 (SBS 101), 115–152. – D.-A. KOCH, Jesu Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, in: Ders.
45
Luz, Matthäus, 549f. Am stärksten ausgeprägt ist dieser Aspekt in der Johannesoffenbarung, vgl. dazu D.III.1. 47 Allgemein zur Gerichts- und Höllenvorstellung im Mt-Evangelium vgl. Luz, Matthäus, 551–561 und, kritisch dazu, Räisänen, Hölle. 46
5. Die Basileia als Zeichen des Friedens
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u.a. (Hrsg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum, FS W. Marxsen, Gütersloh 1989, 57–74. – U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, 3. Teilband: Mt 18–25, Neukirchen-Vluyn 1997 (EKK I/3). – DERS., Art. basileia, in: EWNT 1 (1980), 481–491. – H. MERKLEIN, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze, Stuttgart 31989 (SBS 111). – H. RÄISÄNEN, Matthäus und die Hölle. Von Wirkungsgeschichte zu ethischer Kritik, in: M. Mayordomo (Hrsg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments, Stuttgart 2005 (SBS 199), 103–124. – G. THEISSEN / A. MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttigen 1996.
MM
D. Wege zur Überwindung der Gewalt in der Bibel
I. V ORBEUGUNG
GEGEN
G EWALT
Der Bereich der Gewaltvorbeugung ist aus biblischer Perspektive bisher kaum behandelt worden. Es müsste danach gefragt werden, welchen Beitrag biblische Texte dazu leisten können, gewaltloses Verhalten zu verstärken und gleichzeitig Ursachen für die Entstehung von Gewalt auszuschalten. Überwindung von Angst, Umgang mit Aggression, Vertrauen, Charakterbildung und soziale Gerechtigkeit – das alles sind Themen, die dabei zu berücksichtigen sind1. Im Folgenden wollen wir zwei Aspekte herausgreifen. 1. Tugenden des Friedens im Neuen Testament Ein wichtiger Aspekt in der Gewaltprävention ist die aktive Übernahme von Werten und die Einübung von Charaktereigenschaften, die dem Verzicht auf Gewalt förderlich sind. Wenn wir heute von «Charakter» oder von «Werten» reden, dann befinden wir uns in jenem Bereich, für den die Antike den Begriff der «Tugend» (griech. aretê) geprägt hat2. Tugenden galten seit Platon als stabile Charakterdispositionen, aufgrund derer Menschen vernünftige und massvolle Handlungsentscheidungen treffen. Damit es Menschen gelingt, das Ziel des objektiven Glücks zu erlangen, sind Tugenden unerlässlich. Da Gewalt ein Hindernis für das persönliche und allgemeine Glück darstellt, kommen in der antiken Tugendlehre häufig auch Aspekte der Gewalteindämmung zum Vorschein. Die Bedeutung der Charakterbildung für das Handeln des moralischen Individuums ist in neuester Zeit in der Philosophie und allmählich auch in der Theologie wiederentdeckt worden3. Nun finden wir im Neuen Testament keineswegs eine ausgebildete Tugendlehre, aber doch werden viele Einzeltugenden in sog. «Tugend- und Lasterkatalogen» aufgeführt4. Diese summieren sich zu einer beeindruckenden Liste: 1
Einen ersten Versuch haben wir in Dietrich / Mayordomo, Vertrauen vorgelegt. Die dortigen Ausführungen wollen wir hier nicht wiederholen, knüpfen aber daran an. 2 Vgl. Stemmer, Tugend. 3 Vgl. zum Bereich der Philosophie die Artikel in Rippe / Schaber, Tugendethik und für die Theologie Porter, Tugend. 4 Vgl. Mt 15,19; Mk 7,21–22; Röm 1,29–31; 13,13; 1Kor 5,10–11; 6,9–10; 2Kor 6,6–7; 12,20–21; Gal 5,19–23; Eph 4,31-32; 5,3–4; Phil 4,8; Kol 3,5–12; 1Tim 1,9–10; 3,2–3; 6,4–5.11; 2Tim 3,2–5; Tit 1,7–8; 3,3; Jak 3,17; 1Petr 2,1; 3,8; 4,3; 2Petr 1,5–7; Offb 21,8; 22,15.
1. Tugenden des Friedens
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Tugenden: Barmherzigkeit (Jak 3,17), Demut (Kol 3,12; 1Petr 3,8), Erbarmen (Kol 3,12; 1Petr 4,3), Freundlichkeit (Gal 5,22), Friede (Gal 5,22; Jak 3,17), Gastfreundschaft (1Tim 3,2; Tit 1,8), Güte (2Kor 6,6; Gal 5,22; Eph 4,32; Kol 3,12; 1Tim 3,3; Jak 3,17), Liebe (2Kor 6,6; Gal 5,22; 1Tim 6,11; 2Petr 1,7; 1Petr 3,8; 2Petr 1,7), Mitleid (Eph 4,32; 1Petr 3,8), Treue, Glaube (Gal 5,22; 1Tim 6,11), ungeheucheltes Verhalten (2Kor 6,6; Jak 3,17), Unparteilichkeit (Jak 3,17), Vergebungsbereitschaft (Eph 4,32), Wahrhaftigkeit (2Kor 6,7; Phil 4,8). Laster: Angeberei, Prahlerei (Röm 1,30; 2Tim 3,2), Arglist, Trug (Mk 7,21; Röm 1,29; 1Petr 2,1), Arroganz (Tit 1,7), Aufgeblasenheit (2Kor 12,20; 2Tim 3,4), Begierde (Kol 3,5; Tit 3,3; 1Petr 4,3), Boshaftigkeit, Tücke (Röm 1,29; Mk 7,21; Röm 1,29), Eifersucht (Röm 13,13; 2Kor 12,20; Gal 5,20), Feindseligkeit (Gal 5,20), Geldliebe (1Tim 3,3; 2Tim 3,2; Tit 1,7), Geschrei (Eph 4,31), Habsucht (Mk 7,21; Röm 1,29; 1Kor 5,11–11; 6,10; Eph 5,3.5; Kol 3,5), Heuchelei (1Petr 2,1), Hochmut (Mk 7,21; Röm 1,30; 2Tim 3,2), Jähzorn (Tit 1,7), Lieblosigkeit (Röm 1,31; 2Tim 3,3), Lüge (1Tim 1,10; Offb 21,8; 22,15), Lust (Tit 3,3), üble Nachrede (Mt 15,19; Röm 1,30; 2Kor 12,20; Kol 3,8; 2Tim 3,3; 1Petr 2,1), Neid (Mk 7,21; Röm 1,29; Gal 5,21; 1Tim 6,4; Tit 3,3; 1Petr 2,1), Schlechtigkeit (Röm 1,29; Eph 4,31; Kol 3,8; Tit 3,3; 1Petr 2,1), Selbstsucht (2Tim 3,2), Streitsucht (Röm 1,29; 13,13; 2Kor 12,20; Gal 5,20; 1Tim 6,4; 2Kor 12,20; Gal 5,20; 1Tim 3,3; 1Tim 6,5; Gal 5,20), Unbarmherzigkeit (Röm 1,31), Unversöhnlichkeit (2Tim 3,3), Wut (Eph 4,31; Kol 3,8), Zorn (2Kor 12,20; Gal 5,20; Eph 4,31; Kol 3,8).
Diese beiden einander ausschliessenden Verhaltenswelten prägen ein Charakterbild, das die Beziehung des Menschen zu Gott, zur Welt, zum Nächsten und zu sich selbst umfasst. Zwei Aspekte sind dabei auffällig: Erstens, obwohl viele dieser Tugenden auch in antiken Tugendkonzepten vorkommen, fehlen im Neuen Testament Einzeltugenden, die zum Typus des Kriegshelden gehören. Von den vier seit dem 5. Jh. v. Chr. bekannten Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mass) fehlt v.a. die männliche Tapferkeit (andreia von griech. anêr). Damit stellt das im Neuen Testament gezeichnete Charakterbild eine Alternative zum antiken Männlichkeitsideal dar5. Zweitens finden sich unter den Lastern viele Verhaltensweisen, die in den Bereich der Gewalt und Aggression gehören. Demgegenüber finden wir viele Tugenden, deren friedensfördernde Stossrichtung zutage liegt. Dies sei anhand von drei Beispielen veranschaulicht: 1. Gastfreundschaft gehört zu den höchsten Werten sowohl im Alten Orient als auch in der griechischen Antike6. Als eine Kulturleistung ersten Ranges stellt Gastfreundschaft eine gewaltfreie Option dar für den Umgang mit der 5
Die lateinische Sprache bewahrt den Zusammenhang zwischen Tugend (virtus) und Männlichkeit (vir). 6 Vgl. Hiltbrunner, Gastfreundschaft; Pezzoli-Olgiati, Gastfreundschaft; Stählin, xenos, 16–25.
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D.I. Vorbeugung gegen Gewalt
Angst, die das Hereintreten des Fremden auszulösen vermag. Viele Geschichten erzählen von der gewaltsamen Vertreibung oder Tötung des Fremden. Durch Gastfreundschaft jedoch wird der Fremde zum Hausgenossen. Der Gastgeber stellt sein Haus, sein Gut und seinen persönlichen Schutz dem Fremden zur Verfügung und sichert sich dadurch zugleich die Dankbarkeit und den Respekt des Fremden. Dementsprechend kann die Verbindung von Gast und Gastherr weit über die Zeit des eigentlichen Aufenthaltes hinausgehen und Frieden zwischen verschiedenen Parteien garantieren7. Im frühen Christentum war Gastfreundschaft ein wichtiger Teil des Gemeindelebens: Bereits Jesus war häufig Gast und Gastgeber. Für ihn war die Aufnahme in Privathäusern unterwegs ebenso wichtig wie für viele christliche Missionare. Auch Paulus geniesst in der Apostelgeschichte auf seinen Reisen vielfach gastliche Aufnahme: In Jerusalem nimmt ihn ein alter Mann aus Zypern namens Mnason auf (Apg 21,16), in Malta wird er mit seinen Mitarbeitern von Publius drei Tage lang beherbergt (Apg 28,7) und am Ende des Philemon-Briefes bittet er um Herberge (V. 22). Gemäss der späteren Tradition soll der christliche Gemeindevorsteher «gastfrei» sein (1Tim 3,2; vgl. auch 5,10; Tit 1,8). Gastfreundschaft gilt im frühen Christentum als eine Form der Nächstenliebe (1Petr 4,8f). Sie stiftet Begegnung mit dem Göttlichen (Hebr 13,1–3) und erinnert daran, dass Christen und Christinnen selbst Fremde in dieser Welt sind (1Petr; Phil 3,20). Wie stark die Ausbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten mit der Pflege der Gastfreundschaft verknüpft war, macht ein Brief des letzten paganen Kaisers Julian im 4. Jh. an Arsakios, Oberpriester von Galatien, deutlich8. Der Kaiser beschwert sich darüber, dass die hellenische Sache nicht gedeiht, während die «Gottlosigkeit» der Christen sich bedrohlich ausbreitet. Dieses Missverhältnis ist für Julian darauf zurückzuführen, dass die Christen bestimmte Tugenden gewissenhafter pflegen als die hellenistischen Priester, konkret «Menschenfreundlichkeit gegen die Fremden (tous xenous philanthrôpia), die Vorsorge für die Bestattung der Toten und die vorgebliche Reinheit des Lebenswandels». Weil dies die Verbreitung des Christentums aus Julians Sicht am meisten gefördert hat, gilt es «jede dieser Tugenden […] von uns mit aufrichtigem Eifer» zu üben. Julian gibt sogleich auch praktische Anweisungen: «Errichte in jeder Stadt zahlreiche Herbergen, damit die Fremden – nicht nur die zu den Unsrigen zählenden, sondern auch von den anderen jeder Bedürftige – in den Genuss der von uns geübten Menschenfreundlichkeit kommen». Die Begründung macht deutlich: 7
Homer berichtet in Ilias VI, 212–236 von Diomedes und Glaukos. Die beiden Männer begegnen einander als Gegner auf dem Schlachtfeld, doch stellen sie anhand ihrer Abstammungen fest, dass ihre Väter durch Gastfreundschaft miteinander verbunden waren. Daraus ergibt sich, dass sie unmöglich gegeneinander kämpfen können. Stattdessen schenken sie sich gegenseitig ihre Rüstungen. Was für ein passendes Bild für Frieden durch Gastfreundschaft! 8 Brief Nr. 39 in der Ausgabe von Weis, Julian, 104–109.
1. Tugenden des Friedens
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«Denn es ist eine Schmach, wenn von den Juden nicht ein einziger um Unterstützung nachsuchen muss, während die gottlosen Galiläer [gemeint sind die Christen. MM] neben den ihren auch noch die unsrigen ernähren, die unsrigen aber der Hilfe von unserer Seite offenbar entbehren müssen.» Und nach einem Hinweis auf Homer ruft Julian auf: «Lassen wir es daher nicht geschehen, dass andere die uns zugehörenden guten Werke eifernd üben, während wir diese durch unsere Leichtfertigkeit selbst entwürdigen, ja die Ehrfurcht vor den Göttern von uns werfen.»
2. «Geduld» – die übliche Übersetzung von makrothymia – ist im Neuen Testament eine Grundtugend: 1Kor 13,4: «Die Liebe ist geduldig und freundlich.» Gal 5,22: «Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue …» Eph 4,2: «Lebt würdig eurer Berufung, in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in Liebe.» Kol 3,12: «So zieht nun an […] herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld …» 1Tim 6,11b: «Jage aber nach der Gerechtigkeit, der Frömmigkeit, dem Glauben, der Liebe, der Geduld, der Sanftmut!»
Die Geduld steht im Verdacht, Passivität, stille Hinnahme von Leid und Unrecht und widerstandslose Hingabe an das Schicksal zu christlichen Verhaltensmerkmalen geadelt zu haben. Der sprachliche Zusammenhang mit der Duldsamkeit legt dies auch nahe. Neutestamentliche makrothymia wäre jedoch in diesem Sinne gründlich missverstanden. Es geht vielmehr um eine aktive Lebenshaltung, die gegen alle Umstände an einem Ziel festhält, aber dieses ohne Anwendung von Gewalt verfolgt. Aus der Sicht des Neuen Testaments handelt es sich bei dieser Tugend um sanfte Beharrlichkeit oder, um es mit einem alten deutschen Wort zu sagen, «Langmut». Es handelt sich dabei um eine «herrscherliche Tugend»9, die es ermöglicht, «Herr über die Wechselfälle des Lebens und die Bosheit der Menschen zu bleiben»10. Der Bezug zur Gewaltthematik ist deutlich: Das Verlockende an der Gewalt ist, dass ihre Anwendung uns in Aussicht stellt, Ziele schneller erreichen zu können. Gerade im Bereich politischen Handelns kann Ungeduld verheerende Folgen haben11, denn in der Anwendung von Gewalt artikuliert sich häufig eine Art «Abkürzungsphantasie». Geduld hingegen arbeitet der Gewaltlosigkeit zu, weil sie in Konfliktsituationen den längeren Atem behält12. 9
Der römische Kaiser Hadrian prägte im 2. Jh. Münzen mit seinem Bildnis und der Aufschrift «Geduld» (lat. patientia). Sicherlich wollte er sich damit nicht seiner Passivität rühmen. 10 Spanneut, Geduld, 254f. 11 Vom irischen Politiker Edmund Burke (1729–1797) ist der Spruch überliefert: «Unsere Geduld wird mehr erreichen als unsere Kraft.» (Our patience will achieve more than our force.) Ein guter Leitspruch für politisches Handeln. 12 Die Geduld Gottes bezeichnet häufig die Kehrseite seiner strafenden Gewalt (vgl. Joel 2,13; Ps 86,15; 103,8).
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D.I. Vorbeugung gegen Gewalt
Diese Haltung gründet letztlich in der christlichen Hoffnung, dass Gott sein Heil zur Vollendung führen wird13. «Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.» (Röm 8,25) «Geschwister, wartet daher geduldig bis zur Ankunft des Herrn!» (Jak 5,7a)
3. Der Begriff der «Demut» (griech. tapeinophrosynê) hat sich in seiner Gebrauchsgeschichte allzu leicht in das Feld der Unterwürfigkeit und Selbsterniedrigung begeben. Dadurch wurde er zu einer Lieblingsvokabel der Herrschenden, um Frauen, Kinder und Untergebene an der kurzen Leine der Tugend zu halten. Bürden wir diesen Wortgebrauch den neutestamenlichen Texten als Hypothek auf, dann geraten diese in ein falsches Licht. In der griechisch-römischen Antike war der Begriff deutlich negativ besetzt14. Es war dies nicht eine Tugend des freien Bürgers, sondern vielmehr ein bedauernswerter Zustand sozialer Niedrigkeit und politischer Unterwerfung. Die tapeinophrosynê gehörte zur Realität der sog. «kleinen Leute», der Sklaven, Tagelöhner und Bauern, auf die die meisten Autoren der gebildeten Elite despektierlich herabschauten. «Demut» galt als eine Mangelerfahrung, die «Demütigen» haben keinen Anteil an Macht, Reichtum, Einfluss und Ehre. Erst im Alten Testament wird dank der Vorstellung, dass Gott Partei für die Armen und Niedrigen ergreift (Jes 29,29f), der Begriff positiv gewendet als «Gegenvokabel» zu Stolz und Überheblichkeit (vgl. Spr 16,19; 18,12; 29,23)15. Der Begriff beschreibt damit so etwas wie die massvolle Selbsteinschätzung gegenüber Gott und den Mitmenschen. Sie ist das Gegenteil von jener Selbstüberschätzung und Vermessenheit, die Menschen zu Gewalt gegen Andere greifen lässt. Wichtiger noch als die eigene persönliche Ehre sind Bescheidenheit und ein unprätentiöser Umgang mit den eigenen Begabungen und Stärken. Aus der Perspektive der Nächstenliebe mahnt Paulus in Phil 2,3–5: «(3) Tut nichts aus Selbstsucht oder blindem Ehrgeiz. Vielmehr achte einer den anderen in Demut höher als sich selbst. (4) Ein jeder schaue nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem anderen dient. (5) Seid unter euch so gesinnt, wie es Christus Jesus eigen war.» (vgl. Röm 12,15f)
Für das friedliche Wohlergehen der Gemeinschaft spielt «Demut» eine ganz entscheidende Rolle (Eph 4,1–3; vgl. Kol 3,12), denn sie schiebt Selbstsucht und blindem Ehrgeiz den Riegel vor. «Den anderen höher achten als einen selbst» ist dabei nicht Formalprinzip eines Minderwertigkeitsgefühls, sondern eine Strategie gegen jede Haltung, die nur auf den eigenen Vorteil ausgerichtet 13
Vgl. Hauerwas, Selig, 164f. Wengst, Demut, 15–34. 15 Wengst, Demut, 45–67. 14
1. Tugenden des Friedens
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ist. In der bescheidenen Anerkennung der eigenen Unvollkommenheit und Begrenztheit erhält der Mensch schliesslich die Chance, durch den ständigen Selbstbezug nicht völlig absorbiert zu werden. Mit Gewalt als Folge von Hochmut und (verletztem) Stolz lässt sich Demut unmöglich in Verbindung bringen. Sie besteht vielmehr in der hohen Kunst, den rechten Abstand zu sich selbst zu gewinnen und dadurch auch den Nächsten das Recht auf Entwicklung und Wahrheit zu gewähren. Mit ganz eigenen Akzenten gilt sowohl für Paulus als auch für Matthäus Jesus als Vorbild für diese Haltung (Phil 2,1–8; Mt 11,28–30). Die kleine Reise durch neutestamentliche Tugendbilder muss hier abgebrochen werden. Aber es dürfte deutlich sein, wie sehr weitere Charakterhaltungen wie Sanftmut und Milde, Mitgefühl und Erbarmen, Freundlichkeit und Güte und schliesslich die Schlüsseltugend der Liebe zur Vorbeugung gegen Gewalt beitragen können. Durch Vorbilder, durch prägende Erzählungen und durch eigene Nachahmung und Einübung bietet die christliche Gemeinschaft einen Ort, um einen friedlichen Charakter zu stärken16. Der Verzicht auf Gewalt, der häufig als die zentrale moralische Anweisung Jesu betrachtet wird (s.u. D.IV.3.), ist als blosse Forderung, als Appell von aussen an unser Sollen, kaum in der Lage, dauerhaft zur Überwindung von Gewalt beizutragen. Zudem wird das Prinzip der Gewaltlosigkeit häufig als unverantwortbare Naivität abgetan, wodurch sich jede Auseinandersetzung mit den realen Optionen für eine gewaltlose Bewältigung von Konflikten erübrigt. Träfe dieser Realitätssinn untrüglich ins Schwarze, bliebe die Frage unbeantwortet, wie es den frühen Christen und Christinnen gelingen konnte, in einer nicht minder gewaltgetränkten Gesellschaft als der heutigen gewaltlos zu leben. Ganz prinzipiell sind die Kirchen es auch heute ihren historischen Wurzeln schuldig, den Weg der Gewaltlosigkeit denkend, betend und handelnd immer wieder aufs Neue zu beschreiten. Zu diesem Weg gehört nicht nur das Befolgen einer Anweisung, sondern auch die Ausbildung eines Charakters, welcher fähig ist, der Versuchung zur Gewalt zu widerstehen. Literatur
W. DIETRICH / M. MAYORDOMO, Vertrauen schaffen – Sanftmut üben – Gerechtigkeit suchen. Wege der Gewaltprävention in der Bibel, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 168–185. – S. HAUERWAS, Selig sind die Friedfertigen. Ein Entwurf christlicher Ethik, Neukirchen-Vluyn 1995. – O. HILTBRUNNER, Gastfreundschaft und Gasthaus in der Antike, in: H.C. Peyer (Hrsg.), Gastfreundschaft, Taverne und Gasthaus im Mittelalter, München 1983 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 3), 1–20. – D. PEZZOLI-OLGIATI, Art. Gastfreundschaft I. Religionsgeschichtlich und II. Alter Orient, in: RGG4 4 (2000), 473f. – J. PORTER, Art. 16
Vgl. zur Rolle der Kirche Hauerwas, Selig, 163–168.
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D.I. Vorbeugung gegen Gewalt
Tugend, in: TRE 34 (2002), 184–197. – K.P. RIPPE / P. SCHABER (Hrsg.), Tugendethik, Stuttgart 1998. – M. SPANNEUT, Art. Geduld, in: RAC 9 (1976), 243–294. – G. STÄHLIN, Art. xenos, in: ThWNT 5 (1954), 1–36. – P. STEMMER, Art. Tugend I. Antike, in: HWP 10 (1998), 1532–1548. – B.K. WEIS, Julian. Briefe, München, 1973 (Tusculum). – K. WENGST, Demut – Solidarität der Gedemütigten. Wandlungen eines Begriffes und seines sozialen Bezugs in griechisch-römischer, alttestamentlich-jüdischer und urchristlicher Tradition, München 1987.
MM 2. Die Entfeindung des Fremden im Alten Testament Dem Alten Testament haftet der Ruf an, ein «nationales» und damit gegen das Fremde abweisendes Buch zu sein. In der Tat handelt es zur Hauptsache vom Volk Israel und seinem Gott und ist zunächst einmal ein jüdisches Buch. Hier ist freilich sofort eine Präzisierung nötig: Das «Alte» Testament ist zusammen mit dem «Neuen» die Bibel der Christenheit, und ein Merkmal des Christentums ist gerade, dass es sich nicht «national» definiert. Schon sehr früh wurde der Schritt vom reinen Judenchristentum zur «Kirche aus den Völkern» vollzogen. Als Teil der christlichen Bibel ist das Alte Testament also kein nur auf ein einziges Volk bezogenes Buch. Dementsprechend hat die Christenheit es denn auch sogleich in der damals gleichsam internationalen griechischen Sprache gelesen und benutzt. Dennoch ist das griechische Alte Testament ursprünglich eine Errungenschaft des Judentums. Etwa ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. wuchs in der jüdischen Diaspora, die des Hebräischen zunehmend weniger mächtig war, das Bedürfnis, die heiligen Schriften in der damaligen Weltsprache lesen zu können. Daraufhin entstanden in der grossen jüdischen Kolonie des ägyptischen Alexandria, vermutlich Schritt um Schritt, Übersetzungen des hebräischen Urtextes ins Griechische. So erwuchs gleichsam aus einer partikularen Wurzel ein universaler Baum. Nachdem die Christen die griechisch-jüdische Bibel an sich gezogen und zum ersten Teil ihrer Bibel gemacht hatten, konzentrierten sich die Juden ihrerseits ganz auf die Hebräische Bibel. Man kann dies als bewussten Rückzug auf rein-jüdisches Terrain deuten. Freilich wurde die Bibellektüre vom Judentum nie als Arkandisziplin geübt; jedem, der die Mühe des Hebräischlernens nicht scheute, wurde bereitwillig Anteil gewährt an dem sorgsam gehüteten Schatz der biblischen Tradition. Seit dem Humanismus und der Reformation wurde die Hebräische Bibel mehr und mehr nicht mehr nur von Juden, sondern auch von Christen (und Nichtchristen) gelesen, die das Alte Testament in seiner Ursprache kennen lernen wollten. Alsbald wurden die christlichen Übersetzungen des Alten Testaments (etwa ins Deutsche oder Englische) aus dem hebräischen «Urtext» genommen und nicht mehr aus der griechischen (oder lateinischen) Übersetzung. Man strebte zu den Quellen – und keineswegs in eine partikulare Sonderwelt.
2. Die Entfeindung des Fremden
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Handelt also das Alte Testament (das griechische wie das hebräische) vorwiegend vom israelitischen und jüdischen Volk und seinem Gott, so haben doch die Christen es nie als nur an die Judenschaft adressiert gesehen. Die Kirche las es als ein auf Christus vorausweisendes und insofern als ihr eigenes Buch. Der Gott, um den es in ihm geht, war der Vater Jesu Christi und damit der eigene (und ohnehin einzige) Gott. Partien im Alten Testament, die den Eindruck nationaler Engführung machen konnten – etwa bestimmte Teile der Kultgesetzgebung im Buch Leviticus oder die kriegerische Darstellung der Landnahme im Josuabuch oder die scharfe Abgrenzung gegen alles Nichtjüdische in den Büchern Deuteronomium oder Esra – wurden überlesen oder uminterpretiert. Auf weite Strecken jedoch waren derlei Anpassungen gar nicht nötig. Das Alte Testament ist weithin gar nicht ein partikulares, sondern ein universales Buch. Es beginnt mit der Schöpfung und der Urgeschichte von Welt und Menschheit (das jüdische Volk kommt in Gen 1–11 gar nicht vor), es ordnet die Erzeltern Israels ein in den Kreis der Völker (in Gen 12–50 kommen u.a. die Ägypter, die Aramäer, die Moabiter, Ammoniter, Edomiter, Araber, Philister und Kanaaniter vor). Die Geschichte Israels, wie die Bücher Richter, Samuel und Könige sie darstellen, ist eng verknüpft mit der Geschichte der vorderorientalischen Völkerwelt. Die Prophetenbücher nehmen immer ausser Israel auch seine nahen und fernen Nachbarn in den Blick, teilweise in ausgedehnten Völkerspruch-Sammlungen. Die Psalmen handeln generell vom menschlichen Ich und seinen Anfeindungen und Leiden oder vom hilfreichen Handeln Gottes am Einzelnen wie an der ganzen Schöpfung (natürlich aber auch am Volk Israel). Hiob ist betontermassen ein mesopotamischer, kein jüdischer Weiser, und die Weisheiten des Sprüchebuchs sind von internationalem Zuschnitt, streckenweise sogar direkt aus fremden Sprachen übersetzt. Die Einbindung und Verwicklung des biblischen Israel in die damalige Völkerwelt führte natürlich auch zu Konflikten. Oben bei B.III. und B.V. war von Gewaltbereitschaft und Gewaltausbrüchen die Rede, von denen Israel in seinem Verhältnis zu anderen Völkern und religiösen Gemeinschaften immer wieder belastet war. Daneben aber gibt es eine ganz andere Seite der Hebräischen Bibel, die auf die Überwindung von Spannungen und die Schaffung friedlicher Verhältnisse gerichtet ist. Keineswegs grundsätzlich sahen die alttestamentlichen Menschen das Fremde als etwas Bedrohliches und Feindliches an (wie es heute vielfach noch geschieht). Vielmehr traten sie ihm oft mit Neugier, Interesse und Sympathie gegenüber. Das soll im Folgenden an drei Beispielen aufgezeigt werden. In der Genesis gibt es drei Erzählungen von der «Gefährdung der Ahnfrau». Zweimal Sara (Gen 12,10–20; 20,1–18) und einmal Rebekka (Gen 26,7–11) drohen im Harem eines fremden Potentaten zu verschwinden. Jeweils ahnt der Gatte – zweimal Abraham, einmal Isaak – vorweg die Gefahr und gibt seine
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Frau als seine Schwester aus, um auf diese Weise sicherzustellen, dass ihm selber nichts geschieht. Dabei kommt jeweils ein durch und durch negatives Bild vom Anderen, vom Fremden zum Vorschein. «Wenn dich die Ägypter sehen», sagt Abraham zu seiner schönen Sara, «werden sie denken: ‹Das ist seine Frau›, und sie werden mich erschlagen und dich am Leben lassen» (Gen 12,12). Ganz ähnlich denkt und handelt später Isaak (Gen 26,7). Dabei lassen die Erzählungen durchaus offen, ob nicht erst die Flunkerei der Ehemänner die Frauen in Gefahr gebracht hat. Möglicherweise hätten jene nicht-jüdischen Männer ja den im gesamten Orient (und weit darüber hinaus) gültigen Grundsatz befolgt, dass man(n) in eine fremde Ehe nicht einzubrechen hat. Doch auf diese Probe liessen es Abraham und Isaak gar nicht ankommen, sie lieferten ihre Frauen gleich im Voraus an die Landesherren aus. In allen drei Fällen stellt sich mehr oder weniger rasch der wahre Sachverhalt heraus, und die hinters Licht geführten hohen Herren stellen daraufhin jeweils den betreffenden Erzvater zur Rede. In der zweiten Geschichte rechtfertigt sich Abraham mit den Worten: «Ich dachte eben: Es gibt sicher keine Gottesfurcht an diesem Ort, und so werden sie mich umbringen um meiner Frau willen» (Gen 20,11). Ehrfurcht vor Gott, so wird hier unterstellt, gibt es wohl in Israel und natürlich bei dessen Erzvätern – nicht aber «an diesem Ort», d.h. bei den Nicht-Juden. Wie schwer sich Abraham und Isaak getäuscht haben! Ausschliesslich sie selbst sind es, die unanständig (oder jedenfalls nicht besonders edelmütig) handeln, während sich die Anderen, die Fremden, ausgesprochen korrekt verhalten. Sie haben ja nichts getan, als eine schöne Fremde attraktiv zu finden; und sofort, wenn sie erfahren, dass es sich um eine verheiratete Frau handelt, tun sie alles, um den (unwissentlich begangenen) Fauxpas wieder gut zu machen. So leuchtet unter diesen Erzählungen eine feine jüdische Selbstironie hervor. Ähnliches lässt sich von der Jona-Erzählung sagen. Ein kleiner jüdischer Prophet wird von Gott ins grosse, böse Ninive – die Hauptstadt Assyriens – geschickt, um ihr ein göttliches Ultimatum zu überbringen. Jona reizt diese Aufgabe nicht; und das nicht, wie man denken könnte, weil er Angst hat, sondern, wie man später erfährt (Jon 4,2), weil er Gott für unzuverlässig hält. Er sucht Gott auf einem Schiff übers Mittelmeer zu entkommen, doch Gott schickt einen Sturm. Die heidnischen Seeleute kämpfen vorbildlich: zuerst gegen die entfesselten Elemente, dann gegen die Versuchung, Jona über Bord zu werfen, nachdem dieser sich selbst als Ursache des Unheils zu erkennen gegeben hat. Mit letzter Kraft rudern sie gegen das Verderben an, und als sie damit nichts ausrichten, bitten sie Jhwh (!) um Vergebung und stürzen Jona in die Fluten. Daraufhin legt sich der Sturm augenblicklich, und diese nichtjüdischen Männer überkommt «grosse Ehrfurcht vor Jhwh» (!), so dass sie «Jhwh (!) Schlachtopfer opferten und (ihm) Gelübde darbrachten» (1,16). Jona seinerseits mochte gehofft haben, zu ertrinken, doch Gott schickte einen grossen Fisch, der ihn in Richtung Ninive beförderte. Endlich kommt Jona seinem
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Auftrag nach, hält widerwillig und mürrisch eine Fünf-Wörter-Predigt über die bevorstehende «Umwendung» Ninives (3,4) und wartet dann der Dinge, die da kommen werden (bzw., da Jhwh ja unzuverlässig ist, nicht kommen werden, wofür dann der wackere Prophet mit seinem Gott heftig ins Gericht geht, 4,1–3). Anders als der einzige Jude in Ninive verhalten sich dessen 120 000 heidnische Bewohner (und dazu alle ihre Tiere!) tadellos: Alle, alle tun sie Busse und bitten Gott (hier nicht: Jhwh – das wäre wohl zu weit gegangen) um Verzeihung und Erbarmen (3,5–9). Und Gott lässt sich erweichen: Die innere «Umwendung» der Stadt hat ihre äussere unnötig gemacht (3,10). Auch hier wieder kann man von einem gehörigen Mass an Selbstironie des (natürlich jüdischen) Schriftstellers sprechen. Wir haben es feilich nicht mit einer Humoreske zu tun, die gar noch antijüdischen Vorurteilen (vom selbstgefälligen und strafsüchtigen Juden) Nahrung geben könnte, sondern mit hochernsten theologischen Fragen: Warum desavouiert Gott immer wieder die Seinen, und warum ist er umgekehrt so unbegreiflich grosszügig und vergebungsbereit gegenüber deren Widersachern? Das Jonabuch gibt leise und vorsichtig zu verstehen: Gott lässt sich nicht zum Feind unserer Feinde machen, er übt nicht die Gewalt, von der wir denken, er hätte sie zu üben. Und mit dem letzten Satz – einer offenen Frage – werden die Lesenden zusammen mit Jona eingeladen, sich Gottes Haltung und Verhalten zu eigen zu machen. In der nachexilischen Bürger-Tempel-Gemeinde kam es, aus Sorge um den Fortbestand des Judentums und des Jhwh-Glaubens, zu scharfen Abgrenzungen gegen alles Nicht-Jüdische; der irritierende Gipfelpunkt war die Zwangsscheidung von Ehen jüdischer Männer mit nicht-jüdischen Frauen (wogegen übrigens einige Männer offenen Widerstand leisteten). Die betroffenen Frauen werden als «Ausländerinnen (nāõîm nåkriyyôt) aus den Völkern des Landes» bezeichnet (Esr 10,2). Nun war die Provinz Jehud klein und in das persische Provinzialsystem eingebunden, so dass leicht persönliche Beziehungen über die regionalen und religiösen Grenzen hinweg entstehen konnten. Namentlich die kleinen Völkerschaften im Osten Palästinas, die Ammoniter, Moabiter und Edomiter, dürften dafür in Betracht gekommen sein, mit denen Israel/Juda eine lange Geschichte freund-feindlicher Nachbarschaft verband. Die Mischehen-Thematik ist eine weitere Facette im Bild des sich gegen aussen abgrenzenden Israel. Doch die Hebräische Bibel erzählt dazu eine Gegengeschichte. Das Büchlein Rut schildert das Geschick einer gemischten, judäisch-moabitischen Familie. Da wandert in karger Zeit ein judäischer Mann mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen nach Moab aus. Dort stirbt er bald. Die beiden Söhne heiraten moabitische Frauen – nach Esr 10 der Sündenfall –, und prompt sterben die Söhne kurz nacheinander. Übrig bleiben die (jüdische) Mutter und die (moabitischen) Schwiegertöchter. Die Mutter beschliesst in ihrer Not, in die Heimat zurückzukehren. Die eine Schwiegertochter, Rut, begleitet sie in selbstloser Treue; ihr in mehrfacher Hinsicht bemerkenswertes
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Bekenntnis lautet: «Wo du hingehst, da will auch ich hingehen, und wo du bleibst, da bleibe auch ich; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott» (Rut 1,16f). Der enge Schulterschluss zweier Frauen lässt keinen Raum für ethnisch-religiöse Differenzen. Bald schon findet Rut einen hoch angesehenen und hoch anständigen (natürlich jüdischen!) Mann namens Boas und dieser in ihr (einer Ausländerin!) eine ideale Frau. Sie gebiert ihm mehrere Kinder und wird am Ende zur Stammmutter des Königs David. Aus dem Feindbild der fremden Frau, die den jüdischen Mann der Gemeinde entfremdet, wird hier das Vorbild einer Frau aus der Fremde, dank derer die Gemeinde eine intakte und blühende Familie hinzugewinnt. (Man denke sich anstelle des Juden Boas einen wohlsituierten Protestanten, der vor 100 Jahren eine Katholikin oder Jüdin oder heute eine Farbige oder Muslima zur Frau nähme – und man ermisst, wie unkonventionell weltoffen das Alte Testament zu sein vermag!) Literatur
E. BLUM, Die Komposition der Vätergeschichte, Neukirchen-Vluyn 1984 (WMANT 57). – W. DIETRICH, Ninive in der Bibel, in: O. Loretz u.a. (Hrsg.), Ex Mesopotamia et Syria Lux, FS M. Dietrich, Münster 2002 (AOAT 281), 115–131 = Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 239– 254. – W. DIETRICH / U. LUZ, Universalität und Partikularität im Horizont des biblischen Monotheismus, in: FS R. Smend, Göttingen 2002, 369–411. – J. EBACH, Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals, Frankfurt 1987. – I. FISCHER, Die Erzeltern Israels. Feministisch-theologische Studien zu Genesis 12–36, 1994 (BZAW 222). – I. FISCHER, Gottesstreiterinnen, Stuttgart 1995 (darin 175–194 über Noomi und Rut). – F.W. GOLKA, Jonaexegese und Antijudaismus, in: Kirche und Israel 1 (1986), 51–61. – J. JEREMIAS, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, NeukirchenVluyn 21997 (BThSt 31). – Y. SHERWOOD, Cross-Currents in the Book of Jonah. Some Jewish and Cultural Midrashim on a Traditional Text, in: BibIn 6 (1998), 49–79. – H.W. WOLFF, Humor als Seelsorge. Erzählerische Eigenarten des Jonabuches, in: Ders., Studien zur Prophetie, München 1986, 124–128.
WD 3. Die Menschenwürde als Movens zur friedensethischen Tat, am Beispiel der Psalmen 3.1. Die Kraft der Psalmen Ich habe die Nacht einsam hingebracht in mancher innerer Abrechnung und habe schliesslich, beim Scheine meines noch einmal entzündeten Weihnachtsbaumes, die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.
3. Die Menschenwürde als Movens zur friedensethischen Tat
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Dieses Diktum von Rainer Maria Rilke17 beschreibt den Psalter als ein Buch, in dem das Wesen des Menschen sehr umfassend und vielschichtig reflektiert ist. Die Psalmen speichern die den Menschen konstituierenden Erfahrungshorizonte in einzigartiger Intensität. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie «ein geringes Mass an Zeitgebundenheit mit einem Höchstmass an Situationsgebundenheit» verbinden18. Psalmen schildern mit einer ungeheuren Fülle von Bildern und Metaphern ganz konkret die Lebenssituation des Psalmbeters. In hoher poetischer Kunst verleihen sie den Tiefen und Höhen des Lebens sprachlichen Ausdruck. Als an Gott gerichtete Gebete bringen sie die unterschiedlichsten Lebenslagen vor Gott. Beim Lesen oder Singen eines Psalms tritt der Psalmbeter in eine Beziehung, das betende «Ich» richtet seine Fragen und Klagen und Danksagungen an das hörende «Du». Jeder Psalm schöpft seine Dynamik aus dieser inneren Ausrichtung. Kein Psalm kann daher ungeachtet dieses innenperspektivischen Aspektes interpretiert werden. Im Gegenteil, ein Psalm sträubt sich zunächst gegen jeden objektivierenden Zugang. Wenn in Ps 13,2 gefragt wird «Wie lange willst du mich so ganz vergessen?» oder in Ps 35,17 «Wie lange, Jhwh, willst du zusehen?», dann bezieht sich dieses «Wie lange?» nicht auf eine Anzahl Stunden oder Tage, sondern auf die – im Augenblick eben nicht erlebbare, aber herbeigesehnte – Gegenwart Gottes. Der Psalmbeter sucht die Anwesenheit Gottes, damit seine Welt nicht auseinanderfällt, sondern durch Gottes Präsenz gehalten und gestärkt wird. 3.2. Psalmen und Ethik Wir gehen einen grossen Schritt weg von den Psalmen in unsere Gegenwart, um diese dann wieder von den Psalmen her zu erhellen. Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert wurden mit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 (UN) und mit der Proklamation der «Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» 1948 zukunftweisende Meilensteine in der Geschichte der Menschheit gesetzt. Mehr und mehr gewann auch in der Politik die Einsicht Raum, dass der Schutz der Menschenwürde die Grundlage jeglichen Friedensprozesses bildet. Stellvertretend für diese Entwicklung in der friedensethischen Diskussion kann die Aussage von Papst Johannes Paul II. stehen, der 1979 in einer Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen gesagt hat: «Diese Erklärung [Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948] hat den Krieg wirklich an seiner weit verzweigten, tief greifenden Wurzel getroffen;
17 18
Zitiert bei Janowski, Konfliktgespräche, VII. Janowski, Konfliktgespräche, VIII.
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D.I. Vorbeugung gegen Gewalt denn die Kriegslust in ihrer ursprünglichen, grundlegenden Bedeutung keimt und reift dort, wo die unveräusserlichen Menschenrechte verletzt werden.»19
Der Schutz der unveräusserlichen Menschenrechte und der Menschwürde wird damit zum Eckstein und zum Prüfstein friedensethischer Konzepte. Fasst man dieses Postulat auf einer konkreteren Ebene, dann lassen sich drei grundlegende Säulen ausmachen, die die Basis jeglichen friedensethischen Entwurfes bilden sollten und je für sich ein unverzichtbarer Teil der Grundbedingungen des Friedens sind. Es sind dies erstens der Schutz vor Not, zweitens der Schutz vor Gewalt und drittens der Schutz vor Unfreiheit. Wer fähig ist, sich der Lage der Menschen in schwierigen Lebenssituationen bewusst zu werden und für Hintergründe und Ursachen solcher Entwicklungen ein auch nur ungefähres Verständnis zu erlangen, fühlt mit Herz und Kopf gleichermassen mit und gibt auf diese Weise einer adäquaten Grundhaltung erst einmal Raum, bevor überhaupt gehandelt und geurteilt wird. Diese Grundhaltung bildet eine solide Basis, auf der sich politisch-ethische Friedenskonzepte in langwierigen Prozessen herausbilden und einer Bewährungsprobe in der Praxis dann auch standhalten können. Friedensethische Bemühungen, die dieser Grundlage entbehren und womöglich durch einen ideologischen Überbau motiviert sind, verfehlen ihr Ziel, bleiben wirkungslos oder verstärken sogar destruktive Elemente. Die Themen Not, Gewalt und Unfreiheit sind in den Psalmen, insbesondere in allen Klagepsalmen, schonungslos in all ihren verheerenden und zerstörerischen Auswirkungen dargestellt. So schildert ein Beter in Psalm 102,4–6 seine Lage: «Denn vergangen sind im Rauch meine Tage und meine Gebeine – wie ein Kohlebecken glühen sie. Versengt wie Gras und vertrocknet ist mein Herz, ja, ich vergass mein Brot zu essen. Von meinem lauten Seufzen klebt mein Gebein an meiner Haut.»
Die Klagelieder des Psalters sind ein fortgesetztes Anschreien und Ankämpfen gegen den Verlust der Menschenwürde. Eine Reihe von Exempeln dafür bietet gleich die erste der Teilsammlungen des Psalters in Ps 3–14. Doch genau in der Mitte der hier zusammengestellten Klagen und Anklagen steht mit Ps 8 ein ganz andersartiger Text: ein Hymnus über Gottes Schöpfung und die Würdestellung des Menschen. Dieses Lied gibt den ringsum stehenden, wehmütigen Texten gleichsam Orientierung und Hoffnung. Eine Interpretation der Verse 2–10 dieses Psalms soll aufzeigen, worauf sich diese Hoffnung gründet und wodurch die 19
Ansprache vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York am 2. Oktober 1979, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Dienst am Frieden. Stellungnahmen der Päpste, des II. Vatikanischen Konzils und der Bischofssynode, Bonn, 2. aktualisierte Aufl. 1982 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 23), 217–232.
3. Die Menschenwürde als Movens zur friedensethischen Tat
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damit angezeigte Grundhaltung, die als Basis friedensethischen Engagements dienen kann, charakterisiert wird. 3.3. Psalm 8,2–10 als Plädoyer für die Würde des Menschen «Jhwh, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde. Der du deine Hoheit gelegt hast auf den Himmel. Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Machtstellung gegründet um deiner Feinde willen, um ein Ende zu machen Feind und Rachgierigem. Wenn ich sehe deinen Himmel, das Werk deiner Finger – Mond und Sterne, die du festgesetzt hast –, was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, und der einzelne Mensch, dass du dich um ihn kümmerst? Du hast ihm wenig mangeln lassen vom Göttlichen, und mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrscher gesetzt über die Werke deiner Hände, alles hast du gelegt unter seine Füsse: Kleinvieh und Rinder – sie alle, und auch die (wilden) Tiere des Feldes, die Vögel des Himmels und die Fische des Meeres, was durchzieht die Wege des Meeres. Jhwh, unser Herr, wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde.»
Das Lied besingt Jhwhs Schöpferhandeln als zugleich grundlegendes wie fortdauerndes Geschehen. Dass die Welt aus einem Zustand des Chaos in einen Zustand der Ordnung hinübergeführt worden sei, ist eine Vorstellung, die sich in vielen Schöpfungsmythen des Alten Orients niedergeschlagen hat. Im urzeitlichen Chaoskampf errang Gott die Oberhand über allerlei Gegenkräfte (bildlich meist durch Drachen und andere schreckliche Wesen verkörpert) und gründete so seine Schöpfungsordnung. Dass diese Chaosvorstellung auch in Israel geteilt worden ist, belegen neben dem ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4) auch viele Psalmstellen. Beispielsweise wird in Psalm 104,5–7 dieses Bild verwendet, um Jhwhs Hoheit und Pracht zu loben: «Du hast die Erde auf Pfeiler gegründet; in alle Ewigkeit wird sie nicht wanken. Einst hat die Urflut sie bedeckt wie Abb. 1 ein Kleid, die Wasser standen über den Bergen. Sie wichen vor dem Drohen zurück, sie flohen vor der Stimme deines Donners.» Eine mögliche Darstellungsart dieses Chaoskampfes zeigt ein assyrisches Rollsiegel aus dem 8./7. Jh. v. Chr. (Abb. 1), wobei hier
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D.I. Vorbeugung gegen Gewalt
weniger die visuellen Details gewichtet werden sollten als die Tatsache, dass diese gebändigte Kraft des Chaos nicht einfach besiegt ist, sondern nach wie vor als bedrohliche Gefahr für das geordnete Schöpfungssystem vorhanden bleibt. Umso grossartiger ist daher Jhwhs Wirken in der Welt, das allein die Beständigkeit der Schöpfungsordnung garantiert. Die Entstehung des «Raumes» für die Schöpfungsordnung wurde allermeist mit mythischen Motiven erklärt. Gemeinsam liegt diesen Mythen die Vorstellung zu Grunde, dass die urzeitlich vereinten Teile, Himmel und Erde, im Schöpfungsakt getrennt wurden und dadurch der Zwischenraum entstand, in dem die geordnete Welt sich entfalten konnte. Eine ägyptische Malerei verdeutlicht, wie mythische Ideen bildlich umgesetzt werden konnten (Abb. 2). Aus der Vereinigung des Gottes Geb (Erde) und der Göttin Nut (Himmel) entstanden neben den Hauptgöttern Isis, Osiris und Horus auch der Luftgott Schu, der den entstandenen Raum ausfüllt und das Himmelszelt stützt. Zwar sind auf dem Bild auch vier Säulen zu sehen, die die Himmelsgöttin stützen, nur haben sie aufgrund ihrer Winzigkeit eher die Funktion aufzuzeigen, wie denn ein solches Himmelszelt in seiner Grösse und Festigkeit überhaupt gestützt werden kann. Auch der Luftgott Schu scheint dies nämlich nur mit Hilfe seines «Zauberwortes» (symbolisch als Löwen-hinterteil auf seinem Kopf dargestellt) zu bewerkstelligen. Othmar Keel sieht da Parallelen zu Israels Vorstellungswelt: «In den Pss [Psalmen] sind es nicht Zauberworte […], sondern die Weisheit und das Befehlswort Jahwes, seine ganz persönliche Macht, die den Himmel nicht nur in seiner unbegreiflichen Lage festhalten, sondern ihn zuvor geschaffen haben. Und als Werk seiner Hände (Ps 102,26), ja seiner Finger (Ps 8,4) zeugt er von der unbegreiflichen Geschicklichkeit und der unergründlichen Weisheit Jahwes (Ps 96,5; 97,6; Spr 3,19)»20. Diese mythische Vorstellung wurde in Ägypten allerdings durch die Idee überlagert, dass nicht der Luftgott Schu mit seinen Zauberworten, sondern der Pharao als König die Funktion übernahm, den Himmel zu stützen und die Ordnung auf der Erde aufrecht zu erhalten. Damit wurde der Pharao zum Stellvertreter göttlicher Ordnungsmacht. Ganz ähnlich verhält es Abb. 2 sich im Psalter, wenn beispielsweise in Psalm 72 diese Stellvertretungsfunktion für Jhwh dem König Israels übertragen wird: «… dass er [der König] dein Volk richte in Gerechtigkeit und deine Elenden nach dem Recht. (3) Die Berge mögen
20
Keel, Welt, 27.
3. Die Menschenwürde als Movens zur friedensethischen Tat
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Heil tragen für das Volk und die Hügel Gerechtigkeit. (4) Er schaffe Recht den Elenden des Volkes, helfe den Armen und zermalme die Unterdrücker.» (Ps 72,2–4, NZB) Jhwh hat sozusagen seine Aufgabe als Hüter der kosmischen Ordnung, die hier vor allem auch darin bestand, die Unterdrückten und Armen wieder in einen Zustand des Rechts und der geordneten Verhältnisse zurückzuführen, auf den König übertragen. Gleichwohl bleibt er auf der Erde, im Tempel, präsent – und thront doch gleichzeitig im Himmel, vgl. Ps 11,4: «Jhwh weilt in seinem heiligen Tempel, der Thron Jhwhs ist im Himmel.» Von da her lässt sich erahnen, welche Vorstellungen hinter Ps 8,2 stehen, wo Jhwh als Weltschöpfer und «Welt wirkende» Macht in einer Anrede in 2. Person Singular (einmalig im Alten Testament!) gepriesen wird: «Wie gewaltig ist dein Name auf der ganzen Erde. Der du deine Hoheit gelegt hast auf den Himmel.» Wenn sich der erste Teil dieses Verses in V. 10 noch einmal wiederholt, dann wird klar, dass die Bedeutung des dazwischen liegenden Textes (V. 3–9) nur im Kontext dieses Lobes auf den Schöpfer und Weltenherrscher gesehen werden darf. Diese Klammer bildet den Interpretationsrahmen, auf den auch die Aussagen über den Menschen hingeordnet werden müssen. Unvermittelt fährt der Psalm fort: «Aus dem Mund von Kindern und Säuglingen hast du eine Machtstellung gegründet um deiner Feinde willen, um ein Ende zu machen Feind und Rachgierigem» (V. 3a). Das hebräische Wort ʻôz kann die physisch-menschliche oder die göttliche Kraft und Macht bedeuten21. In Verbindung aber mit dem bautechnischen Verb «gründen» (jsd) hat ʻôz zuweilen auch die Bedeutung von Festung oder Bollwerk. Die Mächtigkeit und die schützende Funktion einer Burg sollen hier also zum Ausdruck gebracht werden. Diese Burg schützt und wehrt die Feinde ab, die gegen diese Festung anstürmen. Es sind «deine Feinde», also Gottes Feinde; doch lässt das Fehlen des Suffixes «dein» bei «Feind und Rachgieriger» vermuten, dass nicht nur die Feinde Jhwhs, sondern auch die Feinde des Psalmbeters gemeint sind. Wird diesen Feinden ein Ende bereitet, so ist dies ein Motiv aus dem Vorstellungsbereich des Chaoskampfes; denn das auch nach dem Schöpfungsakt noch drohende Chaos wird durch feindselige Völker und Menschen repräsentiert. Bemerkenswert ist nun aber, worin der Schutz gegen die «Feinde» besteht. Die Macht zur Wahrung geordneter Verhältnisse auf der Erde wird nicht, wie sonst im Alten Orient üblich, dem König übertragen, sondern den Kindern und Säuglingen, den schwächsten Gliedern der Gesellschaft. Gerade ihnen, kleinen Wesen ohne Macht, wird Königsmacht zugesprochen. Ähnlich dem ersten Teil des Psalms (V. 2f) beginnt auch der zweite Teil (V. 4–9) mit Jhwhs erkennbarer Schöpfungsmacht am Himmel, um darauf 21
Siehe oben A.3.1.
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D.I. Vorbeugung gegen Gewalt
wieder auf sein erfahrbares Schöpferhandeln auf Erden einzugehen. Die Gestirne am Himmel sind das Werk seiner Finger, Mond und Sterne sind von ihm festgesetzt, die Pracht des Himmels ist nicht in Worte zu fassen, sie ist schlicht überwältigend. Umso mehr stellt sich für den Psalmbeter die Frage: «Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst, dass du dich um ihn kümmerst?» (V. 5) Damit wird der Grösse Jhwhs als Schöpfer die Kleinheit, Nichtigkeit und Vergänglichkeit des menschlichen Geschöpfs gegenübergestellt. Dieser Vergleich ist allerdings nicht primär das Ziel jener Frage, sondern die Tatsache, dass Jhwh seiner Schöpfung und insbesondere des Menschen gedenkt. Jhwhs Zuwendung zur Schöpfung, sein In-Beziehung-Treten zum Menschen, ist Ausdruck der tiefen Einsicht, die der Psalmbeter gewonnen hat und die ihn notwendig zu der unendlichen Dankbarkeit führt, wie er sie in diesem Lob auf den Schöpfer in Worte zu fassen versucht. Die Zuwendung Jhwhs zum Menschen ist so leidenschaftlich, dass Jhwh ihn als sein Ebenbild erschaffen und mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt hat (V. 6). Hier wird dem einzelnen Menschen – jedem Menschen! – eine Ehrung zuteil, die normalerweise nur einem König als dem Stellvertreter Gottes auf Erden zukommt. Demgegenüber wird hier dem Menschen als solchem «Menschenwürde» im wahren Sinn des Wortes zuerkannt. Die Konsequenzen, welche die besondere Würdestellung des Menschen in Jhwhs Schöpfungsordnung nach sich zieht, werden dann in V. 7–9 Abb. 3 aufgezeigt. Der Mensch hat einen Herrschaftsauftrag, der sich darin äussert, dass er mit Kleinvieh und Rindern, mit den wilden Tieren des Feldes, den Vögeln des Himmels und den Fischen des Meeres einen verantwortungsvollen und sorgsamen Umgang pflegen soll, damit das gemeinsame Leben der gesamten Schöpfung im Sinne der göttlichen Ordnung gewährleistet ist22. Vergleicht man die Worte des Auftrages mit einem neuassyrischen Relief (9.–7. Jh. v. Chr.), dann wird noch deutlicher, inwiefern verantwortungsvolles Handeln als eine dem Menschen übertragene Aufgabe angesehen werden darf (Abb. 3). O. Keel beschreibt das Relief mit den Worten: «Der dem schwächeren Tier aufgestemmte Fuss drückt die ‹Herrschaft› aus … Wie beim König besteht diese aber nicht nur im Untertan-Halten, sondern auch in der Verteidigung des schwächeren Tieres gegen den angreifenden Löwen»23. 22 23
Vgl. dazu ausführlich oben C.2. Keel, Welt, 50.
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Psalm 8, wiewohl nicht eigentlich ein Königspsalm, kann nur vor dem Hintergrund der altorientalischen Vorstellung verstanden werden, wonach der König die göttliche Ordnung zwischen Himmel und Erde stützt und garantiert. Diese Rolle wird hier ganz allgemein dem Menschen übertragen. Eine weitere Illustration soll aufzeigen, weshalb diese Royalisierung des Menschen so bedeutend ist. Das Sandsteinrelief aus dem 2. Jh. v. Chr. stellt einen König dar, der auf der Erde steht und den doppelten Himmel (einmal als Flachdach, einmal als Sonne mit Flügelpaar) mit seinen Händen stützt (Abb. 4). Nicht die dünnen Säulen rechts und links gewährleisten das Bestehen der Schöpfungsordnung, sondern die königliche Tat, die von der Kraft und Macht seiner Arme ausgeht. Genau in dieser Funktion wird in Ps 8 jeder einzelne Mensch gesehen. Ausgestattet mit Jhwhs Ehre und Herrlichkeit, aufgrund seiner ihm von Gott verliehenen Macht- und Würdestellung, hat der Mensch den Auftrag, die göttliche Ordnung vor der Gefährdung durch das Chaos zu schützen. Das Chaotische bedroht aber gerade auch die schwächsten Glieder der Gesellschaft. Sie in Schutz zu nehmen ist laut Ps 72,13f Aufgabe des Königs – und nach Psalm 8 Pflicht jedes Menschen: «Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen. Von Unterdrückung und Gewalttat befreit er sie, ihr Blut ist in seinen Augen kostbar.» 3.4. Schlussbemerkung Das Bewusstsein für das spannungsvolle Verhältnis, in dem einerseits dem Menschen höchste Machtund Würdeprädikate verliehen werden, andererseits die Macht doch ganz bei Gott, dem Schöpfer und königlichen Weltenherrscher, bleibt, ist Ausdruck Abb. 4 jener adäquaten Grundhaltung, die jeglicher Frieden stiftenden und Gewalt hemmenden Tat vorangehen muss. Diese Grundhaltung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Mensch von der «Ehre und Herrlichkeit» seiner selbst und jedes anderen Menschen weiss, dass er empfindlich bleibt für Verletzungen und Einschränkungen dieser von Gott verliehenen Würde und dass er sich sowohl seiner Möglichkeiten wie deren Grenzen bewusst ist, wenn er sich für den Schutz und die Wahrung von «Menschenwürde» einsetzt, wo diese mit Füssen getreten wird. Literatur
W. DIETRICH / C. LINK, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen-Vluyn 22004. – F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Die Psalmen, I. Psalm 1–50, Würzburg 1993 (NEB.AT 29). – B. JANOWSKI, Konfliktgespräche mit Gott.
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D.II. Begrenzung der Gewalt
Eine Anthropologie der Psalmen, Neukirchen-Vluyn 2003. – O. KEEL, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996. – W. LIENEMANN, Frieden. Vom «gerechten Krieg» zum «gerechten Frieden», Göttingen 2000 (OeS 10). – U. NEUMANN-GORSOLKE, «Mit Ehre und Hoheit hast du ihn gekrönt» (Ps 8,6b). Alttestamentliche Aspekte zum Thema Menschenwürde, in: JBTh 15 (2000), 39–65. – E. OTTO, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart u.a.O. 1994 (ThW 3,2). – P. RIEDE, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen, Neukirchen-Vluyn 2000 (WMANT 85). – R.M. RILKE, Briefe an seinen Verleger, Leipzig 1934.
Abbildungen
Abb. 1: E. PORADA, Corpus of Ancient Near Eastern Seals in North American Collections I. The Collection of the Pierpont Morgan Library (New York 1948), Nr. 688, in: O. Keel, Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996, 360, Nr. 48. © Vandenhoeck & Ruprecht. Abb. 2: R. V. LANZONE, Dizionario di Mitologia egiziana (Torino 1883), 407 und Taf. 158,I, in: Keel, Welt, 360, Nr. 28. © Vandenhoeck & Ruprecht. Abb. 3: D.J. WISEMAN / W. und B. FORMAN, Götter und Menschen im Rollsiegel Westasiens (Prag 1958), Nr. 63, in: Keel, Welt, 361, Nr. 60. © Vandenhoeck & Ruprecht. Abb. 4: E. CHASSINAT, Le temple dʼEdfou, 14 Bde. (Le Caire 1928–1934), Taf. 626, in: Keel, Welt, 360, Nr. 21. © Vandenhoeck & Ruprecht.
MS II. B EGRENZUNG
DER
G EWALT
1. Ansätze zur Minimierung der Gewalt gegen Tiere im Alten Testament 1.1. Der Tierschutzgedanke im Alten Testament Die gesetzlichen Texte des Alten Testaments sind überraschend reich an Vorschriften und Hinweisen, wie das Zusammenleben der Menschen mit der sie umgebenden Natur und der Tierwelt zu gestalten ist. Das auf eine alte kasuistische Rechtssammlung zurückgreifende sog. Bundesbuch (Ex 20,22–23,23) enthält eine ganze Reihe einschlägiger Bestimmungen. In Ex 23,11 findet sich die Vorschrift zum Brachliegenlassen der Felder (mit dem Verb õmæ, «freigeben, sich selber überlassen»). Das Ackerland, die Weinberge und die Ölbäume sollen in jedem siebten Jahr ruhen gelassen werden. Das Land soll brachliegen und nicht bestellt werden, und was es dennoch an Ertrag hervorbringt, das soll den Armen im Volk und den «Tieren des Feldes» überlassen werden. Die Begründung ist also teils eine soziale, teils eine quasi tierschützerische. Der unmittelbare Sinn dieser Vorschrift liegt aber wohl vor allem darin, dass die regelmässige Brache der Übernutzung und Auslaugung der Böden vorbeugte und so der langfristigen Ertragssicherung diente.
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Ein ähnlicher Gedanke dürfte Dtn 22,9 zugrunde liegen, wo es heisst, der Boden eines Weinbergs dürfe nicht zusätzlich zum Anbau anderer Pflanzen genutzt werden. Damit soll offenbar einer Übernutzung des Bodens gewehrt werden. In Dtn 20,19, im Kontext der sog. Kriegsgesetzgebung (schon als solche ein Meilenstein der Rechtsgeschichte!), wird das Verbot erlassen, bei der Belagerung einer Stadt die Obstbäume der Umgebung abzuholzen und für Belagerungszwecke zu nutzen. Schliesslich wird es auch nach dem Krieg dort noch Menschen geben, die auf die Bäume angewiesen sind! Einige prophetische Texte gehen über solche, im Grunde noch anthropozentrische, Nützlichkeitserwägungen hinaus. Nach Hab 2,17 wird die Grossmacht Babylon an ihrer Gewaltausübung gegen Natur (und Menschen) zu Fall kommen: «Die Gewalttat (©āmas) am Libanon wird dich bedecken und die Vernichtung (šod) der Tiere, die sie erschreckt, wegen der Blutschuld an den Menschen und wegen der Gewalt gegen das Land, die Stadt und alle, die darin wohnen!» Und nach dem Sturz Babels, der Ressourcen verschlingenden Metropole, haben laut Jes 14,8 die Zedern und Wacholderbäume im Libanon Anlass zum Jubel: «Seit du daliegst, kommt der Holzfäller nicht mehr zu uns herauf!» Im Bundesbuch finden sich diverse Vorschriften zum Schutz der Arbeitstiere: In Ex 23,12 werden Rind und Esel in die Sabbatruhe eingeschlossen, ihnen gebührt das Recht auf Ruhe ebenso wie dem Fremdling und dem Sklaven. Diese Regelung wird in den beiden Fassungen des Dekalogs wiederholt (Ex 20,9f; Dtn 5,12–14). Ebenfalls im Bundesbuch findet sich die Anweisung, dem zusammengebrochenen Esel des Widersachers aufzuhelfen (Ex 23,5). Und die Bestimmung, ein Rind, das einen Menschen zu Tode gestossen hat, sei im Grunde wie ein Mörder zu bestrafen (21,28–32), billigt dem Vieh fast personhafte Würde zu. Hier wird noch einmal besonders deutlich, wie nah bei menschlichem Denken und Verhalten das Tier angesiedelt wurde. Weiter findet sich im Bundesbuch im Zusammenhang mit dem Gebot der Opferung des Erstgeborenen eine Vorschrift, die die Mutterschaft der Tiere schützt: «Sieben Tage mag es bei seiner Mutter bleiben, am achten Tag sollst du es mir geben» (Ex 22,29). Man beachte die Wiederholung dieses Gebots in Lev 22,27, wo sich gleich noch das Verbot anschliesst, Mutter- und Jungtier am gleichen Tag zu schlachten. Der Respekt vor der Beziehung zwischen Muttertier und Jungem ist im altorientalischen Bewusstsein tief verankert. Ein säugendes Muttertier gilt als Manifestation des Segens Gottes und als Symbol der Liebe zwischen Mutter und Kind. In diesem Kontext ist auch das ebenfalls im Bundesbuch (Ex 23,19), aber auch in Ex 34,26 und in Dtn 14,21 auftauchende Verbot, das Böckchen in der Milch seiner Mutter zu kochen, beheimatet. Noch weiter führt Dtn 22,6, wo das Ausnehmen eines Vogelnestes dadurch begrenzt wird, dass nur die Jungen bzw. die Eier, nicht aber der
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Muttervogel mitgenommen werden dürfen. Sicher hatte diese Regelung etwas mit dem zu tun, was wir heute ökologische Nachhaltigkeit nennen. In Dtn 25,4 wird es verboten, einem Rind beim Dreschen das Maul zuzubinden. Es soll dem Tier nicht zugemutet werden, den ganzen Tag zwischen prächtigem Futter zu rackern und nichts davon zu bekommen. Paulus hat diese Textstelle in 1Kor 9,9 allegorisch auf den Menschen hin interpretiert und zur Begründung für die Entlöhnung der Apostel gebraucht. Die Übertragung sei ihm unbenommen – wenn darüber nur nicht der ursprüngliche, dem Wohl des Tieres dienende Sinn der Vorschrift vergessen wird. All diese Vorschriften und Mahnungen haben ihren Sitz im Leben im täglichen, vertrauten Umgang des Bauern mit seinen Tieren. Schöner als in Spr 12,10 könnte dies nicht zusammengefasst werden: «Der Gerechte kümmert sich um das Wohlergehen (næfæš, wörtlich: ‹Leben›) seines Viehs, aber das Herz der Gottlosen ist grausam.»
1.2. Gewalt begrenzende Aspekte des Tieropfers Die in alttestamentlicher Zeit (und überhaupt in der Antike) üblichen Tieropfer könnten geradezu als Paradebeispiel der Gewalt gegen Tiere verstanden werden. Doch gilt es diesen Eindruck zu relativieren. Beim Tieropfer tritt das Leben des Tieres sozusagen in Stellvertretung für menschliches Lebens ein – einmal mehr ein Hinweis auf die grosse Nähe, in der man Mensch und Tier sah. Behält man im Auge, wie bedeutsam die zu opfernden Tiere – namentlich Rind, Schaf, Ziege und Taube – als Existenzgrundlage der Menschen damals waren, wird deutlich, dass ein Tieropfer etwas ganz anderes war als das Abgeben von etwas Überflüssigem. Der Mensch drückte im Opfer seine Dankbarkeit für das ihm von Gott Geschenkte aus. Er anerkannte damit Gott als Ursprung des Lebens des Tieres und als den, der das Fleisch dem Menschen zur Ernährung schenkt. Das Fleisch von Opfertieren war in Altisrael auch das Fleisch, das man normalerweise verzehrte. Schlachtungen fanden weitgehend im rituellen Rahmen statt. Das Töten wird biblisch nicht verdrängt, abgeschoben und möglichst unsichtbar vollzogen, es geschieht im Kult und damit mitten im religiösen wie sozialen Leben und Alltag. Es wird reflektiert, streng geregelt und – besonders wichtig – individuell verantwortet. Zudem spielte bei der Schlachtung der Blutritus eine zentrale Rolle. Das Blut durfte nicht verzehrt werden, denn es galt als Sitz des Lebens. Über das Leben aber verfügt allein Gott. Beim Schlachten soll das Blut, also das Leben, zur Erde zurückkehren, dorthin, woher es gekommen ist. So wollen es Gen 9,4 und Lev 17,11. Darin drückt sich eine tiefe Ehrfurcht vor dem Leben aus, über das der Mensch nicht frei zu verfügen hat. Tieropfer werden übrigens schon in der Bibel der Kritik unterzogen. So wehrt Jes 1,11–17 einen Opferkult ab, dem nicht ein Leben in Gerechtigkeit und eine
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innere Haltung der Gottesfurcht entsprechen. Durch Opfer die Gunst Gottes zu gewinnen, wenn gleichzeitig böse Taten an der Tagesordnung sind und niemand nach dem Recht fragt, ist nicht möglich. In scharfen Worten wird eine solche Entartung des Opferkults verurteilt: «Ich habe die Brandopfer von Widdern und das Fett der Mastkälber satt, und am Blut von Jungstieren, Lämmern und Böckchen habe ich kein Gefallen» (Jes 1,11). Ähnlich heisst es in Hos 6,6: «Denn an Solidarität habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, und an der Erkenntnis Gottes mehr als an Brandopfern.» (Vgl. auch Am 5,21–25 und Ps 51)
1.3. Das Tier als Vorbild des Menschen Das Alte Testament vermittelt mitunter den Eindruck, Tiere hätten ein unmittelbareres Verhältnis zu Gott und seinem Willen als die Menschen. Diese werden dann aufgefordert, sich die Tiere und ihr Verhalten zum Vorbild zu nehmen. Das Beobachten der Tiere kann den Menschen «weise» (©km) machen. «Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege an und werde weise! Sie, die keinen Anführer, Aufseher, und Gebieter hat, sie bereitet im Sommer ihr Brot, sammelt in der Ernte ihre Nahrung» (Spr 6,6–8). Oder: «Vier sind die Kleinen der Erde, und doch sind sie wohlerfahrene Weise: die Ameise, ein nicht starkes Volk, und doch bereiten sie im Sommer ihre Speise; die Klippdachse, ein nicht kräftiges Volk, und doch legen sie im Felsen ihre Wohnungen an; die Heuschrecken haben keinen König, und doch ziehen sie allesamt aus in geordneten Scharen; die Eidechse kannst du mit Händen fangen, und doch ist sie in Königspalästen» (Spr 30,24–28). Zusammengefasst heisst es über die Vorbildhaftigkeit von Tieren in Hiob 12,7: «Frage doch das Vieh, und es wird es dich lehren!» Auch die Propheten verweisen auf Tiere als Vorbilder, wenn sie die Untreue des israelitischen Volkes kritisieren. Der Spruch Jes 1,3 («Ein Rind kennt seinen Besitzer und ein Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht») ist Grund für das vertraute Bild von Ochs und Esel an der weihnächtlichen Krippe. Weniger bekannt ist Jer 8,7: «Selbst der Storch am Himmel kennt seine bestimmten Zeiten, und Turteltaube, Schwalbe und Drossel halten die Zeit ihres Kommens ein; aber mein Volk kennt das Recht Jhwhs nicht.» Sogar in den geschichtlichen Texten wird vom geheimen, dem Menschen unzugänglichen Wissen der Tiere um den Gotteswillen erzählt. So wird etwa der Prophet Bileam in Num 22 durch seine Eselin vor einem tödlichen Vergehen gewarnt. Ihn will ein Engel Gottes von seinem Vorhaben, das Volk Israel zu verfluchen, abbringen. Doch nur seine Eselin, sein Reittier, erkennt den Engel und rettet durch ihr störrisches Stehenbleiben Bileam vor dem gezückten Schwert des Gottesboten.
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In 1Sam 6,7–12 wird die Lade, das Heiligtum der Israeliten, nachdem sie in die Hände der Philister geraten ist und unter diesen eine Flut von Plagen und Krankheiten ausgelöst hat, zwei säugenden Kühen anvertraut. Ziehen sie entgegen ihrem natürlichen Instinkt von ihren Kälbern weg dem Land Israel zu, so muss dies Gottes Wille sein. Und sie handeln nach Gottes Willen! Auch ein Löwe stellt sich als Kenner des Gotteswillens heraus: In 1Kön 13,21–24 vollzieht er die göttliche Strafe an einem ungehorsamen Gottesmann, frisst aber, gehorsam gegenüber Gott, weder die Leiche noch das Reittier auf. 1.4. Ein resümierender Ausblick Ein weites Feld von Texten, die sich eingrenzend, kontrollierend, verbietend, mahnend und fordernd gegen die Gewalt gegen Tiere und die Natur wenden, hat sich uns aufgetan. Zusammenfassend lassen sich noch einmal folgende Aspekte und Perspektiven als besonders bedeutsam erwähnen: Die Tiere haben eine eigene Würde und einen von den Menschen unabhängigen Eigenwert. Sie verfügen sogar über ein eigenes Verhältnis zu Gott. Das Töten von Tieren zwecks Ernährung wird streng kultisch eingebettet und durch das Verbot des Blutgenusses in der Sphäre der Ehrfurcht vor dem Leben gehalten. Durch eine Reihe von Geboten und Verboten werden das ökologische Gleichgewicht und die Bedürfnisse der Tiere geschützt. Tiere haben Rechte! Mensch und Tier sind sich wesensmässig sehr nahe. Unmöglich kann einer grundlos und gedankenlos über das Leben des anderen verfügen. Mensch und Tier sind in der biblischen Lebenswelt miteinander vertraut und aufeinander angewiesen. Die Menschen der Bibel sehen darin nicht so sehr eine Verpflichtung als vielmehr ein Geschenk. In dieser Hinsicht sind unsere heutigen Erfahrungsund Wahrnehmungsdimensionen sehr beschränkt. An diesem Punkt hätte eine biblisch begründete Tier- und Ökologieethik einzusetzen. Nicht moralische Forderungen und Vorschriften hätten im Vordergrund zu stehen, sondern das Bewusstwerden und Erfahrbarmachen der vielfältigen Bereicherung, die sich aus dem Mit- und Nebeneinander der Schöpfungsgemeinschaft für die Menschen ergibt. Diese Gemeinschaft zu leben, sie zu benennen, für sie zu danken und sie zu feiern, das wäre vom Alten Testament in erster Linie zu lernen. Das mag dann auch dazu motivieren, sich dieser Gemeinschaft entsprechend zu verhalten und sich für sie einzusetzen. Es ist hier nicht der Ort, aktuelle Folgerungen aus der biblischen Haltung zur ausser-menschlichen Schöpfung zu entwickeln. Doch liegt auf der Hand, dass viele moderne und modernste Entwicklungen von hier aus kritischer Nachfrage zu unterziehen wären: schon die Grundhaltung, aus der naturwissenschaftliche Forschung betrieben wird (der Mensch als Subjekt, die zu erforschenden «Gegenstände» als von ihm getrennte Objekte); aber dann auch die Bedenkenlosigkeit, mit der die mit der Industrialisierung verbundenen
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gewaltigen Schadstoff- und Wärmeemissionen in Kauf genommen wurden (und teils noch werden); weiter: der massenhafte und überwiegend bedenkenlose Fleischkonsum einer exponenziell wachsenden Menschheit; die ebenfalls massenhaften und grossenteils offenbar unnötigen Tierversuche; und noch mancher weitere schöpfungsethische Dammbruch, wie etwa die Spaltung des Atoms, Eingriffe in das Erbgut von Pflanzen und Lebewesen bis hin zum Klonen von Menschen. Das Rad der Geschichte wird sich nicht zurückdrehen, der menschliche Forschergeist sich nicht unterdrücken lassen, und doch lassen sich aus den scheinbar schlichten und vergangenen biblischen Maximen Leitlinien für einen verantwortungsbewussten Umgang mit der Schöpfung gewinnen. Literatur
W. DIETRICH, «… den Armen das Evangelium zu verkünden». Vom befreienden Sinn biblischer Gesetze, in: Ders., Theopolitik. Studien zur alttestamentlichen Theologie und Ethik, Neukirchen-Vluyn 2002, 184–193. – B. JANOWSKI, Noahs Erbe. Tiere als Opfer und Mitgeschöpfe im Alten Testament, in: BiKi 60 (2005), 32–37. – O. KEEL, Das Böcklein in der Milch seiner Mutter und Verwandtes. Im Lichte eines altorientalischen Bildmotivs, Fribourg / Göttingen 1980 (OBO 33). – S. SCHROER, «Du sollst dem Rind beim Dreschen das Maul nicht zubinden» (Dtn 25,4). Gewalt gegen Tiere und Rechte der Tiere in der biblischen Tradition, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Aspekte, Stuttgart 2004, 122–133.
SB 2. Das alttestamentliche Recht als Versuch zur Minimierung der Gewalt unter den Menschen 2.1. Die Talionsformel «Auge um Auge, Zahn um Zahn» Kaum ein Text ist berühmter und berüchtigter für das Thema «Altes Testament und Gewalt» als das sog. Talionsgesetz Ex 21,22–25. Der Passus gehört zum «Bundesbuch» in Ex 21–23, dem ältesten Rechtskodex der Bibel, und hat folgenden Wortlaut: «(22) Wenn Männer miteinander raufen, und sie verletzen dabei eine schwangere Frau, so dass eine Fehlgeburt eintritt, aber es geschieht kein ʼasôn, so soll es mit Geld gebüsst werden; was der Ehemann dem Täter auferlegt, das soll dieser geben für die Fehlgeburt. (23) Geschieht aber ein ʼasôn, so sollst du geben Leben um Leben, (24) Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuss um Fuss, (25) Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Strieme um Strieme.»
Der Passus folgt dem Stil sog. kasuistischer Rechtssätze: Zunächst wird ein Fall (lat. «casus») beschrieben und die auf ihn stehende Sanktion benannt. (Bei V. 22 also: Eine durch eine Rauferei ausgelöste Fehlgeburt ist, je nach der
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Forderung des geschädigten pater familias, durch eine Schadenersatzleistung abzugelten.) Daran schliesst sich ein Unterfall an: Die Rauferei hat nicht nur den Abgang des Fötus, sondern einen ʼāsôn bei der Mutter zur Folge (V. 23a; es ist nicht ganz klar, ob eine Verletzung oder ein tödlicher Unfall gemeint ist). Die dafür fällige Sanktion bemisst sich nach der Talio: Leben um Leben, Auge um Auge usw. (V. 23b–25). Man darf davon ausgehen, dass sich der Passus V. 23b–25 ursprünglich nicht allein auf den hiesigen Kasus bzw. UnterKasus bezogen hat. Denn bei Männerraufereien sind es ja nicht in erster Linie gerade Schwangere, die ein Auge oder einen Zahn verlieren – oder gar eine Hand oder einen Fuss, oder die Verbrennungen erleiden! Vermutlich regelte diese Talio-Aufzählung ursprünglich generell das Strafmass im Fall von Körperverletzungen. Hinter Ex 21,22–25 dürfte eine längere Traditionsgeschichte stehen. Rothenbusch stellt sie sich so vor: Da gab es einerseits die ausgedehnte Talionsformel, derzufolge bei Körperverletzung der Täter mit seinem Körper haftete (V. 24f). Andererseits gab es eine kasuistische Rechtsbestimmung, dass und wie eine unvorsätzliche gewaltsame Abtreibung finanziell abzugelten war (V. 22). Daran wurde irgendwann die Regelung eines Unterfalls angeschlossen: Was hat zu geschehen, wenn ausser dem ungeborenen Kind auch die Mutter zu Tode gekommen ist? (ʼāsôn wäre dann ein tödlicher Unfall.) In einem solchen Fall haftet der Täter nicht mehr nur mit seinem Eigentum, sondern mit seinem Leben («Leben gegen Leben», V. 23). Diese Bestimmung wiederum bot Anlass, die grosse Talionsformel (V. 24f) anzuhängen: Nicht nur «Leben um Leben», sondern auch «Auge um Auge» usw. (womit ʼāsôn nicht mehr nur einen tödlichen Unfall meint, sondern jeden Fall von Körperverletzung, darunter auch solche mit Todesfolge). Bevor wir uns fragen, was dies im konkreten Rechtsfall bedeutet, möchten wir zunächst festhalten, dass die Talions-Bestimmung, so überraschend es auf den ersten Blick wirken mag, rechtshistorisch einen Fortschritt bedeutet. In Gesellschaften, in denen ein allgemein gültiges und gesichertes Rechtssystem nicht – noch nicht oder nicht mehr – besteht, werden Vergehen wie Körperverletzung nicht bestraft, sondern gerächt. Die Ahndung richtet sich dann nicht nach rechtlichen Normen, sondern nach Faktoren wie der Wut und der Macht des oder der Geschädigten. Die Bibel selbst bietet in ihrer Urgeschichte ein erschreckendes Beispiel dafür: Lamech, ein Nachkomme Kains und Steppenbewohner (d.h. kein Bürger eines geordneten Staatswesens, sondern Anführer einer umherschweifenden Nomadensippe), droht jedem, der ihn bzw. einen seiner Stammesgenossen anrührt, mit vielfacher, schrecklicher Rache: «Lamech sprach zu seinen Frauen: Ada und Zilla, hört meine Rede, ihr Frauen Lamechs, vernehmt meinen Spruch:
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Einen Mann habe ich erschlagen für meine Wunde und einen Jüngling für meine Strieme. Wird Kain siebenmal gerächt, so Lamech siebenundsiebzigmal.» (Gen 4,23f)
Einer wie Lamech – allein in der Steppe gegen alle, auf die er trifft – mag so reden. Wie soll er sich und die Seinen sonst schützen (und seinen Frauen imponieren)? In einem geordneten Gemeinwesen, in dem alle einigermassen in Sicherheit leben oder doch leben wollen, darf keiner so reden. Insofern stellt die Talion einen Fortschritt dar, indem sie die Strafgewalt regelt und begrenzt. In dem in Ex 21,22–25 zu Grunde gelegten Fall ist ausserdem zu beachten, welche «Leben» da gegeneinander stehen. Im Blick auf den Täter werden keinerlei Unterschiede hinsichtlich Person und Schichtzugehörigkeit gemacht; es könnte sich also sehr wohl um einen begüterten und einflussreichen Mann handeln. Auf der anderen Seite steht «nur» eine Frau, und auch bei ihr fehlt jede Spezifizierung hinsichtlich Rang und Ansehen; es könnte sich also um eine Frau aus der Unterschicht handeln. Gleichwohl gilt: «Leben um Leben». Keines Menschen Leben ist mehr wert als das Leben irgendeines anderen Menschen. Insofern ist hier ein Grundsatz eingeführt, welcher der Forderung nach Gleichheit aller vor dem Gesetz zumindest nahe kommt. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob hier nicht Gewalt dadurch begrenzt wird, dass eine geschehene Gewalttat (dem Text zufolge eine unabsichtlich begangene) durch eine genau gleich grosse (nun aber bewusst geplante) Gewalttat geahndet wird. Der altbabylonische Codex Hammurapi (18. Jh. v. Chr.) hat die Talio in diesem Sinne als eine strafrechtlich geregelte Leibesverstümmelung von Menschen, die andere körperlich geschädigt haben, festgeschrieben. Vermutlich hat er diese Sanktionsform überhaupt erst erfunden; denn ältere Gesetzessammlungen aus dem gleichen Raum kannten sie noch nicht, liessen vielmehr Körperverletzungen durch finanzielle Entschädigung abgegolten werden. Die Frage ist nun, was mit der biblischen Talionsformel intendiert ist: tatsächlich eine gerichtlich verfügte Verstümmelung oder Tötung von Menschen, die andere verletzt oder getötet haben, oder aber finanzielle Abgeltungen, deren Höhe sich nach dem vom Geschädigten erlittenen Verlust zu richten hat. Benno Jacob votiert entschieden für das Zweite und macht dafür zwei sprachliche Argumente geltend: Erstens wird in V. 23 das Verb «geben» (hebr. ntn) verwendet. «Was ich gebe, muss der andere nehmen können». Ein Verständnis des Wortes im Sinne von «preisgeben, dahingeben» wäre ein Germanismus. Also muss es um Wiedergutmachung des angerichteten Schadens durch Geldzahlung gehen. Zweitens ist die Präposition «um» (hebr. ta©at) immer Ausdruck für ein An-die-Stelle-Treten; d.h. der Ersatz soll das leisten, was das jetzt beschädigte oder verlorene Glied zuvor geleistet hatte und künftig geleistet hätte.
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Verweisen lässt sich hier auch auf die Diskussion des Themas im Talmud (Traktat Bawa kamma 83b/84a). Die jüdischen Gelehrten wussten sehr wohl, dass man den Wortlaut des Bibeltextes auch im Sinne einer Körperstrafe verstehen konnte – und wussten ebenso, dass in der faktischen jüdischen Rechtspflege Körperverletzung so gut wie nie mit Körperstrafen, sondern mit Kompensationszahlungen geahndet wurde. Im typischen Stil jüdischer Exegese werden die differierenden Positionen in die Form eines Streitgesprächs gebracht: «Es wird gelehrt: Rabbi Dostai, Jehudas Sohn, sagt, Auge um Auge bezieht sich auf Geldentschädigung … Aber vielleicht ist es nicht so, sondern es bezieht sich wirklich auf das Auge? Aber siehe, was willst du sagen, wenn das Auge des einen gross war und das Auge des andern klein ist? Wie soll ich in diesem Fall das Auge um Auge anwenden? Und wenn du sagen wolltest: In einem solchen Fall ist von ihm eine Geldentschädigung zu nehmen, so sagt doch die Weisung: Ein einziges Recht soll für euch gelten [Lev 24,22], das gleiche Recht soll für euch alle gelten». Oder, in einer etwas anderen Argumentationsführung: «… Aber siehe, was willst du sagen, wenn da ein Blinder war, der blendete, ein Verstümmelter, der verstümmelte, ein Lahmer, der lähmte? Wie soll ich in diesem Fall das Auge um Auge aufrechterhalten, da doch die Weisung sagt: Ein einziges Recht soll für euch alle gelten, das gleiche Recht soll für euch alle gelten?» Auch auf die Präposition ta©at wird schon in der rabbinischen Diskussion verwiesen: «… Raw Aschi sagte: Dies [d.h. die Deutung auf finanzielle Abgeltung] wird aus um abgeleitet, denn um kommt ja auch beim Ochsen vor [gemeint ist Ex 21,36]. Hier steht geschrieben Auge um Auge, und dort steht geschrieben: Er zahle, bezahle einen Ochsen um den Ochsen. Wie beim letzteren Geldentschädigung gemeint ist, so ist auch beim ersteren Geldentschädigung gemeint».
Wer nun hat das Strafmass bzw. die Höhe der Ersatzzahlung festzulegen? In V. 22 hat es den Anschein, dies sei Sache des Geschädigten selbst. Doch in der Passiv-Form «soll gebüsst werden» scheint sich anzudeuten, dass eine über den Parteien stehende Instanz – ein Gericht oder ein Richter – in die Regelung einzubeziehen ist. Dies wird noch deutlicher in V. 23–25: Mit dem «du» kann ja unmöglich der Täter angesprochen sein, sondern es ist der Richter oder das Tribunal gemeint, der oder das die Sühne bemessen und über ihrer Aushändigung (ntn) an den Geschädigten wachen soll. Wir stellen fest: Fälle von Körperverletzung mussten damals und müssen heute geahndet werden (wobei sehr wohl abzuwägen ist, ob die Tat willentlich oder unwillentlich begangen wurde). Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen und die Opfer entschädigt werden. In dieser Hinsicht erweist sich das biblische Talionsgesetz – vorausgesetzt allerdings, es wurde im Sinne eines Ersatzleistungsrechts angewendet – als durchwegs humane und auch modernen Massstäben genügende Regelung. Von da her ist nicht leicht zu begreifen, dass das «Auge um Auge» so fraglos als Inbegriff «alttestamentarischer»
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Grausamkeit und Gewalttätigkeit angesehen wurde und wird, und dass es in jedem zweiten Zeitungskommentar auftaucht, der kritisch zu der unseligen Vergeltungsmentalität im heutigen Palästinakonflikt Stellung nimmt. Man geht kaum fehl in der Annahme, dass diese Betrachtungsweise nicht zuletzt von der Interpretation der alttestamentlichen Talion in der neutestamentlichen Bergpredigt beeinflusst ist (vgl. Mt 5,38). Die Christenheit sollte sich dadurch nicht länger irreleiten lassen und jeder antijüdischen und antisemitischen Ausdeutung dieses Rechtsgrundsatzes entgegentreten. Literatur
H.J. BOECKER, Recht und Gesetz im Alten Testament und im Alten Orient, NeukirchenVluyn 1976. – B. JACOB, Das Buch Exodus, Stuttgart 1997, 661–673. – R. MAYER, Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt, München 1963. – E. OTTO, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart u.a.O. 1994. – R. ROTHENBUSCH, Die kasuistische Rechtssammlung im ‹Bundesbuch› (Ex 21,2–11.18–22,16) und ihr literarischer Kontext im Licht altorientalischer Parallelen, Münster 2000 (AOAT 259), bes. 273–296. – R. BORGER / H. LUTZMANN / W.H.PH. RÖMER / E. VON SCHULER, Rechtsbücher, Gütersloh 1982 (TUAT I/1).
RH / MS / WD 2.2. Das Kriegsgesetz des Deuteronomiums (Dtn 20) Auf den ersten Blick wirkt das Kriegsgesetz des Deuteronomiums ziemlich kriegerisch. Von Gottes Hilfe für das Krieg führende Israel ist da die Rede, von der Belagerung und Eroberung von Städten und von der Durchführung der «Bannweihe» (d.h. der totalen Ausrottung eines besiegten Feindes). Doch der erste Anschein trügt. Unter die kriegerischen Töne mischen sich seltsam unkriegerische Zwischentöne. Wichtig für eine sachgerechte Einschätzung des Kapitels ist die Beobachtung, dass es literarisch nicht aus einem Guss, sondern in mehreren Stufen entstanden ist. Wir versuchen im Folgenden, die Entstehungsgeschichte des Textes zu skizzieren und dabei auf die jeweilige Sicht und Wertung der kriegerischen Vorgänge zu achten. Erste Textebene: Eroberung einer fremden Stadt (V. 1.10–14*.19f) «(1) Wenn du in den Krieg ziehst gegen deine Feinde und Pferde siehst und Wagen und ein Volk, das grösser ist als du, dann fürchte dich nicht vor ihnen, denn der HERR, dein Gott, ist mit dir, der dich heraufgeführt hat aus dem Land Ägypten. (10) Wenn du vor eine Stadt ziehst, um gegen sie zu kämpfen, dann sollst du ihr Frieden anbieten. (11) Geht sie auf das Friedensangebot ein und öffnet sie dir ihre Tore, dann soll dir das ganze Volk, das sich in ihr befindet, Frondienst leisten und dir Untertan sein. (12) Will sie aber keinen Frieden mit dir schliessen, sondern mit dir Krieg führen, dann sollst du sie belagern. (13) Und der HERR, dein Gott, wird sie in deine Hand geben, und alles, was darin männlich ist, sollst du mit der Schärfe des Schwertes schlagen. (14) Nur die Frauen und Kinder, das Vieh und alles, was
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D.II. Begrenzung der Gewalt sich in der Stadt an Beute findet, darfst du als Raub für dich behalten, und was du bei deinen Feinden erbeutet hast, was dir der HERR, dein Gott, gegeben hat, sollst du verzehren. (19) Wenn du eine Stadt lange Zeit belagerst und gegen sie Krieg führst, um sie einzunehmen, dann sollst du ihre Bäume nicht zerstören, indem du die Axt gegen sie schwingst; du darfst davon essen, sie aber nicht fällen. Sind denn die Bäume auf dem Feld Menschen, die du belagern müsstest? (20) Nur Bäume, von denen du weisst, dass man nicht davon essen kann, die darfst du zerstören und fällen und Bollwerke daraus bauen gegen die Stadt, die mit dir Krieg führt, bis sie fällt.» (NZB)
In den Gesetzesbestimmungen V. 10–14 und V. 19–20 ist der Kern des Kapitels zu sehen. V. 10 beginnt mit dem Faktum des Krieges gegen eine Stadt. Eine Benennung von möglichen Gründen oder Kriterien für den Kriegsfall fehlt. Festgehalten wird, dass vor Beginn der Kampfhandlungen der betreffenden Stadt die Möglichkeit freiwilliger Übergabe zu eröffnen ist. V. 11 beschreibt die Konsequenzen für den Fall der Kapitulation: Die gesamte Einwohnerschaft – Männer, Frauen, Kinder – wird frondienstpflichtig und versklavt. V. 12 erörtert den Gegenfall des Widerstandes: Es kommt zur Belagerung und zum Kampf. V. 13 geht vom Erfolg der Belagerung aus und schreibt das Verhalten nach der Eroberung vor: Alle (kriegs- und kultfähigen) erwachsenen Männer sind zu töten. Alles Übrige – Frauen, Kinder, Vieh, Wertgegenstände, Lebensmittel – kann gemäss V. 14 als Kriegsbeute angesehen und weggeführt werden. Erwähnenswert ist das den militärischen Aktionen vorausgehende Angebot zur Übergabe der Stadt (V. 10). Es handelt sich dabei nicht eigentlich um Friedensverhandlungen, sondern eher um ein Friedensdiktat. Immerhin ist die Absicht zu erkennen, unnötiges Blutvergiessen zu vermeiden. Die Konsequenzen einer Kapitulation bleiben für die Stadtbevölkerung einschneidend und tiefgehend; sie wird frondienstpflichtig und versklavt. Dass nach einer Eroberung alle erwachsenen Männer getötet werden, ist keine besondere Grausamkeit der israelitischen Kriegsführung, sondern weithin geübte Kriegspraxis. Diese Regelung entspricht archaischer Vergeltung im Sinn der Analog-Strafe: Der militärische Widerstand der Stadt bedroht die angreifenden Männer tödlich, also müssen die verteidigenden Männer die tödlichen Konsequenzen ihres Tuns tragen. Viele Männer der Stadt werden schon vor, weitere bei der Eroberung gefallen sein, so dass danach in der Regel nicht mehr allzu viele niederzumachen waren. Und immerhin ist der gesamte Rest der Bevölkerung zu schonen (was bis in unsere Tage überhaupt nicht selbstverständlich ist, man denke etwa an die Bombardierung von Städten). Die hier festgehaltenen Kriegsregeln zeigen somit keinen Hang zu besonderer Brutalität, sondern folgen archaischer Logik; sie sind nicht schlechter, aber auch nicht besser als in damaliger Zeit üblich. Die gesetzlichen Bestimmungen in V. 19f untersagen das Zerstören des gesamten Baumbestandes rund um die belagerte Stadt (vgl. schon oben D.II.1.). Für die Herstellung von
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Belagerungsinstrumenten und -anlagen durften nur Nicht-Fruchtbäume benutzt werden. Fruchtbäume dagegen, d.h. Bäume, die der Mensch im Rahmen seiner landwirtschaftlichen Tätigkeit pflegt und nutzt, sollten weder für Belagerungszwecke gefällt noch gar mutwillig vernichtet werden. (Man denke demgegenüber an die bis heute immer wieder angewendete Taktik der «verbrannten Erde» oder an die Vergiftung ganzer Landstriche von Flugzeugen aus.) Insgesamt gehen die Vorschriften dieses Kriegsgesetzes nicht auf eine Vernichtung und Zerstörung fremder Städte aus, sondern auf deren Unterwerfung zum eigenen Nutzen: Man macht sich die Bevölkerung untertan, integriert das Vieh in die eigenen Herden, nimmt die Wertgegenstände an sich, verbraucht die Lebensmittel, erhält die Baumbestände für künftige Nutzung. Offenbar ist es das Ziel, die Stadt mit möglichst geringen Schäden in die eigene Verfügungsgewalt zu bekommen. In Dtn 20 ist eine Art rudimentäres Kriegsvölkerrecht festgeschrieben. Vermutlich herrschte über dessen Grundsätze in der gesamten Region Einigkeit. Freilich gab es Mächte, die sich an nichts dergleichen hielten: etwa die Assyrer, die für ihre barbarische Kriegführung bekannt waren (und sich ihrer auch selber rühmten!). Womöglich wird solcher Brutalität hier eine bewusst humanere Art der Kriegführung entgegengestellt. Das deutet auf eine vorexilische, genauer: auf die Entstehung in der Assyrerzeit, d.h. wohl im 7. Jahrhundert v. Chr. Die Herausgeber des Deuteronomiums – eines Gesetzeskorpus, dem der judäische König Joschija (639–609 v. Chr.) Rechtskraft verlieh – könnten diesem Kriegsgesetz mit V. 1 gleichsam eine Überschrift und ein Motto vorangestellt haben. Darin wird die Situation beschworen, dass sich Israel einer militärischen Übermacht gegenüber sieht (und das könnte sehr wohl die assyrische sein). Angesichts dessen wird ein Ermutigungsruf laut («Fürchte dich nicht!»), gefolgt von einer Begründung («Ich bin mit dir!») und von der Erinnerung an Gottes frühere Heilstat (die Herausführung Israels aus Ägypten). Dies sind Elemente des sog. Heilsorakels, einer Redeform, derer sich prophetische oder priesterliche Sprecher bedienten, um Herrschern – oder im Kriegsfall: Oberbefehlshabern – Mut zuzusprechen. Hier richtet sich der Zuspruch, in gewissermassen demokratisierter Form, an das kollektive «Du» ganz Israels. Zweite Textebene: «Bannweihe» gegen einen nahen Feind (V. 15–18) «(15) So sollst du es mit allen Städten halten, die sehr weit von dir entfernt sind und nicht zu den Städten dieser Völker hier gehören. (16) Doch in den Städten dieser Völker, die dir der HERR, dein Gott, zum Eigentum gibt, sollst du nichts am Leben lassen, was Atem hat, (17) sondern du sollst sie der Vernichtung weihen, die Hetiter, Amoriter, Kanaaniter, Peresiter, Hewiter und Jebusiter, wie es dir der HERR, dein Gott, geboten hat, (18) damit sie euch nicht lehren, so abscheulich zu handeln,
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D.II. Begrenzung der Gewalt wie sie es zu Ehren ihrer Götter getan haben, und damit ihr nicht schuldig werdet gegenüber dem HERRN, eurem Gott.» (NZB)
Mit V. 15 kommt ein völlig neuer Ton auf, indem nun zwei Kategorien von Feindstädten unterschieden werden. Das vorangehende (ältere) Gesetz V. 10– 14 soll sich nur mehr auf fern gelegene Städte beziehen. V. 16 legt das Verhalten gegen Städte fest, die auf dem eigenen Territorium liegen: In ihnen darf keine Menschenseele am Leben bleiben. V. 17a präzisiert: Zur «Bannweihe» soll eine solche Stadt bestimmt werden. Bei der Vernichtungsweihe (hebr. ©eræm), deren Wurzeln wohl in archaische Zeit zurück reichen, geht es um die totale Ausrottung eines besiegten Feindes auf Geheiss und zum Ruhme der Gottheit, der zuweilen auch die materielle Beute übergeben wird. Da ein solches Vorgehen dem Sieger ausser dem Sieg selbst kaum Vorteile bringt, dürfte es eher die Ausnahme gebildet und nur bei äusserst gefährlichen und entscheidenden Kriegen angewandt worden sein. Geübt wurde die Praxis keineswegs nur von Israel, sondern auch von Nachbarvölkern – nachweislich etwa von den Moabitern im 9. Jahrhundert v. Chr. Im hiesigen Kontext allerdings ist die «Bannweihe» aus ihrem ursprünglichen Bezugsrahmen herausgelöst und einem geographischen Konzept (nahe Städte – ferne Städte) angepasst, das einzig auf die Situation der sog. «Landnahme» passt. Die Formulierung von den «Städten, die Jhwh, dein Gott, dir zu eigen geben wird», weist voraus auf das Josuabuch, demzufolge Israel ungefähr im 13. Jh. v. Chr. in einem rabiat-furiosen Siegeszug zum alleinigen Besitzer des Landes Kanaan wurde und dabei faktisch alle kanaanitischen Städte mit der «Bannweihe» belegte. Diese Vorgänge aber spielten sich kaum in der historischen Wirklichkeit ab, sondern in den Köpfen von Geschichtsschreibern und -theologen der Exilszeit (6. Jh.). In V. 17b wird in einer konventionellen Aufzählung festgestellt, welche Völkerschaften von dieser radikalen Banntheorie betroffen sein sollten, und in V. 18 wird zu deren Rechtfertigung auf die Gefahr verwiesen, das Gottesvolk könne durch fremde Völker an fremde Götter geraten und sich dadurch vom Glauben an den einen, wahren Gott abbringen lassen. Diese Sätze dürften gegenüber den vorangehenden noch einmal sekundär sein. Anscheinend haben wir es mit zwei aufeinander folgenden, «deuteronomistischen» Bearbeitungen des deuteronomischen Kriegsgesetzes zu tun. Dritte Textebene: Gottes Hilfe und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung (V. 2–9) «(2) Wenn ihr zum Kampf ausrückt, soll der Priester herzutreten und zum Volk sprechen (3) und ihnen sagen: Höre, Israel! Ihr rückt heute aus zum Kampf gegen eure Feinde. Euer Herz verzage nicht, fürchtet euch nicht und ergreift nicht die Flucht und erschreckt nicht vor ihnen. (4) Denn der HERR, euer Gott, zieht mit
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euch, um für euch gegen eure Feinden zu kämpfen, um euch zu retten. (5) Dann sollen die Amtleute zum Volk sprechen und sagen: Wer hat ein neues Haus gebaut und es noch nicht eingeweiht? Der gehe heim in sein Haus, sonst stirbt er im Kampf, und ein anderer wird es einweihen. (6) Und wer hat einen Weinberg gepflanzt und seine ersten Trauben noch nicht genossen? Der gehe heim in sein Haus, sonst stirbt er im Kampf, und ein anderer wird die ersten Trauben geniessen. (7) Und wer hat sich mit einer Frau verlobt und sie noch nicht geheiratet? Er gehe heim in sein Haus, sonst stirbt er im Kampf, und ein anderer wird sie heiraten. (8) Und weiter sollen die Amtleute zum Volk sprechen und sagen: Wer fürchtet sich und hat ein mutloses Herz? Der gehe heim in sein Haus, sonst macht er auch das Herz seiner Brüder so mutlos wie sein eigenes Herz mutlos ist. (9) Wenn dann die Amtleute ihre Rede an das Volk beendet haben, soll man Heerführer an die Spitze des Volkes stellen.» (NZB)
Die Interpretation, die die Verfasser der dritten Textschicht dem Kapitel geben wollen, ist besonders deutlich am Abschnitt V. 2–4 abzulesen, der als neues «Vorzeichen» pointiert an die Spitze der gesetzlichen Bestimmungen gestellt wurde. In V. 2 wird die Gestalt eines Priesters eingeführt, der – wie man es sonst von Truppenführern kennt – dem Kriegsvolk vor der Schlacht Mut zuspricht. Das in V. 3 zusammengetragene Formel- und Spruchmaterial kreist sämtlich um das Thema des «Sich-nicht-Fürchtens»: Israel darf im Krieg völlig getrost sein, denn laut V. 4 kämpft Gott persönlich gegen seine Feinde; das Gottesvolk braucht selbst gar nicht zu kämpfen (oder: darf gar nicht kämpfen) und erhält trotzdem den Sieg. Auf dieser seltsam militant-pazifistischen Grundlage wird im Folgeabschnitt ein seiner Zeit weit vorauseilendes Gesetz über das Recht auf Kriegsdienstverweigerung formuliert. V. 5 führt eine neue Personengruppe, die sog. «Amtleute», ein, die ebenfalls zum Kriegsvolk zu sprechen haben. Der in V. 5–7 wiedergegebene Wortlaut ihrer Rede geht vermutlich auf eine fest gefügte Aufzählung zurück, da alle drei Sätze völlig gleichmässig aufgebaut sind. Genannt werden drei Kategorien von Männern, die vor Beginn der Schlacht nach Hause zu schicken sind: diejenigen, die gerade ein Haus gebaut und es noch nicht eingeweiht haben; diejenigen, die einen Weinberg gepflanzt und dessen Früchte noch nicht genossen haben; schliesslich diejenigen, die sich mit einem Mädchen verlobt und es noch nicht heimgeführt haben – ein erstaunlich humaner Zug in einem antiken Rechtstext. V. 8 gibt sich dadurch, dass die Amtleute neuerlich zu reden anheben, als nochmals jüngerer Nachtrag zu erkennen: Auch alle, die Angst haben, sollen heimgehen, damit sie nicht zur Gefahr für ihre Mitkrieger werden. Natürlich schliessen sie sich auf diese Weise von dem bevorstehenden Gottes-Geschehen aus. Nach V. 9 sind es wohl Offiziere, die die Ausmusterung vorzunehmen haben.
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D.II. Begrenzung der Gewalt
Das Kapitel Dtn 20 in seiner literarischen Entstehungsfolge gibt uns Einblick in einen wichtigen Ausschnitt der Kriegs-, vor allem aber der Geistesgeschichte bzw. des Umgangs der Bibel mit militärischer Gewalt. Da sind keine schmetternden Kriegsfanfaren zu vernehmen, sondern eine Folge gedämpfter Töne mit immer neuen Zwischentönen. Forsche Marschlieder lassen sich dazu schlecht singen. Das Kriegsgesetz des Deuteronomiums zielt vorrangig auf eine Humanisierung und Demilitarisierung des Krieges. Literatur
F. CRÜSEMANN, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 283–286. – W. DIETRICH, Bannkriege in der frühen Königszeit, in: Ders., Von David zu den Deuteronomisten. Studien zu den Geschichtsüberlieferungen des Alten Testaments, Stuttgart 2002 (BWANT 156), 146–156. – N. LOHFINK, Artikel ©āram / ©eræm, in: ThWAT III (1978), 192–213. – E. OTTO, Krieg und Frieden in der Hebräischen Bibel und im Alten Orient, Stuttgart 1999, bes. 98–102. – M. ROSE, 5. Mose, Teilband 1, Zürich 1994 (ZBK.AT 5), bes. 236–252.
AL / KMH 3. Die Pflicht der «Staatsgewalt» (Röm 13,1–7) Die Begriffe «Gewalt» und «Staat» sind in der deutschen Sprache sehr eng miteinander verknüpft. Dies ist zum Teil irreführend, weil der Begriff «Gewalt» in den meisten Kontexten seines Alltagsgebrauchs negativ gefärbt ist und dies leichtfertig zu einem negativen Verständnis des Staates führen kann. Diese Verknüpfung ist aber auch erhellend, weil sie aufmerksam macht auf den sachlichen Zusammenhang zwischen staatlicher Macht und legitimer Ausübung von Gewalt in einem Gemeinwesen, dessen Zusammenhalt durch private Gewaltanwendung gefährdet wäre. Eine historische Annäherung an das Neue Testament muss darauf achten, dass moderne Staatsvorstellungen nicht allzu schnell auf die Verhältnisse des frühen Christentums übertragen werden24. Die Antike kennt zwar keine «vom Herrscher oder von der Gesellschaft abgehobene, abstrakte Staatsidee», in der Praxis jedoch führte die steigende Komplexität des Gemeinwesens zu einer «Ablösung ‹vorstaatlicher› personaler Autorität durch Versachlichung der Herrschaft in Institutionen und Ämtern»25. Der Begriff «Staat» ist also in seiner Anwendung auf das Römische Imperium durchaus angebracht. Ein Gewaltmonopol im modernen Sinne hatte dieses jedoch nicht. Die 24 Obschon der moderne Staatsbegriff selbst ein höchst komplexes und wandelbares System bezeichnet und damit definitionsresistent zu sein scheint. Vgl. zur Geschichte der modernen Staatstheorie von Niccolò Machiavelli (1469–1527) bis Rudolf Smend (1882–1975) Kersting, Staatsphilosophie; Münkler / Vollrath, Staat. 25 Eder, Staat, 873.
3. Die Pflicht der «Staatsgewalt»
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Durchsetzung der politischen Ordnung war vor allem Sache der lokalen Magistrate. Diese konnten in den Provinzen im Notfall auf das Militär zurückgreifen, was jedoch in Rom selbst nicht möglich war. Zur Bewältigung von Krisen war man in vielen Fällen auf freiwillige Unterstützung durch freie männliche Bürger angewiesen26. So war für die Verbrechensbekämpfung jeder selbst verantwortlich. Die staatlichen Einrichtungen wurden nur aktiv im Falle von Hochverrat oder Räubertum. Auch das Steuerwesen war im antiken Rom anders geregelt, als wir es gewohnt sind. In aller Regel (häufige Ausnahme: Krieg) waren die Bürger der Stadt von direkter Besteuerung ausgenommen27. Steuern galten als Siegespreis für die Eroberer und Kriegsstrafe für die Unterlegenen, waren also Leistungen, die in den Provinzen von Bürgern im Auftrag Roms erhoben wurden. Sie dienten v.a. der Finanzierung der Armee, wurden aber auch im Bauwesen und für die Erhaltung eines relativ schmalen administrativen Apparates eingesetzt. Weitere indirekte Steuern wurden auf Freilassung und Verkauf von Sklaven, auf Erbschaften, auf den Erlös bei Versteigerungen und auf vieles andere erhoben. Vor diesem Hintergrund ist Röm 13,1–7 zu betrachten: «(1) Ein jeder Mensch ordne sich den regierenden Instanzen unter (pasa psychê exousiais hyperechousais hypotassesthô)! Denn es gibt keine (politische) Macht (exousia) ausser von Gott und die, die gegenwärtig (im Amt sind,) sind von Gott angeordnet (hai de ousai hupo theou tetagmenai eisin). (2) Wer sich nun der (politischen) Macht widersetzt (antitassomenos tê exousia), der widerstrebt der Anordnung Gottes (tê tou theou diatagê anthestêken); die ihr aber widerstreben, ziehen sich selbst das Urteil zu. (3) Denn vor denen, die Gewalt haben (hoi archontes), muss man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke. Willst du dich aber nicht fürchten vor der (politischen) Macht, so tue Gutes und du wirst Lob von ihr erhalten. (4) Denn sie ist Gottes Dienerin (theou diakonos estin), dir zugut (soi eis to agathon). Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst (ou gar eikê tên machairan phorei): sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Zornesstrafe (ekdikos eis orgên) an dem, der Böses tut. (5) Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht allein um der Zornesstrafe (ou monon dia tên orgên), sondern auch um des Gewissens willen (dia tên suneidêsin). (6) Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern; denn es sind Gottes Amtsleute (leitourgoi gar theou eisin), die auf diesen Dienst beständig bedacht sind. (7) So gebt nun jedem, was ihr schuldig seid (apodote pasin tas opheilas): Steuer, dem die Steuer gebührt; 26 Vgl. knapp Nippel, Polizei, 34f. Es gab zwar in der Prinzipatszeit Einheiten zur Feuerbekämpfung (sog. vigiles), eine kaiserliche Leibgarde, die auch zur Bekämpfung von Unruhen eingesetzt werden konnte (die «Praetorianer») und paramilitärische Einheiten, die v.a. zur Überwachung der öffentlichen Spiele dienten (sog. cohortes urbanae). Ein ständiger Polizeiapparat war der Antike jedoch fremd. 27 Vgl. zum Weiteren Galsterer, Steuern.
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D.II. Begrenzung der Gewalt Zoll, dem der Zoll gebührt; Furcht, dem die Furcht gebührt; Ehre, dem die Ehre gebührt.»
Röm 13,1–7 steht im Sturmzentrum der Diskussion um «Kirche und Staat» und hat entsprechend eine bewegte Wirkungsgeschichte28. Ein Teil dieser Geschichte macht Paulus zum Verbündeten eines religiösen Diskurses, der staatliche Macht göttlich legitimiert und daraus unbedingte Staatstreue und Untertanentum als absolute christliche Pflichten ableitet. Nach den traurigen Erfahrungen mit totalitären Staatssystemen im 20. Jh. und angesichts der häufigen Schuldverstrickung der Kirchen in solche Unrechtssysteme wird das Irritationspotenzial dieses Textes gleichsam wie unter einem Vergrösserungsglas wahrgenommen. Die Verlegenheit v.a. der protestantischen Paulusinterpretation wird daran sichtbar, dass der Text häufig als Fremdkörper innerhalb des Briefes wie überhaupt innerhalb der paulinischen Theologie betrachtet wird29. Der Abschnitt 13,1–7 scheint den Zusammenhang der Ausführungen zur Nächstenliebe in 12,14–21 und 13,8–10 zu unterbrechen. Wenn man jedoch auf die thematischen Signale ab 12,1 achtet, kommt die Rede von der staatlichen Gewalt keineswegs überraschend. Mit dem Hinweis auf das Gute und Vollendete (12,2) benutzt Paulus Begriffe, die zum Vorstellungsfeld antiker Tugendlehre gehören. Der «gute Mensch» erlangt nach antiker Anschauung sein Glück durch die Einbindung in ein Gemeinwesen, welches das Gute lobt und das Böse tadelt und straft. «Gut» und «Böse» (12,2.9.21) und die öffentliche Anerkennung von Ehre (12,10) sind wichtige Aspekte des antiken politischen Lebens. Die Wendung in 12,17 «das Gute vor allen Menschen» bezieht zudem die sozial gültigen Normen positiv in eine christliche Moral ein. Die Mahnung in 13,1 ist ebenso allgemein wie universal. Die staatliche Ordnung gehört zur «leiblichen Existenz», der sich die Christen und Christinnen in veränderter Gesinnung weiterhin verpflichtet wissen (12,1f). Die syntaktische Einheit exousiais hyperechousais verweist hier auf die «politischen Machthaber» bzw. die «regierenden Instanzen»30. Die geforderte Haltung ist die der Unterordnung. Es geht konkret um das gehorsame Akzeptieren des römischen Staatsapparats v.a. durch das Entrichten der geforderten Steuern. 28
Vgl. Affeldt, Weltliche Gewalt; Pohle, Christen. Schrage, Christen, 51f hält diesen Text für einen «Fremdkörper» und Käsemann, Römer, 338 findet ihn «in mancher Hinsicht bei Paulus einzigartig». 30 Vgl. ähnlichen Wortgebrauch in Lk 12,11; 20,20; 1Petr 2,13; 1Tim 2,2. Die Auffassung, dass der Begriff «Engelsmächte» im Blick hätte, wird in der neueren Forschung beinahe einhellig abgelehnt. Mit guten Gründen: Es ist sehr unwahrscheinlich, dass Paulus Unterordnung unter die «himmlischen Mächte» anordnet. Wenn in 13,3b gar von der «Furcht» vor den Exousiai die Rede ist, scheint ein Hinweis auf Engels- und Dämonenmächte schlicht ausgeschlossen (vgl. die lange Diskussion in Riekkinen, Römer 13, 133–170). 29
3. Die Pflicht der «Staatsgewalt»
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In einer Rede des Herodes Agrippa vor einer kriegsbereiten jüdischen Volksmenge kommt der Zusammenhang zwischen «freiwilliger» Unterordnung und Steuerzahlung zum Ausdruck: Die Kolcher, die Taurer und andere Volksstämme «kannten zuvor nicht einmal einen einheimischen Herrscher, jetzt aber gehorchen (hypotassetai) sie 3000 Schwerbewaffneten, und 40 Schiffe bewahren den Frieden. […] Wie vieles könnten Bithynien, Kappadozien, das pamphylische Volk, die Lycier und Kilikier für ihre Freiheit vorbringen! Und doch zahlen sie ihre Steuern ohne den Nachdruck bewaffneter Gewalt.»31
Unterordnung als «natürliche» Entsprechung zur Macht (exousia) entspricht voll und ganz dem antiken Ordnungsdenken, das Familie und Staat in Entsprechung zueinander sieht32. Dennoch ist die Unterordnung gegenüber der politischen Macht kein Endzweck, sondern nur insofern angeordnet, dass diese ihre Autorität von Gott herleitet. Für Paulus sind die politischen Amtsträger «von Gott angeordnet» (13,1b). Wir sind in den westlichen Demokratien tief geprägt von der Vorstellung, dass die Gewalt ausübenden Staatsorgane sich notwendig zu legitimieren haben. Seit dem Zerfall der Einheit von Kirche und Staat im 16. Jh. ist jedoch die strikt religiöse Legitimierung staatlicher Gewalt (der Herrscher «von Gottes Gnaden») für uns nicht akzeptabel. Paulus argumentiert hier ganz im Sinne alttestamentlich-jüdischer Vorstellungen: In der Spruchweisheit geht die Regierungsgewalt der Könige und die Autorität der Richter auf die göttliche Weisheit zurück (Spr 8,15f). Ganz allgemein bekennt das Danielbuch, dass Gott Könige ab- und einsetzt (Dan 2,21; vgl. 2,37). Die vorchristliche Weisheit Salomos spricht den Königen und Richtern ins Gewissen und erinnert sie daran, dass die Macht ihnen «vom Herrn gegeben» wurde und sie daher von ihm zur Rechenschaft gezogen werden (Weish 6,1–8). «Alle Herrschaft auf Erden liegt in Gottes Händen» (Sir 10,4) und er hat «jedem Volk einen Herrscher gegeben» (17,14). Ruhm, Reichtum und Ehre der Könige ist eine «Gabe Gottes» (Aristeasbrief 224). Nach der Darstellung des Josephus schwören die Bewerber bei der Aufnahme in die Essener-Gemeinschaft unter anderem «stets allen die Treue zu halten, allermeist aber der Obrigkeit, denn ohne Gott erwachse niemandem eine Herrscherstellung» (Bellum II 139–141).
Wir sind es gewohnt, die göttliche Herleitung staatlicher Gewalt als eine falsche Aufwertung des an sich säkularen Staates zu verstehen. Im Hinblick auf das Römische Imperium ist dies aber wohl eher als Beschränkung von politischen Allmachtsansprüchen gemeint. In der jüdischen Tradition bedeutet dies immer auch, dass Gott die Mächte richtet, sofern sie die gesetzten Grenzen überschreiten. Dieser Aspekt wird von Paulus jedoch nicht weiter erörtert. Es 31
Josephus, Bellum II 16,4 §367f (übers. Michel / Bauernfeind). Daher begegnet der gleiche Allgemeinplatz in den «Haustafeln» in Bezug auf Ehefrauen (Eph 5,21f; Kol 3,18; Tit 2,5; 1Petr 3,1.5), Kinder (Lk 2,51) und Sklaven (Tit 2,9; 1Petr 2,18). 32
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geht ihm nicht um die Formulierung einer christlichen Staatslehre33, sondern um die leibliche Existenz der Christen und Christinnen als Bürger und Bürgerinnen des römischen Staates. Paulus argumentiert ganz im Sinne des Ordnungsdenkens. Man beachte das griechische Wortspiel: Der staatlichen Ordnung Gottes (1b: tassô; 2a: diatagê) entspricht menschliche Unterordnung (1a: hypotassô), was wiederum politische Auflehnung verbietet (2a: antitassô). Widerstand gegen die Staatsgewalt richtet sich in diesem Schema gegen Gott und unterliegt damit dem Gerichtsurteil Gottes34. Als Prinzip eines derlei «geordneten» Staates gilt, dass die «Exekutive»35 jenen Grund zur Furcht bietet, die böse handeln, nicht aber jenen, die Gutes tun (13,3). Nach 12,1f ist es Sache des durch Gott erneuerten Sinnes, das Gute zu erkennen (12,1f). Erstaunlicherweise obliegt es hier den staatlichen Organen, nicht nur Gutes anzuerkennen, sondern auch Schlechtes (im Auftrag Gottes!) zu bestrafen. Staatsgewalt beinhaltet nach diesem Text ganz deutlich den psychologischen Aspekt der Angst vor der Macht der Exekutive. Zentraler Vollzug dieser moralischen Unterscheidungshoheit des Staates ist die Zuweisung von Lob und Tadel für den guten Bürger36. Der Magistrat erscheint als Diener Gottes, um das Gute zu fördern (V. 4). Wer hingegen böse handelt, hat Grund zur Furcht, denn die staatlichen Institutionen haben das Recht zur Gewalt (Symbol: Schwert), um «Rache» als Zeichen des Zornes gegenüber den Übeltätern zu üben. Was also den Christen und Christinnen privat verboten wird und was eigentlich als Vorrecht Gottes angesehen wird (12,17.19), führt die staatliche Macht als «Gottes Dienerin» mit ihren Mitteln aus: strafende Rache (13,4)37. Paulus schiebt noch eine wichtige Begründung nach: Es geht nicht nur um die Angst vor dem Zorn des Schwertes, sondern auch um das, was das eigene Gewissen gebietet. Die moralisch gewissenhafte Person sieht den Nutzen der staatlichen Ordnung ein und vermeidet jegliche politische Auflehnung. Politische Verantwortung hat sich demnach nicht nur nach dem regressiven Gefühl der Angst vor Bestrafung zu richten, sondern auch nach dem moralischen Gewissen. Dabei wird das Gewissen an dieser Stelle nicht spezifisch christlich gefasst (anders 2,15). Im Zusammenhang mit der Gewaltthematik erinnert die paulinische Argumentation an die im «Leviathan» von Thomas Hobbes (1588–1679) ausgeführte Vorstellung vom Staatsvertrag: Hobbes geht von der negativ-realistischen Diagnose aus, dass der Mensch 33
Davon darf wohl bis zu Augustin nicht die Rede sein. Denkt Paulus hier an ein eschatologisches Gerichtsurteil oder an eines, das durch die Staatsgewalt ausgeübt wird? 35 Mit archontes (13,3) sind wohl konkret die magistrates gemeint. 36 An anderen Stellen zeigt sich Paulus wesentlich skeptischer gegenüber menschlichem Lob (1Kor 4,5). 37 In gewisser Weise nimmt die Staatsgewalt hier das Gericht Gottes vorweg. 34
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in seinem Naturzustand hoffnungslos zu einem «Krieg aller gegen alle» verdammt ist. Er sieht im «Begehren» ein konstitutives Merkmal für die Entstehung von Gewalt38: «Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des anderen Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den anderen entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.»39 Der einzig vernunftgemässe Ausweg aus dieser Spirale von Gewalt und Furcht besteht darin, dass die Individuen eines Gemeinwesens vertraglich auf ihr Recht auf Gewalt verzichten und dem Staat die absolute Gewalt übertragen. Damit die staatliche Gewalt wirklich Gewalt eindämmend wirken kann, muss sie (wie der mythische «Leviathan») Furcht einflössend auf alle Menschen wirken; sie muss in der Lage sein, alle zum Einhalten des Vertrages mit Gewalt zu zwingen. Ähnliche Vorstellungen finden sich schon lange vor Hobbes, etwa im Ratschlag des rabbinischen Lehrers R. Chanina40 oder in Luthers Anschauungen vom Staat in der Schrift «Von weltlicher Obrigkeit».
Paulus gebietet nicht, sondern setzt voraus, dass die Christen in Rom Steuern zahlen (V. 6). Er fügt diesen Hinweis an, um die Unterordnung auf diesen konkreten Aspekt des administrativen Lebens hin zu bündeln. Gegenüber möglichen Vorstellungen, dass Christen dieser Pflicht enthoben sein könnten, hält Paulus die Steuerabgabe für eine christliche Schuldigkeit (V. 7). Diese Schlussmahnung bewegt sich auf der gleichen Ebene wie die Anweisung Jesu, dem «Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist» (Mk 12,12–17 par Mt 22,15–22 par Lk 22,20–26). Eine Reihe neutestamentlicher Texte nimmt diesen paulinischen Gedankengang auf und führt ihn zum Teil weiter. In einem sehr klaren Bezug dazu steht 1Petr 2,13–1741: «(13) Seid untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen (hypotagête pasê anthrôpinê ktisei dia ton kyrion), es sei dem König als dem Obersten (14) oder den Statthaltern als denen, die von ihm gesandt sind zur Bestrafung der Übeltäter und zum Lob derer, die Gutes tun (eis ekdikêsin kakopoiôn epainon de agathopoiôn). (15) Denn das ist der Wille Gottes (to thelêma tou theou), dass ihr mit guten Taten (agathopoiountas) den unwissenden und törichten Menschen das Maul stopft (16) als die Freien (ôs eleutheroi), und nicht als hättet ihr die Freiheit zum Deckmantel der Bosheit, sondern als die Knechte Gottes (ôs theou douloi). (17) Ehrt jedermann (pantas timêsate), habt die Brüder lieb (tên adelphotêta agapate), fürchtet Gott (ton theon phobeisthe), ehrt den König (ton basilea timate)!»
Vieles erinnert an Röm 13: Unterordnung, Nächstenliebe, Bestrafung der Bösen und Lob der Guten. Es gibt aber auch einige eigene Akzentsetzungen: 38
Damit nimmt er einen zentralen Aspekt der Theorie von Rene Girard (s.o. S. 15f) vorweg. 39 Hobbes, Leviathan, 154. 40 Mischna Traktat Avot 3,2: «Bete für das Wohl der Regierung; denn wäre nicht die Furcht vor ihr da, so würde einer den andern lebendig verschlingen.» 41 Vgl. die wertvolle Auslegung von Gielen, 1Petr 2,13–17.
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D.II. Begrenzung der Gewalt
Während in Röm 13 als Motivationsgründe Furcht vor Bestrafung und das eigene Gewissen gelten, spielt hier nun der Ausweis der guten Taten vor einer unwissenden Gesellschaft eine treibende Rolle. Auch fehlt die direkte Herleitung staatlicher Macht von der göttlichen Macht. Dass Christen und Christinnen auch an anderen Stellen zu einem vorbildlichen Verhalten als gute Bürger und Bürgerinnen angehalten werden, ist sicherlich auch in der Absicht begründet, die Dissonanz zur bestehenden Gesellschaft zu verkleinern. In diesem Sinne schärfen die Pastoralbriefe ein: «(1) Erinnere sie daran, dass sie der Gewalt der Obrigkeit untertan und gehorsam seien (archais exousiais hypotassesthai peitharchein), zu allem guten Werk bereit, (2) niemanden verleumden, nicht streiten, gütig seien, alle Sanftmut beweisen gegen alle Menschen. (3) Denn auch wir waren früher unverständig, ungehorsam, gingen in die Irre, waren mancherlei Begierden und Gelüsten dienstbar und lebten in Bosheit und Neid, waren verhasst und hassten uns untereinander.» (Tit 3,1–3) «(1) So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, (2) für die Könige und für alle Obrigkeit (hyper basileôn kai pantôn tôn en hyperochê ontôn), damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. (3) Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland.» (1Tim 2,1–3)
Doch kehren wir zurück zu Röm 13: Für die Gewaltthematik ist diese Stelle deswegen zentral, weil sie die Anwendung von Gewalt als Funktion des Staates mit dem Hinweis auf Gott legitimiert. Durch die Bestrafung der Bösen wirkt staatliche Gewalt Gewalt eindämmend. Diese Vorstellung muss jedoch im Gesamt des Neuen Testaments eingeschränkt werden: 1. Paulus richtet seinen Blick in den Mahnungen von Röm 13 einzig und allein auf das sozial konforme Verhalten der Christen. Der Abschnitt steht in der thematischen Klammer der Nächstenliebe und verfolgt nicht die Absicht, eine christliche «Staatslehre» zu entfalten. Anweisungen an die Herrscher fehlen daher auch. Auch wird der Fall nicht bedacht, welche Haltung die christliche Gemeinde gegenüber einem Staat einzunehmen hat, der die Bösen belohnt und die Guten bestraft. Dass Paulus dies hier nicht zur Sprache bringt, ist sicherlich nicht politischer Naivität zuzuschreiben, sondern der einseitigen Ausrichtung auf das konkrete Verhalten. 2. Die identitätsstiftende Funktion des römischen Imperiums ist für das frühe Christentum nicht bindend. Die geltenden Hierarchien der politischen Kultur stehen dem Jüngerschaftsethos Jesu deutlich entgegen (Mk 10,42–44 par Mt 20,25–28 par Lk 22,24–27). Ähnlich wie der erste Petrusbrief, der die Existenz der Gemeinde als Erfahrung von Fremdheit deutet, betont auch Paulus, dass die eigentliche Staatsbürgerschaft der Christen und Christinnen im Himmel liegt (Phil 3,20). Daher untersteht die Gemeinde auch nicht der Gerichtsbarkeit der römischen Magistrate (1Kor 6,1–11). In ihren Anfängen
3. Die Pflicht der «Staatsgewalt»
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war christliche Identität autark gegenüber jeder Form von Nationalidentität, sie war sogar gegenüber der übermächtigen Integrationskraft der römischen Staatssymbolik immun. 3. Das frühe Christentum war bereits sehr früh verschiedentlich mit Repräsentanten des römischen Staates in Konflikt geraten. Als Verhaltensideal darf in der Apostelgeschichte das Motto gelten: «Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen!» (5,29; vgl. 4,19) Auch Paulus hat negative Erfahrungen mit dem Staat gemacht42: Er wurde in Philippi eingekerkert (1Thess 2,2), musste vor dem Ethnarchen des Nabatäerkönigs Aretas IV aus Damaskus fliehen (2Kor 11,32f), er wurde mehrmals ausgepeitscht (2Kor 11,25), war in Asien anscheinend sogar einer Verurteilung zum Tode nahe (2Kor 1,9) und wurde (in Ephesus?) im Prätorium gefangen gehalten (Phil 1,20). Der Konflikt mit Rom ist im Christentum nicht zuletzt aufgrund der Kreuzigung Jesu von Beginn an vorprogrammiert. Er wird sich später unter Kaiser Nero (54–68) bis zu einer ersten Christenverfolgung in Rom zuspitzen. Man nimmt es heute mit trauriger Ironie zur Kenntnis, dass Paulus glaubwürdiger Überlieferung nach auf Veranlassung genau jener Staatsorgane ungerecht hingerichtet wurde, deren Gehorsam er Jahre zuvor gefordert hatte43. 4. Die kritischste Haltung gegenüber dem römischen Staat findet sich in der Johannesoffenbarung, v.a. in Kap. 1344. Rom erscheint in dieser Vision als ein «Tier aus dem Meer» mit zehn Hörnern und sieben Köpfen (13,1), welches seine Kraft vom Drachen/Satan bezieht (13,2.5), von den Menschen angebetet wird (13,3f.8.12–15), Gott lästert (13,5f) und die Gemeinde brutal bekämpft (13,7.10.15–17). Diesem System gilt es zu widerstehen. Auch wenn diese Darstellung zeit- und situationsbezogen ist45, haben die Bilder einen zeitlosen Wert, wenn es darum geht, einem totalitären Staat die Maske vom Gesicht zu reissen. Durch den Anspruch auf Anbetung des Kaisers überschreitet der römische Staat eine Grenze, die aus dem ordnenden «Diener Gottes» von Röm 13 ein satanisches Monstrum macht. Darum wird Offb 13 «zu einem Appell an die Christen, sich nicht kritiklos mit jeder staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung abzufinden, sondern da kritisch und warnend ihre Stimme zu erheben, wo Staat und Gesellschaft totalitäre Züge entwickeln und der stets gegenwärtigen Versuchung eines Kults der Macht nachgeben.»46 Insgesamt ist die neutestamentliche Wahrnehmung des Zusammenhangs von Staat und Gewalt auf realistische Art und Weise ambivalent: Im besten Fall nimmt der Staat seine ordnende Funktion zum Wohlergehen des Sozialwesens 42
Heiligenthal, Staat, 10f; Wengst, Pax, 93–97. Vgl. zum Ende des Paulus Schnelle, Paulus, 425–431. 44 Vgl. Giesen, Römische Reich; Roloff, Offenbarung, 145–147; Venetz, Unterwerfung, 152–160. 45 Vgl. zum Hintergrund der Offb u. D.III.1. 46 Roloff, Offenbarung, 147. 43
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D.III. Verarbeitung der Gewalt
wahr. Diesem Staat gebührt Loyalität nach Massgabe des Gewissens. Im schlimmsten Fall jedoch missbraucht der Staat seine Gewalt zur Unterdrückung von Minderheiten, zur ideologischen Gleichschaltung und zur Vergöttlichung der eigenen Machtträger. Diesem Staat gebührt schonungslose Kritik und beharrlicher Widerstand. Literatur
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MM III. V ERARBEITUNG
DER
G EWALT
1. Gewaltphantasien in der Offenbarung des Johannes Aber nach und nach wächst die Bitterkeit an, bis im letzten Buch des Neuen Testaments sein armer, verwirrter Verfasser darlegt, dass die ganze Zeit, die Christus davon gesprochen habe, dass er gekommen sei, um die Welt zu retten, der geheime Plan bestanden habe, die ganze menschliche Rasse mit Ausnahme von läppischen 144.000 zu packen und sie in einen Schwefelsee zu tunken und sich beim endgültigen Verfliegen des Rauchs ihrer Qualen umzudrehen und zu sagen: ‹Nun
1. Gewaltphantasien in der Offenbarung
175
ist kein Fluch mehr da.› Würde ein unmerkliches Grinsen oder eine teuflische Grimasse eine solche Äusserung begleiten? Ich wünschte, ich könnte glauben, der hl. Johannes hätte es nicht geschrieben.47
Von allen Büchern des Neuen Testaments hat wohl keines eine so bewegte Geschichte und eine so ambivalente Rezeption wie das der Offenbarung des Johannes. Seine Aufnahme in den Kanon war von grossen Schwierigkeiten begleitet, und von Luther bis Bultmann hat sich vor allem die protestantische Theologie mit diesem Buch nur schwer anfreunden können48. Klarer als zuvor gerät in der Neuzeit v.a. die Gewaltdarstellung ins Kreuzfeuer der Kritik. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung sah in den Visionen des Johannes eine «wahre Orgie von Hass, Zorn, Rache und blinder Zerstörungswut, die sich an phantastischen Schreckenbildern nicht genugtun kann»49. Ist dieses Buch nichts anderes als eine «hypermaskuline Phantasie»50? Sollte die Offenbarung unter «Horrorliteratur» klassifiziert werden51? Tatsächlich pulsiert in der Offenbarung des Johannes – mal schwächer mal stärker – ein Grundschlag von Gewalt, der selbst nach dem letzten Vorhang auf der Bühne eines erneuerten Kosmos negativ nachhallt. Das lässt sich anhand von drei Themenfeldern veranschaulichen: 1. Gewaltsame Tötung: Die Visionen des Johannes sind blutig52. Das Blut steigt in der symbolischen Erzählwelt des Sehers an einer Stelle bis an die Zügel der Pferde auf einer Fläche von ca. 300 km (1600 Stadien) an (14,20). Das Töten gehört zum Geschäft der Feinde Gottes, in der Zukunft (6,8; 9,15.18; 11,7; 13,15) ebenso wie in der Gegenwart (2,13). Aber auch die göttliche Seite wird mit Töten in Verbindung gebracht: In den Sendschreiben kündigt Christus als Strafgericht an, die «Kinder» der Prophetin Jezebel zu töten (2,23). Am Ende erscheint er als Endzeitkrieger auf einem weissen Pferd mit blutigem Gewand, um die Gegner Gottes so vernichtend zu schlagen, dass sich die Vögel an ihrem Fleisch sättigen (19,11–21). Das Blut der Märtyrer und das Blut der vom Zorn Gottes getroffenen Menschen werden in einer Engelsakklamation zueinander in Beziehung gesetzt: «Gerecht bist du, der ist und der war, der Heilige, denn du hast diese Gerichte [= die bisherigen drei Plagen, MM] verfügt, weil sie Blut von Heiligen und Propheten vergossen haben, und du hast ihnen Blut zu trinken gegeben; sie sind es wert.» (16,5f; vgl. auch 19,2) 47
Peirce, Evolutionäre Liebe, 255f. Vgl. Maier, Johannesoffenbarung, 1–107. 49 Jung, Hiob, 276. 50 Moore, Beatific Vision. 51 Pippin, Death, 105. 52 Vom «Blut» (griechisch haima) ist 19x die Rede; vgl. dazu Pezzoli-Olgiati, Täuschung, 95–97. 48
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D.III. Verarbeitung der Gewalt
2. Qual- und Schmerzzufügung: In der erzählten Visionswelt der Offb werden Menschen Schmerzen und Qualen zugefügt. Ursprung einer solchen ethisch fragwürdigen Gewalthandlung bleibt nicht allein die seltsame «Heuschreckenarmee», die die Menschen fünf Monate lang quält, «wie wenn ein Skorpion einen Menschen sticht» (9,5), sondern Gott selbst wird damit in Verbindung gebracht: «Wer das Tier anbetet, soll «trinken von dem Wein der Wut Gottes, der unvermischt im Kelch seines Zornes eingegossen ist, so dass er mit Feuer und Schwefel gequält wird vor den heiligen Engeln und vor dem Lamm. Und der Rauch ihrer Qual steigt auf in alle Ewigkeit; und sie haben keine Ruhe Tag und Nacht, die das Tier und sein Kultbild anbeten, und wer auch immer das Malzeichen seines Namens annimmt.» (14,10f; vgl. auch 16,9–11)
Auch Babylon soll entsprechend seiner Herrlichkeit «Qual und Trauer» erfahren (18,7; vgl. 18,10.15). Und schliesslich werden der Teufel, das Tier und der falsche Prophet am Ende im Feuersee ewig gequält (20,10). 3. «Schadenfreude»: Die Freude am Leid anderer ist schwer vereinbar mit dem Ethos der Nächstenliebe. Es erscheint daher als ein Zeichen von Bösartigkeit, wenn die Bewohner der Erde beim Anblick der Leichname der beiden Zeugen sich freuen und gegenseitig beschenken (11,10). Später werden jedoch die Menschen aufgerufen, sich über die Zerstörung Babylons zu freuen – in bewusstem Kontrast zur Trauer von Königen, Kaufleuten und Schiffsleuten (18,20)53. Die Vorstellung der vergeltenden Rache Gottes, die Qual der Ungerechten, die extreme Dualisierung zwischen Gut und Böse und die Freude am Unglück anderer stellen die hermeneutische Geduld auf eine harte Zerreissprobe. Wie lässt sich dieser Befund erklären? Zunächst muss die besondere Sprache der Offb berücksicht werden54. Diese bewegt sich am Rande des Sagbaren; der Verweisbereich der einzelnen Wörter ist teilweise unsicher, ja, man könnte sogar von einer Anti-Sprache reden. Dies hängt primär mit den komplizierten Kommunikationsebenen dieses Buches zusammen. Es handelt sich rein formal um eine in Briefform gefasste Nacherzählung von Visionserfahrungen für sieben Gemeinden in Kleinasien (vgl. Kap. 1–3). Referenzpunkt der Sprache wäre demnach die Vision selbst. Doch möchte diese auf weitere Realitäten hinweisen, die häufig nur sehr schwer bestimmbar sind. Als Lesende werden wir zwar zu Mitschauenden und Mithörenden, aber es wäre trügerisch anzunehmen, wir würden das Gleiche 53 Von dieser Freude scheint eine direkte Linie zu Tertullian zu führen. Dieser beendet seine scharfzüngige Abrechnung mit der paganen Sport- und Spielkultur damit, dass er diese perverse Schaulust am Leid anderer durch die Freude an den Leiden der von Gott Gerichteten überbietet (Spectaculis 30,3–7). 54 Vgl. Biguzzi, Figurative; Thompson, Revelation, 37–53.
1. Gewaltphantasien in der Offenbarung
177
sehen wie der Erzähler Johannes. Denn er selbst ringt um Worte, wie an der auffällig häufigen Verwendung der Partikel «wie, als ob» (72x griech. hôs, hôsper) und des Adjektivs «ähnlich, gleich» (24x: homoios) deutlich wird. Die Worte des Sehers geben uns also nur einen ungefähren Einblick in das Geschaute, so dass wir den Wahrnehmungsverlust vom Modus des Sehens zum Modus des Hörens hinnehmen müssen. Viele Bilder erinnern zudem an die Wandlungen und Extravaganzen erzählter Traumwelten oder surrealistischer Bildwerke. Die Sprache der Offenbarung deutet an: Die Realität hat einen doppelten Boden. Nichts ist, wie es zu sein scheint. In einer Welt, in der Löwen zu Lämmern mutieren, mächtige Städte Huren sind und Drachen fliegende Frauen zu ertränken versuchen, unterliegt auch die Sprache einer «Metamorphose». Zuweilen verlieren die Wörter ihre Schwerkraft, ihre Konturen werden fliessend. Im Hinblick auf die Gewaltfrage ergibt sich ein besonderes Problem, das ich zugespitzt formulieren will: Wir «sehen» zwar Gewalt, aber wir können nicht mit Gewissheit sagen, ob das Blut, das da fliesst, «echt» ist. Aus historischer Sicht ist weiterhin festzuhalten, dass die Offb das Produkt einer Krisenerfahrung ist. Über Gestalt und Ausmass dieser Krise bestehen jedoch sehr unterschiedliche Auffassungen. Gewiss ist auf der einen Seite die traditionelle Sicht einer systematischen Christenverfolgung unter Kaiser Domitian (81–96) als Hintergrund der Offb nicht haltbar. Auf der anderen Seite sind Hypothesen, die davon ausgehen, dass sich der Seher nur nach innen wende55, wenig glaubwürdig. Die Visionen des Johannes sind am ehesten Ausdruck eines komplexen Traumas, ausgelöst durch soziale Ausgrenzung, Armut, Instabilität in Kleinasien, die neronische Verfolgung, die Zerstörung des Tempels und einzelne Fälle von Martyrium. Diese Befindlichkeit setzt eine aktuelle umfassende Verfolgung zwar nicht voraus, befürchtet diese aber für die Zukunft56. Es muss also zwischen der objektiven Krise und der subjektiven Wahrnehmung unterschieden werden. Gründe für eine externe Krisenerfahrung gab es genug: Die Regierungszeit Domitians war zwar keine Zeit der allgemeinen Christenverfolgung, wird aber in vielen Quellen als eine Zeit der Angst in Erinnerung behalten57. Dass Domitian zudem in auffälliger Weise den Titel «Herr und Gott» (dominus et deus) für sich reklamierte, darf als gesichert gelten58. Ein besonderes Problem für die christlichen Gemeinden in Kleinasien stellte in diesem Zusammenhang die Praxis des Kaiserkults dar. Viele Städte im Osten (darunter auch Ephesus, Smyrna und Pergamon) erhofften sich durch eine Intensivierung des 55
Vgl. etwa Thompson, Revelation, 175.191f. Vgl. Yarbro Collins, Crisis, 70f. 57 Vgl. bes. Kneppe, Metus temporum, 182–186. 58 Vgl. Clauss, Kaiser, 119–126. 56
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D.III. Verarbeitung der Gewalt
Kaiserkults Begünstigungen durch die römische Zentralmacht59. Die Gefahr für die christlichen Gemeinden ging daher weniger von Rom direkt aus. Die christliche Kultverweigerung, die natürlich nicht nur den Kaiserkult betraf, war in erster Linie kein politischer Affront gegen das römische Machtzentrum. Sie stellte vielmehr eine Gefährdung der Stadtidentität und eine Hinterfragung des darin wirksamen Machtgefüges dar. Dass solche Verweigerungen im Tod enden konnten, zeigt nicht nur der Fall des Antipas in Pergamon (2,13), sondern auch die ca. 20 Jahre nach der Offb in Kleinasien abgefasste Pliniuskorrespondenz (111–113)60: Christen, die angezeigt werden und sich weigern, die Götter anzurufen und dem Kaiserbild Weihrauch darzubringen, droht die Todesstrafe für den Fall, dass sie keine römischen Bürger sind. Ansonsten werden sie nach Rom überführt. Auf Grundlage dieser historischen Rekonstruktion stellt sich die psychologische Frage nach der Funktion der apokalyptischen Gewaltbilder. Diese haben am ehesten eine «sublimierende» oder «kathartische» Funktion auf dem Hintergrund von Unterdrückungs-, Angst- und Aggressionserfahrungen. Ob dabei eher der «Hass» gegen die internen Gegner verarbeitet werden soll61 oder sich «in den Gedanken der Rache Gottes an ihren Feinden» die Aggressionswünsche der Christen und Christinnen hinein sublimieren62, ist nicht eindeutig zu entscheiden. Es dürfte jedoch deutlich sein, dass sich hinter der Offb ein Psychodrama zur Verarbeitung von Hass und Aggression verbirgt63. Die Bilder dieser Gerichtsvisionen sind zu einem grossen Teil dem Alten Testament und der jüdischen Apokalyptik «entliehen». Die Gemeinden greifen daher in ihrer Symbolwelt auf stereotype Formen zurück. Doch obgleich die zentrale Figur Jesu stark mit den Zügen des rächenden Richters und Kriegers gezeichnet wird, ziehen sich viele subversive Elemente durch: Jesus bleibt das geschlachtete Lamm, er trägt das Schwert nicht in der Hand, es ragt vielmehr aus dem Mund. Doch was z.B. in 6,9–11 zum Ausdruck kommt, ist nicht allgemein die Sehnsucht nach reiner Gerechtigkeit, sondern nach einer Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit, die dem menschlichen Wunsch nach Rache entspricht. Die Verarbeitung von Aggression und Vergeltungswünschen ist insofern «erfolgreich», als Gott bzw. Jesus an Stelle der Menschen zum Gerichtsschwert greift. Damit nimmt der Gott der Apokalypse ein ähnliches Gewaltmonopol ein, wie der moderne Staat, insofern dieser durch sein Strafwesen gewissermassen stellvertretend «Rache» übt. Die Christen und Christinnen erscheinen in keiner Vision der Offb als Mitkämpfende. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, gewaltlos 59
Vgl. zum Ganzen Price, Rituals. Text aus Plinius, Ep. X 96f in Guyot / Klein, Christentum, 1:38–43. 61 So Raguse, Jubel, 451. 62 So Luz, Absolutheitsanspruch, 275. 63 In diesem Sinne Yarbro Collins, Crisis. 60
1. Gewaltphantasien in der Offenbarung
179
durchzuhalten (hypomonê: 1,9; 2,2f.10.19; 3,10; 13,10; 14,12), zu bezeugen (martyreô: 1,9; 2,13; 6,9; 11,3.7; 12,11.17; 17,6; 20,4) und zu siegen (nikaô: 2,7.11.17.26; 3,5.12.21; u.a.)64. Die Wirkungsgeschichte der Offb bestätigt diese Grundtendenz. Entgegen einigen Behauptungen, hat dieses Buch keine besonders gewaltvolle Rezeption erfahren65. Wertvoll wurde (und wird) die Offb v.a. dort, wo Menschen aufgrund ihres Glaubens bedroht werden: bei den frühen christlichen Märtyrern, in der täuferischen Märtyrerliteratur, unter den evangelischen Dissidenten in England und in der Neuzeit vorwiegend auch in Kreisen der Befreiungstheologie. In einem solchen Zusammenhang extremer Gewalt schreibt Pablo Richard66: Die Gewalttexte der Offb «wollen in Wirklichkeit weder Gewalt noch Hass säen, sondern die Situation extremer leidvoller Unterdrückung deutlich werden lassen, die auf dem Volk Gottes lastet. Ganz ähnlich sprechen heutzutage die Leute, die unter bitterster Not oder grausamer Verfolgung leiden. Wir können ja wohl kaum erwarten, dass sich die Armen der arroganten, diplomatischen Sprache der Mächtigen befleissigen. Die Sprache der Apokalypse ist eine Sprache unterdrückter und leidender Menschen. Und wenn die Apokalypse so spricht, dann tut sie es einerseits, um in ihren Hörern eine Katharsis zu bewirken, und andererseits, damit diese fühlen, dass sie zueinander gehören, eine Identität haben und – dank der Botschaft der Apokalypse – ihren Hass in Bewusstsein umwandeln können.»
Die Verknüpfung von passivem Widerstand und Durchhaltewillen unter schwierigsten Gewaltbedingungen ist ein Aspekt, der für die Beurteilung der Gewaltproblematik eine wichtige Rolle spielt. Sprachliche, historische, psychologische und wirkungsgeschichtliche Aspekte fördern in diesem Fall das empathische Verstehen der Offenbarung und ihrer verstörenden Bilder. Es bleibt jedoch die hermeneutische Frage, wie wir uns dazu verhalten sollen bzw. wie wir erklären können, warum wir uns in einer bestimmten Weise zur Gewalt in der Offb verhalten. Ein Indikator für unsere Bewertung von Literatur ist die Frage, welche Art Gefühle sie zu wecken in der Lage ist67. Emotionen sind abhängig von ethischen Überzeugungen und bilden daher eine eigene komplementäre Form der Erkenntnis. Sie sind in der Lage, in unterschiedlichen Kontexten relevante Handlungsoptionen zu evaluieren. Insofern der Akt des Lesens Emotionen mit einschliesst, ist jede Lektüre zugleich auch eine ethisch bedeutsame Verhaltensweise. 64 Diese Form des «apokalyptischen Pazifismus», die Gewaltverzicht mit einem gewaltsamen Eingriff durch den himmlischen Richter begründet, ist typisch für Daniel, 4. Esra und die syrische Baruchapokalypse; vgl. dazu Zerbe, Pacificism. 65 Vgl. bes. Rowland, Apocalypse, der auch einige wenige Fälle einer gewaltsamen Anwendung der Offb diskutiert. 66 Richard, Apokalypse, 55. 67 Vgl. zum Konzept der «ethischen Kritik» Nussbaum, Exactly.
180
D.III. Verarbeitung der Gewalt
Wie sieht nun die Lesestrategie und Leserlenkung der Offb aus68? Welche Haltung gegenüber den Gewaltbildern begünstigt sie? Die Überwindersprüche am Ende der einzelnen Sendschreiben in Kap. 2–3 lenken in besonderer Weise die Sehnsucht derer, die «Ohren zu hören» haben, ganz auf den eschatologischen Lohn. Das Gefühl der Erwartung wird durch die ständigen Verweise auf die Unmittelbarkeit des Endes intensiviert (vgl. etwa 1,1.19; 22,6f.10.12.20). So lässt der Wunsch nach Rache in der fünften Siegelvision (6,9–11) frühere Märtyrer zu Wort kommen, die ihre Stimme den Christen auf Erde «leihen» und damit die Leseperspektive orientieren. Als «Opfer» unrechtmässiger Gewalt erwarten sie ungeduldig («bis wann …?») von Gott, dass er das Recht wieder herstellt. Die weiteren Rückbezüge in der Offb auf dieses Klagegebet schlagen einen Bogen bis zum Gericht über die grosse Hure Babylon (16,6f; 18,20; 19,2). Die Tatsache, dass der Wunsch der Opfer nach Rache und das Gericht Gottes zusammenfallen, ist also keineswegs ein nur beiläufiges Detail der Offb. Der Erzähler Johannes kennt nur drei Emotionen: furchtvolle Ergriffenheit (1,17), Trauer (5,4f) und Verwunderung (17,6ff). Gefühlsintensiver erweisen sich die hymnischen Abschnitte69. Sie «deuten» das Geschehen als Durchsetzung göttlichen Heils, spenden damit Trost und rufen zur Freude auf. Die Gefühle sind so stark «nach oben» ausgerichtet, dass eine wichtige Dimension völlig fehlt: unser Mitgefühl für das Leid der Feinde Gottes. Wenn die Menschen die Felsen anrufen: «Fallt auf uns herab!» (6,15–17) und wenn sie voller Schmerz den Tod begehren, der Tod aber vor ihnen «flieht» (9,6), äussern weder der Erzähler noch ein Engel irgendeine Form des Bedauerns. Für sie bleibt keine Träne übrig. Dies ist deswegen innerhalb der Visionserzählung «folgerichtig», weil das Bild der Feinde einseitig negativ gezeichnet wird70. Ein Engel bringt es – nicht ohne Ironie! – auf den Punkt: «Sie sind es wert» (16,6: axioi eisin), d.h. sie haben ihre Bestrafung verdient. Damit macht die Offb ihre Leser und Leserinnen «gefühlsblind» für das Leiden der Gottesfeinde. Mit den verstorbenen Mitbrüdern und -schwestern rufen sie Gott um Rache an. Anders als Stephanus (Apg 6,4; vgl. Jesus in Lk 23,34) bitten sie nicht um Gnade für ihre Peiniger; sie beten nicht für ihre Verfolger (vgl. Mt 5,44). Die Weigerung, sich über die Zerstörung einer Stadt zu freuen, das Mitgefühl für die vom Gericht Gottes Gequälten – das sind Emotionen, die auf Werte von Menschlichkeit schliessen lassen, die sich dem Evangelium verdanken. Freude am Leid anderer sollte auch dann nicht akzeptabel sein, wenn es der Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit dient. Hier werden viele Lesende – und ich zähle mich dazu – die Rollenzuweisung durch den impliziten Leser 68
Vgl. Raguse, Psychoanalyse, 143–154. 1,5b; 4,9–11; 5,9b; 5,11–14; 7,9–12; 11,15–18; 12,10–12; 13,4; 14,1; 15,3; 16,5–7; 18,20; 19,1-8. 70 Vgl. 9,20f; 16,6.9–11.21; 17,6; 18,24; 19,2f.23; 21,8; 22,15. 69
1. Gewaltphantasien in der Offenbarung
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nicht auf sich nehmen wollen. Das rezeptionskritische Bekenntnis Luthers hat daher nichts an Aktualität verloren: «Endlich halt davon jedermann, was ihm sein Geist gibt, mein Geist kann sich in das Buch nicht schicken.»71 Es wäre dennoch m.E. verkehrt, die Offb in Bausch und Bogen zu verwerfen oder ihr die Schuld an Gewalt zu geben. Damit würden wir den Text zum Sündenbock machen, um uns über unsere eigene Komplizenschaft an den vielfältigen Ausdrucksformen physischer, symbolischer und struktureller Gewalt hinwegzutäuschen. Zugegebenermassen ist die Offb zuweilen ein «unbequemer Freund», aber sie macht darauf aufmerksam, dass ein Ethos des Gewaltverzichts nicht alle Dämonen der Gewalt bekämpfen kann. Durch die Hintertür der friedliebendsten Gemeinschaft schleicht sich Gewalt mit Bildern ein, die nicht erst erfunden werden müssen. Der Stoff, aus dem Rache- und Gewaltphantasien bestehen, liegt als kollektives Gut vor und ist jederzeit abrufbar. Eine allzu voreilige Verwerfung der Offb könnte uns vergessen lassen, wie sehr auch unsere Phantasien, Sehnsüchte und Träume mit Gewalt zu tun haben. Literatur
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182
D.III. Verarbeitung der Gewalt
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MM 2. Rache: Erwägungen zu einem alttestamentlichen Thema72 2.1. Anfragen an das Alte Testament An mehr als einem halben Hundert Stellen redet das Alte Testament nach der Luther-Übersetzung von Rache – ohne sie ein einziges Mal von Grund auf zu verwerfen. Rache zu üben erscheint als positive, mindestens als mögliche Verhaltensweise sowohl der Menschen als auch Gottes. Dieser Sachverhalt hat etwas Peinliches. Einen zu schlechten Klang hat das Wort Rache, als dass man gelassen zur Kenntnis nehmen könnte, wie unbekümmert das Alte Testament mit ihm umgeht. Die alttestamentliche Fachwissenschaft ist denn auch dem heiklen Problem bisher recht sorgsam aus dem Weg gegangen; und wo sie es einmal streift, da erklärt sie entweder sogleich, in diesem Punkt sei das Alte Testament überholt, oder sie versichert, Rache meine hier etwas anderes, weniger Niedriges, als man heute darunter verstehe. In solchen Auskünften wie auch in dem verbreiteten Schweigen über unser Thema spiegelt sich das eindeutig negative Urteil, das die zivilisierte Welt der Gegenwart von der Rache hat. Man könnte nun versuchen, sich als Exeget diesem Urteil soweit wie möglich zu entziehen und kühl-distanziert die literarischen und historischen Fakten darzulegen. Mir scheint in diesem Fall ein anderer Ansatz angemessen: Die heutige Anschauung von Rache soll gerade nicht ausgeblendet, sondern bewusst in den Blick genommen werden; dies soll Kriterien liefern für die Klassifizierung und Bewertung des alttestamentlichen Materials, und sie soll umgekehrt, wenn sich das ergibt, vom Alten Testament her kritisch befragt werden. 72 Gekürzte Fassung eines gleich betitelten Aufsatzes, der erstmals 1976 (EvTh 36, 450–472) publiziert und in einem Aufsatzband wieder abgedruckt wurde (W. Dietrich, Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 117–136). Auslassungen gegenüber dem ursprünglichen Text sind durch … gekennzeichnet. Für ausführlichere Begründungen und für Sekundärliteratur sei auf die vollständige Fassung verwiesen.
2. Rache
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Die m.E. gewichtigsten Argumente für die Ächtung der Rache stammen im Wesentlichen aus drei Bereichen: dem juristischen, dem psychologischen bzw. sozialpsychologischen und dem christlich-ethischen. Juristisch ist die Rache eine Form der «privatrechtlichen Deliktsahndung», eine «typische … Privatstrafe». Sie wird vollstreckt und verantwortet allein von dem Geschädigten oder von denen, die sich mit ihm oder für ihn durch den vorangegangenen Angriff unmittelbar betroffen wissen. Das unterscheidet die Rache von der Strafe: Strafe wird zugesprochen und in aller Regel auch vollzogen durch eine über den Parteien stehende Instanz und gemäss Normen, die gesellschaftlich sanktioniert sind. Ein gut organisiertes Gemeinwesen, gar wenn es Rechtsstaatlichkeit für sich beansprucht, wird grössten Wert darauf legen, die private Strafe lückenlos durch die öffentliche zu ersetzen, um ein rechtlich geordnetes Zusammenleben zu gewährleisten und Verhältnisse zu schaffen, die gegen unberechenbare Ausbrüche und Entwicklungen weitgehend gesichert sind. Mit dem Streben nach Rechtssicherheit ist die Rache prinzipiell nicht vereinbar. Psychologisch betrachtet, ist die Rache ein Sektor aus dem weiten Feld der Aggression. In der gegenwärtigen Aggressionsforschung lassen sich zwei unterschiedliche Tendenzen beobachten: eine, die mit einem dem Menschen angeborenen, nur begrenzt modifizierbaren Aggressionstrieb rechnet, und eine andere, die Aggression als sozial erlerntes und darum stark reduzierbares, wenn nicht eliminierbares Verhalten erklärt. Diese zweite Richtung, die sich dem Ziel eines grundlegend friedlichen Zustandes unter den Menschen verpflichtet weiss, beurteilt jede aggressive Handlung, schon gar Racheakte, als individuell wie sozial schädlich. Die andere Richtung sieht in der Disposition des Menschen zum aggredi etwas zunächst weder Gutes noch Böses und sucht dann zwischen positiven, ambivalenten und negativen Arten der Aggression zu differenzieren … Zu der düsteren Spielart von Aggression gehört – darüber bedarf es offenbar gar keiner Diskussion – die Rache. Christlich-ethisch schliesslich sind gegen menschliches Rachedenken und -handeln, schon gar, wenn es sich mit dem Gottesnamen in Verbindung bringt, so zentrale neutestamentliche und dogmatisch-ethische Kategorien ins Feld zu führen wie Gnade, Liebe Gottes, Versöhnung, Nächstenliebe … In der Tat, das Racheproblem ist ein neuralgischer Punkt in der Frage nach der Normativität des Alten Testaments für die Christen und die Kirche. 2.2. Rache im Alten Testament … Wir durchmustern zunächst ein wenig das alttestamentliche Material unter bestimmten Fragestellungen. 1. Wodurch werden Rachegedanken oder -taten ausgelöst? Hier ist an erster Stelle das Töten von Menschen zu nennen, und zwar nicht die fahrlässige Tötung, auch nicht der Totschlag, sondern der Mord. So schreit es
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nach Rache, dass Abimelech seine 70 Brüder aus dem Weg räumte, um allein zu herrschen (Ri 9,56), dass Joab den Abner hinterlistig erstach, als er ihn zur Begrüssung umarmte (2Sam 3,39), dass Isebel durch eine heimtückische Intrige Nabot beseitigen liess, um Ahab in den Besitz eines Weinberges zu bringen (2Kön 9,26) … Aber auch für weniger schwerwiegende Vergehen als Mord wird Vergeltung angekündigt oder geübt. Simson etwa revanchiert sich dafür, dass ihm die Augen ausgestochen worden sind, auf seine Weise: Er bringt einen ganzen Tempel zum Einsturz und reisst eine Menge Philister mit sich in den Tod (Ri 16,28). Wie in diesem Fall eine Körperverletzung, so lassen auch Beleidigungen (1Sam 25,39; 1Kön 2,44) und ungerechtfertigte Nachstellungen (z.B. 2Sam 4,8; Jer 15,15; Ps 54,7) nach Vergeltung rufen. Dies alles gehört in den Bereich der privaten Rache. Davon zu unterscheiden sind die Stellen, an denen die herrschenden Kreise im Lande, die sich auf Kosten des breiten Volkes unrechtmässig bereichern (Jes 1,24; 59,18; Ez 34,10; Ps 58,11; 94,1f) oder auswärtige Mächte, die das eigene Volk unterdrücken und aussaugen (z.B. Ri 11,36; 1Sam 14,24; Jes 63,4; Jer 25,14; 50,29; Ez 25,17; Ps 137,8), das Objekt von Rachewünschen sind. Es hiesse sicherlich das Pferd vom Schwanz aufzäumen, wollte man nun Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und politischer Unabhängigkeit scheinbar gut alttestamentlich als Revanchegelüste von Zu-kurz-Gekommenen auffassen und damit diskreditieren. Vielmehr ist umgekehrt zu konstatieren, dass das Alte Testament von Rache offensichtlich eine weitere, auch positive Gehalte einschliessende Vorstellung hat als wir … 2. Wo wird Rache tatsächlich vollzogen, wo wird von ihr nur geredet? Das alttestamentliche Israel scheint von der Rache viel häufiger gesprochen als sie wirklich ausgeübt zu haben. Von den insgesamt 130 Belegen handeln knapp zehn (Jos 10,13; Ri 7,1; 9,56.57; 11,36; 2Sam 4,8; 16,8) von wirklich geschehenen Vergeltungsakten. Sicher gibt es im Alten Testament weit mehr Vorkommnisse, die sich als Rachehandlungen ansprechen liessen; nur – sie werden nicht ausdrücklich so genannt. Wo aber der Drang nach Genugtuung als Motiv für bestimmte Gedanken oder Taten erkannt und namhaft gemacht ist, da überwiegen bei weitem die Fälle, in denen die Gedanken nicht zur Tat werden. In der Regel wird Vergeltung angedroht, angekündigt, herbeigesehnt, erfleht. 3. Wie ist das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Rache? Nach dem Eindruck, den das Alte Testament vermittelt, war es weniger Israel als vielmehr sein Gott Jhwh, der darauf bestand, dass Böses mit Bösem vergolten werde. Auf einen Beleg, in dem Menschen Subjekt der Rache sind, kommen drei, in denen Gott es ist. Noch am häufigsten wird im Mordfall die Pflicht zur Sühnung Menschen zugeschrieben, doch kann auch hier Jahwe als Rächer angerufen werden. Gott erscheint als der einzige absolut zuverlässige Garant dafür, dass Unrecht nicht ungesühnt bleibt. Es ist nur eine Konsequenz daraus, wenn mehrfach Jhwh als Gott der Rache gefeiert wird, ohne dass
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deutlich würde, an wem und wofür er Rache nehmen sollte (Jes 61,2; Nah 1,2; Ps 8,3; 58,11) … 2.3. Alttestamentliche Rache und Recht Aus rechtlicher Sicht, so stellten wir fest, sind gegen die Rache deswegen stärkste Bedenken geltend zu machen, weil sie als Privatstrafe öffentlich nicht kontrollierbar ist und so die Rechtssicherheit gefährdet. Nun aber ist fraglich, ob die heute übliche und auch sachgemässe Unterscheidung zwischen privater und öffentlicher Strafe auf die alttestamentliche Zeit übertragbar ist … Das alttestamentliche Israel, das nur drei, vier Jahrhunderte staatliche Eigenständigkeit genoss, hat nie über ein umfassendes, von einer starken staatlichen Justiz garantiertes System von Rechtsnormen verfügt. In Israel blieb stets das vom Sippenethos geprägte Rechtsverständnis der vorstaatlichen Zeit in Erinnerung, teilweise auch in Geltung. Das lässt sich gut am Beispiel der Blutrache demonstrieren. Diese Institution hat ihren ursprünglichen Sitz in dem staatlich gar nicht oder erst wenig reglementierten Sippenleben noch nicht fest ansässiger Stämme. Der Clan ist im Falle der Tötung eines seiner Mitglieder verpflichtet, für die Sühnung der Bluttat zu sorgen. Hinter diesem Muss steht nicht nur das Bedürfnis nach Genugtuung, sondern auch der Gedanke der Abschreckung. Mohammed soll gesagt haben: «Wäre die Blutrache nicht, wer wäre in der Wüste sicher?» Freilich ist dieser mögliche Vorzug teuer erkauft: Die Möglichkeit der Kettenreaktion von Racheakt zu Racheakt und die Kollektivhaftung auf beiden Seiten können zu mass- und endlosem Blutvergiessen führen. Kain soll siebenmal, Lamech will siebenundsiebzigmal gerächt werden (Gen 4,15.24). Von dieser urtümlichen Stelle abgesehen findet man das Alte Testament durchweg und noch bis in die Spätzeit hinein (Num 35!) damit befasst, die Blutrache festen Regeln zu unterwerfen. Die Talionsformel des Bundesbuches bestimmt: «Leben gegen Leben» (Ex 21,23) – also nicht viele Leben für eines … Im alten Israel wie anderswo ging die Entwicklung dahin, die Blutrache einzudämmen und ein geregeltes Verfahren der Rechtsgemeinden bzw. der staatlichen Instanzen durchzusetzen. Doch dazu kam es nie völlig; weil der Staat nicht stark genug war, die Ahndung von Morden ganz an sich zu ziehen, blieb es bei der eigentümlichen Mischform einer gesellschaftlich normierten Privatstrafe. Was sich am Sonderfall der Blutrache beobachten lässt, kann verallgemeinert werden: Die öffentliche und die private Deliktsahndung stehen zueinander in einem reziproken Verhältnis; je weniger die staatlichen Organe in der Lage oder auch gewillt sind, für die Durchsetzung des Rechts zu sorgen, desto mehr wird sich das natürliche Rechtsempfinden als Wunsch nach Rache äussern … Unter diesem Aspekt müssen etwa die aus der Exilszeit stammenden Racheschwüre gegen Feindvölker gesehen werden. Selbst unsere zivilisierte Welt hat bisher kein Mittel gefunden, im Bereich der internationalen Politik dem Recht den
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Vorrang vor der Macht zu sichern. Noch viel weniger gab es damals eine Möglichkeit, gegen die Interessen des riesenhaften babylonischen Imperiums oder auch nur gegen die kleineren Nachbarn, die sich an dem zerschlagenen Juda nach Kräften bereicherten, den Anspruch auf rechtmässige Behandlung und auf wirtschaftliche und politische Selbstbestimmung durchzusetzen. Was Wunder, wenn in einem so hoffnungslos geknechteten und ausgebeuteten Volk der Schrei nach Rache aufkommt? Freilich dachte das Israel der Exilszeit nicht daran, sich aus eigener Kraft Genugtuung zu verschaffen; das wäre pure Vermessenheit gewesen. Vereinzelt werden imaginäre Kriegerscharen zum Sturm auf Babylon aufgerufen, in der Regel aber ist es Jhwh, der alles Unrecht und Leid, das sein Volk hat ertragen müssen, sühnen soll. Wie ja auch im profanen Bereich die Rache nicht immer vom Geschädigten selbst, sondern oft von einem ihm Nahestehenden vollzogen wird, so scheint hier Jhwh als Freund oder Verwandter zu fungieren, der für das an eigener Rache verhinderte Israel eintritt. Das klingt selbstverständlicher als es ist: Gerade Israel wusste doch von der Distanz zwischen Mensch und Gott und von Gottes Unverfügbarkeit! Fällt es dann wirklich noch unter unseren Begriff von Rache, wenn Israeliten von der Demütigung ihrer privaten oder politischen Widersacher durch Jhwh reden – oder steht der alttestamentliche Gott nicht, wie ein Richter, über den streitenden Parteien, ist also sein Eingreifen nicht weit mehr Strafe als Rache? … Gewiss ist zu konstatieren, dass heute und in unseren Breiten die Rechtssysteme wesentlich besser durchdacht und abgesichert sind als im antiken Israel, so dass ein ungezügeltes Rachedenken in der Tat Löcher in Dämme zu reissen drohte, die mühsam, teils unter schweren Kämpfen, gegen Unberechenbarkeit und Unkontrollierbarkeit in der Rechtssprechung errichtet worden sind. Gewiss ist auch zu konzedieren, dass Fortschritte in Richtung auf ein stabiles und humanes Rechtswesen umso schwerer sein werden, je fester in einer Gesellschaft das Bedürfnis nach Selbstjustiz verwurzelt ist. Kann es also keinesfalls darum gehen, dem Rachegeist leichtfertig das Wort zu reden, so ist [vom Alten Testament her] dennoch zu fragen, ob nicht eine Justiz, die ihre Unbeeinflussbarkeit durch private oder gesellschaftliche Interessen zum Prinzip erhebt, unempfindlich auch gegen legitime Interessen werden könnte – und zugleich anfällig für illegitime, aber unerkannte oder untergründige … 2.4. Alttestamentliche Rache und Psychologie Im 58. Psalm heisst es: «(4) Die Gottlosen sind verkehrt von Mutterschoss an; die Lügner irren von Mutterleib an. (7) Gott zerbrich ihre Zähne im Maul, zerstosse, Jahwe, das Gebiss der jungen Löwen! (11) Der Gerechte wird sich freuen, wenn er solche Rache sieht, und wird seine Füsse baden in des Gottlosen Blut.» Diese Sätze werden jeden einigermassen sensiblen Menschen
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erschauern lassen; erst recht der Psychologe oder Psychotherapeut, selbst wenn er nicht alle Aggressionen von vornherein als Negativum beurteilt, wird in ihnen einen aggressiven Ausbruch schlimmster Qualität sehen, geprägt von aktiver Feindseligkeit und destruktiver Lust. Freilich, der 58. Psalm kommt nicht darin zum Ziel, dass der Beter in der Vorstellung vom blutigen Triumph über die Gottlosen schwelgt, sondern endet mit dem Satz: «Und die Leute werden sagen: Ja, der Gerechte empfängt seine Frucht, ja, Gott ist noch Richter auf Erden.» Das zweifellos vorhandene destruktive Element ist also nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Wenn das schon von diesem Rachepsalm gilt, dann noch viel mehr von den allermeisten anderen Äusserungen des Alten Testaments über Rache. Denn nicht oft findet sich der Vorgang der Rache so breit ausgemalt wie hier, und selbst in diesem Fall noch kann man fragen, ob es sich nicht eher um drastische Metaphern als um prägnante Vorstellungen vom Wie des göttlichen Eingreifens handelt … Wir haben es hier und in einer Reihe anderer, ähnlich gelagerter Fälle offensichtlich weniger mit Ausflüssen einer ungehemmten Destruktionslust als vielmehr mit dem grundsätzlichen Postulat von Gerechtigkeit in einer Welt voll Ungerechtigkeit zu tun. Dem entspricht es auch, dass der Ruf nach Rache so häufig durch verzweifelte Notsituationen ausgelöst ist. Das ist keine Rache, kalt vollstreckt an dem endlich einmal unterlegenen Widersacher, das ist weit eher Hoffnung auf den Umsturz unerträglicher Verhältnisse. Hier wird die aggressive Haltung durch die Bedrohung der eigenen Identität und Existenz verursacht, nicht durch den Wunsch nach Vernichtung des Gegners. Von ähnlicher Bedeutung für eine sachgerechte psychologische Beurteilung des alttestamentlichen Rachedenkens ist der Umstand, dass die Vergeltung weit häufiger von Gott als von Menschen erwartet wird. Wer seine Aggressionen, statt ihnen freien Lauf zu lassen, einem Anderen, und zwar einem ungleich Mächtigeren und darum nicht zu Lenkenden, überträgt, der ist – ob nun aus freiem Entschluss oder notgedrungen – faktisch viel friedfertiger, als man seinem Reden anhört. Gott um Rache zu bitten, bedeutet in der Regel Verzicht auf eigene Rache. Dies um so mehr, als das Alte Testament ja nur selten von einem tatsächlichen Vergeltungsakt Jahwes zu berichten weiss. Auf der anderen Seite aber stellt sich die Frage, ob nicht das viele Reden von Rache – mag es denn meist aus tiefer Angst geboren und nicht eben häufig in die Tat umgesetzt worden sein –, ein Indiz für ein insgesamt verfehltes ethisches Normensystem des alten Israel ist; ob nicht eine Gesellschaft, die Rachephantasien gewähren lässt, damit zur Entstehung eines Klimas beiträgt, in dem niedere Vergeltungsinstinkte und brutale Formen der Konfliktlösung gedeihen. Man braucht sich, um den Ernst dieser Frage zu ermessen, nur vor Augen zu halten, mit welcher Selbstverständlichkeit im heutigen Nahen Osten nach entsprechender Provokation sog. ‹Vergeltungsschläge› geführt werden, oder, um ein ganz anderes Beispiel zu nehmen, wie schädlich sich nach neueren
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Erkenntnissen die Verherrlichung von Gewalt auf die seelische Entwicklung und das Verhalten vor allem junger Menschen auswirkt. Es wäre zu billig, nun darauf hinzuweisen, dass die freimütige Äusserung von Revanchegelüsten, auch und gerade wenn dann gar keine Taten folgen, etwas Erleichterndes, Lösendes hat; denn dieses subjektive Gefühl – «Rache ist süss!» – ist nach einschlägigen empirischen Untersuchungen keineswegs ein Indikator für eine objektive ‹Katharsis› im Sinne einer anhaltenden Herabminderung der Aggressionbereitschaft. Die private und noch dazu vorübergehende Empfindung eines gewissen Befriedigtseins würde teuer erkauft, wenn der Preis eine schleichende Vergiftung des gesellschaftlichen Zusammenlebens durch eine sich fortzeugende und ausbreitende allgemeine Aggressivität wäre. Ich möchte nicht ausschliessen, dass Israel diesen Preis vielleicht etwas zu schnell zu zahlen bereit war. Freilich dürfte es die darin liegende Gefahr nicht erkannt haben. Heute aber ist die Gefahr bekannt, und es geht nicht an, sie etwa unter Hinweis auf das Alte Testament zu verharmlosen. Dieses Buch, obgleich Teil der Heiligen Schrift, ist nicht frei von den Schwächen derer, die an seiner Entstehung mitgewirkt haben. Darum ist es über Sachkritik, auch wenn sie aus nicht-theologischen Bereichen kommt, nicht erhaben. Das Thema ‹Rache› ist dafür ein Exempel; es eignet sich wenig für apologetische Versuche. Gleichwohl möchte ich dem Freimut, mit dem die alttestamentlichen Zeugen auch ihre düsteren Gefühle artikulieren, die Aufforderung entnehmen, das uns vertraute und gerade auch von der Psychologie propagierte Ideal einer möglichst gründlichen Unterdrückung oder Sublimierung von Rachewünschen auf eventuelle Mängel oder unerwünschte Nebenwirkungen zu überprüfen. Zwar kann ein Ideal nicht nur daran gemessen werden, ob es realisierbar ist oder nicht; denn scheinbar feststehende Realitäten erweisen sich nicht selten als wandelbar, und wo sie es nicht sind, bedarf es erst recht der Utopie zu ihrer Überwindung. Doch sollte man sich dessen, dass eine Forderung in diesem Sinne utopisch ist, bewusst bleiben, damit nicht unter der Hand der Einsatz für ein hohes Ziel umschlage in Gewissensterror gegen alle, die diesem Ziel nicht oder nur unvollkommen gerecht zu werden vermögen. Es ist zu vermuten, dass auf absehbare Zeit aus unserer Welt, auch aus unserer näheren Umwelt, nicht alle Rachegedanken und -handlungen zu verbannen sein werden; denn noch gibt es gesellschaftliche Spannungen genug, noch ist das staatliche Rechtswesen kein absolut zuverlässiger Garant für Gerechtigkeit. Wenn ohne Rücksicht auf diese Rahmenbedingungen das Bedürfnis nach privater Vergeltung pauschal und rigoros als psychische Deformation und als Unfähigkeit zur Konfliktbewältigung disqualifiziert wird, dann droht das entweder zur Abstumpfung gegen ethische Normen zu führen oder dazu, dass aufsteigende Rachegelüste nicht mehr verbalisiert, sondern als schuldhaft empfunden und sofort verdrängt werden. Damit sind sie aber nicht neutralisiert, sondern nur transformiert – sei es zu Selbstanklagen und Schuldkomplexen, sei es, bei
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entsprechender Steuerung von aussen, zu Aggressionswünschen gegen andere, dafür sozusagen freigegebene Objekte wie rassische Minderheiten oder innere und äussere politische Feinde. Natürlich kann die Konsequenz aus dieser Überlegung nicht ein Plädoyer für die Rehabilitierung des Rachegedankens sein. Nur darum geht es, vor einer realitätsfern eifernden Verdammung aller Vergeltungswünsche zu warnen. Denn in diesem kommt immer Protest zur Sprache; Protest aber kann berechtigt sein, darf also nicht von vornherein abgewiesen, sondern muss sorgfältig gehört werden. Ob es dann gelingt, den Rachedrang in ein sinnhaftes, konstruktives Ringen um mehr Gerechtigkeit umzuwandeln, ist eine Frage nicht allein der psychischen Konstitution des betreffenden Menschen, sondern auch der Veränderbarkeit seiner Situation. Wo Menschen ohne Aussicht auf Veränderung untragbare Zustände zu ertragen haben, sollte niemand mit psychologischen Steinen nach ihnen werfen, wenn sie nach Vergeltung rufen. 2.5. Alttestamentliche Rache und christliche Ethik «Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‹Auge um Auge, Zahn um Zahn›. Ich aber sage euch, dass ihr dem Übeltäter keinen Widerstand leisten sollt; sondern wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem biete auch die andere dar» (Mt 5,38f) … Und Paulus schreibt: «Rächt euch nicht … sondern wenn dein Feind hungrig ist, dann speise ihn; wenn er Durst hat, gib ihm zu trinken … Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute» (Röm 12,19–21).
Das Jesus- und das Pauluswort klingen wie Ruf und Echo. Auf der anderen Seite aber zitiert Paulus an dieser Stelle auch das Alte Testament. Vollständig lautet Röm 12,19: «Rächt euch nicht selbst, ihr Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn (Gottes); denn es steht geschrieben: Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr.» Dieser Satz greift explizit auf die Formulierung in Dtn 32,35 zurück, steht aber inhaltlich noch näher neben der Mahnung Spr 20,22: «Sage nicht, ich will das Böse vergelten; hoffe auf Jhwh, er will dir helfen!» Hier wie dort ruht der Imperativ, von der Rache zu lassen, auf dem Indikativ, dass Gott das Unrecht sühnen werde. Nicht nur in diesem speziellen Fall ist der Abstand zwischen Altem und Neuem Testament geringer als zunächst angenommen. Der ungerechte Richter etwa, der nach der Gleichniserzählung von Lk 18 den Prozess einer Witwe verschleppt, findet sich auf ihr beharrliches Drängen hin schliesslich doch bereit, sie zu ‹rächen› (Lk 18,5). In Röm 13,4 und 1Petr 2,14 wird die richterliche Gewalt des Staates mit dem Rachebegriff umschrieben. Waren also auch in neutestamentlicher Zeit – trotz Pax Romana und Ius Romanum – Rechtsfriede und Rechtssicherheit noch nicht so weit gediehen, dass die Rache vom Recht hätte klar geschieden und mit der Zeit überflüssig werden können? Der Verfasser der Johannes-
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Apokalypse hätte diese Frage wohl für Hohn gehalten; er beschwört Gottes Strafgericht über Rom, indem er alttestamentliche Rachewünsche gegen Babylon zitiert (z.B. Offb 19,2). Die tiefste Entsprechung zwischen den beiden Testamenten aber besteht darin, dass sie übereinstimmend die Vergeltung weit überwiegend nicht vom Menschen, sondern von Gott erwarten. Gott die Rache anbefehlen kann nur, wer zuvor selbst Rachegefühle gehegt und sich das auch eingestanden hat. Die Aussagen der Bibel zum Thema Rache ermutigen dazu, Empfindungen des Zorns gegen übermächtiges Unrecht nicht resigniert oder verschämt zu unterdrücken, sondern zu akzeptieren und auch zu verbalisieren. Auf der anderen Seite aber bedeutet die Übereignung der Rache an Gott, wie bereits gesagt, den Verzicht auf eigene Rache. Darüber hinaus verliert die Rache, indem sie Gott überantwortet wird, ihren Charakter als selbstverantwortete Privatstrafe. Gott ist es nun, nicht mehr der verletzte Mensch (freilich auch nicht andere Menschen, etwa irdische Richter!): Gott ist es, der entscheidet, was Recht ist und wann und wie es durchzusetzen ist. Das so völlig subjektive Verfahren der Rache wird objektiviert, blindwütige Selbstjustiz scheidet ebenso aus wie unbillige Verschonung von Übeltätern nur um der Ohnmacht ihrer Opfer und der Unzulänglichkeit der Strafverfolger willen. … Menschliches Reden von Gott droht immer ins Unsachgemässe abzugleiten, und schon gar die Rede vom rächenden Gott steht angesichts des Lehrens und Leidens Jesu unter dem schwer zu widerlegenden Verdacht, Überhöhung fragwürdiger menschlicher Bedürfnisse ins Metaphysische zu sein. Schon im Alten Testament werden Zweifel an der Zuverlässigkeit göttlicher Vergeltung laut, und zwar bezeichnenderweise bei dem leidenden Hiob: «Wie oft erlischt denn die Lampe des Übeltäters, kommt sein Unglück über ihn? ‹Gott spart sein Unglück auf für seine Kinder› (heisst es) – mag er ihm doch selbst vergelten, dass erʼs spüre!» (Hiob 21,17a.19) Und noch einmal einige Verse weiter: «Am Tag des Unglücks wird der Böse geschont, am Tag des Grimms gerettet. Wer sagt ihm ins Gesicht über seinen Wandel Bescheid? Und was er tat – wer zahltʼs ihm heim?» (21,30f) Es ist eine rhetorische Frage: Keiner zahltʼs ihm heim; der Böse hat nichts zu fürchten, nur der Unschuldige muss leiden. Dieser Vorwurf wiegt schwer. Doch dieser biblische Rebell ist inkonsequent; er ringt darum, in eben dem Gott, der sich seinem rationalen Begreifen und seinen emotionalen Vorstössen so beharrlich entzieht, den zu erkennen, der ihn einst rächen und damit das Recht wiederherstellen wird (Hiob 19,25). Hiob hält die fast unerträgliche Spannung zwischen der Erfahrung des Unrecht zulassenden und dem Axiom des Gerechtigkeit verwirklichenden Gottes aus. Dass dieses Axiom nicht einfach die Übersteigerung menschlicher Selbstgerechtigkeit ins Überirdische ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass verschiedentlich die göttliche Vergeltung nicht für fremde, sondern für eigene
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Verfehlungen erwartet, also nicht ersehnt, sondern befürchtet wird … Israel hat seinen Gott als einen erlebt, der über Sünde nicht gutmütig hinwegsieht, sondern vom Sünder Genugtuung fordert. Mir scheint, diese Einsicht ist durch das Neue Testament nicht überholt. Womit könnte der Ernst der Sünde und Gottes Zorn über sie schärfer bezeichnet sein als mit dem Geschehen und dem Wort vom Kreuz? Freilich ereignet sich hier eine gänzlich unerwartete Umkehrung der Werte. Kein Erweis ausgleichender göttlicher Gerechtigkeit, vielmehr ein Akt schreiender Ungerechtigkeit ist Grund für den Glauben, dass Gott das Recht durchsetzt – aber nicht mehr, indem er sich für die Sünde rächt, sondern indem er den Sünder rechtfertigt. Die alttestamentliche Rede von der Rache Gottes könnte dazu beitragen, dass dieses umwälzende Kerygma von der Versöhnung des Menschen mit Gott nicht zur kleinen Münze wird. Vor allem sollte sie dem Missverständnis wehren, als sei das Kreuz das Eingeständnis der Machtlosigkeit Gottes, Symbol seines Verzichts auf die Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit unter den Menschen. Der Christ hat keinen Anlass, gegen das Unrecht unempfindlicher zu sein als der Glaubende des Alten Bundes. Vielleicht aber kann er – post Christum natum, crucifixum et resurrectum – zuversichtlicher und gelassener das Seine dazu tun, dass mehr und mehr Gerechtigkeit den Schrei nach Rache verstummen lässt. WD IV. V ERZICHT
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G EWALT
1. Gewaltverzicht beim Gott Israels Dieses Buch handelt nicht von göttlicher Gewalt, wie sie in der Bibel immer wieder beschrieben wird, sondern «nur» von menschlicher. Jetzt aber, wo von Gewaltverzicht die Rede sein soll, kann vom Gewaltverzicht des biblischen Gottes nicht geschwiegen werden; denn er scheint gewissermassen die geistige Grundlage oder doch zumindest eine Motivation für die Menschen der Bibel zu sein, auch ihrerseits auf Gewalt zu verzichten. Gewaltverzicht ist eine aus doppeltem Grund schwere Tugend: einerseits, weil man ja selber in der Lage wäre und sich wohl auch dazu berechtigt fühlte, Gewalt anzuwenden und daraus Selbstbestätigung und Befriedigung zu gewinnen; andererseits, weil der Andere, den man verschont, es verdient hätte, in die Schranken gewiesen zu werden, ja vielleicht durch die erfahrene Zurückhaltung dazu befähigt und ermutigt wird, weiterhin Unheil anzurichten. Auf Gewalt verzichten kann mit Bewusstsein nur, wer bereit ist, Gewalt zu erleiden. Die grossen Wortführer des Gewaltverzichts bzw. des gewaltfreien
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D.IV. Verzicht auf Gewalt
Widerstands im 20. Jahrhundert, Mahatma Gandhi und Martin Luther King, konnten ihren Gefolgsleuten nicht versprechen, die Gegenseite werde auf Gewaltverzicht mit Gewaltverzicht reagieren – und sie tat es auch nicht! Gleichwohl behielt, in diesen beiden Fällen, die Gewaltlosigkeit am Ende die Oberhand. Die im Folgenden aufzuführenden biblischen Beispiele belegen ein Gleiches: Gewaltverzicht zieht womöglich vermehrte Gewalt nach sich – und birgt doch ein grosses Potenzial zur Gewaltüberwindung. Die biblische Urgeschichte bietet mehrere Beispiele für den Gewaltverzicht Gottes. Gott sagt dem ersten Menschen im Paradies: «Von allen Bäumen im Garten darfst du essen; nur von dem Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, von dem darfst du nicht essen; denn sobald zu davon isst, musst du sterben» (Gen 2,16f). Der Mensch und die ihm mittlerweile zugesellte Frau essen von dem Baum – und müssen nicht sterben. Kain, der Brudermörder, müsste nach damaligem Rechtsempfinden selbstverständlich sterben, fürchtet sich auch davor, erschlagen zu werden (Gen 4,14), doch Gott versieht ihn mit einem Schutzzeichen, damit ihn keiner anrühre (Gen 4,15). Gott missfällt der Turmbau zu Babel, doch statt gegen die Turmbauer Gewalt anzuwenden, verwirrt er «nur» ihre Sprache – und erreicht damit die Einstellung des Turmbaus (Gen 11,1–11). Der umfassendste Gewaltverzicht ist indes der Beschluss, den Gott nach der Sintflut fasst: «Ich will hinfort nicht mehr schlagen, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht» (Gen 8,21f). Die Existenz der Schöpfung ist nichts anderes als das Resultat eines Gewaltverzichts Gottes. Der Beschluss ist just durch das begründet, was seinerzeit Gott zum Senden der Sintflut veranlasst hat: dass «das Trachten des menschlichen Herzens böse ist von Jugend auf» (Gen 6,5; 8,21). Gott könnte, ja er müsste auf die Bosheit der Menschen, die die ganze Erde verdirbt, mit Gewalt reagieren; er hat dies auch schon einmal getan – doch er will es nie wieder tun. Zum Zeichen dessen setzt er den Regenbogen in die Wolken (Gen 9,12–16). In diesem Naturphänomen sahen die Alten das Gegenbild einer gefürchteten Kriegswaffe, doch diente es jetzt als Symbol dafür, dass Gott die Waffen niedergelegt hatte, mit denen er die Schöpfung hätte bekämpfen können. Mit seinem Gewaltverzicht nimmt Gott in Kauf, dass sich die Bosheit der Menschen auf Erden wieder ausbreiten kann – wie schon vor der Sintflut. Damit nimmt er auch eigenes Leiden in Kauf. Denn hatte ihn der Zustand der Erde vor der Sintflut so sehr «bekümmert» (Gen 6,6), dass er sich zu seiner Gewalttat hinreissen liess, so kann ihn der nach der Sintflut unverändert traurige Zustand der Erde nicht weniger bekümmert haben. Gott, der das Böse aus der Schöpfung nicht ausrotten kann (und will), leidet am Leiden seiner Schöpfung unter dem Bösen mit. Die gleiche Botschaft vermittelt in anderer Weise das Hiobbuch. Hiob hält Gott das unermessliche Leid vor, unter dem nicht nur er selbst, sondern ungezählte Menschen zu leiden haben (Hiob 3; 9; 24). Und was antwortet
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ihm Gott? Er stellt ihm die Welt der wilden Tiere vor Augen, darunter gar das Flusspferd und das Krokodil, Behemot und Leviatan: Symboltiere für das Chaotische auf Erden. Gott lässt all diese Lebewesen gewähren, ja, er hat (ganz im Unterschied zum Menschen!) Freude an ihrer Wildheit und Unbezähmbarkeit. Andererseits jedoch sorgt er dafür, dass sie seine (und der Menschen) Welt nicht zerstören, anders: dass das Chaotische, Schlimme, Gewalttätige nicht überhand nehmen kann. Gottes Gewaltverzicht gibt der Gewalt ein Stück weit freie Bahn, und doch lässt er ihm nicht völlig freie Hand. Er (bzw. der Hiobdichter) wirbt um Verständnis dafür und Einverständnis damit, dass freies, verantwortliches Leben nur unter diesen Bedingungen möglich ist – und dass es am Menschen ist, sich in seinen begrenzten Möglichkeiten an der lebensfreundlichen Gestaltung der Welt zu beteiligen. Die Gewalt des Bösen nicht mit Gewalt beantworten, sie aber auch nicht einfach gewähren lassen, sondern ihr gewaltfrei entgegentreten: diese Haltung prägt das Verhältnis des biblischen Gottes nicht nur zur Schöpfung und zur Menschheit insgesamt, sondern auch zu «seinem», dem erwählten Volk. Israel hatte im Lauf seiner Geschichte genügend traurige Anlässe, das Handeln seines Gottes als feindselig und gewalttätig zu empfinden. Umso erstaunter haben sensible Geister wahrgenommen, wenn hin und wieder unheilvolle Entwicklungen nicht den schlimmstmöglichen Ausgang genommen haben, sondern Gott anscheinend an sich hielt mit seinem Schlagen und Strafen – also auf Gewalt verzichtete. Eine Klage über die Verwüstung Judas und das knappe Davonkommen Jerusalems in Jes 1,5–8 schliesst mit dem Satz: «Hätte nicht Jhwh Zebaot von uns einen Rest gelassen, fast wären wir wie Sodom geworden und gleich wie Gomorra» (Jes 1,9). Im letzten Moment hat Jhwh innegehalten, auf die Gewaltanwendung bis zum bitteren Ende verzichtet. Ein ähnliches Bild zeichnet eine legendenhafte Erzählung über eine Pestkatastrophe zur Zeit Davids. Angeblich war diese dadurch ausgelöst, dass David sein Volk hatte zählen lassen. Der Würgeengel, der schon im ganzen Land gewütet hatte, hielt seinen Arm über Jerusalem erhoben – als es David eben noch gelang, durch ein Schuldbekenntnis und durch geeignete Sühneriten Gott vom letzten, tödlichen Schlag abzuhalten (2Sam 24). Das 11. Kapitel des Hoseabuches schildert ein im Innern Gottes stattfindendes Ringen um die Frage, ob er Israel, wie es das verdient hätte, vernichten soll – oder ob er sich seiner nicht doch erbarmen will. Gott entscheidet sich für das Zweite, nachdem er sich klargemacht hat, dass Israel zur Umkehr nicht (nur) unwillig, sondern zutiefst unfähig ist. Es zu strafen, führte zu nichts Positivem, also verzichtet Gott darauf und kehrt lieber selber um! Eine schwere Lektion war es für Israel zu lernen, dass die Selbstbeherrschung Gottes und sein Wille zum Gewaltverzicht nicht nur ihm, dem erwählten Volk, gilt, sondern allen Völkern und Menschen – und seien sie dem Gottesvolk noch so feindlich gesinnt. Das grosse biblische Anschauungsbeispiel dafür ist
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das Buch Jona. Wir sind auf dieses Kleinod alttestamentlicher Narratologie und Theologie schon im Zusammenhang der «Entfeindung des Fremden» zu sprechen gekommen (s. oben D.I.2.): Die Nicht-Juden geben in der Erzählung eine bessere Figur ab als der jüdische Prophet Jona. Diese für jüdische Ohren sicher schwer erträgliche Botschaft wird schier unerträglich, wenn man sich klarmacht, um welche Nicht-Juden es da geht: um die Bewohner Ninives, der Hauptstadt Assyriens, der grausamsten Feindmacht, mit der es Israel und Juda zu tun bekommen haben. In dieser überaus stolzen und prächtigen Residenzstadt sammelten sich die Reichtümer der Welt – und war in den Augen der unterworfenen Völker das Böse in der Welt versammelt! Einen Reflex davon vermittelt das (im Kanon bald auf das Jonabuch folgende) Nahumbuch, in dem sich die Wut über die «Hure» Ninive und die von ihr ausgehende Gemeinheit und Gewalt unverblümt Ausdruck verschafft. Dieses Ninive also will Gott, kaum dass es auf die Predigt des Jona hin Busse getan hat, nicht mehr zerstören. Jonas Enttäuschung und Zorn über den allzu leicht auf Gewalt verzichtenden Gott ist wohl begreiflich. Aus der Sicht von NichtJuden allerdings öffnet sich hier ein Tor der Hoffnung auf die Grosszügigkeit und Güte des biblischen Gottes gegen alle Menschen und Völker der Welt. 2. Gewaltverzicht im Alten Israel So wie Gott bereit war, auf Gewalt zu verzichten, so sollte auch sein Volk lernen, dazu bereit zu sein. So jedenfalls die Auffassung einiger alttestamentlicher Autoren. Wir beschränken uns auf wenige Beispiele. Mose, der wunderbar aus der grausamen Verfolgung durch den ägyptischen Pharao Errettete, wächst just am Pharaonenhof – gewissermassen im Auge des Hurrikan – unter dem Schutz einer Tochter Pharaos auf. Gleichwohl vermag er seine Solidarität mit den versklavten Israeliten nicht zu unterdrücken. Eines Tages beobachtet er, wie ein Ägypter einen Hebräer brutal schlägt. Rasch vergewissert er sich, dass keine Zeugen in der Nähe sind und tötet den Peiniger seines «Bruders» (Ex 2,11f): der klassische Versuch, Gewalt mit Gewalt zu unterbinden. Die Bibel diskutiert nicht, ob die Tat unverhältnismässig und unzulässig oder ob sie verständlich und gar berechtigt war; wir erfahren nur, dass ihr kein Erfolg beschieden war. Die Sache wurde ruchbar, und Mose musste ausser Landes fliehen. In der Einöde des Sinai, beim Nomadenstamm der Midianiter, wurde der gewiss verwöhnte Mann Kleinviehhirt, abgeschnitten vom Leben der zivilisierten Welt. Gerade dort aber begegnete ihm Gott und machte ihn zu seinem Werkzeug bei der Befreiung Israels aus Ägypten (Ex 3f). Ein ums andere Mal tritt Mose vor den Pharao und sagt immer das Gleiche: «Lass mein Volk gehen!» Er erhebt seine Hand nicht gegen den Tyrannen, aus dem Gewalttäter ist ein Mann gewaltfreien Widerstands geworden.
2. Gewaltverzicht im Alten Israel
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David, den die Bibel als den gewaltigsten König Israels schildert, beschreibt sie zugleich als einen gegenüber der Gewaltanwendung besonders skrupulösen Mann. Nicht von Anfang an erscheint er so. Als Goliat-Besieger tritt er auf den Plan (1Sam 17). Die Frauen stimmen, wenn er siegreich von seinen Feldzügen heimkehrt, das Lied an: «Saul hat seine Tausend erschlagen, David seine Zehntausend» (1Sam 18,7). Mühelos zählt er Saul als Brautpreis für dessen Tochter zweihundert anstelle der geforderten hundert Philister-Vorhäute hin. Kurzum: Der junge David wendet Gewalt besonders erfolgreich an. Doch von früh an mischen sich in das Bild des Kriegers und Siegers ganz andersartige Töne: David musiziert vor Saul; er weicht dem von diesem geschleuderten Spiess lediglich aus (und schleudert ihn nicht etwa zurück, 1Sam 18,11; 19,10); seinen Nachstellungen entzieht er sich durch Flucht, und als ihm sein Verfolger zweimal wehrlos in die Hände fällt, schont er beide Male dessen Leben (1Sam 24; 26). Ein Leitmotiv in diesen Erzählungen ist das unscheinbare Wort «Hand». Die Hand ist in der biblischen Anthropologie Inbegriff von Kraft, auch von Gewalt. Zwischen David, Saul und Gott entfaltet sich ein spannendes Spiel, wer was oder wen in der Hand hat oder in die Hand bekommt oder nicht, und wer gegen wen die Hand erhebt oder nicht. Schon die Ausgangslage zwischen den beiden Kontrahenten ist bezeichnend: David hat kein Schwert in der Hand (1Sam 17,50), sondern eine Leier (16,16; 18,10; 19,9), Saul dagegen einen Spiess (18,10; 19,9; 22,6). Als Saul den ihm unheimlich werdenden David aus dem Weg geräumt haben möchte, will er dazu nicht persönlich Hand anlegen, sondern dies den Philistern überlassen (18,17.21.25). Später, als der geflüchtete David sich in einer Ortschaft niedergelassen hat, hofft er, damit habe Gott ihm David in die Hand gegeben (23,7); doch Gott verrät David, dass die Leute des Ortes – nicht etwa er! – ihn in die Hand Sauls geben würden (23,12), worauf er die Flucht ergreift. Der Kronprinz Jonatan beruhigt David, Sauls Hand werde ihn nie erreichen (23,17). Zwar gibt es in Juda Leute, die David in Sauls Hand liefern wollen (23,20), doch Gott lässt nicht zu, dass David in Sauls Hand fällt (24,14). Urplötzlich wendet sich das Blatt: Saul fällt David in die Hände. Die Begleiter flüstern ihm ein, Gott habe ihm Saul in die Hand (und damit zum Töten frei) gegeben (24,5; 26,8), doch David weigert sich, seine Hand gegen den «Gesalbten» auszustrecken (24,7.13.14; 26,9.11.23 – eine auffällige Häufung von Belegen). Dabei ist ihm (24,11; 26,23) und sogar Saul (24,19) durchaus klar, dass es Gott war, der ihm Saul in die Hand gegeben hatte. Es waren dies aber nur Gelegenheiten, um zu zeigen, dass in Davids Hand «nichts Böses» war (24,12; 26,18). Schliesslich hatte er von Abigajil gelernt, dass es nicht gut war, sich «mit eigener Hand zu helfen», d.h. Gewalt zu üben (25,26.33). Hiermit soll nicht gesagt sein, so sei es gewesen: dass Saul Gewalt übte und David Gewaltverzicht. Aber die biblischen Erzähler wollen David so sehen
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– und das ist bedeutsam. In manchen Kulturen sind die grossen Gründerfiguren machtvolle Gewalttäter. Der israelitische Gründerkönig und die biblische Leitfigur David hingegen wird als ein auf Gewalt Verzichtender gezeichnet. Spätestens in den Psalmen steht er als einer vor Augen, der weniger siegt als vielmehr klagt: nicht zuletzt über Gewalttäter, die ihm, dem Beter, zusetzen. Und ja auch die Psalmen, sogar die Rachepsalmen, reden nicht davon, dass man den Gewalttätern mit Gewalt entgegentreten solle, sondern übertragen diese Sorge Gott, womit sie indirekt für Gewaltverzicht eintreten (s. das vorangehende Kapitel über «Rache»). So ist David nicht von ungefähr zum grossen Psalmbeter avanciert. Ein letztes wichtiges Feld, auf dem im Alten Testament um Gewalt oder Gewaltverzicht gerungen wird, ist das der Aussen- und Militärpolitik. Offenbar gab es schon im alten Israel «Falken» und «Tauben». Eine «Tauben»Geschichte findet sich in 2Kön 6,8–23: Einem Aramäerkönig, dessen Truppen offenbar ungehindert auf dem Territorium des Königreichs Israel agieren können, gelingt es nicht, den israelitischen König endgültig zu stellen und zu fassen. Er erfährt, dass daran der Prophet Elischa schuld ist, der mit seinen übernatürlichen Fähigkeiten alle Schachzüge der Aramäer voraussieht und seinem König meldet. Daraufhin wird eine aramäische Heeresabteilung mit «Rossen und Wagen» nach Dotan in Marsch gesetzt: einem Landstädtchen, in dem sich Elischa aufhält. Doch dem Propheten gelingt es mit Gottes Hilfe, die Feinde derart zu täuschen, dass sie sich am Ende mitten in der Königsstadt Samaria wieder finden – in militärisch aussichtsloser Lage. Der israelitische König fragt den Propheten, ob er die in die Falle Gelaufenen allesamt totschlagen lassen solle. Doch Elischa gibt den Rat, ihnen zu essen und zu trinken zu geben und sie nach Hause zu schicken. Der König hört auf ihn – «und fortan kamen die Streifscharen der Aramäer nicht mehr ins Land». Die Geschichte ist noch unwahrscheinlicher als die vielen Nachrichten über Davids Gewaltlosigkeit. Doch gerade in der Unwahrscheinlichkeit verrät sich die Grundsätzlichkeit: Frieden erreicht man am ehesten nicht durch Gewalt, sondern durch Gewaltverzicht. Zudem veranschaulicht die Erzählung von Elischa und den gefangenen Aramäern sehr schön einen Glaubens-Grundsatz, der das ganze Alte Testament durchzieht: Wohl und Wehe Israels hängen letztlich nicht von Truppenstärken und militärischen Strategien ab, sondern vom Wollen und Wirken Jhwhs (bzw. hier seines Propheten). Diese Überzeugung war keineswegs unvereinbar auch mit «Falken»-Positionen. So konnte ein zum Krieg rüstender König wie folgt ermutigt werden: «Diese [vertrauen] auf Wagen, jene auf Rosse, wir aber gedenken des Namens des Herrn, unseres Gottes. Sie müssen stürzen und fallen, wir aber stehen da und halten stand!» (Ps 20,8f)
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Die Feinde also sind so naiv zu glauben, dass an militärischer Macht alles gelegen ist – wir aber wissen es besser! In Israel glaubte man, dass Jhwh auch ferne und mächtige Völker in die Schranken zu weisen vermochte: «So spricht der Herr Zebaot: Siehe, ich will den Bogen Elams zerbrechen.» (Jer 49,35)
Oder umfassender: Gott «zerbricht Pfeil ‹und› Bogen, Schild und Schwert und Streitmacht … Von deinem Schelten, Gott Jakobs, sinken dahin … Wagen und Ross.» (Ps 76,4.7)
Wer gegen Jhwh mit Ross und Wagen ankommen will, ist chancenlos! Von der gleichen Überzeugung gehen nun aber auch «Tauben» aus. Sie beobachten, dass Israel selbst auf Ross und Wagen setzt – und sind überzeugt, dass es dabei Jhwh gegen sich hat. Dann aber kann die Konsequenz nur sein, auf militärische Gewalt zu verzichten! Einer, der diese Position vertritt, ist Jesaja in den Krisenjahren vor 701 v. Chr., als sich Juda von Assyrien losgesagt hat und sich nun der Rückendeckung Ägyptens (und anderer Bündnispartner) in einem allfälligen Krieg zu versichern suchte: «Weh denen, die hinabziehen nach Ägypten um Hilfe, die sich auf Rosse stützen; auf Wagen vertrauen sie, weil es viele sind, und auf Pferde, weil sie sehr stark sind … Jhwh aber wird seine Hand ausstrecken – Und straucheln wird der, der hilft, und fallen der, der sich helfen lässt!» (Jes 31,1.3b)
Und noch einmal, im gleichen sachlichen Zusammenhang: «Weh den widerspenstigen Söhnen, ist der Spruch Jhwhs: einen Plan zu machen – und nicht von mir, ein Bündnis zu schliessen – und nicht mit meinem Geist … Die Zuflucht beim Pharao wird euch zur Beschämung und die Bergung im Schatten Ägyptens zur Schmach!» (Jes 30,1.3)
Wieder begegnen wir den Begriffen Ross und Wagen, Hilfe, helfen, vertrauen, beschämen, fallen. Wieder ist klar, dass man mit keiner militärischen Gewalt Jhwh die Stirn bieten kann – nur dass sich dies jetzt gegen die eigene Gewaltbereitschaft wendet. Was aber sollte man in dieser Lage anderes tun als sich auf Gewalt einstellen? Die prophetische Empfehlung ist verblüffend: «So hat der Herr, der Heilige Israels, gesprochen: Durch Stillsitzen und Ruhe würde euch geholfen, in Stillesein und Vertrauen läge eure Kraft.» (Jes 30,15)
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An die Stelle der bei Kriegsherren aller Zeiten und Religionen so beliebten Maxime «Auf Gott vertrauen und kämpfen!» ist die Parole getreten: «Auf Gott vertrauen statt kämpfen!» Natürlich hat man Jesaja entgegengehalten, dass man mit Gottvertrauen einen Feind wie die Assyrer nicht abwehren kann. Also schickte man Delegationen nach Ägypten und rüstete selber auf. So bleibt dem Propheten nur zu konstatieren: «Aber ihr habt nicht gewollt, sondern gesagt: Nein, auf Rossen wollen wir fliegen, auf Rennern wollen wir reiten!» (Jes 30,16)
Auf Gott vertrauen, das hätte das Reiten auf Rossen, hätte Kriegsrüstung und Kriegsvorbereitung ausgeschlossen. Gottvertrauen hätte Gewaltverzicht ermöglicht. Ob dadurch die Assyrer ferngehalten worden wären, mag man bezweifeln; die Kriegsgewalt aber, die dann im Jahr 701 Juda zerstörte und Jerusalem erschütterte, wäre ferngehalten worden. Als gut hundert Jahre später Juda sich mit dem Mut der Verzweiflung (und vielleicht auch im Wahn der Unbesiegbarkeit des Zion) mehrfach mit der Grossmacht Babylon anlegte, wurden wieder prophetische Stimmen laut, die vor dem Kriegsabenteuer warnten. Die Babylonier hatten bei einem Straffeldzug im Jahr 598/7 Juda besetzt, Jerusalem belagert, schliesslich die gesamte Führungsschicht samt schwerem Tribut nach Babylon weggeschleppt und Zidkija zum König über einen kleinen Rumpfstaat rund um Jerusalem gemacht. Nach wenigen Jahren schon, 594 v. Chr., weilten Delegationen aus mehreren Ländern, darunter wieder einmal Ägypten, in Jerusalem – offenbar, um über ein antibabylonisches Bündnis zu verhandeln. Über die damaligen Ereignisse unterrichtet uns eine kleine Erzählsammlung im Jeremiabuch (Jer 27–29). Dort wird berichtet, der Prophet Jeremia sei anlässlich jener Verhandlungen mit einem schweren Ochsenjoch auf dem Nacken durch die Stadt gelaufen, um so zu demonstrieren, dass Juda nichts anderes tun könne, als das ihm von Jhwh auferlegte babylonische Joch zu ertragen (Jer 27). Pazifismus? Defätismus? Eher wohl Realismus. Zwar trat der «Taube» Jeremia der «Falke» Hananja, ein heisssporniger Heilsprophet, durchaus wirkungsvoll entgegen, doch scheinen die Bündnisverhandlungen abgebrochen und einige hohe Abgesandte mit einer Unterwerfungsadresse nach Babylon geschickt worden zu sein. Dort sass indes seit 597 eine jüdische Exulantenschaft, die mehrheitlich offenbar sehnsüchtig auf ihre Befreiung wartete und eben deshalb für den Aufstand Judas (und seiner Verbündeten) gegen Babylon plädierte. Dass dies Krieg bedeutete und der Krieg unendliches Leid mit sich bringen würde, war ihnen offenbar unwichtig. Als Jeremia in einem der Gesandtschaft mitgegebenen Brief diese «Falken» zu Ruhe und Vernunft und zum SichEinrichten in der Fremde mahnte, handelte er sich damit wütende Reaktionen und um ein Haar physische Repressionen ein.
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Es gab indes unter den Exulanten in Babylonien auch «Tauben». Einer von ihnen war der Prophet Ezechiel. Als sich Zidkija unter dem Einfluss von «Falken» und im Vertrauen auf Ägypten im Jahr 588 v. Chr. endgültig zum Abfall von Babylon entschloss (und damit die Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. heraufbeschwor), kritisierte dies Ezechiel im Exil als schändlichen Treubruch; denn schliesslich habe Zidkija seinen Vasalleneid vor Jhwh beschworen (Ez 17, bes. V. 19). Dieses Urteil ist bemerkenswert, da natürlich die «Falken» diesen Eid nicht als bindenden Rechtsakt, sondern als aufgezwungen und deshalb nichtig betrachtet haben werden. Ezechiel aber besteht auf der Einhaltung geschlossener Verträge, selbst wenn deren Inhalt einer Vertragspartei nicht passt. Doch nicht die juristische Frage steht im Vordergrund: Aus dem Vertragsbruch wird Krieg entstehen, und Jhwh wird dafür sorgen, dass Juda mit seinen Verbündeten den Krieg verliert. Doch die Stimmen der «Tauben» verhallten, sowohl im Exil wie zu Hause in Juda. Es gab Krieg, Juda verlor den Krieg und erlebte die schlimmste Katastrophe seiner biblischen Geschichte. Was hätte Gewaltverzicht, wie ihn die «Tauben» forderten, erbracht? Wohl nicht den freiwilligen Abzug der Babylonier, aus lauter Gutherzigkeit, sondern eine längerfristige Unterwerfung unter deren Oberhoheit. Das wäre wenig erfreulich, aber weniger tödlich gewesen als die Lösung, zu der die «Falken» schliesslich drängten. Diese Lektion hat das exilische und nachexilische Israel bzw. Judentum durchaus begriffen. Nicht, dass die Juden fortan ein durch und durch friedfertiges und aller Gewaltanwendung abgeneigtes Volk gewesen und geblieben wären. Doch lässt sich gerade späten Texten des Alten Testaments eine dezidierte Skepsis gegen militärische Machtentfaltung und eine sehr weitgehende Bereitschaft zum Verzicht auf Gewalt entnehmen. Im Königsgesetz, das deuteronomistische Theologen der Exils- und Nachexilszeit formuliert haben, wird gefordert, der König dürfe auf keinen Fall viele «Rosse» halten und sein Volk nie mehr nach «Ägypten» zurückführen (Dtn 17,16: beides Reizwörter aus der Debatte zwischen «Falken» und «Tauben» in der späteren Königszeit). Und der Prophet Sacharja schreibt nach dem Ende des Exils einem möglichen Thronprätendenten, dem Davididen Serubabel, ins Stammbuch: «Nicht durch Heeresmacht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist! spricht Jhwh Zebaot.» (Sach 4,6)
In nachexilischen Psalmen finden sich sehr grundlegende Bekenntnisse zu Gott und zum Verzicht auf militärische Macht: «Gott hat keinen Gefallen an der Stärke des Rosses und keine Freude an den starken Schenkeln des Kriegers; der Herr freut sich an denen, die ihn fürchten und auf seine Güte hoffen.» (Ps 147,10f, vgl. Ps 33,16–18)
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Das Alte Testament predigt nicht auf jeder Seite Gewaltverzicht. Aber immer wieder und in verschiedensten Zusammenhängen – im individuellen wie im politischen und im militärischen Bereich – leuchtet in ihm diese Möglichkeit zur Überwindung von Gewalt auf. Literatur
R. BACH, «… der Bogen zerbricht, Spiesse zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt», in: H.W. Wolff (Hrsg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 13–26. – H.-J. DALLMEYER / W. DIETRICH, David – ein Königsweg. Psychoanalytischtheologischer Dialog über einen biblischen Entwicklungsroman, Göttingen 2002. – W. DIETRICH, Jesaja und die Politik, Gütersloh 1976 (BEvTh 74). – W. DIETRICH, Ungesicherter Friede? Das Ringen um ein neues Sicherheitsdenken im Alten Testament [1987], in: Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 98–116. – W. DIETRICH, Ninive in der Bibel, in: O. Loretz u.a. (Hrsg.), Ex Mesopotamia et Syria Lux, FS M. Dietrich, Münster 2002 (AOAT 281), 115–131 = Ders., Theopolitik. Studien zur Theologie und Ethik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2002, 239–254. – W. DIETRICH / C. LINK, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. 1: Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 42002. – H. GROSS, Die Idee des ewigen und allgemeinen Weltfriedens im Alten Orient und im Alten Testament, 21967 (TThSt 7). – F. JAMES, Is there Pacifism in the Old Testament?, in: AThR 11 (1928/29), 224–232. – J. JEREMIAS, Zur Eschatologie des Hoseabuches [1980], in: Ders., Hosea und Amos 1996 (FAT 13), 67–85. – J. JEREMIAS, Die Reue Gottes. Aspekte alttestamentlicher Gottesvorstellung, Neukirchen-Vluyn 21997 (BThSt 31). – O. KEEL, Jahwes Entgegnung an Ijob, Göttingen 1978 (FRLANT 121). – A. LACOQUE, Job and Religion at Its Best, in: BibIn 4 (1996), 131–153. – B. LANG, Kein Aufstand in Jerusalem. Die Politik des Propheten Ezechiel, Stuttgart 21981 (SBB). – U. RÜTERSWÖRDEN, Dominium terrae. Studien zur Genese einer alttestamentlichen Vorstellung, Berlin u.a.O. 1993 (BZAW 215). – H.H. SCHMID, šalôm – «Frieden» im Alten Orient und im Alten Testament, Stuttgart 1971 (SBS 51). – O.H. STECK, Friedensvorstellungen im alten Jerusalem, Zürich 1972 (ThSt 111). – H.W. WOLFF, Schwerter zu Pflugscharen – Missbrauch eines Prophetenwortes?, in: EvTh 44 (1984), 280–292.
WD 3. Gewaltverzicht und Feindesliebe in der Bergpredigt73 Kaum ein Text des Neuen Testaments steht in einem so direkten Zusammenhang mit dem Thema der Gewaltüberwindung wie Mt 5,38–48. Dieser Abschnitt 73 Ein kurzer Hinweis: In der neutestamentlichen Forschung wird die Frage sehr kontrovers diskutiert, welche Veränderungen die ursprünglichen Jesusworte bis zu ihrer Verschriftlichung in den Evangelien durchlaufen haben könnten. Da dies nicht der Ort für solche Diskussionen ist (vgl. dazu die Kommentare von Davies / Allison und Luz), werde ich im Folgenden relativ unbekümmert von «Jesus» als Sprecher dieser Worte reden. Trotz redaktioneller Eingriffe seitens der Evangelisten kommt m.E. die Intention Jesu darin derart deutlich zum Ausdruck, dass weitere Differenzierungen die eigentliche sachliche Auseinandersetzung, um die es hier gehen soll, nur unnötig belasten würden.
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3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
aus der Bergpredigt gilt zu Recht als die charakteristische Position Jesu zum Gewaltproblem und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. Matthäus hat diese Doppelanweisung am Ende der sog. «Antithesen» platziert im Rahmen jener Grundsatzrede Jesu (Mt 5–7), die für den Evangelisten als Zusammenfassung des von Jesus geforderten gerechten Lebens dient. Alle sechs Anweisungen sind formal ähnlich aufgebaut: Text 5,21 5,27 5,31 5,33
5,38
5,43
Einleitungsformel
Tora-Zitat (Thema) Einleitungsformel Ihr habt gehört, dass zu Du sollst nicht Ich sage den Alten gesagt ist: töten; … euch, dass Ihr habt gehört, dass Du sollst nicht Ich sage gesagt ist: ehebrechen. euch, dass Es ist aber weiter Ich sage Wer seine Frau gesagt: entlassen will … euch, dass Wiederum habt ihr Du sollst nicht Ich sage gehört, dass zu den falsch schwören … euch: Alten gesagt ist: Ihr habt gehört, dass Ich sage Auge um Auge gesagt ist: und Zahn um euch: Zahn. Ihr habt gehört, dass Du sollst deinen Ich sage gesagt ist: Nächsten lieben … euch:
Gebot Jesu jeder, der zürnt … jeder, der eine Frau ansieht … jeder, der seine Frau entlässt … Schwört überhaupt nicht … Widersteht nicht dem Bösen, … Liebet eure Feinde …
Die sechs Anweisungen werden mit einer programmatischen Aussage zum Verhältnis Jesus–Tora eröffnet (5,17–20) und mit einer allgemeinen Mahnung in 5,48 abgeschlossen. Der Aufbau verrät einige inhaltliche Aspekte dieser Reihung: Die komplette Einleitungsformel begegnet nur in 5,21 und 5,33. Durch die Einleitung «wiederum» in 5,33 ergeben sich zwei Teile: Die ersten drei behandeln je einen konkreten «Fall» (kasuistisches «Recht»): «Wer einen Bruder zürnt …» (22), «wer eine Frau ansieht …» (28), «wer seine Frau entlassen wird …» (32). Die letzten drei hingegen sind ganz allgemein formuliert (apodiktisches «Recht»): «Schwöret überhaupt nicht!» (34) «Widersteht nicht dem Bösen!» (38) «Liebet eure Feinde!» (44) Die zweite und dritte «Antithese» (Sexualität und Scheidung) und die fünfte und sechste (Verzicht auf Widerstand und Feindesliebe) hängen inhaltlich miteinander zusammen. Die Parallelüberlieferung in Lk 6,27–36 zeigt einen ähnlichen Gedankenverlauf bei einer wesentlich grösseren Konzentration auf das Feindesliebegebot. 3.1. Widersteht nicht dem Bösen! (Mt 5,38–42) «(38) Ihr habt gehört, dass gesprochen wurde: ‹Auge um Auge› und ‹Zahn um Zahn›. (39) Ich sage euch: Widersteht nicht dem Bösen! Sondern wer auch immer
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D.IV. Verzicht auf Gewalt dich schlägt auf deine rechte Backe: Halte ihm auch die andere hin! (40) Und dem, der dir vor Gericht dein Unterkleid nehmen will: Überlass ihm auch den Mantel! (41) Und wer auch immer dich zu einer Meile (als Lastenträger) zwingt: Gehʼ mit ihm zwei. (42) Dem, der dich bittet, gib! Und den, der von dir borgen will, weise nicht ab!»
Alttestamentlich-jüdischer Kontext (5,38): Wie in den anderen Beispielen in Mt 5,21–48 setzt Jesus ein mit einem Hinweis auf eine Rechtssatzung aus der Tora74. Das Auge-um-Auge-Prinzip bzw. das Vergeltungsrecht (Ex 21,23–25; Lev 24,19–21; Dtn 19,18–21) ist in seinem ursprünglichen Zusammenhang eine juristische Massnahme zur Humanisierung gesellschaftlicher Sanktionierungsformen (s.o. D.II.2.1.)75. Eine Legitimierung privater Vergeltungsmassnahmen ist mit dem ursprünglichen Wortlaut sicherlich nicht beabsichtigt. Die Verfügung, die Jesus an dieser Stelle gibt, scheint sich jedoch genau gegen ein solches privates Missverständnis des Auge-um-Auge-Prinzips zu wenden. Damit steht Jesus in einer langen Linie von warnenden Stimmen gegen private Vergeltungsmassnahmen. In Ps 7,5–6 bekennt der Betende selbstkritisch: «Wenn ich Böses vergolten habe dem, der mit mir Frieden hält, … so verfolge der Feind meine Seele und erreiche sie.» Die Spruchweisheit zeigt eine ähnliche Sensibilität für dieses Problem: «Sage nicht: Ich will Böses vergelten! Harre auf den Herrn, so wird er dich retten!» (Spr 20,22; vgl. 24,29; 25,21–22) Auch jüdische Texte warnen vor Vergeltung: Die Gemeinderegel aus Qumran formuliert im Sinne einer Selbstverpflichtung: «Nicht will ich jemandem seine böse Tat vergelten, mit Gutem will ich jeden verfolgen. Denn bei Gott ist das Gericht über alles Lebendige, und er vergilt dem Mann seine Tat.» (1QS 10,17–18) Die jüdische Bekehrungsnovelle «Joseph und Aseneth» schärft ein, dass es uns «nicht geziemt, zu vergelten Böses mit Bösem» (JosAs 23,9; vgl. auch 19,3; 28,5.10.14) Diese vergeltungskritische Linie wird im Neuen Testament fortgeführt (vgl. Röm 12,17–19; 1Thess 5,15; 1Petr 3,9).
Das Gebot Jesu (5,39–42): Für ein sinnvolles Verstehen dieses bedeutungsschweren Textes ist es wichtig, das Verhältnis der negativen Anweisung (5,39a: dem Bösen nicht widerstehen) zu den weiteren Anweisungen möglichst präzise zu bestimmen. Ich gehe im Folgenden davon aus, dass 5,39a ein Basisprinzip formuliert, an das sich eine Reihe von Illustrationen anschliesst, die durch bewusste Übertreibung dieses Prinzip pädagogisch einprägsam untermauern. 1. Basisprinzip (5,39a): Ganz apodiktisch, unabhängig von einem konkreten Fall, lautet die Hauptanweisung: «Widersteht nicht dem Bösen!» Was ist genau darunter zu verstehen? Will Jesus jede Form des Widerstands gegen das Böse 74
Ich gehe im Folgenden davon aus, dass der Bezug der sog. «Antithesen» die Tora und nicht deren rabbinische Auslegung ist. Vgl. dazu die Argumente in Davies / Allison, Matthew, 506–509. 75 Vgl. zum Bereich der Antike Betz, Sermon, 275–277.
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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in dieser Welt verbieten? Wäre das nicht verantwortungslos, fahrlässig und gefährlich? Wenn wir diese Anweisung aus ihrem literarischen Umfeld herauslösen, wäre es in der Tat möglich, Jesus den Aufruf zu einer im Endeffekt bedrohlich passiven Haltung zu unterstellen. Die Auslegung hat aber zu respektieren, dass durch den Hinweis auf die Weisung der Tora in 5,38 das Problem von Rache und Vergeltung als thematischer Rahmen gesetzt ist. Jede Handlung, die dem Prinzip von Vergeltung folgt, ist demnach – im negativen Sinne des griechischen anthistêmi – als Wider-stehen, Gegen-jemanden-stehen aufzufassen. Sinngemäss wäre also zu formulieren: «Setzt dem Bösen nicht Böses entgegen!» «Rächt euch nicht!» Dass es sich bei dem «Bösen» nicht allgemein um das Böse handelt, sondern konkret um Menschen, die anderen persönlich Schaden zufügen wollen, machen die anschliessenden Beispiele deutlich. Häufig ist vorgeschlagen worden, Jesus nehme hier Stellung gegen den antirömischen Widerstand der sog. «Zeloten», indem er zu Gewaltverzicht gegenüber der verhassten Besatzungsmacht auffordere. Abgesehen von der Frage, ob es zu dieser Zeit überhaupt schon eine organisierte Zelotenbewegung gab (s.o. B.II.3.), spricht die Bergpredigt nicht explizit von römischen Gegnern. Die einzige Anfeindung ist die Verfolgung um des Glaubens willen (Mt 5,10–12). Es liegt daher nahe, generell an Feinde der christlichen Bewegung zu denken76.
2. Vier «übertriebene» Illustrationen (5,39b–42): Jesus hat häufig durch starke Bilder und übertriebene Fallbeispiele seiner Lehre Gefühlsintensität und Einprägsamkeit verliehen77. Das Bild vom Kamel, das eher durch ein Nadelöhr gelangt, als ein Reicher in den Bereich göttlicher Herrschaft (Mt 19,24 // Mk 10,25 // Lk 18,25), ist ebenso haften geblieben wie der Splitter im fremden Auge im Vergleich zum Balken im eigenen (Mt 7,3–5/Lk 6, 41–42). Vielleicht verbirgt sich hinter solchen überdimensionierten Bildern auch ein gewisser Sinn für das Lächerliche – z.B. wenn Jesus den «blinden Führern» vorwirft, die Mücke zu sieben und das Kamel zu verschlucken (Mt 23,24). Eine wörtliche Deutung solcher Übertreibungen wäre sicherlich verfehlt. Sonst müsste Jesu Aufforderung, sich das rechte Auge oder die rechte Hand auszureissen (Mt 5,29–30), oder seine Rede von Menschen, die sich selber für die Gottesherrschaft kastrieren (Mt 19,12), als Aufruf zur Selbstverstümmelung gedeutet werden. Diese Beispiele sollen ausreichen, um ein Gefühl für die einprägsame und zum Teil recht drastische Sprache Jesu zu vermitteln.
Die folgenden Illustrationen haben in der Wirkungsgeschichte, losgelöst von ihrem Kontext, häufig ein Eigenleben geführt. Dadurch konnte sich die Vorstellung verfestigen, Jesus sei ein realitätsferner Träumer, das Christentum 76 77
Schottroff, Gewaltverzicht, 204. Im exegetischen Fachjargon wird diese Stilfigur «Hyperbel» genannt.
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D.IV. Verzicht auf Gewalt
eine Unterwürfigkeitsreligion und das christliche Verhaltensideal Ausdruck einer niederen «Sklavenmoral» (Nietzsche). Im jetzigen Zusammenhang sind die Verse 39b–42 am sinnvollsten jedoch als Illustrationen für den Verzicht auf Vergeltung zu verstehen. a) Die Ohrfeige (5,39b): Die wohl berühmteste Ohrfeige der Literaturgeschichte ist – geht man von der gewöhnlichen Situation eines Rechtshänders aus – als ein Schlag mit dem Handrücken auf die rechte Backe vorzustellen. Diese Geste ist nicht im Sinne von Schmerzzufügung zu verstehen, sondern vielmehr als Zeichen öffentlicher Ehrverletzung, als Äusserung von Verachtung und Hass. Die geschlagene Person erleidet in erster Linie Schmach, «verliert» ihr Gesicht. In allen Kulturen ist Gewalt ein bis zu einem gewissen Grad toleriertes Mittel, um den persönlichen Statusverlust wieder herzustellen. In diesem Zusammenhang lautet Jesu Aufforderung: «Halte die andere Backe hin!» Hinter dem Wortlaut der Anweisung, die sich unsere Vorstellung nur allzu plastisch auszumalen vermag, steht ein Aufruf zu subversiver Kreativität. Die Regeln der Gewalt sind derart festgelegt, dass uns für einen Ausweg aus der Gewaltspirale so etwas wie eine «Grammatik der Gewaltüberwindung» fehlt. Was Jesus hier also anstrebt, ist keineswegs, den Weg des Gewaltverzichts durch neue Regeln zu definieren, sondern nur seine Konturen zu umreissen. In einer Welt, in der Gewalt «natürlich» ist, ändert sich die Dynamik erst durch das Unnatürliche, Unerwartete und Überraschende einer gewaltfreien Antwort. Es geht dabei nicht um die freiwillige Hingabe an den Schmerz78 oder um Schicksalsfatalismus79. Vielmehr stellt die andere Backe eine Provokation dar, die «weder die eigene Ehre zu erhalten, noch die eigene Machtstellung durchzusetzen sucht»80. Da für die Gottesherrschaft andere Vorstellungen von «Ehre» gelten (vgl. 5,3–12), kommt der erlittenen Schmach hier ein geringerer Wert zu. b) Das Pfänden des Gewandes (5,40): Für den Fall, dass jemand das Gewand pfänden will, soll man, statt auf Rache zu sinnen, ihm das noch kostbarere Obergewand dazugeben. Das Pfänden des Obergewandes ist in der Tora aus humanitären Gründen – weil der Arme sich nachts damit zudeckt – verboten (Ex 22,26; Dtn 24,12f). Nimmt man diese Anweisung wörtlich (und nicht als eine übertriebene Illustration des Racheverzichts), dann würde Jesus indirekt zum Exhibitionismus aufrufen, denn in der Regel bestand die Alltagskleidung 78 So äussert sich der «Knecht des Herrn» in Jes 50,6: «Ich bot meinen Rücken den Schlagenden und meine Wangen den Raufenden, mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmähungen und Speichel.» 79 Diese Haltung schimmert in den Klageliedern durch: «Gut ist es für den Mann, wenn er das Joch in seiner Jugend trägt. Er sitze einsam und schweige, wenn er [= Gott] es ihm auferlegt. Er lege seinen Mund in den Staub, vielleicht gibt es Hoffnung. Er biete dem, der ihn schlägt, die Wange, sättige sich an Schmach.» (Klgl 3,27–30) 80 Strecker, Bergpredigt, 87.
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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nur aus Gewand und Obergewand. Die Aussage ist hier ähnlich wie im Falle der Ohrfeige, nur dass jetzt der Kontext juristischer Auseinandersetzungen gewählt ist. c) Nötigung (5,41): Erst in dieser dritten Illustration wird klar eine Situation vor Augen geführt, die mit dem Problem der römischen Besatzungsmacht in Verbindung steht. Römische Soldaten und öffentliche Beamte hatten das Recht, Menschen in den von ihnen besetzten Gebieten zu kleineren Abgaben (z.B. Verpflegung) und Dienstleistungen (z.B. als Lastenträger) zu zwingen81. Wieder wird der Verzicht auf gewaltsame Vergeltung für eine solche Verletzung des Nationalgefühls durch eine «unnatürliche» Reaktion illustriert: eine freiwillige zweite Meile. d) Mahnung zur Grosszügigkeit (5,42): Man soll je nach Bedarf geben und leihen (selbstverständlich ohne Zins). Auch diese Anweisung ist eine Richtungsanweisung, denn wir würden bald alle eigenen Ressourcen aufbrauchen, wenn wir alle Bedürfnisse zu beheben suchten. Jesus erinnert aber daran, auf dem Weg der Gewaltüberwindung etwas so Elementares wie die Nöte der anderen nicht zu vergessen. Hält man sich den Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut vor Augen, dann ist der Hinweis auf einen grosszügigen Güterausgleich kaum eine Beiläufigkeit im Gedankengang von Mt 5,38–42. Es ist durchaus bedeutsam, welche Kontexte in den vier Illustrationen aufgerufen werden: Die Spielregeln der Ehre, die Lückenhaftigkeit des Rechts, die Verletzlichkeit ethnischer Identitäten und die Dynamik des ökonomischen Gefälles. All diese Kontexte waren und bleiben ausgesprochen produktive Brutstätten für zwischenmenschliche Rache- und Gewaltakte. Im Grundsatz gibt Jesus in übertriebenen Bildern eine Ahnung dessen, was es heisst, Böses nicht mit Bösem zu vergelten. Die Gewaltlosigkeit als christliche Grundtugend kann sich jedoch nicht in einfachen Regeln zur Sprache bringen, sondern muss sich ausserhalb des Reglementierbaren auf der Ebene kreativer Überraschung bewegen. Dieser «symbolische […] Protest gegen den Regelkreis der Gewalt»82 setzt den Menschen dem Risiko der Lächerlichkeit aus, denn zur «Grammatik» der Gewalt gehört, dass Vergeltung als mannhaft, vernünftig und angemessen erscheint. 3.2. Liebt eure Feinde! (Mt 5,43–47) «(43) Ihr habt gehört, dass gesprochen wurde: ‹Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.› (44) Ich sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, (45) so dass ihr Kinder eures himmlischen Vaters werdet. 81
Aus der Passionsgeschichte ist ein Fall bekannt: Simon von Kyrene wird von Soldaten gezwungen, das Kreuz Jesu zu tragen (Mk 15,21). 82 Luz, Matthäus, 388.
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D.IV. Verzicht auf Gewalt Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und bringt Regen über Gerechte und Ungerechte. (46) Wenn ihr nämlich die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun die Zöllner nicht auch dasselbe? (47) Und wenn ihr nur eure Geschwister grüsst, was macht ihr Besonderes? Tun die von den Nationen nicht auch dasselbe?»
Alttestamentlich-jüdischer Kontext: «Du sollst dich nicht rächen und den Kindern deines Volkes nichts nachtragen und sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin Jhwh.» (Lev 19,18 = 19,34) Diese Anweisungen werden im Neuen Testament etliche Male zitiert (Mt 19,19; 22,39; Röm 13,9–10; Gal 5,14; Jak 2,8). Der Wortlaut von Mt 5,38 ist jedoch auffällig, denn die Erweiterung «und seinen Feind hassen» findet sich weder in der hebräischen Bibel noch in ihren frühen griechischen Übersetzungen (v.a. in der sog. «Septuaginta») oder aramäischen Predigterweiterungen (den sog. «Midraschim»). Manche Ausleger und Auslegerinnen haben daher vorgeschlagen, dass Jesus hier nicht Bezug auf die Tora nimmt, sondern gegen rabbinische Fehldeutungen polemisiert. Eine saubere Trennung jedoch zwischen Tora und mündlicher Tradition ist für die Zeit Jesu kaum durchführbar. Hinzu kommt, dass die Einleitungsformel «dass gesagt ist» im Passiv formuliert ist und damit auf Gott als Subjekt hinweist. Ohne auf die Einzelheiten des alttestamentlichen Kontextes einzugehen, lässt die Anweisung, den «Nächsten» zu lieben, die Frage offen, wer der «Nächste» ist und wie man sich gegenüber «Nicht-Nächsten» zu verhalten habe. Dabei schliesst der «Nächste» gewiss auch den persönlichen Feind ein. In der Regel war damit aber der Mitisraelit oder vielleicht noch der in Israel sesshafte «Ausländer» gemeint. Diese Form von Liebe ist sehr weit gefasst, hat aber ihre national-ethnischen Grenzen, so dass sie offen bleibt für den Hass gegenüber nationalen Feinden. Die Erweiterung im Zitat macht auf diesen «blinden Fleck» aufmerksam83. Das Gebot Jesu (5,44–47): Die sechste und damit letzte «Antithese» ist der Kulminationspunkt der gesamten Reihe. Das Thema des konkreten Verhaltens in sozialen Konfliktsituationen wird in diesem letzten Abschnitt auf das Gebot der Feindesliebe zugespitzt. 1. Wer ist der Feind? «Wem die Möglichkeit der Feindesliebe zugemutet wird, dem wird zunächst zu verstehen gegeben, dass er Feinde hat. Er lebt inmitten von Feindschaft.»84 Die Gemeinde steht also nicht jenseits der Kategorien von Freund und Feind, sondern sie anerkennt die Realität von Feindschaft und nimmt damit unweigerlich auch eine politische Haltung ein. 83
Davies / Allison, Matthew, 550. Der Hass gegen die Feinde ist in einigen alttestamentlichen Texten belegt (Dtn 7,2b; 20,16; 23,7; 30,7; Ps 26,5; 137,8–9; 139,19.21f). Die Gemeinderegel von Qumran fordert auf, «alle Söhne der Finsternis zu hassen, jeden nach seiner Verschuldung in Gottes Rache» (1QS 1,10–11). 84 Huber, Feindschaft, 134.
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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Gegen die wirkungsvolle Immunisierungsstrategie, mit «Feind» (griech. echthros) sei nur der persönliche, nicht aber der nationale Feind (griech. polemios) gemeint85, ist vor allem auch philologisch einzuwenden, dass mit echthros im Neuen Testament mehr gemeint ist als nur der private Feind. In Mt 5,43f ist die Parallelisierung zwischen dem Feind und dem Verfolger der Gemeinde augenscheinlich. Wichtig ist weiterhin, dass Jesus den Begriff des «Nächsten» auch auf den Feind ausweiten will. Wenn man den Feindesbegriff wieder auf die Privatsphäre zu reduzieren versucht, interpretiert man eindeutig gegen das eigentliche Sachanliegen Jesu. Es geht darin ja gerade um die Ausdehnung der Nächstenliebe auf alle Menschen86! Damit wird «jede den Feind ausschliessende Deutung des Gebots der Nächstenliebe als unzulässig betrachtet»87.
2. Was ist mit Feindesliebe gemeint88? Die explizite Anweisung zur Feindesliebe gilt häufig als einzigartig in der antiken Welt89, obgleich Menschenliebe (griech. philanthrôpia) als wichtige Tugend in der hellenistischen Ethik galt90. Ansätze zur Feindesliebe sind auch in der alttestamentlich-jüdischen Tradition nicht selten (vgl. D.IV.2.)91: So soll man nach Ex 23,4f das verlorene Nutztier eines Feindes diesem zurückbringen. Hiob zählt zu den Sünden, die er stets vermieden hat, dass er sich nicht über den Untergang des Feindes freute (31,29). Diese Haltung entspricht der Spruchweisheit (Spr 24,17f; 25,21f = Röm 12,20). Jer 29,7 fordert dazu auf, den Frieden der Stadt zu suchen, in die man gefangen geführt worden ist, und für sie zu beten. Eine Ausweitung der Nächstenliebe ist im Testament der zwölf Patriarchen belegt: «Und jetzt, meine Kinder, liebt jeder seinen Nächsten, und rottet den Hass aus euren Herzen aus. Liebt euch gegenseitig in Tat und Wort und Gesinnung der Seele. … (3) Wenn jemand gegen dich sündigt, so sage es ihm friedlich. Und halte in deiner Seele die List nicht fest. Und wenn er Busse tut und bekennt, vergib ihm. … (6) Wenn er jedoch abstreitet und sich scheut, überführt zu werden, gib Ruhe und überführe ihn nicht … (7) Ist er jedoch unverschämt und beharrt auf der Bosheit, dann vergib ihm auch so von Herzen und überlass Gott die Vergeltung.» (Test. Gad 6,1–7)
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Vgl. Beispiele in Huber, Feindschaft, 134, und Berner, Bergpredigt, 25. Im Bild gesprochen: Solange Gott seine Sonne über islamistische Terroristen, Neonazis und Päderasten gleichermassen scheinen lässt, sind sie im Sinne der Bergpredigt nicht aus dem Zielbereich ungeteilter Liebe ausgeschlossen. 87 Huber, Feindschaft, 133. 88 Vgl. Schottroff, Gewaltverzicht, 197–204. 89 So pointiert Davies / Allison, Matthew, 552. Vgl. zum weiteren Neuen Testament Lk 23,34; Apg 7,60; Röm 12,14.20; 1Petr 3,9 und die Artikel in Swartley, Love und die Studie von von Arx, Feindesliebe. 90 Der jüdische Philosoph Philo von Alexandria (1. Jh. v. Chr.) widmet sich dem Thema ausführlich in seiner Untersuchung «Über die Tugenden» (De Virtutibus) §§51–174. Vgl. weiterhin das Material in Hiltbrunner, Humanitas. 91 Ebersohn, Nächstenliebegebot, 16–142; Konradt, Söhne, 71–77; Piper, Love, 19–49; Schottroff, 204–213; Zerbe, Non-Retaliation, 34–173. 86
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Häufig wird christliche «Feindesliebe» als eine Erweiterung der allgemeinen Nächstenliebe, als philantropische Menschenliebe gedeutet92. Es ist aber die Frage, ob es sinnvoll ist, Verhaltensweisen auf alle auszudehnen, die nur im unmittelbaren Sozialbereich ihren Ort haben. Die Pointe der Anweisung Jesu liegt nicht darin, dass man Feinde wie Freunde behandelt, sondern dass man den Feinden als Feinden mit Liebe begegnet. «Nicht die Leugnung oder Verharmlosung der Feindschaft ist in der Feindesliebe gemeint, sondern eine Zuwendung, die erkannt hat, dass gerade der Hassende der Liebe am meisten bedarf. Jesu Gebot zielt auf eine ungeteilte Liebe […], die auf die Einseitigkeit der erfahrenen Feindschaft mit einer unkalkulierten Einseitigkeit der Liebe antwortet. In dieser das natürliche Ethos überschreitenden Einseitigkeit liegt das ‹Ausserordentliche› (perisson, Mt 5,47), durch das sich das Handeln des Jüngers auszeichnet.»93
Feindesliebe ist nicht auf das liebende Individuum im Sinne von Selbstüberwindung oder Selbstbeherrschung zu beschränken, sondern gehört zum Verhalten einer sozialen Gruppe, «die keine der in der Gesellschaft vorhandenen legalen Machtmittel zur Verfügung» hat und aus der Position der Unterlegenheit versucht, «das Böse durch das Gute zu überwinden und keineswegs es bestehen zu lassen»94. Als konkretes Beispiel für Feindesliebe nennt Jesus die Fürbitte («Betet für die, die euch verfolgen»). Das ist insofern bedeutsam, als durch das Gebet die Wahrnehmung des «Feindes» geändert wird. Das Gebet ändert nicht zwangsläufig dessen feindselige Einstellung, aber doch die eigenen unbewussten Reaktionsmuster von Wut und Hass. 3. Hat «Feindesliebe» ein Ziel? Ist sie zweckgebunden? Der Text stellt nicht ausdrücklich in Aussicht, dass sich der Feind ändert. Aufgrund späterer Verarbeitungen dieser Tradition ist dies aber immer wieder angenommen worden95: «Besiegt das Böse durch das Gute.» (Röm 12,21) «… und führt euren Wandel unter den Nationen gut, damit sie, worin sie gegen euch als Übeltäter reden, aus den guten Werken, die sie anschauen, Gott verherrlichen am Tage der Heimsuchung.» (1Petr 2,12) «Wir, die wir uns früher hassten und gegenseitig töteten … , leben nun alle miteinander, beten für unsere Feinde und versuchen die zu überzeugen, die uns ungerechtmässig ablehnen, damit sie aufgrund eines Lebens nach den guten 92
Vgl. z.B. Lührmann, Liebet eure Feinde, 426. Huber, Feindschaft, 153. 94 Schottroff, Gewaltverzicht, 201f. 95 Vgl. Konradt, Söhne, 85–92; Schottroff, Gewaltverzicht, 215: Die Feindesliebeforderung enthält «einen durchaus aggressiven (nicht im zerstörerischen Sinne) Gedanken: die Feinde sollen ihre Feindschaft aufgeben, sie sollen also verändert werden.» 93
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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Ratschlägen Christi gute Hoffnung haben, mit uns die gleichen Güter zu erlangen, die wir von Gott erwarten.» (Justin, Apol. I,14,3; vgl. auch I,57,1)
In 5,45 wird jedoch ein anderes Ziel (vgl. die griech. Partikel hopôs = «damit») als die Veränderung des Bösen genannt: Durch Feindesliebe erweisen sich Menschen als «Kinder Gottes». Der Bezug zu Mt 5,9 ist auffällig96: «Glückselig sind die Friedensstifter, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.» In dieser letzten Antithese wird ausgemalt, was in der siebten Seligpreisung mit «Friedensstiftung» gemeint ist97. Als «Sohn Gottes» galt in der biblisch-jüdischen Tradition ursprünglich das Kollektiv Israel oder der davidische König. Erst in der späteren Weisheitsliteratur gelten auch die Gerechten (Weish 2,18) und Barmherzigen (Sir 4,10) als «Söhne Gottes». Dahinter steht die Vorstellung einer Familienähnlichkeit in fundamentalen Verhaltensweisen zwischen Gott und Mensch (vgl. Mt 5,48!). Die nicht-selektive Liebe ist eine Verhaltensweise, durch die die Jünger und Jüngerinnen als Gottes Kinder erkennbar werden98. Nicht-selektive Liebe verweist auf Gott, weil Gott selbst uneingeschränkt Gutes schenkt: «Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.» (5,45b; vgl. Ps 145,9) Regen und Sonne werden damit zu Symbolen der Liebe Gottes zu seiner gesamten Schöpfung, zu Menschen, Tieren und Pflanzen gleichfalls99. 4. Die selektive und eigennützige Liebe wird in 5,46f in Frage gestellt. Jene zu grüssen, die einen selbst grüssen, ist kaum aussergewöhnlich. Im Himmelreich geht es aber um den Einbruch des «auffällig Anderen» in den Alltag dieser Welt. Licht der Welt kann die Nachfolgegemeinschaft nicht sein, indem sie das Normale zum Massstab ihres Handelns erhebt, sondern nur indem sie «aussergewöhnlich» handelt (vgl. perisson in 5,47 und perisseuô in 5,20). 3.3. Vollendung (Mt 5,48) «Ihr nun sollt ungeteilt / ganzheitlich / vollendet sein, wie euer himmlischer Vater ungeteilt / ganzheitlich / vollendet ist.»
96 Der Hinweis auf die Gottessohnschaft erscheint im Mt-Evangelium nur in diesen beiden Texten 5,9 und 5,45! 97 Vgl. Schnackenburg, Friedensstifter. 98 Eph 5,1f: «Seid nun Nachahmer Gottes als geliebte Kinder! Und wandelt in Liebe, wie auch der Christus euch geliebt und sich selbst für uns hingegeben hat als Gabe und Schlachtopfer, Gott zu einem duftenden Wohlgeruch.» 99 Die göttliche Nicht-Unterscheidung von Gerechten und Ungerechten ist im AT eher ein Problem für den Glaubenden (vgl. den resignativen Ton in Koh 9,2f)!
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Mit der Mahnung, wie Gott zu sein (Mt 5,48), wird der gesamte Abschnitt 5,21–47 zum Abschluss gebracht. Der Satz erinnert deutlich an Lev 19,2: «Seid heilig, weil ich heilig bin.» Die gängige Übersetzung für griech. teleios mit «vollkommen» bietet Anlass zu Missverständnissen. Im griechischen Sprachkontext hängt der Begriff eng mit telos («Kulminationspunkt», «Ziel», «Ende») zusammen und beschreibt daher den Zustand, bei dem etwas oder jemand ans Ziel gelangt100. Etwas Vollkommenes ist also nicht fehlerlos, sondern vollendet101. Durch die Vermittlung der Septuaginta, in der teleios die hebräischen Begriffe schalem und tam(im) übersetzt, bekommt der Begriff im NT auch den Sinn von «ganz», «vollkommen», «unversehrt». Es bezeichnet die ungeteilte, ehrliche und loyale Haltung gegenüber einem anderen.
Die parallelen Traditionen im Lukasevangelium und bei Justin (†165) sind interessant: «Seid nun barmherzig (oiktirmones), wie auch euer Vater barmherzig ist.» (Lk 6,36) «Seid aber gütig und barmherzig (chrêstoi kai oiktirmones) wie auch euer Vater gütig ist und barmherzig, und er lässt seine Sonne aufgehen über Sünder, Gerechte und Böse.» (Justin, Apologie I,15,13)
Der Zusammenhang ist deutlich: Gott ist «ganz und vollendet», weil er in seiner Zuwendung zu den Menschen (im Sonnenschein und im Regen) keinen Unterschied zwischen Guten und Bösen macht. Jesus fordert dazu auf, dass der Mensch in der Liebe zum Menschen reift – einer Liebe, die ehrlich und wahrhaftig wie Gott selbst ist. Gottes moralische Ganzheit soll sich im Wandel der Nachfolger und Nachfolgerinnen Christi widerspiegeln. Die sog. «Antithesen» sind eine konkrete Anleitung zu dieser Vollkommenheit. Sie verfolgen jedoch kein Ideal der «Sündlosigkeit» oder einer Abstufung von Vollkommenheitsgraden. «Wesensähnlichkeit» zwischen Mensch und Gott drückt sich im Wesentlichen in der Feindesliebe und der Friedensstiftung aus. Theologisch kann gefragt werden, inwiefern diese «Ganzheit» ein Geschenk der Gnade ist oder eine Leistung des Menschen. Gerade für die Ethik Jesu ist diese seit der Reformation übliche Alternativsetzung wenig brauchbar. Es gibt ein «reziprokes Verhalten» zwischen Gott und Menschen in Bezug auf die Barmherzigkeit (Mt 5,7), Vergebung (Mt 6,12.14f; 18,35) und Verurteilung (Mt 7,1f). In diesem Geflecht steht schliesslich auch die «Ganzheit» der Liebe, mit der die Nachfolger und Nachfolgerinnen Jesu aus der Verbundenheit zu Jesus heraus handeln, sich aber zugleich auch diese Verbundenheit verspielen können. Der Ruf in die Nachfolge hat einen Vorrang, so dass man theologisch sagen könnte, dass in der Aufforderung zur «Nachahmung Gottes» (imitatio dei) bereits die Gnade des unzumutbaren Zutrauens von Gott den Menschen gegenüber zum Ausdruck kommt. Es ist nichts anderes als die Gnade des Gebotenen! 100
Da z.B. die Ehe in der Antike als das «Ziel» eines jeden Mannes angesehen wurde, gilt der Verheiratete als «Vollkommener». 101 In diesem Sinn können der Arzt und der Dieb «vollendet», «vollkommen» sein.
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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3.4. Überlegungen zur Praxis Mt 5,38–48 könnte für die geltenden «Realverhältnisse» in etwa so umgeschrieben werden: Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: «Missbraucht niemals eure Macht.» Jetzt heisst es aber: Leistet dem Bösen Widerstand! Und wenn jemand es wagt, dich zu schlagen, dann schlage doppelt so fest zurück! Wer dich vor Gericht anklagt, den sollst du nach allen Regeln der Kunst vernichten. Und wenn jemand dich zwingt, etwas gegen deinen Willen zu tun, dann sieh zu, dass du es ihm heimzahlst. Gib dem etwas, der für deine Karriere wichtig sein könnte, und weise keinen Mächtigen ab, wenn er dich um einen Gefallen bittet. Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: «Deine Liebe soll selbst vor den Feinden nicht halt machen!» Jetzt heisst es aber: Sei nur zu deinen Freunden nett, und rede schlecht über alle, die es nicht gut mir dir meinen, (45) damit ihr im Leben vorwärts kommt und es euch gut geht. Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, denn er lässt die Sonne aufgehen über die Starken und lässt die Schwachen im Dunkeln. (46) Wenn ihr eure Feinde liebt, was habt ihr davon? Sind nicht alle, die so gehandelt haben, gescheitert? (47) Wenn ihr nur eure Freunde grüsst, reicht das nicht voll und ganz? Ist das nicht die Strategie von all denen, die es zu etwas gebracht haben? Macht nur so weiter, dann werdet ihr vollkommener sein als Gott!
Der Widerstand der Wirklichkeit gegen den provokativen Alternativentwurf Jesu ist nicht neu. Die Umsetzungsschwierigkeit dieser Doppelanweisung hat bereits in der Wirkungsgeschichte des Textes zu zwei divergierenden Auslegungen geführt102: eine rigoristische und eine gemässigte. Die rigoristische Lektüre versteht den Text als eine grundsätzliche Aufforderung zum Gewaltverzicht. Dieser haben Christen und Christinnen unbedingt Folge zu leisten auch im Hinblick auf die möglichen Sachzwänge politischen Handelns (z.B. Krieg, polizeiliche Repressionen, physische Bestrafungen usw.). In den ersten drei Jahrhunderten des Christentums war diese vorherrschende Sicht der Grund, warum Christen nicht als Soldaten in den Krieg zogen. In späteren Jahrhunderten waren es vorwiegend Einzelpersonen und christliche Minderheiten, die aufgrund dieses Textes für christliche Wehrlosigkeit plädierten: Waldenser, Franz von Assisi, Wycliff, Erasmus, frühe Täufer, Quäker, Tolstoi, Gandhi, Albert Schweitzer, Martin Luther King usw. Als Beispiel einer solchen Auslegung möchte ich aus dem einflussreichen Schleitheimer Bekenntnis der Schweizer Täufer von 1527 zitieren: «So werden dann auch zweifellos die unchristlichen, ja teuflischen Waffen der Gewalt von uns fallen, als da sind Schwert, Harnisch und dergleichen und jede Anwendung davon, sei es für Freunde oder gegen die Feinde – kraft des Wortes Christi: Ihr sollt dem Übel nicht widerstehen (Mt 5,39).» (Artikel 4) 102
Nach Luz, Matthäus, 393–397. Vgl. allgemein zur Geschichte des Gewaltverzichts Lienemann, Gewalt.
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Wie ernst es dem Hauptverfasser dieses Textes, dem Täufer und früheren Benediktinermönch Michael Sattler (ca. 1490–1527), mit der Wehrlosigkeit war, zeigt die Anklageakte, die ihm 1527 in Rottenburg am Neckar die Verurteilung zum Tod auf dem Scheiterhaufen einbrachte103. Der letzte von neun Anklagepunkten lautet: «Er hat gesagt: Wenn die Türken ins Land kämen, solle man keinen Widerstand leisten, und wenn Krieg führen recht wäre, wolle er lieber gegen die Christen als gegen die Türken ziehen, was doch ein starkes Stück ist, den grössten Feind unseres heiligen Glaubens uns vorzuziehen.»104
Die Wende zum Staatskirchenwesen unter Konstantin (280–337) und die theologische Verhältnisbestimmung von Kirche und Staat durch Augustin (354–430) brachten eine Reihe gemässigter Deutungen hervor, die sich mehr und mehr durchsetzten. Das Bemühen, die Radikalität des Textes mit den Sitten des Staates auszugleichen, ist dabei offensichtlich. Die Domestizierung des Textes griff in der Folgezeit auf ganz unterschiedliche Strategien zurück, etwa durch eine Verlagerung in die Innerlichkeit des Menschen (Augustin), durch allegorische Umdeutungen der Bilder (die «andere Backe» meine die rechte Lehre), durch Reduktion des Geltungsbereichs nur für Kleriker (in der mittelalterlichen Zwei-Stufen-Ethik) oder durch eine Trennung zwischen dem Christen als Privatperson und dem Christen als politisch verantworlichem Bürger (in der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre)105. Der schwere Umgang mit Mt 5,38–48 artikuliert sich heute häufig in der einfachen Frage: Funktioniert das? Für viele steht und fällt die Frage nach der Anwendbarkeit von Gewaltverzicht und Feindesliebe mit der Prognose kalkulierbarer Folgen. Insofern die Frage nicht von vornherein mit der Absicht gestellt wird, die pure Möglichkeit einer Umsetzung in Frage zu stellen, erweist sie sich bei näherem Hinsehen als eine sehr komplexe Frage: Der Weg des Gewaltverzichts steht in der öffentlichen Diskussion unter erheblichem Druck, sich durch Praktikabilität und Funktionalität ausweisen zu müssen. Die Anwendung von Gewalt wird gemeinhin als eine so grosse Selbstverständlichkeit hingenommen, dass sich diese kaum immer aufs Neue durch Erfolge rechtfertigen muss. Die Freiheit von jeglichem Legitimationsdruck ist ein Privileg des Selbstverständlichen, weshalb sich hinter Selbstverständlichkeiten häufig auch Gefahren verbergen. Im Falle von Gewalt erscheint mir dies ganz besonders prekär, weil sich über die Zweckmässigkeit und den längerfristigen Erfolg von Gewaltanwendung m.E. trefflich streiten 103
Eidesverweigerung und Pazifismus galten als «besonders staatsgefährdende[s] Ärgernis» und wurden daher mit Todesstrafe verfolgt; vgl. Bauman, Gewaltlosigkeit, 33. 104 Text in modernem Deutsch nach Bister / Leu, Schätze, 24. 105 Vgl. zu einem differenzierten Verständnis der Haltung Luthers Bühler, Freiheit.
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lässt. Wenn also nach der Funktionalität von Gewaltverzicht gefragt wird, darf die Rückseite dieser Frage, nämlich die nach der Funktionalität von Gewalt, nicht aus dem Blickfeld geraten. Eine weitere Qualifizierung betrifft natürlich die «Funktionstüchtigkeit» als Kriterium für die Bewertung einer ethischen Verhaltensweise. Es würde hier zu weit führen, das anstehende Problem auf seine ethischen Grundsatz- und Begründungsprobleme zurückzuführen, aber ich möchte zu bedenken geben, dass es Verhaltensweisen gibt, die wir durchaus als ethisch gut betrachten (z.B. Ehrlichkeit), die aber in bestimmten Kontexten (z.B. in der Diplomatie) nicht «funktionieren». Es wäre also auch denkbar, dass Gewaltverzicht selbst dann ein erstrebenswertes Ziel humaner Ethik ist, wenn er zu keiner erkennbaren Veränderung der Verhältnisse führt. Schliesslich ist von vornherein nicht klar, wie die Tauglichkeit des von Jesus gebotenen Verhaltens erwiesen werden könnte. Generell erwartet man als Antwort auf diese Frage konkrete historische Beispiele für das strategische Gelingen passiven Widerstands. Es bleibt natürlich zu fragen, inwiefern sich aus geschichtlichen Ereignissen Gesetzmässigkeiten menschlichen Handelns bis auf die Ebene der Weltpolitik erkennen lassen. Was jedoch die historischen Fallbeispiele anbelangt, stehen sich häufig zwei Namen gegenüber: Gandhi und Hitler. Gandhi steht für die Kraft des gewaltlosen Widerstandes und Hitler für das absolut Böse, das nur durch einen äusserst blutigen Krieg besiegt werden konnte. Auf der Bühne einer virtuellen Geschichte hätte in den Köpfen vieler Menschen Gandhi den Kampf gegen Hitler verloren106. Doch sind diese beiden Paradigmen selbst ausgehöhlte historische Namen zur Legitimierung unterschiedlicher Positionen. Dazu ist zweierlei zu sagen: Wie das NaziRegime auf einen passiven Widerstand im Stile Gandhis reagiert hätte, wissen wir schlicht nicht. Es gibt aber Beispiele im Kleinen für gelungenen Widerstand gegen Hitler, die die Meinung, gegen dieses System könne nur Gewalt Erfolg zeitigen, zumindest relativieren sollten107. Ferner gibt es geschichtlich mehr Beispiele für «erfolgreichen» passiven Widerstand als nur Gandhi. Um nur einige zu nennen108: 106
In diesem Sinne äusserte sich Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt in einem Interview: «Was hätte es dem Frieden genützt, wenn ein ausländischer Staat Hitler oder Stalin auch noch die andere Backe hingehalten hätte? Das sind in ihrer Naivität absurde Vorstellungen, die völlig abstrahieren von der konkreten geschichtlichen Erfahrung.» (in: Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, Christsein, 56) 107 Vgl. die scharfsinnige Analyse des erfolgreichen Aufstands von deutschen Frauen für die Freilassung ihrer jüdischen Ehemänner in der Rosenstrasse in Berlin im Jahre 1943 in Stoltzfus, Widerstand. 108 Vgl. die politischen Analysen in Ackerman / Kruegler, Nonviolent Conflict und reichhaltige Information auf der Internetseite der «Albert Einstein Institution» (www.aeinstein.org).
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D.IV. Verzicht auf Gewalt
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die demonstrative jüdische Bereitschaft, sich töten zu lassen, um zu verhindern, dass römische Kaiserembleme in Jerusalem aufgestellt werden (1 Jh. n. Chr.)109, • der intelligente, mehrheitlich gewaltlose Widerstand Dänemarks gegen die deutsche Okkupation unter König Christian X (1940–1945), • der Widerstand von schwarzen Studenten und Studentinnen gegen Rassendiskriminierung in Nashville unter der Leitung von James Lawson (1960), • die (wesentlich bekanntere) Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings (1957–1968), • die regelmässigen Demonstrationen argentinischer Mütter und Ehefrauen von Deportierten vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires (1977– 1983), • die Gewerkschaftsbewegung von Lech Walesa im kommunistischen Polen (1980–1981), • die Anti-Apartheid-Bewegung in Port Elizabeth unter der Führung des 27jährigen Mkhuseli Jack (1984–1986), • die Montagsdemonstrationen in der Zeit vor dem Fall der Berliner Mauer (1989–1990) • oder, ein Beispiel aus jüngster Zeit, der Machtwechsel in der Ukraine durch die gewaltlose «Revolution in Orange» (2004 / 2005). Die Liste liesse sich problemlos weiterführen und durch biographische Erzählungen ergänzen110. Jesus spricht jedoch vom Einbrechen der Gottesherrschaft ins Diesseits nicht in analytisch-beschreibender Sprache. Seine Illustrationen sind extravagant, seine Bilder subversiv. Das Ausmass seines Desinteresses an einer rationalen Begründung dieser nicht-konformen Verhaltensweise mag uns verwundern, aber wir müssen dies respektieren. Wenn auch genug historische Beispiele für «gelungene» Gewaltlosigkeit angeführt werden können, so wird die Frage nach der Umsetzbarkeit der Anweisungen Jesu aus neutestamentlicher Sicht nicht auf dem Gebiet der Nützlichkeit oder Pragmatik beantwortet, sondern eher auf dem der Motivation und Absicht. 1. Die Anweisungen in Mt 5,17–48 sind im literarischen Kontext der Bergpredigt Ausdruck eines Sozialverhaltens, das in der Welt «Gottes Licht» zu erkennen gibt (vgl. 5,13–16). Inwiefern die christliche Gemeinschaft in ihrer konkreten Gestalt als Nachfolgegemeinschaft tatsächlich «Salz der Erde» und «Licht der Welt» ist, bemisst sich u.a. auch an ihrer nicht-selektiven Liebe und an ihrer Weigerung, gesellschaftlich anerkannte Formen von Gewalt anzuerkennen. Spielt sie jedoch nach den Regeln von Macht, Opportunismus, 109
Zwei Beispiele eines solchen Widerstandes sind im Geschichtswerk des Josephus belegt: Bell 2,169–174 // Ant 18,55–59; Bell. 2,184–203 // Ant. 18,261–309. 110 Beispiele in Yoder, Was würden Sie tun?
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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Rache und Vergeltung, verliert sie ihre würzende Kraft (5,13b) und bringt ihre Leuchtkraft unter einem Eimer zum Ersticken (5,15). So verstanden, ist Gewaltverzicht ein «Kontrastzeichen des Reiches Gottes»111, eines jener «guten Werke», welche die Menschen auf Gottes Barmherzigkeit aufmerksam machen (5,16). Gewaltverzicht und Feindesliebe entspringen daher weder der resignativen Haltung von Menschen, die kraftlos nachgeben, weil «man eh nichts machen kann», noch dem Opportunismus von solchen, die durch inszenierte Servilität hoffen, sich Feinde zu Freunde machen zu können112. Es geht Jesus auch nicht darum, gesuchtes Leid als freiwilligen Weg der Gotteserfahrung hinzustellen113. Man wird in der Klammer von 5,13–16 vielmehr von einer «missionarischen» Stossrichtung reden können114. Dass zeichenhaft-kreatives Handeln missionarisch wirksam ist, entspricht der Regel in Mt 10,16: «Siehe, ich sende euch wie Schafe mitten unter Wölfe; so seid nun klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben.» Diese ehrliche Klugheit kommt im gewaltlosen Widerstand und in der Feindesliebe zum Zug! 2. In 5,38–42 richtet sich das Basisprinzip im Plural an die Gemeinschaft («Widersteht …»), während die Illustrationen den Einzelnen («Wenn jemand dich …») im Blick haben. Darin kommt die Spannung zwischen den Grundwerten einer Gemeinschaft und der je individuellen Umsetzung zum Ausdruck. Es sind hier immer die Einzelnen, die persönlichen Gewalterfahrungen mit der subversiven Kraft des Unerwarteten entgegentreten. Der Text thematisiert nicht das Problem von Gewalt gegenüber Personen, die sich nur bedingt wehren können (z.B. Arme, Schwache, Kinder, Frauen, politisch Verfolgte usw.). Die Illustrationen sind für eine umfassende politische Anwendung in gewisser Weise «blind»115. Letztlich ist der Weg des passiven Widerstands nicht frei von ethischen Konflikten, vor allem angesichts der schweren Frage, wieweit man dem Bösen Raum gewähren soll116. Dennoch darf das Grundprinzip einer liebevoll-kreativen Umgestaltung der Gewalt als bevorzugte Möglichkeit 111
Luz, Matthäus, 399. Vgl. Schottroff, Gewaltverzicht, 207–211. 113 Sonst hätte er seinen Jüngern kaum dazu raten können, im Falle von Ablehnung und Verfolgung die Flucht zu ergreifen (vgl. etwa Mt 10,23). 114 So Neugebauer, Wange, 868; Schottroff, Gewaltverzicht, 215: «Die Feindesliebeforderung ist Appell zu einer missionarischen Haltung gegenüber den Verfolgern. […] Feindesliebe ist Inhalt christlicher Verkündigung, aber auch missionarisches Mittel.» 115 Lienemann, Gewalt, 87: «[W]enn das NT dazu aus grosser Distanz schweigt, dann nicht, weil es pazifistische Prinzipien lehrt, sondern weil die Träger neutestamentlicher Überlieferung noch nicht in die Händel dieser Welt verstrickt waren.» 116 Der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), dem sein Widerstand gegen Hitler das Leben kostete, hat diesen Konflikt nicht nur theoretisch durchdacht, sondern auch am eigenen Leib erfahren. 112
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D.IV. Verzicht auf Gewalt
über den individuellen Bereich hinaus auch in Familie, Wirtschaft, Recht und Politik gelten. 3. Es ist sicherlich im Sinne des Matthäus, die Frage nach Gewaltverzicht anhand der Person Jesu selbst zu konkretisieren. Jesus wurde geohrfeigt (Mt 26,67, ohne die andere Backe hinzuhalten) und man nahm ihm seine Kleider (27,35). Er ist der sanftmütige und demütige Lehrer (11,28–30), der während des gesamten Passionsgeschehens (Kap. 26–27) auf Gewalt verzichtet. Noch bei seiner Festnahme erinnert er einen Jünger, der zum Schwert greift: «Stecke dein Schwert wieder an seinen Ort! Denn alle, die das Schwert nehmen, werden durchs Schwert umkommen.» (Mt 26,52) Die Erinnerung an das gewaltlose Vorbild Jesu ist im 1. Petrusbrief noch lebendig: «Denn hierzu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel hinterlassen, damit ihr seinen Fussspuren nachfolgt; der keine Sünde getan hat, noch ist Trug in seinem Mund gefunden worden, der, geschmäht, nicht wieder schmähte, leidend, nicht drohte, sondern sich dem übergab, der gerecht richtet.» (1Petr 2,21–23)
4. In Anlehnung an diesen Text erscheint es angebracht, auch die psychologisch selbstzerstörerische Dynamik von Rache und Hass zu bedenken. Trotz des Sprichworts ist Rache nicht «süss». «Süss» sind höchstens Rachephantasien oder die Vorfreude auf Rache. Als unbefriedigend muss sich jede Handlung erweisen, die uns dem Zwang unterstellt, genauso unwürdig zu handeln wie diejenige Person, die uns durch Gewalt zu Opfern macht. Die Art und Weise, wie sich in der Rache das Böse auf einen selbst «zurückfaltet», hat der Schriftsteller und Kriegsreporter George Orwell in einem süddeutschen Kriegsgefangenenlager nach Beendigung des zweiten Weltkriegs scharfsinnig beobachtet: «Ein anderer Korrespondent und ich wurden von einem […] Wiener Juden durch das Lager geführt […]. An dem einen Ende des Hangars lagen ungefähr ein Dutzend […] SS-Offiziere, die man von den übrigen Gefangenen getrennt hatte. […] Als wir uns der Gruppe näherten, schien der kleine Jude sich wie unter einem Zwang in einen Zustand der Erregung hineinzusteigern. ‹Der ist ein wirkliches Schwein!› sagte er, holte plötzlich mit seinem schweren Armeestiefel aus und versetzte dem ausgestreckt daliegenden Mann einen fürchterlichen Tritt genau gegen die Anschwellung eines seiner deformierten Füsse. […] Man konnte ziemlich sicher sein, dass er Konzentrationslager befehligt und Folterungen sowie Erhängungen angeordnet hatte. Kurz gesagt, er repräsentierte alles, wogegen wir in den vergangenen fünf Jahren gekämpft hatten. […] Ich fragte mich, ob der Jude wirklich echtes Vergnügen an dieser neu gefundenen und von ihm ausgeübten Macht hatte. Und ich kam zu dem Schluss, dass er es nicht wirklich genoss, sondern sich lediglich – wie ein Mann in einem Bordell, oder ein Junge, der seine erste Zigarre raucht, oder ein durch eine Gemäldegalerie latschender Tourist – vormachte, dass er Vergnügen daran fände, und sich so benahm, wie er es sich in den Tagen seiner Hilflosigkeit
3. Gewaltverzicht in der Bergpredigt
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vorgenommen hatte. Es ist absurd, einen deutschen oder österreichischen Juden dafür zu tadeln, dass er erlittenes Leid den Nazis heimzahlt. […] Doch diese Szene und vieles andere, was ich in Deutschland sah, haben mir eindringlich vor Augen geführt, dass die ganze Vorstellung von Vergeltung und Bestrafung eine kindische Traumvorstellung ist. Streng genommen gibt es so etwas wie Vergeltung oder Rache gar nicht. Rache ist eine Handlung, die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist; sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache. Wer wäre nicht 1940 bei dem Gedanken, SS-Offizieren mit Füssen getreten und erniedrigt zu sehen, vor Freude in die Luft gesprungen? Doch wenn dieses Handeln möglich wird, erscheint es einem nur noch pathetisch und widerlich.»117
5. Dem Gefühl der «moralischen» Überlastung angesichts der Worte Jesu kommt in der Bergpredigt an zentraler Stelle das Gebet zum Vater zu Hilfe (Mt 6,5–15). Ebenso wichtig ist die Beschäftigung mit den Grundwerten der Seligpreisungen (Mt 5,3–12). Einen hilfreichen pragmatischen Ratschlag bietet die dem Mt-Evangelium sehr nahe Didache (oder «Lehre der zwölf Apostel») gegen Ende des 1. Jhs.: «Sieh zu, dass dich niemand von diesem Weg der Lehre abführt, indem er dich fernab von Gott lehrt. Denn wenn du das ganze Joch des Herrn tragen kannst, dann wirst du vollkommen sein. Kannst du das aber nicht, dann tue, was du kannst.» (Did 6,1–2)
Literatur
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218
D.V. Versöhnung statt Gewalt
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MM V. V ERSÖHNUNG
STATT
G EWALT
1. Jakob und Esau. Annäherungen an eine biblische Versöhnungsgeschichte Versöhnung118 Eine zerbrochene Beziehung, Streit in der Familie, Hass, Gewalt, Verletzungen, Trennung für immer. Für fast immer. Nach Jahren der Fremde, des Abstandes und der Distanz: Rückkehr.
118
Von Sara Kipfer im Oktober 2003 in Anlehnung an Gen 33 geschaffener Text.
1. Jakob und Esau
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Aus dem Flüchtlingslager zurück in die Heimat aus der man vertrieben wurde, zurück zur Familie zurück zu einer Umarmung. Ein schwieriger Weg, ein mühsamer, nicht ohne erneute Verletzungen sich den alten aussetzen, sich noch einmal erinnern, was war, wie es war. Und sich tief zur Erde beugen, vor dem anderen um aufzustehen, aufeinander zu zu gehen, um endlich wieder ganz neu zu beginnen.
1.1. Rembrandts Darstellung der Versöhnung von Jakob und Esau
Rembrandt, Die Versöhnung von Jakob und Esau, Rohrfederzeichnung mit Bister; von späterer Hand beschriftet: Rembrandt f., 208 x 303mm. Um 1655.
Eine Truppe bewaffneter Männer und eine von der Reise erschöpfte Menge von Frauen, Kindern, Knechten und Mägden mit Kamelen, Schafen und
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D.V. Versöhnung statt Gewalt
Ziegen, Hausrat und vielem mehr stehen sich gegenüber. Jakob und Esau, die beiden zerstrittenen Brüder, begegnen sich nach Jahren der Trennung. Was wird folgen: Rache oder Versöhnung? Genau dieses entscheidende Moment, den Stimmungsumschwung in Esau, die Wende zur zärtlichen Begrüssung, hat Rembrandt um 1655 in einer Rohrfederzeichnung dargestellt. Klar und prägnant lässt der Künstler in seiner schlichten Zeichnung die Bibel selber zu einem Thema sprechen, das ihm höchst aktuell erschienen sein mag (1648 endete der Dreissigjährige Krieg). Ganz schlicht ist die Darstellung. Da ist kein Engelheer, das Jakob zum Schutz vor seinem Bruder begleitet, wie eine jüdische Legende zu berichten weiss. Esau nähert sich dem Bruder auch nicht, um ihn totzubeissen (was ebenfalls eine jüdische Legende wissen will), sondern neigt sich leicht nach vorne, streckt ihm die Arme entgegen, um ihn aufzurichten. Hier findet die Versöhnung statt, die gegenseitige Zuwendung, die die Bibel beschreibt und die die Auslegungsgeschichte – in diesem Fall insbesondere die jüdische (s. unten) – kaum zu ertragen vermochte. «Tout est drame entre Dieu et lʼhomme, tel quʼil est révélé dans les textes sacrés et tel que lʼartiste lʼa vécu.» Diese Beschreibung von W.A. Visserʻt Hooft dürfte genau auf dieses Werk zutreffen. Unabhängig von jeglicher Tradition und von allen Symbolen wird der Betrachter oder die Betrachterin in biblische Zeiten zurückversetzt, mit hineingezogen in die Geschichte einer Familie und in die Geschichte zweier Völker. Alle Gestalten auf dem Bild wenden sich der Mitte zu. Auf dem Gesicht der Frau, die auf dem Kamel sitzt, lässt sich die Rührung über das Geschehen ebenso erkennen wie bei den drei Männern neben und hinter ihr. Etwas angespannt bleibt die Situation allemal noch, scheinen doch die Krieger im Hintergrund ihre Waffen noch nicht abgelegt zu haben. Aber bevor ein Wort fällt, kommt es zur eigentlichen Versöhnung, beugt sich der eine in tiefer Anerkennung seiner Schuld zur Erde, geht ihm der andere entgegen, richtet einer den andern auf. Esau umarmt Jakob, küsst ihn: «Und sie weinten» (Gen 33,4b). Literatur
C. TÜMPEL, Rembrandt legt die Bibel aus. Zeichnungen und Radierungen aus dem Kupferstichkabinett der Staatlichen Museen, Preussischer Kulturbesitz Berlin, Berlin 1970. – H.M. VON ERFFA, Ikonologie der Genesis; Bd. 2, München / Berlin 1995. – W.A. VISSERʻT HOOFT, Rembrandt et la Bible, Neuchâtel / Paris 1947.
Abbildung
© bpk Berlin / Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin. Foto: J. P. Anders.
SK
1. Jakob und Esau
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1.2. Historisch-kritische Auslegung von Gen 33,1–17 V. 1–3: Soeben hat Jakob einen schweren Kampf überstanden. Ein Fremder – war es Gott? – hat ihn des Nachts während einer Flussüberquerung überfallen. Jakob hat standgehalten, aber eine Verletzung davongetragen. Und nun folgt die gefürchtete Begegnung mit dem Bruder Esau. Was ihm seine Boten berichtet hatten und was ihn in grosse Angst versetzt hatte (32,7f), sieht er jetzt leibhaftig vor sich: Esau mit vierhundert Mann. Das könnte für Jakob und die Seinen den Tod bedeuten! Was er jetzt tut, ist ein fast verzweifelter Versuch der Schadensbegrenzung. Er stellt die Frauen und Kinder so auf, dass Esau zunächst auf die beiden Mägde und ihre Kinder, dann auf Lea und ihre Kinder und erst zuletzt auf Rahel und Josef trifft. Offenbar fürchtet Jakob bis jetzt, dass Esau ihm feindlich gesonnen sei. Als sie sich endlich gegenüberstehen, signalisiert er äusserste Unterwürfigkeit: Siebenmal wirft er sich zur Erde, und er hält auch Frauen und Kinder zu dieser Demutsgebärde an (V. 6f). V. 4–5: Die Versöhnungsszene selber lässt sich an Dramatik nicht steigern. Esau begrüsst den heimkehrenden Bruder auf völlig unerwartete Weise. Mit grosser Liebenswürdigkeit, Natürlichkeit und Herzlichkeit empfängt er Jakob als den Bruder, der nach langer Trennung endlich zurückkehrt. «Esau aber lief ihm entgegen, umarmte ihn und fiel ihm um den Hals und küsste ihn, und sie weinten» (V. 4). An kaum einer anderen Stelle des Alten Testaments wird von einer so herzlichen und intensiven Begrüssung erzählt wie hier. Der Beginn von V. 5 erinnert an V. 1. Dort hat Jakob seine «Augen erhoben» (und den vermeintlichen Feind entdeckt), diesmal erhebt Esau seine Augen – und entdeckt (jetzt erst!) die Familie Jakobs. Mit Blick auf die Frauen und Kinder fragt Esau: «Wer sind diese bei dir?» Jakob antwortet: «Es sind die Kinder, die Gott deinem Knecht aus Gnaden geschenkt hat.» Der Satz erhält sein Gewicht durch das Verb ©nn («begnaden»). Mit diesen Kindern, sagt Jakob, hat Gott mich «begnadigt», sie sind ihm Zeichen dafür, dass Gott seine Schuld vergeben hat. V. 6–7: Bei der Aufzählung der Familienglieder, die Esau Ehre erweisen, fällt die Erwähnung Josefs vor Rahel auf. Einige der alten Übersetzungen haben die beiden Namen ausgetauscht, um die erwartete Ordnung herzustellen. In jüdischen Auslegungen wird gelegentlich tiefsinnig über die Voranstellung Josefs nachgedacht. Es wird zum Beispiel gesagt, dass sich der kleine Josef tapfer vor seine schöne Mutter gestellt habe, um sie vor Esau zu schützen. Ein moderner Ausleger denkt, der Erzähler wolle gerade den Vorrang Rahels betonen; sie sei für Jakob das höchste Gut, darum trete sie als letzte vor (den vermeintlich gefährlichen) Esau. V. 8–11: Nach der Begrüssungsszene folgt die Verhandlung um das Geschenk Jakobs. Für Jakob hängt an der Annahme des Geschenks seine eigene Annahme durch den Bruder. Zudem will er dem einst Betrogenen (Gen 27) etwas von dem verlorenen Segen zurückgeben. Insofern ist es beunruhigend,
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D.V. Versöhnung statt Gewalt
dass Esau das Geschenk nicht annehmen will (V. 9). Als Jakob aber nicht nachgibt, willigt Esau ein (V. 11). Durch die Annahme des Geschenks wird der Konflikt endgültig «geregelt». In seinem Bemühen, Esau zu überreden, nennt Jakob ihn seinen «Herrn» (V. 8.13.14) und sich seinen «Knecht» (V. 14), ja, er vergleicht gar Esau mit Gott (V. 10). Esau spricht ihn schlicht mit «Bruder» an (V. 9). Seine knappe Antwort ist bezeichnend für ihn. Offenbar war der Verlust des Erstgeburtssegens für ihn nicht tragisch, er wurde auch ohne ihn gross und mächtig. V. 12–15: Nun lädt Esau Jakob ein, mit ihm gemeinsam weiterzuziehen. Er will Jakob vorangehen – als schützende Vorhut, gewissermassen – und verliert damit alles Bedrohliche. Wäre es nicht das Natürlichste, Jakob ginge mit? Er tut es nicht. Denn zöge er mit Esau, hätte er, gerade ins Land seiner Verwandtschaft (31,13) zurückgekehrt, dieses auch schon (halb) wieder verloren. Auf der anderen Seite könnte die Verweigerung warmer Gastfreundschaft – gar im Orient – als Brüskierung aufgefasst werden. So versucht Jakob wortreich, der verzwickten Situation eine auch für Esau akzeptable Alternative abzugewinnen. Er betont seine Verantwortung für Kinder und Tiere und die Unbeweglichkeit der Karawane, ja er schreckt auch vor der falschen Ankündigung nicht zurück, Esau nach Seïr folgen zu wollen; von einer Einlösung dieses Versprechens weiss die Überlieferung nichts. Haben wir hier doch wieder den alten, unaufrichtigen Jakob vor uns? Esau gibt sich grosszügig, indem er auf Jakobs Bedenken eingeht, doch er besteht darauf, ihm eine Eskorte als Begleitschutz zu stellen. Jakob lehnt mit der Begründung ab, dass sie für seinen Hirtenzug ein Fremdkörper wäre. Ihm liegt offenbar nur daran, von seinem Bruder akzeptiert zu sein – und ihn nun endlich wieder los zu werden. V. 16–17: Hier trennen sich die Wege der Brüder. Esau macht sich auf den Weg nach Seïr. Damit entschwindet er aus den Jakoberzählungen. Seine Geschichte bzw. die seiner Nachkommen wird in den Genealogien von Gen 36 knapp abgeschlossen. Jakob macht sich auf den Weg ins Westjordanland. (Seïr liegt demgegenüber im südlichen Ostjordanland.) In Sukkot baut er sich ein Haus und für das Vieh Hütten (hebr. sukkot – eine Ortsnamenserklärung). Damit ist der Weg zu Ende. Der bisher Umherwandernde lässt sich in einer festen Siedlung nieder. Die Ureltern Israels gehen vom nomadischen zum sesshaften Leben über. 1.3. Frühjüdische Auslegungen von Gen 33 Das Esau-Bild unserer Erzählung ist ambivalent. Einerseits erscheint Jakobs Bruder unerwartet versöhnungsbereit und grosszügig. Andererseits ist zu spüren, wie sehr sich Jakob vor ihm fürchtet und in Acht nimmt. Esau ist nach biblischer Auffassung der Stammvater der Edomiter, eines Nachbarvolkes im Südosten und Süden Judas, zu dem im Verlauf der israelitischen und judäischen Geschichte ein überwiegend angespanntes Verhältnis bestand. Rechnen die
1. Jakob und Esau
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Jakobgeschichten immerhin mit der Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz mit Esau (freilich bei Sicherung der räumlichen Trennung!), so sind die meisten biblischen Überlieferungen über Edom viel kritischer, ja bissiger gegen den Nachbarn. Man hat wechselseitig schlechte Erfahrungen gemacht. Ab der Exilszeit (6. Jahrhundert) avanciert Edom geradezu zum Hauptfeind Judas, mit der Zeit gar zur Chiffre für alle Feindseligkeit, die den Juden entgegentritt (z.B. in Gestalt des mächtigen Rom). Dies muss man im Kopf behalten, wenn man die Auslegungsgeschichte unseres Textes im antiken Judentum in den Blick nimmt. Kennzeichnend für die rabbinischen Ausdeutungen der Geschichte von Jakobs Versöhnung mit seinem Bruder ist der immer wieder begegnende Ausdruck «Esau der Frevler», der in der Bibel so nicht vorkommt. Es handelt sich hierbei um die typologische Darstellung der Weltmacht Rom, die im rabbinischen Geschichtsbild in fast vollkommen negativem Licht erscheint. Diese (insgesamt ja begreifliche und bedenkenswerte) Sicht färbt auf die Interpretation der biblischen Erzählung ab. Nach einer jüdischen Legende soll Laban nach seiner eigenen Trennung von Jakob (Gen 31) seinen Sohn Beor zu Esau geschickt haben mit der Nachricht, Jakob habe ihn heimlich verlassen, dabei seine Töchter entführt und ihm seine Herden und Götter gestohlen. Klar, dass eine solche Botschaft Esaus alten Hass gegen den Bruder schüren muss. So versammelt er vierhundert Bewaffnete, um dem Bruder entgegenzuziehen, ihn zu töten und ihm seinen ganzen Besitz abzunehmen. Was er nicht weiss, ist, dass Jakob seit seinem Weggang von Laban stets im Schutz von Engeln gereist ist. Beim Treffen der Brüder dann sei Esau auf Jakob zugegangen – nicht um ihn zu küssen, sondern um ihn totzubeissen; Jakobs Hals indes sei hart gewesen wie Elfenbein (vgl. Hld 7,5), woraufhin Esau von seiner Tötungsabsicht abgelassen habe – zumal Jakob ihm zuvor mehrfach angedeutet hatte, wie gut er mit Engeln stünde … Eine andere Überlieferung will wissen, Esau habe sich, als Jakob von Mesopotamien nach Kanaan gekommen sei, wutentbrannt vom Gebirge Seïr aufgemacht mit dem Vorsatz, ihn zu töten, unterstrichen durch den Psalmvers: «Der Frevler plant Böses gegen den Gerechten; er fletscht gegen ihn die Zähne» (Ps 37,12). In der Genesis Rabba (75,12) werden die vierhundert Männer Esaus (Gen 32,7) zu vierhundert mit Kronen versehenen Königen, zu vierhundert Eparchen oder vierhundert Armeekorps aufgewertet, die als geballte Militärmacht (gedacht ist unverkennbar an die römischen Legionen) dem wehrlosen Jakob mit seinen Frauen, Kindern und Tieren (gemeint ist das machtlose, kleine Juda) entgegenziehen. In nachalttestamentlicher Zeit wollte man sich auch mit dem Ausklang der Esaugeschichten in dem Abzug nach Seïr und dem Stammbaum Gen 36 nicht zufrieden geben. Das Jubiläenbuch (2. / 1. Jh. v. Chr.) weiss über das weitere Schicksal Esaus Dinge, für die es im Bibeltext keinerlei Anhaltspunkte gibt.
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D.V. Versöhnung statt Gewalt
Danach soll Isaak, bevor er starb, seine beiden Söhne zu sich gerufen haben, um von ihnen die Zusage zu bekommen, dass sie untereinander Frieden hielten. Die Besitzverteilung nimmt er so vor, dass Esau als Erstgeborener den grösseren Teil bekommt. Er muss nur zweierlei versprechen: dass er keinen Anspruch auf das Verheissene Land und die Höhle Machpela (das Erbbegräbnis bei Hebron) erhebt, und dass er mit seiner ganzen Familie und all seiner Habe das Land Kanaan verlässt und in das Gebirge Seïr zieht. Esau geht darauf ein und erhält zum Lohn hundert Provinzen (!) in Seïr. Nach einiger Zeit machen Esaus Söhne dem Vater Vorwürfe, dass er das fruchtbare Land Kanaan an Jakob abgetreten habe, und fordern ihn auf, gegen Jakobs Söhne ins Feld zu ziehen. Esau lässt sich umstimmen, und so ziehen sie mit je 1000 Mann Hilfstruppen aus Moab, Ammon, Aram und dem Philisterland (die anderen näheren Nachbarn Judas) gegen Jakobs «Turm» in Hebron. Jakob erinnert Esau an seinen Eid, doch stattdessen greifen Esaus zwölf Söhne mit Truppen an. Nach einem Gebet Judas an Gott um Hilfe wird der Feind in die Flucht geschlagen, Esau aber von einem Pfeil Jakobs in die Brust getroffen, so dass er stirbt. Darauf begräbt ihn Jakob «auf einem Hügel, der in Aduram ist». Die Söhne Esaus werden bis ins Gebirge Seïr verfolgt und müssen sich den Jakobsöhnen unterwerfen, was in einem Friedensschluss besiegelt wird. Die rabbinischen Überlieferungen zeichnen von Esau ein Bild tiefen Misstrauens. «Die vom Altertum bis zum Mittelalter unverändert weitergetragenen Traditionen zeigen ganz deutlich, dass hier von Versöhnung nicht mehr die Rede ist, sondern eine unversöhnliche, von Hass erfüllte Haltung an ihre Stelle getreten ist.»119 Nur gilt es eben zu bedenken, dass die frühjüdischen Ausleger in die Jakob-Esau-Geschichte ihre Erfahrungen mit feindseligen Brüdern bzw. fremden Herrschern eingetragen haben. Auf diesem Weg verloren sie freilich das Versöhnliche, das in der biblischen Erzählung steckt, aus dem Blick. Es wäre nun vollkommen unsachgemäss, auf die Einschwärzung des Esau-Bildes mit einer Einschwärzung des Jakob-Bildes zu antworten («die unversöhnlichen Juden»: das ist ein altes antijudaistisches Stereotyp). Eher könnte man versuchen, anhand der Aussöhnung zwischen Jakob und Esau über die Versöhnung zweier Bruderreligionen, der jüdischen und der christlichen, nachzudenken – wenn dabei nicht den Juden ihr Stammvater Jakob weggenommen wird. So mag es am sinnvollsten sein, Gen 33,1–17 als bleibendes Beispiel für grundlegende anthropologische Vorgänge zu sehen. Dem wahrhaft immer aktuellen Thema «Streit und Versöhnung» lässt sich noch eine besondere Seite abgewinnen, wenn man es im Gefolge der Tiefenpsychologie nicht nur zwischen verschiedenen Menschen oder Gruppen, sondern in sich selbst stattfinden sieht. Dem gelten unsere abschliessenden Überlegungen. 119
Butterweck, Biblische Notizen, 19.
1. Jakob und Esau
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1.4. Tiefenpsychologische Betrachtung des Textes Tiefenpsychologisch gesehen, bildet sich in der Jakob-Esau-Geschichte nicht so sehr ein Streit zwischen zwei verschiedenen Individuen ab als vielmehr ein Kampf in Jakobs Innerem. Esau ist nicht ein anderer, sondern ein Teil von Jakobs Selbst, sein «Schatten» gewissermassen. Es sind die eigenen, unterentwickelten Seelenanteile, die in das Bild des Bruders ausgelagert werden. In Gen 25,27 heisst es von den beiden Brüdern: «Und die Jungen wuchsen heran. Esau wurde ein jagdkundiger Mann, ein Mann des (freien) Feldes; Jakob aber war ein gesitteter Mann, der bei den Zelten blieb.» Esau, «ganz und gar wie ein haariger Mantel» (25,25), verkörpert das Natürliche, ja Animalische. Damit steht er für den Seelenanteil, den wir zu verdrängen geneigt sind. «Aber von Anfang an ist er da …, er ist sogar der Erstgeborene. Und es wäre notwendig, sich ihm unterzuordnen, zumindest ihn gelten zu lassen. Aber Jakob nimmt ihm sein Erstgeburtsrecht. Das Natürliche in uns hat natürliche Bedürfnisse. Esau geht es um einen Teller Linsen. Sie sind vom andern Teil der Seele, vom Geistigen, relativ leicht zu übertölpeln. Freilich sind die übertölpelten Seelenanteile wie schlafende Hunde.»120 Das Erschleichen des Erstgeburtsrechts bedeutet, «dass das zum Bewusstsein erstarkte Ich nun die Führung der Gesamtperson übernimmt.»121 Das geschieht zunächst unweigerlich auf Kosten der harmonischen Einheit der Person. Die triebhaften Teile, die bisher dominierten und unbewusst in guter Naturordnung funktionierten, werden entwertet, entmachtet, und das heisst in der Sprache moderner Psychologie: sie werden verdrängt. Wenn dann aber die «schlafenden Hunde» wach werden, sinnen sie auf Rache. Im Wunsch Esaus, Jakob zu erwürgen, äussert sich «die Situation des inneren Konflikts, in der sich Menschen nach der Geburt ihres Ichs, der Erstarkung ihres Bewusstseins, befinden: Sie geraten in den Zustand einer gefährlichen inneren Unausgeglichenheit, sie wehren alle Möglichkeiten, die ihr schwaches Ich verletzen können, ab und geraten bei all ihrem Abschirmen doch immer mehr in die Gefahr, von ihrem eigenen Unbewussten überflutet zu werden und damit in den undifferenzierten Urzustand der Bewusstlosigkeit zurückgeschwemmt zu werden. Das ist in der Mordabsicht Esaus ausgedrückt.»122 In Jakobs Flucht vor Esau spiegelt sich die vertiefte Abspaltung des Ich vom Unbewussten. Vorübergehend bewirkt dies eine Erstarkung des Ich, auch wenn es letztlich nicht die Lösung des Problems ist; es ist einfach «ein Gebot der Selbsterhaltung, dass das geschieht»123. Darum ist es in unserer Geschichte die Mutter Rebekka (als Inbegriff sicherer Instinkte), die dem Sohn Jakob rät, von zu Hause 120
Kühlewein, Gotteserfahrung, 117. Meves, Bibel, 62. 122 Meves, Bibel, 63. 123 Meves, Bibel, 63. 121
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wegzugehen, um den Würgegelüsten seines Bruders zu entkommen. In den nachfolgenden Erzählungen (Gen 29–31) sieht man, wie Jakobs Ich nach und nach erstarkt: Zuerst noch Knecht beim Onkel Laban, gewinnt er Frauen, Kinder, Herden. Dies ist Sinnbild einer reichen Ausdifferenzierung der Seele, eines Zuwachses an Erfahrung, Wissen und Einsicht. Am Ende sehen wir einen selbstbewussten Jakob, der sich aus Labans Einflussbereich lösen kann. Just an dem Punkt nun, wo das bewusste Ich auf dem Höhepunkt angelangt ist, beginnt der Rückweg. Nach allem, was wir wissen, geschieht dies in der zweiten Lebenshälfte. «Ein Weiter kann es eben jetzt nur geben in der Aussöhnung mit dem eigenen, verdrängten, abgespaltenen Unbewussten.»124 Jetzt muss es zur Begegnung und Versöhnung mit Esau, dem eigenen Schattenanteil, kommen. «Jakobs Bereitschaft, Esau einen so grossen Teil seines Reichtums zu schenken, kennzeichnet in typischer Weise den Initialvorgang zum Individuationsprozess, wie C.G. Jung ihn uns bewusst gemacht hat: Auf dieser Stufe muss der Mensch seine profanen Bemächtigungswünsche zugunsten einer Versöhnung mit dem Unbekannten einschränken. Die Opferung, bewusste Reduzierung an äusserer Machtfülle ist die Voraussetzung zu einer innerseelischen Ergänzung und Ausreifung der Person, eine Aufgabe, die auch heute noch in jedem von uns eine Angelegenheit der zweiten Lebenshälfte darstellt.»125 Nicht zufällig ist die Erzählung von der so entscheidenden Aussöhnung mit Esau (Gen 32–33) in der Mitte unterbrochen durch die Erzählung von Jakobs schmerzhafter, aber doch weiterführender Gottesbegegnung am Jabbok. Daraus wird deutlich, wie eng Selbsterfahrung und Gotteserfahrung, Lebenserfahrung und Glaubenserfahrung miteinander verflochten sind. Literatur
E. BLUM, Die Wege trennen sich (Gen 33,12–20), in: J.-D. MACCHI / T. RÖMER (Hrsg.), Jacob. Ein mehrstimmiger Kommentar zu Gen 25–36, FS A. de Pury, Genève 2001, 227–238. – H.J. BOECKER, 1. Mose 25,12–37,1. Isaak und Jakob, Zürich 1992 (ZBK. AT 1,3). – A. BUTTERWECK, Die Begegnung zwischen Esau und Jakob im Spiegel rabbinischer Ausdeutungen, in: BN 116 (2003), 15–27. – F. CRÜSEMANN, Herrschaft, Schuld und Versöhnung. Der Beitrag der Jakobgeschichte der Genesis zur politischen Ethik, in: Ders., Kanon und Sozialgeschichte, Gütersloh 2003 (BAT), 80–87. – H.M. ERFFA, Ikonologie der Genesis, Bd. 2, Berlin 1995, 356–359. – B. JACO, Das erste Buch der Tora. Genesis, Berlin 1934. – J. KÜHLEWEIN, Gotteserfahrung und Reifungsgeschichte in der Jakob-Esau-Erzählung. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Theologie und Tiefenpsychologie, in: R. Albertz u.a. (Hrsg.), Werden und Wirken des Alten Testaments, FS C. Westermann, Göttingen / Neukirchen-Vluyn 1980, 116–130. – C. LEVIN, Der Jahwist, Göttingen 1993 (FRLANT 157). – C. MEVES, Die Bibel antwortet uns in Bildern. Tiefenpsychologische Textdeutungen im Hinblick auf Lebensfragen heute, Freiburg 1979. – K. SCHMID, Die Versöhnung zwischen Jakob und 124 125
Kühlewein, Gotteserfahrung, 118. Meves, Bibel, 65.
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Esau (Gen 33,1–11), in: J.-D. MACCHI / T. RÖMER (Hrsg.), Jacob, ein mehrstimmiger Kommentar zu Gen 25–36, FS A. de Pury, Genève 2001, 211–226. – C. WESTERMANN, Genesis, Neukirchen-Vluyn 1974 (BK I/1). – C. WESTERMANN, Am Anfang. 1. Mose, Neukirchen-Vluyn, 1986.
BA 2. Die Josefsgeschichte als Modell für Versöhnung 2.1. Die Josefs-Novelle und ihre Ergänzungsschicht: Eine Paraphrase. Es soll zunächst der Inhalt der biblischen Josefsgeschichte (Gen 37–50) in Erinnerung gerufen werden. Wir tun das in einer knappen Paraphrase, die zugleich das literarische Werden dieses Textabschnitts vor Augen stellt. Nach der hier zugrunde gelegten Hypothese126 ist die Josefserzählung nicht in einem Zuge niedergeschrieben worden, sondern im Wesentlichen auf zwei Stufen entstanden. Zuerst wurde die «Josefs-Novelle» geschrieben, die etwa die Hälfte des jetzigen Textbestandes umfasste; diese wurde später in einer Art erweiterter Neuausgabe zu einer Josefs-«Geschichtsschreibung» umgestaltet. Die ältere Version spiegelt noch nordisraelitische Tradition wider (das Nordreich Israel, mit «Josef» als Haupt-«Stamm», existierte bis ins späte 8. Jahrhundert v. Chr.), die jüngere passt die Überlieferung an judäische Bedürfnisse an (das Südreich Juda überlebte den Fall des Nordreichs um anderthalb Jahrhunderte, und Juda blieb bis in die Spätzeit des Alten Testaments Gravitationszentrum judäisch-jüdischer Traditionsbildung). Die «Novelle» war noch ein eigenständiges literarisches Kunstwerk, das auf der Stufe der «Geschichtsschreibung» in die biblische Geschichtserzählung (auf der einen Seite die Erzeltern-, auf der anderen die Mosegeschichten) eingebunden wurde. In der angenommenen Textstufung zeigt sich also einerseits der Übergang des Traditionsschwerpunkts vom Norden auf den Süden, andererseits die fortschreitende Anreicherung des biblischen Erzählstoffs. Die folgende knappe Nacherzählung bietet den Inhalt der postulierten «Novelle» in Normalschrift, die vermuteten Erweiterungen zur «Geschichtsschreibung» in Kursivschrift. In den Fussnoten wird die jeweilige Aufteilung des biblischen Textes nachgewiesen. Kapitel 37: Jakob lebt in Kanaan mit seiner Sippe. Josef ist siebzehn Jahre alt und weidet mit seinen Brüdern die Kleinviehherde. Josef wird von seinem Vater bevorzugt, was die Eifersucht der Brüder zunehmen lässt. Ihm allein macht Jakob einen bunten Rock. Josef erzählt zwei Träume, die die Brüder erzürnen und den Vater beunruhigen. Josefs Träume lassen die Eifersucht seiner Brüder wachsen. 126
Walter Dietrich, Die Josephserzählung als Novelle und Geschichtsschreibung, Neukirchen-Vluyn 1989 (BThSt 14).
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D.V. Versöhnung statt Gewalt Eines Tages schickt der Vater127 Josef zu den Brüdern, welche das Vieh bei Sichem weiden. Die Brüder wollen die Gelegenheit nutzen und ihn töten, Ruben jedoch rät zur Mässigung und sucht ihn zu retten. Die Brüder ziehen Josef seinen Rock aus, den sein Vater ihm gemacht hat, werfen ihn in eine (leere) Zisterne und setzen sich danach zum Essen nieder. Ismaelitische Kaufleute kommen vorüber. Juda schlägt vor, den Bruder an die Karawane zu verkaufen. Midianitische Kaufleute kommen vorbei und ziehen Josef aus der Zisterne herauf. Die Brüder verkaufen Josef an die Ismaeliter. Die Karawane nimmt Josef mit nach Ägypten. Ruben kehrt zur Zisterne zurück, findet sie leer und meldet dies entsetzt den Brüdern. Diese fassen einen Entschluss: Durch den mit Tierblut beschmierten Rock Josefs täuschen sie dem Vater einen Unglücksfall vor. Jakob glaubt die Geschichte und verfällt in ausweglose Trauer. Die Midianiter verkaufen Josef an einen Ägypter128, den Obersten der Leibwache Pharaos129. Kapitel 39: Potifar, der oberste Kämmerer des Pharao, kauft Josef der Karawane ab. Bald schon wird Josef, dem alles glückt, «weil Jhwh mit ihm ist», als Haus- und Vermögensverwalter eingesetzt. Immer mehr Verantwortungsbereiche werden ihm übergeben, Potifar zieht sich beinahe ganz aus dem Geschäftsleben zurück. Potifars Frau indessen (sie bleibt namenlos in dieser Geschichte) versucht mehrfach, Josef zu verführen. Josef entsinnt sich seines Arbeitgebers und dessen Grosszügigkeit und verweigert sich der Frau. Eines Tages kommt es zu Handgreiflichkeiten zwischen ihnen, wobei ein Kleidungsstück von Josef in ihren Händen bleibt, welches sie als Beweisstück für eine angeblich versuchte Vergewaltigung benutzt. Potifar lässt daraufhin Josef verhaften. Im Gefängnis gewinnt Josef bald eine Sonderposition und wird zum Gehilfen des Gefängnisvorstehers und übernimmt bald voll dessen Aufgaben130. Kapitel 40: Der Mundschenk des Königs und der Bäcker «versündigen» sich an dem König (auf welche Weise, wird nicht explizit erwähnt). Der Pharao lässt den Obersten der Mundschenken und den Obersten der Bäcker in Untersuchungshaft bringen, es ist dasselbe Gefängnis, in welchem Josef sich befindet. Der Oberste der Leibwache bestimmt Josef zu deren persönlichem Diener. Beide träumen in derselben Nacht einen ihnen unverständlichen Traum, jeder Traum hat seine eigene Bedeutung, welche Josef zu ermitteln vermag: Den Traum des Mundschenken deutet er auf seine bevorstehende Rehabilitierung, den des Bäckers auf seine Liquidierung. Josef bittet den Schenk, dass er seiner gedenken möge, wenn sich seine Deutung bewahrheiten sollte. Beide Traumdeutungen treffen ein. Doch der Schenk vergisst Josef, nachdem er wieder in Amt und Würden eingesetzt worden ist131. Der Pharao hat ebenfalls
127
Das Subjekt fehlt in V. 14, ist aber vom Kontext her klar. Der Name Potifar wird hier zugesetzt sein – vielleicht auch in 39,1, weil er im Folgenden nie mehr vorkommt; möglicherweise stammt er aus 41,45. 129 Ursprüngliche Novelle: 37,*1f.5a.6–8a.9–12.14a.15–23abα.24.*25aα.28aα.29–31. *32.33.36 – Ergänzungsschicht: 37,3f.5b.8b.13.14b.*25.26f.28aαb.*32aα. 130 Ergänzungssschicht: 39,1–23. 131 Novelle: 40,2.3a.4.5a.6–13.16–22. – Ergänzungsschicht: 40,1.3b.5b.14f.23. 128
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zwei Träume. Seine Traumdeuter können sie nicht deuten. Der Obermundschenk entsinnt sich Josefs. Der Pharao lässt nach dem gefangenen Josef rufen. Dieser wechselt seine Kleider, lässt sich scheren und tritt vor den Pharao. Pharao erzählt ihm die Träume, und Josef deutet sie auf sieben Jahre Überfluss und sieben Jahre Mangel. Er schlägt eine staatliche Kollektivversicherung vor. Der Pharao setzt ihn als deren Organisator ein: Er ist überzeugt, dass Josef ein «Sprachrohr» Gottes ist und lässt ihn fortan bei allen wichtigen Entscheidungen mitberaten; ohne Josefs Willen «soll niemand seine Hand oder seinen Fuss regen in ganz Ägyptenland». Josef erhält vom Pharao einen neuen Namen (Zafenat-Paneach) sowie Asenat, die Tochter des Priesters Potiferas, zur Frau. In den guten Jahren speichert Josef Vorräte, so dass in den schlechten genug zu essen da ist und sogar ins Ausland verkauft werden kann132. Mit Asenat hat Josef zwei Söhne, noch bevor die von ihm prophezeite Hungerzeit anbricht: Manasse und Ephraim133. Kapitel 42: Auf Jakobs Geheiss ziehen zehn Söhne nach Ägypten, um Getreide zu kaufen. Sie treffen auf Josef: Dieser erkennt sie, sie ihn nicht. Er verdächtigt sie der Spionage, inhaftiert sie zuerst alle, behält dann Schimon allein in Haft und verlangt zu dessen Auslösung und als Nachweis ihrer Ehrlichkeit das Herbringen ihres jüngsten Bruders. Die restlichen neun Brüder ziehen nach Hause. Josef lässt seinen heimkehrenden Brüdern das Geld für das erstandene Getreide in die Getreidesäcke zurücklegen, ebenso lässt er ihnen Wegzehrung mitgeben. Als die Brüder unterwegs in ihren Beuteln das Geld entdecken, erschrecken sie sehr. Zuhause berichten sie Jakob alles, doch der weigert sich trotz Rubens Garantieerklärung, ihnen Benjamin mitzugeben134. Kapitel 43: Der Hunger zwingt Jakob zum Handeln: Es muss Getreide gekauft werden. Nach einem langen Disput mit seinen Söhnen lenkt er ein, nachdem Juda sich persönlich als Bürge für Benjamin angeboten hat. Jakob schickt seine zehn Söhne mit Segenswünschen auf den Weg. Er heisst sie das Geld, welches bei ihrer Heimkehr in den Säcken wiedergefunden wurde, unbedingt mitzunehmen, denn «vielleicht war es ein Irrtum». Josef lässt die Brüder in sein Haus bringen, gibt sich ihnen gegenüber freundlich und bewirtet sie grosszügig: Er scheint sich mit den Brüdern zu versöhnen135. Die Brüder jedoch sind misstrauisch und fürchten, 132
Der Begriff õwr, der erstmals in 41,57 und danach immer wieder begegnet, bezeichnet stets den Handel mit Ausländern; für Ägypten wird einfach festgestellt: «im ganzen Land war Brot» (41,54); die Landeskinder konnten jetzt – offenbar kostenlos – von dem zuvor Angesammelten leben. 133 Novelle: 41,1–14aα.15–38.41–43.47–49.53f.57 – Ergänzungsschicht: 41,14ab.39f. 44f.50–52.55. 134 Novelle: 42,1–24.*25aα.29–34.36–38 – Ergänzungsschicht: 42,*25.26–28.35. 135 Dieser «Trugschluss» in 43,32–34 ist kompositorisch mit das Grossartigste in der Novelle: Der Spionageverdacht ist ausgeräumt, die Geisel Schimon freigelassen, man isst und trinkt, alles scheint wieder in Ordnung. Nach dieser freundlichen Fermate wirkt Josefs Intrige von 44,1 doppelt unvermittelt, geradezu grausam. Aber noch ist die Schuld nicht gesühnt, noch sind die Träume von Gen 37 nicht erfüllt – dies wird erst in Gen 44 (eben infolge der von Josef inszenierten Intrige!) der Fall sein.
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D.V. Versöhnung statt Gewalt dass er sie alle gefangen nehmen werde als Strafe dafür, dass sie damals das Geld wieder nach Hause gebracht hatten. Sie erklären dem Hausverwalter Josefs den Irrtum, worauf er sie beruhigt: Das Geld sei ein Geschenk von ihrem Gott gewesen, er selber jedoch habe den Betrag für das Getreide erhalten. Josef begrüsst seine Brüder herzlich. Als er Benjamin sieht, eilt er in seine Kammer, um zu weinen. Danach empfängt er sie mit einem grossen Gastmahl, wobei er Benjamin besondere Aufmerksamkeit zukommen lässt136. Kapitel 44: Josef lässt seinen Brüdern Getreide mitgeben. Dazu lässt er ihnen das Kaufgeld oben in die Säcke legen; ausserdem kommt noch sein silberner Becher hinzu, welchen er in die Tasche Benjamins schmuggeln lässt. Die Brüder brechen auf, der Hausverwalter jagt ihnen nach und überführt Benjamin. Alle kehren zu Josef zurück, bekennen sich gemeinsam schuldig und bieten sich Josef als Sklaven an. Josef ist gewillt, die Brüder freizulassen, verlangt aber die Auslieferung Benjamins; daraufhin hält Juda eine Rede, in der er die Tragweite der Situation darlegt, da Jakob einen zweiten Verlust nicht überleben würde; Juda bietet sich selber als Gefangenen an anstelle Benjamins137. Kapitel 45: Josef kann nicht mehr an sich halten und gibt sich unter lautem Weinen seinen Brüdern zu erkennen. Er deutet ihnen sein Schicksal als von Gott gefügt und als Mittel zu ihrer aller Rettung; denn nur so konnte er seine Familie vor der Hungersnot schützen. Er fällt zuerst Benjamin, dann allen anderen weinend um den Hals. Er fordert seine Brüder auf, zusammen mit Jakob und der ganzen Sippe nach Ägypten zu kommen, um die folgenden fünf Jahre der Hungersnot in Sicherheit zu überleben. Auch der Pharao ist damit einverstanden. Nach ausgiebigem Gespräch entlässt er sie mit Reiseproviant und Getreide. Auch lässt er seinem Vater Geschenke und Esel schicken. Die Brüder kehren heim und berichten Jakob alles, was geschehen ist. Dieser kann es zuerst nicht glauben. Doch schliesslich wird «sein Geist wieder lebendig» und er beschliesst, zu reisen, um seinen Sohn noch einmal zu sehen138. Kapitel 46: Jakob bricht zusammen mit seiner gesamten Sippe auf nach Ägypten. Josef reist seinem Vater entgegen und fällt ihm weinend um den Hals. Jakob ist nun mit seinem Leben versöhnt und bereit zu sterben. Josef erklärt seinen Brüdern, dass er ihnen vorausreiten und den Pharao darauf vorbereiten will, dass sie alle Viehhirten seien, denn «alle Viehhirten sind den Ägyptern ein Gräuel»139. Kapitel 47: Jakob und seine Brüder werden dem Pharao vorgestellt. Der Pharao weist ihnen die beste Region des Landes zu. Jakob segnet den Pharao. Die Hungersnot im Land wird zusehends schlimmer, die Menschen haben bald kein
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Novelle: 43,1f.13–17a.23b.24.26–34 – Ergänzungsschicht: 43,3–12.*15a.17b–23a.25. Novelle: 44,1a.2aαb.3–7a.9–16 – Ergänzungsschicht: 44,1b.2aβ7b.8.17–34. 138 Novelle: 45,1.3.4a.5b–7.14f.21b–26.27aαb – Ergänzungsschicht: 45,2.4b.5a.8–13. 16–20a. *23bβ27aβ28. 139 Ergänzungsschicht: 46,5b–7.28–34. 137
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Geld mehr, um Getreide zu kaufen. Josef lässt sie zuerst ihr Vieh verkaufen, danach ihre Felder (mit Ausnahme der Priester, welche spezielle Verordnungen haben vom Pharao) und sich selbst, womit sie zu Leibeigenen des Pharaos werden. Auf diese Weise wird dem Pharao nach und nach das ganze Land zu eigen. Die Ägypter müssen als Leibeigene den fünften Teil ihrer Erträge dem Pharao abgeben. Jakob spürt, dass sein Sterben nahe ist, und bittet seinen Sohn Josef, ihn nicht in Ägypten, sondern bei seinen Vätern zu begraben. Josef schwört es ihm140. Kapitel 48: Josef bringt seine beiden Söhne Manasse und Ephraim vor Jakob, damit er sie segne. Jakob segnet die beiden, legt jedoch (die Arme verkreuzend) die rechte Hand auf den Zweitgeborenen Ephraim anstatt auf den Erstgeborenen Manasse. Josef, der denkt, Jakob sei wegen seiner Altersblindheit ein Irrtum unterlaufen, will eingreifen, doch Jakob besteht darauf, den Segen so zu erteilen, da es Ephraim bestimmt sei, ein grösseres Volk zu werden als Manasse141. Kapitel 49: Jakob stirbt, nachdem er alle seine Söhne gesegnet hat142. Kapitel 50: Nach Jakobs Tod wird zuerst in Ägypten eine grosse Totenklage gehalten. Danach machen sich Josef und seine gesamte Sippe zusammen auf, um Jakob im Land seiner Väter zu bestatten. Dort, jenseits des Jordan, wird noch einmal sieben Tage lang geklagt, bevor die Sippe wieder nach Ägypten zurückkehrt. Die Kanaaniter, die diese Klage beobachten, nennen den Ort seither «Der Ägypter Klage». Nach Josefs Rückkehr von der Bestattung fürchten die Brüder einen Racheakt Josefs und berufen sich auf Jakob, welcher ihnen Versöhnung geboten habe. Josef aber weint ein weiteres Mal und beruhigt seine Brüder, sich nicht zu ängstigen, da er nichts Böses im Sinn habe mit ihnen. Sie hätten zwar gegen ihn Böses geplant, doch Gott habe es zum Guten gelenkt. Josefs Familie wächst weiter. Er selbst stirbt im Alter von 110 Jahren143.
CHE 2.2. Die Josefsgeschichte (JG) als Modell für Versöhnung Die JG (Gen 37; 39–47; 50) – allemal mit Gewinn zu lesen und von Thomas Mann zu einer gewaltigen Roman-Tetralogie ausgestaltet – ist ein Musterbeispiel für Gewaltüberwindung durch Versöhnung. Unter diesem Aspekt soll sie jetzt noch einmal in den Blick genommen werden. Die nachfolgende, knappe Interpretation lehnt sich hauptsächlich an die Auslegung Adrian Schenkers an, der Versöhnung als zentrales Motiv der JG aufgezeigt hat. Unsere Darstellung konzentriert sich auf jenen Teil der Erzählung, der mit dem Bruch unter den 140
Ergänzungsschicht: 47,1–6.11–26.29–31. Ergänzungsschicht: 48,(1f).8–22. 142 Ergänzungsschicht:49,33aβb. Der sog. Jakobssegen, der den Grossteil des Kapitels ausmacht, ist ein Stück für sich. 143 Ergänzungsschicht: 50,1–11.15–23.26. 141
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Brüdern beginnt und mit der Wiedererkennung und Versöhnung zwischen Josef und seinen Brüdern endet. Wir halten uns dabei an die Jetztgestalt des Textes, gehen also synchron vor, nicht diachron (wie im vorangehenden Kapitel). Handlung und Deutung gliedern sich in zehn Schritte. 1. Der Bruch Gleich am Anfang, in den einleitenden Versen (37,1–4), wird der Nährboden für den sich anbahnenden Konflikt sichtbar. Die Jakobsfamilie weist in sich Spannungen und Risse auf. Die polygame Struktur bewirkt Eifersucht zwischen den verschiedenen Müttern der Jakobssöhne und alsbald auch zwischen diesen selbst. Die Demütigung der zurückgesetzten Frauen – Lea, Silpa, Bilha – lebt bei deren Söhnen in der Abneigung gegen den Sohn der Lieblingsgemahlin Rahel fort. Josef trägt auch einiges dazu bei. Er hinterbringt üble Nachrede über seine Brüder. Und auch der Vater verhält sich problematisch. Er privilegiert Josef mit Zuneigung und fürstlichem Gewand, worin sich eine herausgehobene Stellung im sozialen Mikrokosmos andeutet. Diese Momente lösen bei den Brüdern puren Neid und Hass gegen Josef aus und führen zum Bruch der Familie. 2. Der Ausbruch von Gewalt Josef hat zwei Träume, die seine Vorrangstellung in die Zukunft projizieren: Zuerst verneigen sich die Getreidegarben seiner Brüder vor seiner eigenen, dann beugen sich Sonne, Mond und Sterne (Vater, Mutter/Mütter und Brüder) vor ihm bis zum Boden nieder. Diese – freimütig mitgeteilten – Traumbilder steigern die Wut der Brüder. Gleichwohl kündigt sich in ihnen – wie in allen Träumen der JG – Kommendes an, bildet sich in ihnen das Programm der nun abrollenden Handlung ab. Es sind zwei Faktoren, die den Gang der Ereignisse bestimmen: menschliches Planen und Handeln einerseits und göttliches Wollen und Wirken andererseits (vgl. Gen 45,5–8; Gen 50,19f). Es ist spannend zu beobachten, wie beides einander widerstreitet und zugleich ineinander greift. Die Brüder werden Josef um ein Haar töten und ihn dann nach Ägypten in die Sklaverei verkaufen – beides nach damaliger Rechtsauffassung todeswürdige Verbrechen (Ex 21,12.16). Doch das menschliche Verbrechen ist zugleich ein wichtiges Element im überlegenen Plan Gottes. Diese hintergründige Art göttlicher Geschichtslenkung aufzuzeigen, ist das Anliegen der JG. 3. Das Verbrechen Schauplatz des unheimlichen Verbrechens ist ein entlegenes Gebiet (37,12–17), fern von der schützenden Nähe des Vaters und von Zeugen. Der Hass und die Erbitterung der Brüder auf den arglosen Josef sind so abgrundtief, dass die Idee des Brudermordes wie von selbst aus der Tiefe emportaucht. Emotionen schlagen in Taten um. Dem Hilflosen wird das verhasste fürstliche Gewand heruntergerissen. Dann aber wird er – auf Rubens Vorschlag – nicht getötet,
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sondern ‹nur› in einer Zisterne versenkt (wo er auch sterben könnte!). Dann lassen sich die Täter nieder: zum Essen und weiteren Zusehen (37,23–25). Dass Josefs Leben knapp verschont wird, wird später den Brüdern und dem Vater das Leben retten. Unerwartet erfährt der Geschehensverlauf eine erneute Stockung und Richtungsänderung. Es ist zunächst Ruben, dann vor allem Juda, der sich für den bedrohten Bruder einsetzt. Um das Unwiderrufliche eines Mordes zu umgehen, verfällt er auf den Ausweg eines sauberen Verbrechens. Beim Verkauf Josefs schreit kein Blut zum Himmel. Josef aber wird durch den Verrat seiner Brüder zur Sklaverei verdammt. Er verliert Familie, Heimat und Freiheit. Fast möchte man meinen, es sei feige, dass die Brüder Josef verkaufen, anstatt ihn zu ermorden. Es ist aber ein wichtiger Schritt zur späteren Rettung und Versöhnung. Und auch dabei wieder wird Juda – neben Josef – eine Hauptrolle spielen. 4. Die Lüge Das Verschwinden Josefs muss Jakob erklärt werden. Das mit Tierblut verschmierte Gewand Josefs wird dem Vater kommentarlos vorgelegt. Diese listige Lüge kostet die Brüder kein Wort. Der Bruder ist aus der Familie geworfen, der Vater durch Betrug hintergangen, die Familie vollends auseinandergebrochen. Die Untröstlichkeit Jakobs weckt Erinnerungen an seinen eigenen Vater, den erblindeten Isaak. Jakob hatte sich damals in ähnlicher Weise der Kleidungsstücke Esaus bedient, um sich an diesem vorbei den Segen des Vaters zu erschleichen (Gen 27). Jetzt erntet Jakob, als Vater, einen ähnlichen Betrug von seinen Söhnen; seine Schuld ist auf ihn zurückgefallen. 5. Erster Ertrag Neid und Hass verdrängen die gegenseitige Rücksicht und Verantwortung in der Familie und führen zu fast hemmungsloser Gewalt. Diese gewinnt Gestalt nicht nur in der physischen Aggression gegen den Bruder, sondern auch in der Rücksichtslosigkeit, mit der dessen Lebensbedingungen (Freiheit, Familie, Heimat) zerstört wird, und ebenso in der Erbarmungslosigkeit, mit der die Brüder den eigenen Hassgefühlen Vorrang geben vor der Verschonung des Vaters. Das gesamte Geschehen ist unheilsschwanger, man ahnt, welch fürchterliche Folgen es haben kann. Zugleich lässt die JG das überlegene Handeln Gottes erahnen. Er bricht das (un)menschliche Tun nicht ab, bringt es nicht um seine Resultate, er steigt nicht selber auf die Bühne menschlichen Handelns hinab, als Retter «ex machina». Doch er verleiht dem ganzen Geschehensablauf auf ungeahnt heilstiftende Weise Richtung und Ziel. Freiheit der handelnden Menschen und Freiheit Gottes bleiben bestehen und wirken zu gleicher Zeit. Das Endergebnis aber wird dem Plan Gottes entsprechen.
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6. Verdrängung und Anamnese Gen 39–41 schildert die wechselnden Schicksale Josefs in Ägypten. Gen 39 führt die Bewegung hin zum tiefsten Punkt seiner Lebensgeschichte. Verschleppt in die Fremde, verkauft in die Sklaverei, verleumdet durch die Frau seines Herrn Potifar (dem er sich stets loyal gezeigt hat), von diesem ins Gefängnis geworfen, muss Josef die Umkehrung seiner hochfliegenden Träume erfahren, nach denen er doch über allen anderen stehen sollte. Er sitzt ganz unten! Doch dann, unvermutet, kommt überraschend der Umschwung. Wieder spielen dabei Träume eine leitende Rolle: zuerst diejenigen hochgestellter Mitgefangener, dann die des Pharao. Zweifellos hat Gott sie geschickt, und von Gott ist Josef auch die Gabe der Traumdeutung zugekommen. Der Pharao selber erkennt in Josef einen Menschen, «in dem Gottes Geist ist» (41,38f) – und gibt ihm umgehend Gelegenheit, sich als hervorragender und weit blickender Organisator zu erweisen, der es versteht, der kommenden Notzeit vorzubeugen. Mit Gen 42 kehrt die Erzählung zu Jakob und seinen Söhnen zurück – doch nur, um durch die Hungersnot in Kanaan und den Getreideverkauf in Ägypten die Brüder wieder mit Josef zusammenzuführen. Josef erkennt seine Brüder, sie ihn nicht. Bei dieser Begegnung wäre die Gelegenheit zur Rache gegeben gewesen. Josef aber erhebt ‹nur› eine grundlose Anschuldigung gegen die (diesmal) unschuldigen Brüder: Sie seien Spione. Die Situation damals, bei der Zisterne, wiederholt sich mit umgekehrten Vorzeichen: Jetzt flehen die Brüder vergeblich um Gnade. Ihre eigene Angst lässt sie Josefs Angst nacherleben. Damit wird der Verdrängungsmechanismus durchbrochen. Die Erinnerung an das eigene Verbrechen, die Einsicht und Einfühlung in das, was das Opfer erlitt: das ist der erste Schritt zu Umkehr und Besserung. 7. Erste Wiederholung Die Selbstrechtfertigung der Brüder, sie seien keine Spione, ist ehrlich, das weiss Josef. Was er aber nicht weiss: ob dies auch die ehrliche Wahrnehmung ihres damaligen Unrechts einschliesst oder ob sie noch immer im alten Hass befangen sind. So stellt er sie auf eine mehrfache Probe: Er nimmt ihren Bruder Schimon als Geisel, er verlangt die Vorführung des jüngsten Jakobsohnes, Benjamin (seines eigenen Vollbruders!), und er lässt den von ihnen korrekt entrichteten Kaufpreis für das Getreide in den Säcken verstecken – womit er sie verdeckt beschenkt, zunächst aber in neue Ängste stürzt, stehen sie doch jetzt als Diebe da. Verängstigt kehren die Brüder zum Vater nach Kanaan zurück und unterrichten ihn detailliert über das Geschehene und über des fremden Wesirs Forderung. Ihr schlechtes Gewissen und sein (wohlverständliches!) Misstrauen lassen die Familie in eine Atmosphäre lauernder Bedrohung tauchen. Josef hat sie in eine Situation manövriert, die der damaligen ziemlich ähnlich ist. Wird wieder ein Bruder preisgegeben (Schimon oder Benjamin)? Wieder steht
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Jakob mit seinem bevorzugten Kind der Gruppe der anderen Brüder gegenüber. Wieder scheinen seine Sorge und Liebe nur diesem Sohn Rahels zu gelten, während die übrigen Abwehr und Vorwürfe zu spüren bekommen. Irgendwann ist das Getreide verbraucht. Der Hunger treibt zur Rückkehr nach Ägypten. Jakob und seine Söhne sind nicht mehr Meister der Ereignisse. Vergebens wehrt sich der Alte gegen den Verlust des jüngsten, geliebten Kindes. Doch im Gegensatz zu früher lodern bei dessen Brüdern nicht mehr Eifersucht und Hass auf. Ihre eigene Angst und Sorge hat sie für die Angst des Vaters empfänglich gemacht. Mit allem was sie haben, wollen sie für die Unversehrtheit Benjamins einstehen. Ruben und Juda – gerade sie! – übernehmen die Bürgschaft. Statt die Zukunft eines Bruders zu zerstören, legen sie ihr eigenes Leben für den anderen in die Waagschale. Die durch Josef inszenierte Wiederholung hat eine Umkehrung der Emotionen und der Situation bewirkt. An die Stelle von Rücksichtslosigkeit und Hass ist Verantwortungsund Mitgefühl getreten. 8. Steigerung und zweite Wiederholung Die Brüder reisen erneut nach Ägypten, Benjamin mit ihnen. Beim Niederbeugen der Brüder vor Josef finden seine Träume erneut ihre Erfüllung. Von der Anklage und Strenge der ersten Audienz ist nichts übrig geblieben. Absichtlich gibt sich Josef seinen Brüdern noch immer nicht zu erkennen, obwohl er heimlich weint. Auch bei dieser zweiten Begegnung führt er etwas im Schilde, doch hat er es diesmal noch subtiler, noch raffinierter angelegt. Indem er seinen Silberbecher im Kornsack Benjamins verstecken lässt (44,2), verwickelt er die Brüder in eine unabweisliche Schuld. Das vernichtende Indiz versperrt jegliche Ausflüchte. Damals, bei der Spionageanklage, fehlten Beweise, weshalb es eine Gnadenfrist gab. Diesmal zerschellen alle Rechtfertigungsversuche an den klaren Fakten (dem Silberbecher). Benjamin hat durch unerklärliche Schuld seine Freiheit verwirkt, die Brüder aber sind unschuldig und frei. Noch einmal hat Josef die älteren Brüder dem vom Vater bevorzugten Jüngeren gegenüber gestellt. Die Gelegenheit, den ungeliebten Rivalen elegant los zu werden, ist diesmal noch viel günstiger als damals: Kein Verbrechen und keine Lüge wären dafür nötig! Die alte Situation ist wiedergekehrt, aber in noch versucherischerer Gestalt. Das Unrecht am Bruder bedarf nicht einmal der Tat, sondern des blossen Zuschauens. Ja, noch mehr: Zum (vermeintlich schuldigen) Bruder zu stehen, kann eigentlich niemand verlangen, ist damit in diesem gefährlichen Ausland, unter feindlichen Fremden, doch ein unkalkulierbares Risiko verbunden. 9. Bewährung Die Brüder stehen erneut vor der Entscheidung, ob sie die brüderlichen Bindungen zerreissen oder schützen wollen. Da erfolgt die ergreifende Rede
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eines innerlich völlig gewandelten Juda (Gen 44,18–34). Sie ist eine inständige Bitte um Erbarmen mit dem alten Vater Jakob und dem jungen Benjamin. Juda zitiert den Vater lang und wörtlich, so dass Josef dessen verzweifeltes Ringen gegen den Verlust des nächsten (und letzten) Rahelsohnes vernimmt. Juda räumt ein, dass für das verletzte Gastrecht Genugtuung geleistet werden muss. Er selbst will sich für den «schuldigen» Bruder hingeben und als Sklave in Ägypten zurückbleiben. Juda und seine Brüder haben die Bewährungsprobe, in die Josef sie geführt hat, bestanden. Anstatt Verderben über den Bruder und Leid über den Vater zu bringt, ist Juda bereit, Leid und Verderben auf sich zu nehmen. Wo früher Hass und Gewaltbereitschaft sich zur Bereitschaft steigerten, einen Bruder (und im Grunde auch den Vater) zu vernichten, führen jetzt Mitleid und Mitgefühl Regie. Für die Freiheit eines anderen opfert Juda die eigene Freiheit; statt ihm sein Recht zu nehmen, verzichtet er auf das eigene. Der Bruder soll nicht preisgegeben, sondern den Seinen erhalten werden. 10. Versöhnung und Beilegung der Gewalt Judas Plädoyer bildet den Wendepunkt der Geschichte. Josef gibt sich unter lautem Weinen zu erkennen; die bisher verborgenen Tränen (42,24; 43,30) weichen dem öffentlich bekundeten Weinen (45,2). Damit endet die Zeit gespielter Rollen und uneigentlicher Begegnung, der Weg zur endgültigen Versöhnung ist frei. Warum aber erst jetzt? Warum ging Josef nicht sofort auf seine Brüder zu und bekundete ihnen seine Freude über das Wiedersehen? Warum die qualvolle Verzögerung der Versöhnung? Wohl deshalb, weil die Brüder zunächst beweisen mussten, dass sie nicht mehr dieselben waren wie damals, als sie mit Hass und Gewalt gegen Josef vorgegangen waren. Sie mussten wohl überhaupt erst dorthin gebracht werden, nicht mehr dieselben zu sein. Dazu die raffinierten Arrangements, mit denen Josef sie zur Einsicht und zur Änderung führt. Am Ende – im Plädoyer Judas – zeigen sie, dass sie das Gegenteil von dem denken und wollen, was sie an jenem düsteren Tag des Verrats an Josef vollbracht haben. Diese Umkehr ihrer Gesinnung ist es, die es Josef ermöglicht, ihnen zu vergeben und sich mit ihnen zu versöhnen. Josef selber sieht durch das Verbrechen seiner Brüder hindurch Gottes wunderbare Führung am Werk (45,5–8). Gott hat nicht nur die Versöhnung, sondern die Rettung der Familie (und gar noch Ägyptens und Kanaans!) bewirkt. Die Jakobsfamilie darf in das reiche Land am Nil übersiedeln und ist damit aller Sorgen ledig. Freilich bleibt zu fragen, ob die endgültige Versöhnung nicht erst in Gen 50, beim Tod Jakobs, stattfindet. Denn nach dem Begräbnis des Vaters befürchten die Brüder eine mögliche Anfeindung durch Josef. Sie bitten ihn unterwürfig um Verzeihung. Dabei stehen sie – zum ersten Mal in der JG – mit klaren Worten zu ihrer Schuld (50,17). Daraufhin «weint» Josef (zum siebten Mal in der JG!) und antwortet seinen Brüdern: «Fürchtet
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euch nicht. Bin ich denn an Gottes Stelle? Ihr habt mir Böses zugedacht. Gott gedachte es in Gutes (zu verwandeln), um das zu bewirken, was jetzt am Tage ist: ein grosses Volk am Leben zu erhalten» (Gen 50,19f). Diese Antwort bringt die Versöhnungstheologie zur Vollendung. Josef wird die Aussöhnung, die Gott bewirkte, nicht in Frage stellen, weil er nicht «an Gottes Stelle» ist. Gott hat die Familie wieder zusammengeführt – wie sollte er sie da spalten? Ging und geht es doch darum, ein «grosses Volk», d.h. das künftige Volk Israel, «am Leben zu erhalten». Literatur
W. DIETRICH / C. LINK, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen-Vluyn 2000, 232–238. – W. DIETRICH, Artikel «Joseph / Josephserzählung», in: RGG IV (42001), 575–577. – G. FISCHER, Die Josefsgeschichte als Modell für Versöhnung, in: A. Wénin (Hrsg.), Studies in the Book of Genesis, Leuven 2001 (BEThL 155), 243–271. – F.W. GOLKA, Joseph. Biblische Gestalt und literarische Figur. Thomas Manns Beitrag zur Bibelexegese, Stuttgart 2002. – R. LUX, Josef. Der Auserwählte unter seinen Brüdern, Leipzig 2001 (BibG 1). – T. NAUMANN, Opfererfahrung für Täter: Das Drama der Versöhnung in der biblischen Josefsgeschichte, in: ÖR 52 (2003), 491–505. – G. VON RAD, Die Josephsgeschichte, in: Ders., Gottes Wirken in Israel, NeukirchenVluyn 1974, 22–41. – A. SCHENKER, Versöhnung und Sühne, Fribourg 1981 (BiBe 15), 15–40.
VHR 3. Das Sterben Jesu als «Opfer» der Versöhnung – Erwägungen zu einer These René Girards Christus «ist für unsere Sünden gestorben» – so heisst es in einer der ältesten Bekenntnisformeln des jungen christlichen Glaubens (1Kor 15,3). Weltweit gedenken Christen und Christinnen in der Feier des Abendmahls des «Blutes des Bundes, das für viele vergossen wird» (Mk 14,24). In solchen Sätzen kommt eine Deutung des Sterbens Jesu zum Ausdruck, die ebenso zentral wie schwer zugänglich ist: das Sterben Jesu als «Opfer» zur Aufhebung von Schuld144. Das Christentum kennt zwar keine Opferrituale (im Gegensatz zu vielen anderen Religionen), benutzt aber die Kategorie des Opfers als Grundmetapher für die Deutung des Kreuzesgeschehens. Der historische Kontext jedoch, innerhalb dessen die Rede vom «Opfertod» einst sinnvoll erschien, ist uns unwiederbringlich verloren gegangen. Dieser Verlust hat im Verlauf der Geschichte zu vielen Klärungsversuchen und erneuten Fragen 144
Vgl. Mk 10,45; 14,24; Röm 3,25f; 5,1–11; 8,3; 1Kor 5,7; 2Kor 5,14–6,2; Eph 5,2; 1Petr 1,2.18f; Joh 1,29; 1Joh 1,7; und der gesamte Hebräerbrief. Der Tod Jesu wird im Neuen Testament nicht nur als Opfer gedeutet (vgl. Vollenweider, Golgatha 92–94), aber diese Deutung steht dem Problem der Gewalt am nächsten.
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geführt, die in jüngster Zeit zunehmend auch das Problem der Gewalt mit in den Blick nehmen: Kann Gott nur vergeben, wenn Blut fliesst? Ist Gottes Zorn so unverhältnismässig, dass er nur mit einem Menschenopfer besänftigt werden kann? Hat Jesus wirklich jene Qualen auf sich genommen, die Gott den Menschen für ihre Sünden zufügen wollte? Wird Gott damit nicht zum Motor von sinnloser Gewalt in dieser Welt? Angesichts solcher Fragen kann eine Theologie der Gewaltüberwindung die Frage nach der Deutung des Sterbens Jesu nicht ausser Acht lassen. 3.1. Die Kreuzigung Jesu ist ein Akt willkürlicher Gewalt gegen ein unschuldiges Opfer Zunächst ist auf einen elementaren Aspekt der Kreuzigung hinzuweisen: Jesus starb an der, wie Cicero sie nannte, «grausamsten und abscheulichsten Todesstrafe», «eines römischen Bürgers und freien Menschen unwürdig»145. Dieses Urteil ist aus zwei Gründen zutreffend: Die Kreuzigung war auf der einen Seite schmerzhaft und grausam, auf der anderen Seite in hohem Masse unehrenvoll und mit öffentlicher Schmach verbunden (vgl. Hebr 12,2). Dazu zwei Beispiele: Die Brutalität dieser Hinrichtungsart bezeugt Seneca in seiner Trostschrift an Marcia: «Ich sehe dort Marterhölzer, nicht einer Art allein freilich, von den einen so, von den anderen anders hergestellt: mit dem Kopf zur Erde schlagen manche ans Kreuz, andere treiben einen Pfahl durch die Schamteile, andere breiten am Kreuz die Arme aus; ich sehe Folterseile, ich sehe Geisseln; und für die Glieder, für die Gelenke haben sie einzelne Werkzeuge.»146 Josephus erzählt von einem jungen jüdischen Helden namens Eleazar, der durch den römischen Admiral Lucilius Bassus vor den Augen der Bewohner einer jüdischen Festung gekreuzigt werden soll. Eleazar bittet seine Landsleute darum, nicht mit anzusehen, wie «er die erbarmungswürdigste Todesart erleiden müsse»147.
Die Kreuzigung war die typische Bestrafung für ausländische Kriminelle, vor allem für aufrührerische Sklaven (z.B. die am Spartacusaufstand beteiligten Sklaven)148. In der feinen Gesellschaft galt das Kreuz als etwas Geschmackloses und Anrüchiges. Es überhaupt zu erwähnen, verstiess gegen Sitte und Anstand. Dass die zentrale Botschaft des frühen Christentums gerade den Gekreuzigten als Welterlöser ins Zentrum rückte, war nach gut römischem Massstab ebenso absurd wie geschmacklos149. Autoren der Antike wussten dies für ihre Polemik 145
Zitate aus Rede gegen Verres II,5,165 und Pro Rabirio 5,16 (Text in Berger / Colpe, Textbuch, 87). 146 Seneca, Ad Marciam 20,3 (übers. Rosenbach, I, 373). 147 Josephus, De Bello Judaico VII §203 (übers. Michel / Bauernfeind II/2, 113). 148 Einen Überblick über alle dokumentierten Kreuzigungen in Palästina bis zum Jahr 74 n. Chr. bietet Kuhn, Kreuzesstrafe, 706–718. 149 Vgl. Hengel, Mors turpissima. Zur Frage nach der jüdischen Bewertung eines Gekreuzigten vgl. Friedrich, Verkündigung, 122–130.
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gegen den christlichen Glauben zu nutzen. So spottete z.B. Lukian (120–180) über die Christen als «arme Teufel», weil sie «die griechischen Götter ablehnen und dafür den gekreuzigten Sophisten anbeten und nach seinen Gesetzen leben»150. Ähnlich meint Celsus, der um 178 ein Werk zur Widerlegung des Christentums verfasste, über die Kreuzespredigt: «Welche alte Frau, die dem Kind zum Einschlafen eine Geschichte erzählt, würde sich nicht schämen, solche Sachen zu erzählen?»151 Im 2. Jh. wehrt sich der christliche Apologet Justin: «Man bezichtigt uns hier der Verrücktheit, weil wir den zweiten Rang nach dem unveränderlichen Gott […] einem gekreuzigten Menschen geben; aber sie kennen nicht das Mysterium, das sich darin verbirgt.»152 Das Kreuz war für die frühchristliche Mission eine schwere Hypothek. Dessen ist sich Paulus bewusst, wenn er schreibt: «Wir verkündigen Christus als Gekreuzigten – für Juden ein Ärgernis und für Nichtjuden eine Torheit.» (1Kor 1,23) Dennoch bewahrt das zentrale christliche Bekenntnis nicht einfach die Erinnerung daran, dass Jesus gestorben ist, sondern dass er gekreuzigt wurde, also das Opfer jener Hinrichtungsart wurde, mit welcher der römische Machtapparat in den Provinzen meinte für «Ruhe und Ordnung» sorgen zu können. Am Kreuz wird Jesus ein Opfer der Gewalt Roms und nicht ein Opfer, das Gott selbst zur Besänftigung seines Zornes darbringt. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis auf Jesu «Blut» zu verstehen. Die Kreuzigung war, im eigentlichen Sinne des Wortes, keine besonders blutige Hinrichtungsart. Der Ausdruck «Blut» oder «Blutvergiessen» steht ganz grundsätzlich für den gewaltsamen Tod eines Unschuldigen. Dem Blut selbst kommt dabei keine besondere magische oder sühnende Rolle zu (im Unterschied zum Opferblut im Alten Israel). Von Jesu «Blut» ist zwar auch im Neuen Testament die Rede, aber gemeint ist damit immer sein gewaltsamer Tod und nicht – im wörtlichen Sinne – das aus ihm ausgeflossene Blut. Jesu Blut steht für das ganze, den Menschen geschenkte Leben. Selbst im grausamen Tod hat Jesus auf Gewalt verzichtet und sich den Menschen hingegeben. 3.2. René Girard und der Tod Jesu als Gewalt überwindendes Opfer In jüngster Zeit hat der Literatur- und Kulturwissenschaftler René Girard (*1923) sich im Rahmen seiner Theorien zur Entstehung und Überwindung von Gewalt (s.o. S. 15f) auch mit dem Opfertod Jesu beschäftigt. Zuerst möchte ich den kulturtheoretischen Rahmen kurz darstellen. Für Girard gibt es zwei gesellschaftliche Massnahmen zur Eindämmung von Gewalt153: Moralisch-religiöse Verbotssysteme oder Opferriten. Gerade wenn 150
Lukian, De morte peregrini, 13. Zitat in Origenes, Contra Celsum 6,34. 152 Justin, Apol I,13,4. 153 Girard, Ende 22–42. (Seitenzahlen im Text beziehen sich auf dieses Werk.) 151
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die Gewaltspirale einen Punkt erreicht hat, an dem die Selbstzerstörung eines Gemeinwesens im Kampf aller gegen alle droht, hat ein Gewaltakt gegen ein willkürlich gewähltes Opfer die Kraft, die «Opposition jedes gegen jeden» umzuleiten in eine «Opposition aller gegen einen» (S. 35). Wenn die Gewaltbereitschaft der Menge ihren Siedepunkt erreicht hat, schafft das Opfer Solidarität unter vorher verfeindeten Individuen, indem es den allgemeinen Wunsch nach Rache stillt (S. 38). Die Tatsache, dass durch das Opfer Stabilität wieder hergestellt wird, liefert im Nachhinein die Begründung für den Lynchmord. Schliesslich war es verantwortlich für die Unruhen! Damit ist die Gewalttat als Weg zum sozialen Frieden zutiefst mit dem Bereich des Religiösen verbunden (S. 43). Von diesem engen Verhältnis geben die antiken Mythen ebenso Zeugnis wie antisemitische Verfolgungstexte aus dem Mittelalter (S. 105–142)154. Im Alten Testament sind die drei Elemente – Konflikt, kollektive Gewaltentladung und Ausarbeitung von Verboten und Ritualen – ebenso präsent wie in den antiken Mythen (S. 144). Dennoch findet sich in der Hinwendung zum Opfer ein einzigartiger Gegenentwurf zu den gewohnten mythologisch-kulturellen Denkformen: In der Geschichte von Kain und Abel ist zwar der Gewaltakt ein Gründungsmythos, aber am Ende wird Abel als Opfer «exhumiert und von seiner Schuldhaftigkeit entlastet» (S. 153). Auch in der Josefsgeschichte wird der «Gründungsmord entmythologisiert» (S. 157). Die Rehabilitierung des Opfers kommt schliesslich in der Gottesknechtfigur (Jes 53) besonders deutlich zum Ausdruck (S. 161). Dieser Ansatz wird in der Darstellung der Evangelien vom Tod Jesu konsequent vollendet (S. 163ff). Dabei sind folgende Aspekte bedeutsam (S. 172f): • Jesus ist ein unschuldiges Opfer. • Das Kollektiv befindet sich in einer Krise. • Sämtliche an der Passion beteiligten Gruppierungen werden durch den Tod Jesu zeitweilig zusammengeschweisst (die Volksmenge in Jerusalem, die jüdischen religiösen Autoritäten, die römischen politischen Autoritäten, auch die Jünger). • Die Menge, die vorher Jesus noch euphorisch begrüsst hat, fordert jetzt seine Hinrichtung. • Jesus ist bereits im Vorfeld Opfer willkürlicher Gewaltakte (Verspottung usw.). Das macht die Passion zu einem sakralen Begründungsritus. Aber im Gegensatz zu den Mythen wissen die Evangelien «um den willkürlichen, ungerechten Charakter der gegen Jesus verübten Gewalttat» und stellen das Geschehen «als schreiende Ungerechtigkeit» dar (S. 175). Der Mechanismus des Gründungsmords wird aufgedeckt und damit vernichtet. Die Einzigartigkeit des Christentums besteht für Girard darin, dass der alttestamentliche Prozess 154
Vgl. auch Girard, Sündenbock.
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der Aufhebung mythischer Übertragungsmechanismen in der Passion Jesu zu Ende gebracht wird (S. 182–184)155. Damit gelingt es der Passion, «das Sakrale der Gewalttätigkeit für immer zu ruinieren» (S. 184). 3.3. Kreuzestheologie im Zeichen der Gewaltüberwindung Paulus hat in besonderem Masse im Kreuz Jesu die Pointe seiner Verkündigung gesehen: «Denn ich nahm mir vor, nichts anderes unter euch zu wissen, als nur Jesus Christus, und ihn als Gekreuzigten.» (1Kor 2,2; vgl. auch Gal 3,1) In einem Paulus vorgegebenen christlichen Hymnus heisst es: «Er erniedrigte sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tod», und der Apostel fügt hinzu: «ja, zum Tod am Kreuz» (Phil 2,8). Die blosse Rede vom Sterben Jesu ist Paulus zu wenig; es kommt auf das Kreuz an. Wie sonst kein Autor des Neuen Testaments hat er die Paradoxie des Kreuzes (er spricht vom »Ärgernis des Kreuzes« in Gal 5,11) in Worte gefasst: Den Galatern ruft er in Erinnerung, dass der am Kreuz Verfluchte die Menschen vom Fluch des Gesetzes befreit hat (Gal 3,13). Besonders deutlich bringt Paulus das Kreuz gegenüber den Christen und Christinnen in Korinth als Argument gegen Gemeindespaltungen, Geltungssucht und Weisheitsstreben ins Spiel (1Kor 1,18–2,5). Die Hauptthese lautet: «Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die wir errettet werden, ist es Gottes Kraft.» (1,18) Die Paradoxie, dass sich Gottes Macht in der Schwäche, Gottes Weisheit in der Torheit zu erkennen gibt, führt menschliche Weisheit, Rhetorik und Lehre in die Krise (1,20). Diese Einsicht stand den Mächtigen nicht zur Verfügung, denn sonst hätten sie nicht zu Gewalt gegen Jesus gegriffen (2,6–9). Im Kreuz offenbart sich für Paulus eine göttliche «Dekonstruktion» geltender Machtdiskurse: Gottes Ohnmacht ist seine Macht. Das Kreative an dieser Vorstellung ist, dass Paulus das Kreuz als Deutungshilfe für die eigene Wirklichkeit gebraucht. Die Paradoxie des Kreuzes wird damit zur Signatur einer verdeckten Wirklichkeit156. Paulus deutet sein eigenes Leiden und seinen Verzicht auf Macht im Lichte des Kreuzes (1Kor 2,1–5; 2Kor 4,10; 13,4.9f; Gal 6,13). Aber auch die Sozialstruktur der Gemeinde in Korinth ist Ausdruck der Kreuzesparadoxie (1Kor 1,26–31). In dieser Kreuzestheologie ist der christlichen Reflexion eine «Grammatik» für die Subversion von Machtstrukturen vorgegeben, die in ihrem Kern auch das Problem der Gewalt trifft. Girards kulturgeschichtliche Thesen schärfen den Blick für das Verhältnis zwischen dem zentralen Bekenntnis zu Jesus als Gekreuzigten und dem Problem der Gewalt. Jesus tritt in eine Welt der Gewalt und der Gewalteindämmung durch willkürliche Opfer. Diese unendliche 155 156
Vgl. Girards aktuelle «Verteidigungsschrift» Ich sah den Satan. Weder, Kreuz, 239: «Das Kreuz wird zur Signatur seines Lebens.»
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Spirale wird durch die subversive Kraft des Kreuzes mit den Mitteln der Paradoxie durchbrochen: Der Gewaltlose, der den gewalttätigsten, der Gerechte, der den ungerechtesten Tod stirbt; ein Schrecken, der ängstigt und den Menschen die Angst nehmen will; eine menschliche Unrechtstat, mit der Gott seine Gerechtigkeit erweist; ein Akt des Hasses, mit dem Gott seine Liebe für die Menschen zum Ausdruck bringt; ein Opfer, das alle Opfer überwindet; ein Gewaltakt, mit dem ein Weg aus der Gewalt aufgezeigt wird; ein Tod, aus dem Leben erwächst. Damit vollzieht sich etwas ungemein Subversives: Der christliche Glaube ergreift in kaum zu überbietender Art und Weise Partei für das Opfer, sieht sich selbst geradezu in diesem Opfer repräsentiert, erfährt Befreiung durch den Glauben an den Gekreuzigten. Damit dürfte auch klar sein: Nicht Gott braucht Opfer und Gewalt, sondern die Menschen. Das Opfer Jesu geschieht um der Menschen und nicht um Gottes willen. Nicht Gott muss durch das Opfer versöhnt werden, sondern die Menschen. Gott braucht nicht die Bosheit und Gewalttat der Römer, sondern er hat sie gebraucht157. Das frühe Christentum bekennt sich nicht zu einem Gott, der seinen Sohn opfert, um seinen Zorn durch Blut zu stillen, sondern zu einem Gott, der den Tod in Leben verwandelt. Dieser Gott hat das Erstaunlichste vollbracht: Er hat die ungerechte Gewalttat der römischen Imperialmacht gegen seinen Sohn zum Anlass genommen, seine Liebe für die Menschheit zu erweisen. Anstatt Rache an den Mördern zu nehmen, hat er aus dem Kreuz ein Zeichen seiner Gnade und Vergebungsbereitschaft gemacht. Damit hat er den ungerechten Tod Jesu in eine Quelle des Lebens verwandelt. Die Gewalttat am Gekreuzigten verletzt vielleicht die Sensibilität vieler Menschen heutzutage. Das ist nicht das sanfte und stille Blut oder das saubere Kreuz, das auf Postkarten und Kirchenwänden zu bewundern ist, sondern das ist ein zum Himmel schreiendes Unrecht (vgl. 1Kor 2,8)158! Aber in einer Welt, die weiterhin von Unrecht und Gewalt geprägt ist, steht das Kreuz als Mahnmal gegen Vergessen, Verdrängen und Verschliessen. Das Kreuz schärft den Blick des christlichen Glaubens für die Nöte der Opfer. Der Glaube an den Gottessohn, der durch die Vollstreckung des Todesurteils ums Leben gekommen ist, macht eine kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der Todesstrafe unausweichlich. Der Glaube an einen Messias, der Opfer 157
Vgl. Berger, Kreuz, 36. Die hyperrealistische Darstellung des Leidens Jesu im umstrittenen Passionsfilm von Mel Gibson («The Passion», 2004) schafft durch ihre Kombination von Voyeurismus und konservativ-katholischer Blut-Jesu-Frömmigkeit keinerlei Bezug zur Frage des sozialen Unrechts, der Rehabilitierung von Opfern und der Überwindung von Gewalt. Vgl. aus der Flut kritischer Stellungnahmen die filmästhetische Analyse von Andreas Mertin unter http://www.theomag.de/27/am109.htm und eigene Eindrücke («Sadismus in Zeitlupe, oder das Evangelium nach Mel Gibson») unter http://www.mennoniten.ch/ news/mel-gibson.shtml (Stand: 6.1.2005). 158
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willkürlicher Rechtsanwendung und eines unmenschlichen Armeeapparats wurde, stellt jedes Zusammenspiel dieser beiden Grössen auch heute in Frage. Der Glaube an einen Menschen, der als Opfer eines ebenso üblen wie üblichen Sündenbockmechanismus sterben musste, fördert das Mitgefühl mit Menschen, die als Sündenböcke stigmatisiert werden. Aus der Perspektive dieses Skandalons ist dem Glauben eine besondere Aufgabe im Hinblick auf das Thema der Gewalt gegeben: «Der Glaube muss sich jeder Legitimation von Gewalt verweigern. Er beteiligt sich daher nicht an dem rationalen Diskurs über die Unvermeidlichkeit von Gewalt. Er leistet damit Widerstand gegen alle Verharmlosung und Vergleichgültigung von Gewalt. Vielmehr sucht er mit den Mitteln seiner Sprache der Erfahrung der Nacktheit, Brutalität und Sinnwidrigkeit von Gewalt eine Stimme zu geben.»159
Literatur
K. BERGER, Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben?, Stuttgart 1998. – K. BERGER / C. COLPE, Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1987. – G. FRIEDRICH, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament, NeukirchenVluyn 1982 (BThSt 6). – J.C. JANOWSKI / H.P. LICHTENBERGER, Das Skandalon des gewaltsamen Todes Jesu Christi und das Ende der Gewalt, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hrsg.), Gewalt wahrnehmen – von Gewalt heilen. Theologische und religionswissenschaftliche Perspektiven, Stuttgart 2004, 188–211. – R. GIRARD, Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses, Freiburg i.Br. 1983 (= franz.: 1978). – DERS., Der Sündenbock, Zürich 1988 (= franz.: 1982). – DERS., Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, München 2002 (= franz.: 1999). – M. HENGEL, Mors turpissima crucis. Die Kreuzigung in der antiken Welt und die «Torheit» des «Wortes vom Kreuz», in: J. Friedrich u.a. (Hrsg.), Rechtfertigung, FS E. Käsemann, Tübingen / Göttingen 1976, 125–184. – H.-W. KUHN, Die Kreuzesstrafe während der frühen Kaiserzeit. Ihre Wirklichkeit und Wertung in der Umwelt des Urchristentums, in: ANRW II/25,1 (1982), 648–793. – S. VOLLENWEIDER, Diesseits von Golgatha. Zum Verständnis des Kreuzestodes Jesu als Sühnopfer [1996], in: Ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, Tübingen 2002 (WUNT 144), 89–104. – H. WEDER, Das Kreuz Jesu bei Paulus, Göttingen 1981 (FRLANT 125).
MM 4. Zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung im Neuen Testament Das Problem der Gewalt wird dort am deutlichsten gelöst, wo es zwischen Individuen und Kollektiven zu gegenseitiger Vergebung und Versöhnung kommt. Dieser Themenbereich kommt zwar nicht sehr häufig im Neuen Testament vor160, erhält aber an diesen Stellen ein besonderes Gewicht. Dies soll 159
Janowski / Lichtenberger, Skandalon, 210. Mk 11,25; Lk 15,11–32; Lk 17,3f; Lk 23,34; Joh 20,23; Joh 8,1–11; Röm 4,7; (2Kor 2,6f); (2Kor 12,13); Eph 4,31–5,2; Kol 3,12f. 160
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D.V. Versöhnung statt Gewalt
an zwei Gleichnissen veranschaulicht werden: dem Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), das in unübertroffener Weise die Liebe Gottes zu jedem reuigen Menschen als Vorbild zwischenmenschlicher Versöhnungsbereitschaft darstellt, und dem Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,23–35), das die Abhängigkeit zwischen göttlicher und menschlicher Vergebung thematisiert. Das Gleichnis vom verlorenen Sohn handelt von einem Mann, der Vater zweier Söhne ist. Der jüngere der beiden Söhne bittet eines Tages seinen Vater um die Auszahlung seines Erbanteils – eine Bitte, die zur damaligen Zeit nichts Ungewöhnliches war161. Während der ältere Sohn den alleinigen Anspruch auf den Hof seines Vaters und auf zwei Drittel des Vermögens, das nicht unmittelbar zum Hof gehört, inne hat, steht dem jüngeren Sohn immerhin ein Drittel des verfügbaren Vermögens zu (vgl. Dtn 21,17). Der Vater gibt der Bitte seines Sohnes nach und wenige Tage später verlässt der Sohn seinen Vater, um in ein fremdes Land zu ziehen und dort ein neues Leben zu beginnen. In der Fremde gerät der Sohn allerdings auf die schiefe Bahn und verliert das gesamte vom Vater ererbte Vermögen. Zu dieser selbstverschuldeten Not kommt hinzu, dass das fremde Land von einer Hungersnot heimgesucht wird und somit sich die Situation des Sohnes zunehmend verschlechtert. Aus diesem Grund bittet der Sohn einen Fremden um Arbeit, der ihn als Schweinehüter auf dem Feld anstellt. Zum Treuebruch gegenüber seinem Vater kommt durch diese Arbeit nun der Abfall vom Glauben seiner Väter hinzu162, da er sich in den Dienst eines Heiden gestellt hat, sich darüber hinaus mit unreinen Tieren abgeben muss (vgl. Lev 11,7) und somit genötigt wird, «seine Religion ständig zu verleugnen»163. Aber selbst diese Arbeit scheint die aussichtslose Lage des Sohnes nicht grundlegend zu verbessern. Von Hungergefühlen geplagt, beneidet er sogar die Schweine um ihr Futter, d.h. «um die ungetrockneten Schoten des Johannisbrotbaumes, die von Menschen nur in der äußersten Not gegessen werden.»164 Da ihm sogar das Futter der Schweine verwehrt bleibt, beginnt er sich nach dem Schutz und der Geborgenheit im Hause seines Vaters zu sehnen, wo es selbst den Tagelöhnern besser ergeht als ihm in der Fremde. Durch diese bitteren Erfahrungen geläutert, wird sich der Sohn seiner Verfehlungen gegenüber Gott und seinem Vater bewusst und entschliesst sich, reumütig zu seinem Vater zurückzukehren, um diesen um Verzeihung zu bitten. Sowohl das Eingeständnis seiner Schuld als auch der Entschluss zur Umkehr sind begreiflich angesichts der Tatsache, dass dem Sohn allein die Rückkehr zu seinem Vater als Ausweg aus seiner Notsituation zu bleiben scheint. Erstaunlich ist jedoch 161
Vgl. Linnemann, Gleichnisse, 80. Vgl. Schweizer, Lukas, 164. 163 Jeremias, Gleichnisse, 129. 164 Linnemann, Gleichnisse, 82. 162
4. Zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung
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das im Folgenden erzählte Verhalten des Vaters. Als er seinen Sohn bereits von weitem heimkehren sieht, wird er von Mitleid ergriffen, so dass er ihm entgegenläuft, um ihn herzlich zu empfangen. Das schuldhafte Verhalten des Sohnes scheint keinerlei Rolle für den Vater zu spielen. Er umarmt und küsst seinen heimgekehrten Sohn und beweist ihm damit, dass er ihn immer noch als seinen Sohn ansieht, trotz allem, was vorher geschehen ist. Allein die Tatsache, dass der Sohn zurückgekehrt ist, steht im Mittelpunkt des Geschehens. Dabei ist es «die Sohnschaft der Söhne, das Vatersein des Vaters, die die Grundlage der Versöhnung bilden, die dort nötig wird, wo Entfremdung eingetreten ist.»165 Dies lässt allerdings nicht den Schluss zu, dass die Vergebung des Vaters völlig bedingungslos ist. Schliesslich wird erst durch die Rückkehr des Sohnes die Vergebung des Vaters, und somit die Wiederherstellung der Vater-Sohn-Beziehung, ermöglicht. Die Umkehr des Sohnes wird dadurch zur Voraussetzung der Versöhnung zwischen Vater und Sohn. Nach dem Schuldbekenntnis des Sohnes (15,18f) veranlasst der Vater für seinen Sohn ein grosses Fest, das sowohl die Freude über die Rückkehr des verlorenen Sohnes als auch die Vergebung des Vaters und die Wiederherstellung der Vater-SohnBeziehung in der Öffentlichkeit sichtbar macht. In dieser ersten Hälfte des Gleichnisses (Verse 11–24) kommt neben der Auseinandersetzung des Sohnes mit seiner Schuld vor allem der Vergebungsbereitschaft des Vaters eine zentrale Bedeutung zu. Dabei versinnbildlicht die liebevolle Zuneigung des Vaters die Gnade und Barmherzigkeit Gottes. Denn «wenn es möglich ist, eine solche Barmherzigkeit bei einem irdischen Vater glaubhaft zu machen, um wieviel mehr kann sie dann vom himmlischen Vater ausgesagt werden.»166 Menschliche und göttliche Vaterschaft stehen dabei in enger Analogie (vgl. Psalm 103). Die theologische Aussage des Gleichnisabschnitts liegt somit im Zuspruch der Vergebung Gottes für jeden, der vom richtigen Weg abgekommen und in die Arme Gottes zurückzukehren bereit ist. Dieses Wissen um die grenzenlose Vergebungsbereitschaft Gottes und dessen Freude über jeden, der zu ihm zurückkehrt (vgl. auch 15,7), spendet sowohl Trost als auch Hoffnung und ermöglicht damit neben einer angstfreien Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld auch die Umkehr zu Gott. Mit der feierlichen Aufnahme des zurückgekehrten Sohnes endet das Gleichnis allerdings nicht. Nachdem die Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn wieder hergestellt ist, wird in den Versen 25–32 die Reaktion des älteren Sohnes auf die Rückkehr seines jüngeren Bruders näher beleuchtet. Auf dem Rückweg von seiner Arbeit auf dem Feld hört er bereits von weitem die lärmende Festgesellschaft. Als er einen Knecht nach dem Grund 165 166
Klein, Rache, 44. Linnemann, Gleichnisse, 84.
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D.V. Versöhnung statt Gewalt
für das grosse Fest fragt, wird ihm von der Rückkehr seines jüngeren Bruders berichtet. Dieser Anlass löst bei dem älteren Sohn allerdings keine Freude, sondern vielmehr Protest aus, er reagiert verärgert und weigert sich, dem Fest beizuwohnen. Wie seinem jüngeren Sohn wendet sich der Vater nun liebevoll seinem ältesten Sohn zu und versucht ihm gut zuzureden. Neben der eigenen Aussöhnung mit seinem jüngsten Sohn ist dem Vater die Gemeinschaft und Versöhnung der beiden Brüder ein wichtiges Anliegen. Allerdings verweigert der ältere Sohn jede Freude über die Rückkehr seines Bruders und selbst die bisher gute Vater-Sohn-Beziehung droht an der wiederhergestellten Gemeinschaft zwischen dem Vater und dem jüngsten Sohn zu zerbrechen. Voller Ärger und Unverständnis reagiert der ältere Sohn auf die Versöhnungsbereitschaft seines Vaters, die er als «mangelnde Gerechtigkeit einstuft» und die ihn um «den Zusammenbruch der Ordnung, der Sitte und der Gerechtigkeit» fürchten lässt167. Der Versöhnungsbereitschaft des Vaters scheint das ablehnende und verstockte Verhalten des älteren Sohnes diametral entgegen zu stehen. Allerdings gibt der Vater die Hoffnung nicht auf, dass sein älterer Sohn seinen Stolz überwindet und in die Freude über die Rückkehr seines verlorenen Bruders miteinstimmt. Ob sich diese Hoffnung erfüllt, lässt das Ende des Gleichnisses jedoch offen. Mit diesem Gleichnis versucht Jesus die vorwurfsvolle Haltung seiner Gegner gegenüber seiner Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern zu entkräften (15,2). Nach der Ansicht Jesu handelt es sich bei diesen nämlich nicht um Verlorene, sondern vielmehr um Wiedergefundene (15,24). Sie sind, wie man damals zu sagen pflegte, «Herren der Umkehr»168, deren Rückkehr zu Gott Freude und nicht Ärgernis bereiten sollte. Auch wenn das Gleichnis die Reaktion des älteren Sohnes offen lässt und somit die Vergebungsbereitschaft des älteren Bruders nicht zwingend gefordert wird, wird in Lk 17,3f die Pflicht zur zwischenmenschlichen Vergebung betont: «Habt Acht auf euch selbst: Wenn dein Bruder sündigt, so weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, so vergib ihm! Und wenn er siebenmal am Tag an dir sündigt und siebenmal zu dir umkehrt und spricht: Ich bereue es, so sollst du ihm vergeben.»
Analog der göttlichen Vergebung soll auch die zwischenmenschliche Vergebung grenzen- aber nicht bedingungslos sein. Der Vergebung müssen sowohl die Einsicht über die begangene Schuld als auch die Reue des Sünders vorausgehen.
167 168
Klein, Rache, 43. Vgl. Linnemann, Gleichnisse, 76.
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Eine Variante dieses Ausspruchs findet sich in der Gemeinderede des Matthäusevangeliums (Mt 18). Hier tritt Petrus an Jesus mit der Frage heran, wie häufig er dazu verpflichtet ist, jemandem zu vergeben, der gegen ihn gesündigt habe (18,21). Das von Petrus vorgeschlagene siebenmalige Vergeben wird von Jesus noch überboten. Siebenmaliges Vergeben, was an sich schon unendliche Vergebungsbereitschaft ausdrückt, ist in den Augen Jesu noch nicht genug. Er verlangt von Petrus «vollkommen-vollkommenste, grenzenlosunendliche, unzählbar-wiederholte Vergebung»169, indem er auf die Frage des Petrus wie folgt antwortet: «Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebenundsiebzigmal!» (18,22). Dieser Wortlaut erinnert an den Rachegesang Lamechs (Gen 4,23f), der ebenso oft Vergeltung üben will. «Ging es dort um die begrenzte Rache, die über den Bluttaten der Nachkommen Kains und Lamechs liegt, so geht es hier um ihre Aufhebung: In der Gemeinde gilt die radikale Vergebungsordnung Jesu.»170 Mit dieser Anspielung wird somit verdeutlicht, dass an die Stelle der Vergeltung die Vergebung zu treten hat, der keinerlei Grenzen gesetzt werden dürfen171. Nach Matthäus begründet Jesus seine Antwort mit dem Gleichnis vom Schalksknecht (18,23–35), wobei «in diesem Gleichnis nicht vom wiederholten Vergeben die Rede ist, so dass es gar nicht genau passt»172, sondern vielmehr von dem drohenden Verlust göttlicher Gnade. Das Gleichnis handelt von einem König, der eines Tages von seinen Knechten Rechenschaft verlangt. Unter seinen Knechten befindet sich einer (der Schalksknecht), dessen Schulden beim König sich auf zehntausend Talente belaufen173. Aufgrund der Zahlungsunfähigkeit des Knechtes verlangt der König, diesen mit all seinem Besitz, seine Frau und seine Kinder eingeschlossen, zu verkaufen, um seine Schulden zu begleichen. Aus Angst, seinen ganzen Besitz zu verlieren, bittet der Schuldner den König um Zahlungsaufschub. Von Mitleid erfüllt, gewährt ihm der König nicht einfach einen Zahlungsaufschub, sondern erlässt ihm seine ganze Schuldenlast. Diese grenzenlose Vergebung des Königs übertrifft die Erwartungen des Knechtes bei weitem. 169
Luz, Matthäus, 62. Luz, ebd. 171 Auf den ersten Blick kann der Eindruck entstehen, dass Matthäus, im Gegensatz zu Lukas, zwischenmenschliche Vergebung an keinerlei Bedingungen knüpft. In diesem Zusammenhang ist auf Mt 18,15–20 zu verweisen, wo der Umgang der Gemeinde mit Sündern thematisiert wird. Wie bei Lukas wird hier Schuldeinsicht und Schuldbekenntnis des Sünders verlangt. Geschieht dies nicht, wird der Sünder mit dem Ausschluss aus der Gemeinde konfrontiert. Vgl. Davies / Allison, Matthew, 785. 172 Schweitzer, Matthäus, 245. 173 Zehntausend Talente entsprechen ungefähr 50 Millionen Denare. Wenn man bedenkt, dass nach Mt 20,2 der Tageslohn eines Arbeiters im Weinberg ein Denar betrug, wird die unbezahlbare Höhe der Schulden deutlich. Vgl. Klein, Rache, 47. 170
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D.V. Versöhnung statt Gewalt
In der zweiten Szene des Gleichnisses (18,28–30) trifft der Knecht auf einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig ist. Im Vergleich zur Höhe seiner eigenen Schulden beim König handelt es sich um eine sehr geringe Schuldenlast. Sobald der gerade begnadigte Schuldner seinen Mitknecht erblickt, ergreift und würgt er ihn und verlangt die sofortige Rückzahlung der gesamten Schulden. Wie zuvor der Schalksknecht selbst den König um einen Zahlungsaufschub gebeten hat, versucht nun auch der Mitknecht durch flehentliches Bitten, beim Schalksknecht einen Zahlungsaufschub zu erwirken. Im Gegensatz zum König bleibt dieser allerdings unerbittlich und zeigt keinerlei Mitleid. Da sein Mitknecht zahlungsunfähig ist, lässt er ihn ins Gefängnis werfen, bis seine Schulden beglichen sind. An und für sich ist die Weise, wie der Schalksknecht mit seinem Mitknecht umgeht, nicht ungewöhnlich. Schliesslich ist es sein gutes Recht, von seinem Mitknecht wieder einzufordern, was ihm zusteht. Erst «das Nacheinander von empfangener Barmherzigkeit und geübter Unbarmherzigkeit»174 rückt das Verhalten des Schalksknechts in ein schlechtes Licht. Derjenige, dem zuvor grenzenlose Gnade widerfahren ist, sollte selbstverständlich auch seinerseits Gnade vor Recht ergehen lassen, denn «wer solche Barmherzigkeit erfahren hat, der wird nun geradezu in den Stand gesetzt, nun selbst vergeben zu können»175. Mit welchen Konsequenzen der Schalksknecht aufgrund seines unbarmherzigen Verhaltens nun zu rechnen hat, wird in der letzten Szene des Gleichnisses (18,31–35) dargelegt. Von einigen Mitknechten über das unbarmherzige Verhalten des Schalksknechts unterrichtet, lässt der König den Schalksknecht vor sich treten, entzieht ihm seinen Gnadenerweis und überlässt ihn den Folterknechten, bis er all seine Schulden bezahlt hat (18,34). Wer seinem Mitknecht die Schuldenfreiheit nicht gewährt, der hat auch selbst kein Anrecht mehr auf ein schuldenfreies Leben. Das Gleichnis endet also dort, wo es begonnen hat, in der ausweglosen Schuldensituation des Schalksknechts. Inwiefern das Verhalten des Königs gegenüber dem Schalksknecht das Verhalten Gottes gegenüber unbarmherzigen Menschen widerspiegelt, verdeutlicht Mt 18,35: «So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.»
Dabei ist das Verhalten Gottes allerdings nicht «als Ausdruck einer Rache- und Vergeltungslogik zu interpretieren, sondern als Zeichen der Interdependenz seines und [des] menschlichen Handelns»176. Mit anderen Worten, mittels dieser Aussage werden göttliche und menschliche Sündenvergebung aufs Engste 174
Linnemann, Gleichnisse, 117. Merklein, Barmherzigkeit, 206. 176 Weingardt, Schuldigern, 32. 175
4. Zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung
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miteinander verknüpft (vgl. Mt 6,14f)177, indem sich beide gegenseitig zu bedingen scheinen. Angesichts der Barmherzigkeit und Vergebungsbereitschaft Gottes wird dem Menschen überhaupt erst die Möglichkeit und Fähigkeit zur zwischenmenschlichen Vergebung eröffnet. Gleichzeitig wird er dazu verpflichtet, Gott in seiner Barmherzigkeit nachzuahmen (vgl. 5,48) und somit die Ordnung der Barmherzigkeit an die Stelle der Ordnung des Rechts zu stellen. Denn im Hinblick auf die eigene Abhängigkeit von Gottes Barmherzigkeit hat der Mensch eigene Bedürfnisse, Rechte und Privilegien in zwischenmenschlichen Beziehungen zurückzustellen und Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Widersetzt man sich aber der von Gott geforderten Barmherzigkeit, verliert man selbst das Anrecht auf göttliche Gnade. Die Bereitschaft zur zwischenmenschlichen Vergebung wird hier demzufolge als Bedingung für die Aufrechterhaltung göttlicher Gnade verstanden. Zusammenfassend lässt sich nun das Folgende sagen: In Anknüpfung an alttestamentlich-jüdische Traditionen gelten für Lukas Schulderkennntnis und Schuldbekenntnis, Reue und Umkehr als Voraussetzungen sowohl für das göttliche (vgl. 24,17) als auch für das zwischenmenschliche Vergebungshandeln (vgl. 17,3f). Erst die Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld und die Bereitschaft zur Umkehr eröffnen neue Wege und führen zur Wiederherstellung eines durch Sünde gestörten Verhältnisses zwischen Mensch und Gott oder im zwischenmenschlichen Bereich. Auch bei Matthäus nehmen Schulderkenntnis und Schuldbekenntnis eine zentrale Stellung ein. So wird im Vaterunser (Mt 6,9–13) in der Vergebungsbitte die eigene Schuld vor Gott gebracht: «Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben» (6,12).
Dabei setzt die Bitte um die Vergebung der Schuld das Wissen um das Vergebungshandeln Gottes voraus. Matthäus geht allerdings noch einen Schritt weiter, indem er die göttliche und die zwischenmenschliche Vergebung in ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis stellt: «Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben, wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergehungen auch nicht vergeben.» (6,14f)
So wird nach Mt 6,14f die zwischenmenschliche Vergebung als «Bedingung»178 für die göttliche Vergebung, die Verweigerung zwischenmenschlicher Vergebung hingegen als «Ursache» für die Verweigerung göttlicher Vergebungsbereitschaft verstanden. Diese Auffassung der Interdependenz von 177
Vgl. in diesem Zusammenhang jüdische Parallelen wie z.B. Jesus Sirach 28,1–12. Für weitere Beispiele siehe Strack / Billerbeck, Kommentar, 424–426. 178 Luz, Matthäus I, 459.
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göttlicher und zwischenmenschlicher Vergebung wird allerdings im Gleichnis vom Schalksknecht leicht modifiziert. So wird hier zwischenmenschliche Vergebung nicht als Bedingung für das Empfangen, sondern vielmehr als Bedingung für das Bewahren göttlicher Vergebung verstanden. Göttliche Vergebung geht zwischenmenschlicher Vergebung voraus und ermöglicht dem Menschen, seinem Nächsten, der ihm Unrecht getan hat, zu vergeben. Allerdings wird von demjenigen, der göttliche Barmherzigkeit erfahren hat, auch erwartet, dass er sein Leben im zwischenmenschlichen Bereich unter die Ordnung der Barmherzigkeit stellt. Wer nicht dazu bereit ist, im Umgang mit seinen Mitmenschen Gnade vor Recht ergehen lassen, muss seinerseits den Verlust göttlicher Gnade in Kauf nehmen. Dabei macht es faktisch keinen grossen Unterschied, ob die göttliche Gnade entzogen (18,23–35) oder aber nicht gewährt wird (6,15). Denn sowohl die Erfahrung göttlicher Gnade als auch nur das Wissen darum eröffnen nicht nur die Möglichkeit zwischenmenschlicher Vergebung, sondern machen die Vergebungshandlung zur unausweichlichen Konsequenz für all diejenigen, die sich der Zusage göttlicher Sündenvergebung gewiss sein wollen. Literatur
W.D. DAVIES / D.C. ALLISON, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to St. Matthew II, Edinburgh 1991. – J. JEREMIAS, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 61962. - C. KLEIN, Wenn Rache der Vergebung weicht. Theologische Grundgedanken einer Kultur der Versöhnung, Göttingen 1999. – E. LINNEMANN, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 41966. – U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus, Zürich u.a.O., 1.Teilband 1985, 3.Teilband 1997 (EKK I/1.3). – H. MERKLEIN, Der Prozess der Barmherzigkeit. Predigtmeditation zu Mt 18,21–35, in: L. Schenke (Hrsg.), Studien zum Matthäusevangelium, FS W. Pesch, Stuttgart 1988, 201–207.– E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Matthäus, Göttingen 151981 (NTD 2). – DERS., Das Evangelium nach Lukas, Göttingen 1986 (NTD 3). – H.L. STRACK / P. BILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd.1: Das Evangelium nach Matthäus, München 1922. – B.M. WEINGARDT, «… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern». Der Prozess des Vergebens in Theorie und Empirie, Stuttgart u.a.O. 2000.
JH
E. Praktische Ausblicke Abschliessend stellen wir zwei Versuche vor, über in der Bibel gewiesene Wege zur Gewaltüberwindung nicht nur zu reflektieren, sondern sie in heutige Praxisfelder zu übertragen. Wir gehen nicht so weit, unmittelbar politische oder gesellschaftliche Sachfragen in Angriff zu nehmen, sondern halten uns im Raum der Kirche, genauer des Gottesdienstes auf. Zwei Predigten (davon eine Dialog-Predigt) und zugehörige Texte zur Gewaltthematik sollen einen kleinen Eindruck davon vermitteln, wie sich biblisch-exegetische Einsichten in kirchliche Rede umsetzen lassen. Allen Christinnen und Christen ist es aufgetragen, sie weiter ins praktische Leben und in die konkrete Tat umzusetzen. 1. Eine Frau lehrt den König Gewaltverzicht: Elemente eines Gottesdienstes zu 1Samuel 25 1.1. Predigt Der Ökumenische Rat der Kirchen hat eine Dekade zur Überwindung der Gewalt ausgerufen. Der Aufruf ist dringlich. Und er kommt spät. Die Gewalt hätte längst unser Thema sein müssen: nicht nur angesichts unserer gewaltbedrohten Gegenwart, nein, die gesamte Geschichte der Kirche ist durchsetzt mit Gewalt, erlittener wie zugefügter. Und selbst die Bibel ist kein gewaltfreies Buch, keineswegs. Hat es Sinn, sich an ihr zu orientieren, wenn man nach Anleitung zur Überwindung der Gewalt sucht? Ich möchte es versuchen, und zwar mit Hilfe einer Erzählung aus dem 1. Samuelbuch. Die Geschichte hat drei Hauptakteure: zwei Männer und eine Frau. Eine Figur ist wohlbekannt: der König David. Zur Zeit, da die Geschichte spielt, ist er noch nicht König. Er hatte beim König Saul gedient: war aufgestiegen, sogar zum Schwiegersohn des Königs und zum engen Freund des Kronprinzen geworden. Er gehörte also zum innersten Machtzirkel. Doch dann kam der jähe Absturz: Saul witterte in ihm den Rivalen, misstraute ihm, hasste und bedrohte ihn, vertrieb ihn schliesslich vom Hof, jagte ihn danach zäh und verbissen, ohne seiner je habhaft zu werden. David hatte sich zurückgezogen in eine dünn besiedelte und schwer zugängliche Gebirgsgegend, hatte dort Männer um sich gesammelt, 400 bis 600 Mann, und schlug sich als eine Art Warlord durch. Die anderen beiden Akteure der Geschichte sind eine Frau und ein Mann, ein Ehepaar. Der Mann heisst Nabal. Das ist auffällig. Das hebräische Wort «Nabal» heisst nämlich «Dummkopf, Tor». Wer würde sein Kind so nennen? Vielleicht war es eine Art Kosename: «Unser Dummchen». Oder ein
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E. Praktische Ausblicke
Spitzname. Oder der Mann hiess ganz anders, und nur die Erzähler wollen uns gleich mit diesem Namen zu verstehen geben, was das für einer war: ein Tor! Er wird in der Erzählung sehr negativ charakterisiert: als «hartherzig und bösartig». Seine Frau dagegen wird sehr vorteilhaft geschildert: «Sie war von feinem Verstand und schönem Aussehen». Sie hiess «Abigajil» – ein schöner Name. Er bedeutet: «Mein Vater hat sich gefreut». Und alle, die der Geschichte zuhören, dürfen sich bald mitfreuen. Nabal lebte mit Frau und Familie im südlichen Juda, in eben der kärglichen Landschaft, in der David sich aufhielt. Er wird als «ein sehr grosser Mann» bezeichnet. Das kann sich auf die Statur beziehen wie auf den sozialen Status. Wahrscheinlich stimmt beides. Jedenfalls war er reich: 3000 Schafe und 1000 Ziegen besass er – eine gewaltige Menge in einem so kargen Land; wie weite Flächen und wie viele Wasser- und Ruheplätze mögen seine Herden in Anspruch genommen haben! Und dann war da natürlich noch die grosse Farm mit viel Personal: Hirten, Scherer, Schlachter, Händler, Verwalter, Haushaltsbedienstete, teils wieder mit Familien. Nabal war eine Art Landlord. Eines Tages nun kommen zehn Männer auf die Farm: bärtige, rauhe Gesellen. Sie wollen den Chef persönlich sprechen. Es ist der denkbar schlechteste Augenblick. Gerade ist nämlich Schafschur: für den Viehzüchter das, was für den Bauern Erntezeit ist. Hektik, Hochbetrieb überall. Was wollen die zehn Burschen von ihm? Sie beginnen höflich-umständlich: «Im Auftrag von David, Isais Sohn: ein langes Leben dir! Schalom dir, Schalom deinem Haus, Schalom allem was dein ist!» In Nabals Augen flackert Misstrauen auf. David ben Isai, das war doch der Warlord hier in der Gegend: Was will der von mir? «Und nun», sagen die Männer (und sprechen so, als wären sie Davids Sprachrohr): «Ich habe gehört, dass die Scherer bei dir sind. Bitte denk daran, dass deine Hirten, wenn sie hier in der Gegend ihre Herden führten, niemals Schaden genommen haben. Frag sie, sie können es bezeugen. So mögen doch meine Leute bei dir Wohlwollen finden. Wir sind ja an einem Freudentag gekommen. Gib doch bitte etwas ab, gerade so, was du zur Hand hast: für deine Knechte und für deinen Sohn David!» Aha, denkt Nabal, jetzt ist es heraus. Abgaben wollen sie, Schutzgeld. «Deine Knechte, dein Sohn» – dass ich nicht lache! Klar, warum es gleich zehn sind: Die können viel tragen! Aber da habt ihr euch vertan. Mit Erpressern verhandelt man nicht, denen weist man sofort die Tür. «Wer ist schon David, und wer der Sohn Isais?» fragt er bissig, «heutzutage laufen viele Knechte ihrem Herrn davon!» (eine böse Anspielung auf Davids Zerwürfnis mit Saul) «Warum sollte ich Brot und Wein und Schlachtfleisch, das für meine Scherer gedacht ist, nehmen und Männern geben, von denen ich nicht einmal weiss, woher sie kommen?» (er hätte auch sagen können: «irgendwelchen hergelaufenen Kerlen» – wieder eine ziemlich grobe Anspielung auf das
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derzeit unstete Leben Davids). Nabal sprichtʼs, dreht sich um und lässt Davids Boten stehen. So weit die Exposition unserer Geschichte. Wir wollen kurz innehalten und überlegen, was passiert ist. Zwei Männer sind aufeinander geprallt: ein Warlord und ein Landlord; beide von erheblichem Selbstbewusstsein, und beide mit genau gegenläufigen Interessen. Der eine ist in einer komfortablen Lage, reich, gerade wieder dabei, grossen Gewinn einzustreichen. Der andere ist in einer schwierigen Lage, muss dort draussen in der Steppe 400 bis 600 Mann ernähren, was nur geht, wenn die Bauern und Viehzüchter in der Umgebung – und mit Vorzug die wohlhabenden unter ihnen – ihm etwas abgeben. David meint auch durchaus, ein Recht auf solche Abgaben zu haben: Er und seine Leute sind etwas wie die Ordnungsmacht der Gegend. Ihm ist es zu danken, wenn die Bevölkerung in Ruhe und Sicherheit leben kann. Er beschützt sie vor etwaigen Schäden (etwa durch Überfälle von Banden). So etwas kann man nicht umsonst haben. Wer das nicht einsieht, muss damit rechnen, dass die benötigten Mittel notfalls mit Gewalt eingetrieben werden. Das wirkt zwar etwas mafios, ist aber irgendwie nachvollziehbar. Auf der anderen Seite ist auch Nabals Position verständlich. Wer gibt schon gerne etwas ab von dem, was er hat? Allerdings agiert Nabal äusserst unflexibel und ungeschickt. Kurz und grob fertigt er die ungebetenen Gäste ab. Er verschwendet keinen Gedanken darauf, in welcher Situation sich sein Gegenspieler befindet; er erkundigt sich nicht bei seinen Leuten nach dessen möglichen Verdiensten; er fragt nicht zurück, wie viel David eigentlich genau haben will, er überlegt nicht, was eine brüske Rückweisung für Folgen haben kann – er denkt einfach und geradlinig nur an sein eigenes Geld: verständlich zwar, aber kurzsichtig, wie sich alsbald zeigen wird. Ich will nicht zwischen beiden urteilen: dem Warlord und dem Landlord. Mir sind beide nicht sehr sympathisch – auch wenn ich finde, dass Nabal wesentlich plumper vorgeht, wirklich «töricht». Ich versage mir auch, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen: zu den verschiedenen Arten von Mafia, die es inzwischen gibt, oder zu den Erwartungen armer, unter Ausbeutung leidender Länder an den reichen Welt-Norden oder zu dem Wurzelgrund aus Unverstandenheit, Ungerechtigkeit, Ungeduld und Unmässigkeit, aus dem der giftige Pilz des Terrors spriesst. Erst recht kann ich mich nicht einlassen auf die tausendfachen Formen von Haben und Nichthaben, von Selbstzufriedenheit und Unzufriedenheit, von Eigensucht und Erpressung, die das private und gesellschaftliche Zusammenleben stören und zerstören. Ich erzähle stattdessen die alte Geschichte weiter, um zu zeigen, wie aus dem Zusammenprall gegenläufiger Interessen Gewalt erwächst. Die zehn Burschen kommen zu David zurück und berichten, was ihnen widerfahren ist. David reagiert umgehend: «Jeder sein Schwert umgürten» – und schon setzen sich 400 Bewaffnete in Richtung auf Nabals Anwesen in Marsch. David
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schiessen unterwegs hitzige Gedanken durch den Kopf: «Unverschämter Kerl! Wie habe ich dafür gesorgt, dass ihm von seinem ganzen riesigen Besitz nichts abhanden kommt! Soll das alles für nichts gewesen sein? Er vergilt mir Gutes mit Bösem. Das wird er mir büssen! Totschlagen werde ich ihn – und alles, was bei ihm an die Wand pisst!» Nicht gerade vornehm, aber deutlich! Gereizte Männer neigen dazu, die Contenance zu verlieren. Jetzt will David nicht mehr nur haben, was ihm (vermeintlich?) zusteht, jetzt will er Rache, blutige Rache. Alle männlichen Wesen in Nabals Farm sollen ihm dafür büssen, dass der Landlord den Warlord herausgefordert hat. (Die Frauen kann man am Leben lassen, für die gibt es anderweitige Verwendung – wie natürlich auch für die übrige Beute.) In seiner Wut stellt David sich nicht vor, wer konkret diese Männer und Frauen sind, gegen die er zu Felde zieht. So ist das, wenn Machthaber meinen, das Recht zum Zuschlagen zu haben. Dann ist auf der eigenen Seite «das Gute» und auf der anderen «das Böse». Man führt Krieg gegen «das Böse», «den Terror», gegen schlimme und gefährliche Elemente, gegen Unmenschen – und nicht gegen Menschen. In Nabals Anwesen aber sind Menschen, konkrete Männer und Frauen – nicht einfach üble Wandpisser, die man totschlagen, und billige Weiber, die man wegschleppen kann! Ein Bediensteter hatte die Szene zwischen Nabal und Davids Boten beobachtet. Er ahnte Schlimmes und unterrichte Abigajil: «Das und das, Herrin, ist passiert. Und dabei waren die Leute Davids immer gut zu uns» – man höre und staune: dieser Mann kann auf der Gegenseite durchaus das Gute sehen! – «sie haben uns immer korrekt behandelt, ja sie waren wie Schutzengel um uns. Und jetzt überleg bitte, was geschehen soll. Uns droht ein grosses Unglück. Du weisst ja, dass man mit Nabal über so etwas nicht reden kann!» Diese letzte Bemerkung hätte Abigajil korrekterweise korrigieren müssen; aber sie weiss im Grunde, dass sie berechtigt ist – und sie hat vor allem viel Wichtigeres zu tun. Blitzartig hat sie die Gefährlichkeit der Lage erfasst und sich sogleich einen Plan zurechtgelegt. Sie redet darüber nicht erst mit ihrem Gatten (sie weiss schon, warum!), sie handelt sofort. Kurz darauf sieht man eine seltsame Karawane das Gehöft Nabals verlassen. (Nur Nabal sieht es nicht, er ist viel zu beschäftigt – oder vielleicht schon nicht mehr ganz nüchtern oder gerade beim Mittagsschlaf, wer weiss.) Da zieht eine Reihe Esel in die Steppe, geführt jeweils von einem Burschen und beladen mit einer erheblichen Menge Lebensmittel: 200 Fladenbrote, zwei Lederschläuche Wein, fünf Gefässe geröstetes Korn, 100 Portionen getrocknete Trauben und 200 Feigenkuchen. Und in einigem Abstand folgt diesem Zug ein einzelner Esel mit einer Dame darauf: Abigajil. Von der anderen Seite kommt ein ganz anderer Zug: 400 Bewaffnete, David als echter Kriegsmann vornan (nicht hintendran). Er hat sich inzwischen richtig in Wut geredet – «dem zeigen wirʼs, den kriegen wir, tot oder lebendig»
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– und da sieht er plötzlich die Eselskarawane kommen. Er gebietet seinen Leuten Halt. Mit Kennerblick schätzt er den Wert der Waren: Sehr erfreulich! Selten hat er so leicht so grosse Beute gemacht. Während er sich noch wundert, kommt um die nächste Wegbiegung noch ein Esel, darauf eine Frau reitend. Auch hier sieht David auf einen Blick: eine schöne, eine geradezu edle Person! Elegant lässt sie sich vor David vom Esel gleiten und sinkt zur Erde. Und dann redet sie! Sie bittet gar nicht erst um Erlaubnis, reden zu dürfen – sie hebt an und hört so bald nicht mehr auf. Sie redet nicht nur um ihr eigenes, sie redet um das Leben ihrer Familie und einer Menge Menschen. Sie spricht nicht nur flüssig und wortreich, sondern ungemein geschickt und gescheit. Ihr erstes Wort ist eine Selbstbezichtigung: «Auf mir allein, mein Herr, liegt die Schuld!» (Wir wissen, dass das nicht stimmt, und vermutlich war das auch David klar. Doch ist es in solchen Augenblicken wahrscheinlich klug, dem andern nicht mit dem Gestus verletzter Unschuld entgegen zu treten – und ihn damit ins Unrecht zu setzen.) Der nächste Satz lässt uns den Atem stocken: «Kümmere dich doch nicht um diesen aufsässigen Kerl, den Nabal. Er heisst nicht nur ‹Tor›, er ist auch einer. Ich habe von dem ganzen Vorgang nichts bemerkt.» Damit rückt sie nicht nur von ihrer anfänglichen Selbstbeschuldigung – sie rückt noch viel deutlicher von ihrem Mann ab: äusserst ungewöhnlich für eine orientalische Frau. Es ist ein kühnes Spiel, das Abigajil treibt! Und sie geht noch einen Schritt weiter: Bei deinem Leben, mein Herr, und bei Gott, der dich davor bewahrt, Blutschuld auf dich zu nehmen: Möge es so wie Nabal allen deinen Feinden ergehen! Was meint sie wohl damit? Doch anscheinend nichts Gutes für ihren Mann!? Du aber, David, fügt sie an: Du darfst um Gottes willen ihretwegen keine Blutschuld auf dich laden! David beginnt nachzudenken – und wir mit ihm. Diese Frau beschönigt nicht, dass er Feinde hat, die ihm übel wollen, und dass ihr Mann Nabal zu ihnen gehört. Sie gibt sich überzeugt davon, dass es allen seinen Feinden schlecht ergeht, dass es ihnen nicht gelingen wird, David zu Fall zu bringen. Was ihm gefährlich zu werden droht, sind nicht seine Feinde, sondern seine eigene Gewaltbereitschaft. «Lade um Gottes willen keine Blutschuld auf dich!» Es ist eine seltsame Mischung von Zuspruch und Widerspruch, von Konzession und Kritik, die David aus diesen Worten entgegenkommt: Deine Feinde werden dir nicht schaden können – doch schade du dir nicht selber! Wie beiläufig deutet Abigajil plötzlich auf die Esel und bittet, man möge doch das Geschenk, das sie mitgebracht habe, unter Davids Leuten verteilen! Schau, heisst das: Da hast du, was du von Nabal wolltest – vielleicht sogar ein bisschen mehr. Was willst du jetzt noch? Etwa Rache? Manchmal, so lernen wir von Abigajil, muss man aufgebrachten, zum Kampf entschlossenen Männern Geschenke machen. Da genügen Worte allein nicht, da sind Taten nötig. Man muss etwas hergeben, das man vielleicht gern behalten hätte – darf dann aber hoffen, dass die Wut sich legt. Es ist interessant,
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E. Praktische Ausblicke
sich zu überlegen, wo solche Gesten stattfinden – und wo nicht: etwa in bestimmten Ehekonstellationen, oder in bestimmten Arbeitsverhältnissen, oder in verfahrenen Situationen zwischen Alten und Jungen, oder zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen – auch in der grossen Politik. Was geschieht in der Weltwirtschaft, was im Verhältnis der reichen zu den armen Ländern, um Wut zu heilen, Not zu lindern, Freundlichkeit und Sanftmut zu wecken? (Es ist nicht nichts, aber längst nicht genug.) Was ist die Weltmacht USA, was ist Europa bereit aufzugeben oder herzugeben, damit sich das enorme wirtschaftliche und politische Gefälle zwischen so genannt christlicher und islamischer Welt verkleinert? Wozu müssten sich die Israelis, wozu vielleicht auch die Palästinenser bereit finden, damit der Friede nicht in unerreichbare Ferne entschwindet? Der geschickte Hinweis auf die beladenen Esel schafft Abigajil Raum für den zweiten Anlauf auf ihr eigentliches Ziel. Sie will nicht nur für dieses eine Mal den Warlord David zurückhalten; sie spürt, dass vor diesem Mann eine grosse Zukunft liegt und dass er in Gefahr ist, sie durch Unbeherrschtheit und Gewalttätigkeit aufs Spiel zu setzen. David soll anders sein, als die Warlords und die Landlords, die Generäle und die Kriegsminister normalerweise sind. Er soll einer werden, der bereit ist, auf Gewalt zu verzichten: nicht aus Mangel an Machtmitteln, sondern aus der Einsicht, dass aus Gewalt nichts Gutes wächst. Beim zweiten Teil ihrer Rede bringt Abigajil betont Gott ins Spiel – und damit den, der über allen Landlords und Warlords dieser Welt steht. Nicht deren kurzfristige und fragwürdige Interessen sollen das Handeln bestimmen, sondern seine langfristigen und guten Pläne. Gott, sagt sie zu David, Gott wird dir ein beständiges Haus gründen (das sagt sie mit prophetischer Sicherheit, und man hört der Formulierung an, dass sie ein Königshaus meint), und Gott wird dich seine Kriege führen lassen – (seine Kriege, hörst du – nicht die, die du selbst vom Zaun reisst). Gott hat mit dir Grosses im Sinn – und da darf an dir nichts Böses haften! Gott, dessen darfst du gewiss sein, wird dein Leben schützen, während die, die dir nach dem Leben trachten, ihr Leben verlieren werden. (Wiederum ein prophetischer Satz, der sich im Verlauf der weiteren Davidgeschichte punktgenau erfüllen wird.) Wenn du dann eines Tages dort angelangt bist, wo Gott dich haben will – an der Spitze seines Volkes –, dann sollst du dir doch keine Vorwürfe machen müssen, dass du dich rücksichtslos durchgesetzt und ohne Not Blut vergossen hast! Mir fällt auf, dass David die ganze Zeit noch kein Wort gesagt hat. Hier redet nur eine, und das ist Abigajil. Der Mann, der ihr und ihrer Familie Schicksal in Händen hält, schweigt; und hört zu. Er hört ihre weitreichenden Ankündigungen – und ihre sehr konkreten Forderungen. Sie gibt viel: «Du wirst König!», verkündet sie dem eben vom Königshof Gejagten. Und sie verlangt viel von diesem Warlord: «Du musst lernen, dich nicht rücksichtslos durchzusetzen!» – Wahrscheinlich kann sie nur fordern, weil sie gibt.
1. Gottesdienstelemente zu 1Sam 25
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David spürt, dass ihm von dieser Frau nicht Angst und Wut entgegenschlägt, sondern Zuversicht und Zutrauen. Er ahnt: Nicht Härte und Gewalt werden mir Erfolg bringen, sondern Gelassenheit und – ja, Gottvertrauen. Gott ist gross und grosszügig – warum sollte ich klein und gemein sein? In seinem Nachdenken hört er eben noch, wie Abigajil zum Schluss sagt: «Wenn Gott dir einst wohl tut, dann, mein Herr, denk an deine Magd!» Erstaunt hebt er den Blick. Was hat sie gesagt? Er soll später an sie denken? Ja, das wird er tun, fürwahr! Wie sollte er diese Frau vergessen? Sie sieht erleichtert die Freundlichkeit in dem zuvor verhärteten Gesicht. Und Davids Antwort zeigt ihr (und uns), dass er die Lektion begriffen und beherzigt hat: «Gepriesen sei der Ewige, der Gott Israels, der dich mir heute entgegen gesandt hat!» Auch er also redet von Gott. Er akzeptiert den Platz, den sie ihm zugewiesen hat: unterhalb von Gott. Und er begreift auch, dass es kein anderer als Gott war, der ihm diese Frau entgegen geschickt hat: «Gepriesen sei auch deine feine, kluge Art, gepriesen seist du selbst, weil du mich abgehalten hast, in Blutschuld zu fallen und mich rücksichtslos durchzusetzen. So wahr Gott lebt, der mich gehindert hat, dir etwas Schlimmes anzutun: Wärest du mir nicht entgegengeeilt, ich sage dir: Keiner in Nabals Anwesen, der an die Wand pisst, wäre am Leben geblieben!» Sie fährt zusammen. Den vulgären Ausdruck hat er zwischen den Zähnen herausgepresst, als könnte er sich alles noch einmal anders überlegen. Aber dann lächelt er wieder und sagt: «Zieh in Frieden wieder in dein Haus hinauf! Schau, ich habe dir Gehör geschenkt und dir Wohlwollen erwiesen.» Huldvoll heisst er seine Leute die Eselslasten entgegennehmen und gibt Befehl zum Abzug. Wir dürfen aufatmen. Abigajil hat die drohende Gewaltorgie verhindert. Und sie hat einen potentiellen Gewaltmenschen verändert. Man muss sich das vorstellen: Sie allein, eine einzelne Frau, gestützt auf nichts als ein paar Eselslasten Lebensmittel und auf einen klugen Verstand! Vielleicht war genau das ihr Geheimnis: dass sie machtlos und wehrlos war – dabei aber gar nicht kopflos und einfallslos. Sie jagte David keine Furcht ein, gewann aber sehr schnell seine Achtung, sein Ohr und – sein Herz. Nun war David allerdings auch ein ungewöhnlicher Warlord: einer, der zuhören konnte, nachdenken – und sich ändern. Von Abigajil lernte er eine wichtige Lektion: Gross wird man nicht durch Grossmächtigkeit, sondern durch Grosszügigkeit. Gewalt führt höchstens vorübergehend zu Ruhe, nicht zu Gerechtigkeit und Frieden. Gott ist auf der Seite nicht derer, die sich nehmen, was sie wollen, sondern derer, die warten, was er ihnen zugedacht hat. Gedanken sind das, denen man lange nachdenken könnte. Ich will aber noch rasch die Geschichte zu Ende erzählen. Abigajil kehrte nach Hause zurück und fand dort ihren Mann vor: bester Laune und schwer angeheitert. Ein königliches Gelage habe er veranstaltet, wird bemerkt – so, als wäre er der kommende König und nicht David! Abigajil zieht es für den Augenblick vor,
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E. Praktische Ausblicke
zu schweigen. Am nächsten Morgen aber, als er wieder nüchtern ist, berichtet sie Nabal, was vorgefallen ist – mit einer erschreckenden Folge: «Sein Herz erstarb in seinem Leib, und er wurde wie ein Stein» – die präzise Beschreibung eines Herzinfarkts! War Nabal nachträglich so erschrocken über die tödliche Gefahr, in der er und die Seinen geschwebt hatten – oder hielt er den Gedanken an die verloren gegangenen Eselslasten nicht aus? Jedenfalls lag er danach zehn Tage im Koma, dann starb er – vielmehr: dann «schlug ihn Gott»! Als David von Nabals Tod erfuhr, sandte er Boten, die für ihn um Abigajils Hand anhielten. Er hat also tatsächlich «an sie gedacht», nachdem Gott ihm «wohlgetan» und seinen Feind Nabal beseitigt hatte. Ob Abigajil schon gleich, als sie das damals sagte, an diese Möglichkeit gedacht hatte? Jedenfalls antwortete sie Davids Abgesandten ohne Zögern: «Gern will ich seine Sklavin sein und die Füsse seiner Diener waschen.» So wunderbar bescheiden, will der Erzähler sagen, blieb diese mutige und kluge Frau. Kein peinliches Triumphieren, kein gewundenes Zögern, sondern ruhige Bereitschaft und stille Entschlossenheit. Ohne weitere Worte bestieg sie ihren Esel und ritt mit fünf Dienerinnen zu David hinaus. David konnte sich glücklich schätzen, diese Frau gewonnen zu haben! Dank ihrem Einsatz blieb ihm das Schicksal der meisten Warlords erspart: sich in immer neue Waffengänge zu verstricken – und doch nie mehr zu werden als ein Warlord. Abigajil half David, ein grosser Herrscher zu werden: einer, der nicht zuerst seine Untertanen (oder seine Feinde) zu beherrschen trachtet sondern – sich selbst. So, sagt die Bibel, sollen die sein, denen Gott Gewalt über andere Menschen gibt: so wie David, der sich von Abigajil belehren liess. 1.2. Fürbitten Ewiger Gott – wir kommen zu Dir mit unserem Gebet, weil wir uns bedrückt fühlen von all der Gewalt um uns her, vom Mangel an Frieden und Gerechtigkeit im Grossen wie im Kleinen. In manchem, das bekennen wir, sind wir ratlos, wissen nicht, was richtig und falsch ist, fühlen uns verlassen auch von dir. Wir sind entsetzt, wie das alles hat kommen können: der Terror, der Krieg gegen den Terror, die Angst vor Terror und Krieg. Bist du nicht ein Gott der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens? Willst du dein Volk und die Welt im Stich lassen, willst du zusehen, wie wir den Mut verlieren? Wir bitten dich für die in Unruhe geratene Völkerwelt,
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für unsere verunsicherte Gesellschaft, für unsere oft nur äusserlich friedfertigen privaten Beziehungen, für uns selbst, die wir kaum Mittel wissen gegen die allgegenwärtige Gewalt. Wir bitten dich, Ewiger: Wende dich deinem Volk und deiner Welt von neuem zu! Lass die Menschen nicht zurückfallen in das primitive «Wie du mir, so ich dir»! Lass sie zurückfinden zu ihrer Bestimmung, dein Ebenbild zu sein. Lass sie im jeweils anderen dich und sich selber erkennen. Wir bitten dich: Bring du erstarrte Gedanken und Herzen in Bewegung, brich verhärtete Haltungen auf, besänftige Gereizte und Verbitterte, bewirke Umkehr und Neuanfang! Wir bitten dich für die unter militärischer Gewalt Leidenden in Afghanistan, Palästina, Tschetschenien, Irak; für die von Armut und Mangel Gequälten in so vielen Ländern unserer Erde, für die vor ungenügenden Lebensbedingungen Flüchtenden für die hierzulande Marginalisierten; wir bitten dich für die von Macht und Gewalt träumenden Ewig-zu-kurz-Gekommenen für die durch hemmungslose Gewaltdarstellungen Verdorbenen, für die durch Gewalttätigkeit versehrten Kinder und Frauen für die der Gewalt der Menschen unterworfenen Tiere. Wir bitten dich um Menschen, die einstehen für Frieden und Gerechtigkeit, die überraschende Wege finden, um die Gewalt zu unterlaufen, die auf neue Einfälle kommen, um festgelegte Gleise zu verlassen, die mutiger und stärker sind als die Gewaltmenschen. Wir bitten dich um eine sichere Zukunft für unsere Jugend, um glückliche Tage für unsere Alten, um Genesung unserer Kranken, um Freude bei der Arbeit und Geduld bei Misserfolg. Wir bitten dich um Sympathie und Zuneigung unserer Mitmenschen um die Treue unserer Freunde, um die Liebe derer, die wir lieben, um die Achtung derer, die uns nicht mögen. Wir bitten dich, dass wir Schritte des Friedens gehen, dass wir einander nicht im Stich lassen, dass wir nicht übel nehmen und für die da sind, die uns brauchen. Amen.
WD
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E. Praktische Ausblicke
2. «Das Schwert in der Bibel»: Elemente eines Gottesdienstes zu einem biblischen Thema 2.1. Lesungstexte (verbunden jeweils durch kurze Ein- und Überleitungen) I. Wenn Menschen das Schwert führen... «Du hast den Hethiter Urija mit dem Schwert erschlagen und dir seine Frau zur Frau genommen [...]; darum wird das Schwert nun nicht mehr von deinem Hause weichen.» (2Sam 12,9f) «Rufet dies aus unter den Völkern: Rüstet zum Kriege, erwecket die Helden [...]! Schmiedet eure Pflugscharen zu Schwertern und eure Rebmesser zu Spiessen!» (Joel 4,9f) «Grosse Not wird über das Land kommen und ein Zorngericht über dieses Volk, und sie werden durch die Schärfe des Schwertes fallen.» (Lk 21,23f)
II. Das Schwert als Gerichtswerkzeug Gottes – gegen das eigene Volk... «Wenn ihr willig seid und gehorcht, sollt ihr das Beste des Landes kosten; wenn ihr euch weigert und widerstrebt, sollt ihr das Schwert kosten.» (Jes 1,19f) «Gott hat sein Volk dem Schwert überliefert, so entrüstet war er über sein Erbe. Die Jünglinge frass das Feuer [...], die Priester fielen durchs Schwert, die Witwen konnten nicht Totenklage halten.» (Ps 78,62–64)
III. Das Schwert als Gerichtswerkzeug Gottes – gegen andere Völker «Ihr werdet eure Feinde vor euch her treiben, und sie werden vor euch dem Schwert verfallen.» (Lev 26,7) «Trunken ward im Himmel das Schwert Gottes. Siehe, auf Edom fährt es herab, auf das Volk, das er dem Bann geweiht hat, zum Gericht.» (Jes 34,5)
IV. Vertrauen nicht aufs eigene, sondern höchstens auf Gottes Schwert «Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Wurfspiess; ich aber komme zu dir im Namen Gottes.» (1Sam 17,45) «Denn nicht auf meinen Bogen verlasse ich mich, und mein Schwert kann mir nicht helfen. Nein, du hilfst uns vor unsern Bedrängern.» (Ps 44,7f) «Das Wort Gottes ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert; es dringt hindurch bis zur Scheidung von Gelenken und Mark der Seele und des Geistes und es ist ein Richter der Gedanken und der Gesinnung des Herzens.» (Hebr 4,12)
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2.2. Predigt Predigtteil I: Hervor das Schwert! Altes Testament Man kann sich ja nicht alles gefallen lassen. Es kann ja nicht alles erlaubt sein. Man muss sich ja noch wehren dürfen. Dem Unrecht muss doch Einhalt geboten werden. Bösewichtern muss doch in den Arm gefallen werden. Auf das Schwert kann man doch nicht verzichten. Wer denkt nicht so, liebe Gemeinde? Auch die friedliche Schweiz hat Polizei und Armee. Und so verteufelt auch die Bibel das Schwert nicht. Wir haben vorhin Schwert-Worte gehört – und einige davon tönten durchaus positiv: Schwert muss sein! In erster Linie braucht man es zur Abwehr von Feinden. Ich rufe eine exemplarische Geschichte aus dem Alten Testament in Erinnerung. Als die Israeliten, der biblischen Darstellung zufolge, soeben der Sklaverei in Ägypten entronnen waren, fielen in der Sinaiwüste schon die nächsten Feinde über sie her: die Amalekiter, ein räuberischer Nomadenstamm. Damals drohte erstmals die vollkommene Ausrottung Israels. Doch dazu kam es nicht, sondern zu der berühmten Szene, in der Mose, auf einem Hügel stehend, die Arme flehend zum Himmel ausbreitet, während drunten, in der Ebene, der Truppenführer Josua mit eilends zusammengestellten Bewaffneten dem hinterlistigen Feind entgegentritt. Solange Mose die Arme erhoben hält, halten die Israeliten stand, wenn er sie (vor Erschöpfung) sinken lässt, gewinnen die Amalekiter die Oberhand. Doch Moses Arme werden müde. Da kommt man auf die rettende Idee: Zwei junge Männer stützen die Schlacht entscheidenden Gebetsarme – und prompt wirft Josua «Amalek und sein Kriegsvolk nieder mit der Schärfe des Schwertes» (Ex 17,13). Eine tröstliche Geschichte für alle, die einem kleinen Völkchen das Überleben gönnen. Beunruhigend aber für währschafte Schwertträger und Truppenführer: Ist denn im Ernstfall auf Gott Verlass? Könnte er seinen Schutz nicht versagen – und dann wäre man dem Schwert der Feinde schutzlos preisgeben? Genau davon spricht das Alte Testament immer wieder. Es ist kein chauvinistisches Buch. Gott kann Israel schützen, er muss es aber nicht. Das hängt jeweils davon ab, wie Israel sich verhält. Nachdem Israel sich im Gelobten Land niedergelassen hat, hat es manche Siege erlebt, aber eher noch mehr Niederlagen; und die biblischen Zeugen zögern nicht, dafür eigenes Versagen und Gottes Zürnen verantwortlich zu machen. Krass wird dies im 21. Kapitel des Buches Ezechiel formuliert, kurz vor dem Untergang Jerusalems und der Babylonischen Gefangenschaft:
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Was für ein Bild von Gott! Mitnichten einer, der Israels Schwert zum Sieg gegen die Feinde hilft, vielmehr einer, der «grimmig» ist und sein Volk dem Feind preisgibt; der sogar «in die Hände klatscht», wenn das Schwert wütet! Es ist eine ambivalente Sache mit dem Schwert. Es wirkt oft ganz anders, als die Betreffenden es sich vorstellen. Neues Testament Der einzige Text, der etwas wie eine theologische Begründung staatlicher Gewalt und eine Rechtfertigung des Schwertgebrauchs bietet, stammt vom Apostel Paulus und steht im Römerbrief, Kap. 13. Die Obrigkeit ist «Gottes Dienerin, dir zugut. Tust du aber Böses, so fürchte dich; denn sie trägt das Schwert nicht umsonst: sie ist Gottes Dienerin und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.» (Röm 13,4)
Die Begründungsmuster sind bekannt und bis heute nicht überholt: Nicht der Einzelne verfolgt den Straftäter, nicht die Familienangehörigen rächen den Mord, nicht private Schutztruppen setzen das Recht durch, sondern die staatliche Obrigkeit. Das Böse, insofern es sich kriminalistisch erfassen lässt, gehört zum Zuständigkeitsbereich des staatlichen Gewaltmonopols und darf nicht in die Hände privater Rachgier fallen. Das Schwert wird somit dem Einzelnen aus der Hand genommen und allein dem Staat überlassen. Nun klingen solche Ansätze im Rahmen stabiler demokratischer Strukturen ganz vernünftig. Das Gewaltmonopol des Staates unterliegt heute der Kontrolle durch die Organe einer kritischen Gesellschaft. Polizeiwillkür, Menschenrechtsverletzungen, Folter, Bestechung usw. können dadurch in gewissen Grenzen gehalten werden. Für den antiken römischen Staat gilt dies allerdings nur in sehr eingeschränktem Masse. Die polizeilichen Aufgaben oblagen überwiegend dem Militär, und dieses kam seiner Aufgabe in der Stadt Rom auch leidlich gut nach. In den Provinzen jedoch war der Willkür der siegreichen römischen Armee kaum eine Grenze gesetzt. Ob man auch dann von der staatlichen Gewalt als Gottes Dienerin sprechen kann, wenn sie ihr Schwert nicht nur gegen das Böse, sondern auch gegen das Gute richtet? Das ist eine bohrende Frage, die sich der Apostel Paulus hier nicht stellt. Einige Jahre nach Abfassung dieses Briefes sollte sich der römische Kaiser Nero gegen das Christentum wenden.
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Der Tradition nach fand dabei auch Paulus den Tod! Das Schwert, das er in Röm 13 also noch im Dienste Gottes wähnt, sollte ihn später selbst willkürlich zu Tode bringen! Das Schwert ist also auch in Händen der staatlichen Obrigkeit ein äusserst zwiespältiges Instrument. Dieser Zwiespalt kommt in einem schwierigen Wort Jesu zum Ausdruck: «Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwert.» (Mt 10,34)
Von Kindheit an war mir die Vorstellung, dass Jesus ein Mensch ganz anderer und besonderer Art war, ein Rettungsanker in meiner religiösen Vorstellungswelt: Der sanftmütige, gewaltlose, liebevolle Gottessohn, der Gott endlich jenes Gesicht gibt, das uns die Angst vor ihm zu nehmen vermag! Bevor wir aber unsere Jesusbilder in Watte einpacken und er damit zum harmlosen Begleiter unserer Kompromisse mit der Macht des Faktischen wird, setzt sich der eben zitierte Vers für Jesus zur Wehr: Der Gewaltlose war zugleich der Radikale, der Sanftmütige zugleich auch der Stein des Anstosses. An ihm sollten sich von damals bis heute die Geister scheiden. In diesem Sinne bringt er keinen Frieden, keinen billigen Kompromiss, keinen Ausgleich, kein Zurückgehen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Was in den Evangelien als Nachfolge bezeichnet wird, ist ein Ruf an den Rand aller Sicherheiten; es beinhaltet immer auch die Kühnheit, das Leben unter dem Blickpunkt zu betrachten, dass alles anders sein könnte, dass die gesellschaftlich gültigen Regeln und Gesetze zu hinterfragen sind, dass das Geld nicht das erste und die Gewalt nicht das letzte Wort haben müssen. Dort wo Menschen sich auf diesen Grenzweg des Glaubens einlassen, kann sie das in Ablehnung und Verfolgung führen. Jesus ist diesen Weg vorausgegangen; er, von dem die Bibel als Friedensfürsten spricht, ist von Schwertträgern ergriffen und getötet worden. Seine Offenheit im Umgang mit dieser Realität ist schockierend und dadurch wieder heilsam: Die Absolutheit seines Anspruchs an das ganze Leben wird die Menschen entzweien, wird zu Streit und schliesslich zum Eingriff des Schwertes führen. Das ist das Paradoxe: Radikale Friedfertigkeit, wie sie Jesus forderte und vorlebte, verursacht schliesslich wieder eine Krise, die zur Gewalt führen kann. Das Schwert lässt sich nicht wegreden, es gehört zu dieser gefallenen Welt.
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E. Praktische Ausblicke
Predigtteil II: Weg das Schwert! Neues Testament Die Stunden vom letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern bis zu seiner Hinrichtung gehören zu den dramatischsten Momenten biblischer Erzählung. Mit erstaunlicher Ruhe, aber nicht ohne Angst, gibt sich Jesus seinem Todesschicksal hin. Er tut dies nicht einfach nur, um einen vorgegebenen Heilsplan zu erfüllen, sondern auch, weil dies einer radikal anderen Haltung im Umgang mit Gewalt und Gegengewalt entspricht. Als sich der Mob mit Schwertern und Knüppeln dem Propheten aus Galiläa nähert, um ihn festzunehmen, reisst einem Jünger der Geduldsfaden. Der verheissene Messias sollte doch ein Befreier, ein siegreicher Held sein! Und ein solches Ziel ist doch angesichts der Gewalt nur mit Gegengewalt zu erreichen! Das oder Ähnliches flüstert ihm die Logik der Macht ins Ohr … Der eifrige Jünger zieht sein Schwert in der Überzeugung, für eine gerechte Sache zu kämpfen. Diese gerechte Sache kostet einen Diener des Hohepriesters ein Ohr! Es hätte ihn auch eine Hand oder gleich das Leben kosten können. Die Stimmung ist aufgeheizt, wie immer wenn Gewalt ins Spiel kommt. Auf der einen Seite eine gewaltbereite Menschenmenge und auf der anderen Seite Jesus und seine Jünger – aufgewühlt, übermüdet, von Trauer umfangen, zu allem bereit, zu nichts wirklich mehr in der Lage. Es treibt sie der Mut der Verzweiflung; jene Alternative, die in der Geschichte für soviel Unheil verantwortlich zeichnet: Siegen oder Untergehen! Wir wissen entweder aus eigener oder fremder Erfahrung, wie ansteckend Gewalt sein kann – und dies erst recht in einer so heiklen Situation! Wo ein Schwert zum Einsatz kommt, da findet sich schnell ein zweites, ein drittes … und bald entbrennt ein Kampf, der den Garten Gethsemane in kurzer Zeit mit Blut getränkt hätte. In dieser explosiven Lage greift Jesus souverän ein: «Steck dein Schwert in die Scheide! Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen! Oder meinst du, dass ich nicht meinen Vater bitten könnte, und er würde mir sogleich mehr als zwölf Legionen Engel zur Seite stellen?» (Mt 26,52f)
Dem Sohn Gottes stünden alle Mittel der Macht, ja sogar der absoluten Übermacht zur Verfügung. Er könnte Angst und Schrecken verbreiten, er könnte jeden Gehorsam mit himmlischen «preemptive strikes» erzwingen. Jesu Weg ist aber gerade ein anderer. Er versagt sich nicht nur radikal jeder Anwendung physischer Gewalt gegen Menschen, er wird als Sohn Gottes auch noch Opfer von Gewalt, und zwar in ihrer ungerechtesten, brutalsten und demütigendsten Form. Diese Haltung wird ganz kategorisch begründet: «Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen!» Das heisst nicht nur, dass Gewalt immer Gegengewalt auslöst, sondern dass man mit der Gewalt längerfristig selbst untergeht.
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Woran ist hier konkret zu denken? Vielleicht daran, dass Gewalt sich so lange hochschrauben kann, bis man selbst von einem Mächtigeren vernichtet wird. Der gewaltsame Untergang vieler Weltreiche mag dies illustrieren. Aber vielleicht ist viel allgemeiner daran zu denken, dass Gewalt einen selbst ins Verderben zieht. Wer anderen Menschen Gewalt zufügt, beschreitet einen Weg, auf dem er selbst als Mensch Schaden nimmt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um legitime oder illegitime Gewaltanwendung handelt. Wer Berichte liest von Soldaten, die in staatlich legitimierten Kriegen ihre Tötungshemmung überwunden haben, weiss, wie schwer es diese Menschen später damit haben, sich wieder in einen normalen Alltag einzugliedern. Die Geister, die sie riefen, werden sie nie mehr los. Das Schwert, das sie führten, richtet sie zugrunde. Diese Ambivalenz aller Gewalt nährt den Traum einer Welt, die ohne das Schwert auskommt! Altes Testament «Schwerter zu Pflugscharen»: der Ausdruck ist zum geflügelten Wort geworden. Er entstammt einer Weissagung, die gleich zweimal im Alten Testament überliefert ist – so bedeutsam fanden sie die Überlieferer. Sie lautet (in Jes 2, leicht gekürzt): «Und es wird sein am Ende der Tage, da wird der Berg mit dem Haus Gottes fest gegründet sein an der Spitze der Berge und alle Hügel überragen. Und alle Völker werden zu ihm hinströmen … Denn vom Zion geht Tora aus, das Wort Gottes von Jerusalem. Und er wird Recht sprechen zwischen den Völkern und zurechtweisen viele Nationen. Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden und ihre Spiesse zu Rebmessern. Kein Volk mehr wird gegen das andere das Schwert erheben, nicht mehr werden sie das Kriegführen lernen. Haus Jakob, lasst uns unbedingt im Licht Gottes wandeln!»
Wie wäre das, wenn die Schwerter wirklich einmal abgeschafft wären? Keine Gewehre mehr; keine Panzer, Marschflugkörper, FA-18. Keine Offiziere mehr und keine Soldaten, die das Töten üben; nur noch Kriegsdienstverweigerer und Zivildienstleistende, die einzig und allein dem Leben dienen wollen. Kein Volk mehr, das gegen das andere zur Gewalt greift, weltweit nichts als Gerechtigkeit und Frieden … Ein Traum wäre das, zu schön um wahr zu sein. Wie kann das Alte Testament wagen, ihn zu träumen? Vermutlich in der Hoffnung, dass eines Tages die Völker des ständigen Blutvergiessens müde sein und ernsthaft nach Alternativen Ausschau halten würden. Dabei fiele ihr Blick auf den Zion: nicht, wie sonst so oft, in begehrlicher Absicht – zionistisch oder antizionistisch, pro-
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E. Praktische Ausblicke
israelisch oder anti-israelisch –, sondern auf den Zion als den Berg Gottes, von dem die Tora ausgeht, das Gesetz, die gute Lebensweisung Gottes. Wer auf sie hört, wird des Wahnsinns gewahr, den das stetige Rüsten und Drohen und Kämpfen und Töten darstellt. Er merkt, dass besser als das Recht des Stärkeren der gerechte Ausgleich wäre. Ach, käme es doch dazu, dass «Recht gesprochen wird zwischen den Völkern» – dass Nationen zurechtgewiesen, in die Schranken gewiesen, dass andere aus Elend und Unterwerfung aufgerichtet würden! Da kämen alle auf gleiche Höhe: reiche Nationen und arme, die im Weltnorden und im Weltsüden, alte Europäer und neue Europäer (und künftige Europäer), gebändigte Supermächte und geläuterte Schurkenstaaten – alle würden sie freiwillig und gern dem Recht Folge leisten, keiner risse das Recht allein an sich, keinem würde das Recht auf Existenz und Wohlstand bestritten, jeder setzte sich für das Recht das anderen ein wie für das eigene, keiner müsste sich vorm andern mehr fürchten. Dann, dann endlich wäre es so weit, dass abgerüstet werden könnte: ohne Vorbehalte, ohne Misstrauen und Sonderrechte – alle Schwerter zu Pflugscharen, alle Spiesse zu Rebmessern! Nicht versteckt wird das Kriegszeug, auch nicht bloss vernichtet, sondern umgearbeitet; die Rüstungsbetriebe nicht einfach geschlossen (da hörte man ja schon die Proteste wegen der Arbeitsplätze), sondern umgerüstet: Aus Waffenschmieden werden Werkhallen für die Friedensproduktion, der Rüstungsmarkt trocknet aus, der Rüstungshandel kommt zum Erliegen. Statt Tötungsmittel gibt es Lebensmittel, ausreichende und gesunde Ernährung für alle. Geld, Knowhow und Ressourcen fliessen in Medizin für die Armen, in Meerwasserentsalzungsanlagen und Massnahmen zur Luftreinhaltung, in Alternativenergien und Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen. Geld ist genug da. 794 Milliarden Dollar wurden letztes Jahr für Rüstung ausgegeben, 43% davon allein von den USA (so war es kürzlich in der Zeitung zu lesen). In der Schweiz wird derzeit darüber gestritten, ob man vier, fünf oder sechs Haushaltsprozente mehr für die Bildung ausgeben soll; die Differenz macht kein Tausendstel der Weltrüstungsausgaben aus! Diese steigen unaufhaltsam an: um 6% gegenüber dem Vorjahr, um 14% gegenüber 1998. Ob Wirtschaftsflaute, Bildungsengpässe oder Rentenkürzungen – das Schwert hat immer Konjunktur! Wie viel hat der Irak-Krieg wirklich gekostet (und kostet er immer noch und wird er noch kosten) – und wer kommt dafür auf? Und der TschetschenienKrieg? Wie viel billiger wäre es, den Palästinensern zu Wohlstand zu verhelfen, als ihr Land blutig besetzt zu halten? Wie viel würde ein Energie- und Ernährungsprogramm für Nordkorea kosten im Vergleich mit den Kosten (nicht nur den finanziellen!) eines Krieges gegen dieses Land? Wie viel günstiger als der weltweite «Krieg gegen den Terror» wäre der Kampf gegen Hunger und
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Unzufriedenheit auf der Welt (ich meine nicht nur materiell, sondern politisch und moralisch)?! «Schwerter zu Pflugscharen» – pure Illusion? Ich würde sagen: Nicht Illusion, sondern Utopie! Utopien sind nicht un-vernünftig, sondern mehr-alsvernünftig; sie schwingen sich über das derzeit Übliche und Machbare hinaus, dem unbedingt Wünschbaren entgegen. Sie wehren der Mittelmässigkeit und der Resignation. Sie bringen auf den Weg zu einem hochgesteckten Ziel. Der letzte Satz des vorgelesenen Textes ist die Reaktion eines frühen Lesers auf die grosse Utopie von der waffenlosen Welt: «Haus Jakob, lasst uns unbedingt im Licht Gottes gehen!» Das heisst: Auch wenn die anderen Völker den gewiesenen Weg noch nicht gehen, wenn sich namentlich die Mächtigen der Welt sperren – wir, das Gottesvolk, gehen schon einmal los! Wir bringen Vorleistungen an Gewaltverzicht und Friedensdenken. Vielleicht lassen sich andere zu Ähnlichem anstiften. Und bis zum «Ende der Tage» wird Gott dafür sorgen, dass alle nachkommen! 2.3. Fürbitten Grosser Gott – lieber himmlischer Vater Wir treten vor dich in der Sorge um unsere Welt, um das Leben der Menschen und deiner Schöpfung, die durch vielfältige Gewalt bedroht sind. Wir sehen die vielfältige Unordnung und Gewaltbereitschaft, die das Zusammenleben gefährden: in den Familien, in Staat und Gesellschaft und in der Völkergemeinschaft. Wir bitten dich für die, denen es auferlegt ist, in dieser bedrohten Welt für Ordnung zu sorgen – «das Schwert zu führen»: Gib ihnen Weisheit und Bescheidenheit, dass sie die richtigen (und jeweils die zurückhaltendsten) Mittel finden, um Recht und Gerechtigkeit Raum zu schaffen. Wir bitten dich, Gott: Erhöre uns! Wir bitten dich für die, die an der Gewalt leiden, «die Opfer des Schwertes»: sei es, dass sie selbst davon getroffen werden, sei es, dass es sie schmerzt, wie es andere trifft. Sei du bei den Opfern: bei den Opfern der Kriege und Terroranschläge, bei den von Gewalt und Gegengewalt Geängstigten. Lass uns Wege aus der Gewalt finden, lehre uns und andere, den Gebrauch des Schwertes zu vermeiden, mach uns Mut, einer Welt ohne Schwert entgegen zu leben. Wir bitten dich, Gott: Erhöre uns!
WD / MM
Anhang Autorinnen und Autoren AB AL BA CHE JH KMH LM MM
Annemarie Beer Andreas Lüdi Beat Allemand Claudia Henne-Einsele Johanna Hess Katharina Mauerhofer-Henne Lukas Mühlheim Moisés Mayordomo
MR MS NB RH SB SK VHR WD
Markus Reist Martin Schranz Nora Blatter Roman Häfliger Sandra Begré Sara Kipfer Verena Hegg-Roth Walter Dietrich
BEThL
Bibliotheca Ephemeridum theologicarum Lovaniensium Beiträge zur Evangelischen Theologie Biblische Beiträge Biblische Enzyklopädie Biblische Gestalten Biblical Interpretation Bibel und Kirche Biblischer Kommentar Biblische Notizen Biblisch-theologische Studien Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament Biblische Zeitschrift Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft Concilium. Einsiedeln Der Neue Pauli
Bibliographische Abkürzungen ÄAT ADPV AGJU
ANRW AOAT ATD AThANT
AThR ATM BAT BBB BEAT
Ägypten und Altes Testament Abhandlungen des Deutschen Palästia-Vereins Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums Aufstieg und Niedergang der römischen Welt Alter Orient und Altes Testament Das Alte Testament Deutsch Abhandlungen zur Theologie des Alten und Neuen Testaments Anglican theological review Altes Testament und Moderne Botschaft des Alten Testaments Bonner biblische Beiträge Beiträge zur Erforschung des Alten Testaments und des antiken Judentums
BEvTh BiBe BibEn BibG BibIn BiKi BK BN BThSt BWANT
BZ BZAW
BZNW
Conc(D) DNP
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Bibliographische Abkürzungen EdF EHS.T
EKK
EvTh EWNT FAT FBESG
FKDG FRLANT
GTB HBS HNT HThK
HWP ICC JBL JBTh JSJ
JSNT
Erträge der Forschung Europäische Hochschulschriften. Reihe 23, Theologie Evangelisch-katholischer Kommentar zum Neuen Testament Evangelische Theologie Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament Forschungen zum Alten Testament Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft Forschungen zur Kirchenund Dogmengeschichte Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Van Gorcumʻs theologische Bibliothek Henry Bradshaw Society Handbuch zum Neuen Testament Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament Historisches Wörterbuch der Philosophie International critical commentary Journal of biblical literature Jahrbuch für biblische Theologie Journal for the study of Judaism in the Persian, Hellenistic and Roman period Journal for the study of the New Testament
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Journal for the study of the New Testament – Supplement series Journal for the study of the Old Testament Journal for the study of the Old Testament – Supplement series Journal for the study of the pseudepigrapha – Supplement series Kleine Vandenhoeck-Reihe Monograph series. Society for New Testament Studies Münchener theologische Studien Neue Echter Bibel Neue Echter Bibel – Kommentar zum Alten Testament Nouvelle revue théologique. Louvain Novum Testamentum. Leiden Das Neue Testament Deutsch Neukirchener theologische Dissertationen und Habilitationen New testament sudies. London Neue Zürcher Bibel (vorläufige Übersetzung) Orbis biblicus et orientalis Oekumenische Studien Ökumenische Rundschau Old Testament abstracts Quaestiones disputatae Reallexikon für Antike und Christentum Religion in Geschichte und Gegenwart
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Anhang Stuttgarter biblische Aufsatzbände Stuttgarter biblische Beiträge Stuttgarter Bibelstudien Studia semitica Neerlandica Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Theologische Literaturzeitung Theologia practica Theologische Wissenschaft Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament Theologische Zeitschrift. Basel Theologische Realenzyklopädie Trierer theologische Studien Trierer theologische Zeitschrift
TUAT UTB VT.S WBC WMANT
WUNT
WzM ZAW ZBK ZEE ZThK
Texte aus der Umwelt des Alten Testaments Uni-Taschenbücher Vetus Testamentum – Supplements World Biblical Commentary Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Wege zum Menschen Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft Zürcher Bibelkommentare Zeitschrift für evangelische Ethik Zeitschrift für Theologie und Kirche
Bibelstellenregister Altes Testament und Apokryphen Gen 1–11 1 1,1–2,4a 1,22 1,24–31 1,26–28 1,26.27 1,28 2 2,16–17 3 3,15 4,1–16
141 110 77 110 110 77 112 78 114–116 192 29–30 114 28–29
4,14 4,15 4,17–24 4,23–24 4,24 6,5–6 8,15–9,17 8,21–22 9,4 9,12–16 11,1–11 12,10–20 20,1–18 25,25 25,27 26,7–11 27
192 185, 192 31 159, 247 185 192 113 192 154 192 192 141 141 225 225 141 221, 233
29,31 31 31,13 32–33 32,7–8 32,7 33,1–17 37–50 37 37,1–25 39–41 41,38–39 42 42,24 43,30 44,2 44,18–34
226 223 222 226 221 223 218–226 227–237 227 232–233 234 234 234 236 236 235 236
271
Bibelstellenregister 45,2 45,5–8 50 50,19–20
236 232, 236 236 232, 237
Ex 1–14 51 2,11–12 194 3–4 194 13,1–16 42 15 81 15,3–4 102 17,13 261 20,2 51 20,12 40 20,22–23,23 152 21–23 157 21,12 232 21,15 41 21,16 232 21,17 41 21,22–25 157–161 21,23–25 202 21,23 185 22,26 204 22,29 153 23,4–5 207 23,5 153 23,11–12 152–153 32,20 76 34,26 153 Lev 11,7 17,11 19,2 19,18 20,9 22,17–25 22,27 24,19–21 26,7
244 154 210 206 41 79 153 202 260
Num 14,39–45 22 22,22–35
82 155 80
Dtn 5,16 6,4 14,12 15,12–18 17,16 19,18–21 20 20,1.10–14 20,2–9 20,15–18 20,19–20 20,19 21,17 21,18–21 22,9 24,12–13 25,4 32,35 Ri 9,7–15 15,4–5 1Sam 4–6 6,7–12 17 17,45 18,7 18,11 19,10 23–24 24 25 26 2Sam 8 8,13 11–12 12,1–4 12,9–10 13,1–22 24 1Kön 1–2
40 71 153 56 199 202 161–182 162–164 164–165 163–164 162–164 153 244 41 153 204 154 189 54 79 68 156 195 260 195 195 195 195 195 251–260 195 51 92 34 34 260 33 193 53
11,14–25 13,21–24 18,40 21,3
51 156 71 55
2Kön 6,8–23 10,12–14 18,4 22,1
196 53 77 71
Esr 10 10,2
143 143
Hiob 12,7 19,25 21,17 .19 21,30–31 31,29 38–42 38–39
155 190 190 190 207 116 120
Ps 3–14 7,5–6 8,2–10 13,2 20,8–9 35,17 37,12 44,7–8 46,6–8 58,4–11 72,2–4 72,13–14 76,4.7 78,62–64 102,4–6 102,26 103 104 104,5–7 104,10–24 145,9 147,10–11
146 202 147–152 145 196 145 223 260 86 186 149 151 197 260 146 148 245 118 147 119 209 199
272 Spr 6,6–8 8,15–16 10–29 12,10 13,1ff 19,12 19,18–20 20,2 20,22 22,15 23,13–15 24,17–18 24,21–22 28,15 30,24–28
Anhang
155 169 38 154 38 54 37 54 189, 202 37 37 207 54 54 155
Hld 7,5
223
Weish 2,18 6,1–8 18,14–16
209 169 103
Sir 4,10 10,4 17,3 17,14
209 169 111 169
Jes 1,3 1,5–9 1,5–8 1,11–17 2,1–5 2,3–4 5,27–29 9,1–6 9,6 10,13–14 11,4–5 11,6–8 14,8 19,23–25 25,6–8 29,29–30
155 193 86 154–155 265 107 85 107 107 85 108 108, 114 153 108 131 138
30,1.3 30,15 –16 31,1.3 34,5 40,19–20 44,9–20 63,1–3
197 197–198 197 260 69 70 103
Jer 8,7 22,19 27–29 29,7 31,33 49,35
155 79 198 207 106 197
Ez 17,19 21,13–18
199 262
Dan 2,21 9,26
169 99
Hos 4,1–2 6,6 11
58 155 193
Joel 4,9–10
260
Am 2,6 4,1–2 6,1–6
57 56 56
Jon 3,5–10 4,1–3 4,2
143 143 142
Mi 2,1–5 3,1–4 4,1–5 7,5–6
56 56 107 45
Hab 2,17
153
Zef 2,11 3,9
109 109
Sach 4,6
199
Neues Testament Mt 5–7 201 5,3–12 204, 217 5,9 209 5,10–12 203 5,13–16 214 5,17–48 214 5,17–20 201 5,21.27 201 5,29–30 203 5,31.33.34 201 5,38–42 201–205 5,38–39 189 5,38 161 5,39 211 5,43–47 205–209 5,44 180 5,48 209–210, 249 6,5–15 217 6,9–15 249 6,15 250 7,3–5 203 8,9 95 8,11–12 132 10,16 215 10,21 46 10,34–36 46 10,34 263 11,19 131 11,28–30 139, 216 12,28 130 13,24–30 130 18,12–14 130 18,23–35 244, 247–250 18,23–25 130 18,34 130 19,12 203 19,19 206
273
Bibelstellenregister 19,24 20,1–6 20,25–28 22,1–14 22,6–7 22,15–22 22,39 23,24 24,3 25,1–13 26–27 26,52–53 26,52 26,55 26,67 27,35
203 130 172 130 130 171 206 203 99 132 216 264 216 64 216 216
Mk 1,13 3,6 3,20–21 3,22–30 5,1–16 6,41 10,25 10,42–44 12,9 12,12–17 12,13–17 13,4 13,12 14,24 15,27
13,28–29 13,31 14,21 15,4–32 15,11–32 16,23 17,3–4 18,5 18,25 21,7 21,16 21,23–24 22,20–26 22,24–27 23,34 24,17 24,30
132 61 131 130 244–246 130 246, 249 189 203 99 46 260 171 172 180 249 131
121 61 44 44 131 131 203 172 130 171 60, 61 99 46 237 65
Apg 5,29 5,35–39 6,1–7 6,4 10 15,1–2 21,16 21,30–38 28,7
173 64 48 180 95 48 136 64 136
Lk 2,1–5 3,7–18 3,14 6,27–36 6,36 6,41–42 7,8 10,18 10,30–37 10,30 11,20 12,49–53
60 96 96 201–202 210 203 95 132 58, 130 58 130 46
Röm 7,18 8,18–22 8,25 8,38–39 9–11 12,14–21 12,17 .19 12,19–21 12,21 13,1–7 13,4 13,8–10 13,9–10 14–15
105 122 138 124 75 168 170 189 208 166–174 189, 262 168 206 48
1Kor 1,18–2,5
241
1,23 1,26–30 2,1–5 2,6–7 2,8 6,1–11 9,9 13,4 15,3 15,24
239 241 241 124 123, 242 172 154 137 237 124
2Kor 1,9 4,4 4,10 10,1–7 11,25 11,26 11,32–33 13,4 13,9–10
173 124 241 98 173 59 173 241 241
Gal 2,11–15 3,1 3,13 4,4–7 5,11 5,14 5,22 6,13
48 241 241 124 241 206 137 241
Eph 2,2–3 3,10 4,1–3 4,2 6,10–17
125 124 138 137 125, 126
Phil 1,20 2,1–8 2,3–5 2,8 3,20
173 139 138 241 136, 172
Kol 1,15–20
124
Anhang
274 2 3,12
124 137
1Thess 2,2 2,15–16
173 75
1Tim 2,1–3 3,2 6,11
172 136 137
Tit 3,1–3 1
72
Hebr 4,12 11,32–34 12,2
261 93 238
Jak 2,8 4,1–3 5,7
206 49 138
1Petr 2,12 2,13–17 2,14 2,18–21 2,21–23 4,8–9 5,8
208 171 189 45 216 136 126
Offb 1,12–18 2,13 2,23 6,8 6,9–11 6,15–17 9,5 9,15.18 11,7 11,10 13
101 175, 178 175 175 178, 180 180 176 175 175 176 173
13,15 14,10–11 14,20 16,5–6 16,6–7 16,14.16 17,14 18,7 18,20 19 19,2 19,11–21 19,11–15 20,10
175 176 175 175 180 102 102 176 176, 180 103 180, 190 175 102 176