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Monique Weissenberger-Leduc und Anja Weiberg
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Monique Weissenberger-Leduc und Anja Weiberg
Gewalt und Demenz Ursachen und Lösungsansätze für ein Tabuthema in der Pflege
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Mag. DDr. Monique Weissenberger-Leduc Dipl. Gesundheits- und Krankenschwester, Pflegewissenschafterin, Philosophin, Soziologin Universität Wien, Wien, Österreich
Dr. Anja Weiberg Institut für Philosophie Universität Wien, Wien, Österreich
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzellfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2011 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Satz: PTP-Berlin Protago-TEX-Production GmbH, 10779 Berlin, Deutschland Druck: Holzhausen Druck GmbH, 1140 Wien, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier SPIN 12677009 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7091-0061-5 SpringerWienNewYork
Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4 2.1 Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten . . . . . 4 2.2 Demenz aus der Sicht der Betroenen: Das Erleben von Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
3. Epidemiologie der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.1. Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3.2 Klinische Warnzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 3.3 Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen . . . . . . . . . . 41
4. Definitionen des Gewaltbegriffs und der Formen von Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 4.1 Denion von Margret Dieck: Gewalt als systemasche Handlung oder Unterlassung mit ausgeprägten negaven Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 4.2 Denion von Rolf Hirsch und Bodo Vollhardt in Anlehnung an Johan Galtung: Personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 4.3 Denion der WHO: Gewalt als Enäuschung einer Erwartungshaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5. Personelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 5.1 Misshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Körperliche Misshandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Psychische Misshandlung und Verletzungen der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Finanzielle Ausbeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.4 Einschränkung des freien Willens . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Passive Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Akve Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Typisierungen des Handelns nach Kitwood . . . . . . . . . . . . . 5.4 Beispiele für Interakonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Der Sender des ersten Signals (Akon) ist eine Person mit Demenz und auch der Empfänger (Reakon) ist eine Person mit Demenz . . . . . . . . . . .
51 51 54 55 55 56 56 57 57 59
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Inhalt
5.4.2 Der Sender ist eine Person mit Demenz und der Empfänger ist eine Pegeperson (diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 5.4.3 Der Sender und der Empfänger sind Pegepersonen (diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 5.4.4 Der Sender ist eine Pegeperson (diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) und der Empfänger ist eine Person mit Demenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
6. Strukturelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.1 Kennzeichen struktureller Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 6.2 Strukturelle Gewalt in der Instuon . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 6.3 Ein Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
7. Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Institution – Geriatrische Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . 98 7.1 Begrisbesmmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Gesundheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Gesundheitsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Personen mit Demenz . . . . 7.3 Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das Personal . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Änderung des Pegeverständnisses . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Änderung des Arbeitsverständnisses. . . . . . . . . . . . . 7.4 Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Organisaon . . . . . . . . . . . . 7.5 Eziente Gesundheitsförderung in einer geriatrischen Organisaon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Maßnahmen/Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Implemenerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Hindernisse bei der Implemenerung . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Evaluaon der Implemenerung . . . . . . . . . . . . . . . .
100 100 104 111 117 117 124 128 134 134 136 138 139
8. Ein Beispiel für Good Practice . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Inhalt
9. Kulturelle Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 9.1 Stereotype und Vorurteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2 Stereotype und Vorurteile in Bezug auf das Alter – Altersbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.3 Altersbilder als Quelle der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Vorurteile in Bezug auf Menschen mit Demenz und deren Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.5 Maßnahmen, mit denen Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Menschen mit Demenz entgegengewirkt werden kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166 171 174 176
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10. Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192
1. Einleitung Wie sehr es sich bei dem Thema „Gewalt in der Betreuung und Pege von alten Menschen“ noch um ein Tabu handelt, kann am Beispiel der Studie der Sozialarbeiterin Chrisne Förster dargestellt werden. Sie suchte für ihre qualitave Diplomarbeit über „Gewalt in der instuonellen Altenpege“ Interviewpartner/innen: Sie bat acht Pegedienstleitungen von Alten- und Pegeheimeinrichtungen, Aushänge machen zu dürfen. Diese Bie wurde in „allen acht Fällen mit dem Hinweis abgewiesen, dass die Instuon frei von jedwelchen Gewaltphänomenen sei“ (Förster 2008, 43). Fängt hier nicht bereits strukturelle Gewalt an? Was nicht sein darf, das gibt es auch nicht ... Was bedeutet dies aber konkret für den Pegealltag in diesen Instuonen? Dürfen Bewohner/Paenten/Klienten über Gewaltanwendungen klagen? Oder wird ihre Klage als nicht glaubwürdig eingestu? Wird ihnen eine Zurechnungs- und Beurteilungsfähigkeit oder ihre Experse in eigener Sache zu- oder abgesprochen? Wo und in welcher Form können sich Angehörige beschweren? Handelt es sich dann immer nur um Missverständnisse, Unkenntnis der Wirklichkeit und falsche Einschätzung der Situaon? Werden Pegepersonen, die Gewaltanwendungen wahrnehmen, zu passiver Mitwisserscha gezwungen? Es ist im Pegealltag häug nicht vorgesehen, dass sie ihre Beobachtungen melden, und falls sie es doch tun, wird ihr Handeln als extremer Störfaktor eingestu. Wie kann Gewaltproblemen zwischen Bewohnern/Paenten/Klienten vorgebeugt bzw. wie können diese gelöst werden, wenn das Thema nicht in Fallbesprechungen, Teamsitzungen oder Pegevisiten erörtert werden darf? Wie werden Unterlassungen, negave Kommunikaonsarten oder Interakonen eingestu? Wenn Phänomene nicht exiseren dürfen, wie sollen Pegepersonen darauf aufmerksam gemacht oder dafür sensibilisiert werden? Wie sollen Pegepersonen Deeskalaonsstrategien entwickeln, wenn ihnen keine Fort- und Weiterbildung zu diesem Thema angeboten wird? Wird der Strukturwandel der eigenen Klientel wahrgenommen oder nicht? Die Menschen treten immer älter und mulmorbider in die Pegeheime ein. Auch wenn derzeit nur ca. ein Driel der Menschen mit Demenz in instuoneller Betreuung ist, wird Demenz für Instuonen zunehmend ein Thema: 60 bis 70 % der Heimbewohner haben heute schon eine Demenz. Demenz im fortgeschrienen Stadium, besonders wenn die Person mit Demenz Stuhl- und Harninkonnenz hat, ist mit 43,2 % der Hauptgrund für den Heimeintri (vgl. Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 12). M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Einleitung
Alle diese Faktoren haben zwangsläug Einuss auf die Qualität der Betreuung und Pege. Qualität in der Pege ist nichts Starres, sondern ein Prozess, an dem permanent gearbeitet werden muss. Sie ist unter anderem ein Lernprozess aus begangenen Fehlern. Nur wenn Gewalt als Fehler angesehen wird, können Koniktsituaonen reekert und bearbeitet werden. Wenn Leitungskräe einer Instuon das Aureten von Gewalt grundsätzlich leugnen, verhindern sie, dass ihre Mitarbeiter sich weiterentwickeln und selbst Verantwortung übernehmen. Führt diese instuonelle Haltung nicht zu Frustraon, innerer Kündigung, Intrarollenkonikten und Kommunikaonsmangel und dadurch automasch zu einer Erhöhung des Gewaltpotenals? Wenn es „jedwelche Gewaltphänomene“ in einer Instuon gibt, dann müsste diese Instuon ihre Türen für Forschungsprojekte über Gewalt weit önen, damit die Gewal orschung vorangetrieben werden kann und prävenve Maßnahmen bekannt gemacht sowie umgesetzt werden können. Und wenn es tatsächlich keinerlei Gewalt in einer Instuon geben sollte, dann gibt es nicht nur keinen Grund, die Türen geschlossen zu halten, sondern darüber hinaus sollten in diesem Fall die Türen für Forschungsprojekte über Gewalt ebenfalls weit geönet werden – um (vorbildha) aufzuzeigen, welche Beteiligten es mit welchen Maßnahmen schaen, Gewalt in dieser Instuon zu verhindern. Da die Pegerealität durch die Zunahme des Anteils älterer Paenten mehr und mehr auch von der Problemak der Gewalt gegen alte Menschen betroen ist, sollten Pegepersonen den Kopf nicht weiterhin in den Sand stecken. Lösungen zu suchen, um die verschiedenen Formen und Arten von Gewalt zu mindern, ist eine Aufgabe, die jede im Sozialwesen beschäigte Person betrit. Bevor aber Lösungen gesucht werden können, müssen die verschiedenen Formen und Arten der Gewalt in der Pege und ihre möglichen Ursachen bewusst werden. Daher werden wir in diesem Buch nach einführenden Erläuterungen zum Syndrom Demenz zunächst die Datenlage in Bezug auf Gewalthandlungen an alten Menschen und an Personen mit Demenz sowie Denionen des Gewaltbegris behandeln. Im Folgenden gehen wir näher auf jene zwei Formen von Gewalt ein, die für Pegepersonen in ihrer Arbeit besonders von Belang sind: Personelle Gewalt und strukturelle Gewalt. Im Rahmen unserer Vorschläge zur Verhinderung von Gewalt – sowohl an Personen mit Demenz als auch an den Mitarbeitern einer Instuon – versuchen wir einen Weg aufzuzeigen, der allen Beteiligten (Personen mit
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Einleitung
Demenz, Mitarbeitern, Führungskräen einer Instuon) zugute kommt. Dass es sich bei diesen Vorschlägen nicht um eine unrealisierbare Utopie handelt, zeigt sich im nächsten Kapitel über ein Pensionistenheim, dessen Mitarbeiter – auf ihre eigene Art – diesen Weg bereits gegangen sind. Das Kapitel über kulturelle Gewalt haben wir an den Schluss gestellt, da es sich bei dieser Form von Gewalt um kein spezisches Problem der Pege handelt. Vielmehr wird mit dem Phänomen der kulturellen Gewalt ein Problem angesprochen, das uns alle als Mitglieder einer Gesellscha betrit. Zur besseren Lesbarkeit wurde auf eine geschlechtergerechte Dierenzierung in Bewohnerin und Bewohner, Paenn und Paent, Pegerin und Peger usw. weitgehend verzichtet. Wir haben bei der Erstellung dieses Buches vielfälge Unterstützung von einer ganzen Reihe von Menschen bekommen, bei denen wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken möchten. Unser besonderer Dank geht an: Thomas Frühwald, Johanna Gaitsch, Helma Riefenthaler, Philipp Schmidt und Chrisan Wimplinger. Chrisne Akbaba und Katrin Stakemeier vom Springer-Verlag schließlich möchten wir für ihr Entgegenkommen in Bezug auf das Projekt, ihre Geduld und die gute Zusammenarbeit danken.
Wien, im Juni 2010 Monique Weissenberger-Leduc, Anja Weiberg
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Demenz
2. Demenz 2.1 Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten Das Wort Demenz kommt von „demens, demena“, was so viel bedeutet wie „ohne Geist“. Der Oberbegri Demenz beschreibt keine einheitliche Erkrankung, sondern ein Syndrom, eine Reihe von Symptomen, die von mehreren, meistens degeneraven Gehirnerkrankungen verursacht werden können. Wir möchten aber gleich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Fokus auf den Aspekt der degeneraven Gehirnerkrankung allein unserer Ansicht nach zu kurz grei: Die Art, wie sich Demenz ausdrückt, muss im Zusammenhang mit kulturellen und psychosozialen Einüssen, Persönlichkeit, Biograe, erlernten und noch vorhandenen Bewälgungsstrategien betrachtet werden. Epidemiologie Es gibt in Österreich keine ausdrückliche Erhebung der Prävalenz der Demenz, sie wird jedoch mit 1,15 bis 1,27 % eingeschätzt (vgl. Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 14). Dies würde einer Gesamtzahl von ca. 100.000 Personen mit Demenz entsprechen (vgl. Demenzhandbuch 2008, 2). Es besteht eine exponenelle Zunahme der Prävalenz der Demenz mit zunehmendem Alter. Das Alter ist sozusagen der stärkste und ausschlaggebende Risikofaktor, der zu Demenz führen kann. Bei etwa sieben Prozent der über 65-jährigen ndet sich eine Demenz, bei den über 90-jährigen sind es ca. 30 % (vgl. Demenzhandbuch 2008, 8; Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 12 f.). Diese Tatsache kann auch anders – opmisscher – betrachtet werden: Zwei Driel der Menschen, die dieses hohe Alter erreichen, sind von Demenz nicht betroen. Nichtsdestoweniger wird die Gesamtzahl der von Demenz Betroenen ansteigen. Es werden hauptsächlich alleinstehende Frauen sein, aufgrund ihrer höheren Lebenserwartung, deren Betreuung rein quantav eine noch nie da gewesene Aufgabe und Belastung für die Gesellscha darstellen wird. In diesem Zusammenhang muss bedacht werden, dass schon jetzt die Häle der pegenden Angehörigen mehr als 65 Jahre alt ist und selbst an M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten
einer Krankheit leidet. Nur etwa 20 bis 30 % der Demenzkranken sind in instuoneller Betreuung – aber 60 bis 70 % der Heimbewohner haben eine Demenz (vgl. Vierter Bericht 2002, 21). Die Leistungen, die Laienpegende heute erbringen, sind von unschätzbarem humanitärem Wert: Sie versorgen in Österreich 75 bis 80 % der rund 100.000 Personen mit Demenz. Der ökonomische Wert der Behandlung eines einzigen Paenten pro Jahr, unabhängig vom Demenzstadium, beläu sich auf zwischen 10.680 Euro und 25.265 Euro, je nachdem, ob die Behandlung zu Hause oder im Pegeheim sta indet. Ein Großteil der Kosten wird von den Familienmitgliedern getragen (vgl. Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 109 .). Der Wert aller informell erbrachten Betreuungs- und Pegearbeit in Österreich wird auf zwei bis drei Milliarden Euro pro Jahr geschätzt (vgl. Schneider et al. 2006, 13). Es ist anzunehmen, dass nur ein Bruchteil der im Krankenhaus aufgenommenen Paenten mit Demenz mit der Hauptdiagnose Demenz kodiert wird, da viele an Mulmorbidität leiden und der Aufnahmegrund nur selten die Demenz selbst ist (vgl. Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 116 u. 222). Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass Demenzen mit 47 % hauptverantwortlich für den Pegebedarf im Alter sind (vgl. Demenzhandbuch 2008, 9). Dies bedeutet auch, dass Demenzen Ursache für den größten Zeitaufwand und die größte psychische Belastung für Pegepersonen sind. Klassikaon und Begrisklärung Die derzeit gebräuchlichen Klassikaonssysteme sind: • DSM-IV, herausgegeben von der American Psychiatric Associaon, im Kapitel „Delir, Demenz, amnessche und andere kognive Störungen“ (DSM 1996, 163–209). • ICD-10, herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisaon (WHO), Kapitel F00-F09 „organische einschließlich symptomaschen psychischen Störungen“. Dieses Klassikaonssystem dient als Verrechnungssystem für die Krankenkassen in Österreich (ICD-10 1996, 59). Die Demenzen unterteilen sich in primär degenerave Demenzen, die direkt durch eine Schädigung des Gehirns als Organ hervorgerufen werden: • 60 bis 80 % Demenz vom Alzheimer Typ • ca. 15 % reine vaskuläre Demenz • bis zu 20 % gemischte Formen wie Alzheimer und vaskuläre Demenz
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Demenz
• zwischen 7 und 25 % Lewy-Body Demenz (vgl. Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 4) • Rest ca. 10 %: Parkinson-Demenz, Frontotemporale Demenz (Morbus Pick); Demenz bei Chorea Hunngton und Creuzfeld-Jakob-Krankheit und in sekundäre (symptomasche) Demenzen, die durch Schädigungen, Infekonen, Intoxikaonen oder Störungen, die außerhalb des Gehirns liegen, verursacht werden. Hier sind Demenzen Folgen oder Komplikaonen. Eine Dierenzialdiagnosk ist unbedingt notwendig, da es unter anderem Demenzformen als Begleiterkrankung einer behandelbaren Depression gibt. Die kogniven Störungen nehmen bei erfolgreicher medikamentöser andepressiver Therapie ab. Diese Demenzunterscheidungen sind im Kontext dieses Buches nur insofern interessant, als sie mit verschiedenen Verhaltensweisen in Zusammenhang gebracht werden können. Eine weitere Unterscheidung wird vorgenommen zwischen • präsenilen Demenzen, die vor dem Alter von 65 Jahren aureten und • senilen Demenzen, die ab dem Alter von 65 Jahren aureten. Die Krankheit Demenz Es gibt mindestens 50 verschiedene Formen von Demenzerkrankungen. Die medizinischen Fakten und Daten werden hier nur hinsichtlich ihrer Relevanz für die Bewälgung des Alltags betrachtet. Das Demenzsyndrom ist durch vielfache Störungen der höheren Gehirnfunkonen wie Rechnen, Sprechen und Denken gekennzeichnet. Hier wird von Störungen der kogniven Leistung gesprochen. Diese Verluste können zur völligen Pegebedürigkeit und zum Tode führen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass das Phänomen Demenz besonders aufgrund des nicht nachvollziehbaren Erlebens nicht mit rein naturwissenschalichen Methoden erfassbar ist. Die Forschung kann durch den Einsatz immer besserer bildgebender und elektrophysiologischer Diagnoseverfahren neue Erkenntnisse über die Vorgänge im Gehirn gewinnen. Sie kann aber nicht das Kranksein erfassen. Sowohl die ICD-10 als auch das DSM-IV betrachten eine Beeinträchgung der Gedächtnisleistung als Picht- und Hauptsymptom der Alzheimer-Demenz. Die Denionen unterscheiden sich vor allem durch die zusätzlichen kogniven Störungen, die für die Diagnose notwendig sind, sowie dadurch, dass ICD-10 einen Zeitrahmen für die Beeinträchgung der Gedächtnisleistung von mindestens sechs Monaten nennt.
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Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten
Demenz nach ICD-10- Code F00-F03 [i]st ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer korkaler Funkonen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orienerung, Auassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht getrübt. Für die Diagnose einer Demenz müssen die Symptome nach ICD über mindestens sechs Monate bestanden haben. Die Sinne (Sinnesorgane, Wahrnehmung) funkonieren im für die Person üblichen Rahmen. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emoonalen Kontrolle, der Aektlage, des Sozialverhaltens oder der Movaon die kogniven Beeinträchtigungen; gelegentlich treten diese Syndrome auch eher auf. Sie kommen bei Alzheimer-Krankheit, Gefäßerkrankungen des Gehirns und anderen Zustandsbildern vor, die primär oder sekundär das Gehirn und die Neuronen betreen. (ICD-10 1996, 60)
Denion der Demenz im DSM-IV: Die kogniven Dezite verursachen eine signikante Beeinträchgung der sozialen und beruichen Funkonen und stellen eine deutliche Verschlechterung gegenüber einem früheren Leistungsniveau dar. Sie treten nicht im Rahmen einer rasch einsetzenden Bewusstseinstrübung oder eines Delirs auf. Zur Beeinträchgung des Gedächtnisses muss noch mindestens eine der folgenden Störungen hinzukommen: Aphasie: Störung der Sprache Apraxie: beeinträchgte Fähigkeit, motorische Akvitäten auszuführen Agnosie: Unfähigkeit, Gegenstände zu idenzieren bzw. wieder zu erkennen Dysexekuves Syndrom: Störung der Exekuvfunkonen, d. h. Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge. (DSM 1996, 163)
In diesem Zusammenhang sind zwei Hirnleistungen zu unterscheiden: • Die Thymopsyche betrit die Bendlichkeit, die Steuerung des Vegetavums wie der Aekte, des Antriebes, der Triebe, der Psychomotorik (Mimik und Gesk). • Die Noopsyche hat Auswirkungen auf das Bewusstsein, die Orienerung, die Intelligenz, das Gedächtnis und das Denken (Geschwindigkeit, Ablauf, Konzentraon) zu tun. Bei Demenz dekompensieren langsam aber steg die Thymo- und die Noopsyche. Im Gegensatz dazu dekompensiert bei Depression allmählich primär die Thymopsyche und bei einem Delirium ndet eine heige und relav plötzliche Dekompensaon der Thymo- und der Noopsyche sta.
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Demenz
Die eventuell behandelbaren Ursachen der Demenz machen lediglich fünf Prozent aller Demenzerkrankungen aus. Die Demenz als Syndrom kann, muss aber nicht progressiv verlaufen. Im Vierten Bericht zur Lage der älteren Generaon aus Deutschland ist zu dieser Themak zu lesen: Außerdem scheinen, wie Längsschniuntersuchungen zeigten, nur etwa die Häle der Kranken an voranschreitenden Demenzprozessen zu leiden. Ein großer Anteil der Betroenen weist über Jahre hinweg keine nennenswerten Verschlechterungen der Leistungsfähigkeit auf. (Vierter Bericht 2002, 165)
Leider werden im Bericht die genauen Quellenangaben zu diesen Längsschniuntersuchungen nicht genannt. Diese Untersuchungen wären aber besonders relevant, da sie gerade nicht die allgemeine Meinung vertreten, dass Demenz immer eine voranschreitende Erkrankung ist. Es ist bei jedem Betroenen genau zu unterscheiden, ob es sich um altersassoziierte Gedächtnisbeeinträchgungen (Age Associated Memory Impairment; AAMI) oder um erste Zeichen einer demenellen Erkrankung bzw. ein Middle Cognive Impairment (MCI) handelt. Die Grenzziehung kann sich sehr schwierig gestalten. Die Variabilität kogniver Funkonen im Alter und die Variabilität und Verschiedenheit demeneller Syndrome können überlappen. Man denke dabei nur an Störungen wie Primäre Progressive Aphasien, Prosopagnosien, Apraxien und auch an Persönlichkeitsstörungen, die sich zu Demenzen erweitern können. Zudem ist wenig über Häugkeitsverteilungen besmmter Merkmale im Alter bekannt. (Kessler u. Kalbe 1997, 864)
Alzheimer-Demenz Auf der „37. Versammlung der Süddeutschen Irrenärzte“ im November 1906 in Tübingen berichtete der deutsche Psychiater und Histopathologe Alois Alzheimer (1864-1915) über „einen eigenargen schweren Erkrankungsprozess der Hirnrinde“ bei der Paenn „Auguste D.“ Mein Fall Auguste D. bot schon klinisch ein so abweichendes Bild, daß er sich unter keine der bekannten Krankheiten einreihen ließ. Ich werde es Ihnen im folgenden beschreiben. (Alzheimer 1907, 146 f.)
Dies war der erste dokumenerte Fall der Demenz, die heute Alzheimers Namen trägt. Alzheimer selbst beschreibt nur die präsenile Demenz als eine Erkrankung. Erst Emil Kraepelin unterscheidet im zweiten Band seines Lehrbuches der Psychiatrie das „Senile und Präsenile Irresein“ im Rahmen der Alzheimer Krankheit (Kraepelin 1910, 624).
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Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten
Die Alzheimer-Demenz ist eine alterskorrelierte, progressive und neurodegenerave Erkrankung mit einer Hirnatrophie (Untergang von Nervenzellen in den Temporal- und Parietallappen und im Hippocampus). Die Alzheimer-Demenz nimmt aufgrund der verlängerten Lebenserwartung exponenell zum Alter (bis zu ca. 80 Jahren) zu und ist die bekannteste Form der Demenz. Sie ist der häugste Grund für die Entstehung von Pegebedürigkeit in den Industrienaonen. Das Leitsymptom einer Alzheimer-Demenz ist die Gedächtnisstörung. Das Gehirn hat zunehmend Probleme bei der Aufnahme, der Speicherung und dem Abrufen von Informaonen. Durch welche Mechanismen die Neurodegeneraon sta indet und worin die Ursache für die neurobrillären Tangles (NFT) besteht, ist noch nicht genau geklärt. Sowohl die amyloiden Plaques als auch die neurobrillären Tangles treten unabhängig voneinander bei normalem Altern auf. Die entscheidenden und noch nicht ganz aufgeklärten Fragen sind einerseits, wie die Grenze zwischen normalen und pathologischen Ablagerungen und Verteilungen zu ziehen ist und anderseits, wie krankheitsspezisch diese Tangles und Plaques für die Alzheimer-Demenz sind. Da die Forschung über die Entstehung der Alzheimer-Krankheit noch voll im Gang ist, scheiden sich hierin die Meinungen der Neuropathologen. Sowohl bei Speicherungs- als auch bei Abrufprozessen spielt das limbische System durch die emoonale Bewertung der jeweiligen Informaon eine wesentliche Rolle. Was bedeutet es zum Beispiel für eine besmmte Person, wenn sie über ein schlechtes Gedächtnis klagt? Die Bewertung ist abhängig von: • der Einschätzung der eigenen Erinnerungsezienz (Überzeugung) • den erinnerungsbezüglichen Ängsten (Aufregung) • der erinnerungsbezüglichen Haltung (Bewertung) • den erinnerungsbezüglichen sozialen Normierungen (Einschätzung) (vgl. Mol et al. 2008, 167) • einer etwaigen Depression dieser Person: Die Depression und nur die Depression korreliert mit selbst berichteten Gedächtniseinbußen (vgl. Mendes et al. 2008, 177; Sachs-Ericsson et al. 2008, 183). Gleichzeig düren bis zu zwei Driel der Personen mit Demenz im Verlauf der Demenzerkrankung unter einem depressiven Syndrom leiden. Eine Dierenaldiagnosk ist extrem wichg, da die Depression gut auf eine medikamentöse Therapie anspricht und dadurch eine Erhöhung der Lebensqualität erreicht werden kann.
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Demenz
Mit der Verschlechterung der Gedächtnisleistungen gehen o Antriebslosigkeit, Aufmerksamkeitsdezite oder Interesselosigkeit einher. Die Alzheimer-Demenz bleibt o lange unbemerkt und dadurch unbehandelt. Die Paenten versuchen so lange wie möglich, ihre beginnenden Dezite zu kompensieren (Fassade). Sie entwickeln o Rückzugstendenzen und depressive Symptome, um diese beginnenden, zunehmenden Beeinträchgungen zu verbergen. Die Diagnose wird im Durchschni erst vier Jahre nach dem Aureten der ersten Symptome gestellt. Die Durchschnisdauer einer Alzheimer-Demenz liegt bei neun Jahren. Die moderne Demenzdiagnosk umfasst medizinische Untersuchungen und eine ausführliche, psychologische Testung. Bei der Diagnosestellung und bei der Dierenaldiagnosestellung spielen psychologische Tests und Testbaerien eine große Rolle.1 Krankheitsverlauf Obwohl die Alzheimer-Demenz eine Erkrankung des höheren Lebensalters ist, beginnt der neurodegenerave Prozess wahrscheinlich schon 20 bis 30 Jahre bevor die ersten massiven Gedächtnisstörungen sichtbar werden. Eine Abnahme der Lernfähigkeit düre 5 bis 7 Jahre vor der Diagnose aureten (vgl. Mahlberg u. Gutzmann 2009, 15). Da es sich um eine progrediente Erkrankung handelt, sind abrupte Verschlechterungen im Verlauf untypisch und müssen an andere Erkrankungen denken lassen. Die Gedächtnisproblemak korreliert mit dem fortschreitenden Verlust von Nervenzellen und Synapsen. Die Alzheimer Demenz wird in drei Stadien eingeteilt: • die leichte Demenz, die in der Regel 2–3 Jahre andauert • die milere Demenz, die in der Regel 5–7 Jahre umfasst • die meist zu Belägerigkeit führende schwere Demenz Der Tod erfolgt nicht unmielbar aufgrund der Demenz, sondern häug durch eine sekundäre Infekon wie Pneumonie, durch Komplikaon einer kardiovaskulären Erkrankung oder durch eine Sturzverletzung. Die Symptome der Demenz, die erst nach einer weitgehenden Zerstörung verschiedener Gehirnbereiche klinisch manifest werden, können in drei großen Störungsgruppen dargestellt werden:
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Wir gehen hier weder auf die moderne Diagnosestellung noch auf die Testverfahren näher ein, da sie nicht zur Kernaufgabe dieses Buches gehören (vgl. zu diesem Thema etwa Mahlberg u. Gutzmann 2009).
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Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten
Somasche Störungen Bekannte Begleitsymptome von Demenz sind Appetlosigkeit und Malnutrion, Inkonnenz und Störungen des Wasser- und Elektrolythaushalts. Ein möglicher Grund unter vielen für die Appetlosigkeit könnte sein, dass die Riechschwelle, die Duidenkaon und das Riechgedächtnis bei Alzheimer-Demenz, im Vergleich zur normalen Abnahme im Alter, stark sinkt. Die Gründe dafür düren in einer Störung des olfaktorischen Informaonsprozesses in den limbischen Strukturen liegen. Das Problem im Alltag ist, dass wenn eine Person nicht riechen kann und möglicherweise schlecht sieht, sie kein Interesse an der Nahrungsaufnahme zeigt. Die Pegenden bemühen sich, versuchen basal zu smulieren, aber ohne Erfolg – die Bemühungen werden nicht wahrgenommen. Kognive Störungen Zuerst zeigen sich Gedächtnisstörungen mit schlechter Konzentraon, eine herabgesetzte Fähigkeit, Prioritäten zu setzen und komplexe Zusammenhänge nachzuvollziehen, womit eine Redukon des Urteilsvermögens einher geht. Dazu kommen zeitliche und örtliche Orienerungsprobleme durch ein verändertes Zeitempnden, Wor indungsstörungen und Probleme, sich neue Inhalte zu merken. Im weiteren Verlauf treten Sprachstörungen wie zunehmende Inhaltsarmut, Unfähigkeit, Gegenstände oder Situaonen präzise zu benennen, bis hin zu Aphasie, Apraxie und Agnosie auf. Probleme bei der bewussten Wiedergabe von einzelnen Zellinformaonen und ihrer Dendriten führen zu einer Hirnatrophie. Schwierigkeiten, Informaonen aus dem Langzeitgedächtnis abzurufen, Zusammenhänge zwischen Ereignissen zu erfassen und exekuve Funkonseinschränkungen wie Schwierigkeiten beim Einparken oder bei der Koordinaon von Hand und Auge treten auf. In späteren Stadien kommt es zusätzlich zur kogniven Symptomak, zu Verhaltensveränderungen und emoonalen Störungen als Antwort auf die existenelle Bedrohung des Selbst. Smmungs- und Verhaltensstörungen Erst 80 Jahre nach der Entdeckung von Alzheimer beginnt die Wissenscha sich für Smmungs- und Verhaltensstörungen zu interessieren, obwohl BPSD (Behavioural and Psychological Symptoms of Demena) bei ungefähr 80 bis 90 % aller Personen mit Alzheimer-Demenz aureten. Diese Smmungs- und Verhaltensstörungen tragen o mehr zur psychischen Belastung der Pegenden bei als die kogniven Dezite und sind häug der Grund für eine Heimaufnahme.
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Was wird unter BPSD verstanden? 1999 einigten sich – bei der Update Consensus Conference – 660 Experten der Internaonal Psychogeriatric Associaon (IPA) auf den Begri „Behavioural and Psychological Symptoms of Demena“ (BPSD): The term behavioral disturbances should be replaced by the term behavioral and psychological symptoms of demena (BPSD), dened as: Symptoms of disturbed percepon, thought content, mood or behavior that frequently occur in paents with demena. (IPA 2002, 5)
Diese Smmungs- und Verhaltensstörungen können bei allen Demenzformen aureten. Zur Prävalenz von Smmungs- und Verhaltensstörungen im Verlauf einer Demenz: • Apathie, etwa 76 %, eine Akvitäts- und Antriebsstörung wie Gleichgülgkeit, Interesselosigkeit, Iniavlosigkeit, vorzeige Ermüdung (Fague) und Hyperakvität • Zielloses Herum-Irren, „aberrant motor behavior“, etwa 65 % • Essstörungen (Essen von Unessbarem), 64 % • Gereizheit/Labilität, 63 % • Agitaon/Aggression, 63 %. Das Aggressionspotenzial könnte mit einer Störung des Serotoninwechsels verbunden sein. Aber vor allem sind es zwischenmenschliche Missverständnisse, Koniktsituaonen, Bewälgungsstrategiedezite, Ängste durch Orienerungsstörungen und akussche wie opsche Dezite, die zu Aggression und Agitaon führen. • Aektstörungen: Depressive Symptome, Dysphorie, bis zu 66 %, und Euphorie, 17 % • Schlafstörungen, 54–60 %, wie zum Beispiel Durchschlafstörungen oder Beeinträchgung der Schlaiefe • Zirkadiane Rhythmusstörungen, bis zu 60%, wie Tagesrhythmus- und Schlafstörungen, Tag-Nacht-Umkehr oder „Sundowning“ (vorübergehende Steigerung des Antriebsniveaus und des Auretens von sozial unangemessenen Verhaltensweisen in den Abendstunden) sind durch ihren zermürbenden und erschöpfenden Charakter eine erhebliche Belastung für die Pegenden und o der Grund für eine vorzeige Instuonalisierung. • Ängste und Phobien, 50–55 % • Wahnsymptome, 50 %. Hierbei darf nicht vergessen werden, dass bereits Gefühle von Scham, Insuzienz, Verunsicherung, Störungen der Kommunikaon und soziale Isolaon Faktoren sein können, die zur
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Demenz aus medizinischer Sicht: Daten und Fakten
Entwicklung von Wahnsymptomen beitragen. Durch Gedächtnislücken ist die Person mit Demenz immer weniger imstande, die Vielfalt der Wahrnehmungen zu verarbeiten. Dadurch kommt es immer wieder zu Verzerrungen des Erlebten und des Empfundenen, zum Beispiel bei der Körperpege. • Enthemmung, 30 % • Akussche und opsche Halluzinaon, 28 %. Die visuellen Halluzinaonen nden zuerst o nur im Zwielicht der Dämmerung sta. Im Verlauf der Erkrankung können sie von sehr viel Angst begleitet sein und Aggressionen auslösen, wenn Pegende sich nähern. • Verkennungen im Sinne von Fehlinterpretaon, 25 %. Sie treten eher im mileren bis späten Stadium der Demenz auf. • Motorische Unruhe wie Agitaon und „Wandering“, Umher-Irren oder ständiges Suchen aufgrund von örtlicher Orienerungslosigkeit, Schreien, Enthemmungsphänomene mit und ohne Störung der Impulskontrolle • Horten und „Verstecken“, das nie ein bewusstes, bösarges Verstecken ist. • „Veränderungen“ in der Persönlichkeit wie Verachung der Aekte oder Störung des Sozialverhaltens. (Vgl. Mirakhur et al. 2004, 1035; Rao et al. 2008, 199) Die Smmungs- und Verhaltensstörungen werden o ausgelöst durch peristasche Bedingungen, die nicht den Erfordernissen der Demenz angepasst sind. Personen mit Demenz sind und bleiben soziale Wesen. Ihr Verhalten im Rahmen eines komplexen Prozesses versucht eine gemeinsame Wirklichkeit zu erzeugen, wo ein soziales Miteinander möglich ist. Die Anpassungsfähigkeit einer Person wird mit fortschreitender Demenz geringer, ihre Sprach- und Kulturressourcen versagen Stück für Stück. Eine gemeinsame Wirklichkeit kann nicht mehr entstehen oder verstanden werden. Die Reihenfolge der zwischenmenschlichen Handlungen wird aufgrund von Gedächtnislücken durcheinander gebracht. Daraus kann nur eine Konsequenz gezogen werden: Die Umwelt muss sich auf die Bedürfnisse der Person mit Demenz einstellen und nicht umgekehrt. Geschieht dies nicht, dann treten Verhaltens-„Störungen“ auf als Ausdruck von Angst und Unsicherheit, als Reakon auf die Fremdbesmmung und Abhängigkeit. Fast alle Personen mit Demenz (97 %) weisen mindestens eine Smmungs- und Verhaltensstörung auf (vgl. Benoit et al. 2008, 409). Die Apathie geht mit größeren Einbrüchen von kogniven und alltagsbezogenen
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Funkonen einher (vgl. Benoit et al. 2008, 409). Sie war darüber hinaus über einen Beobachtungsraum von fünf Jahren das Symptom mit dem höchsten Schweregrad (vgl. Steinberg et al. 2008, 170). Das besondere Problem bei der Apathie ist, dass sie nicht wahrgenommen wird, da Passivität nicht als herausforderndes Verhalten verstanden wird. Darüber hinaus ist bis heute noch nicht klar, ob Apathie ein „abnormales“ Verhaltensmuster der Demenz oder ein bedürfnisorienertes Verhalten darstellt. Was wird genau unter Verkennungen verstanden? Hier handelt es sich um verschiedene Syndrome, die durch Fehlidenkaonen von Situaonen und Personen charakterisiert sind: • Phantom-boarder-Syndrom ist die bildhae Vorstellung, andere Personen seien im selben Haus. • Naomi Feil spricht in der Validaon® von Fahrkarten in die Vergangenheit, Mediziner sprechen vom TV-Design-Syndrom. Hierbei handelt es sich um Wahrnehmungen von Ereignissen oder Personen im Fernsehen, die als real exiserend und als gegenwärg geschehend empfunden werden. René van Neer fragt sich, ob es der Mühe wert ist, in Erfahrung zu bringen, »ob die Traumheit2 mit der Wirklichkeit übereinsmmt. Es scheint, als träume ich unablässig. Das ist läsg, denn ich weiß nicht mehr, was wirklich passiert ist«. (Braam 2007, 101)
Diese Erfahrung kann mit sehr viel Angst verbunden sein, wie folgendes Beispiel zeigt: Frau Maier, die aus einem Überutungsgebiet stammt, sieht im Fernsehen einen Bericht über die Überschwemmungen auf den Philippinen. Sie glaubt aber, dass das Wasser gleich zu ihrer Tür herein strömen wird, steht auf, packt ihre Nachbarin Frau Müller und meint: „Ich muss um mein Leben rennen“. Sie reagiert ungehalten, als eine Pegeperson Frau Müller von Frau Maiers Hand befreit. Was ist passiert? Frau Maier war jahrelang von ihren Eltern geprägt worden: „Wenn die Flut kommt, bist du für dich und deine kleine Schwester verantwortlich.“ Frau Maier hae gerade ein TV-DesignSyndrom und augenblicklich wurde die Überschwemmung im Fernsehen für sie Realität. Sie musste laufen und vor allem ihre kleine Schwester reen. Damals fühlte sie sich einer großen Verantwortung verpichtet, die ihre ganze Energie in Anspruch nahm. Nun stellt sich ihr jemand in den Weg und versucht sie daran zu hindern.
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Die kursiv gesetzten Wörter sind Wortkreaonen von René van Neer.
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• Mirror-Design: die Unfähigkeit einer Person, sich im eigenen Spiegelbild zu erkennen: „Wer bist Du?“; „Das bin ich nicht.“ Bärbel Danneberg erzählt von einem Friseurbesuch mit ihrer Muer, die währenddessen ein Mirror-Design-Syndrom hae: Sie hat mit ihrem Spiegelbild kokeert, hat Kusshändchen in den Spiegel geschickt. Sie dachte wohl, es sitzt noch jemand neben ihr. Als die erwartete Antwort nicht kann, hat sie mit der Faust gedroht, und dann wollte sie sich im Spiegel immer die Hand geben. Ist gegen den Spiegel gestoßen, Verwunderung, als es nicht weiterging und kein Echo aus dem Spiegel kam, nur ihr schönes, altes, falges Gesicht hat mit der neuen Frisur herausgeschaut. ‚Na dann eben nich‘, meinte sie, als ihr Abbild keine Anstalten machte, ihr zu antworten. Schließlich hat sie ihrem Konterfei Bonbons angeboten, hat sich halb tot gelacht, weil ihr Spiegelbild immer Fratzen geschnien hat, die ja die ihren waren. Das ging so eine ganze Zeit hin und her zwischen Muer und Muer, es muss komisch sein, sich selbst als Fremde gegenüberzustehen. (Danneberg 2008, 132)
Hier ndet anscheinend ein Wechselbad der Gefühle sta: Zorn, Verwunderung, Erheiterung. Was passiert, wenn dieses Zwiegespräch plötzlich durch einen ungebetenen Drien brüsk unterbrochen wird? • Capgras-Syndrom: Erkennen des Gesichts einer Person, jedoch mit der falschen Vorstellung verbunden, wer diese Person ist. „Du bist nicht meine Frau.“ Die Situaon ist für Angehörige sehr belastend. • Die irreale Vorstellung, das eigene Haus sei eine fremde Wohnung. „Hier wohne ich nicht.“ Medikamentöse Therapieansätze Wie schon erwähnt, ist Alzheimer-Demenz eine progrediente, chronisch verlaufende Erkrankung, deren Ursachenbehandlung und Heilung derzeit nicht möglich sind. Deswegen ist Palliave Care eine klare Zielsetzung in der Demenzbetreuung. Medikamentöse Therapieansätze können nur dazu dienen, • das Fortschreiten der Krankheit zu verzögern und diese selbst zu lindern • das Leistungsvermögen des Paenten zu steigern. Meistens handelt es sich um ältere Paenten, die unter Mulmorbidität (Hypertonie, Diabetes Mellitus, Herzkreislauferkrankungen, etc.) leiden und daher zusätzliche Behandlungen benögen. Derzeit gibt es folgende Andemenva: • Acetylcholinesterase-Inhibitoren wirken bei beginnender Demenz. Sie können den Demenzverlauf um ein Jahr bremsen und sie können die Verhaltensstörungen (BPSD) lindern sowie die Kognion verbessern.
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Demenz
• Memanne: Die posive Wirkung auf die BPSD und die Akvitäten des täglichen Lebens (ATLs) bei fortgeschriener Demenz ist wissenschalich bewiesen. Agneta Ingberg, Paenn mit präseniler Demenz, beklagt sich allerdings über die Medikamente: Die An-Alzheimer-Miel radieren das Gefühlsleben aus. […] Vielleicht ist das ein Verdrängungsspiel, aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Medizin diese Gefühlsabstumpfung wert ist. […] Schön, es gibt Alzheimermedikamente, aber sie verändern das ganze Ich des Paenten. (Andersson 2007, 72 u. 82)
Agneta Ingberg wartete drei Jahre auf die Diagnosefestlegung, nachdem ihr ihr Hausarzt beim ersten Besuch sagte: „Wir wollen nicht gleich das Schlimmste [Alzheimer, M. W-L.] glauben.“ (Andersson 2007, 30). Was bedeutet diese Inkongruenz: drei Jahre auf eine Diagnose zu warten, um dann ein Andemenvum zu erhalten, das möglicherweise (nicht jeder Paent spricht an) einerseits den Krankheitsverlauf höchstens um ein Jahr bremst und anderseits massive Wirkung auf das Gefühlsleben hat? Jean, die genau so wie Agneta Ingberg von Arzt zu Arzt geschickt wurde, schreibt: Ich bin mir ganz sicher, dass fast alle Ärzte, die ich aufsuchte, sehr wohl wussten, dass hier die Alzheimer-Krankheit eine Rolle spielt. Sie wollen aber nichts damit zu tun haben. Das macht mich sehr wütend. (Jean, zit. in Bowlby Sion 2008, 127)
• Ginkgo Biloba, der Baum gegen die Vergesslichkeit, ist erst bei einer Dosis von 240 mg pro Tag wirksam, hat eine posive Wirkung bei leichter bis milerer Demenz und eine hohe Verträglichkeit.3 Störungen des Erlebens und Verhaltens wie paranoide Ideen, Wahnvorstellungen, Halluzinaonen, Depression, Agitaon oder Apathie können medikamentös posiv beeinusst werden, aber nur in Kombinaon mit nicht-medikamentösen Therapieansätzen. Symptome wie Wandering, Rufen, Sammeln, Schreien, Stereotypie und Persönlichkeitsveränderungen können medikamentös kaum beeinusst werden. 3
Einen Beleg für einen Nutzen beim Therapieziel „Akvitäten des täglichen Lebens“ gebe es, insofern 240 mg Extrakt täglich eingenommen werden (vgl. IQWiG 2008).
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Demenz aus der Sicht der Betroenen: Das Erleben von Demenz
In der medikamentösen Therapie wird sich in den nächsten 10 bis 15 Jahren nicht viel ändern, vermutet der Neurologe Bancher – eine Zulassung für die sogenannten „disease modifying therapies“ wird nicht in den nächsten Jahren erwartet.4 Aus der Auswertung der Daten der Krankenversicherungsträger wird ersichtlich, dass schätzungsweise nur rund 30 bis 32 % der Personen, die an Demenz erkrankt sind, eine moderne Andemenva-Therapie erhalten. Des Weiteren düren mehr als 10 % der Anspruchsberechgten nur eine Einmalverordnung erhalten (vgl. Erster Österreichischer Demenzbericht 2009, 62 u. 68). Hier ndet eine Unterversorgung durch niedergelassene Ärzte sta. Die Gründe dieser Unterversorgung wurden leider nicht erläutert. Tatsache ist, dass noch ein großer Bedarf an der Entwicklung von wirksamen, pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten und an kontrolliertem Einsatz nicht-medikamentöser Intervenonen besteht. Die Ezienz von nicht-medikamentösen Intervenonen muss noch profunder erforscht werden.
2.2 Demenz aus der Sicht der Betroffenen: Das Erleben von Demenz Die Krankheit Demenz wird im ICD-10 und DSM-IV klar deniert. Was sagen die Betroenen? ‚Und was hab’ ich davon?‘ Von meinem Standpunkt aus betrachtet, von dem einer Person, die mit der Diagnose lebt, wird der Bezeichnung, dem Namen und den meist mit Leiden einhergehenden Symptomen viel zu viel Bedeutung beigemessen, den Menschen dagegen, die die Krankheit haben, zu wenig. (Taylor 2008, 41 f.)
Das Kranksein, das mit der Krankheit verbunden ist, wird nicht beschrieben. Hier soll der Versuch unternommen werden, die medizinischen Begrie mit dem Erleben der Person mit Demenz zu durchleuchten. Die Betroenen, die Personen mit Demenz, sind die Erlebensexperten mit der Einschränkung, dass sie – wie Personen ohne Demenz auch – immer in den Grenzen ihrer Vorstellungswelt verhaet bleiben. Richard Taylor drückt es so aus: Wer behauptet, die Wahrheit über Menschen im Spätstadium der AlzheimerKrankheit zu kennen, tut, als kenne er Form und Inhalt der vierten oder fünen Dimension. (Taylor 2008, 51) 4
Vortrag von Chrisan Bancher („Medikamentöse Therapie der frühen Alzheimer-Demenz“) bei der 8. Tagung für Allgemeinmedizin und Geriatrie am 9. u. 10. Oktober 2009 in Wien; s. dazu das Abstract unter hp://www.geriatrie-online.at/mm/mm014/gpoe_abstracts_low.pdf (2. 7. 2010).
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Demenz
Erst wenn Personen ohne Demenz verstehen, was Personen mit Demenz erleben, können sie das Verhalten der an Demenz Erkrankten deuten. Diese Auslegung soll als Grundlage der personzentrierten Begleitung im Sinne von „Lasst mich selbst krank sein“ (Andersson 2007, 17) und der Gewaltprävenon dienen. In den letzten Jahren melden sich Personen mit Demenz vermehrt selbst zu Wort und versuchen der Gesellscha und den Medien mitzuteilen, was sie erleben. Richard Taylor gibt mehrere Gründe an, warum es für ihn so wichg ist, zu schreiben: • Seine Gedanken werden leicht missverstanden, von sich selbst und von anderen • „dass ich mich selbst nicht verstand“ • Entwicklung einer eigenen Lösungsstrategie: Nozen am Computer schreiben, um • vorhandene Informaonen nicht zu verlieren • Gedankengänge besser zu begreifen • Kontrolle über die Vorgänge im Kopf zu behalten • über das Denken nachzudenken • eine Beziehung mit seiner Mitwelt aufrechtzuerhalten • einen Erfahrungsbericht für Drie zu hinterlassen • sich zu beruhigen: „Der Schreibvorgang allein kann beruhigen“ • sich seiner selbst zu vergewissern: „Ich schreibe, also bin ich“ (vgl. Taylor 2008, 23 .). Persönliche Berichte darüber, was man als Person mit Demenz erlebt, sind sehr wertvoll und helfen uns viel weiter – unter anderem dahingehend, dass sie dem Eindruck der Fremdheit des Verhaltens und Handelns von Personen mit Demenz entgegenwirken. Ein unserer Ansicht nach sehr wichger Aspekt, denn die Zuschreibung von Fremdheit, von Andersargkeit impliziert häug auch Ausgrenzung („Ihr gehört nicht dazu“). Was „fremd“ ist, macht o Angst. Die moderne Demenzdiagnosk wird in Einzelheiten als großer Erfolg der Medizin und der Psychologie gepriesen. Welche Bürde sie aber zum Teil für den Betroenen bedeutet, wird weit seltener beschrieben. Richard Taylor, 58, und an präseniler Demenz erkrankt, spricht von 13 Monaten „Fegefeuer“, 13 Monaten, in denen er Woche für Woche immer wieder untersucht und befragt wurde. Mehr als 100.000 (!) Fragen musste er im Lauf dieser 13 Monate beantworten, bis ihm „eine eher vage Diagnose“ mitgeteilt wurde:
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Demenz aus der Sicht der Betroenen: Das Erleben von Demenz
Willkommen in meinem Fegefeuer – in der Zeit zwischen der Vermutung, die Alzheimer Krankheit zu haben, und der Sicherheit, alzheimer [sic!] krank zu sein. […] Ich war 58 Jahre alt, als mir die Diagnose oziell mitgeteilt wurde. Darau in weinte ich drei Wochen lang Tag für Tag. (Taylor 2008, 43 u. 47)
Bei Agneta Ingberg, 58, dauerte das „Fegefeuer“, wie schon erwähnt, noch länger: Insgesamt dauerte es drei Jahre mit diversen Symptomen, die auf die Alzheimerkrankheit hindeuten können, bis ich meine Diagnose bekam. […] Das Schwerste an diesen Tagen [Durchuntersuchung im Krankenhaus, M. W-L.] war, all die anderen Paenten zu sehen, die sichtlich krank waren, und einer von ihnen zu sein. (Andersson 2005, 30 u. 38)
Immer wieder ist zu hören und zu lesen, dass die Demenzdiagnose so früh wie möglich erfolgen soll. Richard Taylor sieht dies etwas anders: Mein Neurologe mag sich darüber freuen, dass er die Diagnose bereits im frühen Stadium der Erkrankung gestellt hat. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das tatsächlich ein Segen war. (Taylor 2008, 47)
Chrisne Boden beschreibt, wie sie sich fühlte, als sie von der Diagnose erfuhr: Es […] löst große Angst aus, zu erfahren, dass man an einer unheilbaren, zur Demenz führenden Krankheit leidet. Versuchen Sie sich vorzustellen: Sie sind mit der Tatsache konfronert, dass Sie im Laufe der Jahre alle ihre normalen geisgen Funkonen verlieren werden, und niemand kann Ihnen genau sagen, was geschehen, wann es passieren und wie lange es dauern wird. (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 127)
Bob Simpson vertri eine andere Meinung: „Kümmern Sie sich um eine Diagnose!“, das wäre mein erster Rat an Leute, die vermuten, dass sie an der Alzheimer-Krankheit leiden. Erzählen Sie es dann herum. […] Sie werden einsamer werden, wenn Sie die Wahrheit verschweigen! (Simpson & Simpson 1999, zit. in Bowlby Sion 2008, 124)
Für Agneta Ingberg aber zum Beispiel ist es nicht leicht, über die eigene Krankheit zu sprechen, da es viel Energie kostet: Es wagen, von seiner Krankheit zu erzählen, wo dies nög ist, und gleichzeig daran denken, dass es nicht jeden angeht, wie es einem geht – das verlangt Übung. Manchmal muss man sich halt am Riemen reißen. […]
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Demenz
Es ist Schwerarbeit für mich, über meine Krankheit und das Leben mit ihr zu reden. Anschließend bin ich x und ferg, aber es muss sein. (Andersson 2007, 64 u. 71)
Welche Folgen hat aber die Bekanntgabe der Diagnose Demenz auf die Mitmenschen? Die Auswirkung der Diagnose auf die Angehörigen ist nicht zu unterschätzen. Einerseits bedeutet sie sicher Erleichterung: „Jetzt wissen wir endlich, was los ist.“ Anderseits schreibt Chrisne Boden als Betroene zu Recht: Auch wenn die Diagnose endlich feststeht: Es bleibt Aufgabe der Familie, mit sehr belastendem Verhalten zurecht zu kommen. O schämen sich die Angehörigen und geben vor, alles wäre in Ordnung. Wenn wir uns der Krebserkrankung, des Herzinfarkts oder Gehirnschlags unseres Verwandten oder unserer Freundin nicht schämen, warum ist uns eine Erkrankung so peinlich, die ebenfalls ein Organ schädigt, eben das Gehirn? (Boden 1998, zit. in Bowly Sion 2008, 413)
Personen mit Demenz schätzen ihre Lebensqualität besser ein als pegende Angehörige. Auf der anderen Seite unterschätzen sie ihre kogniven Einbußen (vgl. Arlt et al. 2008, 604). Möglicherweise ist dies ein Grund, warum Personen mit Demenz o Opfer des „Höichkeitssgmas/Sgmas durch Assoziaon; courtesy sgma/ sgma by associaon“ sind: Pegende Angehörige verhalten sich freundlich, vermeiden aber den Kontakt zu Bekannten und Freunden. Personen mit Demenz werden von ihren pegenden Angehörigen vor dem sozialen Umfeld verborgen. Ein möglicher Grund ist, dass die pegenden Angehörigen die Auassung vertreten, dass Freunde, Nachbarn und sogar die eigene Familie sich gegenüber der Person mit Demenz nach dem Bekanntwerden der Diagnose deutlich anders verhalten. Und sie haben nicht Unrecht, wie wir im letzten Kapitel noch sehen werden, in dem wir uns ausführlich mit der Diskriminierung von Menschen mit Demenz beschäigen. Jede seiner Äußerungen und Bewegungen wurde beobachtet, nicht um festzustellen, was daran smmte, vielmehr in der Erwartung, dass ihm Fehler unterliefen. (Buchanan 1989, zit. in Bowlby Sion 2008, 116)
Ist es wirklich wünschenswert, die Diagnose so bald als möglich zu erfahren, wenn danach nur mehr die Fehler, die nicht gelungenen Handlungen wahrgenommen werden und man deshalb aus der Gesellscha ausgeschlossen wird?
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Demenz aus der Sicht der Betroenen: Das Erleben von Demenz
Personen, die gerade die Diagnose erhalten haben, suchen o Informaon über die Demenzkrankheit in der Fachliteratur. Welche Gefühle können diese Bücher aber auslösen: Eine Freundin gab mir ein Buch, das von einer Frau mit Alzheimer-Krankheit handelte und davon, wie toll und wunderbar sie mit ihrer Krankheit zurecht kam. Ich hasste dieses Buch. […] Ich wollte heulen, klagen und wild um mich schlagen! (Jean, zit. in Bowlby Sion 2008, 107)
René van Neer holt sich ein Buch über Demenz aus der Bibliothek, liest es und gibt es seiner Tochter und seinem Schwiegersohn zu lesen mit den Worten: »Das müsst ihr lesen. Dann wisst ihr, was euch bevorsteht.« »Findest du das nicht schlimm?«, frage ich [die Tochter, M. W-L.] ganz perplex über seine plötzliche Oenheit. René: »Ach nein, es ist einfach Demenz. Das muss ich oensichtlich mitmachen. Ich bin Pragmaker und habe gelernt, mit dem Strom zu schwimmen.« […] Man schreibe zu negav über diese Krankheit, sagt er. »Ich betrachte es vielmehr als Herausforderung: Was passiert am Ende des Lebens mit dem Geist? Alzheimer ist ein Abenteuer. Ich lasse mich darauf ein.« (Braam 2007, 19)
Zu einem anderen Buch sagt er allerdings: »Was ich darüber lese, ist nicht gerade beruhigend.« […] »Auf der anderen Seite: Diese Krankheit ist personenabhängig. Sie kann bei jedem Menschen anders verlaufen.« (Braam 2007, 91)
Agneta Ingberg fragt sich grundsätzlich, ob es von Vorteil ist, Fachliteratur zu lesen: Meine Medizin kann den Verlauf der Krankheit nicht stoppen, sondern nur das Pegeheim um ein paar Jahre aufschieben; so steht es in der Fachliteratur, die man vielleicht lieber nicht lesen sollte. (Andersson 2007, 49)
Haben diese unterschiedlichen Reakonen mit der Annahme der Diagnose, der Krankheitseinsicht zu tun? Gibt es hier auch einen Unterschied zwischen jungen Betroenen und Älteren?
Kann das Personsein erhalten bleiben, wenn das Gedächtnis versagt? Wenn es nur mehr die Gegenwart gibt? Chrisne Boden ist der Ansicht, ihr „Wesenskern“ werde von viel Ballast befreit und komme dadurch erst zum Vorschein:
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Demenz
Dieses einzigarge »Ich« liegt in meinem efsten Innern und wird dort bis zu meinem Ende bestehen. Vielleicht werde ich noch wahrhaiger »Ich selbst« als ich es jemals gewesen bin. (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 89)
Da sie sich nicht anders verhalten kann, so sehr sie sich auch bemühen mag, wird sie authenscher. Gleichzeig berichtet Chrisne Boden, dass sie den Kontakt zu ihren Gefühlen verliert: Wir kennen uns selbst nicht mehr, verlieren den Kontakt zu unseren Gefühlen und können uns nicht mehr mieilen. (Boden 1998, Bowlby Sion 2008, 246)
Dieser Kontaktverlust kombiniert mit dem Sprachverlust führt o direkt in die Isolaon. Diana Friel McGowin schreibt als betroene Person am Anfang ihrer Demenzerkrankung folgende bewegende Worte: Jedes Molekül in mir scheint zu schreien, daß es mich wirklich gibt, und daß diese Existenz von irgendjemandem gewürdigt werden muss! Wie kann ich den Rest dieser Reise ins Ungebahnte ertragen ohne jemanden, der dieses Labyrinth an meiner Seite durchwandert, ohne die Berührung eines Mitreisenden, der mein Bedürfnis nach Selbstwert versteht? (McGowin 1993, zit. in Kitwood 2000, 111 f.)
Die Person mit Demenz sucht etwas, dass ihrem Leben in der Gegenwart wirklich Bedeutung gibt. Der Augenblick ist die einzige Erfahrung, die sie betrachten, bestaunen und schätzen kann. Chrisne Bryden (geb. Boden) formuliert es so: Doch das ist die Erfahrung, mit Demenz zu leben – Leben in der Gegenwart, ohne Vergangenheit und Zukun. (Bryden 2005, zit. in Brooker 2008, 28)
Diese Erfahrung, nur mehr in der Gegenwart zu leben, hat mehrere Konsequenzen: • Gefühl der Sinnlosigkeit: „›Erst passiert das, dann wieder das‹, kommt er schimpfend heraus. ›Für mich macht nichts mehr einen Sinn.‹“ (Braam 2007, 130) Die Konnuität ist verloren gegangen. Handlungen stehen für sich alleine da, sie können nicht mehr in eine sinnvolle Reihenfolge eingebeet werden. Wieso soll B jetzt logischerweise geschehen, wenn ich nicht mehr weiß, dass A stagefunden hat? • Das Gefühl des Verloren-Seins entsteht, da die Realität nicht mehr nachvollziehbar ist.
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Demenz aus der Sicht der Betroenen: Das Erleben von Demenz
René van Neer: »Du kannst behaupten, was du willst, aber hier wohne ich nicht.« ( Braam 2007, 36)
• Ruhelosigkeit durch Vergessen: »Man hat nie Ruhe. Jeden Moment kann dem Gedächtnis etwas en allen. Abends weiß man noch, dass man Besuch hae. Aber wer war das? Hat man etwas verabredet? Hat man Nozen gemacht? Wo liegen die dann? Man lebt in ständiger Unsicherheit.« ( Braam 2007, 23).
• Handlungsdrang: »[W]enn ich mit einem Absatz ferg bin und den nächsten beginne, habe ich den vorherigen schon wieder vergessen. Den muss ich dann noch einmal lesen. Bis ich denke: Gib auf!« Aber auch diese Schlussfolgerung bleibt nicht hängen und das Ritual beginnt von neuem. (Braam 2007, 58)
• Ängste: Es düre sehr beängsgend sein, die Vergangenheit und die Zukun nicht mehr fühlen zu können. »Wovor hast du Angst?« »Vor allem. Man begegnet hier seltsamen Leuten. Es macht keinen Spaß, es ist unangenehm. Ich habe keine Anhaltung, welche Aufgabe ich hier habe. Was erwartet man von mir? Steht es irgendwo schwarz auf weiß? Kann ich es lesen?« (Braam 2007, 145)
• Seelischer Schmerz: Die Person mit Demenz versucht ihr Bestes und muss trotzdem permanent neue Verluste hinnehmen: Jedes Mal, wenn ich klein beigeben muss, habe ich das Gefühl, dass mir ein Stück Leben genommen wird. Wenn man alle diese Zeiten zusammenzählt, bleibt nur noch ein schmaler, begehbarer Pfad übrig. (Jean, zit. in Bowlby Sion 2008, 102)
• Heimatlosigkeit: „Das ist doch bei mir das Heimatlose“, sagt Else, die Muer von Bärbel Danneberg (Danneberg 2008, 97). Es gibt keinen Anker, keinen Halt mehr. Es gibt nur mehr den Augenblick allein. • Die zunehmende Fokussierung auf Gefühle erzeugt einen immensen inneren Druck: „›Ich bin fröhlich, doch auch immer kurz davor, zu explodieren‹“, beschreibt es René van Neer (Braam 2007, 99).
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Demenz
• Für Chrisne Boden bedeutet Go, Goesvertrauen, Trost in der Not: Ich glaube, dass Go unser Wesen in all seinen Spielarten kennt und weiß, wer wir wirklich sind. Diese Krankheit bringt nach und nach mein innerstes Wesen zum Vorschein und legt es vor Go oen. (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 89)
René van Neer beschreibt seine Honung folgendermaßen: »Ich habe angefangen, daran zu glauben«, meint er mit Tränen in den Augen. »Wenn nichts oder niemand mehr hil, gibt es immer noch die Engel. In der Not kann man seinen Schutzengel anehen.« […] »Hilfs-Arme: die Hilfe Goes. Da, wo man sie braucht, hat er ein Bataillon Engel aufgestellt.« (Braam 2007, 69)
• Genießen-Können: Chrisne Bryden sagt: „wir inveseren all unsere Energie in das Jetzt, nicht in das Damals oder das Später.“ (Bryden 2005, zit. in Brooker 2008, 71) René van Neer meint: »Das hat auch witzige Seiten: Manchmal genieße ich dreimal denselben Tag.« (Braam 2007, 81) »Ich nasche viel […]. Um das auszugleichen, was ich nicht mehr machen kann.« (Braam 2007, 92)
Chrisne Boden erläutert: Ich will, wie ich es bislang getan habe, die Schönheit dieser Welt in mich aufnehmen und die Zuneigung meiner Familie und Freunde spüren. Ich möchte all diese Dinge erleben, auch wenn die Erinnerung schnell verblasst. Wir genießen solche Momente ja um ihrer selbst willen, nicht nur, um uns später daran erinnern zu können. (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 252)
Können Personen ohne Demenz den Augenblick um seiner selbst willen genießen? Oder geht ihnen diese Fähigkeit nicht omals verloren? Schaen sie es, in der Gegenwart zu leben? Diese Achtsamkeit in den kleinen Dingen düren die Menschen mit Demenz den Menschen ohne Demenz voraus haben. • Die Tragweite der Erkrankung kurzfrisg vergessen: »Habe ich Alzheimer? Ganz vergessen.« Er zuckt die Achseln. »Alle Alten kriegen schließlich was. Ich habe Alzheimer. Sei’s drum.« (Braam 2007, 32)
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Als René van Neers Tochter ihm seinen abgelaufenen Personalausweis zeigt, kontert er grinsend „›Genauso abgelaufen wie mein Gedächtnis‹“ (Braam 2007, 20). Die Vergesslichkeit, wenn sie bewusst ist, erzeugt einen sehr starken Druck: „›Das Problem ist das Gedächtnis … Ich muss immer …‹“ beschreibt René van Neer (Braam 2007, 70). Bzw.: »Das Problem ist das Gedächtnis. Es will nicht mehr. Man erzählt etwas und mittendrin weiß man nicht mehr, worüber man redet. Das Gedächtnis funkoniert nach besmmten Gesetzen. Also denkt man: so mache ich es, Schri a, b, c, …, aber diese Gesetze sind nicht mehr in Kra.« (Braam 2007, 86)
Agneta Ingberg stellt einen anderen Vergleich an: „Als ob ich Lockenwickler im Gehirn vergessen habe.“ (Andersson 2007, 58) Personen mit Demenz haben aufgrund ihrer Vergesslichkeit teilweise das Gefühl, permanent etwas tun zu müssen, sie wissen aber nicht mehr was. Sie müssen sich so auf eine Akvität intensivst konzentrieren. Jede geringfügige Störung kann eine sehr intensive Reakon hervorrufen. Die Stresstoleranz ist für Chrisne Boden sehr niedrig oder kaum noch vorhanden: In den frühen Stadien versuchen wir, belastende Situaonen zu vermeiden. Gespräche, Unterhaltungen, spielende Kinder, Hintergrundmusik – all das können wir nur schwer ertragen. Weil es unserem Gehirn so schwer fällt, die unterschiedlichen Geräusche und opschen Eindrücke richg zu verarbeiten. (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 202)
Agneta Ingberg geht nicht mehr zu Festen, was ihre Tochter sehr enttäuscht. Aber für sie bedeuten Feste vor allem Lärm: Außerdem läu bei diesen Feiern im Hintergrund immer Musik, und dann kann ich nicht mehr verstehen, was die Leute sagen. Es ist geradeso, als ob ich hörgeschädigt bin; alle Störungen schlagen voll durch. (Andersson 2007, 66)
Wie o laufen im Aufenthaltsraum eines Pegeheimes der Fernseher oder das Radio als akussche Hintergrundkulisse? Betroene suchen nach verschiedenen Bewälgungsstrategien, um den Stress, der durch Nichtnachvollziehbarkeit entsteht, zu reduzieren. »Ich muss versuchen, mich in einem Klima des Widerstands und der Schikanen zu behaupten.« […] »[L]assen Sie mich gehen. Sie verstoßen gegen das Gesetz. Das ist widerrechtliche Freiheitsberaubung.« […]
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»Die Dinge, die man vergisst. Sachen, die man nicht mehr weiß. Dass man nicht mehr klar denken kann«, zählt er auf und verrät dabei seine Strategie: »Immer weiter mit sich selbst sprechen.« (Braam 2007, 38, 40 u. 50)
Das Telefonieren ist zwar o die einzige Tür zur Außenwelt, aber gleichzeig „Schwerstarbeit“: Ach, das Telefon. Es gibt nichts Frustrierendes! Es macht mich so nervös, ich bekomme dann kein Wort heraus. Ich bin völlig ratlos und hilos. Besonders schlimm ist es, wenn ich allein zu Hause bin. Ich scha ’ es einfach nicht, auch wenn die Leute am Telefon ungeduldig werden und schließlich auegen, auch wenn jemand anru, mit dem wir wirklich gerne sprechen möchten. Wenn die Leute merken, dass ich lange und umständlich nach Worten suche, geben sie es meist auf. (Henderson & Andrews 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 204) Dinge, die ich früher fast insnkv erledigt habe, kosten mich jetzt große Mühe. Telefonieren zum Beispiel ist Schwerstarbeit. All diese Zahlen … mit wem will ich eigentlich sprechen? ... was will ich sagen? … Das war früher doch nicht so schwer! Aber ich will das Telefonieren doch nicht aufgeben. (Simpson & Simpson 1999, zit. in Bowlby Sion 2008, 203 f.)
Viele Menschen preisen die technischen Fortschrie, die ermöglichen sollen, dass kranke Personen zum Beispiel mit Demenz länger zu Haus bleiben können. Man denke nur an „Ambient Assisted Living (AAL): Altersgerechte Assistenzsysteme für ein gesundes und unabhängiges Leben im Alter“ oder an Ambient Intelligence, wo Gegenstände in der Wohnung mit verschiedener Informaonstechnologie untereinander vernetzt werden.5 Ist dies wirklich ein Segen für Menschen mit Demenz, wenn bereits das Telefonieren so anstrengend ist? Die Heimatlosigkeit, das Verloren-Sein führt zu Unruhe. René van Neer ist auf der Suche nach dem Zuhause: »Was ist mit meiner Wohnung in Tilburg passiert? Ist sie abgebrannt oder wegen Mietrückstands geräumt?« […] »Kannst du mir erklären, wo ich bin und was passieren wird?« (Braam 2007, 36 f.)
Welche Ängste müssen damit verbunden sein? René van Neer glaubt sich (bald) obdachlos und ist wegen seiner nanziellen Situaon beunruhigt:
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Sieh dazu die Homepage von Wolfgang Zagler: hp://www.is.tuwien.ac.at/de/sta/zw.html.
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»Vor kurzem noch hat man mich auf die Straße gesetzt. Das passiert mir nicht noch einmal. Es geht das Gerücht, dass ich wieder raus muss. Weißt du etwas darüber?« […] »Was kostet dieses Hotel? Wie steht es um meine Finanzen?« […] »Es tut mir leid, dass ich so reizlich bin. Aber ich muss überleben.« (Braam 2007, 48 f.)
Nun wird verständlich, weshalb René van Neer durch die Gänge irrt. Wenn zusätzlich das Personal bzw. die Organisaon ihn nicht zur Rezepon/Verwaltung lässt, dann muss Verzweiung entstehen: »Schönen guten Tag, junge Frau, können Sie mir vielleicht sagen, wo ich die Verwaltung dieses Hotels nde?« […] »Aber Herr von Neer, warum wollen Sie das wissen?« »Ich möchte einfach wissen, wie es nanziell um mich steht. Es ist nicht mein Sl, Schulden zu machen.« »Alles wird für Sie geregelt. Setzen Sie sich einfach hin.« »Können Sie mir sagen, ob ein Euro ein Cent 49 oder ein Cent 50 ist«, fragt er weiter. »Mit solchen Sachen brauchen Sie sich nicht zu beschäigen, das regelt die Heimverwaltung.« (Braam, 2007, 37)
René van Neer schämt sich für seine Vergesslichkeit, er merkt, dass in ihm eine Veränderung stagefunden hat und hat große Angst, Fehler zu machen. Er versucht durch kleine Tricks und Ausreden, eine Fassade aufrecht zu erhalten. Er kann den Weg zu den Mülltonnen im Keller nicht mehr nden und ist verärgert: »Es sieht so aus, als häen sie zuerst das Haus gebaut und später entdeckt, dass sie den Keller vergessen haben«, seufzt er. »Den haben sie dann noch schnell darunter gesetzt.« (Braam 2007, 21 f.)
Eine gravierende Nebenwirkung der Heimatlosigkeit ist für Agneta Ingberg die Angst, besonders in der Nacht. Es ist schlimm genug, wenn nachts die große Angst kommt und ich eigentlich jemanden bräuchte, aber niemand anrufen will. [...] Dass ich überhaupt schlafen kann, liegt daran, dass wir zusammen schlafen und Körperkontakt haben. Ohne es zu wissen, hil Ulf mir sehr, mit der Angst vor der Nacht ferg zu werden. […] Aber wenn ich dann nachts nicht schlafen kann, kommen die anderen Bilder, die Angstaacken. Dann denke ich auf einmal: ich will nicht! (Andersson 2007, 67, 72 u. 95)
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Kann es sein, dass ein Grund für die Tag-Nacht-Umkehrung diese sehr ef sitzenden Angstaacken sind? Wenn ein Mensch Angst vor der Nacht hat, wird er in der Zweisamkeit versuchen, diese zu lindern. Er wird nicht allein in seinem Zimmer bleiben wollen. Er muss Gesellscha suchen, sei es im Gang, sei es in einem fremden Zimmer. Agnosie bedeutet die Unfähigkeit, Gegenstände zu idenzieren bzw. wieder zu erkennen. Stella Braam beschreibt das Verhalten ihres Vaters René van Neer zum Beispiel so: Er hört die Türklingel, aber er önet nicht: Er kann den Ton oenbar nicht mehr zuordnen. (Braam 2007, 47)
Das Essen steht vor René van Neer. Er rührt es jedoch nicht an. Hat er keinen Hunger? Doch, nur: Er schaut auf die Gabel und fragt: »Ist das ein Instrument für selbst registrierende Apparate?« (Braam 2007, 169)
Wie soll er mit einem „Instrument für selbst registrierende Apparate“ essen? Die Verbindung zwischen der Gestalt einer Gabel und seiner Funkon als Essbesteck fehlt. Ähnlich geht es ihm bei fast allen Handgrien, die er im Lauf eines Tages bis jetzt automasch vollzogen hat. Für jede kleinste Tägkeit ist die Person mit Demenz in einem späteren Stadium auf die Geduld des Interakonpartners angewiesen. Angewiesen darauf, dass ihm immer wieder jemand vorzeigt, wie man eine Gabel benützt: Ich öne seine geballte Faust, lege die Gabel hinein und führe seine Hand zum Mund. Nach zweimaligem Zeigen stürzt sich René leidenschalich auf das Essen. Kurz darauf hat er es schon wieder vergessen. (Braam 2007, 169)
Es ist für die Person mit Demenz kaum möglich, zur Ruhe zu kommen. Sie lebt in ständiger Unsicherheit. Das Selbstwertgefühl wird permanent auf die Probe gestellt: „Schae ich es jetzt?“ Wie schnell wird sie resignieren und einfach auf eine im Vorbeigehen gestellte Frage wie: „Sind Sie sa?“ zusmmen, obwohl sie möglicherweise noch Hunger hat und „nur“ das Besteck nicht mehr zu verwenden weiß? Aphasie – die Störung der Sprache – drückt sich bei René van Neer etwa so aus: »Wie heißen diese Dinger auch wieder?« René zeigt auf Trauben auf seinem Schreibsch. »Trauben.«
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»Trauben. Klar. Läsg, wenn man den Namen nicht mehr weiß. […]« (Braam 2007, 47)
Auch diese Sprachstörungen bewirken Angst. »Beängsgend, wenn man nicht deutlich machen kann, was man braucht«, sagt er. »Ich weiß, was ich sagen möchte, aber ich kann nicht darüber kommen.« (Braam 2007, 95)
Angst, die Wörter zu verlieren, Angst, sich nicht mehr arkulieren zu können, Angst, Fehler zu machen, Angst, die Toilee nicht mehr rechtzeig zu erreichen. Wenn die Wörter nicht mehr vorhanden sind, wie soll René van Neer seine Bedürfnisse und Wünsche ausdrücken? Eingesperrt im eigenen Körper. »Tut mir Leid. Ich habe es im Kopf, aber ich kann es nicht erzählen.« (Braam 2007, 59) Abends ru er mich an. »Hallo, liebe Tochter, hier ist dein Sohn.« Seine Smme bebt. »In meinem Zimmer standen fremde Leute. Was soll ich machen? Ich … es sieht so aus … man muss … Polizei?« »Sag es nur«, ermuntere ich ihn. »Sagen?« Er stößt einen Schrei aus. »Genau das kann ich nicht mehr.« (Braam 2007, 98)
Hier wird deutlich spürbar, wie verzweifelt René van Neer ist. Eine normale Aphasie kann von einer sensorischen Aphasie begleitet werden. Hierbei versteht die Person mit Demenz den Sinn der gesprochenen Sprache nicht mehr: »Was denkst du, wo wir sind?«, teste ich seine Orienerung. »Wodenksuwowirsin?«, wiederholt René. […] »Jetzt zum Beispiel.« »Was ist jetzubebi?« (Braam 2007, 150 u. 161)
Wie sollen sich Personen mit Demenz zu Recht nden? Sie verstehen nicht und werden nicht verstanden: »Wie heißt es auch wieder? Ein kleiner … Rand … und noch ein Kechen.« »Kechen?« »Nein, ein Rundchen.« Er zeichnet einen Kreis in die Lu. »Man kann es essen.« »Ein essbarer Kreis?«
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Neuer Anhaltspunkt: »Man packt es aus einem runden Ding aus.« »Ein Keks?« Na endlich. (Braam 2007, 129)
Das Gleiche passiert mit Zahlen und beim Rechnen: »Früher machte ich einen Geldbeutel auf und wusste sofort, wie viel Geld drin war. Jetzt kann ich das nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, welches Geld welchen Wert hat. Ob etwas viel oder wenig ist. Ich muss das leider feststellen. Ich kenne die Erfahrung von eins, zwei und drei nicht mehr.« Er kann nicht mehr rechnen. (Braam 2007, 97).
Das Leben muss jeden Tag aufs Neue entdeckt und verstanden werden. Die zahllosen kleinen Dinge des Alltags werden zum Problem und führen letztendlich zur geisgen Erschöpfung durch Überforderung. »Morgen? Sprich nicht von morgen. Ich muss erst versuchen, mir das Heute zu merken.« (Braam 2007, 62)
Bei Agneta Ingberg führen die Sprachstörungen zu Wut, da sie ihnen hilflos ausgeliefert ist: Aber die Vergesslichkeit ist noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste sind die Probleme mit den Worten. […] Oder ich bin in einem Gespräch und weiß, was ich gleich antworten will – und wenn ich den Mund aufmache, ist es wieder weg. Dann kann es mir passieren, dass ich heule vor Wut. Ich bekomme rasende Kopfschmerzen, wenn ich meine Gedanken nicht ordnen kann. Das ist dann wie ein Kurzschluss im ganzen Organismus, oder wie ein Deckel über dem Kopf. […] Ich kann verrückt werden, wenn ein Name mir auf der Zunge liegt und ich komme nicht mehr darauf. (Andersson 2007, 60 u. 62)
Aphasie und Agnosie können zu einer wachsenden Isolaon der Person mit Demenz führen. Besonders dann, wenn die Umwelt nicht mehr direkt die Person mit Demenz anspricht, sondern über ihren Kopf hinweg redet (vgl. Kap. 9). Chrisne Bryden weist auf einen sehr wichgen Aspekt in der Kommunikaon mit Personen mit Demenz hin: Je stärker emoonal und weniger kogniv wir werden, desto mehr ist es die Art, in der ihr mit uns sprecht und weniger das, was ihr sagt, an die wir uns erinnern. Wir kennen das Gefühl sehr wohl, aber nicht das Handlungsschema. Euer Lächeln,
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euer Lachen und eure Berührung sind das, womit wir in Verbindung treten. Empathie hat eine heilende Wirkung. Liebt uns einfach, wie wir sind. Wir sind immer noch da, emoonal und spirituell, wenn ihr in der Lage seid, uns zu nden. (Bryden 2005, zit. in Brooker 2008, 94)
Was bedeutet die Apraxie, die Beeinträchgung der Fähigkeit, motorische Akvitäten auszuführen, in der Praxis? René van Neer hat die Fergkeit des Sich-Hinsetzens verloren. Er muss permanent stehen und gehen. Er lehnt erschöp an einer Wand und meint: ‚»Ich kann wirklich nicht mehr. Aber ich weiß bei Go nicht, wie ich mich hinsetzen soll.« […] Eine Pegerin kommt vorbei. Sie hil ihm auf einen Stuhl. »Herr van Neer, Sie müssen sich umdrehen. Einen kleinen Schri nach links.« »Ja, ja das verstehe ich schon.« »Sie müssen sich setzen.« »Zerren Sie doch nicht so an mir.« »Sonst kann ich Ihnen doch nicht helfen.« »Lassen Sie mich in Ruhe. Ich mache es lieber selbst.« »Setzen Sie sich, Herr van Neer.« »Versuche ich ja.« »Lassen Sie sich einfach fallen. Ich halte Sie.« »Einfach fallen lassen.« »Oje, oje, oje. Lassen Sie mich in Ruhe.« »Herr van Neer!« (Braam 2007, 142 f.)
Diese Apraxie führt zu totaler Erschöpfung. Später tri bei Herrn van Neer noch eine Haltungsapraxie auf: Er verlernt die Fergkeit des Stehens. Stehen kann er nicht mehr, aber sitzen auch nicht. Welche Möglichkeiten bleiben noch übrig? Liegen und Gehen, bis er vor Erschöpfung stürzt und an Ort und Stelle einschlä. Welches Gefühl könnte mit der irrealen Vorstellung verbunden sein, das eigene Haus sei eine fremde Wohnung? Chrisne Bryden zeigt eine mögliche Interpretaon: ‚Helen sagte, dass sie sich o verloren gefühlt hat – und das selbst in ihren eigenen vier Wänden. Dabei ging es nicht darum, dass sie sich verirrt häe, sondern darum, dass es sich gelegentlich anfühlte, als sei sie sich irgendwie selbst abhanden gekommen.‘ (Bryden 2005, zit. in Brooker 2008, 95)
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So interpreert smmt die Aussage „Hier wohne ich nicht“. Helen hat sich als Person verloren, weshalb sie dann auch nicht hier wohnen kann. René van Neer meint: »Als lebe man in einer Wolke. Jegliche Ordnung ist verschwunden.« (Braam 2007, 13)
„In einer Wolke leben“: Bedeutet das, ohne Begrenzung, ohne Halt zu leben? Oder die Dinge nicht mehr richg wahrnehmen zu können? Der Blick erlaubt nur mehr die Wahrnehmung von Bilderbruchstücken, das Gehirn ordnet die Bilder nicht mehr: „Wo gehört was hin?“ Alles wird chaosch. Die Person mit Demenz kann ihre Gedanken nicht mehr ordnen. »Kannst du mir beim Geldabheben helfen?«, fragt René. […] »Wenn ich es allein machen muss, sind meine Füße wie Blei«, erklärt er. »Auf dem Weg zur Bank versuche ich, mich an meine Geheimzahl zu erinnern. Dann schwirren allerlei Zahlenkombinaonen durch meinen Kopf. Aber weißt du, was das Komische ist?« Er muss plötzlich lachen. »Wenn ich vor dem Schalter stehe, weiß ich sie wieder.« (Braam 2007, 14)
Beim Kaeetrinken fragt er seine Tochter: »Möchtest du mein Vormund werden?« […] »Ich muss akzeperen, dass ich immer weniger machen kann. Als mein Vormund kannst du ein Auge auf mich werfen. Ich mache immer mehr Fehler.« (Braam 2007, 20)
Es ist schmerzha, auf Andere angewiesen zu sein. Wer soll helfen, wer setzt sich ein, ohne zu beeinussen? »Man ist von seiner Umgebung abhängiger. Von Leuten, die man früher kannte«, erklärt er. »Manche schmecken einem nicht mehr, obwohl man sich früher gut vertagen hat. Aber man muss schon sich selbst bleiben können.« »Geht das? Kannst du dabei du selbst bleiben?« »Auf diesem Gebiet habe ich nicht so viel Erfahrung. Ich kenne nur die Psychologie«, antwortet er unsicher. »Es kommt darauf an, wie schlimm es ist. Wenn andere einem ihre Smme geben, geht es.« (Braam 2007, 56)
Ein Symptom, das die Medizin nicht zu den Symptomen der Erkrankung zählt, von dem aber die Betroenen berichten, ist eine extreme Erschöpfung, die wir auch bereits angesprochen haen. Diese Erschöpfung wird sehr ähnlich beschrieben wie die Grande Fague bei Krebserkrankungen. René van Neer schreibt etwa: »Das kommt von Alzheimer«, sagt er. »Ich denke, der Kern meiner Krankheit ist Erschöpfung, kombiniert mit den Erwartungen des Umfelds, dass man noch immer das Gleiche können muss.« (Braam 2007, 96)
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Agneta Ingberg formuliert es so: Ich fühlte mich so verwirrt und müde, war total erschossen. […] Aber ich wurde nur immer noch müder, ich schlief und schlief und schlief. Es war erschreckend. Die Müdigkeit, diese elende, lähmende Müdigkeit. […] Dann schlägt die Müdigkeit wieder zu. Ich bin es so müde, müde zu sein. Traurig und müde, so elend müde in Körper und Seele. (Andersson 2007, 22, 27, 56, 58)
René van Neer ist zeitweilig so erschöp, dass er sofort an Ort und Stelle einschlafen möchte, ohne zu bedenken, wo er gerade ist: Das endlose Herumlaufen laugt ihn aus. »So jetzt gehe ich schlafen«, meint er eines Nachmiags im Tagesraum. Nach kilometerlangen Wanderungen sitzt er endlich in einem Sessel. »Soll ich dich ins Be bringen?«, biete ich ihm an. »Nein, Engel. Das kann ich gerade noch selbst.« Er beginnt, den obersten Knopf seines Hemdes aufzuknöpfen. »Du bist nicht in deinem Zimmer«, warne ich ihn. »Nicht in der Schlafgelegenheit?« »Nein.« »Bist du dir sicher? Ich dachte, dass ich hier schlafe.« (Braam 2007, 143)
Woher kommt diese Erschöpfung? Für René van Neer: »Probleme bereiten einem die zahllosen kleinen Dinge, mit denen man tagtäglich konfronert wird«, erklärt er. […] » Ich nehme die Dinge nicht mehr richg wahr.« (Braam 2007, 61)
Ist es nicht vorstellbar, dass diese Erschöpfung Ergebnis des permanenten Versuchs ist, sich in diesem Augenblick zurechtzunden und den Alltag zu bewälgen? Die Aufmerksamkeit ist fokussiert, da die Person mit Demenz in einer permanenten Alarmbereitscha steht: „Was muss ich jetzt tun?“, „Was darf ich nicht vergessen?“, „Wie geht das?“, „Was ist der nächste Schri?“, „Wo bin ich?“, „Wer bin ich?“ Auf diese intensive Beanspruchung müssen Erschöpfung und Ermüdung folgen. Dauert die Alarmbereitscha sehr lang, dann werden die letzten körperlichen und geisgen Reserven mobilisiert. Wenn man diese Erschöpfung bereits angesichts der Bewälgung des Alltags berücksichgt, dann muss man sich fragen, ob Verhaltens-, Reakvierungs-, Garten- und Musiktherapien oder das Psychobiographische
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Demenz
Pegemodell®/Übergangspege® nach Böhm, die alle stark akvitätsorienert sind, für Menschen mit Demenz immer sinnvoll sind. Die Erschöpfung geht sehr o mit einer Depression einher. Die Person mit Demenz wird dadurch zusätzlich unter anderem mit Schlafstörungen, Smmungslabilität, Energieverlust und mangelndem Selbstwertgefühl konfronert. Die Betroenen wie René van Neer benden sich in einer Spirale. »Es gibt nichts mehr, das einem Halt gibt«, meint er. »Es ist, als exisere man immer weniger. Ein Mensch allein kann das nicht ertragen.« (Braam 2007, 176)
René van Neer, Richard Taylor, Agneta Ingberg, Else, die Muer von Bärbel Danneberg, Chrisne Boden, Jean, Cary Henderson, Bob Simpson und viele unbekannte Betroene wünschen sich unter anderem soziale Beziehungen: „Die Begegnung mit einem anderen ist für mich von ekstaschem Wert.“ (Braam 2007, 180). „Wie schön, dass du da bist.“ sagt Else zu ihrer Tochter Bärbel Danneberg (2008, 154). Lisa, Gan von Richard Taylor, zeigt den Weg, den Betreuende einschlagen sollten: Ich habe mich weitgehend mit der Tatsache abgefunden, dass ich meinen Mann nie mehr so verstehen werde wie früher […]. Ich wünsche, Sie häen Richard gekannt, bevor die Alzheimer-Krankheit sein und mein Leben verändert hat. Ich bin so froh, dass Sie durch diese Essays zumindest Gelegenheit haben, ihn kennen zu lernen, wie er vor ein paar Jahren war. Beim Lesen seiner Arbeiten habe ich etwas über ihn und über uns erfahren. Ich bin nicht immer seiner Meinung, aber er war zeitlebens und ist auch heute noch ein außergewöhnlicher Mensch. […] Ich werde niemals au ören, diesen außergewöhnlichen Mann zu lieben. November 2006 Linda Taylor. (Vorwort in Taylor 2008, 28 f.)
Ziel dieser Zusammenführung der einzelnen Erfahrungsberichte war es, dass Nicht- oder Noch-nicht-Betroene ihren Umgang mit Person mit Demenz reekeren und bei Bedarf modizieren. Sie sollen als Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens von Personen mit Demenz dienen. Nur wenn der Mensch immer wieder versucht zu verstehen, kann Eskalaonen, Aggressionen und dadurch Gewalt vorgebeugt werden. Eine Deeskalaonsstrategie kann dann prävenv eingesetzt und das sehr schmerzvolle Vollbild der Krankheit kann verhindert bzw. gelindert werden.
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Daten
3. Epidemiologie der Gewalt 3.1. Daten Anscheinend gibt es keine sicheren Inzidenz- und/oder Prävalenzzahlen für die Diagnose „Gewalt an alten Menschen in Langzeitpegeeinrichtungen“. Es liegen lediglich einige wenige Daten und Fakten vor, jedoch keine naonalen Berichte (vgl. Sillman 2008, 2). Karl Pillemer und David Moore befragten 1989 577 Pegepersonen in 31 Langzeitpegeeinrichtungen von New Hampshire zu Gewalt in der Instuon in den letzten zwölf Monaten: • 36 % berichten über wahrgenommene körperliche Gewalt und 81 % über wahrgenommene psychische Gewalt; • 10 % berichten, selbst körperliche Gewalt und 40 %, selbst psychische Gewalt angewandt zu haben (vgl. Pillemer u. Moore 1989, 314–320). Die Dunkelzier („das Verhältnis zwischen der Zahl der stassch ausgewiesenen und der wirklich begangenen Straaten“; Pegerl u. Cizek 2002, 63) der Gewaltanwendungen ist wahrscheinlich sehr hoch. Gewalt an alten Menschen bleibt im Rahmen von Pegebeziehungen meist unsichtbar. Nur die gravierenden Gewaltanwendungen, deren Folgen sichtbar sind, werden weitergeleitet bzw. zur Anzeige gebracht. Wenn der alte Mensch Gewalt erfährt, weiß er nicht, an wen und in welcher Weise er sich an jemanden wenden soll, nicht zuletzt, da er von den Pegenden abhängig ist. Wer entscheidet über eine eventuelle Anzeige? O ndet Gewalt in spezischen Täter-Opfer-Konstellaonen sta (vgl. Pegerl u. Cizek 2002, 62). Wenn Gewaltvorfälle einmal aufgedeckt worden sind, besteht die Reakon der alten Menschen, die Opfer werden, normalerweise in Vertuschungs- und Verharmlosungsversuchen auf Grund von Scham oder aus Furcht, dass die Beziehung zum trotz allem emoonal nahe stehenden Angehörigen oder gewalägen „Partner“ verschlechtert wird. (Hörl u. Spannring 2002, 335)
Josef Hörl und Reingard Spannring schreiben in Teil IV des Gewaltberichtes Folgendes: Es sind meines Wissens für kein Land Daten auf der Basis repräsentaver Untersuchungen verfügbar, die über das Ausmaß an Gewalthandlungen an alten Menschen in Krankenhäusern oder Altenheimen Auskunft geben. (Hörl u. Spannring 2002, 319)
M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Epidemiologie der Gewalt
Doris Bredthauer et al. führten 2005 eine prospekve Studie auf einer psychogeriatrischen Staon eines akuten psychiatrischen Spitals durch. Hierbei stellte sich heraus, dass 30 % (n = 37) aller Probanden (n = 122) in ihrer Bewegungsfreiheit beschränkt wurden. Die höchste Inzidenz, 48 %, fand sich bei alten Menschen mit der Diagnose „Demenz“ und/oder Delir. Die am häugsten auretenden Fixierungen waren Begier, gefolgt von Bauchgurten oder Schulter-/Brustgurten und, bei Fixierung von sitzenden Paenten, durch Tische. These results conrm that physical restraints remain a common pracce in psychogeriatric care. (Bredthauer et al. 2005, 17)
Es sei an dieser Stelle gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass die Autorinnen sich dessen bewusst sind, dass freiheitseinschränkende Maßnahmen (FEM) manchmal notwendig sind. Das Anwenden von freiheitseinschränkenden Maßnahmen hat man aufgrund ihres Zieles deniert, nicht aufgrund der Verfahrensweise selber. (Hankainen 2008, 3)
Andererseits sollten FEM nur als letzte Möglichkeit eingesetzt werden, • wenn alle Alternaven ausgeschöp wurden; • wenn es klare Leitlinien gibt, in welchen konkreten Situaonen FEM zulässig sind; • wenn es genaue Beschreibungen gibt über die Art und Weise, wie FEM anzuwenden sind; • und wenn klar ist, wer die Verantwortung für die Anwendung von FEM übernimmt. (Vgl. Hankainen 2008, 3) Claudia Cooper et al. befragten mit „minimum dataset homecare (MDSHC)“ ca. 4.000 Personen im Alter von über 65 Jahren, die eine professionelle Unterstützung zu Hause erhielten, in elf europäischen Ländern, ob sie Gewalt erfahren haen. Davon gaben 4,6 % zumindest ein Gewaltkriterium an. The proporon screening posive increased with severity of cognive impairment, presence of depression, delusions, pressure ulcers, acvely resisng care, less informal care, expressed conict with family or friend, or living in Italy or Germany, but not with having a known psychiatric diagnosis. (Cooper et al. 2006, 489)
Die Autoren sind der Ansicht, dass die höheren Risiken in Italien und Deutschland mit kulturellen Bedingungen und mit der Art und Weise der
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Daten
Hauskrankenpege zu tun haben könnten. Die Betreuten düren unter anderem ein erhöhtes Pegebedürigkeitsniveau als in anderen europäischen Ländern erreicht haben. Thomas Frühwald stellte 2008 fest, dass in der Gruppe der älteren mulmorbiden Menschen, die in ihrer Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt und o an Demenz erkrankt sind, bereits jeder Vierte mindestens eine Form von Gewalterfahrung gemacht hat (vgl. Frühwald 2008). Cooper et al. führten 2008 eine systemasche Literaturrecherche durch. Sie konnten im Rahmen der Untersuchung von 49 Studien nur sieben nden, die den wissenschalichen Kriterien von Erkennungs- und Messmethoden entsprachen. Die Ergebnisse können folgendermaßen zusammengefasst werden: • 6,3 % der Personen im Alter von über 65 Jahren erlebten eine signikante Gewalterfahrung im vergangenen Monat und 5,6 % der in Partnerschaen lebenden Menschen gaben die Anwendung von körperlicher Gewalt im letzten Jahr an; • 5 % der pegenden Angehörigen berichteten über körperliche Gewaltanwendung im letzten Jahr im Zusammenhang mit der Betreuung der pegebedürigen und an Demenz erkrankten alten Menschen. Ein Drittel berichtete über irgendeine andere Form von Gewaltanwendung; • 16 % des Pegeheimpersonals gaben zu, signikante psychische Gewalt angewendet zu haben; • nur 1 bis 2 % der Fälle von Gewaltanwendung wurden an die Heimleitung weitergeleitet. (Vgl. Cooper et al. 2008, 151-60) Ein Grund für diese unsichere Inzidenz und Prävalenz könnte in folgendem Problem liegen: Wer besmmt, was Gewalt an alten Menschen ist? Amber Selwood et al. führten eine Studie mit 74 Familien durch, die eine Person mit Demenz betreuten, und mit 38 Professionellen aus verschiedenen Berufen, die im geriatrischen intramuralen Gesundheitsservice arbeiteten. Eine Antwort auf die Fragestellung: „What is elder abuse?“ war: Professionals and carers reported signicantly dierent views from each other and guidelines about what constuted elder abuse. (Selwood et al. 2007, 1011)
Ein anderes Beispiel: Mehr als die Häle von 135 Angehörigen von Menschen mit Demenz in Japan wusste nicht, dass ihr Verhalten als Gewalt einzustufen sei (vgl. Matsuda 2007, 892). Das beste Screening-Instrument scheint derzeit immer noch die direkte Befragung bei der Anamnese zu sein (vgl. Sillman 2008, 7).
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Epidemiologie der Gewalt
The United States Prevenve Services Task Force concludes that ‚there is insucient evidence to recommend for or against the use of specic screening instruments for family violence, but including a few direct quesons about abuse … as part of the roune history in adult paents may be recommended on other grounds.‘ (Zit. in Sillman 2008, 7)
Wobei Colm Cooney et al. der Meinung sind, dass es auch ohne direkte Befragungen Möglichkeiten gibt, in der Hauskrankenpege Konstellaonen zu erkennen, in denen ein erhöhtes Gewaltpotenal vorhanden ist. Sie führten eine strukturierte Befragung von 82 pegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz durch. Von diesen 82 Menschen gaben 52 % (n = 43) an, eine der drei genannten Formen (verbale (n = 52,51 %), körperliche (n = 16,20 %) und Vernachlässigung (n= 3,4 %)) von Gewalt angewandt zu haben. Signicant associaons were found between verbal abuse and psychological ill health in the carer and behavioural problems in the demena suerer. (Cooney et al. 2006, 564)
Hier düre es sich um einen klaren Zusammenhang zwischen emoonaler Überforderung des pegenden Angehörigen und dem Verhalten der Person mit Demenz handeln.
3.2 Klinische Warnzeichen Die deutlichsten Warnzeichen düren wohl einerseits unerklärbares Schreien sowie Ängstlichkeit und andererseits Verdachtsmomente von Einzelpersonen in den Instuonen sein. Spezische Zeichen für körperliche Gewalt sind unter anderem: • Hämatome, blaues Auge und Befesgungsmerkmale • Brüche, unbehandelte Verletzungen • Verletzungen, die nicht auf die angegebenen Stürze zurückgeführt werden können • Verletzungen von Organen • Gebrochene Brillen • Verweigerung von Zahnprothesen (zwecks Arbeitserleichterung) • Laborbefunde, die darauf hinweisen, dass es Überdosierungen von verordneten Medikamenten, Verabreichung von nicht ärztlich verordneten Medikamenten oder Unterdosierung von verschriebenen Medikamenten gibt.
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Klinische Wahzeichen
• Die ältere Person gibt an, zum Beispiel geschlagen, geohrfeigt, gestoßen, kalt geduscht worden zu sein. • Plötzliche Veränderung im Verhalten eines alten Menschen: Er erscheint sehr schreckha und ängstlich, besonders in Anwesenheit einer besmmten Person. • Eine Pegeperson verweigert den Zugang zum alten Menschen. • Legen eines Dauerkatheters (zur Arbeitserleichterung) Für sexuellen Missbrauch: • Hämatome um den Brust- und/oder im Genitalbereich • Unerklärbare Geschlechtskrankheiten oder genitale Infekonen • Unerklärbare Blutungen im analen oder vaginalen Bereich • Gerissene, beeckte oder bluge Unterwäsche • Missachtung der Privatsphäre • Der alte Mensch gibt an, vergewalgt oder sexuell missbraucht worden zu sein. Für emoonale/psychische Gewalt: • Verwirrtheit oder Unruhe • Verbale Drohungen; Tonfall und Wortwahl in der Kommunikaon zwischen Pegendem und Gepegtem (aggressiver Tonfall, Infanlisierung, Entpersonalisierung, Ignorieren von Bien und Hilferufen etc.) in Anwesenheit anderer. • Der alte Mensch wird daran gehindert, alleine mit einer professionellen Driperson zu sprechen. • Klingeln oder Glocken sind außerhalb der Reichweite von Bewohnern platziert oder nicht vorhanden. • Außerordentlicher Rückzug, keine Kontaktaufnahme des Bewohners • Der alte Mensch berichtet über verbale psychische Gewalt. Für Unterlassung und Vernachlässigung (neglect and abandonment): • Dehydrataon, Malnutrion, unbehandelte Decubita, körperliche Vernachlässigung • Unerwartete und unbehandelte Gesundheitsprobleme • Ein alter, körperlich vernachlässigter Mensch wird mehrmals zu ungewöhnlichen Zeiten auf der Straße angetroen. • Die ältere Person berichtet über Unterlassungen. • Abschiebung eines alten Menschen in eine staonäre Instuon • Vorsätzlich unsachgemäße Durchführung pegerischer Maßnahmen • Grob fahrlässige Verzögerung therapeuscher Maßnahmen (zum Beispiel dem alten Menschen einen Rollstuhl verweigern)
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Epidemiologie der Gewalt
Für nanzielle und materielle Gewalt: • Plötzliche Veränderungen des Kontostands • Der alte Mensch scheint keine Habseligkeiten zu besitzen und/oder hat kein Bargeld. • Viele unbezahlte Rechnungen, Mietrückstand usw. • Neue Bevollmächgte auf einem Konto • Unerlaubte Kontoabhebungen • Leerer Kühlschrank und/oder ungepegte Wohnung • Plötzliche Änderungen in einer Willensäußerung (Vgl. Sillman 2008, 4 f.; Frühwald 2008, 11; Görgen 1999, 85 f.) Johnson hat 1991 eine Checkliste für mögliche Misshandlungsanzeichen vorgelegt: ÖL
Y OLOG OZ OLOG
L
A Medikamentenmissbrauch 1 Vorenthalten 2 unangemessene Verwendung 3 ungünsge Wechselwirkung 4 unnöge Verwendung
A Demügung
A Isolaon
1 2 3 4
A materieller Missbrauch 1 Misswirtscha mit Eigentum 2 Misswirtscha mit Verträgen 3 Zugang zu Eigentum sperren 4 Zugang zu Verträgen sperren B Diebstahl
Beschämung Beschuldigung Bloßstellung Ablehnung
B körperliche Beeinträchgung 1 Übersehenv on medizinischen Bedürfnissen 2 mangelnde Hygiene 3 Ruhestörungen
B „Plagen“
1 unfreiwilliger Rückzug 2 freiwilliger Rückzug 3 unangemessene Beaufsichgung 4 unpassende Beaufsichgung B Rollenkonfusion
1 2 3 4
1 2 3 4
C körperliche Angrie
C Manipulaon
C Missbrauch von Wohnarrangements
1 äußere Verletzungen 2 innere Verletzungen 3 Vergewalgung 4 Selbstmord/ Totschlag
1 Informaon zurückhalten 2 Informaon verfälschen 3 unbegründete emoonale Deprivaon 4 Einmischung in Entscheidungen
1 desorganisierter Haushalt 2 mangelnde Privatsphäre 3 unpassende Umgebung 4 Verlassenheit
Beleidigung Einschüchterung Furchtauslösung Erregung
Konkurrenz Überlastung Umkehrung Auösung
Johnson 1991, zit. in und übers. von Kranich 2007, 5 f.
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1 Stehlen von Eigentum 2 Stehlen von Verträgen 3 Erpressen von Eigentum 4 Erpressen von Verträgen Missbrauch von Rechten 1 Verneinung von Verträgen 2 unfreiwillige Unterwerfung 3 unnöge Vormundscha 4 Missachtung von professioneller Autorität
Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen
3.3 Konsequenzen der Gewalt an alten Menschen Es sind kaum Daten über die Mortalität als Folge von Gewaltanwendungen in der Pege vorhanden. Allerdings wurde das Gefahrenpotenal von mechanischen Fixierungen mehrfach in der Fachliteratur aufgezeigt: • Sturzgefahr durch kogniven und muskulären Abbau • Drehen um die eigene Körperachse; Herausrutschen über die Bekante mit Folgeerscheinungen wie Luxaonen, Nervenkompressionen bis zum Absterben einer Extremität, tödliche Strangulaon oder Thoraxkompression • Beim Liegen mit einer 4-Punkt-Fixierung an beiden Hand- und Fußgelenken durch Herausgleiten über die Bekante Möglichkeit von schweren Verletzungen • Beim Liegen mit einer 5-Punkt-Fixierung mit Bauchgurt Möglichkeit von Kopfverletzungen durch Aufrichten oder/und Herumschlagen • Beim Liegen mit einer 5-Punkt-Fixierung mit Schulter-/Brustgurt ev. Atemnot und Strangulaon durch Hinunterrutschen Physische Gewalt kann eine unmielbare und mielbare Beeinträchgung der physischen Gesundheit zur Folge haben – durch Wunden, Schmerzen, Immobilität, Kontrakturen, Gleichgewichtsstörungen, beschleunigten motorischen Abbau, Selbstständigkeitsverlust in einigen Akvitäten des täglichen Lebens, Stürze und körperliche Erschöpfung, Exsikkose, Appetlosigkeit, Malnutrion, Harn-, und Stuhlinkonnenz. Gewalt kann jedoch auch die psychische Gesundheit unmielbar und mittelbar beeinträchgen und zum Beispiel Überwachsamkeit, Sorge um die eigene Sicherheit, Furcht oder Angst, Traurigkeit, Hilosigkeit, Machtlosigkeit, Kontrollverlust, Selbstbeschuldigung, Selbstvernachlässigung, Apathie, psychische Erschöpfung, Depression, Regression, soziale Isolaon und Rückzug, beschleunigten kogniven Abbau und Gefühlsinkonnenz hervorrufen. Mielbare Folgen von physischer und/oder psychischer Gewalt sind unter anderem Folgende: Chemische Fixierung durch Medikamente kann zu Verwirrtheit, paradoxen Reakonen, Unruhe, kognivem Abbau, Apathie und herausforderndem Verhalten führen. Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind bei hochbetagten mulmorbiden Paenten mit und ohne Demenz nicht zu unterschätzen (vgl. Frühwald 2008, 8; Rodney 2000, 176). In jedem Fall entsteht daraus ein erhöhter Pege- und Betreuungsbedarf. Mark Lachs et al. führten 1998 eine prospekve Kohortenstudie mit 2.812 Menschen über 65 Jahren durch und kamen zu der Schlussfolgerung:
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Denionen des Gewaltbegris und der Formen von Gewalt
Reported and corroborated elder mistreatment and self-neglect are associated with shorter survival aer adjusng for other factors associated with increased mortality in older adults. (Lachs et al. 1998, 430)
Die Ergebnisse der zu Beginn zierten Forschungsarbeiten haben deutlich gemacht, dass Gewalt an alten Menschen verübt wird – und zwar nicht „nur“ in einigen wenigen Ausnahmefällen, sondern konnuierlich und an sehr vielen alten Menschen. Ebenfalls deutlich wurde, dass die Gefahr von Gewaltanwendung steigt, wenn ein alter Mensch eine Demenz hat. Bevor aber näher auf das Phänomen der Gewalt durch Pegepersonen in Instuonen eingegangen werden kann, soll zunächst im folgenden Kapitel beschrieben werden, wie Gewalt zu denieren versucht wird und welche Formen von Gewalt hierbei unterschieden werden.
4. Definitionen des Gewaltbegriffs und der Formen von Gewalt Der Begri „Gewalt“ ist kein klarer bzw. eindeug denierter Begri. Es erscheint daher unmöglich, in ein oder zwei Sätzen eine präzise und zugleich umfassende Denion zu präseneren. Gewalt an alten Menschen kann im Pegeheim ebenso wie in der eigenen Wohnung ausgeübt werden, von professionellen Pegepersonen wie von Angehörigen (aber auch von anderen alten Menschen); Gewalt erfährt man direkt durch eine besmmte Person oder indirekt durch organisatorische Rahmenbedingungen einer Instuon bzw. durch eine Gesellscha, ihr Altersbild und ihre Regelungen für den Umgang mit alten Menschen; und schließlich umfasst Gewalt das äußerst weite Spektrum von Schlägen und Beschimpfungen über nanzielle Ausbeutung bis hin zur Überdosierung von Medikamenten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Das Phänomen der Gewalt ist also bereits aufgrund der Unterschiedlichkeit der unter diesem Begri subsumierten Handlungen und Unterlassungen sowie der Vielfalt an „Tätern“ und „Opfern“ nicht leicht zu fassen. Darüber hinaus gibt es aber auch verschiedenste Menschen, die sich mit dem Phänomen der Gewalt beschäigen (müssen): Ärzte, Pegepersonen, Sozialarbeiter und Juristen beispielsweise, die häug durch Erlebnisse in der Praxis auf dieses Thema gestoßen werden. Sozialwissenschaler oder Philosophen hingegen werden zumindest zum Teil eher aufgrund theorescher Überlegungen mit dem Gewaltbegri konfronert werden. Vor allem aber werden die Zugänge sehr verschieden sein:
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Denionen des Gewaltbegris und der Formen von Gewalt
Reported and corroborated elder mistreatment and self-neglect are associated with shorter survival aer adjusng for other factors associated with increased mortality in older adults. (Lachs et al. 1998, 430)
Die Ergebnisse der zu Beginn zierten Forschungsarbeiten haben deutlich gemacht, dass Gewalt an alten Menschen verübt wird – und zwar nicht „nur“ in einigen wenigen Ausnahmefällen, sondern konnuierlich und an sehr vielen alten Menschen. Ebenfalls deutlich wurde, dass die Gefahr von Gewaltanwendung steigt, wenn ein alter Mensch eine Demenz hat. Bevor aber näher auf das Phänomen der Gewalt durch Pegepersonen in Instuonen eingegangen werden kann, soll zunächst im folgenden Kapitel beschrieben werden, wie Gewalt zu denieren versucht wird und welche Formen von Gewalt hierbei unterschieden werden.
4. Definitionen des Gewaltbegriffs und der Formen von Gewalt Der Begri „Gewalt“ ist kein klarer bzw. eindeug denierter Begri. Es erscheint daher unmöglich, in ein oder zwei Sätzen eine präzise und zugleich umfassende Denion zu präseneren. Gewalt an alten Menschen kann im Pegeheim ebenso wie in der eigenen Wohnung ausgeübt werden, von professionellen Pegepersonen wie von Angehörigen (aber auch von anderen alten Menschen); Gewalt erfährt man direkt durch eine besmmte Person oder indirekt durch organisatorische Rahmenbedingungen einer Instuon bzw. durch eine Gesellscha, ihr Altersbild und ihre Regelungen für den Umgang mit alten Menschen; und schließlich umfasst Gewalt das äußerst weite Spektrum von Schlägen und Beschimpfungen über nanzielle Ausbeutung bis hin zur Überdosierung von Medikamenten, um nur einige wenige Beispiele zu nennen. Das Phänomen der Gewalt ist also bereits aufgrund der Unterschiedlichkeit der unter diesem Begri subsumierten Handlungen und Unterlassungen sowie der Vielfalt an „Tätern“ und „Opfern“ nicht leicht zu fassen. Darüber hinaus gibt es aber auch verschiedenste Menschen, die sich mit dem Phänomen der Gewalt beschäigen (müssen): Ärzte, Pegepersonen, Sozialarbeiter und Juristen beispielsweise, die häug durch Erlebnisse in der Praxis auf dieses Thema gestoßen werden. Sozialwissenschaler oder Philosophen hingegen werden zumindest zum Teil eher aufgrund theorescher Überlegungen mit dem Gewaltbegri konfronert werden. Vor allem aber werden die Zugänge sehr verschieden sein: M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Gewalt als systemasche Handlung oder Unterlassung mit ausgeprägten negaven Folgen
Jede fachliche Auseinandersetzung mit der Gewalt-Problemak tendiert dazu, eigene Definitionen und Sichtweisen vorzustellen. Überwiegend wird unter Gewalt eine gegen eine Person gerichtete körperliche Handlung verstanden, die diesen spürbar schädigt (z. B. schlagen, verletzen, vergewalgen). Andererseits kann z. B. die Gewalt gegen alte Menschen als ein Verbrechen betrachtet werden. Die entsprechende Denion stützt sich dann auf die Bausteine „Absicht“, „Verletzung“ und „Verursachung“. Gewalt kann auch als ein soziales Problem gesehen werden. Eine entsprechende Denion wird dann die Rolle kulturspezischer Wahrnehmungen, soziale Normen und Wertsetzungen betonen. Andere Sichtweisen verdeutlichen, dass die Gewalt nicht nur ein sozial-unverträgliches Verhalten ist und betonen die Absicht, Schmerzen zuzufügen, indem sie den Begri der Aggression direkt oder indirekt mit in die Denion einbeziehen. (Hirsch 2001, 2)
Wie hier deutlich wird, hängt die Denion von Gewalt unter anderem immer auch davon entscheidend ab, welcher Berufsgruppe derjenige entstammt, der eine solche Denion formuliert; ob seine Interessen und Ziele jurisscher, polischer oder medizinischer Natur sind u. v. m. Wir werden im Folgenden drei jener Denionen von Gewalt an älteren Menschen näher betrachten, die in der Literatur am häugsten genannt werden und die unterschiedliche Aspekte von Gewalt besonders hervorheben.
4.1 Definition von Margret Dieck: Gewalt als systematische Handlung oder Unterlassung mit ausgeprägten negativen Folgen In sehr vielen Aufsätzen zum Thema Gewalt wird auf die Denion von Margret Dieck Bezug genommen. Die 1996 verstorbene längjährige Leiterin des „Deutschen Zentrums für Altersfragen“ veröentlichte 1987 in der Zeitschri für Gerontologie einen Arkel zum Thema „Gewalt gegen ältere Menschen im familialen Kontext – Ein Thema der Forschung, der Praxis und der öentlichen Informaon“. In diesem Arkel weist auch sie auf Schwierigkeiten bei der Denion hin und erteilt der Möglichkeit einer „klare[n] Grenzziehung“ zwischen einem (für die Beteiligten) „normalen“ konikthaen Verhältnis, einer „einmaligen oder gelegentlichen Entgleisung“ und einer systemaschen, anhaltenden Gewaltanwendung eine deutliche Absage (Dieck 1987, 310). Begründet wird dies von ihr zum einen mit den oben schon erwähnten unterschiedlichen professionellen Zugängen und Pers-
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Denionen des Gewaltbegris und der Formen von Gewalt
pekven, zum anderen mit „individuell variierenden Bewertungsmaßstäben“ (Dieck 1987, 310). Dennoch, so Dieck, erscheint der „Versuch einer Nomenklatur“ (Dieck 1987, 310) wichg, um sich dem Phänomen der Gewalt in all seiner Vielschichgkeit annähern zu können. Und so formuliert sie eine für die moderne Gewal orschung zentrale Denion: Gewalt wird hier verstanden als eine systemasche, nicht einmalige Handlung oder Unterlassung mit dem Ergebnis einer ausgeprägt negaven Einwirkung auf die Bendlichkeit des Adressaten. Eine einmalige Handlung/Unterlassung muß sehr gravierende Negavfolgen für den Adressaten haben, soll sie unter den Begri der Gewalt subsumiert werden können. (Dieck 1987, 311)
Folgende Aspekte des Gewaltbegris werden hier deutlich: 1. Gewalt umfasst nicht nur akve, absichtliche Handlungen, sondern auch – absichtliche oder unabsichtliche – Unterlassungen. Nicht nur, wenn ich einen Menschen schlage, tue ich ihm Gewalt an, sondern auch dann, wenn ich aus Ärger über das Verhalten eines Bewohners oder aber aus Müdigkeit gewisse Pegehandlungen, wie etwa den Einlagenwechsel in der Nacht, nicht vornehme. 2. setzt Dieck mit dieser Denion Gewalt nicht ausschließlich mit körperlicher Gewalt gleich, wie später anhand der verschiedenen Formen noch deutlicher werden wird. Das Ignorieren eines Bewohners, demügende Aussagen o. ä. sind ebenfalls als gewaläge Handlungen gegenüber diesem Menschen anzusehen. 3. schließlich spricht man nach Dieck in der Regel erst dann von Gewalt, wenn es nicht um Einzelhandlungen, sondern um ein systemasches mehrfaches Handeln oder Unterlassen geht (sie beru sich hierbei auf die Literatur, in der dies weitgehend übereinsmmend als Kriterium für die Zuordnung zu Gewalt genannt werde; vgl. Dieck 1987, 310). Zu Recht relaviert sie aber sofort dahingehend, dass auch einzelne Handlungen als gewaläge Handlungen zu klassizieren sind, sofern sie gravierende negave Auswirkungen auf das Opfer haben. Hier geht es wohl um die Unterscheidung zwischen der oben beschriebenen „einmaligen oder gelegentlichen Entgleisung“ und der konnuierlichen Gewaltanwendung, die darüber hinaus von ihr vor allem im Kontext der Gewalt in Familien getroen wird, bei der wir es in der Regel mit langjährigen Beziehungen zu tun haben (vgl. Hörl u. Spannring 2002, 313).
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Personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt
4.2 Definition von Rolf Hirsch und Bodo Vollhardt in Anlehnung an Johan Galtung: Personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt Diecks Denion themasiert bereits zahlreiche Aspekte von Gewalt; allerdings bleibt sie, wie unter anderem Rolf Hirsch deutlich macht, ausschließlich auf „Interakonen zwischen Personen“ beschränkt (Hirsch 2001, 3). Um die Denion umfassender zu machen, grei er zunächst die von Johan Galtung, einem der Gründungsväter der Friedensforschung, vorgenommene Unterscheidung zwischen direkter, struktureller und kultureller Gewalt auf und passt diese an das Thema Gewalt gegen alte Menschen an. In der Adapon von Rolf Dieter Hirsch und Bodo Vollhardt stellt sich das Gewaltdreieck dann folgendermaßen dar:
Strukturell prozessha
Beispiele: mangelhae Diagnosk mangelhae Lebensräume Sicherheit von Lebensqualität inhumane Arbeitsbedingungen unzureichende Kontrollinstanzen unzureichender Personalschlüssel unnöge Einrichtung von Betreuung mangelhae Qualizierung des Personals unzureichende Durchsetzung von Gesetzen monetäre Einschränkung vor ethischer Picht
indirekt
ewalt direkt
Kulturell invariant Beispiele: Akzeptanz von Gewalt Vorurteile gegen das Alter Pegeverpichtung für Frauen Scham der Opfer vor Öentlichkeit starre intergenerave Beziehungsmuster „Sendungsbewusstsein“ der Professionellen Ungleichheit psychisch und körperlich Kranker
Personell aktuell Beispiele: Symptome nicht ernst nehmen beschämen, bloß stellen, drohen sexuell beläsgen, vergewalgen beschimpfen, anschreien, beleidigen schlagen, verletzen, fesseln, einsperren Medikamente vorenthalten, vernachlässigen isolieren, nanziell ausbeuten
„Gewaltdreieck“, Hirsch 2003, 2
Personelle Gewalt bezieht sich also immer auf Handlungen und Unterlassungen, die von besmmten Personen anderen Personen gegenüber ausgeübt werden. Sowohl Täter und Opfer als auch die Handlungen oder Unterlassungen selbst können idenziert und beobachtet werden. Wie verhält es sich aber etwa im Fall von chronischem Personalmangel auf einer Staon, der ein Beispiel für strukturelle Gewalt darstellt? Hier ist
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Denionen des Gewaltbegris und der Formen von Gewalt
die Gewalt nach Hirsch „nur indirekt fassbar als ein Prozess, wie er z. B. seinen Niederschlag in Instuonen und deren genormten Abläufen ndet oder bei der mangelhaen Anwendung von Gesetzen“ (Hirsch 2001, 3). Wer ist hier genau der Täter? Welche Handlung oder Unterlassung sollte hier konkret als die gewaläge idenziert werden? Und doch wird Gewalt ausgeübt, sowohl gegenüber den Paenten/Klienten als auch gegenüber dem Personal. Johan Galtung fasst den Unterschied zwischen personaler und struktureller Gewalt folgendermaßen zusammen: Der Typ von Gewalt, bei dem es einen Akteur gibt, bezeichnen wir als personale oder direkte Gewalt: die Gewalt ohne einen Akteur als strukturelle oder indirekte Gewalt. In beiden Fällen können Individuen im doppelten Sinne der Wörter getötet oder verstümmelt, geschlagen oder verletzt und durch den strategischen Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche manipuliert werden. Aber während diese Konsequenzen im ersten Fall auf konkrete Personen als Akteure zurückzuführen sind, ist das im zweiten Fall unmöglich geworden: hier tri niemand in Erscheinung, der einem anderen direkt Schaden zufügen könnte; die Gewalt ist in das System eingebaut und äußert sich in ungleichen Machtverhältnissen und folglich in ungleichen Lebenschancen. (Galtung 1975, 12)
Noch verschwommener wird es beim Aspekt der kulturellen Gewalt: Wie kommt es beispielsweise dazu, dass in einer Gesellscha ein negaves Altersbild vorherrscht, dass alte Menschen stereotypisiert werden oder dass ihnen mit Vorurteilen begegnet wird? Hirsch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass gerade die kulturellen gewal ördernden Aspekte „eher invariant (sind), schwer und nur langsam zu verändern“ (Hirsch 2001, 3). Das ist zumindest insofern richg, als in diesem Bereich die Möglichkeit von Sofortmaßnahmen kaum gegeben ist. Wenn jemand einem anderen Menschen Gewalt antut, kann ich zum Beispiel selbst eingreifen oder die Polizei anrufen und das Opfer damit zumindest im Moment vor dem Täter schützen. Die aus Personalmangel resulerende Gewalt kann ich beheben, indem ich mehr Personal ausbilde und anstelle. Weitaus schwieriger ist es aber, festgesetzte Stereotype bzw. Vorurteile gegenüber Alter, Krankheit, Demenz u. ä. abzubauen. Andererseits liegt gerade hier eine Aufgabe, die jede und jeder von uns täglich in Angri nehmen kann – doch dazu später mehr (vgl. Kap. 9). Besonders problemasch ist ein spezischer Aspekt von kultureller Gewalt, den Johan Galtung hervorhebt: Sie „läßt direkte Gewalt und strukturelle Gewalt rechtmäßig erscheinen und führt dazu, sie […] nicht als Unrecht zu empnden“ (Galtung 1993, 106). Eine der Konsequenzen besteht dann darin, dass die Realität insofern „undurchsichg“ wird, als „wir eine
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Personelle, strukturelle und kulturelle Gewalt
gewaläge Handlung oder Tatsache überhaupt nicht wahrnehmen oder sie zumindest nicht als solche erkennen“ (Galtung 1993, 106). Wenn beispielsweise eine Pegeperson die gängigen Vorurteile gegenüber dem Alter teilt und davon ausgeht, dass alte Menschen sowieso senil und gleichzeig halsstarrig seien, wird der alte Mensch, der von ihr oder ihm betreut wird, omals in seiner Selbstbesmmung eingeschränkt werden – und eventuell werden dieser Pegeperson diese Handlungen nicht einmal als gewaläg auallen. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Arten von Gewalt deniert Hirsch jedenfalls in Anlehnung an Galtung6 den Begri der Gewalt folgendermaßen: [U]nter Gewalt (ist) eine Handlung oder Drohung zu verstehen, die grundlegende menschliche Bedürfnisse (Wohlbenden, Überleben, persönliche Identät und Freiheit) beeinträchgt, einschränkt oder deren Befriedigung verhindert. (Hirsch 2001, 3)
Im Unterschied zur Denion von Margret Dieck, die auf die negaven Folgen von Gewalt für die betroene Person abgezielt hat, liegt der Fokus hier also auf den Bedürfnissen eines Menschen und deren Nichterfüllung im Fall von Gewalt – eine Konsequenz aus der Erweiterung des Gewaltbegris über personelle Interakonen hinaus. Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, als würden Unterlassungen hier nicht mehr zu Gewalt gezählt werden. Berücksichgt man allerdings das Gewaltdreieck, dann wird deutlich, dass viele der gewalägen Handlungen eben in Unterlassungen bestehen, wenn beispielsweise nicht ausreichend Personal eingestellt wird, Medikamente bzw. Nahrung vorenthalten werden usw. Hirsch fasst die Vorteile, die sich seines Erachtens aus dem hier skizzierten Gewaltdreieck ergeben, kurz zusammen: 1. Gewalt als eine vermeidbare Beeinträchgung menschlicher Grundbedürfnisse zu sehen: diese Denion ist neutral und vermeidet den Skandalisierungseekt von Sachverhalten, deren Emoonalisierung häug einer Au lärung, Korrektur und Suche nach Alternaven im Wege steht;
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Denion von Galtung: „Ich begreife Gewalt als vermeidbare Beeinträchgung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potenell möglich ist.“ (Galtung 1993, 106). Die Bedürfnisse teilt er direkt im Anschluss in vier Gruppen: „Überlebensbedürfnisse (Negaon: Tod); Wohlbendlichkeitsbedürfnisse (Negaon: Not und Elend); Identäts-, Sinnbedürfnisse (Negaon: En remdung); und Freiheitsbedürfnisse (Negaon: Unterdrückung).“ (Ebd.)
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Denionen des Gewaltbegris und der Formen von Gewalt
2. der Bedeutung von mulfaktoriellen und mehrdimensionalen Entstehungsbedingungen, die veränderbar sind und somit zum Handeln auordern; 3. der Vermeidung, lediglich eine Opfer-Täter-Dichotomisierung oder eine reine Beziehungsproblemak zu sehen; dies ist zur Vermeidung von Emoonalisierung und zur Operaonalisierung von Alternaven entscheidend. (Hirsch 2001, 3)
4.3 Definition der WHO: Gewalt als Enttäuschung einer Erwartungshaltung Die Weltgesundheitsorganisaon (WHO) hat sich in der Toronto-Deklaraon 2002 um eine weitere Denion bemüht, die folgendermaßen lautet: Gewalt an alten Menschen ist eine einzelne oder wiederholte Handlung, oder das Fehlen einer angemessenen Handlung, die im Rahmen einer Beziehung geschieht, in der Vertrauen erwartet wird und die einer älteren Person Schaden oder Leid zufügt.7 (WHO 2002; Übers. v. Thomas Frühwald)
Mit dieser Denion wird ein neuer Aspekt ins Spiel gebracht: die Enäuschung einer Erwartungshaltung – die Enäuschung der Erwartung, dem Gegenüber Vertrauen entgegenbringen zu können (er oder sie wird sich um mich kümmern, mich versorgen), was das Gewalterlebnis nochmals schwerwiegender macht. Es ist allerdings zu berücksichgen, dass durch diese Einengung andere Fälle von Gewalt ausgeschlossen werden, zum Beispiel Raubüberfalle auf der Straße, also Gewalt im öentlichen Raum (da man kaum davon ausgehen kann, dass alte Menschen jedem Menschen, dem sie begegnen, Vertrauen entgegenbringen). Hier wird also implizit schon auf die Pegebedürigkeit und die Betreuungspersonen Bezug genommen. Abschließend wird in der Deklaraon noch explizit darauf hingewiesen, dass es sich bei Gewalt gegen alte Menschen um eine Verletzung der Menschenrechte handelt. Am Beispiel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union lässt sich diesbezüglich festhalten, dass im Fall von Gewalt gegen alte Menschen vor allem folgende Arkel betroen sind bzw. die entsprechenden gewalt7
Im Original: „Elder Abuse is a single or repeated act, or lack of appropriate acon, occurring within any relaonship where there is an expectaon of trust which causes harm or distress to an older person.“ (WHO 2002)
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Gewalt als Enäuschung einer Erwartungshaltung
tägen Handlungen oder Unterlassungen folgende Rechte europäischer Bürger verletzen: • Arkel 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ • Arkel 3 (1): „Jeder Mensch hat das Recht auf körperliche und geisge Unversehrtheit.“ • Arkel 4: „Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.“ • Arkel 6: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ • Arkel 21: „Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hau arbe, der ethnischen oder sozialen Herkun, der geneschen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der polischen oder sonsgen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer naonalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung sind verboten.“ • Arkel 25: „Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben.“ (Charta der Grundrechte 2007, C 364/9-C 364/14)
Johan Galtung weist in seinem Werk Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedensforschung darauf hin, dass eine Denion des Gewaltbegris „eine überaus undankbare Aufgabe“ sei (Galtung 1975, 8) und dass es nicht gelingen könne, eine Denion zu nden, die alle zufriedenstelle. Es sei angesichts des Faceenreichtums von Gewalt allerdings auch nicht notwendig, die eine Denion des Begris zu nden. Vielmehr kommt es darauf an, theoresch signikante Dimensionen von Gewalt aufzuzeigen, die das Denken, die Forschung und möglicherweise auch das Handeln auf die wichgsten Probleme hinlenken. Wenn das Handeln für den Frieden einen so wesentlichen Stellenwert einnimmt, weil es ein Handeln gegen die Gewalt ist, dann muß der Begri von Gewalt so umfassend sein, daß er die wichgsten Varianten einschließt, gleichzeig aber so spezisch, daß er die Basis für konkretes Handeln abgeben kann. (Galtung 1975, 8)
Diesen Überlegungen schließen wir uns im Rahmen dieses Buches an: Der Gewaltbegri muss einerseits weit genug deniert sein, um die breite Palee an Gewalt an Menschen mit Demenz zu erfassen. Darüber hinaus wurde der weit gefasste Begri von uns auch deshalb gewählt, um eine
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Denionen des Gewaltbegris und der Formen von Gewalt
gewisse Sensibilisierung anzuregen – zum Beispiel für die Frage, ab welchem Punkt man von gewalägem Handeln sprechen muss bzw. für die Rech ergung, warum eine besmmte Handlung oder Unterlassung nicht als gewaläg eingestu wird. Andererseits muss die Denion aber auch spezisch genug sein, um die gewalägen Handlungen und Unterlassungen bzw. Prozesse klar zu verorten und gewaltverhindernde Maßnahmen beschreiben zu können. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen und unter Einbeziehung der beschriebenen Denionen werden wir folgende Aspekte als relevant betrachten: 1. Gewalt umfasst Handlungen wie Unterlassungen. 2. Gewalt tri sowohl in Form von einzelnen Handlungen bzw. Unterlassungen als auch in Form von systemaschem Handeln bzw. Unterlassen auf. 3. Gewalt wird physisch wie psychisch ausgeübt. 4. Gewalt wird nicht immer absichtlich angewendet. Und doch müssen auch unabsichtliche Handlungen zur Gewalt gerechnet werden, wenn sie dem Opfer Leid oder Schaden zufügen. Die Frage der Schuld bzw. der Verantwortung ist gesondert zu behandeln. Unsere Untersuchung von Gewalthandlungen bezieht sich vorrangig auf die Konsequenzen für das Opfer; die Frage nach Schuld bzw. Verantwortung hingegen nimmt verstärkt die Frage der Intenon in den Blick (vgl. Galtung 1975, 14). 5. Gewalt tri auf personeller, struktureller wie auch kultureller Ebene auf. Zusammenfassend verstehen wir Gewalt als eine „vermeidbare Beeinträchgung menschlicher Grundbedürfnisse“ (Galtung 1993, 106), die entweder direkt von einem oder mehreren Akteuren oder aber strukturell bzw. kulturell ausgeübt wird und die beim Opfer Schaden und/oder Leid hervorru. Aufgrund der Fokussierung auf Gewalt durch professionelle Pegende werden wir uns im Folgenden zunächst auf die Aspekte der personellen und der strukturellen Gewalt konzentrieren. Der Aspekt der kulturellen Gewalt, dessen Reichweite weit über die Personengruppen der professionellen Pegenden sowie der Menschen mit Demenz hinausgeht, wird im abschließenden Kapitel gesondert betrachtet.
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Misshandlung
5. Personelle Gewalt In Bezug auf die personelle, direkte Form der Gewalt gibt es verschiedene Versuche der weiteren Untergliederung – und das aus guten Gründen, gibt es doch, wie wir gesehen haben, vielfälgste Formen, wie ein Mensch auf einen anderen Gewalt ausüben kann. Eine unserer Ansicht nach sehr umfassende, aber auch prakkable Untergliederung wurde schon 1987 von Margret Dieck in dem bereits erwähnten Aufsatz vorgenommen. Sie unterscheidet zunächst zwischen „Misshandlung (Abuse)“ und „Vernachlässigung (Neglect)“ (Dieck 1987, 311). Misshandlungen wiederum werden untergliedert in körperliche und psychische Misshandlung, nanzielle Ausbeutung sowie Einschränkung des freien Willens; Vernachlässigungen zeigen sich als passive wie auch als akve Vernachlässigungen (vgl. Dieck 1987, 311). Umgesetzt auf professionelle Pegepersonen bedeutet dies, dass folgende unterschiedliche Handlungen und Unterlassungen als Formen von Gewalt gegen ältere Menschen zu klassizieren sind:
5.1 Misshandlung 5.1.1 Körperliche Misshandlung Körperliche Mißhandlung: Das Ergebnis dieser Form der Mißhandlung sind akv beigebrachte körperliche Beeinträchgungen z. B. durch Schlagen, Verbrennen, Schneiden usw. Immobilisierungen und sexueller Mißbrauch können dieser Kategorie subsumiert werden, desgleichen die Verabreichung von deutlich überdosierten Medikamenten. (Dieck 1987, 311)
Neben diesen eindeug gewalägen Handlungen wenden Pegepersonen aber auch bereits körperliche Gewalt an, wenn sie zum Beispiel folgende Tägkeiten ausführen: • Ruckarg eine hochbetagte mulmorbide Person mit Schwung auf die Bekante setzen: „Ich bin völlig durcheinander. Was will Schwester Berta von mir?“8 Pegerin Frau Berta hat ihr keine Adaptaonszeit gelassen. • Schnell und mit einem Gri einen Transfer durchführen: „Mir ist ganz schwindlig; ich verliere den Boden unter den Füßen.“ 8
Anmerkung Monique Weissenberger-Leduc: Zitate und Beispiele sind Beschreibungen eigener Beobachtungen im Lauf meines Berufslebens als Pegeperson bzw. als Pegeforscherin.
M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Personelle Gewalt
• „Füern“ sta das Essen einzugeben. „Ich kriege keine Lu. Ich muss ausspucken, sonst erscke ich.“ Der Eingabe-Rhythmus der Pegeperson war viel zu schnell. • Eine hochbetagte mulmorbide Person ohne vorherige Ankündigung aus dem Tiefschlaf reißen. „Schrill blendet plötzlich das Neonlicht. Eine übereifrige Hand zieht die Decke weg. Sie reißt und dreht wortlos links und rechts. Lässt das Licht an und verlässt laut das Zimmer.“ • Bei den Akvitäten des täglichen Lebens im eigenen Rhythmus arbeiten, sta sich an den Rhythmus des alten Menschen anzupassen. • Der Bewohner möchte sich nach dem Duschen ausruhen, wird aber verpichtet, an einer Reakvierungsgruppe teilzunehmen. • Sexuelle Beläsgung oder sexueller Missbrauch ist direkter oder indirekter sexueller Kontakt mit einem älteren Menschen, in den dieser nicht eingewilligt hat. Man sollte hierbei bedenken, dass für die Generaon von hochbetagten mulmorbiden Personen mit Demenz, die wir derzeit in Österreich betreuen, die Inmpege sehr schnell zur „Fahrkarte“ im Sinne von Naomi Feil werden kann – auch ohne irgendwelche sexuellen Absichten der Pegeperson. Wenn das Pegepersonal – aufgrund der Biograe des alten Menschen – weiß oder vermutet, dass der alte Mensch in der Vergangenheit (etwa während des Zweiten Weltkrieges oder während der zehnjährigen Besatzung) sexuell missbraucht wurde, dann müssen alle Faktoren, die daran erinnern könnten, verhindert werden. So sollte in vielen Fällen eine alte Frau nicht von einem jungen Peger, der darüber hinaus etwa aus einem osteuropäischen Land stammt, gewaschen werden. Denn dadurch, dass es sich nicht nur um einen Mann handelt, sondern dieser des Weiteren eventuell eine besmmte (bei ihr mit Angst besetzte) Sprache bzw. mit einem besmmten Akzent spricht, werden diese Erinnerungen ausgelöst. So wird dieser Frau Gewalt angetan, ohne dass der Peger durch seine Pegehandlung als solche etwas dazu beiträgt. • Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass gewaltsame Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht nur dann erfolgen, wenn eine Person im Be xiert wird, sondern hierzu zählt beispielsweise auch der unsachgemäße Einsatz eines Therapiesches. Wenn der Rollstuhlsch leer ist, kann das als Fixierung betrachtet werden. Steht ein Glas Wasser auf dem Tisch, wird er als Therapiesch betrachtet. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Eine Person mit Demenz kann auch xiert werden, indem ihr Rollstuhl zwischen Tisch und Wand eingeklemmt wird.
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Misshandlung
Exkurs: Einsatz von Medikamenten In den verschiedenen Untergliederungen wird meist nur das Thema „Übermedikaon“ angesprochen und dieses der physischen Gewalt zugeordnet. Da im Zusammenhang mit Medikamenten aber verschiedene Formen von Gewalt ausgeübt werden können, wird dieses Thema gesondert in einem Exkurs behandelt. In Bezug auf die Übermedikaon ist zunächst festzuhalten, dass hierbei omals keine direkte körperliche Gewalt ausgeübt wird (wenn der Paent sich nicht gegen die Einnahme wehrt), sondern akv und bewusst eine pharmakologische, biochemische Methode angewendet wird – die Sedierung –, um eine Person mit Demenz ruhig zu stellen. Diese gezielte Sedierung führt allerdings unter anderem zu einer Erhöhung der Sturzgefahr und zu Desorienerung, zu Belägerigkeit, zu Mangelernährung, zu Exsikkose und zu Polypragmasie mit all ihren Nebenwirkungen – somit also durchaus zu körperlichen (und psychischen) Schädigungen der Person mit Demenz. Eine andere Form der Gewalt im Zusammenhang mit Medikamenten, die eher der Vernachlässigung zuzuordnen ist, ist die Untermedikaon. Untermedikaon ndet o sta, weil die Pegeperson gegen den Willen des hochbetagten mulmorbiden Paenten versucht, das Medikament oral zu verabreichen, dieser sich aber erfolgreich dagegen wehrt. Gewalt durch Medikamentengabe kann auch aufgrund von Fehlmedikaon geschehen. Es werden verschiedene Kategorien unterschieden: • Nicht zulässiges Medikament • Zusätzliche Dosis • Unterlassung einer Verordnung • Falscher Verabreichungsweg (zum Beispiel oral sta intramuskulär) • Ungeeignete Darreichungsform • Falsche Verabreichungstechnik • Falscher Verabreichungszeitpunkt Beispiel aus der Praxis: Peger Herr Simon holt die Medikamente für den Männersch. Er hat alle Tableen in der Hand und verteilt sie. Interpretaon: Hier entsteht eine gefährliche Pegesituaon. Peger Herr Simon hat alle Medikamente in der Hand und verteilt nach nicht nachvollziehbarer Grundlage. Es ist des Weiteren darauf hinzuweisen, dass Gewalt durch Medikamentengabe omals auch auf Unwissenheit basiert – Unwissenheit über Wirkung und Nebenwirkung der Medikamente aber auch über Galenik. Wiederum ein Beispiel: Pegepersonen, die Medikamente aus der Familie der
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Personelle Gewalt
L-Dopa (gegen Parkinson) erst mit dem Frühstück verabreichen, üben aus mindestens zwei Gründen (wahrscheinlich unabsichtlich bzw. unwissentlich) Gewalt gegen den alten Menschen aus: Erstens wird die Substanz L-Dopa durch Milch und Milchprodukte inakviert – wodurch man die Medikamentengabe auch gleich unterlassen könnte. Zweitens wird dem Paenten von vornherein keine Möglichkeit zur Selbstständigkeit geboten, wenn er das Medikament erst mit dem Frühstück erhält: Der Paent benögt L-Dopa, um seine Grob- und Feinmotorik akvieren zu können. L-Dopa wirkt aber erst nach ½ bis ¾ Stunde. Würde die Pegeperson „state of the art“ handeln, müsste sie Medikamente, die L-Dopa beinhalten, ½ bis ¾ Stunde vor dem Aufstehen anbieten, damit der alte Mensch überhaupt die Möglichkeit erhält, selbst akv sein zu können. Er müsste dann aber auch nicht mehr unbedingt „gefüert“ werden. Hier haben wir es mit einem Fall von Gewaltanwendung aus Unwissenheit zu tun. 5.1.2 Psychische Misshandlung und Verletzungen der Seele Psychische Mißhandlung: Diese Form der Mißhandlung bezieht sich auf den verbalen und emoonalen Bereich der Beziehungen zwischen dem Anwender und dem Adressaten der Akon. Die Ausprägungen reichen von der Beschimpfung und verbalen Verunglimpfung über Einschüchterungen und Drohungen bis hin zur Isolierung. (Dieck 1987, 311)
• Beschimpfungen/grobe Kränkungen: „Herr Konrad, Sie sabbern so. Es ist nicht mit anzusehen“; „Warum haben Sie ins Be gepinkelt?!“ Oder: Herr Nikolaus vermischt Kompo mit Nudeln. Pegerin Elfriede zu Herrn Nikolaus: „Es ist fürchterlich!“ und nimmt ihm den Teller weg. • Verunglimpfungen: „Frau Mayer ist aggressiv.“ • Einschüchterungen: „Bist Du ruhig?!“ (Tonfall sehr laut und besmmend) • Drohungen: „Iss, sonst ...“; „Wenn Sie jetzt nicht essen, weisen wir Sie ins Spital ein!“ • Ausdrücken von Verachtung: „Omi, schlucken!“ • Demügung: Eine Pegeperson spricht mit der Tochter über den alten Menschen – in seiner Anwesenheit: „Ihre Muer war gestern so lieb angezogen mit einer roten und einer grünen Socke“. Möchte die Mutter so „verkindlicht“ werden? Gefällt es ihr, dass man vor ihr über sie spricht? Oder: „Geben Sie her, Sie machen alles nur dreckig!“ • Schikanierung: Die hochbetagte mulmorbide Person mit Demenz isst ruhig mit den Fingern. Die Pegeperson kommt und sagt: „Sie müssen mit Gabel und Messer essen.“ • Isolierung: Das Pegepersonal kommt nur zu unbedingt notwendigen Pegehandlungen ins Einbezimmer. Der mulmorbide Paent mit
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Misshandlung
Demenz wird im Aufenthaltstraum so hingesetzt, dass er keinen Kontakt mit anderen Paenten und dem Pegepersonal aufnehmen kann. Beharrliches Schweigen und damit Ignorieren des Bedürfnisses nach Kommunikaon und/oder Anerkennung. 5.1.3 Finanzielle Ausbeutung Finanzielle Exploitaon: Vermögensbestandteile des Adressaten der Akon werden gegen seinen Willen verwendet, bzw. wird ihm die Verfügungsmacht über sie verweigert. (Dieck 1987, 311)
• Als Staonsschwester Martha mit Frau Homan einen Ausgang nach Hause bespricht, geskuliert auf einmal der anwesende Nee, der hinter dem Rücken von Frau Homann steht, ganz heig. Er nimmt Schwester Martha beiseite und erklärt: Ein Besuch sei nicht möglich, da er die Wohnung inklusive Inhalt bereits verkau habe. Er habe es seiner Tante nicht mitgeteilt, damit sie nicht traurig sei. Frau Homan ist nicht entmündigt, da sie vom Neurologen noch als „zurechnungsfähig“ eingestu wird. • Der Schwiegersohn von Herr Nagel drängt seine Schwiegereltern dazu, ihrer Tochter ihr Weingut bei Lebzeiten zu übergeben, damit sie keine Erbschas- und Schenkungssteuer zahlen muss. Er versichert ihnen, dass sie Wohn- und Nutzungsrecht bis an ihr Lebensende behalten werden. Kaum ist der Vertrag unterschrieben, wird Herr Nagel von allen geschälichen Tägkeiten völlig ausgeschlossen. • Frau Maier wird zu Hause betreut und gepegt. Sie hat Pegestufe 5 bewilligt bekommen. Trotz dieses hohen Pegegelds lehnt die Tochter jegliche kostenpichge Unterstützung (wie etwa den Kauf einer Decubitus-Matratze) ab. • Eine weitere Form der nanziellen Ausbeutung wird unserer Meinung nach vielen Pegepersonen nicht bewusst: die nicht sachgemäße Anwendung von Hilfsmieln inklusive Medikamenten (zum Beispiel Verwendung eines Pegeschaums für den Inmbereich zur Ganzkörperpege). 5.1.4 Einschränkung des freien Willens Einschränkung des freien Willens: Dem Adressaten der Gewalt zustehende Handlungen werden gegen seinen Willen unterbunden. Beispiele beziehen sich insbesondere auf Verletzungen der Menschenrechte und auf Behinderungen in der Ausübung der Zivilrechte, z. B. Wahl des Wohnorts, Heirat, Abfassung des Testaments. (Dieck 1987, 311)
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Personelle Gewalt
• Behinderung der freien Wahl des Wohnorts: „Herr Jung wird direkt vom Spital ins Pegeheim überstellt“, obwohl keine Diagnose vorliegt, die ihn grundsätzlich daran hindern würde, zu Hause bleiben zu können. • Unterbindung von Handlungen: „Die Schwester entscheidet, was ich anziehen muss und was hübsch aussieht.“ • Einschränkung des freien Willens: „Und dann sage ich: ‚Jetzt wird getrunken‘ (…) ‚Doch, Sie wollen, das tut Ihnen gut und jetzt trinken Sie.‘ Und ich halte den Becher, bis sie getrunken hat.“ (Pegeperson zit. in Förster 2008, 67)
5.2 Vernachlässigung Eine Vernachlässigung ist die wiederholte Verweigerung oder Unterlassung von notwendiger Hilfeleistung oder Pege einschließlich richger Ernährung, Körperpege und Maßnahmen zur Prävenon von Gesundheitsproblemen (zum Beispiel Verschluckungsprophylaxe durch Lagerung und Verdickung der Trinküssigkeiten, um die Entstehung von Aspiraonspneumonie zu vermeiden). Vernachlässigungen können absichtlich oder unabsichtlich sta inden. 5.2.1 Passive Vernachlässigung Passive Vernachlässigung: Unterlassung von Handlungen infolge des Nichterkennens von Bedarfssituaonen oder des unzureichenden Hilfspotenals. Beispiele sind das Alleinlassen des Älteren über eine unangemessene Zeit, Vergessen von notwendigen Hilfeleistungen, unzureichende Pege mit dem Ergebnis von Mangelernährung, Dehydraon, sich verschlechternde Decubi. (Dieck 1987, 311)
• Alleinlassen im Gang oder vor der Tür des Friseurs • Das Pegepersonal nimmt sich nicht die Zeit, das Essen anzubieten. Die Folge ist fast immer eine Mangelernährung, die o zur Setzung einer PEG-Sonde führt. • Gläser werden für den hochbetagten mulmorbiden Mensch nicht sichtbar oder nicht erreichbar aufgestellt bzw. werden so voll gefüllt, dass der alte Mensch das Glas nicht heben und halten kann. Diese passive Vernachlässigung führt zur Dehydraon, die ihrerseits die Ursache von verstärkter Verwirrtheit und Sturzgefahr sein kann. • Falten werden nicht gegläet, Brösel werden nicht vom Leintuch entfernt; dies fördert die Entwicklung von Druckgeschwüren. Dies ist o kein absichtliches Unterlassen, sondern geschieht aus Unacht-
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Typisierungen des Handelns nach Kitwood
samkeit und gehört daher in diesem Fall zur passiven Vernachlässigung. 5.2.2 Akve Vernachlässigung Akve Vernachlässigung: In diesen Fällen verweigert der Helfende bewußt Handlungen, die auf den erkennbaren Bedarf des Adressaten der Vernachlässigung gerichtet wären. Beispiele sind die bewußte Vernachlässigung pflegerischer Handlungen wie des Waschens, der Reinigung des Bees, der Versorgung mit Essen und Getränken. (Dieck 1987, 311)
• Vernachlässigung des Waschens: „Ich habe keine Lust, den Inmbereich von Frau Ludwig nach dem Stuhlgang zu waschen. Sie soll es selbst tun.“ Obwohl die Pegeperson weiß, dass Frau Ludwig aufgrund ihres Körperumfanges nie dazu imstande wäre. • Vernachlässigung der Reinigung des Bees: „Frau Korn hat mich heute so genervt. Sie soll jetzt Ruhe geben.“ • Vernachlässigung der Versorgung mit Essen. „Das Essen-Verabreichen ekelt mich.“ Oder: Das Pegepersonal hat keine Lust, das Essen anzubieten, da die Miagspause in fünf Minuten anfängt. • Vernachlässigung der Versorgung mit Medikamenten als „Bestrafung“ für unangemessen erscheinendes Verhalten.
5.3 Typisierungen des Handelns nach Kitwood Tom Kitwood nimmt in seinem personzentrierten Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen Typisierungen vor, die aufgrund eigener Forschungsarbeiten entstanden sind.9 Diese Typisierungen ermöglichen ein besseres Verstehen der Interakonsschleifen zwischen Personen mit Demenz und Pegepersonen. Kitwood spricht von zwölf spezischen posiven Formen des Handelns10 und von „maligner, bösarger Sozialpsychologie“ (Kitwood 2000, 73). Im Kontext der Gewalt sind die negaven Formen des Handelns interessant.
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Kitwood benützte hierbei eine einfache Form der Dokumentaon besonderer Vorkommnisse und versuchte später, diese kurzen Nozen zu clustern. Hierdurch entstanden die Typisierungen.
10 1. „Anerkennen (recognion)“, 2. „Verhandeln (negoaon)“, 3. „Zusammenarbeiten (collaboraon)“, 4. „Spielen (play)“, 5. „Timalaon (malaon)“, 6. „Feiern (celebraon)“, 7. „Entspannen (relaxaon)“, 8. „Validaon (validaon)“, 9. „Halten (holding)“, 10. „Erleichtern (facilitaon)“, 11. „Schöpferisch sein (creaon)“, 12. „Geben (giving)“ (Kitwood 2000, 134-137).
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Personelle Gewalt
Kitwood beschreibt die maligne bösarge Sozialpsychologie folgendermaßen: Das starke Wort „maligne“ bedeutet etwas sehr Verletzendes und für ein pegerisches Umfeld, das das Personensein ef schädigt und möglicherweise sogar das körperliche Wohlbenden untergräbt, Typisches. (Kitwood 2000, 75)
Kitwood hat eine Liste mit 17 verschiedenen Aspekten erstellt, die diese maligne, bösarge Sozialpsychologie beschreiben (auch diese bösargen Handlungen werden übrigens nach Kitwood omals ohne böse Absicht ausgeführt; vgl. Kitwood 2000, 75). Wir werden im Folgenden zunächst die Liste wiedergeben und im Anschluss das Aureten einzelner Aspekte anhand von Beispielen beschreiben. 1. Betrug (treachery) – Einsatz von Formen der Täuschung, um eine Person abzulenken, zu manipulieren oder zur Mitwirkung zu zwingen. 2. Zur Machtlosigkeit verurteilen (disempowerment) – jemandem nicht gestatten, vorhandene Fähigkeiten zu nutzen; die Unterstützung beim Abschluß begonnener Handlungen versagen. 3. Infanlisieren (infanlizaon) – jemanden sehr väterlich bzw. müerlich autoritär behandeln, etwa wie ein unsensibler Elternteil dies mit einem sehr kleinen Kind tun würde. 4. Einschüchtern (inmidaon) – durch Drohungen oder körperliche Gewalt bei jemandem Furcht hervorrufen. 5. Ekeeren (labelling) – Einsatz einer Kategorie wie Demenz oder «organisch bedingte psychische Erkrankung» als Hauptgrundlage der Interakon mit der Person und zur Erklärung ihres Verhaltens. 6. Sgmasieren (sgmazaon) – jemanden behandeln, als sei er ein verseuchtes Objekt, ein Alien oder Ausgestoßener. 7. Überholen (outpacing) – Informaonen liefern, Alternaven zur Wahl stellen etc., jedoch für die betreende Person zu schnell, um zu verstehen; der Betroffene gerät damit unter Druck, Dinge rascher zu tun, als er ertragen kann. 8. Entwerten (invalidaon) – die subjekve Realität des Erlebens und vor allem die Gefühle einer Person nicht anerkennen. 9. Verbannen (banishment) – jemanden fortschicken oder körperlich bzw. seelisch ausschließen. 10. Zum Objekt erklären (objeccaon) – jemanden behandeln, als sei er ein Klumpen toter Materie, der gestoßen, angehoben, gefüllt, aufgepumpt oder abgelassen werden kann, ohne wirklich auf die Tatsache Bezug zu nehmen, daß es sich um ein einfühlendes Wesen handelt. […]
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Beispiele für Interakonen
11. Ignorieren (ignoring) – in jemandes Anwesenheit einfach in einer Unterhaltung oder Handlung for ahren, als sei der bzw. die Betreende nicht vorhanden. 12. Zwang (imposion) – jemanden zu einer Handlung zwingen und dabei die Wünsche der betroenen Person beiseiteschieben bzw. ihr Wahlmöglichkeiten verweigern. 13. Vorenthalten (withholding) – jemandem eine erbetene Informaon oder die Befriedigung eines erkennbaren Bedürfnisses verweigern. 14. Anklagen (accusaon) – jemandem Handlungen oder deren Unterlassen, die sich aus einer fehlenden Fähigkeit oder einem Fehlinterpreeren der Situaon ergeben, zum Vorwurf machen. 15. Unterbrechen (disrupon) – plötzlich oder in störender Weise in die Handlung oder Überlegung von jemandem einbrechen; ein rohes Aurechen des Bezugrahmens einer Person. 16. Lästern (mockery) – sich über die «merkwürdigen» Handlungen oder Bemerkungen einer Person lusg machen; hänseln, erniedrigen, Witze auf Kosten einer anderen Person machen. 17. Herabwürdigen (disparagement) – jemandem sagen, er sei inkompetent, nutzlos, wertlos etc.; Botschaen vermieln, die der Selbstachtung einer Person schaden. (Kitwood 2000, 75 f.)
5.4 Beispiele für Interaktionen Nach dieser Auistung der Typisierung negaven, bösargen Handelns sollen nun Beobachtungen im Haus Bernard11 anhand dieser Kriterien der malignen, bösargen Sozialpsychologie nach Kitwood analysiert werden. Vier verschiedene Typen von Interakonen kehren immer wieder: 11 Die folgenden Beschreibungen beziehen sich auf die Alzheimer-Langzeitpegegruppe des Pegeund Sozialzentrums „Bernard“ (Name zur Wahrung der Anonymität geändert), die ich, Monique Weissenberger-Leduc, in der Zeit von Anfang Juli 2005 bis Ende September 2005 besuchte. Diese waren Teil meiner Dissertaon im Fach Soziologie, deren Ergebnisse hier in Auszügen und zum Teil überarbeiteter Form wiedergegeben werden (vgl. Leduc 2007, 154–221). Es handelte sich um eine qualitave, nicht teilnehmende Forschungsarbeit. Während der dreimonagen Beobachtungszeit verabreichten männliche und weibliche Pegepersonen oder Schüler bzw. Schülerinnen das Miagessen. Zivildiener und Abteilungshelferinnen halfen nicht mit. Sie waren für das Vorbereiten in der Staonsküche, das Servieren im Aufenthaltsraum, das Abservieren, Abholen und Zurückbringen von Tables und Geschirr von der bzw. in die Großküche zuständig. Um die Identät des Pegepersonals zu schützen, gebe ich ihnen kve, zufällig aus dem Telefonbuch ausgewählte, deutsche Vornamen. 13 Bewohner (fünf Frauen, acht Männer) leben in der Alzheimer-Langzeitpegegruppe. Sie sind durchschnilich 79,07 Jahre alt. Um die Identät der Bewohner zu schützen, gebe ich ihnen ebenfalls kve Vornamen aus dem Telefonbuch.
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Personelle Gewalt
1. Der Sender des ersten Signals (Akon) ist eine Person mit Demenz und der Empfänger (Reakon) ist auch eine Person mit Demenz. 2. Der Sender ist eine Person mit Demenz und der Empfänger ist eine Pegeperson (diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in). 3. Der Sender und der Empfänger sind Pegepersonen (diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in). 4. Der Sender ist eine Pegeperson (diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) und der Empfänger ist eine Person mit Demenz. Ganz seltene Interakonen basieren auf der Begegnung mit einer fremden Person wie einer ehrenamtlich tägen Person oder einem Angehörigen. Der größte Teil der Interakonen ist extrem kurz und/oder oberächlich. Dies stellt ein zusätzliches Problem dar, da viele der Personen mit Demenz bereits den ganzen Vormiag ohne jeden menschlichen Kontakt vor laufendem Fernseher verbringen. Bei Personen mit Demenz (aber natürlich nicht nur bei ihnen) kann durch diese Vernachlässigung das soziale Selbst verkümmern. Eine zentrale Aufgabe der Betreuung und Pege sollte es aber, nach der Befriedigung der verschiedenen körperlichen Bedürfnisse, sein, dass die Person mit Demenz sich weiterhin als eine besmmte Person wahrnimmt (dass sie weiterhin weiß, wer sie ist, und sich nicht selbst verliert). Ein Problem der Interpretaon besteht darin, dass die Forscher versuchen müssen, Eindrücke eines subjekven Seinszustandes (der einzigarg ist) sprachlich zu vermieln. Die sprachlichen Miel erscheinen hierbei omals beschränkt, vor allem wenn es um eine umfassende Beschreibung der Gesamtsituaon geht, die auch die Beschreibung von Mimik, Gesk, Körpersprache, paralinguisschen Phänomenen u. ä. beinhaltet. Je schwerer die kogniven Beeinträchgungen sind, desto größer wird auch diese Schwierigkeit der adäquaten sprachlichen Beschreibung. Trotz dieser Einschränkungen wird im Folgenden der Versuch unternommen zu beschreiben, wie sich die Partner verhalten, und zu interpreeren, warum sie sich so verhalten. 5.4.1 Der Sender des ersten Signals (Akon) ist eine Person mit Demenz und auch der Empfänger (Reakon) ist eine Person mit Demenz Diese Art von Interakon, die in dieser Instuon während des Miagessens nur selten vorkommt, basiert auf einer einfachen Kee, einer einfachen Mieilung (message): Signal – Antwort oder Akon – Reakon, die
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Beispiele für Interakonen
nie negav waren, so auch am Beispiel einer einfachen Kee zwischen Herrn Johann und Herrn Michael: • Akon: Herr Johann versucht den Pudding von Herrn Michael mit seiner Gabel zu erreichen. Er schat es auch immer wieder. So isst er Stück für Stück den Pudding von Herrn Michael auf. • Reakon: Herr Michael schaut genau zu, sagt aber nichts. • Interpretaon: Herr Johann ist mit seiner Hauptspeise und Nachspeise bereits ferg. Er düre aber entweder noch Appet haben oder die Nachspeise hat ihm besonders gut geschmeckt. Deswegen versucht er die Nachspeise von Herrn Michael, der mit der Hauptspeise noch nicht ferg ist, zu nehmen, um seinen Wunsch zu erfüllen. Die innere Reakon von Herrn Michael ist für einen außenstehenden Beobachter nicht fassbar. Er erweckt den Eindruck, das Geschehen konzentriert zu beobachten und die Bewegungen von Herrn Johann aufmerksam zu verfolgen, aber seine Mimik oder seine Körpersprache verraten nichts über seine Gedanken und Gefühle. Herr Michael wehrt sich jedenfalls nicht und akzepert die Akon von Herrn Johann. 5.4.2 Der Sender ist eine Person mit Demenz und der Empfänger ist eine Pegeperson (diplomierte esundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) In dieser Art der Interakon entstehen einige wenige einfache Keen und viele Kommunikaonsschleifen. So treten Interakonssequenzen auf, die für die Person mit Demenz posiv oder negav ablaufen können. Eine Kommunikaonsschleife ist eine Interakon, die in mehreren Schleifen abläu: Sender setzt ein Signal – Empfänger nimmt das Signal wahr und reagiert, indem er ein Signal Richtung Sender zurücksendet usw. Diese Schleifen werden solange weitergeführt, bis einer der beiden Teilnehmer das gesendete Signal zwar wahrnimmt, aber selbst kein neues Signal mehr sendet. Diese Art der Interakon ist bei jeder Beobachtungssequenz zu sehen. Sie sagt sehr viel über die momentanen Bedürfnisse der Person mit Demenz in der jeweiligen Situaon aus. Beispiele für einfache Keen: Frau Margarethe und Peger12 Herr Richard: • Akon: Frau Margarethe: „Kommst Du auch zu uns?“ • Reakon: Peger Herr Richard: „Selbstverständlich“; er bleibt aber sitzen, gibt Herrn Karl das Essen ein und fragt Herrn Michael: „Darf ich 12 Mit Peger oder Pegerin sind sowohl diplomierte Gesundheits- und Krankenpegepersonen als auch Pegehelfer oder Pegehelferinnen gemeint.
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Ihnen beim letzten Stück helfen?“ Anschließend verlässt Peger Herr Richard den Raum. • Interpretaon: Das Bedürfnis von Frau Margarethe nach Zuwendung wird nicht wahr-/ernstgenommen. Dies entspricht dem Begri des Betrugs (1), des Entwertens (8) und des Vorenthaltens (13) von Kitwood. Peger Herr Richard antwortet zwar pro forma, denkt aber nicht daran, seine Tägkeit auch nur kurz zu unterbrechen. Diese einfache Kommunikaonskee ist für Frau Margarethe unbefriedigend. • Wie unbefriedigend die Situaon für Frau Margarethe ist, wird durch ihre Reakon auf dieses Vorkommnis sichtbar: Sie hört auf zu essen. Herr Karl und Peger Herr Simon: • Akon: Herr Karl isst allein. Er hat ein zu großes Stück Tomate aufgegabelt. Er schat es nicht, das Stück als Ganzes in den Mund zu geben. Das Stück fällt aufs Table zurück und Herr Karl verschluckt sich hochgradig. • Reakon: Peger Herr Simon, der neben Herrn Karl sitzt, steht auf und holt die Medikamente. • Interpretaon: Obwohl die Gefahr einer Aspiraon besteht, steht Peger Herr Simon auf und geht, ansta professionelle Hilfe anzubieten. Hier entsteht eine gefährliche Pegesituaon durch Ignorieren (11) der Aspiraonsgefahr. Beispiele für Interakonsschleifen: Herr Karl und Pegerin Frau Erika: • Akon: Herr Karl: zuerst leise, aber im Befehlston in Richtung Pegerin Frau Erika: „Gehen Sie weg von da!“ • Reakon: Pegerin Frau Erika bleibt. • Akon: Pegerin Frau Erika versucht noch einmal, Herrn Karl einen Löel zu geben. • Reakon von Herrn Karl, ganz laut schreiend: „Weg von da!“ • Reakon Pegerin Frau Rita: „Dreh’ ma den Fernseher oder das Radio leise an.“ Pegerin Frau Erika dreht das Radio auf. • Interpretaon: Das Bedürfnis, seine Umwelt zu organisieren und Ordnung in komplexe Abläufe zu bringen, bleibt nicht nur als Möglichkeit lebenslänglich erhalten, sondern auch als Bedürfnis! (Specht-Tomann u. Tropper 2003, 28)
Herr Karl war von Beruf Direktor einer Firma und sehr stolz darauf, beruich erfolgreich zu sein. Es ist für ihn wichg, immer mit „Herr Direktor“ angesprochen zu werden, und er ist gewöhnt, Befehle zu erteilen.
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Beispiele für Interakonen
Deshalb hat er ein starkes Bedürfnis nach Anerkennung und Selbstständigkeit. Pegerin Frau Erika will Herrn Karl gegen seinen Willen das Essen eingeben, obwohl in der Dokumentaon eindeug zu lesen ist, dass man den Bewohner in Ruhe essen lassen soll, da er sonst aggressiv reagiert. Diese Akon von Pegerin Frau Erika ist nicht nur eine Missachtung der Realität von Herrn Karl, sondern auch ein Eindringen in seine Privatsphäre. Er muss sich wehren und signalisiert klar seine Abwehr. Herr Karl warnt Pegerin Frau Erika deutlich und besmmt, die aber nicht auf seine Warnung reagieren will. Die Reakon von Pegerin Frau Rita deutet eher auf Ablenkung und Hilosigkeit als auf Kompetenz hin. Herr Karl wird in seinem Bedürfnis nach Respekt und Anerkennung seiner Selbstständigkeit nicht wahrgenommen. Kitwood-Typisierung: bei Pegerin Frau Erika: Ignorieren (11) und Zwang (12). Beide Pegerinnen nehmen die Realität von Herrn Karl nicht wahr: Entwerten (8). Frau Margarethe und Pegerin Frau Rita: • Akon: Frau Margarethe: „Ich muss sofort aufs Klo!“ • Reakon: Pegerin Frau Rita: „Essen Sie zuerst, dann gehen wir aufs Klo!“ • Akon: Frau Margarethe: „Ich habe so starken Durchfall!“ • Reakon: Pegerin Frau Rita: „Ja, essen Sie, sonst wird es kalt.“ • Akon: Frau Margarethe: „Ich muss wohin.“ Sie steht auf. „Wie soll ich da in der Mie …?“ (Sie kann an Frau Rosa und an Pegerin Frau Rita nicht vorbei.) • Reakon: Peger Herr Michael: „Ich gehe mit Ihnen.“ Er steht auf. • Akon: Frau Margarethe: „Ich muss …“ • Reakon: Peger Herr Michael unterbricht Frau Margarethe, sagt: „Ja, schauen wir mal, wir haben Zeit“, und hil Frau Margarethe, an Frau Rosa und der Pegerin Frau Rita vorbeizukommen und geht mit ihr ins Zimmer. • Interpretaon: Die Person mit Demenz, hier Frau Margarethe, erlebt eine Umwelt, die auf ihre Bedürfnisse zunächst gar nicht und später nicht adäquat reagiert und somit das Gefühl der Unsicherheit, der Hilflosigkeit und der Abwertung verstärkt. Frau Margarethe wird von Pegerin Frau Rita zur Machtlosigkeit verurteilt (2), ihre Konnenzkompetenzen und ihre Bedürfnisse werden nicht ernst genommen: Vorenthalten (13) – obwohl bekannt ist, dass in der Altenpege das physiologische Gesetz gilt: „Jedem Defäkaonsreiz (‚call of nature‘ = Ruf der Natur) muß baldmöglichst Folge geleistet werden. Die Darmentleerung kann nicht mehr willkürlich wie die Mikon (= Blasenent-
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leerung) eingeleitet werden!“ (Hafner u. Meier 1996, Teil II, 54 f.). Zusätzlich wird Frau Margarethe entwertet (8) und dadurch misshandelt. Sie ru zuerst nach Hilfe, versucht dann wegzulaufen und resigniert letztendlich. Peger Herr Michael hil Frau Margarethe zwar, nimmt sie aber gleichzeig ebenfalls nicht ganz ernst. Hier sind aber immerhin Ansätze einer posiven Interakon zu erkennen – „Zusammenarbeiten“13. Frau Rosa und Pegerin Frau Lena: • Akon: Frau Rosa versucht, allein zu essen. Es geht nicht, da sich das Table außer Reichweite bendet. Sie versucht trotzdem, den schweren Metalldeckel, der auf der Hauptspeise liegt, zu en ernen. Sie bleibt erfolglos und beginnt, mit ihren Händen ununterbrochen den Tisch zu gläen. • Reakon: Pegerin Frau Lena, die neben Frau Rosa sitzt, schaut zu, reagiert aber nicht. Sie unterstützt Frau Rosa nicht in ihrem Bestreben nach Selbstständigkeit. • Interpretaon: Obwohl Frau Rosa eindeug ihr Bedürfnis nach Selbstständigkeit zu erkennen gibt, nimmt Pegeperson Frau Lena dieses Bedürfnis nicht ernst und reagiert nicht darauf. Dies entspricht den Typisierungen: zur Machtlosigkeit verurteilen (2), Zwang (12) und Vorenthalten (13). Das ist vor allem auch deshalb schade, weil Frau Rosa eine sehr schlechte Esserin ist, die viel Zuwendung und Überredungskunst benögt, um ein Minimum an Nahrung zu sich zu nehmen. Frau Rosa resigniert und üchtet in ihre innere Welt. Was will sie mit ihrem Gläen ungeschehen machen? Oder ist diese Tägkeit als eine Form der Eigensmulaon zu verstehen, da die Umwelt, hier Pegeperson Frau Lena, weitgehend versagt und ihre Bedürfnisse nicht wahrgenommen hat, weshalb sich Frau Rosa in ihre innere Welt zurück ziehen muss, die ihr einen Raum minimaler Sicherheit und Selbstachtung gibt?
13 „Zusammenarbeiten (collaboraon). Hier betrachten wir kurz zwei oder mehr Menschen bei einer gemeinsamen Aufgabe mit einem besmmten Ziel in Sicht. Zusammenarbeiten kann bisweilen sogar im wörtlichen Sinne sta inden, etwa bei gemeinsamen Arbeiten im Haushalt. Weniger oensichtlich kann sie im Zusammenhang mit der persönlichen Pege, etwa beim Anziehen, Baden oder beim Gang zur Toilee, werden. Das Kennzeichen des Zusammenarbeitens besteht darin, daß Pege nicht etwas ist, das einer Person ‹angetan› wird, die ihrerseits in eine passive Rolle gezwängt wird; es ist ein Prozeß, an dem ihre eigene Iniave und ihre eigenen Fähigkeiten beteiligt sind.“ (Kitwood 2000, 134)
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Beispiele für Interakonen
5.4.3 Der Sender und der Empfänger sind Pegepersonen (diplomierte esundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) Obwohl diese Interakon keine Spiegelung von direkter Gewalt an alten Menschen ist, kann sie diese fördern. Pegerin Frau Rita und Peger Herr Marn: • Akon: Pegerin Frau Rita steht und bendet sich gerade in einer Interakon mit Frau Rosa. Sie sagt: „Es zieht irgendwo … vom Zimmer.“ • Reakon: Peger Herr Marn, der gerade Frau Anna im Sitzen langsam das Essen gibt, steht auf und macht die Zimmertür zu. • Interpretaon: Pegerin Frau Rita verhält sich in einer Weise, die ein besmmtes Verhalten des Pegers Herr Marn voraussetzt und bedingt. (Frau Rita kennt Herrn Marn, sie weiß entsprechend, wie er reagieren wird und nützt ihr Wissen aus, um auf sein Verhalten zu wirken.) Er fühlt sich sofort angesprochen, obwohl die Feststellung von Pegerin Frau Rita bloß im Raum steht und sie selbst nicht weit von der oenen Tür en ernt steht. Der Peger sieht keine andere Wahl, als aufzustehen und die Tür zuzumachen. Diese Interakon ist nach Paul Watzlawick et al. eine komplementäre Interakon (als Gegensatz zu symmetrischer Interakon): Im zweiten Fall ergänzt das Verhalten des einen Partners das des anderen, wodurch sich eine grundsätzlich andere Art von verhaltensmäßiger Gestalt ergibt, die komplementär ist. (Watzlawick et al. 1982, 69)
Wenn Peger Herr Marn durch seine Persönlichkeitsstruktur keine Möglichkeit sieht, anders zu handeln, kann dies sehr demoralisierend und frustrierend sein. Die Gefahr besteht, dass er sich, um sich abzureagieren, einen Schwächeren aussucht: einen Bewohner mit Demenz. Pegerin Frau Ida und Pegerin Frau Erika: • Akon: Pegerin Frau Ida zu Pegerin Frau Erika: „Ich glaube, das Voltaren ist viel zu schwach für sie [für Frau Rosa, M. W-L.]. Ihr Ausdruck gefällt mir überhaupt nicht.“ • Reakon: Pegerin Frau Erika zu Pegerin Frau Ida: „Wenn es dir recht ist, gehe ich mit Frau Ingrid im Rollstuhl spazieren.“ • Interpretaon: Pegerin Frau Erika ignoriert die Aussage von Pegerin Frau Ida. Sie will sich über das Wohlbenden der Bewohnerin keine Gedanken machen.
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Personelle Gewalt
Pegerin Frau Lena und Peger Herr Simon • Akon: Pegerin Frau Lena spricht mit Peger Herr Simon: „Sie isst die Nachspeise“ und zeigt auf Frau Rosa, die neben ihr sitzt. Frau Rosa isst die Bananencreme mit den Fingern. Diese ist das Einzige, das sie erreichen kann, da die Hauptspeise und das Besteck zu weit weg sind. • Reakon: Peger Herr Simon fragt Pegerin Frau Lena: „Wie schwer ist der Kurs?“ (oder ähnliches, für mich schwer zu verstehen) • Reakon: Pegerin Frau Lena: „Der Kurs ist sehr schwer“ und sie füttert nebenbei Herrn Johann. • Interpretaon: Pegerin Frau Lena ignoriert (11) Frau Rosa, indem sie in ihrer Anwesenheit über sie spricht. Sie gibt ihr auch nicht die Möglichkeit, vorhandene Fähigkeiten zu nützen und verurteilt sie so zur Machtlosigkeit (2). Peger Herr Bruno, Pegerin Frau Maria und Frau Rosa • Akon: Peger Herr Bruno, ein sehr ruhig wirkender Peger, gibt Frau Rosa gerade im Sitzen langsam das Essen: „Frau Rosa, möchten Sie noch was essen?“ • Reakon: Frau Rosa bejaht kopfnickend, macht aber den Mund nicht auf. Sie wirkt sehr konzentriert. Sie scheint sich trotzdem sichtlich wohl und geborgen zu fühlen (entspannter Gesichtsausdruck). • Akon: Pegerin Frau Maria kommt und sagt: „Alles ist schmutzig.“ • Reakon: Peger Herr Bruno: „Das macht nichts. Sie hat einen Bezug zum Essen und hat allein gegessen und getrunken.“ • Reakon: Pegerin Frau Maria macht die Finger von Frau Rosa sauber. Sie gibt ihr zu trinken und dann den Rest der Nachspeise im Stehen. • Reakon: Peger Herr Bruno schaut traurig zu, sagt aber nichts. • Akon: Pegerin Frau Maria: „Frau Rosi!“ (Es handelt sich um Frau Rosa.) • Reakon: Peger Herr Bruno darauf: „Frau Rosa.“ • Reakon: Pegerin Frau Maria geht wieder. • Reakon: Frau Rosa versucht, allein die Nachspeise zu essen. • Akon: Kurz darauf kommt Pegerin Frau Maria wieder und setzt sich zu Frau Rosa. Sie will ihr von der Hauptspeise geben. • Reakon: Peger Herr Bruno: „Sie hat selbst Obstkompo probiert.“ • Reakon: Pegerin Frau Maria lässt sich nicht abhalten und gibt ihr gegen ihren Willen (Mund zu und Gesicht abgewandt) einen Löel voll. • Reakon: Peger Herr Bruno schaut traurig, sagt aber nichts. • Akon: Pegerin Frau Maria: „Frau Rosi“ • Reakon: Peger Herr Bruno: „Frau Rosa.“ • Akon: Pegerin Frau Maria: „Frau Rosi, nichts mehr?“
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Beispiele für Interakonen
• Interpretaon: Pegerin Frau Maria platzt herein und verhält sich in einer Weise, die ein besmmtes Verhalten des Pegers Herrn Bruno voraussetzt und bedingt. Er fühlt sich sofort angesprochen, obwohl die Feststellung von Pegerin Frau Maria „Alles ist schmutzig“ bloß im Raum steht. Der Peger sieht keine andere Wahl, als traurig zuzuschauen und sll zu sein. Vor allem, da er sehr selten in dieser Gruppe Dienst hat. Diese Interakon ist ebenfalls wieder eine komplementäre Interakon. Die Art und Weise, wie Pegerin Frau Maria auri, könnte sowohl als Infanlisieren (3) als auch als Sgmasieren (6) interpreert werden. Auf jeden Fall ekelt sich Pegerin Frau Maria. Sie deklariert Frau Rosa zum Objekt (10). Sie würdigt sie herab (17) und unterbricht das Geschehen (15). Peger Herr Bruno, der ein ausgezeichnetes Verhältnis zu allen Personen mit Demenz hat, versucht Anerkennung14 für Frau Rosa zu erreichen, ist sich aber anscheinend zugleich der Sinnlosigkeit seiner Intervenon bewusst. Hier stoßen zwei konträre Pegeverständnisse aufeinander. Für Peger Herrn Bruno gestalten sich Pege und Betreuung als ein partnerschalicher Beziehungsprozess. Pegerin Frau Maria hingegen erlebt Pege nur als Arbeit, die erledigt werden muss. 5.4.4 Der Sender ist eine Pegeperson (diplomierte esundheits- und Krankenpegeperson oder Pegehelfer/in) und der Empfänger ist eine Person mit Demenz Hier sind die überwiegenden Interakonen nonverbal, einfach und oberächlich. Sie basieren auf einer einfachen Kee, einer einfachen Mieilung (message). Die Pegeperson, wie vorher die Person mit Demenz, als Sender drückt mit ihrer Akon ihre Denion der Beziehung zwischen sich und dem Empfänger aus. Die analoge Mieilung erhält einen klaren Hinweis, wie die Pegeperson als Sender sie verstanden haben möchte: „Ich tue meine Picht – deine Aufgabe als Empfänger ist es, zu essen.“ Man gewinnt den Eindruck, dass die Pegepersonen keine Beziehung mit den Bewohnern eingehen, sondern nur den Inhaltsaspekt „Bewohner muss essen“ erledigen wollen.
14 „Anerkennen (recognion). Hierbei wird ein Mann oder eine Frau mit Demenz als Person anerkannt, ist namentlich bekannt und wird in seiner bzw. ihrer Einzigargkeit bestägt. Anerkennen läßt sich durch einen einfachen Akt des Grüßens oder durch achtsames Zuhören über einen längeren Zeitraum, in dem jemand vielleicht einen Teil seines früheren Lebens beschreibt, erreichen. Anerkennung ist jedoch niemals rein verbal und kann auch völlig wortlos erfolgen. Einer der grundlegenden Akte des Anerkennens ist einfach der direkte Blickkontakt.“ (Kitwood 2000, 134)
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Personelle Gewalt
Beispiele für einfache Keen: • Akon: Pegerin Frau Erika gibt, im Stehen, wortlos abwechselnd Herrn Michael und Herrn Karl die Suppe ein. • Reakon: Beide Herren lassen es geschehen und versuchen, sich an das Tempo der Pegerin anzupassen. • Akon: Pegerin Frau Rita kommt herein, setzt sich wortlos zwischen Herrn Johann und Herrn Karl. Sie gibt Herrn Johann das Essen mit einem Löel ein, ohne zu reden, und hil abwechselnd dem einen oder dem anderen. • Reakon: Beide Herren lassen es geschehen und essen. • Pegerin Frau Erika geht zu Frau Anna, die noch kaut, gibt ihr, ohne mit ihr zu sprechen, einen Löel zu essen und geht zurück zu Herrn Michael. • Reakon von Frau Anna: Sie erschrickt, macht den Mund in der Folge nicht mehr auf und weicht mit dem Kopf zurück. Alle diese einfachen Interakonen können als „zum Objekt erklären“ (10) interpreert werden. • Akon: Pegerin Frau Rita zu Frau Rosa: „Ein Löel für Mama, einer für den Bub … schau“ und gibt ihr parallel dazu den Trinkbecher (der halb voll ist) in einem Zug zu trinken. • Interpretaon: Pegerin Frau Rita infanlisiert (3) Frau Rosa und übersieht dabei, dass aus dem erzwungenen Trinken eine gefährliche Pegesituaon entstehen kann. • Pegerin Frau Erika sitzt so, dass sie abwechselnd Herrn Michael und Frau Anna einen vollen großen Löel Essen eingeben kann. • Interpretaon: Obwohl Herr Michael selbst essen kann und Frau Anna den Löel in der rechten Hand hält, werden sie von der Pegerin Frau Erika „gefüert“. Sie scheint unter Zeitdruck zu stehen und möchte allen Bewohnern gleichzeig das Essen verabreichen. Wiederum sind die Bewohner zur Machtlosigkeit verurteilt (2). • Pegerin Frau Erika gibt sitzend Frau Anna einen großen Löel (hält dabei die Hand in Frau Annas Nacken, damit sie nicht mit dem Kopf zurückweichen kann). • Interpretaon: Pegerin Frau Erika schüchtert Frau Anna ein (4) und übt Zwang aus (12), indem sie Gewalt anwendet.
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Beispiele für Interakonen
• Pegerin Frau Erika geht zu Herrn Nikolaus ins Zimmer und sagt: „Kommen Sie essen.“ Und nimmt ihn bei der Hand. • Interpretaon: Herr Nikolaus ist ein sehr zurückhaltender aber selbstständiger Herr, der gern alles selbst macht und eher Distanz als Nähe sucht. Er kann eigentlich sehr gut besmmen, wann er was tun will. Hier wird er von der Pegerin Frau Erika infanlisiert (3) und sie zwingt ihn, eine Handlung zu tun, die er gerade nicht tun möchte (12). • Pegerin Frau Lena sagt laut zu Frau Ingrid: „Geh’ ma’ kacken“ und nimmt sie bei der Hand. • Interpretaon: Pegerin Frau Lena signalisiert Frau Ingrid durch ihre Art und Weise des Handelns, dass sie nutz- und wertlos sei (17) und ekeert sie so (5). Diese Situaon muss besonders für Frau Ingrid unerträglich sein, da sich Frau Ingrids Demenz erst im Anfangsstadium bendet und sie daher noch sehr selbstständig ist. • Pegerin Frau Erika holt Frau Elfriede, die spazieren gehen will, wieder zurück und führt sie, ohne zu reden, zu ihrem Platz. • Interpretaon: Frau Elfriede ist eine Person, die gern spazieren geht, besonders wenn sie all ihre Tägkeiten erledigt hat und nichts mehr zu tun hat. Sie ist insofern selbstständig. Es ist nicht ersichtlich, warum Pegerin Frau Erika sie zurück holt und warum Frau Elfriede sitzen bleiben muss. Man könnte möglicherweise hier von Zwingen (12) oder Vorenthalten (13) sprechen. Sie gestaet Frau Elfriede nicht, ihre vorhandenen Fähigkeiten zu nutzen (2) und ekeert sie (5), indem sie Frau Elfriede kategorisiert: Demenz ist für Pegerin Frau Erika gleichbedeutend mit der Unfähigkeit, selbständig eine Handlung zu setzen. Beispiele für Interakonschleifen: Pegerin Frau Erika und Herr Johann: • Akon: Pegerin Frau Erika gibt Herrn Johann in hohem Tempo Löel für Löel die Suppe ein. • Reakon: Herr Johann hat kaum Zeit zu schlucken. • Akon: Herr Johann verschluckt sich. • Reakon: Pegerin Frau Erika: „Es ist üssig, Sie können jetzt trinken.“ • Akon: Pegerin Frau Erika gibt Herrn Johann die Suppe direkt aus der Suppenschüssel zu trinken. • Interpretaon: Pegerin Frau Erika ekeert (5) Herrn Johann (er ist dement und verliert dadurch für die Pegerin Frau Erika automasch alle Fähigkeiten) und bemerkt dabei nicht, dass eine gefährliche Pegesituaon entstehen könnte.
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Personelle Gewalt
Pegerin Frau Ida und Herr Karl: • Akon: Pegerin Frau Ida will Herrn Karl wortlos etwas zu trinken geben. • Reakon: Herr Karl wehrt sich wortlos mit der Hand. • Akon: Herr Karl möchte etwas ausspucken, und zwar das Medikament. Er nimmt es aus seinem Mund heraus. • Reakon: Pegerin Frau Ida gibt Herrn Karl wortlos den Becher zum Trinken. • Akon: Pegerin Frau Ida en ernt das ausgespuckte Medikament aus der Reichweite von Herrn Karl. • Akon: Pegerin Frau Erika (die gerade Herrn Michael das Essen eingibt) geht zu Herrn Karl, gibt ihm das Medikament schnell in den Mund und hält den Trinkbecher so, dass Herr Karl sofort Wasser nachtrinken muss. Sie dreht sich wieder um und gibt Herrn Michael das Essen weiter. • Reakon: Herr Karl versucht, sich nicht zu verschlucken. • Interpretaon: Pegerin Frau Ida ignoriert (13) den Wunsch von Herrn Karl auszuspucken und seine Abwehr. Pegerin Frau Erika entwertet ihn (8). Sie übt Zwang (12) und Einschüchterung (4) aus. Sie bemerkt nicht, dass dabei eine gefährliche Pegesituaon entstehen könnte. Kurz darauf passiert folgende Interakonsschleife: • Akon: Pegerin Frau Erika fragt Herrn Karl: „Soll ich Ihnen helfen?“ und versucht, ohne auf eine Antwort zu warten, Herrn Karl einen Löel zu essen zu geben. • Reakon: Herr Karl wehrt sich und önet den Mund nicht. • Interpretaon: Pegerin Frau Erika hat kurz zuvor Zwang ausgeübt und Herrn Karl eingeschüchtert und möchte jetzt, ohne eine Beziehung aufzubauen, helfen. Sie ist dadurch für Herrn Karl nicht berechenbar: „Will sie mir Gutes oder Schlechtes tun?“ Dadurch entwertet (8) Pegerin Frau Erika Herrn Karl und nimmt seine Lebensgeschichte, die in der Dokumentaon nachzulesen ist, nicht wahr. Peger Herr Simon und mehrere Personen mit Demenz • Akon: Peger Herr Simon nimmt seinen Sessel und setzt sich zu Herrn Johann. Er gibt ihm Löel für Löel relav schnell und wortlos das Essen ein. • Reakon: Herr Johann macht den Mund weit auf und streckt die Zunge heraus. • Akon: Herr Johann verschluckt sich und hustet. • Reakon: Peger Herr Simon hört kurz auf, fährt dann aber im selben Tempo weiter fort.
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Beispiele für Interakonen
• Akon: Peger Herr Simon: „Frau Rosa bekommt einen EinmalWäscheschutz.“ Er nimmt seinen Sessel, setzt sich zu ihr und sagt: „Suppe haben wir, fangen wir an.“ • Reakon: Frau Rosa lässt ihren Mund geschlossen, schaut Peger Herrn Simon an und macht dann erst den Mund auf. • Akon: Peger Herr Simon (der Löelrhythmus ist schnell) fragt: „Geht‘s?“ Er wartet die Antwort nicht ab, sondern fährt in schnellem Tempo fort. • Reakon: Frau Anna schaut zu und isst nicht allein weiter. • Reakon: Frau Rosa macht den Mund nur ein wenig auf. • Akon: Peger Herr Simon gibt, ohne zu reden, Frau Anna zwei, drei Löel Suppe, während Frau Rosa ihren Blusenärmel begutachtet. Dann gibt Peger Herr Simon abwechselnd Frau Anna und Frau Rosa einen Löel Suppe. • Reakon: Frau Anna macht den Mund weit auf. • Reakon: Frau Rosa hingegen macht den Mund kaum auf. • Akon: Pegerin Frau Lena führt das Essen herein. • Reakon: Frau Rosa schaut hin und vergisst zu schlucken. • Reakon: Darau in hört Peger Herr Simon auf, Frau Anna und Frau Rosa die Suppe zu geben. Er steht, ohne zu sprechen, auf und geht wieder zu Herrn Michael. • Interpretaon: Die Bewohnerinnen Frau Rosa und Frau Anna müssen so schnell wie möglich essen (Zwang (12)). Was die Bewohnerinnen fühlen und erleben, ist für Peger Herr Simon in der Situaon nicht relevant. Hier ist keine Beziehung zwischen Peger und Bewohner sichtbar oder spürbar. Diese Interakonsschleifen können als zum Objekt erklären (10) interpreert werden. Pegerin Frau Lena und mehrere Personen mit Demenz • Akon: Pegerin Frau Lena gibt Herrn Johann sein Essen. Sie steht und gibt ihm einen Löel. Sie „füert“ Herrn Johann im wahrsten Sinn des Wortes, ohne ihn dabei anzuschauen. Die Löelporonen sind viel zu groß. • Akon: Pegerin Frau Lena geht zu Frau Anna und gibt ihr einen vollen Löel in die Hand, geht zurück zu Herrn Johann, „schiebt“ einen Löel in seinen Mund und verlässt den Speisesaal wortlos. • Nach ca. zehn Minuten kommt Pegerin Frau Lena zurück, nimmt, ohne zu reden, einen Sessel und setzt sich zu Herrn Johann. Sie gibt schnell einen vollen Löel, steht auf und geht zu Frau Anna. Sie will auch ihr einen Löel voll geben. • Reakon: Frau Anna erschrickt und schaut Pegerin Frau Lena erstaunt an.
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Personelle Gewalt
• Akon: Pegerin Frau Lena geht zurück zu Herrn Johann und sagt zu Herrn Josef: „Herr Josef, essen Sie die Kartoel auf.“ Sie grei über den Tisch zu Herrn Josef, gibt ihm eine Kartoel in den Mund und setzt sich wieder. • Akon: Pegerin Frau Lena nimmt ihren Sessel, geht zu Frau Anna und sagt: „Anni so lalala.“ • Reakon: Frau Anna lacht. Der Löelrhythmus ist zu schnell für Frau Anna. Sie beugt den Kopf zurück. • Akon: Pegerin Frau Lena zu Frau Ingrid „Haben Sie noch Bauchweh?“ • Reakon: Frau Ingrid: „Ja.“ Es hat keine weiteren Konsequenzen. • Interpretaon: Pegerin Frau Lena agiert genauso wie Peger Herr Simon oder Pegerin Frau Erika. Pegerin Frau Lena hat o Dienst in dieser Gruppe. Für sie sind Personen mit Demenz nicht berechenbar und nicht handlungsfähig. Sie müssen behandelt werden wie kleine Kinder (infanlisieren (3)). Sie werden zur Machtlosigkeit verurteilt (2): Wozu sich bemühen, sie haben ohnehin eine Demenz (ekeeren (5)). Diese Interakonsschleifen können als „zum Objekt erklären“ (10) interpreert werden: Die Personen mit Demenz werden behandelt, als seien sie Wesen, die nicht fühlen und die nur gefüllt bzw. „gefüttert“ werden müssen. Pegerin Frau Senta mit Frau Rosa und mehreren Personen mit Demenz. Diese Interakonssequenz dauerte 25 Minuten. • Akon: Pegerin Frau Senta versucht, Frau Rosa einen Löel voll zu geben. • Reakon: Frau Rosa bearbeitet ihren Einmal-Wäscheschutz. • Akon: Pegerin Frau Senta: „Es ist nur für Frau Rosa … keiner darf essen … nur Frau Rosa.“ • Akon: Pegerin Frau Lena: „Frau Rosa, hat sie gut gekocht?“ • Frau Rosa antwortet nicht; sie scheint Durchfall zu haben (Geräusche und Geruch). • Akon: Pegerin Frau Senta: „Ida hat gesagt, man soll sie zu nichts zwingen … sie soll tun dürfen, was sie will.“ • Pegerin Frau Lena gibt Frau Anna schnell Löel für Löel. • Reakon: Frau Rosa schaut genau auf das Table. • Akon: Pegerin Frau Senta: „Was haben wir drinnen?“ Und gibt Frau Rosa einen vollen Löel „Frau Rosa, essen Sie gerne Kartoeln?“ • Reakon: Frau Rosa: „Ja.“ • Akon: Pegerin Frau Senta: „Sehr gut … es schmeckt heute sehr gut.“ • Akon: Frau Rosa versucht ganz leise etwas zu sagen (wie „früh … Bauchweh“) und zeigt auf ihren Bauch. Sie hat den Mund sehr voll.
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Beispiele für Interakonen
• Akon: Pegerin Frau Senta: „Was in der Früh … Sie haben gut gegessen in der Früh?“ (Antwort nicht passend.) • Akon: Frau Rosa mit leiser und ziriger Smme, die Hand liegt auf ihrem Bauch: „Ja, jetzt auch …“. • Reakon: Pegerin Frau Senta: „In der Früh hat es Ihnen auch geschmeckt?“ (Antwort wieder nicht passend.) • Pegerin Frau Lena steht auf und verlässt den Speisesaal. • Akon: Pegerin Frau Senta gibt Frau Anna einen Löel und sagt: „Miki (zu Frau Margarethe), essen Sie die Kiwis!“ • Reakon Frau Margarethe: „Ja.“ • Akon: Pegerin Frau Senta: „Sehr gesund.“ • Akon: Pegerin Frau Senta gibt Frau Rosa Sa zu trinken, dann einen Löel und sagt: „So, Anni“ (zu Frau Anna) und gibt ihr einen vollen Löffel Püree. • Reakon: Frau Rosa schaut verzweifelt links und rechts. Sie hat den Mund voll. Sie hat nicht geschluckt. • Akon: Pegerin Frau Senta zu Frau Rosa: „So, ein Löel.“ • Reakon: Frau Rosa will den Mund nicht aufmachen, • Akon: Trotzdem schiebt Pegerin Frau Senta den Löel in den Mund von Frau Rosa hinein. • Reakon: Frau Rosa wird mit ihren Händen sehr akv. • Akon: Pegerin Frau Senta steht auf und gibt Frau Anna mehrere Löffel Nachspeise und sagt: „So, Rosi“ (zu Frau Rosa) und gibt Frau Rosa Sa zu trinken. • Akon: Pegerin Frau Senta: „So, Anni“, sie gibt ihr den Rest der Nachspeise und serviert das Table von Frau Anna ab. • Akon: Pegerin Frau Senta: „Mach’ ma’ weiter, Frau Rosa?“ • Reakon: Frau Rosa will den Mund nicht aufmachen und möchte ihren Einmal-Wäscheschutz weg haben. • Reakon: Pegerin Frau Senta: „Nein, lass’ ma’ … die Hose ist ganz sauber.“ • Akon: Pegerin Frau Senta steht auf und will Frau Anna etwas zu trinken geben. Sie ist aber noch nicht so weit. Darauf gibt Pegerin Frau Senta ihre Hand in Frau Annas Nacken (verhindert dadurch das Zurückziehen des Kopfes) und gibt ihr in einem Zug ca. 150 ml Wasser zu trinken. • Akon: Pegerin Frau Senta setzt sich wieder: „Essen Sie noch, Frau Rosa?“ und versucht, Frau Rosa einen vollen Löel in den Mund zu schieben. • Reakon: Frau Rosa sagt etwas (für mich, M. W-L., zu leise). • Reakon: Pegerin Frau Senta: „Was denn (Frau Rosa muss wieder Durchfall haben: Geruch und Geräusche), Frau Rosa, haben Sie Bauchweh?“
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Personelle Gewalt
• Akon: Pegerin Frau Senta: „Schau, das geht besser. Es ist die Nachspeise.“ • Reakon: Frau Rosa schaut ganz verzweifelt die Pegerin an. • Akon: Pegerin Frau Senta gibt ihr zu trinken. • Reakon: Frau Rosa arbeitet sehr viel mit den Händen, sie gläet den Wäscheschutz. • Akon: Pegerin Frau Senta: „Frau Rosa, weiter?“ • Reakon: Frau Rosa bejaht kopfnickend, macht aber den Mund nicht auf (Durchfall). • Reakon: Pegerin Frau Senta: „Schon wieder?“ • Reakon: Frau Rosa bejaht kopfnickend. • Reakon: Pegerin Frau Senta „schiebt“ ihr einen Löel in den Mund und sagt deutlich: „Gut“, danach „So ist‘s gut.“ • Reakon: Frau Rosa macht den Mund zu, als Pegerin Frau Senta ihr einen Löel voll geben will. Sie hat nicht geschluckt. • Akon: Pegerin Frau Senta will ihr den Mund mit dem Einmal-Wäscheschutz abwischen. • Reakon: Frau Rosa: „Nein, nein“ (sehr deutlich). • Reakon: Pegerin Frau Senta: „Rosi … Frau Rosa.“ • Akon: Pegerin Frau Lena kommt wieder herein und blödelt vor Frau Rosa und gibt Töne von sich wie „mhmhmh … la, la, la …“. Frau Rosa schaut sie an. Pegerin Frau Lena versucht anscheinend vorzuzeigen, wie man isst. Frau Rosa presst die Lippen zusammen. Ihr Durchfall ist zu hören. • Reakon: Pegerin Frau Senta: „Es ist so stark … noch ein Schluck“ und will Frau Rosa noch einen Löel geben. • Reakon und Akon: Frau Rosa: „Nein, nein“ (sehr deutlich). Sie will nicht und sagt: „Heute ist der letzte.“ • Reakon: Pegerin Frau Senta wiederholt: „... heute ist der letzte … ich verstehe schon, heute haben Sie Bauchweh.“ Pegerin Frau Senta zu Frau Rosa: „Könn ma’ schon ins Zimmer gehen.“ Und dann leise: „Sie hat heute ein Zäpfchen bekommen.“ • Akon: Pegerin Frau Senta und Pegerin Frau Lena helfen Frau Rosa beim Aufstehen und unterstützen sie beim Gehen. • Laute Darmgeräusche sind zu hören. Akon: Frau Rosa laut und mit ziriger Smme: „Es ist nicht von mir.“ • Reakon: Pegerin Frau Lena lacht. • Interpretaon:15 Hier ist (mit Ausnahme von nanzieller Ausbeutung) die gesamte Palee der Misshandlungen sichtbar und spürbar: 15 Ich [M. W-L.] muss gestehen, dass es mir bei der gesamten Beobachtung sehr schlecht gegangen ist. Ich wäre am liebsten aufgestanden und häe eingegrien (was ich nicht getan habe).
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Beispiele für Interakonen
• Misshandlung durch körperliche Gewalt: zum Beispiel: Pegerin Frau Senta gibt ihre Hand in Frau Annas Nacken (um das Zurückziehen des Kopfes zu verhindern) und zwingt sie so zum Trinken. • Misshandlung durch Verursachen von emoonalem Schmerz: Frau Rosa wird in ihrer gesamten Notsituaon nicht ernst genommen und am Schluss sogar ausgelacht. • Misshandlung durch Vernachlässigung: Unterlassen von notwendigen Pegemaßnahmen: Frau Rosa hat Durchfall aufgrund einer gezielten pegerischen Maßnahme (sie hat in der Früh ein Zäpfchen erhalten, da sie den vierten stuhlfreien Tag hae) und gehört entsprechend begleitet und gepegt. Da Frau Rosa eine Demenz hat, werden ihr alle Fähigkeiten und Fergkeiten abgesprochen. Sie wird in dieser Situaon vollständig zum Objekt degradiert. Ihre gesamte Subjekvität, ihr Personsein wird ihr abgesprochen. Bisher wurden bewusst nur maligne, bösarge Interakonen beschrieben, obwohl ich im selben Zeitraum auch sehr schöne Beziehungen beobachten konnte, von denen eine hier stellvertretend wiedergegeben werden soll: Peger Herr Bruno und zwei Personen mit Demenz. • Akon: Peger Herr Bruno setzt sich zwischen Frau Anna und Frau Rosa. Er gibt Frau Anna langsam einen Löel voll und Frau Rosa einen Löel voll. • Reakon: Frau Anna macht den Mund sehr weit auf und isst problemlos. • Akon: Peger Herr Bruno gibt Frau Anna die Suppe und sagt: „Sie müssen nicht alles aufessen.“ • Reakon: Frau Anna lacht und freut sich sichtlich über den Peger Herr Bruno, der sehr langsam und ruhig die Suppe gibt. Frau Anna lacht und macht den Mund jedes Mal auf, wenn der Löel kommt. • Akon: Pegerin Frau Maria: „Sie lacht immer.“ • Akon: Peger Herr Bruno: „Frau Anna, wollen Sie selbst probieren?“ und gibt ihr den Löel in die Hand. Frau Anna probiert ein kleines Stück Grießnockerl zu nehmen – ohne Erfolg. • Reakon: Peger Herr Bruno: „Ich helfe Ihnen bei der Suppe“ und nimmt den Löel wieder. • Reakon: Frau Anna lacht und freut sich wieder, von Peger Herr Bruno bedient zu werden. • Akon: Peger Herr Bruno gibt weiter die Suppe ganz vorsichg ein. Trotzdem erschrickt Frau Anna, als er mit dem Löel einen Tropfen abwischen will.
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Personelle Gewalt
• Akon: Peger Herr Bruno holt das Essen von Frau Anna ab, setzt sich wieder hin und sagt: „Wollen Sie selber probieren?“ • Reakon: Frau Anna lacht, beugt aber gleichzeig den Kopf zurück. • Akon: Peger Herr Bruno gibt ihr zu trinken und sagt zu Frau Anna: „Frau Anna ist heute ein bisschen abgelenkt vom Essen.“ • Reakon: Frau Anna lacht wieder. • Akon: Frau Anna versucht zu essen und gibt den Löel in die Sauce. • Reakon: Peger Herr Bruno gibt ihr einen neuen Einmal-Wäscheschutz. • Akon: Peger Herr Bruno hat Frau Rosa zwei Löel gegeben: einen, den er benützt, und einen, den sie benützen soll, und sagt: „Probieren Sie es mit dem Löel, Sie tun sich leichter“, da Frau Rosa gerade versucht, mit der Gabel zu essen. • Reakon: Frau Rosa antwortet ganz leise (nicht zu verstehen). • Reakon: Peger Herr Bruno: „Schon.“ Die Smme ist ganz ruhig und er schaut Frau Rosa in die Augen. • Akon: Pegerin Frau Maria: „Ich komme.“ • Reakon: Peger Herr Bruno: „Sie probiert gerade allein.“ • Akon: Frau Rosa isst allein und zeigt auf einen Fleck. • Reakon: Pegerin Frau Maria sagt im Stehen: „Bruno hat das gemacht.“ • Reakon: Peger Herr Bruno schaut Frau Rosa an und antwortet: „Es macht nichts.“ • Reakon: Frau Anna lacht weiter bei jedem Löel. • Akon: Peger Herr Bruno streichelt ihren Arm. • Akon: Frau Rosa isst allein mit dem Löel. • Reakon: Peger Herr Bruno – parallel dazu – gibt ihr mit dem Löel ein bisschen zu essen. • Akon: Frau Anna lacht immer wieder. • Akon: Peger Herr Bruno zu Frau Anna: „Heute sind Sie abgelenkt … Sie lachen auch schon, Frau Rosa?“ • Reakon: Frau Rosa: „Nein“ (mit freundlichem Gesichtsausdruck). • Akon: Der Gesichtsausdruck von Peger Herr Bruno ist sehr oen und fröhlich, wenn er Frau Anna anschaut, konzentriert, wenn er sich Frau Rosa zuwendet. • Akon: Frau Anna will nicht trinken. Darauf hält Peger Herr Bruno ihre Hand und gibt ihr den Becher in die Hand und sagt: „Es ist ein Mineralwasser.“ • Reakon: Nach einer gewissen Zeit trinkt Frau Anna allein. • Akon: Peger Herr Bruno ruhig zu Frau Anna: „Stellen Sie den Becher zurück“ und gibt ihr einen Löel.
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Kennzeichen struktureller Gewalt
• Interpretaon: Dies ist eine gelungene Interakon. Frau Anna und Frau Rosa werden in ihrem Personsein ernst genommen: Anerkennen (1). Peger Herr Bruno gibt ihnen die Möglichkeit der Zusammenarbeit (3). Frau Anna erfährt Genuss und fühlt sich geborgen.16 Man merkt genau, dass Peger Herr Bruno für beide Damen da ist. Sie dürfen im Mielpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen. Er ist nicht nur körperlich anwesend, sondern nimmt die Bedürfnisse der beiden Bewohnerinnen wahr und geht auf sie ein (Achtsamkeit). Da sehr viele posive Interakonen im gleichen Zeitraum beobachtet wurden, müssen die beschriebenen negaven Handlungen als personelle direkte Gewalt (und nicht als strukturelle Gewalt) betrachtet werden. Die Rahmenbedingungen waren für alle Pegepersonen gleich.
6. Strukturelle Gewalt 6.1 Kennzeichen struktureller Gewalt All die vielfälgen im letzten Kapitel beschriebenen Formen der personellen Gewalt haen zunächst zweierlei gemeinsam: Jedes Mal wurde von einem besmmten, wahrnehmbaren Akteur entweder eine besmmte Handlung gesetzt oder eine besmmte Handlung unterlassen. Und mit dieser Handlung oder Unterlassung des Akteurs bzw. der Akteure wurde Gewalt auf eine besmmte Person ausgeübt. Die Frage nach dem „Täter“ ist also klar beantwortbar, ebenso wie die konkrete Handlung oder Unterlassung klar beschrieben werden kann. Mit der strukturellen Gewalt kommen wir nun aber zu einer Form von Gewalt, die (wie schon erwähnt) eine „Gewalt ohne einen Akteur“ ist (Galtung 1975, 12). Hier wird keine direkte Gewalt ausgeübt, sondern es handelt sich um eine strukturimmanente Gewalt. Wir werden hierbei im Folgenden unter struktureller Gewalt sowohl jene durch polische Strukturen hervorgerufene Gewalt verstehen (zum Beispiel Gesetze, Verord16 Siehe dazu: „Timalaon (malaon). Dieser Begri bezieht sich auf Formen der Interakon, bei denen die primäre Zugangsweise sensorisch oder sinnenbezogen ist, ohne daß Begrie und intellektuelles Verstehen eine Rolle spielen, z. B. bei einer Aromatherapie und Massage. Das Wort Timalaon ist ein Neologismus, abgeleitet aus dem griechischen Wort mao (ich halte in Ehren, ich würdige – und demnach verletze ich keine persönlichen oder moralischen Grenzen) und aus Smulaon (mit ihren Bedeutungen der sensorischen Anregung). Die Bedeutung dieser Art von Interakon liegt darin, daß sie Kontakt, Sicherheit und Vergnügen bieten kann, während sie nur sehr wenig erfordert. Sie ist daher bei schwerer kogniver Beeinträchgung besonders wertvoll.“ (Kitwood 2000, 134 f.)
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Kennzeichen struktureller Gewalt
• Interpretaon: Dies ist eine gelungene Interakon. Frau Anna und Frau Rosa werden in ihrem Personsein ernst genommen: Anerkennen (1). Peger Herr Bruno gibt ihnen die Möglichkeit der Zusammenarbeit (3). Frau Anna erfährt Genuss und fühlt sich geborgen.16 Man merkt genau, dass Peger Herr Bruno für beide Damen da ist. Sie dürfen im Mielpunkt seiner Aufmerksamkeit stehen. Er ist nicht nur körperlich anwesend, sondern nimmt die Bedürfnisse der beiden Bewohnerinnen wahr und geht auf sie ein (Achtsamkeit). Da sehr viele posive Interakonen im gleichen Zeitraum beobachtet wurden, müssen die beschriebenen negaven Handlungen als personelle direkte Gewalt (und nicht als strukturelle Gewalt) betrachtet werden. Die Rahmenbedingungen waren für alle Pegepersonen gleich.
6. Strukturelle Gewalt 6.1 Kennzeichen struktureller Gewalt All die vielfälgen im letzten Kapitel beschriebenen Formen der personellen Gewalt haen zunächst zweierlei gemeinsam: Jedes Mal wurde von einem besmmten, wahrnehmbaren Akteur entweder eine besmmte Handlung gesetzt oder eine besmmte Handlung unterlassen. Und mit dieser Handlung oder Unterlassung des Akteurs bzw. der Akteure wurde Gewalt auf eine besmmte Person ausgeübt. Die Frage nach dem „Täter“ ist also klar beantwortbar, ebenso wie die konkrete Handlung oder Unterlassung klar beschrieben werden kann. Mit der strukturellen Gewalt kommen wir nun aber zu einer Form von Gewalt, die (wie schon erwähnt) eine „Gewalt ohne einen Akteur“ ist (Galtung 1975, 12). Hier wird keine direkte Gewalt ausgeübt, sondern es handelt sich um eine strukturimmanente Gewalt. Wir werden hierbei im Folgenden unter struktureller Gewalt sowohl jene durch polische Strukturen hervorgerufene Gewalt verstehen (zum Beispiel Gesetze, Verord16 Siehe dazu: „Timalaon (malaon). Dieser Begri bezieht sich auf Formen der Interakon, bei denen die primäre Zugangsweise sensorisch oder sinnenbezogen ist, ohne daß Begrie und intellektuelles Verstehen eine Rolle spielen, z. B. bei einer Aromatherapie und Massage. Das Wort Timalaon ist ein Neologismus, abgeleitet aus dem griechischen Wort mao (ich halte in Ehren, ich würdige – und demnach verletze ich keine persönlichen oder moralischen Grenzen) und aus Smulaon (mit ihren Bedeutungen der sensorischen Anregung). Die Bedeutung dieser Art von Interakon liegt darin, daß sie Kontakt, Sicherheit und Vergnügen bieten kann, während sie nur sehr wenig erfordert. Sie ist daher bei schwerer kogniver Beeinträchgung besonders wertvoll.“ (Kitwood 2000, 134 f.)
M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Strukturelle Gewalt
nungen) als auch jene, die durch Strukturen einer Instuon entsteht (zum Beispiel rigide, normierte Abläufe für alle Bewohner bzw. Paenten). Neben dem (Nicht-)Vorhandensein eines konkreten Akteurs besteht ein weiterer Unterschied zwischen personeller und struktureller Gewalt in der Dynamik: Personale Gewalt steht für Veränderung und Dynamik – sie ist nicht nur eine sane Bewegung der Wellen, sondern bewegt selbst die sonst sllen Wasser. Strukturelle Gewalt ist geräuschlos, sie zeigt sich nicht – sie ist im Grunde stasch, sie ist das slle Wasser. (Galtung 1975, 16)
Wenn eine Person eine andere Person anschreit oder schlägt, unterbricht diese Handlung das bisherige Geschehen: Hier entlädt sich augenscheinlich und vehement eine Koniktsituaon. Ähnliches gilt für eine Unterlassung, auch wenn diese in der Regel weniger lautstark ausfällt. Auch hier gibt es eine dynamische Spannung, vor allem bei absichtlichen, akven Unterlassungen, die als „Bestrafung“ gedacht sind. Wichg ist hierbei der Aspekt, dass personelle Gewalt nicht ununterbrochen ausgeübt wird – sie hat ein ereignishaes Moment. Ganz anders hingegen stellt sich die Situaon dar, wenn Gewalt konstant durch die Rahmenbedingungen in Form von gesetzlichen Verordnungen und/oder instuonellen Regulierungen ausgeübt wird: Hier gibt es keine gewaltvollen und gewal reien Phasen, sondern es handelt sich um eine permanente, stasche Gewalt. Nimmt man diese beiden Aspekte zusammen – das Fehlen konkreter Akteure und die stasche Konnuität –, dann wird deutlich, dass im Fall der strukturellen Gewalt eine große Gefahr darin besteht, dass man sein eigenes Handeln durch sie rech ergt. „Die Bedingungen sind halt so“, „ich habe nicht die Zeit, mich mehr um die Bewohner zu kümmern“, „die Leitung will es so, was soll ich machen“ sind Beispiele für geläuge Erklärungsmuster. Erklärungsmuster für Handlungen oder Unterlassungen, die gewaltsam sind, aber entweder gar nicht mehr als gewaläg wahrgenommen werden oder aber eben über die Rahmenbedingungen zu rechtfergen versucht werden. Man bekommt den Eindruck, dass Menschen, die im Rahmen solcher „repressiver Strukturen“ (Galtung 1975, 23) arbeiten, omals Abwehrstrategien entwickeln, wie etwa folgendes Beispiel zeigt: Weil der Ausdruck „freiheitsbeschränkend“ oft durch den Ausdruck „schützende Maßnahme“ ersetzt wird, besteht die Gefahr, dass die wirkliche Anwendung von solchen Massnahmen in der Pegepraxis unterschätzt wird. (Hankainen 2008, 3)
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Kennzeichen struktureller Gewalt
Hierdurch können freiheitseinschränkende Maßnahmen, die unter dem Titel „Schutz und Sicherheit des Bewohners/Paenten/Klienten“ laufen, vermeintlich gerech ergt werden. Wird eine solche Vorgehensweise – die Tarnung einer gewaltsamen Handlung durch verfälschende und beschönigende Beschreibungen – über längere Zeit hinweg prakziert, wird die Gewalägkeit irgendwann nicht mehr wahrgenommen werden. Freiheitseinschränkende Maßnahmen werden dann grundsätzlich als „notwendig“ oder sogar als „normal“ empfunden, und die Tagesstrukturen und die Arbeitsorganisaon werden nicht (mehr) gestört. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass sowohl Menschen mit Demenz als auch das Pegepersonal von struktureller Gewalt betroen sind: Das Personal ist der strukturellen Gewalt der Instuon (z. B. schlechte Arbeitsbedingungen und ungünsges Arbeitsklima, ungenaue Dienstvorschrien, Förderung der „frei oerenden Angst“ vor Sankonen, Nichteinbeziehen bei wichgen Entscheidungen, unzumutbare bauliche Gegebenheiten) genauso ausgesetzt wie die Patienten oder Heimbewohner (Fremdbestimmung von Essens- und Aufstehzeiten, Verringerung der Kompetenzen, Verlust der Privatsphäre). (Hirsch 2001, 18)
Darüber hinaus gibt es aber natürlich auch noch eine verstärkende Wirkung: Wenn das Pegepersonal struktureller Gewalt ausgesetzt ist, ist damit zugleich ein Faktor gegeben, der personeller Gewalt den Weg mitebnet. Deutlich sollte bis hier geworden sein, dass das Vorhandensein oder NichtVorhandensein eines sichtbaren konkreten Akteurs, der oder die eine konkrete Handlung oder Unterlassung ausführt, keine relevante Größe für die Entscheidung der Frage ist, ob Gewalt ausgeübt wird oder nicht. Hierzu ein Beispiel Galtungs: Wenn Menschen in einer Zeit verhungern, in der dies objekv vermeidbar ist, dann wird Gewalt ausgeübt, gleichgülg, ob eine klare Subjekt-Objekt-Beziehung vorliegt (wie z. B. früher bei einer Belagerung), oder […] [ob] keine solche eindeuge Beziehung exisert (wie beispielsweise bei der Art der Weltwirtschasorganisaon heute). (Galtung 1975, 13)
Es ist nicht schwer, diese Bemerkung auf die Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz umzusetzen … Um aber keine Missverständnisse au ommen zu lassen: Dass kein konkreter Akteur auszumachen ist, bedeutet natürlich nicht, dass es nicht Menschen sind, die diese indirekte Form der Gewalt ausüben. Eine Struktur kann nur wirksam werden, wenn es Menschen gibt, die ihr – freiwillig oder unfreiwillig, absichtlich oder unabsichtlich – „Leben verleihen“:
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[R]epressive Strukturen (werden) […] durch die summierte und konzererte Akon von Menschen aufrechterhalten […]. (Galtung 1975, 23 f.)
Hirsch nennt Beispiele für Personen(gruppen), die an dem Wirksamwerden von struktureller Gewalt beteiligt sind – auch wenn sich ein einzelnes, letztverantwortliches Subjekt nicht ausmachen lässt: Arbeitgeber des Pegepersonals (z. B. Träger von Einrichtungen), Poliker (unzureichende und widersprüchliche Gesetzgebung), Juristen (Gesetzesauslegung und Rechtssprechung), Vertreter von Behörden (Gesetzesanwendung und -durchführung, mangelhae Kontrollen [z. B. Heimaufsicht; M. W.-L.]), Verantwortliche der Kranken- und Pegeversicherungen (z. B. medizinischer Dienst der Krankenkassen), rechtliche Betreuer (insbesondere Berufsbetreuer), Ärzte und Pegekräe (unzureichendes Problembewusstsein), Medien (eingeschränktes Interesse an diesem Tabubereich), Öentlichkeit [d. h. jede/r Einzelne von uns; A.W.] (Wegsehen, Schweigen und verdrängen). (Hirsch 2000, 1)
Das bedeutet in weiterer Konsequenz aber natürlich auch, dass es keine trennscharfe Unterscheidung zwischen personeller und struktureller Gewalt gibt. Galtung weist darauf hin, dass „Spuren des strukturellen Elements in der personalen Gewalt“ ebenso wie Spuren „des personalen Elements in der strukturellen Gewalt“ vorzunden sind, da ein Mensch „seine Entscheidung, mit Gewalt zu handeln, nicht nur auf der Grundlage individueller Überlegungen fällt“, sondern auch aufgrund seiner sozialen Rollen (Galtung 1975, 23).
6.2 Strukturelle Gewalt in der Institution Ein Aspekt, hinter dem sich nicht selten strukturelle Gewalt verbirgt bzw. das mit struktureller Gewalt einhergeht, ist jener der wirtschalichen Orienerung. Die Einführung der Pegeversicherung SGB XI am 1. 1. 1995 in Deutschland hat zum Beispiel zu einer zunehmenden Kostenorienerung beigetragen, die wiederum die Orienerung am Prinzip der Menschlichkeit omals nachrangig werden lässt. Häug geht die Kostenorienerung mit einer Regulierung und Standardisierung aller Abläufe einher, wie zum Beispiel:
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• Feste Essenszeiten: Diese sind meist sehr eng kalkuliert. Zwischen 12 Uhr und 12.45 Uhr müssen alle Paenten/Bewohner/Klienten das Miagessen einnehmen, da das Geschirr um 13 Uhr wieder in der Großküche sein muss. Dies hat zur Folge, dass die Paenten/Bewohner/Klienten erstens nicht in ihrem langsamen Rhythmus essen dürfen; zweitens, dass diejenigen, die einer Unterstützung zum Beispiel aufgrund von Apraxie bedüren, diese nicht erhalten können. Sie werden dann „gefüert“, weil es schneller geht. Driens essen Paenten/ Bewohner/Klienten, die von vornherein keinen Appet haben bzw. viel Zuwendung benögen, um essen zu können, entweder gar nicht oder nur unter Anwendung von Gewalt; und viertens schließlich wird o Breikost serviert, da sie leichter zu verabreichen ist. Zwei Tische weiter kämp Frau Simonse mit einer Gabel. ‚Sind Sie ferg mit Essen?‘, fragt die Pegerin sie. ‚Hat‘s geschmeckt?‘ Frau Simonse nickt höich – und weg ist ihr halbvoller Teller. (Braam 2007, 169)
Tagsüber werden zwischen 7.30 Uhr und 16.30 Uhr o zwei Hauptmahlzeiten und zwei Zwischenmahlzeiten angeboten. In dieser Zeit sollte auch mindestens ein Liter getrunken werden. Hingegen gibt es zwischen 17.30 Uhr und 7.30 Uhr außer für Diabeker (vorbereitete Spätmahlzeit) keine Essensmöglichkeit. Im Haus Benedikt17 beispielsweise, einem sehr großen Pegeheim, wird das Abendessen um 16.15 Uhr auf den Staonen serviert. Die Zentralküche sperrt um 18 Uhr zu, bis dahin muss das gesamte Geschirr ferg gewaschen und wieder eingeräumt sein. Dieser Rhythmus entspricht nicht dem Verdauungs-, Tages- und Appetrhythmus älterer mulmorbider Paenten, besonders dann nicht, wenn sie eine Demenz haben. Eine weitere Folge könnte sein, dass aus arbeitsökonomischen Gründen die Setzung von PEG-Sonden bei Menschen mit Demenz im weit fortgeschrienen Stadium befürwortet wird, obwohl sie medizinisch meistens nicht mehr indiziert ist und für den Paenten mehr Schaden als Nutzen bringt. Die Setzung wird jedoch aus Gründen der Zeit- und Personaleinsparung in Kauf genommen. • Feste Frühstückszeiten des Personals: Das gesamte Personal der Staon muss zwischen 9 Uhr und 9.30 Uhr frühstücken. 15 Minuten sind pro Person dafür eingeplant. Unnöger Stress entsteht bereits vorher schon: „Schae ich es, bis 9 Uhr ferg zu sein?“ Jede Störung – wie zum
17 Um die Anonymität zu wahren, wurde der Name des Pegeheims geändert.
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Beispiel Langsamkeit, Agnosie oder Apraxie – erzeugt Druck und Unbehagen beim Pegepersonal. • Rigide Zeitpläne und festgelegte Arbeitsablauforganisaon: Ebenso entstehen Probleme, wenn die alten Menschen Bedürfnisse äußern, die dem zeitlichen Staonsablauf oder den Vorstellungen des Pegepersonals zuwider laufen. Auch hier werden aggressionsgeladene Gefühle ausgelöst […]. (Förster 2008, 82). Je belastender die Bevormundung von einem Heimbewohner erlebt wird, desto mehr wird er sich – zur Wahrung seiner Würde – gegen das Pegeprogramm wehren. Je stärker der Arbeitsablauf den Bedürfnissen der Bewohner widerspricht, umso mehr wird die Mitarbeiterin Dankbarkeit vermissen, was wiederum dazu führen könnte, dass die seelische Distanz und Vernachlässigung noch größer wird. Der Teufelskreis dreht sich. (Ruthemann 1993, zit. in Seidel 2007, 39)
Jede Änderung in der Durchführung einer Pegemaßnahme muss argumenert und dokumenert werden. In der Pegeplanung von Frau Rosa steht zum Beispiel, dass sie einmal in der Woche, immer dienstags, geduscht werden soll. Frau Rosa will jedoch heute, Dienstag, nicht geduscht werden, da sie noch keinen Stuhlgang gehabt hat. Die Pegeperson Frau Berta, die den Wunsch von Frau Rosa respekeren möchte, muss das dokumeneren und sich dafür vor ihren Kollegen rech ergen. Der Wunsch von Frau Rosa stört den vorgesehenen Ablauf und ist daher nicht gerne gesehen. In der Pegeliteratur und Praxis gibt es insgesamt vier anerkannte Pegequalitätsstufen: • „Stufe 1: gefährliche Pege; der Bewohner erleidet Schaden.“ • „Stufe 2: Roune oder sichere Pege; der Bewohner wird versorgt, seine Selbständigkeit wird jedoch nicht gefördert, persönliche Gewohnheiten werden nur dann berücksichgt, wenn sie den Ablauf nicht stören.“ • „Stufe 3: angemessene Pege; der Bewohner erfährt Berücksichgung seiner persönlichen Bedürfnisse und Gewohnheiten, die Angehörigen werden regelmäßig informiert und nach Wunsch und Möglichkeit in die Pege einbezogen.“ • „Stufe 4: opmale Pege; der Bewohner erhält die Möglichkeit, die Pege akv mitzugestalten und selbst zu entscheiden, die Anforderungen entsprechen seinen Fähigkeiten.“ (Kämmer 1994, 134 f.)
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Nach diesen anerkannten Pegequalitätsstufen kann eine festgelegte Arbeitsablauforganisaon nur die Stufe 2 erreichen. Monk verwendete 1990 dafür den Ausdruck „Fließbandpege“ (vgl. Görgen 1999, 86). • Reglemenerte Hausordnung mit festen Schlaf- und Weckzeiten: Paenten/Bewohner/Klienten, besonders wenn sie eine Demenz haben, können sich nicht mehr an festgelegte Zeitordnungen halten. Viele leiden unter einer Tag-Nacht-Rhythmusumkehr. Ältere Menschen benögen o viel weniger Schlaf als jüngere. Sie werden, falls sie nicht mehr selbstständig sind, trotzdem am späten Nachmiag ins Be gelegt. Der Tagdienst muss bis 19 Uhr (Dienstwechsel) mit seiner Arbeit ferg sein. In einigen Häusern wird nach wie vor um 5 Uhr früh bei allen Paenten/Bewohner/Klienten Fieber gemessen und manchmal sogar die Ganzkörperpege durchgeführt. • Reglemenerte Beenbelegung: Manche Träger verpichten die Staonen, die Been innerhalb von 24 Stunden wieder zu belegen. Dies beeinusst die Entscheidung, wer mit wem in einem Mehrbezimmer liegt. In streng organisierten Abläufen werden die Zusammenlegungen einfach aufgrund von frei werdenden Been getroen. Es wird keine Rücksicht genommen auf unterschiedliche Demenzstadien, Gewohnheiten und Bedürfnisse der einzelnen Bewohner. Er [der Bewohner; M. W.-L.] fühlt sich o dauernder Kontrolle und Beobachtung durch den Mitbewohner ausgesetzt oder erfährt die interferierenden Tagesund Schlafrhythmen als störend und die Gewohnheiten der mitbewohnenden Person als schwer tolerierbar. (Meyer 1998, zit. in Seidel 2007, 43)
• Festgelegte Besuchszeiten: Wie sinnvoll sind streng festgelegte Besuchszeiten? Wer beharrt auf deren Einhaltung und – vor allem – warum? • Einschränkung der Privatsphäre: Wieviel persönliches Eigentum darf/ kann ein Paent/Bewohner/Klient in ein Alten- und Pegeheim mitnehmen? In den Bereich der Einschränkung der Privatsphäre gehört auch die Aberkennung von sexuellen Bedürfnissen: Ein Sonderfall der gesellschalichen Abwertung der Alterssexualität läßt sich in den Altersheimen feststellen. Der körperlich und o auch der (zusätzlich) geisg eingeschränkte Mensch verliert prinzipiell in der Heim- bzw. Pflegesituation
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seine Sexualität nicht. Der Bereich, sie zu erleben, wird dort aber o unnög stark eingeschränkt, so daß man nicht selten Ehepaaren gemeinsame Zimmer verweigert. (Rosenmayr 1996, 271 f.)
Joachim Bauer prägte 1999 den Ausdruck: „[T]heir only privacy is between their sheets“ (zit. in Görgen u. Nägele 2003, 53). Die strukturellen Vorgaben greifen eindeug in die sexuelle Selbstbesmmung von hochbetagten mulmorbiden Paenten/Bewohnern/Klienten ein. Privatsphäre und Inmität werden nicht nur erschwert, sondern o auch unmöglich gemacht. Gibt es in der Instuon ein Recht auf einvernehmliche Sexualität bei einwilligungsfähigen Paenten? Werden andererseits Verdachtsmomente, die auf Sexualdelikte hindeuten, wahrgenommen oder werden sie fahrlässig ignoriert? In einer Organisaonsstruktur, die vorrangig zum Zweck der wirtschalichen Orienerung entworfen wurde und in deren Rahmen standardisierende Qualitätsmanagements die Hauptrolle spielen, werden fast zwangsläug Pegemodelle verwendet, die weder kunden- noch mitarbeiterorienert sind. Die oberste Regel lautet ‚Der Betrieb muß laufen‘, und um dieser Regel willen dürfen alle anderen Regeln und Normen verletzt werden. […] Vieles, was im Pegeheim geschieht, ist von der Maxime des Funkonierens der Einrichtung besmmt und nicht von humanitären Erwägungen. (Görgen 1999, 73 f.)
Diese Überregulierung hat zur Folge, dass einerseits die persönlichen Kompetenzen sowie die Selbstbesmmung des Paenten/Bewohners/ Klienten eingeengt werden und andererseits die Mitarbeiter immer weniger Zeit mit den Paenten/Bewohnern/Klienten verbringen, weshalb sie sich nicht an deren Bedürfnissen orieneren können. Die mulmorbiden alten hilfsbedürigen Menschen können sich nur durch ein Verhalten wehren, das in der Pege als „herausfordernd“ bezeichnet wird. Eine Antwort auf dieses „herausfordernde“ Verhalten ist leider häug eine negave Psychologie im Sinne von Kitwood (vgl. das Kapitel über personelle Gewalt): Die Pegepersonen sehen keine Alternave zur Gewaltanwendung: Gewaltanwendung erscheint ihnen notwendig. Das Problem besteht also darin, dass das Verhalten der Pegepersonen von der Organisaon strukturell „normalisiert [wird], d. h. als nicht-abweichend gedeutet und gewertet [wird].“ (Görgen 1999, 73) Das Verhalten wird toleriert:
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Auf einer informellen Ebene wurden derarge Verhaltensweisen [Anschreien, Fluchen, Beleidigen, Lächerlichmachen etc., M. W-L.] von der Anstalt und dem leitenden Personal toleriert. (Görgen 1999, 73)
In diesem Zusammenhang stellt sich eine grundsätzlichere Frage: Können Pegemodelle großer Reichweite, die ausschließlich auf Akvitäten des täglichen Lebens ausgerichtet sind, überhaupt eine Hilfestellung bei der Pegediagnosk geben? Sind hier nicht eher Modelle mit kleiner Reichweite, die krankheitsbildspezisch entwickelt worden sind, hilfreicher? Konzepte wie NDB/„Need-driven demena-compromised behavior“ von Algase et al. (1996), Kitwoods personzentrierter Ansatz, Feils Validaon, Van der Kooijs Mäeuk oder Biensteins Basale Smulaon ermöglichen eine bessere Situaonsanalyse, auf deren Grundlage erst situaonsangemessene, individuelle Hilfeplanungen möglich und deren Zielsetzungen durchführbar werden. Ein Problem in diesem Zusammenhang ist sicherlich das fehlende Problembewusstsein der Pegedienstleitungen. Hierdurch kommt – wenn auch vielleicht unabsichtlich – eine weitere Variante von struktureller Gewalt ins Spiel, da die Pegepersonen mit Pegemodellen arbeiten müssen, die für die Praxis, für den Umgang mit mulmorbiden alten Menschen nicht geeignet sind. Chrisne Förster formuliert ihre Bedenken folgendermaßen: Beachtung muss auch den in den einzelnen Instuonen geltenden Pegemodellen geschenkt werden. Häug ist es so, dass in den Einrichtungen nach Modellen gepegt wird, die sich nicht an den Ressourcen und Kompetenzen der alten Menschen orieneren, sondern ihren Blick fast ausschließlich auf die Beeinträchgungen und Probleme der BewohnerInnen richten […]. (Förster 2008, 29)
Die Werte einer Organisaon spiegeln sich in der Auswahl des gelebten Pegeleitbildes und in den Zielvorgaben dieses gewählten Pegemodells wider. Die Pegedienstleitung ist für die Durchführung, die Steuerung und die Evaluaon verantwortlich. Sie gibt entsprechend die Werte und Haltungen vor. Hirsch nennt in seiner Triade der Gewalt noch andere Arten von struktureller prozesshaer Gewalt, zum Beispiel: • Mangelhae Diagnosk und Therapie: Eine solche kommt vor allem in Alten- und Pegeheimen vor, in denen kein Arzt angestellt ist. Die Folge ist unter anderem die mangelhae Therapie von Risikofaktoren
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wie Delir, Inkonnenz, Sturz und Depression. Dies hat zum Teil direkte Konsequenzen für die Lebensqualität der Paenten/Bewohner/Klienten – wie etwa mangelhae HNO-, opsche oder zahnärztliche Versorgung. Gute Rehabilitaonsplätze für mulmorbide alte Paenten sind selten. Die personzentrierte Begleitung von geriatrischen Paenten mit erhöhtem Delirrisiko ist kaum angedacht. Überleitungs-, Entlassungs- bzw. Case-Management sind noch nicht überall implemenert. • Mangelhae Lebensräume: Dies betrit besonders überdurchschnilich große Einrichtungen. Der Paent/Bewohner/Klient kann kaum Eigentum bei sich haben, da ihm nur ein Kastenteil und ein Nachtkasten zur Verfügung stehen. Die Gänge wurden architektonisch o relav eng konzipiert und müssen aus feuerpolizeilichen Gründen frei gehalten werden. Gelegentlich ist es schwierig, die Inmsphäre der Paenten/Bewohner/Klienten nicht zu verletzen. Der Paent/Bewohner/Klient muss o jahrelang mit anderen Menschen in einem Raum leben, die er sich als Mitbewohner nicht ausgesucht hat. • Sicherheit vor Lebensqualität: Aus Angst (… wovor?) werden freiheitseinschränkende Maßnahmen getroen. Es ist manchmal bequemer, von Vornherein pauschal etwas zu verbieten, als jedes Mal überlegen zu müssen, ob diesem Paenten/Bewohner/Klienten in dieser konkreten Situaon zugetraut werden kann, sein Fleisch allein schneiden zu können, in Begleitung einer Driperson einkaufen zu gehen etc. Dieses Sicherheitsdenken kann eine bevormundende Posion fördern bzw. Ausdruck einer solchen Posion sein: „Ich weiß, was für dich gut ist“: Wir haben Paenten, wenn wir denen nicht mit Gewalt … zu trinken gegeben häen, die wären schon längst weg … (Pegeperson, zit. in Förster 2008, 67)
Eine andere Spielart der Maxime „Sicherheit vor Lebensqualität“ ist die erzwungene Heimeinweisung. Das Angebot an alternaven Betreuungsformen wie zum Beispiel Wohngemeinschaen und Generaonshäusern ist sehr begrenzt. Die Möglichkeiten der Hauskrankenpege sind durch sehr enge Budgeerungsvorschrien schnell erschöp. Bauliche Rahmenbedingungen können ebenfalls freiheitsentziehende Maßnahmen fördern, die dann wiederum einen erheblichen Eingri in die Selbstbesmmung und Selbstständigkeit eines Pegebedürigen dar[stellen]. (Bayerisches Staatsministerium 2006, 6)
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Beispiele in diesem Zusammenhang: • Das Licht im Gang ist zu dunkel, der Bewohner/Paent/Klient ndet die Toilee nicht oder übersieht eine Türschwelle. • Das Licht wird aus Kostengründen und gegen den Willen eines Bewohners/Paenten/Klienten im Zimmer abgedreht, obwohl er in der Dunkelheit Angst hat und weglaufen möchte. • Gibt es einen Tre- und Ruhepunkt (Nachtcafé) für Paenten/Bewohner/Klienten, die nachts spazieren gehen? • Sind Gefahrenquellen wie Türschwellen en ernt worden? • Müssen Zimmertüren in der Nacht geschlossen sein? Ein Oenlassen könnte helfen, Ängste abzubauen. • Sind Hilfsmiel wie Sensormaen, Hüschutzhosen, Bodenmatratzen, Been mit extra Tiefstellung, Bewegungsmelder für Licht, die Stürze verhindern, in ausreichendem Ausmaß vorhanden? • Inhumane Arbeitsbedingungen: Darunter ist erstens das Vorenthalten der Begleitung und Einführung von neuen Mitarbeitern und Schülern (zum Beispiel durch Praxisbegleiter) zu verstehen, zweitens und vor allem das Ausnützen von Pegepersonen, die in erster Linie Geld verdienen müssen und sich ihren Arbeitsplatz nicht freiwillig aussuchen können. Da sie auf den Arbeitsplatz angewiesen sind, akzeperen sie es zum Beispiel, Lückenfüller im Dienstplan zu sein oder Überstunden zu leisten, obwohl diese Dienste nicht mit einem Familienleben zu vereinbaren sind. Wie viel Wertschätzung und Anerkennung erfährt dieses Personal? Du schast dich da tot für die Menschen und dann kommt Null Dankbarkeit … (Pegeperson, zit. in Förster 2008, 64) Also ich kann mich nicht erinnern, dass mich meine PDL mal gefragt hat: ‚geht‘s dir gut? Hast du irgendetwas auf dem Herzen?‘. ... Und das ist etwas, das ich vermisse. Oder … einfach mal ein Lob aussprechen. … so etwas kommt nicht. Man kriegt …. immer nur vorgekaut, was nicht in Ordnung ist, was nicht funkoniert und was schief gelaufen ist … (Pegeperson, zit. in Förster 2008, 83)
Wertschätzung und Lob sind aber notwendig für die eigene Wertschätzung und für die Eigenmovaon. Sie wirken gegen Gewaltanwendungen, indem die geleistete Arbeit anerkannt wird, was wiederum einem „Ausbrennen“ der Pegeperson entgegenwirkt. Die mangelnde Perspekve auf beruiche Weiterentwicklung kann Frustraon und Demovaon fördern, die auch Grundlagen für das Entstehen von Gewalt bilden.
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Die aus Frustraon entstandene Aggression kann sich verlagern und verschieben und somit eine andere Person treen als den eigentlichen Frustraonsauslöser. (Seidel 2007, 45)
Die frustrierte Pegeperson wandelt, bei entsprechender Persönlichkeit, ihre negave Frustenergie in Aggression gegen Schwächere um. Fällt es nicht in den Aufgabenbereich der Pegedienstleitungen, für eine entsprechende Personalentwicklung zu sorgen? Diese Aufgabe wird sie wahrscheinlich nur wahrnehmen, wenn ihr ihre Mitarbeiter etwas wert sind und sie diese nicht nur unter dem Aspekt der Funkonstüchgkeit betrachtet (vgl. Förster 2008, 93). [J]e autoritärer der Führungssl der Vorgesetzten gegenüber den Mitarbeitern ist, desto autoritärer werden auch die Mitarbeiter gegenüber den Paenten. Die Gewalt wird an die Nächstschwächeren weitergegeben. (Seidel 2007, 35)
• Unzureichende Kontrollinstanzen: Die Kontrollinstanzen sind zwar vorhanden, jedoch werden die Kontrollen erstens o vorangemeldet und zweitens nur hinsichtlich besmmter Aspekte durchgeführt. Es kommt vor, dass die Kontrollorgane selbst sagen: „Ja, ich sehe, dass die Pegequalität smmt, aber es wird nicht exakt genug dokumenert!“ Diese zunehmende Bürokrasierung kann auf das Pegepersonal sehr zermürbend wirken, besonders wenn die Personalressourcen knapp sind. Die Organisaonskultur kann so einengend sein, dass Mitarbeiter sich nicht trauen, beobachtete Gewaltanwendungen zu melden, da sie erstens Angst um ihren eigenen Arbeitsplatz und zweitens Angst vor Mobbing und dem Vorwurf des Verrates haben. • Monetäre Einschränkung vor professioneller Picht: Die wünschenswerte Vorrangigkeit von prävenven und rehabilitaven Maßnahmen, die Lebensqualität gewährleisten und Pegebedürigkeit vermeiden, kann in Widerspruch zu wirtschalichen Zielsetzungen des Pegeheimes treten. Denn durch gelungene rehabilitave Maßnahmen kann (und soll!) der Fall eintreten, dass ein alter Mensch verloren gegangene Fähigkeiten wieder erlangt. Dies führt in der Regel zu einer geringeren Pegestufe, wodurch die Instuon weniger Geld erhält. • Unzureichender Personalschlüssel: Markus Breitscheidel schätzte 2005, dass in Deutschland die Altenpegekräe rund neun Millionen Überstunden leisten, was umgerechnet in Vollzeitstellen ca. 5.000 Stellen entspräche (vgl. Breitscheidel 2005, zit. in Seidel 2007, 24). Wie überfordert und frustriert muss das Altenpegepersonal sein!
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[Die Kollegin] hae gerade zehn Tage am Stück am Buckel. Jeden Tag Schichtdienst, Wechseldienst, war ausgepowert. Die war vollkommen ausgepowert diese Frau. (Pegeperson, zit. in Förster 2008, 91)
Diese Überbelastung hat eine enorme Rückwirkung auf die gesamte Familie, wo doch bekannt ist, wie negav sich bereits normale Schichtdienste auf das Familienleben und die Freizeit auswirken. Eine akute Gefahr von Gewaltanwendung besteht besonders dann, wenn die Überforderungssituaonen lang andauern und in mehreren Bereichen bestehen, wenn Gefühle der Ausweglosigkeit vorherrschen und die Honung auf eine Änderung der Situaon aufgegeben wurde. (Seidel 2007, 53)
Die permanente Überforderung führt zu Reizbarkeit, einem Gefühl der Niedergeschlagenheit und der Resignaon, Verlust der Empathie, körperlicher, geisger und emoonaler Erschöpfung, besonders dann, wenn die Pegeperson ein Helfer-Syndrom hat. Dieses Bündel von Ursachen, die sich gegenseig beeinussen, kann wiederum zu Aggression gegen die und zu Gewalaten an den alten Menschen führen. Die Pegepersonen sind Opfer und Täter zugleich. Der durch Personalmangel entstehende Zeitdruck kann dazu führen, dass nur die nögsten Pegehandlungen (Pegequalitätsstufe 1) durchgeführt werden. Kurzfrisg können Pegepersonen damit gut umgehen, aber nicht, wenn ihre Überbelastung dauerha zur Kompensaon des Personalmangels dienen soll. Sie geraten in Intrarollenkonikte und Angst entsteht: „Ich bin den Anforderungen nicht gewachsen.“ Der Verantwortungsdruck steigt. Es fehlt nicht nur grundsätzlich an Personal, sondern auch der Schlüssel zwischen diplomierten Gesundheits- und Krankenpegepersonen und dem Pegehilfepersonal bzw. zwischen Pegehilfe und Heimhilfe ändert sich häug aus Kostengründen zu Gunsten des weniger qualizierten Personals. «Aus Spargründen wird das Pegefachpersonal zunehmend durch weniger qualiziertes ersetzt», krisiert Elsbeth Wandeler, Geschäsleiterin des Schweizerischen Berufsverbandes für Pegefachfrauen und Pegefachmänner (SBK). So werde zunehmend ausländisches Personal, vermehrt aus europäischen Ländern und aus Asien, zu einem eferen Stundenansatz beschäigt. Diese Pegerinnen seien jedoch im Umgang mit hochbetagten, gebrechlichen und mental eingeschränkten Heimbewohnerinnen o überfordert – nicht nur aus sprachlichen Gründen. «Wer Demenzkranke pegt, müsste auch den kulturellen Hintergrund der Paenten kennen.» (Bühlmann 2009)
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Diese zunehmende Ersetzung von Pegefachpersonal durch weniger qualiziertes Personal ist nichts anderes als eine (versteckte) Raonalisierung, die zu einer weiteren Belastung des Personals führt, denn je weniger Fachwissen über geriatrische Erkrankungen, insbesondere über Verhaltensauälligkeiten von Menschen mit Demenz, vorhanden ist, desto größer ist die Gefahr der Überforderung des Personals. Wenn Fachwissen fehlt, verwechseln Pegepersonen o Nicht-Können mit NichtWollen: Die Pegeperson glaubt, der Mensch mit Demenz will nicht, tut etwas mit Absicht nicht usw. Er kann aber nicht aufgrund seiner Demenz. Es kann dann sehr leicht zu Machtdemonstraonen sowohl auf Seiten des Menschen mit Demenz als auch auf Seiten der Pegeperson kommen. Eine Vertrauensbasis, die Grundvoraussetzung für ein Miteinander anstelle eines Gegeneinanders ist, kann nicht aufgebaut werden. Die meisten Trägerorganisaonen in Wien halten sich genau an die personellen Mindeststandards für das Betreuungs- und Pegepersonal des § 4 (1) der Durchführungsverordnung zum Wiener Wohn- und Pegeheimgesetz. Das Gesetz deniert die personellen Mindeststandards, sagt aber nichts über die normale Arbeitszeit der jeweiligen Berufsgruppen: 39, 40 oder mehr Stunden, die je nach Heimträger unterschiedlich sein kann. Drei Aspekte der strukturellen prozesshaen Gewalt werden etwas seltener genannt: Der Einsatz von elektronischen Überwachungen, mehrfache Umzüge innerhalb einer Einrichtung sowie die Kommunikaonskultur eines Unternehmens (zu letzterem s. zum Beispiel auch Hirsch 2001, 19 f.): • Was die elektronische Überwachung betrit, soll hier im Rahmen von struktureller Gewalt nur ein Aspekt kurz angeschnien werden. Nicht der Einsatz als solcher ist in Frage zu stellen, dieser ist ja neutral, sondern das Ziel des Einsatzes in einer Alten- und Pegeeinrichtung. Werden die Bewohner vor einer möglichen Selbstgefährdung geschützt oder ist die elektronische Überwachung vielmehr ein Miel, um Personalkosten zu sparen? • Zum Thema der mehrfachen Umzüge: In einigen großen Pegeheimen werden die Menschen mit Demenz zuerst auf einer Aufnahmestaon aufgenommen, wo eine Triage sta indet: Welche Betreuung benögt der Paent – ambulante, teilstaonäre, reakvierende und rehabilitave Pege oder doch die Betreuung einer Pegestaon? Kommt der Paent auf eine reakvierende und rehabilitave Staon, darf er dort
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bleiben, solange er noch gehen kann. Verschlechtert sich sein Zustand (was nahezu zwangläug geschieht, da Demenz eine fortschreitende unheilbare Krankheit ist), wird er verlegt. Eine Person, die in einer Krise ist und die sich aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr adaperen kann, wird also mit mindestens drei verschiedenen neuen Umgebungen mit je verschiedenen Betreuungspersonen konfronert. Ein anderes Problem in diesem Zusammenhang sind die bereits zum Teil angesprochenen Verlegungen innerhalb einer Staon aufgrund von Aufnahmen und Abgängen. Srbt in einem zentral geführten Haus zum Beispiel eine Person in einem Zweibezimmer, wo beide Menschen eine fortgeschriene Demenz haen, wird innerhalb von 24 Stunden eine neue Aufnahme vorbereitet. Die Neuaufnahme (die nächste Person auf der Warteliste) ist aber eventuell eine hochbetagte Person ohne Demenz. Es ndet eine Beenrochade sta. Diese mehrfachen Umzüge sind ein Risikofaktor für Sterblichkeit. • Fragen, welche die Kommunikaonskultur eines Unternehmens betreen, sind zum Beispiel: • Können sich Pegepersonen, wenn sie zum Beispiel beruiche Probleme haben oder emoonal überbelastet sind, an ihre Vorgesetzten wenden? • Werden Entscheidungen erklärt? Werden Pegepersonen in die Entscheidungsndung der sie betreenden Belange miteinbezogen? Dürfen sie mitgestalten und Ideen einbringen? Werden sie in die pegerische Ursachenanalyse und bei der Suche nach und Anwendung von Alternaven miteinbezogen? Werden Ängste und Vorbehalte, die durch Erneuerungen eintreten können, ernst genommen und durch Informaon abgebaut? • Dürfen Aggressionsereignisse dokumenert werden? Gewalt, die nicht dokumenert werden darf, wird mit der Zeit o nicht mehr als solche eingeschätzt. Es ndet eine Desensibilisierung sta und eigene Aggressionsmuster werden nicht mehr wahrgenommen. • Wird Supervision als Emoons- und Reexionsarbeit angeboten? • Sind interdisziplinäre Besprechungs- und Kommunikaonsstrukturen vorhanden und werden sie genutzt? • Sind die jeweiligen Verantwortlichkeiten klar geregelt? Ein anderes Problem der Kommunikaon wird dann ersichtlich, wenn hochbetagte mulmorbide Paenten/Bewohner/Klienten Zeugen von Gewalt werden und darüber berichten wollen. Thomas Görgen nennt fünf Faktoren, die in mehrfachem Sinne die Meldungen erschweren:
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Strukturelle Gewalt
Erinnerungen und wahnhae Vorstellungen überlagern und vermischen sich bei demenzkranken Bewohnern. Viele können sich schlecht oder gar nicht dierenziert arkulieren. Erinnerungen an Ereignisse, deren Zeuge die Person wurde, sind infolge geisger Abbauprozesse nicht vorhanden oder nicht mehr verfügbar. Sofern es sich um Angehörige des Pegepersonals als Täter handelt, sind die alten Menschen als Zeugen infolge ihrer Abhängigkeit von den Pegkräen leicht einzuschüchtern und zu manipulieren. Pegebedürigen Heimbewohnern wird in der Regel eine geringe Glaubwürdigkeit zugesprochen. (Görgen 1999, 82)
Dies düre umso mehr zutreen, je rigider die Organisaonsstrukturen sind, je geringer qualiziert das Pegepersonal ist und je weniger Vertrauensbeziehungen aufgebaut worden bzw. erwünscht sind. Hochbetagte mulmorbide Paenten/Bewohner/Klienten können o nur mehr nonverbal ihre Ängste ausdrücken. Sie werden insnkv versuchen, sich mit Schreien, Kratzen, Treten und Abwehren zu schützen, um die beobachtete Gewalt nicht am eigenen Leib zu erleben. Die Gefahr dabei ist, dass die Gewaltopfer dann als Auslöser von Gewalt gelten, dass nicht hinterfragt wird, wie es zu dieser schwierigen Situaon gekommen ist. Nicht die Situaon wird als schwierig eingestu, sondern der Paent. Dies wird auch im Team untereinander so kommuniziert: „Herr Mayer ist der Gewaltausübende.“ Daraus entwickelt sich eine Tratsch- und Klagerunde – Klagen über die Paenten, die zu ,Feinden‘ werden. (Petzold 1990, zit. in Görgen 1999, 93)
Es entwickelt sich eine Gewaltspirale. Das Pegepersonal reagiert dann eventuell mit missbräuchlichen Medikamentengaben und freiheitseinschränkenden Maßnahmen. Alle Beteiligten sind in einen Teufelskreis geraten. [D]as wechselseige Zusammenspiel der ungünsgen Verhaltensweisen bildet o einen Teufelskreis, in dem beide gefangen sind, solang keiner von beiden versucht, das Muster zu durchbrechen, oder solang falsche Lösungswege eingeschlagen werden. (Ruthemann 1993, zit. in Seidel 2007, 31)
Der alte mulmorbide Mensch mit Demenz jedoch kann sein Verhalten nicht mehr ändern.
92
Ein Beispiel
6.3 Ein Beispiel18 Im Haus Bruno stellt sich die Situaon folgendermaßen dar: 528 Wochenstunden des Pegepersonals dividiert durch 39 Wochenstunden Arbeitszeit, ohne Fehlzeiten, ergibt 13,53 Vollplanstellen für 23 Bewohner. Dies ergibt einen Pegepersonalschlüssel von 0,59 Vollplanstellen pro Bewohner. Die tatsächlichen Pegepersonalfehlzeiten betrugen 2005 für die Staon 22 %, obwohl es keine Amtswege- oder Pegeurlaubsstunden gab (die Pegepersonen haben entweder noch keine Familie oder die Kinder sind älter als 15). Die Gesam ehlzeiten der Staon lagen bei 21 % aller Kalendertage, während die Geschäsführung grundsätzlich von einem 18 %igen Fehlzeitanteil ausgeht. Ein möglicher Grund für Fehlzeiten könnte in der Überforderung des Pegepersonals liegen. Einige Bemerkungen lassen darauf schließen, wie zum Beispiel: Ich muss ef Lu einatmen, bevor ich in ein Zimmer pegen gehe, wenn ich ein paar Tage hintereinander in der Pege täg bin. (Protokoll vom 9. 12. 2005) Ich gehe immer wieder für ein paar Tage in Krankenstand, weil ich es nicht schae. (Protokoll vom 19. 12. 2005) Ich spüre ein verstärktes Aggressionspotenzial in mir ... – gegen mich selbst – ... weil ich nicht schae zu pegen, wie ich es möchte. (Protokoll vom 9. 1. 2006)
Die Fluktuaon auf der Staon 2005, die auch auf ein negaves Arbeitsklima schließen lässt, führte zu zwei Neueinstellungen: • Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester trat mit März 2005 eine Teilzeitstelle an (und ging, wie unten zu sehen ist, mit Dezember 2005 in Muerschutz). • Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester war im Januar 2005 mit 20 Wochenstunden täg geworden, ihr Posten wurde mit Anfang April 2005 zu einer Vollzeitstelle ausgebaut. und sechs Kündigungen bzw. Abgängen: • Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester in Teilzeit musste Anfang Dezember 2005 frühzeigen Muerschutz in Anspruch nehmen. • Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester wurde mit Ende Oktober 2005 entlassen, da sie die notwendige Voraussetzung, um in Österreich eine Arbeitsbewilligung zu erhalten, nicht rechtzeig erfüllt hae.
18 Zur Wahrung der Anonymität wurden sowohl der Name der Instuon als auch die Namen der Mitarbeiter geändert.
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Strukturelle Gewalt
• Eine Pegehelferin kündigte mit Ende September, da sie sich zu einer diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester weiter ausbilden, dabei aber keine Arbeitsverpichtung eingehen wollte. • Eine geringfügig angestellte diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester kündigte ihren Dienst mit Ende Juni 2005, da sie Familie und Beruf nicht miteinander vereinbaren konnte. • Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester und eine Pegehelferin kündigten mit Ende März 2005, da sie andere Berufspläne verfolgten. Diese hohe Fluktuaon erschwert die Konnuität und den Auau eines Vertrauensverhältnisses in der Basispege. Beides ist aber Voraussetzung für eine reibungslose Betreuung und Begleitung von mulmorbiden alten Menschen, besonders wenn sie eine Demenz haben. Nur auf Grundlage eines Vertrauensverhältnisses kann von Seiten des alten Menschen ein als herausfordernd eingestues Verhalten vermieden werden. Zwei Abteilungshelferinnen haben auf dem zweiten Bildungsweg die Ausbildung zur Pegehelferin absolviert. So konnte die eine bereits ab April 2005, die zweite ab Juni 2005 als Pegehelferin arbeiten. Sie wurden aber als Abteilungshelferinnen nicht ersetzt, da sonst aufgrund der Durchführungsverordnung – WWPG19 – § 6(2) das gesamte Betreuungs- und Pegepersonal erhöht häe werden müssen. Die 78 Wochenstunden der Abteilungshelfer können allerdings wiederum nicht den Dienstplan abdecken. Zusätzlich erschwerend kommt die bauliche Struktur der Staon hinzu, die sich auf zwei Stockwerke erstreckt. Eine diplomierte Gesundheits- und Krankenschwester, Frau Grubauer, berichtete: Die Zivildiener sind überfordert. Deswegen gehen sie so o in Krankenstand. Zusätzlich denken sie nicht ‚haushaltsmäßig‘ mit. Sie sehen vieles nicht. Somit müssen die zwei Abteilungshilfen viel aufarbeiten, was liegen geblieben ist. (Protokoll vom 9. 1. 2006)
Die tatsächlichen Fehlzeiten betrugen 2005 für die Zivildiener der Staon 21 %, bei jedoch sehr großen Schwankungen (von 10 % bis 53 %) im Verlauf des Jahres.
19 Wiener Wohn- und Pegegesetz (WWPG) LGBl 15/2005 vom 29. März 2005. Das Landesgesetzbla für Wien, 31. Verordnung: Mindeststandards von Pegeheimen und Pegestaonen, ausgegeben am 29. Juni 2005 (Durchführungsverordnung zum Wiener Wohn- und Pegeheimgesetz – WWPG). 15. Landesgesetz für Wien: das Wiener Wohn- und Pegeheimgesetz – WWPGausgegeben am 29. März 2005.
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Ein Beispiel
Dies bringt automasch Probleme mit sich: Da es nur zwei Abteilungshilfe-Vollplanstellen (für den 2. und 3. Stock) gibt, müssen Pegepersonen in deren Abwesenheit viel „Haushalts- und Hoteltägkeiten“ zusätzlich zu ihren genuinen Pegetägkeiten übernehmen. Dies ist eine Vergeudung von Material- und Personalressourcen, da einerseits die Pegepersonen für solche Tägkeiten überqualiziert sind und anderseits die Pege- und Hygienemiel aus Zeitmangel nicht richg eingesetzt werden können. Das führt auch zu Spannungen innerhalb des Teams, wie ein Protokoll der Teamsitzung vom 27. 10. 2005 verdeutlicht: Mitarbeiter berichten Frau [Pegedienstleitung, Name en ernt M. W-L.], dass in letzter Zeit häufig nur ein Abteilungshelfer oder Zivildiener für beide Geschosse im Dienst ist, und dadurch viel Arbeit den Pegepersonen bleibt, vor allem auch die Aufsicht der Bewohner in der Früh, während alle bei der Pege in den Zimmern sind. Frau [Pegedienstleitung, Name en ernt M. W- L.] sagt, dass der Stellenplan dafür bereits ausgeschöp ist. (Protokoll der Teamsitzung vom 27. 10. 2005)
Besonders nachdenklich smmt die Bemerkung: „vor allem auch die Aufsicht der Bewohner in der Früh, während alle bei der Pege in den Zimmern sind“. Denn diese Aussage lässt darauf schließen, dass üblicherweise die Abteilungshelfer und Zivildiener diese Aufsicht übernehmen. Hierbei ist aber Folgendes zu bedenken: Auch wenn der Abteilungshelfer, der im zweiten Stock Dienst leistet, die Bewohner und ihre Probleme gut kennt und auch wenn Pegepersonen schnell zur Stelle sein könnten, da sie sich in den Zimmern im selben Stock benden, stellt sich die Frage, ob es wirklich die Aufgabe eines Hilfsdienstes (Abteilungshelfer oder Zivildiener) ist, die Aufsicht über Bewohner zu übernehmen. Diese Aufsicht beinhaltet beispielsweise Sturzprävenon, aber auch die Flüssigkeitszufuhr und Ermugung zum Trinken, da die Bewohner sonst nicht genug Flüssigkeit zu sich nehmen würden. Sie sollen im Laufe des Vormiages zusätzlich zum Frühstücksgetränk 500 ml Flüssigkeit (Tee oder Sa) zu sich nehmen. Die Zielsetzung der Abteilungshilfestelle lautet: [Der Abteilungshelfer, M. W-L.] hat den Gesamtüberblick für Ordnung und Sauberkeit auf der Staon und sorgt für ein ansprechendes Ambiente und eine wohnliche Atmosphäre. (Stellenbeschreibung Stand 24. 2. 2005)
Sehr nachdenklich smmt auch ein Gespräch mit der diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester Frau Lanz, die sagte:
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Strukturelle Gewalt
Es ist jetzt so: Um den Tagesablauf zu schaen, müssen wir Bewohnern das Frühstück im Be geben, vor dem Waschen, da sie sonst erst um 9.30 bzw. sogar 10.00 das Frühstück bekommen würden. Das kann aber nicht sein. (Protokoll vom 19. 12. 2005)
Meiner [M. W-L.] Bemerkung, dass dieser Umstand zu mehr Pegebedürigkeit, sta zum Erhalt der eigenen Fähigkeiten führt, smmt Frau Lanz zu. Aber es geht nicht anders. Dasselbe gilt für die Körperpege. Bewohner werden gewaschen, da es nicht genug Zeit für Anleitung und Rhythmusanpassung gibt. (Protokoll vom 19. 12. 2005)
Auf meine [M. W-L.] Anfrage an Frau Oberin Magenbauer20 vom 29. 12. 2005, „ob es Empfehlungen gibt, wie der Personalschlüssel für eine Demenzstaon bei sicherer bzw. angemessener Pege aussehen soll“, erhielt ich folgende Antwort von Oberschwester Gabriele Thür: Zur personellen Ausstaung: Berechnungen oder Empfehlungen über erforderliches Pegepersonal für die Demenzstaonen sind mir nicht bekannt. In unserer angewendeten Personalbedarfsberechnung ndet sich die Betreuung von Demenzkranken in der Beschreibung von Akvitäten des täglichen Lebens. Unter Zuhilfenahme des Einstufungsschemas der Allgemeinen Pege werden die Ressourcen der Bewohner den vorgegebenen Bedürfnisbereichen zugeordnet.21
Ein Arbeitskreis hat 2004 Qualitätskriterien für die Betreuung dementer Menschen in den Heimen Niederösterreichs erarbeitet. Diese wurden nie oziell bekannt gegeben. In den Erläuterungen ist zu lesen: Rechenbeispiel: 30 Bewohner der Pegestufe 6 = 16,5 Pegepersonen plus 1 Staonsleitung plus 4 Personen in der Beschäigung = 21, 5 Personen. Pro Heimbewohner stehen 0,72 Personen zur Verfügung. (Erläuterungen 2004, 4)
20 Generaldirekon der Unternehmung Wiener Krankenanstaltenverbund. E-Mail vom 29. 12. 2005. 21 Oberschwester Gabriele Thür; Unternehmung Wiener Krankenanstaltenverbund, Teilunternehmung 4, Direkon Pegeheime der Stadt Wien: E-Mail vom 2. 1. 2006.
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Ein Beispiel
Die Begründung lautet: Es ist notwendig, zusätzlich zur schwierigen Körperpege (bei unprofessionellem Vorgehen, o bedingt durch Zeitnot, wehrt sich der demente Mensch vehement dagegen) Personal für die psychosoziale Betreuung und für die Beschäigung nach Arbeitsplatz zu berechnen. (Ebd.)
Eine Begründung, der ich [M. W-L.] fachlich nur zusmmen kann. Bei einem orienerten Bewohner kann die Pegeperson die Pegemaßnahme ankündigen, fragen, ob der Bewohner damit einverstanden ist, und ob sie diese Maßnahme jetzt durchführen darf. Diese Art der Kontaktaufnahme ist bei einem Bewohner mit Demenz nicht möglich. Die Pegeperson muss jedes Mal von Neuem versuchen, eine Beziehung zur inneren Welt des Bewohners aufzubauen. Erst wenn es durch den Kontakt gelingt, Vertrauen zu gewinnen, kann die Pegeperson überlegen, ob die Pegemaßnahme jetzt mit dem Bewohner durchführbar ist. Ein Beispiel: Pegeperson Frau Mayer möchte die Bewohnerin Frau Konrad bei der Körperpege anleiten und ihr helfen. Dies wird nur möglich sein, wenn Frau Konrad nicht gerade „ihre Kinder von der Schule abholen muss“. Sonst kann die Körperpege nur gegen den Willen von Frau Konrad und mit allen daraus resulerenden negaven Folgen sta inden. Diese Arbeitsweise – gegen die innere Welt von Frau Konrad – führt automasch zu einem verstärkten Rückzug, da die äußere Welt für sie mit negaven Signalen verbunden ist. Diese Pegeart – gegen den Willen von Frau Konrad – widerspricht den Validaons-, Mäeuk- oder basalsmulierenden Gedanken und ist für beide Beteiligten kräeraubend und nicht zufriedenstellend. Dieser immer wieder von Neuem aufzubauende Kontakt ist bei einem Bewohner mit Demenz sehr zeitaufwendig und muss in den Pegeaufwand mit eingerechnet werden. Wie dies zeitlich zu erfassen ist, kann nur in der konkreten Situaon festgestellt werden. Dies hängt einerseits von der Erfahrung, Kommunikaonskompetenz und Qualikaon der Pegeperson und anderseits vom Bewohner und vom Stadium der Demenz ab. Den oben genannten Personalschlüssel bestägt auch Primaria Marina Kojer22 in einem E-Mail vom 6. 1.2 006: Ich bin selbst einmal [...] durch Berechnung des durchschnilichen Zeitaufwands für die Pege und Betreuung hochbetagter Demenzkranker meiner Abteilung zu einem ähnlichen Ergebnis (Pegeschlüssel 1:07) gekommen. 22 Geriatriezentrum am Wienerwald – GZW, ehemaliger Abteilungsvorstand Pavillon 7, 1. Med. Abteilung für palliavmedizinische Geriatrie.
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Strukturelle Gewalt
Die Pegepersonalberechnung mit einem zugrunde liegenden Personalschlüssel von 0,70 Pegepersonen pro Bewohner mit Demenz scheint demnach sehr realissch. Wenn wir diese Überlegungen nun wieder an die Situaon im „Haus Bruno“ zurückbinden, lässt sich Folgendes festhalten: Die Einhaltung der Mindestpersonalbesetzung laut Wiener Wohn- und Pegegesetz ohne Berücksichgung der eekven Gesam ehlzeiten und der Pegequalität auf der Staon führen einerseits zu einer Überforderung des Personals und anderseits zu einer Pege, die die Bewohner zur Belägerigkeit zwingt. Die Organisaon schat durch ihre Personalpolik bewusst Rahmenbedingungen, die Gewaltanwendungen nicht nur zulassen, sondern auch fördern. Hier ist das Personal Täter und Opfer zugleich.
7. Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Institution – Geriatrische Gesundheitsförderung 23 „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ Paul Claudel (1934): Ecoute ma lle.
Personen mit Demenz bezahlen einen sehr hohen Preis, wenn tagtäglich kräeraubende „Machtkämpfe“ sta inden. Das Leben wird zur Qual. Die Personen mit Demenz reagieren mit Abneigung sowie Abwehr, und es zeichnet sich eine Zunahme der Fälle von Mulmorbidität in dieser Situaon ab. Das Bedürfnis nach Geborgenheit, Sicherheit und Sich-VerlassenKönnen wird nicht gedeckt. Sie werden o menschenverachtend behandelt, und die Integrität ihrer Persönlichkeit wird nicht anerkannt. Daher treten Personen mit Demenz o den Rückzug in ihre innere Welt an, um die Realität aushalten zu können. Doch auch die Pegepersonen leiden unter diesen Koniktsituaonen und haben darüber hinaus häug das Gefühl, aufgrund struktureller Zwänge gar nicht anders handeln zu können.
23 Die folgenden Ausführungen stellen eine überarbeitete Fassung des Kapitels „Geriatrische Gesundheitsförderung“ der Dissertaon von Monique Weissenberger-Leduc dar (vgl. Leduc 2007, 297–361).
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Strukturelle Gewalt
Die Pegepersonalberechnung mit einem zugrunde liegenden Personalschlüssel von 0,70 Pegepersonen pro Bewohner mit Demenz scheint demnach sehr realissch. Wenn wir diese Überlegungen nun wieder an die Situaon im „Haus Bruno“ zurückbinden, lässt sich Folgendes festhalten: Die Einhaltung der Mindestpersonalbesetzung laut Wiener Wohn- und Pegegesetz ohne Berücksichgung der eekven Gesam ehlzeiten und der Pegequalität auf der Staon führen einerseits zu einer Überforderung des Personals und anderseits zu einer Pege, die die Bewohner zur Belägerigkeit zwingt. Die Organisaon schat durch ihre Personalpolik bewusst Rahmenbedingungen, die Gewaltanwendungen nicht nur zulassen, sondern auch fördern. Hier ist das Personal Täter und Opfer zugleich.
7. Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Institution – Geriatrische Gesundheitsförderung 23 „Nichts kann den Menschen mehr stärken als das Vertrauen, das man ihm entgegenbringt.“ Paul Claudel (1934): Ecoute ma lle.
Personen mit Demenz bezahlen einen sehr hohen Preis, wenn tagtäglich kräeraubende „Machtkämpfe“ sta inden. Das Leben wird zur Qual. Die Personen mit Demenz reagieren mit Abneigung sowie Abwehr, und es zeichnet sich eine Zunahme der Fälle von Mulmorbidität in dieser Situaon ab. Das Bedürfnis nach Geborgenheit, Sicherheit und Sich-VerlassenKönnen wird nicht gedeckt. Sie werden o menschenverachtend behandelt, und die Integrität ihrer Persönlichkeit wird nicht anerkannt. Daher treten Personen mit Demenz o den Rückzug in ihre innere Welt an, um die Realität aushalten zu können. Doch auch die Pegepersonen leiden unter diesen Koniktsituaonen und haben darüber hinaus häug das Gefühl, aufgrund struktureller Zwänge gar nicht anders handeln zu können.
23 Die folgenden Ausführungen stellen eine überarbeitete Fassung des Kapitels „Geriatrische Gesundheitsförderung“ der Dissertaon von Monique Weissenberger-Leduc dar (vgl. Leduc 2007, 297–361).
M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Unmielbare Auslöser/
mielbare Auslöser
Wirkung
Konsequenzen
Agiertheit Bewohnerin 1
Beziehung
Bewohnerin
Unerfüllte Bedürfnisse Fehlinterpretaon
Aggressivität
Unbehagen
Vokale Störungen
Umhergehen Pegende 2
(Discomfort) Passivität Umgebung usw.
Andere 3
Ursachen- und Wirkungszusammenhänge von herausforderndem Verhalten (Halek u.
Bartholomeyczik 2006, 57, angelehnt an King 2005). Legende:
Bewohnerin 1: Stress, Frustraon, Stürze, Schlafstörungen, Gewichtsverlust, schlechte Lebensqualität u. v. m. Pegende 2: Stress, Frustraon, Belastung, Burn-out, Unzufriedenheit u. v. m. Andere 3: Steigende Kosten, höherer Pegebedarf und -aufwand.
Wollen die Bürger eine Entwicklung in Richtung Humanisierung und Normalisierung der Lebensqualität der betroenen Personen mit Demenz unterstützen, so müssen sie unter anderem den österreichischen Staat in die Picht nehmen. Österreich hat, als Mitgliedstaat der WHO, im Rahmen der im Mai 1998 verabschiedeten „Weltgesundheitserklärung“ folgende Verpichtung unterschrieben und sich festgelegt, „durch relevante regionale und naonale Konzepte und Strategien“ (WHO 1999, v) dieser Verpichtung Wirkung zu verleihen: Wir, die Mitgliedstaaten der Weltgesundheitsorganisaon (WHO), bekräigen unsere Verpichtung auf das in der WHO-Satzung verankerte Prinzip, daß es zu den Grundrechten eines jeden Menschen gehört, sich der bestmöglichen Gesundheit erfreuen zu können, und damit bekräigen wir zugleich die Würde und den Wert einer jeden Person und die für alle geltenden gleichen Rechte, aber auch das Prinzip, daß alle die gleichen Pichten und Verantwortlichkeiten für die Gesundheit haben. (WHO, 1999, v)
Hilfreich bei der Umsetzung könnte eine eziente geriatrische Gesundheitsförderung sein, die wir im Folgenden hinsichtlich ihres Gewalt verhindernden Potenals untersuchen wollen. Ein zentraler Aspekt im Rahmen eines personzentrierten Menschenverständnisses und der Pegephilosophie ist das Vertrauen in individuelle und gemeinschaliche Ressourcen und Potenziale. Egal wie krank, egal wie entstellt ein Mensch sein mag, er bleibt ein Mensch, der posive
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Handlungsbeiträge einbringt und eine innere Kra besitzt (wie auch immer sie genannt wird). Diese innere Kra als Prozess ist eine Ressource, die ein Leben lang anhält. Die Aufgabe des Pegepersonals besteht darin, die jeweilige innere Kra zu erkennen und zu unterstützen. The nursing role with older people who are ill or dependent is widely accepted, but for nurses to engage in health promoon work, with this age group is oen regarded as a ‚challenge‘. (Redfern u. Ross 2004, 195)
Um dieser Aufgabe nachkommen zu können, scheint die Verknüpfung von Paenten- und Personalorienerung unverzichtbar zu sein. Petra Botschaer-Leitner weist darauf hin, daß eine Umsetzung von mehr Paentenorienerung scheitern muß, wenn nicht die Bedürfnisse des Krankenpegepersonals mit in die Überlegungen einbezogen werden. (Botschaer-Leitner 1982, 40)
Beide Aussagen zusammen können als Grundlage für einen Lösungsansatz dienen. Die daraus resulerenden Fragen sind vor allem: • Was bedeutet die Umsetzung einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Personen mit Demenz? • Was bedeutet die Umsetzung einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das Personal? • Was bedeutet die Umsetzung einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Organisaon? • Welche Maßnahmen/Änderungen müssen getroen/vorgenommen werden? Bevor auf diese Fragen im Einzelnen eingegangen wird, sollen zunächst die Begrie Gesundheit und Gesundheitsförderung operaonalisiert werden, um den Rahmen der Diskussion in dieser Arbeit abzustecken.
7.1 Begriffsbestimmungen 7.1.1 esundheit Die erste Gesundheitsdenion der WHO ndet sich bereits in ihrer Verfassung aus dem Jahre 1946 (in Kra getreten 1948): Gesundheit ist der Zustand des völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbendens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen. (WHO 2009, 1)
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Begrisbesmmungen
Diese Denion schließt erstmalig den holisschen Ansatz bzw. die Ganzheitsbetrachtung inklusive Berücksichgung der bio-sozio-psychologischen Komponenten mit ein. Der Begri der Gesundheit wird nicht mehr rein körperlich betrachtet, sondern soll alle Akvitäten des täglichen Lebens mit einbeziehen. Entsprechend ist Gesundheit nicht gleichbedeutend mit Nicht-Kranksein, sondern diese Denion bezieht auch das Gefühl des Wohlbendens mit ein. Jürgen Pelikan und Stefan Wol u. a. allerdings krisieren, dass die Denion einerseits zu stasch und anderseits nicht operaonalisierbar sei (vgl. Pelikan u. Wol 1999, 13 .). Da die erste Denion von 1946 „ein Ideal aus(drückt), das das Ziel aller gesundheitlichen Entwicklungstägkeiten sein sollte (d. h. Gesundheit als ein Grundrecht des Menschen und als ein weltweites soziales Ziel)“, und dadurch keine „objekve Meßgröße“ zur Verfügung stellt, hat man eine „enger gefaßte Arbeitsdenion“ entwickelt (WHO 1999, 265): Die Verringerung der auf erkennbare Krankheiten oder Störungen zurückzuführenden Mortalität, Morbidität und Behinderung und die Verbesserung des subjekv empfundenen Gesundheitszustands. (WHO 1999, 265)
In unserem Kontext bedeutet dies, dass Gesundheit bei Personen mit Demenz hauptsächlich im Sinne von Wohlbenden verstanden werden muss, da die Krankheit „Demenz“ nicht heilbar ist. Der Begri des Wohlbendens wiederum stellt für ein biomedizinisches Paradigma ein gewisses Problem dar, da Wohlbenden nicht im üblichen Sinne messbar oder objekvierbar ist. Die biomedizinische, naturwissenschaliche Sicht des Begris „Gesundheit“ hat im Rahmen des Gesundheitssystems, der Zusammenarbeit zwischen Staat, Arbeitgebern, Krankenkassen und Ärztescha eine hohe gesellschaliche Bedeutung, die sich in Denk- und Entscheidungsprozessen manifesert. Besonders deutlich wird dies bei der ärztlichen Diagnosestellung. Diagnossche Entscheidungen bilden die Grundlage für die Übernahme der „Krankenrolle“ und einer abgesicherten Leistungsgewährung (vgl. Schwartz et al. 2003, 23 f.). Die soziale Einbindung von Gesundheit und Krankheit in individuelle Lebensweisen und Lebenslagen hingegen wird im biomedizinischen Denken eher ausgeblendet (vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Au lärung 1996, 15 f.). Konkret bedeutet das, dass das Erleben, die Empndungen der Person mit Demenz mit ihrer jeweiligen Biograe, ihrer Persönlichkeit, ihren Bewälgungsstrategien, ihren Gewohnheiten, Merkmalen und ihrem Alltag nicht
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
bzw. zu wenig berücksichgt werden. Tom Kitwood beschreibt dieses Paradigma folgendermaßen: Das Paradigma umreißt die Probleme, welche die Demenz umgeben, im wesentlichen auf eine technische Weise, wie es etwa ein Elektronikexperte mit einem defekten Computer oder ein Mechaniker mit einem liegengebliebenen Fahrzeug tun würde. (Kitwood 2000, 63)
Der biomedizinisch orienerte Pegeprozess kann nur standardisiert, vage und paentenfern gestaltet werden, da er das Erleben, die Empndung der Person mit Demenz mit ihrer Persönlichkeit, ihrem Charakter, ihren Gewohnheiten im Alltag und ihrem Hintergrund nicht berücksichgt. Die Einhaltung der rechtlichen Normen (GuKG 1997)24 sagt nichts über die Ezienz der Pege im Sinne von Erhaltung oder Verbesserung des Wohlbendens der Person mit Demenz, da diese Form der Ezienz gar nicht vorgesehen ist. Solange die medizinische Forschung keinen Durchbruch im Kampf gegen Demenzen erzielt, kann die Medizinpraxis für die betroenen Paenten nur wenig tun. Gerade für Personen mit Demenz (aber nicht nur für diese) erscheint uns demgegenüber die Gesundheitsdenion der Pegetheorekerin Bey Neuman treend zu sein: Sie betrachtet Pege aus der Systemperspekve nach Bertalany (1968) und deniert Gesundheit folgendermaßen: Gesundheit wird mit opmaler Systemstabilität gleichgesetzt, das heißt, mit einem größtmöglichen Zustand des Wohlbendens, der zu einem besmmten Zeitpunkt erreichbar ist. Gesundheit bewegt sich im Laufe des Lebens auf unterschiedlichen, wechselnden Niveaus innerhalb einer Bandbreite der Normalität […]. Gesundheit ist ein Ausdruck der Lebenskra, die für die Erhaltung und Stärkung der Integrität des Systems zur Verfügung steht. (Neuman zit. in: Schaeer et al. 1997, 223)
Klaus Hurrelmann hat auf Grundlage unterschiedlicher Gesundheitsdenionen der verschiedenen wissenschalichen Disziplinen eine neue Denion erarbeitet: Gesundheit ist ein Stadium, das einem Menschen Wohlbenden und Lebensfreude vermielt. (Hurrelmann 2003, 94)
24 108. Bundesgesetz: Gesundheits- und Krankenpegegesetz – GuKG . Ausgegeben am 19. August 1997.
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Begrisbesmmungen
Beide Denionen sollen uns als Grundlage dienen, da sie am besten geeignet erscheinen, um den Wirkungsrahmen der Pege innerhalb der Erkrankung Demenz zu beschreiben. Denn mit ihrer Hilfe kann sowohl das subjekve Erleben und die Geschichte der betroenen Person berücksichgt als auch auf die Stärkung von vorhandenen Gesundheitspotenzialen fokussiert werden. Darüber hinaus erscheint für die Pege von Personen mit Demenz ein Merkmal des Rahmenkonzepts „Gesundheit für Alle“ relevant, das in der Oawa Charta als Ziel formuliert wurde: Gesundheit als Prozess ist ein Grundrecht und ein fundamentales Menschenrecht (vgl. WHO 1999, 16). Die Anwendung des Menschenrechtsansatzes auf die Praxis der Gesundheitssysteme ist für den Gesundheits- und für den Menschenrechtsbereich relav neu. Er impliziert die Anerkennung einiger allgemeiner Rechte, die sich nicht explizit auf Gesundheit beziehen: • das Recht auf Gleichbehandlung und Freiheit von Diskriminierung, • das Recht auf freie, bedeutungsvolle und wirksame Teilhabe, • das Recht, Informaonen zu verlangen und zu erhalten, • das Recht, vom wissenschalichen Fortschri und seinen Anwendungen zu proeren, • das Recht auf eine gesunde physische und soziale Umwelt, • das Recht auf reines Wasser, sichere Nahrung und geeignete Wohnung und • das Recht auf Privatsphäre. (WHO 2005, § 92)
Diese Rechte haben zuletzt Einzug in die Rechtsnormen Österreichs gefunden, unter anderem ins Wiener Wohn- und Pegegesetz (WWPG) LGBl 15/2005 vom 29. März 2005 und ins Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG), 11. Bundesgesetz, ausgegeben am 27. Februar 2004. Da Gesundheit von sehr vielen (sozio-ökonomischen, öko-kulturellen, polischen, etc.) Faktoren abhängig ist, verlangt die Achtung des Rechts auf Gesundheit die Einhaltung der Menschenrechte. Hierbei besteht ein dreifacher Zusammenhang: • Direkte Menschenrechtsverletzungen können eindeuge und o schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroenen haben. • Die Art der Gestaltung oder Umsetzung mancher öentlicher Gesundheitskonzepte und -programme kann zu indirekten Menschenrechtsverletzungen führen. • Gesundheit ist direkt oder indirekt eine Voraussetzung für die meisten anderen in internaonalen Verträgen anerkannten Menschenrechte. Bei beeinträchgter Gesundheit kann es für Menschen schwierig sein, ihre Rechte als vollwerge Mitglieder ihrer Gemeinscha auszuüben. (WHO 2005, § 94)
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Die beiden oben genannten Gesetze waren unter anderem eine Reakon auf immer wiederkehrende Verletzungen der Menschenrechte von alten und hochbetagten Menschen. 7.1.2 esundheitsförderung Der Begri der Gesundheitsförderung der WHO, formuliert etwa in der „Oawa-Charta zur Gesundheitsförderung“ (1986), handelt von Werten. Gesundheitsförderung war und ist die Grundlage für ein umfassendes Programm gesundheitsbezogener Intervenonen und für viele bis heute anhaltende Diskussionen. Die WHO deniert esundheitsförderung (Health Promoon) folgendermaßen: Der Prozeß, durch den der einzelne Mensch und die Gemeinscha dazu befähigt werden, die Determinanten von Gesundheit besser zu steuern und dadurch ihre Gesundheit zu verbessern. Ein dynamisches Konzept, das die Förderung von Lebensweisen und anderen sozialen, wirtschalichen, umweltbezogenen und persönlichen Faktoren umfaßt, die alle gesundheitszuträglich sind. Gesundheitsförderung zielt auf einen Prozeß, allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbesmmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen. (WHO 1999, 266)
Die Oawa-Charta stellt eine Verbindung zwischen dem Begri der Gesundheitsförderung und dem Begri des Wohlbendens her. Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbenden zu erlangen, ist es notwendig, daß sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Honungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. sie verändern können. (WHO 1986)
Gesundheitsförderung basiert für die WHO vorrangig auf zwei Grundlagen und auf drei Werten. Bei den zwei Grundlagen handelt es sich um Intersektorialität und Empowerment. Intersektorialität bedeutet die Einbindung von Gesundheit als Handlungsziel in eine Vielzahl von polischen Bereichen; Empowerment wird als lebensweltbezogene Denion dargestellt, d. h. als die Stärkung von Kompetenz in Bezug auf die eigene Gesundheit (vgl. Schwartz et al. 2003, 182). Die WHO deniert Empowerment for health folgendermaßen: In health promoon, empowerment is a process through which people gain greater control over decisions and acons aecng their health. (WHO 1998)
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Begrisbesmmungen
Entsprechend soll Empowerment hier als professionelle Unterstützung von Selbstbesmmung und Selbstgestaltung, als Entwicklungsprozess betrachtet werden: Empowerment ist in diesem Wortsinn programmasches Kürzel für eine psychosoziale Praxis, deren Handlungsziel es ist, Menschen das Rüstzeug für ein eigenverantwortliches Lebensmanagement zur Verfügung zu stellen und ihnen Möglichkeitsräume aufzuschließen, in denen sie sich die Erfahrung der eigenen Stärke aneignen und Muster solidarischer Vernetzung erproben können. (Herriger 2006, 11 f.)
Das Empowerment-Konzept verabschiedet sich von der Dezitorienerung und richtet den Blick auf die Selbstgestaltungskräe. Mit ihm konzentriert man sich auf die Fähigkeiten des Menschen. Eine der Fähigkeiten der Person mit Demenz ist es, auf einer nonverbalen Ebene zu kommunizieren. Die Aufgabe der Pegepersonen sehen wir entsprechend in der Erschließung von Möglichkeitsräumen in der Mikrowelt des Pegealltags. Sie sollen die Person mit Demenz bei dem Versuch, ihre Gefühle, ihr Erleben, ihre Sorgen und ihre Freude auszudrücken, unterstützen. Die nonverbale Kommunikaon ist als Ressource der Person mit Demenz zu betrachten, mit deren Hilfe Veränderungen in belastenden Ist-Situaonen erreicht werden können. Unterstützung bedeutet in diesem Zusammenhang beispielsweise • akves Zuhören, • Wahrnehmung der nonverbalen Signale, die die Person mit Demenz permanent sendet, • Ermugung, eigene, vielfach verschüete, non-verbale Ressourcen einzusetzen, • Vertrauen in die Stärken jedes Menschen, • Förderung der Selbstbesmmung, etwa bei dem Versuch, allein zu essen, sich anzuziehen, auf die Toilee zu gehen, • Vorzeigen, wie einfache Handlungen ablaufen, wie verschiedene Utensilien benützt werden, • Erlauben der von den Gesellschasnormen abweichenden Verhaltensweisen, wie zum Beispiel das Essen mit den Fingern oder das Tragen bunter Kleiderkombinaonen, • Rhythmusanpassungen. Die drei Werte, auf denen die Gesundheitsförderung der WHO vor allem beruht, sind Folgende: Chancengleichheit, Solidarität und Teilhabe.
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
• Chancengleichheit (Equity) bedeutet, dass die Gesundheitsdienste gerecht auf die Bevölkerung verteilt sind. Das bedeutet, dass arme und andere vulnerable sowie gesellschalich an den Rand gedrängte Gruppen Priorität erhalten. Auf Chancengleichheit beruhende Gesundheitssysteme tragen zur Selbstbesmmtheit und zur gesellschalichen Einbeziehung solcher benachteiligten Gruppen bei. (WHO 2005, § 35)
Chancengleichheit in der Pege von Personen mit Demenz kann auf zwei unterschiedliche Weisen verstanden werden: Chancengleichheit in Bezug auf den Prozess: Alle Personen mit Demenz sollen als Bürger die gleiche Chance auf den Zugang zu Gesundheitsdiensten haben, die auf ihre individuellen Bedürfnisse zugeschnien sind. (WHO 2005, § 101)
Chancengleichheit in Bezug auf das Ergebnis: Die Rahmenbedingungen, die der Staat unter anderem durch Gesetze, Finanzierung vorgibt, ermöglichen, das gesundheitliche Potenzial von Angehörigen benachteiligter Gruppen auf das Niveau der übrigen Bevölkerung zu bringen. (WHO 2005, § 101)
Für die Gesundheitspolik bedeutet die Chancengleichheit als normaver25 ethischer Wert, dass sie die Rahmenbedingungen schaen muss, um eine gerechte Verteilung von Ressourcen und Zugangsmöglichkeiten zum Gesundheitswesen (die Pege von Personen mit Demenz gehört dazu) in und unter verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Gleichzeig muss sie dafür sorgen, dass jegliche Form von Diskriminierung verhindert wird. Ob dies derzeit im österreichischen Gesundheitssystem der Fall ist, ist zu bezweifeln, insbesondere solange die Budgeerung von intramuraler und extramuraler Pege in verschiedenen Händen liegt. Chancengleichheit im Gesundheitswesen bedeutet auch, dass die Bereiche Gesundheitsversorgung, Prävenon, Gesundheitsförderung und öentliche Gesundheit gleichwerg behandelt werden. Derzeit ist es zum Beispiel nicht möglich, besmmte medikamentöse Therapien im Frühstadium der Demenzerkrankung einzusetzen, da die Krankenkasse in diesem Bereich die Finanzierung von Gesundheitsleistungen durch die öentliche Hand nicht vorsieht. Die Einnahme dieser Medikamente im Frühstadium der Demenz ist dadurch von den nanziellen Ressourcen der Betroenen ab25 Normav: „Bezeichnung für wertende (evaluave) oder vorschreibende (präskripve) Urteile oder sprachliche Ausdrücke.“ (Metzler Philosophie-Lexikon 1999, 406)
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Begrisbesmmungen
hängig. Dies widerspricht eindeug dem Begri der Chancengleichheit, wie ihn die WHO versteht. • Solidarität Im GFA26-Zusammenhang bedeutet Solidarität, dass jeder nach seinen Fähigkeiten zum Gesundheitssystem beiträgt. [...] Solidarität kann als ein Weg zur Sicherung von Chancengleichheit gesehen werden. (WHO 2005, § 36)
Hierdurch werden natürlich auch die Pegenden als Berufsgruppe angesprochen. Eine zentrale Aufgabe professioneller Kranken- und Gesundheitspege ist in diesem Rahmen die Unterstützung der Personen mit Demenz und ihres sozialen Umfelds, damit das Wohlbenden erhalten oder sogar gefördert wird. Betrachtet man die Denion von professioneller Pege, die für die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaen (SAMW) entwickelt wurde, nden wir den WHO-Ansatz wieder: Professionelle Pege fördert und erhält Gesundheit, beugt gesundheitlichen Schäden vor und unterstützt Menschen in der Behandlung und im Umgang mit Auswirkungen von Krankheiten und deren Therapien. Dies mit dem Ziel, für betreute Menschen die bestmöglichen Behandlungs- und Betreuungsergebnisse sowie die bestmögliche Lebensqualität in allen Phasen des Lebens bis zum Tod zu erreichen. (Spichiger et al. 2006, 51)
• Teilhabe Die akve Beteiligung von Akteuren des Gesundheitssystems, darunter sowohl Einzelpersonen als auch Organisaonen, verbessert die Qualität der Entscheidungsndung im Bereich öentlicher Gesundheit. (WHO 2005, § 37)
Teilhabe bedeutet auch, dass Personen mit Demenz ihre Zugehörigkeit zu den Alltagswelten nicht abgesprochen wird. Das heißt, dass sie nicht in „Gheos“ isoliert werden. Sie bedürfen genauso einer achtenden Anerkennung durch die Gesellscha wie Menschen ohne eine Demenz. Sie sind volle Mitglieder der Gesellscha und dadurch haben sie Anspruch auf Chancengleichheit, Solidarität und Teilhabe. Die drei Werte Chancengleichheit, Solidarität und Teilhabe wirken sich direkt auf die Finanzierung des Gesundheitssystems, den Zugang zu Gesundheitsdiensten, die Bemühungen um die Verbesserung der öentlichen Gesundheit und die Entwicklung qualitav hochwerger Programme in diesem Sektor aus. (WHO 2005, § 38)
26 Gesundheitsförderungsansatz
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Wie sollen diese Werte nun umgesetzt werden? In der Oawa-Charta werden drei grundlegende Strategien empfohlen: 1. Interessen vertreten27, 2. Befähigen und Ermöglichen28, 3. Vermieln und Vernetzen29. Konkreter formuliert, sind für ein „[a]kves, gesundheitsförderndes Handeln“ Maßnahmen in fünf Handlungsbereichen nög (WHO 1986): • „Entwicklung einer gesundheitsfördernden Gesamtpolik“ (WHO 1986): Darunter ist unter anderem die Frage der Ressourcenverteilung zu verstehen: Wer zahlt wie viel wofür und wann? Wie viel ist die Altenbetreuung der Gesellscha wert? • „Gesundheitsförderliche Lebenswelten schaen“ (WHO 1986): Bezogen auf unser Thema bedeutet dies etwa Folgendes: Die Aufgabe der professionellen Pege in der Pege von Personen mit Demenz muss auf einer vertrauensvollen Beziehung zwischen betreuten Personen mit Demenz und Pegepersonen beruhen, die wiederum auf Empathie, Zuwendung, Einfühlungsvermögen und Anteilnahme basiert. Diese oene Beziehung ermöglicht es, die Ressourcen beider Interakonspartner wahrzunehmen und das Wohl beider zu en alten. Gemeinsam suchen und xieren sie konkrete kurz-, miel- und langfrisge Ziele, um die Lebensqualität beider zu unterstützen – die Lebensqualität für die Person mit Demenz, aber auch Lebensqualität in der Arbeit der Pegepersonen. Gesundheitsförderliche Lebenswelten zu schaffen bedeutet, dass die Lebenswelten staonär betreuter Personen mit 27 „Ein guter Gesundheitszustand ist eine wesentliche Bedingung für soziale, ökonomische und persönliche Entwicklung und ein entscheidender Bestandteil der Lebensqualität. Polische, ökonomische, soziale, kulturelle, biologische sowie Umwelt- und Verhaltensfaktoren können alle entweder der Gesundheit zuträglich sein oder auch sie schädigen. Gesundheitsförderndes Handeln zielt darauf ab, durch akves anwaltschaliches Eintreten diese Faktoren posiv zu beeinussen und der Gesundheit zuträglich zu machen.“ (WHO 1986) 28 „Gesundheitsförderung ist auf Chancengleichheit auf dem Gebiet Gesundheit gerichtet. Gesundheitsförderndes Handeln bemüht sich darum, bestehende soziale Unterschiede des Gesundheitszustandes zu verringern sowie gleiche Möglichkeiten und Voraussetzungen zu schaen, damit alle Menschen befähigt werden, ihr größtmögliches Gesundheitspotenal zu verwirklichen. Dies umfaßt sowohl Geborgenheit und Verwurzelung in einer unterstützenden sozialen Umwelt, den Zugang zu allen wesentlichen Informaonen und die En altung von prakschen Fergkeiten als auch die Möglichkeit, selber Entscheidungen in bezug auf die persönliche Gesundheit treen zu können. Menschen können ihr Gesundheitspotenal nur dann weitestgehend en alten, wenn sie auf die Faktoren, die ihre Gesundheit beeinussen, auch Einuß nehmen können. Dies gilt für Frauen ebenso wie für Männer.“ (WHO 1986) 29 „Der Gesundheitssektor allein ist nicht in der Lage, die Voraussetzungen und guten Perspekven für die Gesundheit zu garaneren. Gesundheitsförderung verlangt vielmehr ein koordiniertes Zusammenwirken unter Beteiligung der Verantwortlichen in Regierungen, im Gesundheits-, Sozial- und Wirtschassektor, in nichtstaatlichen und selbstorganisierten Verbänden und Iniaven sowie in lokalen Instuonen, in der Industrie und in den Medien. Menschen in allen Lebensbereichen sind daran zu beteiligen als einzelne, als Familien und als Gemeinschaen. Die Berufsgruppen und sozialen Gruppierungen sowie die Mitarbeiter des Gesundheitswesens tragen große Verantwortung für eine gesundheitsorienerte Vermilung zwischen den unterschiedlichen Interessen in der Gesellscha.“ (WHO 1986)
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Begrisbesmmungen
Demenz und die Arbeitswelt der Pegepersonen in einem Rahmen sta inden können, der das Wohlbenden aller Beteiligten berücksichgt. Die Trägerorganisaonen sind aufgefordert, Rahmenbedingungen zu schaen, die physische, psychische, spirituelle, lebensweltliche sowie soziokulturelle Erfahrungen der Bewohner und der Mitarbeiter respekeren und ethische Richtlinien berücksichgen. • „Gesundheitsbezogene Gemeinschasakonen unterstützen“ (WHO 1986): Darunter ist unter anderem zu verstehen, dass sich der Staat, die Länder und die Gemeinden gemeinsam mit Experten der gerontopsychiatrischen Betreuung und Pege Gedanken über den Ist-Zustand und den Soll-Zustand der Altenbetreuung in 10, 20, 30 Jahren machen. Welche Arten von Einrichtungen im weitesten Sinn müssen in 10, 20, 30 Jahren zur Verfügung gestellt werden, um den verschiedenen Bedürfnissen der Altenbetreuung zu entsprechen? Welche Pegepersonen werden wir in 10, 20, 30 Jahren benögen, um beispielsweise Migranten der zweiten oder drien Generaon betreuen zu können? • „Persönliche Kompetenz entwickeln“ (WHO 1986): Hierin sehen wir zum Einen die persönlichen und fachlichen Kompetenzen der Pegepersonen angesprochen. Zum Anderen aber sollte man nicht vergessen, dass Personen mit Demenz im Lauf ihres Lebens Strategien entwickeln, die es ihnen ermöglichen, Probleme, Krisen, Herausforderungen und Überforderungen zu meistern. Diese Strategien gilt es innerhalb des biograschen Assessments zu entdecken, wahrzunehmen und im Alltag individuell zu nützen, um „dadurch den Menschen [zu] helfen, mehr Einuß auf ihre eigene Gesundheit und ihre Lebenswelt auszuüben und […] ihnen zugleich [zu] ermöglichen, Veränderungen in ihrem Lebensalltag zu treen, die ihrer Gesundheit zugute kommen“ (WHO 1986). • „Die Gesundheitsdienste neu orieneren“ (WHO 1986): In diesem Zusammenhang ist die Frage zu stellen, ob wir (die Gesellscha, die Leistungsträger, das Personal im Gesundheitswesen) zu einem Paradigmenwechsel bereit sind. Einem Paradigmenwechsel • von einem vorrangig biomedizinischen, naturwissenschalich orienerten zu einem holisschen Gesundheitssystem; • vom dezitorienerten zum ressourcenorienerten Pegeprozess; • von einer Systemorienerung hin zu einer Personorienerung; • von Paenten/Klienten/Bewohner-Orienerung zur Mitarbeiterund Paentenorienerung; • von der Schwerpunktsetzung „Lebensunfähigkeit und Hilosigkeit“ zu Empowerment als dem „Ansen zur (Wieder-)Aneignung von
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Selbstbesmmung über die Umstände des eigenen Lebens“ (Herriger 2006, 8); • von einer nur wissenschasbasierten technisch-instrumentellen Professionalität zu einer darüber hinaus personalen und auf sozialen Ressourcen basierenden Professionalität; • von einer Förderung der Machtlosigkeit und Fremdbesmmung zur Förderung der Selbstbesmmung; • von der Frage: „Was macht Menschen krank?“ zur Frage: „Was erhält Menschen gesund?“ Die verschiedenen Ebenen der Gesundheitsförderung sind die Ebene der Individuen, der Gruppen, der Instuonen, des Gemeinwesens und der Polik. In dieser Arbeit interessieren uns insbesondere drei Ebenen: die individuelle, personenbezogene Ebene (zum Beispiel Kompetenzförderung), die gruppenspezische Ebene (Netzwerkförderung, Auau sozialer Unterstützung, Verbesserung der Arbeitssituaonen) sowie die instuonelle Ebene (systemische Personal- und Organisaonsentwicklung, betriebliche Gesundheitsförderung).
Person
Problem- und Risikostrukturen (interne und externe)
Ressourcen und Potenziale (interne und externe)
Gesundheit: Fähigkeit zur Problemlösung
Gesundheitsförderung: Unterstützung und Förderung dieser Fähigkeit Prinzipien
Risikostrukturen vermindern
Ressourcenarbeit
Empowermentprozesse in Gang setzen
Modell der salutogenesch orienerten Gesundheitsförderung (Brieskorn-Zinke 2004, 94) Legende zur Abbildung:
Risikostrukturen vermindern: Umwelt, Arbeit, Leben etc. Ressourcenarbeit: entdecken, fördern, erweitern, Dezite feststellen etc. Empowermentprozesse in Gang setzen: befähigen und ermöglichen, vermieln und vernetzen, Interessen vertreten.
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Personen mit Demenz
7.2 Konsequenzen einer effizienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Personen mit Demenz Dieser Aspekt kann in folgende Frage umformuliert werden: Was bedeuten Wohlbenden bzw. Lebensqualität in der Pege von Personen mit Demenz? Empowerment unterstützt die Person mit Demenz bei der Suche nach Kräen sowie nach eigener Wergkeit, die ein „besseres Leben“ ermöglichen. Worin ein „Mehr an Lebenswert“ besteht, kann nur die Person mit Demenz im Rahmen ihrer Lebenseinstellungen, Prioritätenskalen, Grundüberzeugungen besmmen. Ein „Mehr an Lebenswert“ ist dadurch eine oene, individuelle, normave Form. Die Person mit Demenz wird (wieder) zur Regisseurin der eigenen Biograe und zur Expern in eigener Sache. Die Gesundheitsförderung muss sich auf die Movaon und auf die Erwartungen der Person mit Demenz beziehen. Parzipaon und Selbstständigkeit werden gefördert. Einige Faktoren scheinen unentbehrlich zu sein, damit eine gute Betreuung im letzten Lebensabschni im intramuralen Bereich sta inden kann: • Eingehen auf die Bedürfnisse und/oder Ressourcen der Person mit Demenz. Zum Beispiel Eingehen auf Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme oder Nahrungsverweigerung, Respekt, Anerkennung der kulturellen und spirituellen Wünsche oder soziale und emoonale Unterstützung im Alltag. Die Wahrnehmung der nonverbalen Kommunikaon als Ressource der Person mit Demenz, sich zu arkulieren und ihrem Willen oder Unwillen eine Ausdrucksmöglichkeit zu geben. Was könnten Aggressivität, rastlose Unruhe, Schreien oder Fluchendenz bedeuten? Grundsätzlicher formuliert: Es soll ein Raum geschaen werden, in dem der Bewohner als Person nicht nur wahr-, sondern auch ernst genommen wird, in dem er sich wohl fühlt und seinen Weg in seinem Rhythmus gehen kann. • Eine Umgebung schaen, die Berechenbarkeit, Sicherheit und Geborgenheit als Grundcharakterisk aufweist. Dies ist verbunden mit dem Wunsch nach Inmsphäre und der Möglichkeit, Angehörige und Bekannte zu sehen. Dass eine intramurale Instuon ein „Zuhause“ ersetzen kann, ist wohl unrealissch, aber ihre Mitarbeiter können sich tagtäglich bemühen, adäquate Rahmenbedingungen zu erzeugen. Von
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zentraler Bedeutung ist hierbei die Frage, inwieweit der Bewohner mit Demenz seinen Tagesablauf selbst besmmen darf bzw. inwieweit die Lebensgewohnheiten des Bewohners im Tagesablauf berücksichgt werden. • Unterstützung der Angehörigen, falls diese bereit sind, Kontakt zu pegen, unter anderem durch Informaonen über den Krankheitsverlauf und den Sterbeprozess oder durch Validaons- und Gesprächsrunden. Verees Wissen hil, Situaonen klarer zu sehen und Varianten zu analysieren. Dies soll ihnen ermöglichen, Entscheidungen des Bewohners mitzutragen oder diese im Sinne des Bewohners zu treen (besonders, wenn sie dessen Sachwalter sind). • Individuelle fachkompetente Betreuung. Sie ist direkt abhängig vom Betreuungsteam und beinhaltet zum Beispiel die genaue Evaluaon der täglichen Wünsche, Ressourcen und Bedürfnisse des Bewohners sowie die Fähigkeit, akv zuzuhören. Ein weiterer Faktor der Betreuungsqualität besteht darin, prägende Ereignisse der Lebensgeschichte des Bewohners zu kennen (Angehörige als Informaonsträger), Copingstrategien, die der Bewohner im Lauf seines Lebens entwickelt hat, zu verstehen und ihre Umsetzung in der Bewälgung des Heute und Hier nachvollziehen zu können. Wenn Herr Katzenberger sehr stolz darauf ist, was er in seinem Leben erreicht hat (er ist vom einfachen Hilfsarbeiter zum Kommerzialrat aufgesegen und hat immer sehr viel Wert darauf gelegt, mit „Herr Kommerzialrat“ angesprochen zu werden), dann kann und darf das Betreuungspersonal nicht versuchen, dadurch eine Kommunikaon aufzubauen (die noch dazu als Vertrauensbasis dienen soll), dass es ihn mit „Papi“ anspricht. Hingegen wenn Frau Perl mit Leib und Seele Kindergärtnerin war, dann wird sie heute das Betreuungspersonal sehr wahrscheinlich als „ihre“ Kindergartenkinder betrachten. Hier wird das Personal eine Beziehung auauen können, wenn es sie respektvoll mit „Tante Poldi“, wie sie in ihrem langjährigen Berufsleben genannt wurde, anspricht. Möglicherweise wird man sie in die Bastelrunde, die die Dekoraon für die Feste vorbereitet, einbeziehen können, denn das hat sie ihr Leben lang gerne gemacht. Herr Zuber war im Holzgeschä täg. Er hat den Naturjahreskreisen gemäß gelebt. Eine Beschäigung mit Erde im Therapiegarten oder Töpferarbeiten könnten ihm möglicherweise Sicherheit vermieln, aber nur, wenn er seinen Beruf auch gern ausgeübt hat. Wenn eine Person ihren Beruf als Belastung erlebt hat, dann wird es ihr sehr wahrscheinlich keine Freude bereiten, wenn sie ständig daran
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Personen mit Demenz
erinnert wird, unter anderem durch reakvierende Maßnahmen. Frau Weiss war Schneiderin, daher könnte man meinen, sie solle heute in der Bastelrunde Sto schneiden. Das ist falsch verstandene Biograearbeit, wenn Frau Weiss gegen ihren Willen zur Schneiderin wurde. • Eine gute, eziente Interakon zwischen dem Personal, den Bewohnern und ihren Angehörigen, eine inter30- oder muldisziplinäre Betreuung und eine konnuierliche Weiterbildung des Personals tragen zur Betreuungsqualität bei. In einer ezienten Interakon fühlt sich die Person mit Demenz nicht mehr ausgeliefert. Sie steht nicht „mit dem Rücken zur Wand“, sondern sie erlangt (wieder) Macht über die eigene Lebensgestaltung. Sie ndet mit Hilfe des Personals Wege aus der Ohnmacht. Dadurch kann die Person mit Demenz nicht mehr in die Objekt-Rolle der „Verdinglichung“ fallen. Sie bleibt oder wird wieder Subjekt/Person, das/die akv und produkv ihre Lebenswelt gestalten darf. • Für die Menschen mit einer Demenz im Frühstadium selbst ist es wichg, Folgendes zu berücksichgen: [O]hne Zukunserwartungen vermag niemand zu leben. Der Einzelne (vermag sich) nur dann der Zukun zuzuwenden und sich neu zu orieneren, wenn die Vergangenheit nicht alle Energien bindet und diese als vollendete Vergangenheit akzepert ist. (Kade 1994, zit. in Herriger 2006, 111)
Pegepersonen können hierbei unterstützend täg werden, indem sie lernen ein „Fenster“ aufzumachen, wo die Person mit Demenz ihre subjekve Lebensgeschichte erzählen kann. Hier denken wir besonders an die Validaonsmethode nach Naomi Feil. Das erzählende (Wieder-)Aufgreifen von biographischen Fäden hat zum Ziel, Würde und Wert des eigenen Lebens – allen Lebensniederlagen und Verlusten zum Trotz – zu erinnern, die Schaen negav eingefärbter Selbst-Typisierung zu bannen und Schutzschilder gegen Identätsredukonen und Ohnmachtserfahrungen aufzubauen. (Herriger 2006, 111)
Diese Orienerung an der eigenen Vergangenheit, betrachtet aus heuger Sicht, ermöglicht einerseits, eine Orienerung für die noch unbekannte Zukun zu nden. Anderseits kann durch die Verarbeitung des Erlebten ein Kapitel abgeschlossen und angenommen werden. Das Erzählen ermöglicht der Person mit Demenz im Frühstadium, ihre Iden30 Im Sinne des § 16 des Gesundheits- und Krankenpegegesetzes GuKG vom 19. August 1997.
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tät im Rahmen von sozialem Milieu und Gemeinschaen zu nden und neu zu entdecken: Ein Zugehörigkeitsgefühl kann entstehen. Sie [die Zugehörigkeit, M.W.-L.] erhält und reproduziert sich im Austausch gemeinsamer Erinnerungen, durch das Erzählen oder Anhören von Geschichten. (Kade 1994, zit. in Herriger 2006, 114)
Das Zugehörigkeitsgefühl ist xer Bestandteil des menschlichen Wohlbendens. Harro Kähler formuliert die Zielsetzung der biograschen Arbeit wie folgt: Negave biographische Anteile auf freiwilliger Basis in einer vertrauenschaenden Atmosphäre mit anderen Menschen teilen zu können, kann erleichternd wirken. Ein richges Verständnis von Empowerment sollte deshalb auch diese Seiten der Biographie zulassen und fördern. Dies gelingt am ehesten dann [...], wenn genügend Gelegenheit gegeben ist, ‚von seinen guten, respektablen Seiten zu berichten‘, da dann Selbstachtung und Selbstwertgefühl gestärkt und damit die Voraussetzungen geschaen werden, sich auch den Schaenseiten der Lebensgeschichte zuzuwenden. Lebensrückschau dient dazu, sich der eigenen Herkun und Vergangenheit bewußt zu werden, das eigene Leben in seinen posiven und negaven Ausschnien zu akzeperen und befriedigende Antworten auf die Frage zu nden, ‚wozu‘ man eigentlich gelebt hat. (Kähler 1997, 306 f.)
Diese Arbeit im Frühstadium der Demenzerkrankung erscheint umso wichger, als sie später nicht mehr möglich ist. Je weiter die Demenzerkrankung fortschreitet, desto weniger Chance hat die Person, den biograschen Faden zu nden, desto weniger Möglichkeiten hat sie, ihre Vergangenheit zu betrachten und anzunehmen. Diese Möglichkeit, durch das gelebte Leben Selbstwert und Kohärenz zu erfahren, verschwindet. Die Person kann daraus keine Kra mehr schöpfen. Die nicht reekerte, nicht verarbeitete Vergangenheit bindet alle verfügbaren Energien. • Das Lebensende, die letzte Zeit des Lebens, als Phase bedeutungsvoller Ereignisse wahrnehmen und erkennen, diese Ereignisse aber gleichzeig als natürliche Vorkommnisse annehmen, die im intramuralen Bereich ihren festen Platz haben. Sie benögen zwar eine intensivere pegerische und menschliche Betreuung, erfordern aber nur in seltenen Fällen unbedingt besondere medizinische Maßnahmen, wie etwa eine Spitalseinweisung. Da die hier beschriebenen Faktoren stark auf die Ressourcen der Person mit Demenz fokussieren, ist dieser Begri noch näher zu beschreiben. Norbert Herriger deniert den Begri der Ressourcen folgendermaßen:
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Unter Ressourcen wollen wir jene posiven Potenale verstehen, die von der Person zur Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse, zur Realisierung von langfrisgen Identätszielen, zur Bewälgung altersspezischer Entwicklungsaufgaben oder zur gelingenden Bearbeitung von belastenden Alltagsanforderungen genutzt werden können und damit zur Sicherung ihrer psychischen Integrität, zur Kontrolle von Selbst und Umwelt, sowie zu einem umfassenden biopsychosozialen Wohlbenden beitragen. (Herriger 2006, 5)
Psychische und physische Gesundheit bzw. Wohlbenden sind abhängig von der Verfügbarkeit unserer Ressourcen zur Bewälgung der Alltagsanforderungen. Dies bedeutet, dass Ressourcen in einer besmmten Situaon für eine besmmte Person wirksam sind, dass der Nutzwert von Ressourcen individuell ist, dass Bewertung und Sinnzuschreibung individuell sind. Ressourcen ermöglichen es, Grundbedürfnisse zu decken, wodurch ein ausgeglichenes biopsychosoziales Wohlbenden erreicht wird. Daraus leitet Herriger zwei Gruppen von Ressourcen ab: Umweltressourcen und Personenressourcen. Die Umweltressourcen unterteilt Herriger weiter in • strukturelle Ressourcen, die zur Sicherung von Aspekten der Lebensqualität beitragen; • soziale Ressourcen, die für das soziale Eingebundensein des Einzelnen bzw. der Familie in unterstützende Netzwerke verantwortlich sind; • ökonomische Ressourcen wie Arbeit, Arbeitseinkommen, ökonomisches Kapital und Sozialstatus; • ökologische Ressourcen, welche die Lebensqualität prägen. Die Umweltressourcen gehen für die Personen mit Demenz zum Teil verloren: Sie verliert zum Beispiel ihren sozialen Status, sie kann o nicht mehr von sich aus teilnehmen am gesellschalichen Leben. Die gezielte Teilhabe am Konsum wiederum wird für eine Person mit Demenz, die unter Sachwalterscha steht, erschwert. Die Personenressourcen steuern die „persönlichkeitsgebundenen Selbstwahrnehmungen, werthaen Überzeugungen, emoonalen Bewälgungssle und Handlungskompetenzen“, wie Beziehungsfähigkeit, Selbstakzeptanz und Selbstwertüberzeugungen (Herriger 2006, 90). Sie dienen als „Schutzschild gegen drohende Verletzungen der psychosozialen Integrität.“ (Herriger 2006, 90) Diese Personenressourcen besitzt die Person mit Demenz auf ihre Art und Weise noch immer, insbesondere, wenn man Mimik, Blickkontakt, Schreien,
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Murmeln, Kopfwegdrehen, Lippenzusammenpressen etc. als Aspekte einer Beziehung inkludiert. Ihre persönlichkeitsgebundene Selbstwahrnehmung drückt die Person mit Demenz, wenn sie noch mobil ist, durch das Gehen, das Tasten, Inden-Mund-Stecken, das Liebkosen etc. aus. Ist sie nicht mehr mobil, sollte die Selbstwahrnehmung von der Pegeperson durch Basale Smulaon® oder Nestbauen, durch Erlauben des Daumenlutschens oder der Selbstbefriedigung unterstützt werden. Die Umwelt- und Personenressourcen sind einerseits sehr individuell im Hier und Jetzt, andererseits basieren Ressourcen auf Beziehungen. Das soziale Eingebundensein ndet zum Teil zum Beispiel dann sta, wenn Pegepersonen erlauben, dass die Personen mit Demenz, die in der Nacht akv sind, im Schwesternzimmer gemeinsam mit den Schwestern einen Kaee trinken dürfen, wenn unruhige Personen mit Demenz einfach die Pegeperson begleiten dürfen, wenn zwei Personen mit Demenz, die sich gern haben, gemeinsam in einem Be schlafen, wenn Personen, die ans Be gebunden sind, tagsüber im Be in den Aufenthaltsraum oder in den Garten geschoben werden, um bekannte Smmen hören zu können etc. Ein Teil der Personenressourcen kann auch bei Personen mit Demenz gezielt akviert werden. Brieskorn-Zinke nennt diese akvierbaren Ressourcen Widerstandsressourcen, die für sie zwei Funkonen haben: 1. Sie prägen konnuierlich die Lebenserfahrungen und ermöglichen den Menschen, bedeutsame und kohärente Lebenserfahrungen zu machen. 2. Sie wirken als Potenzial, das akviert werden kann, wenn es für die Bewälgung eines Spannungszustandes erforderlich ist. (Brieskorn-Zinke 2004, 81)
Unter Spannungszustand ist etwa auch das „Wandering“ der Person mit Demenz zu verstehen, ebenso wie das wiederholte Fragen nach einer besmmten Person, das „Gläen“ am Tisch etc. Die Aufgabe der Pegeperson ist es, einen Rahmen des Respekts und der Anerkennung, der Geborgenheit und Sicherheit vermielt, zu schaen. Dies alles ermöglicht es, dass die Person mit Demenz in ihrer Persönlichkeit und Geschichte, mit ihren individuellen Ressourcen, in ihrer Wirklichkeit leben darf. So können sowohl die Person mit Demenz als auch die Pegeperson eine Ich-Du-Beziehung, eine Selbstorganisaon und eine selbstbesmmte Lebensführung erleben. Der Glaube an die Stärken der Person mit Demenz baut eine Brücke zwischen Pegeperson und Person mit Demenz, auch oder besonders dann,
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wenn die Person mit Demenz in sich eingekapselt ist. Millimeter für Millimeter, Zenmeter für Zenmeter bewegen sich Pegeperson und Person mit Demenz gemeinsam, solidarisch und vertrauensvoll eingebeet in ihre Kräe über diese Beziehungsbrücke. Ziel ist die Vernetzung der Potenziale, um zwei gelingende Lebensmanagements zu gestalten. Das Moo könnte lauten: „Lass uns gemeinsam einen biograschen Dialog gestalten“ ansta „Ich weiß den richgen Weg für dich“.
7.3 Konsequenzen einer effizienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das Personal Die Umsetzung einer ressourcenorienerten Paentenpege erfordert von den Pegepersonen ein Umdenken. Ein Umdenken hinsichtlich ihrer Pegephilosophie, ihres Berufsverständnisses, ihrer beruichen Rolle, ihrer Zuständigkeit sowie ihrer Eigenverantwortung. 7.3.1 Änderung des Pegeverständnisses Ziel der Pege soll es sein – da sich die Person mit Demenz in einer Situaon des Mangels bendet –, die Stärken, Fähigkeiten, Fergkeiten, Kompetenzen der Person mit Demenz zu entdecken und ihr bei der Entwicklung dieser Ressourcen Unterstützung anzubieten. Um auf das Erleben der Person mit Demenz eingehen zu können, benögen die Pegepersonen ein biograsches Assessment. Um die Ressourcen der Person mit Demenz in einen Hilfsprozess integrieren zu können, ist hingegen eine Ressourcendiagnosk nög. Assessment is a cornerstone of high-quality care upon which all subsequent intervenons are based. (Redfern u. Ross 2004, 163)
Das Feingefühl für die Ressourcen der Person, ihre Talente, Erfahrungen, Fähigkeiten und Ansprüche bedarf einer Einübung in sensible Aufmerksamkeit als Fähigkeit der Pegeperson, akv und spurenzentriert zu hören. Sie nimmt dabei eine nicht beurteilende Grundhaltung ein. Es kann kein standardisiertes Assessment geben: The purpose and methods of assessment are as varied as the paents for whom it is intended. (Redfern u. Ross 2004, 163)
Dies bedeutet, dass das Assessment von der jeweiligen Person mit Demenz abhängig ist und weiters durch folgende Faktoren beeinusst wird: • Wo ndet das Assessment sta? (Kontext) • Warum wird das Assessment durchgeführt? (Zielsetzung)
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• Welche Grundlagen sind notwendig, um das Assessment durchführen zu können? (Fachwissen, Schlüsselqualikaonen etc.) • Wie werden die Bedürfnisse, Ressourcen, Gefühle im Assessmen ormular deniert? (Kommunikaonskompetenz) Welche Funkonen hat ein Assessment? [T]he collecon of data which describes an individual’s aributes, behaviours and resources. […] [A]n analysis of the data to form inferences and judgements concerning an individual’s need for nursing and other health-related intervenons. (Redfern u. Ross 2004, 164)
Erst wenn die Pegepersonen imstande sind, die Ressourcen der Menschen mit Demenz wahrzunehmen, können sie die Selbstheilungskräe und die Gesundheit fördern. Die Beziehung ist demnach muldimensional. „High well-being“ und „low ill health“ sind die zwei posiven Pole des jeweiligen Konnuums. Der linke obere Quadrant und der rechte untere Quadrant haben eine negave Beziehung. Für die Praxis ist es wichg, beide Dimensionen auseinanderWellbeing High: maximale Gesundheit „well-ease“ Example: a person who has a high level of wellbeing despite having a diagnosed illness
Example: a person who has a high level of wellbeing and no diagnosable illness
Ill health High
Low
Example: a person with diagnosed illness and a a low level of wellbeing
Example: a person with no diagnosable illness and a low level of wellbeing
Low: minimale Gesundheit „dis-ease” There laonship between wellbeing and ill health based on Downie et al. 1990 in
Redfern u. Ross 2004, 165
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zuhalten, da das Vorhandensein von Krankheit nicht automasch die Abwesenheit von Gesundheit bedeutet: Wohlbenden, Handlungs- und Leistungsfähigkeit, Einschränkungen und Unfähigkeiten, Behinderungen, Fehlen oder Vorhandensein von Schmerzen u. v. m. – alles dies sind relevante Faktoren. Diese Konzepon von Kranksein und Gesundsein trit die Kernbereiche pegerischer Handlungsfelder und pegerischer Aufgabenbereiche. (Brieskorn-Zinke 2004, 79)
Pegepersonen sollen aufmerksam sein und gezielt versuchen herauszunden, wo die Stärken von Personen mit Demenz mit scheinbar besonders gut verlaufender progredienter Demenz liegen. Was unterscheidet sie von Personen mit Demenz, die sichtbar unter der Demenz leiden (Unruhe, Mimik, Töne etc. als Zeichen des Leidens)? Gibt oder gab es andere Lebens- oder Umgebungsbedingungen? Im Mielpunkt des Pegeprozesses stehen nicht nur die Bedürfnisse und Probleme der Paenten, sondern alle infrage kommenden Belastungen und Bewälgungsmöglichkeiten ihrer Ressourcen, die eine Person mit Demenz erlebt: Soluon-focused care planning ulizes a paent’s own aptudes and strengths and is based on the premise that excepons to problems can form the basis for soluons. (Redfern u. Ross 2004, 167)
Daraus ergeben sich folgende Fragen: • Was bedeutet Kranksein für die Person mit Demenz? Welche Grundsmmung besmmt ihren Alltag? • Wie sieht die dynamische Interakon zwischen Belastungen und Ressourcen auf allen Ebenen des Seins bei dieser Person aus? • Auf welche persönlichen, sozialen, organisaonalen und gemeinschalichen Ressourcen kann die Person mit Demenz zurückgreifen? • Wie geht die Person mit Demenz mit ihrer Krankheit um? Welche Strategien hat sie im Lauf der Jahre entwickelt? • Wie kann den Alltagssymptomen begegnet werden? Was bedeutet die Krankheit für das soziale Umfeld des Paenten? Wo benögt der Paent Unterstützung, um seine Situaon autonom zu meistern? (MahrerImhof 2005, 343)
Die Antworten auf diese und ähnliche Fragen ergeben die Gesundheitsdimension auf dem muldimensionalen Konnuum. Da es sich nicht um einen Zustand, sondern um einen Prozess handelt, muss die Pegeperson
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immer wieder reekeren und neu analysieren: Die immer wiederkehrende Auseinandersetzung mit relevanten Problemsituaonen des Alltags ist Teil der pegeberuichen Bildung. Diese bedeutsamen Problemsituaonen des Alltags sind nicht „Themen“, sondern es sind Situaonen, die verschiedene Deutungen (einschließlich Widersprüchen) und Handlungsmöglichkeiten zulassen. In welchem Bereich des muldimensionalen Konnuums bewegt sich die Person mit Demenz gerade? Dieser Blick und diese Fragestellung sind unerlässlich für angemessene pegerische Intervenonen. (Brieskorn-Zinke 2004, 80)
Die Pegeperson muss auch für sich reekeren: Was bedeutet für mich das Aushaltenkönnen von Fremdheit (im Sinne von unkonvenonellen Lebensentwürfen)? Schae ich es, ohne auszugrenzen, zu sgmasieren, zu moralisieren, ohne in eine „Ist-mir-egal-Haltung“ zu geraten? Nach Herriger gibt es derzeit nur zwei Verfahren der Ressourcendiagnosk: 1. Das oene Verfahren der Ressourcendiagnosk – das Ressourceninterview basiert auf einer Einladung zur Selbstreexion, was für die Person mit Demenz im mileren oder fortgeschrienen Stadium nicht mehr in Frage kommt. 2. Das geschlossene Verfahren der Ressourcendiagnosk – das Kompetenzinventar, das vom Landschasverband Rheinland unter anderem für den instuonellen Bereich des betreuten Wohnens entwickelt wurde. Nach einer Phase des Probewohnens wird in einem geschlossen-strukturierten Kompetenzinventar eine umfassende Erhebung des individuellen Patchwork von Fähigkeiten und Beeinträchgungen, von subjekven Lebenszielen und notwendigem Unterstützungsbedarf [...] dokumenert. (Herriger 2006, 96)
Der Paent steht im Mielpunkt des akven Pegeprozesses. Diese subjektorienerte Sicht verlangt unter anderem ein muldisziplinäres Praxisverständnis im Rahmen des interdisziplinären Tägkeitsbereiches im Sinne des § 16 des GuKG von 1997. Der Pegeprozess selbst ndet nicht mehr im Rahmen der Pathogenese sta, sondern im Rahmen der Salutogenese:
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OGN
LU OGN
Main focus: disorder, i. e. treatment of Main focus: order, i. e. sense of coherendisease, problems, dicules, dysfuncon ce, of wellbeing and personal experience Concerned with professional knowledge; medical science and objecve understanding; empirical measurements (posivism)
Concerned with lay knowledge; personal experience and subjecve understanding; human values (humanism)
Prevenon involves idenfying risk factors, e. g. of disease, disability, delayed development; idenfying and removing barriers to health
Prevenon involves creang resources for health, e. g. caring, trust, autonomy growth, development, promong healthy acvies, e. g. parcipaon, involvement
Essenally reacve: looks to the future only if it can be sciencally predicted
Essenally proacve: looks at the potenal for improving the future
Individual emphasis: separateness and Social focus: sociocultural context and single focus (e. g., germ theory of disease, integraon – meaningfulness, compremedical prescripon, single paent) hensibility and manageability. Nach Cowley u. Billings 1997 in Redfern u. Ross 2004, 201
Für Romy Mahrer-Imhof dienen pegerische Intervenonen im Rahmen der Salutogenese der Förderung der Fähigkeit zum Selbstmanagement und zum Erreichen der Ziele von Paennnen und Paenten. (Mahrer-Imhof 2005, 343)
In der Pege von Personen mit Demenz bedeutet dies, dass Personen mit Demenz im Alltag die Möglichkeit erhalten, Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlafen, Wärme, Sicherheit, Geborgenheit, Anerkennung ihres Verhaltens zu erfüllen. Pegepersonen müssen lernen, zwischen der Lebensqualität von Frau Müller und den eigenen Vorstellungen von Frau Müllers Lebensqualität zu dierenzieren (Eigen- und Fremdvorstellungen). Für Herlinde Steinbach können „Pegende einen Beitrag leisten oder Umstände schaen, die Gesundheit ermöglichen“ indem sie die Ressourcen, Fähigkeiten und Kompetenzen der Personen mit Demenz wahrnehmen und gezielt unterstützen (Steinbach 2007, 125). Will die Pegeperson der Person mit Demenz begegnen, mit ihr in Beziehung treten, dann muss sie lernen, sich an die Wirklichkeit der Person mit Demenz anzupassen. Sie muss wie ein Museumsbesucher lernen, hinter der möglicherweise „bröckelnden Fassade“ die Schätze zu suchen. Erst nach mehrmaligen Besuchen entdeckt der Besucher immer mehr Details und manchmal sogar neue Bilder, die er bis jetzt übersehen hat. Lernt der Besucher den Direk-
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
tor des Museums persönlich besser kennen, entsteht manchmal eine Beziehung, die auf Vertrauen und Respekt basiert. Der Museumsdirektor wird möglicherweise seinen Dachboden, die Depots, kurz für den Besucher önen, damit dieser die dorgen Schönheiten betrachten kann. Eine gelungene vertrauensvolle Beziehung zwischen einer Pegeperson und einer Person mit Demenz ist nicht anders. Nur so können kraraubende Konikte und Ängste vermieden werden. Eine Fachkompetenz und ein Zeichen der Professionalität der Pegeperson ist sicher die Beratung im Rahmen eines Lernprozesses und im Sinne von Tschudin (1990): Das übergeordnete Ziel der Beratung ist es, dem Klienten eine befriedigendere und erfülltere Lebensweise zu ermöglichen. (Tschudin 1990, zit. in Steinbach 2007, 138)
Die Pegeperson hat gelernt, die Pege zu individualisieren. Dies ist aufgrund von spezischen Charaktereigenschaen, Lebensgeschichte, Mulmorbidität und individuellem Krankheitsverlauf des zu pegenden Menschen notwendig (und bei Personen mit Demenz von besonderer Relevanz, da diese sich o nicht mehr wehren können). Für jede Person mit Demenz ist ein individueller Pegestandard zu entwickeln und (von allen beteiligten Pegepersonen) anzuwenden. Frau Konrad zum Beispiel soll nicht geduscht werden, weil sie mit Panik reagiert. Die Dusche wird von Frau Konrad gleichgesetzt mit negaven Erfahrungen in der Kindheit. Sie hat in einem Hochwassergebiet gewohnt und musste mehrmals „um ihr Leben rennen“. Hier besteht der individuelle Standard darin, dass Frau Konrad nicht geduscht werden soll. So lange wie möglich soll sie sich beim Waschbecken waschen. Die Pegeperson unterstützt sie in diesem Vorhaben. Es kann also keinen allgemeinen Standard geben. Das einzige Betreuungsziel kann hier nur die Erhaltung und wenn möglich die Verbesserung der Lebensqualität der Person mit Demenz im Rahmen ihrer Lebenssouveränität sein. Marianne Brieskorn-Zinke listet in Anlehnung an Hurrelmann verschiedene Ziele pegerischer Gesundheitsförderung auf: Pegende unterstützen und befähigen ihre Paenten/Klienten so [...], dass sie in geeigneter Weise ihre verbliebenen Gesundheitspotenziale erhalten und gegebenenfalls auch gesundheitsbezogene Veränderungen in Angri nehmen können. (Brieskorn-Zinke 2004, 104)
Ein Gesundheitspotenzial für eine Person mit Demenz kann beispielsweise auch darin bestehen, allein mit den Fingern zu essen.
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das Personal
Frank Weidner listet operaonalisierbare Aspekte für die paentenorienerte Perspekve auf: Selbstbesmmung des Paenten fördern, Bedürfnisse, Honungen und Wünsche des Paenten berücksichgen, körperliches und soziales Wohlbenden des Paenten fördern, eine individuelle Paentenumgebung gestalten, persönliche Kompetenzen (lehren, beraten) und interdisziplinäres Arbeiten fördern (vgl. Weidner 2004, 149). Ivan Illich prägte 1995 den Begri der „sozialen Iatrogenese“ und zielt damit darauf ab, dass die führende Rolle der Experten und ihre Inbesitznahme der Verantwortlichkeit neue Muster der Unmündigkeit produziert. Schri für Schri, o kaum wahrnehmbar, verschwinden die Ressourcen und Kompetenzen der Person mit Demenz. Mehr und mehr wird sie aufgefordert, ihr Leben aus der Hand zu geben. Sie verlernt, selbst Entscheidungen zu treen, selbstbesmmt zu agieren, und wird zusehends hilos (im Sinne der Theorie der gelernten Hilosigkeit nach Seligman), obwohl das nicht notwendig wäre.31 Das Wissen um die Stärken, Ressourcen und Copingstrategien der Person mit Demenz ermöglicht ihr, so lange wie nur möglich im Rahmen ihrer progredienten Demenzerkrankung Lebensqualität und ein „Mehr an Lebenswert“ zu erfahren. Die Grundhaltung der Pegeperson soll zeigen: „Du bist okay mit deiner Wertorienerung, deinen Denkmustern und deinen Handlungen. Ich erkenne deinen Eigensinn an und lasse dir Raum zur Selbstgestaltung. Die Grenze dieses Raums ist die Verletzung deiner physischen und/oder psychischen Integrität und der Integrität Anderer: Selbst- und/oder Fremdschädigung. Ich verlasse meine Posion des Besser-Wissers und des Moralisten.“ Für Brieskorn-Zinke können Pegepersonen einen Beitrag zur Kompetenzförderung leisten, denn in jeder Interakon mit dem Menschen, der Pege braucht, geht es auch darum, Lernprozesse zu iniieren und zu begleiten. Als Beispiel seien hier nur genannt die Verbesserungen der Körperwahrnehmung [...]. (Brieskorn-Zinke 2006, 221)
Eine konkrete Umsetzung dieses Gedankens wäre die Basale Smulaon®. Sie unterstützt den Paenten in der Wahrnehmung seines Körpers und lässt ihn die Grenze zwischen sich und der Umwelt spüren. Sie vermielt Eindrücke und Erfahrungen. Aus Smulaon wird Kommunikaon, die Fähigkeiten wecken kann und eine Begegnung mit anderen ermöglicht (vgl. Bienstein u. Fröhlich 2007). 31 Könnte das eine Erklärung für die verschiedenen Inzidenzraten der Demenz sein?
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Bewusste Ermugung zur Körperwahrnehmung beim Waschen, bei Einreibungen, beim Lagern und Mobilisieren und zur Wiederentdeckung des eigenen Körpers als Orienerungspunkt sind spezische pegerische Möglichkeiten, hier gesundheitsförderlich täg zu werden. (Brieskorn-Zinke 2004, 99)
Kinästhek® und die Bobath-Methode® sind, neben Basaler Smulaon®, sicher zwei zusätzliche nützliche Ansatzpunkte. Der Körper vermielt Gefühle des Selbstvertrauens, des Wohlbendens oder des Unbehagens. Nur wer seinen Körper spürt, kann wissen, was ihm gut oder schlecht tut. Nur wenn der Mensch zwischen gesundheitsschädigenden und gesundheitsfördernden Maßnahmen unterscheiden kann, kann er gezielt gesundheitsfördernde Maßnahmen nden, ausprobieren und in sein Verhalten integrieren. Der Körper als empndsamer Organismus meldet sich durch Wohlbehagen oder Versmmtheit zurück. Will die Pege erfolgreich sein (Ziel: Erhöhung des Wohlbendens beider Partner), bedarf sie der produkven Mitarbeit der Person mit Demenz. Die Pegeperson muss sich von ihrer „Expertenmacht“ im Sinne von „Ich weiß, was für dich gut ist“ verabschieden. Sie muss sich mehr und mehr auf ein konsensorienertes Aushandeln einlassen: Wo steht die Person mit Demenz gerade? Wie kann ich jetzt in ihrer Wirklichkeit die vorhandenen Ressourcen zum eigenen Nutzen verwenden? Welche Konsensbasis gibt es hier und jetzt in der Interakon? Dies ist eine Veränderung der Grundhaltung: weg von Expertenmacht, hin zu Parzipaon und Movaon. Diese Veränderung der Grundhaltung vermindert die Koniktpotenziale radikal und önet den Weg zu Kreavität im Dienst der Lösungssuche. Die Ressourcendiagnosk dient nicht nur der Anamnese, sondern sie soll auch als Instrument der Verfahrensevaluaon dienen, indem sie eine prozessbegleitende Reexion darstellt: Wie war der Ist-Zustand? Was hat sich verändert? Wo sind Hindernisse aufgetreten? War die Zielsetzung konkret und erreichbar? Muss das Hilfsangebot neu organisiert werden? Schließlich dient die Ressourcendiagnosk als qualitave Dokumentaon und Endevaluaon. 7.3.2 Änderung des Arbeitsverständnisses Wie am Anfang des Kapitels festgestellt wurde, kann es den Personen mit Demenz im intramuralen Bereich nur gut gehen, wenn es auch den Mitarbeitern gut geht. Paentenorienerung ohne Mitarbeiterorienerung ist nicht zielführend. Im Kapitel über strukturelle Gewalt wurde deutlich,
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das Personal
dass Pegepersonen unter einem doppelten Druck stehen: dem inneren und dem äußeren Druck. Hier soll der innere Druck genauer beschrieben werden. Er entsteht durch die Ansprüche der Pegepersonen an ihre eigenen Kompetenzen: Die Pegeperson hat in ihrer Ausbildung gelernt, dass sie eine State-of-the-Art-Pege leisten soll (Evidence Based Nursing); sie spürt, dass ohne vorherige Beziehungsarbeit kein Vertrauen, keine reibungslose Pege, keine posive und beruhigende Interakon sta inden kann (Beziehungspege); sie würde gerne Weggefährte sein und die Person mit Demenz auf ihrem letzten Lebensabschni begleiten; und schließlich weiß sie, wie sie arbeiten sollte, kann aber die dafür notwendigen Fähigkeiten und Fachkompetenzen nicht einsetzen. Für die Pegeperson entsteht hierdurch ein starker, psychischer Druck, da sie ein besmmtes Leistungsniveau anstrebt, das sie aber nicht erreichen kann. Dieser Druck oder innere Stress hat auf die Dauer Auswirkungen auf das Denken, die Emoonen und das Verhalten und beeinträchgt das Wohlbenden und die Gesundheit der Pegeperson. Die Pegeperson verliert ihr inneres Gleichgewicht. Das bewußte Erleben von Diskrepanz zwischen der eigenen Handlung und den internalisierten Ansprüchen kann zu Schuldgefühlen und Selbstabwertungen führen [...]. (Schwarzer 1996, 110)
Empowerment meint hier entsprechend einen Prozess, innerhalb dessen Pegepersonen lernen, ihre eigene Arbeitswelt, ihre soziale Umwelt in die Hand zu nehmen. Sie begeben sich auf die Suche nach eigenen Kompetenzen, Ressourcen und Kräen. Sie trauen sich, ihre selbst erarbeiteten Lösungsansätze zu präseneren, zu argumeneren und zu leben. Durch Empowerment lernt die Pegeperson, ihre Gesundheitspotenziale auf den verschiedenen Ebenen wahrzunehmen und gezielt in der Bewälgung der Situaon einzusetzen. Erst nachdem eine Pegeperson ein Ereignis bewertet hat, kann sie wählen, welche Bewälgungsstrategie sie anwenden möchte: Das Spektrum reicht hierbei von akver Auseinandersetzung über pragmasche Problemlösung bis zum Versuch, durch Rückzug der Belastung aus dem Weg zu gehen (innere oder äußere Kündigung). Stressfolgen machen sich auf verschiedenen Ebenen bemerkbar: • Auf der emoonalen Ebene: Angst, Aggression, Erschöpfung, Depression, Unzufriedenheit, Resignaon, Zynismus, Senkung der Leistungsund Konzentraonsfähigkeit, Bendlichkeitsstörungen etc.
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Person
Problembewälgung
Externe und interne Anforderungen
Externe und interne Ressourcen Kognive Ebene
Emoonale Ebene
Physiologisch-körperliche Ebene
Verhaltensebene Vereinfachtes Ablaufmodell des Bewälgungsprozesses (Brieskorn-Zinke 2004, 85)
Zur vollständigen Darstellung müsste zusätzlich zu der kogniven, emoonalen und physiologisch-körperlichen Ebene die Umweltebene hinzugefügt werden.
• Auf der biologischen Ebene: Beschwerden im Nervensystem, Verdauungstrakt, Herz-Kreislaufsystem, Bewegungsapparat etc. • Auf der Verhaltensebene: Gewalt, Sucht, Rückzug, Erhöhung der Fehlerquote und des Unfallrisikos, Indierenz etc. All dies kann zu Fehlzeiten, Krankenstand, Frühinvalidität, Unfall und Fluktuaon führen. Worin könnten die inneren Ressourcen der Pegeperson bestehen? • Persönliche, lebensgeschichtlich gewachsene Bewälgungs- und Bearbeitungsstrategien, • private Interessen als Kraquelle, • soziales Umfeld und Beziehungen und/oder Fähigkeit zu entspannen u. v. m. Welche Art von arbeitsbezogenen Ressourcen könnte die Pegeperson für sich in Anspruch nehmen? • Handlungsressourcen: Wie gestalte ich den heugen Arbeitsvormittag? Welche Prioritäten setze ich? In welcher Reihenfolge möchte ich vorgehen? Welche Arbeitsmiel kann ich als Hilfe benützen? Akver Zugang zu Informaonen etc. • Beziehungsressourcen: Wer ist heute im Dienst? Wie können wir uns gegenseig unterstützen? Wen kann ich um Rat bien? Mit wem kann ich eine schwierige Situaon besprechen und analysieren etc.?
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für das Personal
Die interakven und kommunikaven Kompetenzen der Pegenden [können] von einer intuiven auf eine systemasche Ebene gehoben werden. (BrieskornZinke 2004, 99)
• Zufriedenheitsressourcen: Lob aussprechen, stolz auf seine Leistung sein, Mitgestaltung eines angenehmen posiven Arbeitsklimas, eigene Ressourcen wahrnehmen und nutzen, Humor und Lachen nicht vergessen. Pegepersonen sollen das „Menschenrecht auf Irrtum“ auch für sich in Anspruch nehmen. So können sie sich dazu bekennen, dass Irren menschlich ist. Weidner hat eine Liste von wichgen Aspekten im Rahmen der personalorienerten Perspekve erstellt: • Eigene Selbstbesmmung fordern und fördern: Bevormundenden Übergrien Anderer besmmt entgegen treten • Eigene Bedürfnisse, Wünsche und Honungen wahrnehmen, berücksichgen, akv dafür eintreten und umsetzen • Fähigkeit, belastende Situaonen anzusprechen und Änderungen in der Erfahrung der Selbstwirksamkeit und des Gestaltungsvermögens akv zu bewirken • Eigenes körperliches und soziales Wohlbenden fördern und akv beeinussen • Persönliche Kompetenzen fördern unter anderem durch Lob, Anerkennung, Movaonsanreize etc. • Interdisziplinäres Arbeiten fördern • Gesundheitsförderliche Umgebungen und Bedingungen schaen (Veränderungen am Arbeitsplatz) • Eine Organisaonskultur des Empowerments bewusst anregen, unterstützen und ihre Realisierung als xen methodischen Bestandteil der Organisaonsentwicklung fördern: „empowering organizaon“ • Empowerment als Schri in eine neue Kultur des Helfens • Professionalisierung im Rahmen von Solidarität, Chancengleichheit und Teilhabe (Vgl. Weidner 2004, 149) Der Bezug zwischen Menschen, die sich so aufeinander einlassen, soll zu keinem autoritär-hierarchischen Verhältnis führen, sondern prinzipiell reversibler Umgang wechselseigen Lernens und Helfens sein, soll aber zum anderen gleichwohl den Betroenen Angebote zu neuen Erfahrungen, notwendigen Klärungen und unvermeidlichen Hilfen vermieln. (Thiersch u. Rauschenbach 1984, 1008)
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Voraussetzungen
Prozesse
Egebnisse Wohlbenden
Umweltvariablen
Ereigniseinschätzung Coping
Gesundheit
Ressourceneinschätzung Sozialverhalten Personvariablen Stress und Coping aus transakonaler Perspekve (Schwarzer 1996, 156)
Schwarzer hat diese Abbildung in Anlehnung an Lazarus’ Transakonales Stressmodell (1974) entwickelt.
7.4 Konsequenzen einer effizienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Organisation Wie wir gesehen haben, ist für Botschaer-Leitner eine Umsetzung der Paentenorienerung mit einer Wahrnehmung der Bedürfnisse des Pegepersonals verbunden. Nur wenn sich beide Interakonspartner wohlfühlen, kann die Lebensqualität steigen. Projekte zur Verbesserung der Betreuungsqualität von Personen mit Demenz im intramuralen Bereich können sich sicher nicht nur auf die Weiterbildung des Betreuungsteams beschränken. Dies wäre zu einseig und deshalb zum Scheitern verurteilt. Die Umsetzung des Empowerment-Konzeptes erfordert einen Paradigmenwechsel im instuonellen Selbstverständnis, im Organisaonsleitbild, im Klientenbild, im Methodenkatalog, im Problemlösungsverfahren, in der Kultur des Helfens. Als hilfreich für die Umsetzung erweist sich der Empowerment-irkel. Herriger plädiert für Empowerment als Organisaonsentwicklungsform. Die Ziele eines solchen „Empowerment-Zirkels“ werden folgendermaßen beschrieben: Die gemeinsame Erarbeitung von empowerment-förderlichen Organisaonsstrukturen (‚empowering organizaons‘), d. h. also die Gestaltung von Arbeitsplatzstrukturen, die eine gemeinsame instuonelle ‚Kultur des Empowerment‘ anregen und fördern; die Movaon der MitarbeiterInnen fördern, die ihre spezischen Fähigkeiten und Stärken in der Empowerment-Arbeit akvieren und ihre Idenkaon mit dem Empowerment-Programm bestärken;
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Organisaon
das Engagement und die subjekve Arbeitszufriedenheit der MitarbeiterInnen durch die posiv erfahrene Einbindung in eine verlässliche und von allen Mitgliedern geteilte Organisaonsstruktur befördern. (Herriger 2006, 12 f.)
Mögliche Themen des Empowerment-Zirkels sind für Herriger folgende: • Der Perspekvenwechsel von der Dezit- zur Stärkenorienerung: Hier geht es um einen Paradigmenwechsel im Menschenbild und in der Pegephilosophie. Dies hat unter anderem zur Folge, dass der Pegeprozess nicht mehr problemorienert geführt wird, sondern kompetenzen- und ressourcenorienert sta indet, als Verfahren der Kompetenzdiagnosk. Das gesamte Betreuungsteam muss geschult und begleitet werden, damit die „Philosophie der Menschenstärken“ (Herriger 2006, 72) implemenert werden kann. Schulungsmöglichkeiten wären beispielsweise mulperspekvische Fallbesprechungen, Supervisionen und Pegevisiten. • Die Verständigung auf einen gemeinsamen Zielkatalog – Leitbildentwicklung: Welche Werte, welche Qualität wollen wir gemeinsam erreichen und nach außen vertreten? Wo sind unsere Stärken? Was unterscheidet uns von der Konkurrenz, etwa hinsichtlich der Ergebnis-, Prozess- und Strukturqualität? • Die Transparenz von Informaonen und Entscheidungen: Hier wird die Kommunikaonskultur der Organisaon betrachtet und nach Verbesserungsmöglichkeiten gesucht, damit alle Mitarbeiter sich als Mitglied der Organisaon fühlen. • Eine parzipave instuonelle Entscheidungsstruktur: Stellenbeschreibungen mit klarer Verantwortung, Zuständigkeit und klaren Kompetenzen als Teil eines parzipaven Managements. • Die Suche nach fördernden und sichernden Teamstrukturen, die auf Wertschätzung, Anerkennung und Respekt basieren: Mitarbeitergespräche, die als Ziel die Förderung der personellen und fachlichen Entwicklungen haben. Fehler als Teil einer Feedbackkultur werden als Entwicklungschance betrachtet. Mitarbeiter werden unterstützt und angehalten, Erfahrungen von Fort- und Weiterbildungen in die Organisaon einzubringen. • Die Komplementarität von Zuständigkeiten und Methoden ermöglicht den Mitarbeitern, ihre Ressourcen in die alltäglichen Arbeitsprozesse einzubringen. • Gestaltbarkeit des individuellen Arbeitsplatzes • Die Einführung von Verfahren der (Selbst-)Evaluaon: Intern werden die Struktur-, Prozess- und Kommunikaonsqualitäten fortlaufend gemessen. Pegevisiten inklusive Dokumentaonsbegutachtung und
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
Befragung der Paenten sollen nicht als Kontrolle erlebt werden, sondern als Chance zur Arbeitsprozessentwicklung. • Gemeinsame Ergebnisverantwortung • Die Chance auf Weiterlernen („learning organizaon“) durch externe Supervision, Fort- und Weiterbildung für alle Mitarbeiter, inter- oder muldisziplinäre Klausuren u. ä. • Implemenerung eines Gesundheitszirkels mit der betrieblichen Gesundheitsförderung als zentralem Element • Regelmäßige Herstellung eines Gesundheitsberichtes, um Entwicklungen und Fortschrie zu zeigen, um Probleme und Dezite anzusprechen, als Informaonsgrundlage etc. • Regelmäßige extern geleitete Fallbesprechungen als Miel zur Personalentwicklung • Den Theorie-Praxis-Transfer als eigenen Prozess betrachten – Raum zur Gestaltung ist vorhanden. Einige dieser Themen des Empowerment-Zirkels nden sich wieder in den Maßnahmen, die eine Organisaon setzen muss, will sie sich Richtung Gesundheitsförderung entwickeln (vgl. Kap. 7.5). Dieser Paradigmenwechsel ermöglicht eine veränderte Grundorienerung: • Begleitung ansta Bevormundung des Mitarbeiters: soziale Rückendeckung • Vertrauen in die Fähigkeiten, Fergkeiten, Ressourcen, Kompetenzen und Qualikaonen des Mitarbeiters, sta Abhängigkeit, Resignaon, Dezite und Hilosigkeit: Feedbackkultur; Fehler als Chance und Lernprozess • Mitarbeiter werden in der Übernahme von Arbeiten von Anfang bis Ende unterstützt • Förderung von Selbstverantwortung, Selbstgestaltung des eigenen Lebens: Vielseigkeit und Kreavität fördern • Wahlrecht des Mitarbeiters (inklusive der Möglichkeit des Nein-Sagens) • Transparenz von Entscheidungen und Informaonsuss • Parzipaons- und Selbstbesmmungsrecht des Mitarbeiters: Handlungsspielräume önen • Eingehen auf den Entwicklungs- und Lebensrhythmus des Mitarbeiters ansta starrer Zeitrahmen: Mitarbeiterförderungsgespräche: Wo benögt der Mitarbeiter noch Unterstützung? Welche Art von Unterstützung benögt er? Karriereplanung • Einbeziehung der drei Werte: Chancengleichheit, Solidarität und Teilhabe, die in der WHO-Satzung verankert sind
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Organisaon
Dies erfordert von der Trägerorganisaon eine „sensible, selbstreexive Eingrenzung der eigenen Expertenmacht (‚sharing power‘)“ (Herriger 2006, 80). Für Herriger gibt es drei normave Fundamente der Philosophie des Empowerment-Konzeptes: Selbstbesmmung, soziale Gerechgkeit und demokrasche Parzipaon. Diese drei normaven Fundamente haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Ressource „Mitarbeiter“. Der Mitarbeiter soll die Möglichkeit erhalten, sich in seiner alltäglichen Arbeitswirklichkeit zu engagieren, soziale Gerechgkeit, Selbstbesmmung und Selbstverantwortung zu erleben. Der Mitarbeiter darf (und soll) sich in der Gestaltung des Mikrokosmos seiner Arbeitswelt einmischen und Rahmenbedingungen einfordern, die die Realisierung der drei Fundamente überhaupt gestaen. Furthermore, a predominant view persists in which carers are perceived by service providers as resources to be ulized. As a consequence their own needs have rarely been recognized. (Redfern u. Ross 2004, 167)
Weidner weist auf den Bereich der personen- und personzentrierten Gesundheitsförderung hin: Krankenschwestern und -peger sind körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheitsgefährdungen ausgesetzt, sollen aber zu ‚gesundheitsförderndem Verhalten‘ anhalten. Diese Verknüpfung von personalbezogenen Bedingungen und paentenbezogenen Anforderungen ist eine unabdingbare Voraussetzung des formulierten Strukturprinzips des professionellen Pegehandelns. Nur durch die Schaung von Entscheidungs- und Handlungsräumen und die Verringerung von Restrikonen im Pegealltag wird gesundheitsförderndes Fallverstehen möglich. (Weidner 2004, 146)
Für Weidner stellen die Gesundheitsgefährdungen im Arbeitsbereich der Gesundheits- und Krankenpege „einen wesentlichen in der Regel stark beschränkenden Handlungsfaktor in der Pege dar“ (Weidner 2004, 141). Die Qualität der Pege ist unter anderem abhängig von äußeren Bedingungsfaktoren. Die Belastungen der Pegepersonen können Weidner zufolge in drei Bereiche eingeteilt werden: körperliche, psychische und soziale Belastungen. Weidner ziert eine Studie von Bartholomeyczik aus dem Jahr 1987 über Arbeitsbedingungen und Gesundheitsstörungen bei Krankenschwestern, wonach sich die Hauptproblemfelder der körperlichen Belastungen „im Aureten von Rücken- und Nackenschmerzen, Kreislaufstörungen, Migrä-
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
ne, Hautausschlag und gynäkologischen Beschwerden“ bemerkbar machen (Bartholomeyczik 1987, zit. in Weidner 2004, 142). Diese Belastungen entstehen hauptsächlich durch das viele Gehen, Bücken, omalige Heben und Tragen sowie durch das Tragen von Handschuhen und den häugen Kontakt mit Desinfekonsmieln. Die psychischen Belastungen entstehen aufgrund von Arbeitsstrukturen, mangelnder Anerkennung des Berufes in der Gesellscha, intensiven Beziehungen zu den Paenten und mangelnden Koniktbewälgungen. Die Pegepersonen haben den Eindruck, nicht genug Zeit, zu wenig Personal und belastende Dienste zu haben (vgl. Weidner 2004, 143). Soziale Belastungen entstehen vor allem bei Frauen, weil viele Frauen mehrere Rollen gleichzeig übernehmen müssen: Pegeperson, Muer, Partnerin. Bartholomeyczik weist in ihrer oben zierten Studie nach, „daß Krankenschwestern, die neben der Berufstägkeit noch eine Familie zu versorgen haben, mehr unter Beschwerden leiden als Alleinlebende.“ (Bartholomeyczik 1987, zit. in Weidner 2004, 144) Durch die unregelmäßigen Dienstzeiten müssen sich das soziale Leben und das Familienleben nach dem Berufsleben richten. Die Teilnahme an regelmäßigen außerberuichen Akvitäten ist nur sehr eingeschränkt möglich. Der Wechsel zwischen Tag- und Nachtdienst wird vom sozialen Umfeld als sehr negav empfunden und führt teilweise zu einer Außenseiterstellung. Darüber hinaus stellt sich ein weiteres Problem im Rahmen eines Zwölf-Stunden-Dienstes: Es ist bereits kaum anzunehmen, dass jemand so ausgeglichen ist, dass er zwölf Stunden lang die Geduld auringt, seinen Arbeitsrhythmus an den Lebensrhythmus der verschiedenen Personen mit Demenz anzupassen und/oder zwölf Stunden lang das Bedürfnis nach Körperkontakt der Personen mit Demenz zu decken etc. Die Pegeperson soll aber darüber hinaus anschließend an einen Zwölf-Stunden-Dienst zu Hause noch genauso ausgeglichen und geduldig sein wie in der Arbeit. Dies wird von ihr in ihrer Rolle als Muer, Partnerin, Tochter erwartet. Wie diese Beispiele von Belastungen des Pegepersonals zeigen, müssen beide Aspekte der Gesundheitsförderung – Paentenorienerung und Mitarbeiterorienerung – Hand in Hand gehen. Die Organisaonsentwicklung muss sowohl die Kompetenzen und Ressourcen der Mitarbeiter als auch jene der Paenten unterstützen und akv fördern. Diese doppelte Zielsetzung sollte im Leitbild der Organisaon klar dargestellt werden. Dieser Bereich des Leitbildes würde somit den Zielen der Gesundheitsförderung nach der Oawa-Charta entsprechen.
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Konsequenzen einer ezienten geriatrischen Gesundheitsförderung für die Organisaon
Die Intervenonsstrategien der pegerischen Gesundheitsförderung sind integrierender Bestandteil der Gesundheits- und Krankenpege. Innerhalb des Betreuungsteams, ob im intra- oder im extramuralen Bereich, ist die Gesundheits- und Krankenpegeperson für die Vermilung von Schulungen über zum Beispiel den Umgang mit der Krankheit Demenz, mit Pegemaßnahmen oder Informaonen über vorhandene Hilfsangebote die am besten geeignete Person. Eine Nebenerscheinung dieser Rolle ist, dass die Inhalte des Berufsbildes wahrgenommen werden. Diese Rolle regt die Kreavität der Pegeperson an und stärkt die Identät des Berufes (vielen Pegepersonen ist zum Beispiel ihre Rolle als Informaonsvermiler und Berater noch nicht bewusst genug). Die Langzeitpegeeinrichtungen werden beispielsweise als Seng zum Ort, wo sich die Lebensqualität der Personen mit Demenz erhält. Dieses neue Image der Langzeitpegeeinrichtungen als Gesundheitsförderer muss aber erst noch von der Gesellscha und der Polik wahrgenommen werden. Eine systemasche Anwendung erfordert eine umfassende polische Einsicht. Der erste Schri wurde mit dem oenen Curriculum von 2003 gesetzt (vgl. ÖBIG 2003). Der zweite Schri, dass die Krankenkassen auch Gesundheitskassen sein sollen, die Paentenbildung, Prävenon aus wirtschalichen Überlegungen voll einbeziehen, ist noch zu gehen. Wenn man eines der Ziele der professionellen gesundheitsorienerten Beratung ansieht: Außerdem soll Beratung Belastungen und Krisen verhindern bzw. dafür sorgen, dass sie rechtzeig erkannt und konstrukv bewälgt werden. (Steinbach 2007, 143)
dann müsste das Gesundheitssystem daran interessiert sein, den prävenven Aspekt der professionellen Gesundheitsorienerung zu fördern. In ihrem heurisschen Modell muldimensionaler Paentenorienerung ergänzt Karin Wineben die Paentenorienerung um ihren Gegensatz der Paentenignorierung. Was meint sie damit? Eine Haltung ist demnach zunehmend paentenorienert, je mehr sie den ganzen Menschen in Betracht zieht. Eine Haltung ist eher paentenignorierend, je mehr sie nur Teilbereiche des Menschen oder nur Tägkeiten an ihm berücksichgt. (Wineben 1991, zit. in Weidner 2004, 77)
Dieses Zitat sollte um die Begrie der Mitarbeiterorienerung bzw. Mitarbeiterignorierung ergänzt werden, da beide Hand in Hand gehen. Ein eigenverantwortlicher, selbstbesmmter, gesundheitsorienerter Mitarbeiter wird dem Arbeitsplatz weniger o fernbleiben. Organisaonsträger vergessen o, dass gelingende Teamprozesse (ein Team kann nicht starr sein) eine Grundvoraussetzung für eine gute gerontopsychiatrische Arbeit
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
sind. Zu o werden aufgrund von Krankenständen und Personalmangel kurzfrisg Teams auseinandergerissen ohne Rücksicht auf die Mitarbeiter und ihren Bedarf an Rückenstärkung. Eine Organisaon, die gesundheitsfördernd sein will, muss ein Bündel an Maßnahmen umsetzen. Diese Maßnahmen wollen wir im Folgenden näher skizzieren.
7.5 Effiziente Gesundheitsförderung in einer geriatrischen Organisation 7.5.1 Maßnahmen/Änderungen Die Maßnahmen müssen, um erfolgreich zu sein, auf verschiedenen Ebenen der Organisaon angesetzt werden. Auf der Personalebene: • Die Instuon muss genügend Ressourcen und adäquate Rahmenbedingungen zur Verfügung stellen, damit fachkompetente Betreuung überhaupt eine Chance hat, stazunden. Eine Personalberechnung nur auf der Basis des gesetzlichen Minimums scheint nicht zielführend zu sein, daher ist eine Erhöhung des Personalschlüssels für den Bereich Pege und Betreuung von Personen mit Demenz und mit herausforderndem Verhalten auf 0,70 nög. • Die Mitarbeiter sind das größte Kapital einer sozialen Einrichtung. Eine Einrichtung kann nur so gut sein wie die Summe der Intenonen und Move ihrer Mitarbeiter. Die Werte und Intenonen der Mitarbeiter besmmen ihr Handeln. Ihre Grundhaltung sollte von Respekt und Wertschätzung gegenüber den Personen mit Demenz geprägt sein. • Jeder Mensch möchte in einer Instuon nicht nur eine Nummer sein, sondern auch einen Namen haben. • Jeder Mensch möchte Gestaltungsmöglichkeiten haben: Er möchte etwas tun können. • Aufwertung der Teilzeitbeschäigung • Es gibt drei zentrale Indikatoren, um die Lebensqualität der Mitarbeiter zu erfassen: den Grad der emoonalen Anstrengung (emoonal exhausng): Erschöpfung, Frustraon; den Grad der Depersonalisaon (Depersonalisaon Scale): Abstumpfen, Desinteresse; und den Grad der persönlichen Leistung (personal accomplishment): Vollendung, Kompetenz, Movaon, Empathie, Reexionsfähigkeit etc. • Zufriedene ehrenamtliche Mitarbeiter sind die besten Mulplikatoren.
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Eziente Gesundheitsförderung in einer geriatrischen Organisaon
Auf der Mitarbeiterentwicklungsebene: • Gesundheitsförderung in Stellenbeschreibungen aufnehmen mit Kompetenzen und Verantwortung für den Stelleninhaber, Zielvereinbarungen bei Mitarbeitergesprächen etc. • Schulungen über richges Heben, Tragen und Bewegen • Schulungen über Koniktmanagement und Zeitmanagement • Kommunikaonstraining • Training und Schulung, um Ressourcen bei sich und seinem Umfeld zu entdecken • Zur Stärkung der körperlichen Gesundheit: zum Beispiel Sportangebote, Rückenschulungen, Kochkurse durch Diätassistennnen bzw. Menüangebot gegen Adipositas, Obst für das Personal auf der Staon, Programme zur Entwöhnung von Rauchern • Zur Stärkung der psychischen Gesundheit im Alltag: Angebote zur Regeneraon, Hilfen zur Koniktbearbeitung: Supervisionen, Selbsterfahrungsgruppen, Balintgruppen etc. (vgl. Weidner 2004, 144 .). • Supervision kann über die Koniktbearbeitung hinaus Entlastung bringen, da sie eine Reexion über das beruiche Handeln ermöglicht und eventuell auch dabei hil, einen reekerten Umgang mit Nähe und Distanz zu lernen. Auf der Organisaonsebene: • Ein Prozess der Veränderung ausgehend von den Intenonen der Mitarbeiter wird zur Demokrasierung der Einrichtung führen, wenn in allen Schrien eine hohe Transparenz hergestellt wird. • Mitwirkung, Mitbesmmung und Transparenz sind die stärksten Anreizfaktoren. • Interdisziplinäre Teams (im Sinne des § 16 des Gesundheits- und Krankenpegegesetzes GuKG vom 19. August 1997) sind am besten geeignet, um die Bedürfnisse der Personen mit Demenz und ihrer Angehörigen wahrzunehmen und Lösungen anzubieten. Dazu gehören neben pegerischem und ärztlichem Personal etwa Physiotherapeuten, Psychologen und Ergotherapeuten. • Die Instuon muss mit den betroenen Mitarbeitern, basierend auf Evidence Based Nursing, klare Richtlinien erarbeiten (Schmerzmanagement, Symptomkontrolle, Umgang mit Personen mit Demenz etc.). • Langfrisge Dienstplangestaltung, um außerberuiche Akvitäten planen zu können • Vergrößerung der Tägkeitsspielräume
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Lösungsansätze gegen personelle und strukturelle Gewalt in der Instuon
• Entwicklung von Empowerment-Konzepten mit Förderung der Selbstbesmmung der Personen mit Demenz und der Selbstverantwortung der Pegepersonen • Schaung einer berechenbaren Umgebung • Paradigmenwechsel: Änderung des Pegeverständnisses und des Arbeitsverständnisses • Es bedarf einer Instuonskultur, die Demenz, Mulmorbidität, Sterben und Tod als natürliches, bedeutungsvolles Ereignis nicht nur zulässt, sondern diesem Ereignis auch einen Platz im Alltag einräumt. • Eine Betreuungs- und Pegekonzepon kann nur gelingen, wenn sie einen Prozess widerspiegelt, an dem wirklich alle beteiligt sind, die am Aurag der Einrichtung parzipieren. • Auau einer transparenten Kommunikaonsstruktur und -kultur: Alles, was die Person mit Demenz betrit, muss den Mitarbeitern mitgeteilt werden. • Implemenerung einer Feedback- und Fehlerkultur • Implemenerung von Empowerment-Zirkeln und mulperspekvischen Fallbesprechungen • Schaung eines Angehörigenbeirates Auf der gesellschalichen Ebene: • Eine soziale Einrichtung muss eine Einladungskultur auauen und pegen, wenn sie nicht zu einem Gheo werden will. Ziel: Berührungsängste abbauen und das Image der Pegepersonen in der Gesellscha verbessern. • Ein Zeichen der gesellschalichen Wertschätzung wäre auch eine Anerkennung im Rahmen einer gehaltlichen Abgeltung und terären Ausbildung. • Aufwertung des Berufsbildes in der Gesellscha • Professionalisierung der Pege 7.5.2 Implemenerung [Spezielle Schulungen für Pegende, M. W.-L.] reichen jedoch o nicht aus, um das eigene Pegeverhalten zu verändern, denn Veränderungsmöglichkeiten hängen vor allem davon ab, ob die Vermilung der Inhalte sowohl die Kognion, als auch die Emoonen und die Haltung der Pegenden ansprechen. (BMG 2006, 59)
Ein vielseiges Implemenerungs- und Movaonsmanagement ist eine grundlegende Voraussetzung für die Implemenerung in der Praxis. Trägerorganisaonen, die die Gesundheitsförderung implemeneren wollen, müssen viel Geduld auringen. Da es sich um einen Paradigmen- und
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Menschenbildwechsel handelt, müssen Umwege, Rückschrie, Pausen, Sackgassen, Entmugungen, Widerstände mit einkalkuliert werden. Die Zeitrhythmen der Mitarbeiter sollen respekert werden. Die Führungskräe dürfen nicht vergessen, wie viel Zeit sie selbst benögt haben, um diesen Weg der Veränderungen zu gehen. Wollen sie Überforderung und Ablehnung gegen das Projekt vermeiden, müssen sie daher im Rahmen der Implemenerung den Mitarbeitern ebenfalls die entsprechende Adaponszeit zugestehen. Die Führungskräe spielen eine entscheidende Rolle in der Phase der Implemenerung, weil sie für ein oenes und förderndes Arbeitsklima der Einrichtung verantwortlich sind. Schwierig wird es, wenn die Führungskräe zu wenig Kenntnisse haben über den Implemenerungsprozessverlauf, über die Vorgangsweise, über die notwendigen Hilfsinstrumente, über die notwendigen Handlungen, die gesetzt werden müssen, um langfrisg Erfolge zu erzielen. Ein Implemenerungsprozess ist eine sehr komplexe Managementherausforderung, der gut überlegt und vorbereitet werden muss. Die Entwicklung der Gesundheitsförderung kann nicht den Prakkern überlassen werden. Der Implemenerungsprozess gehört ganz klar in die Hände des Managements. Die Führungskräe müssen vor allem auf die Qualität der einzelnen Maßnahmen und nicht auf deren Quantät setzen. Hier ist weniger mehr. Das Management aber muss den Plan für den gesamten Implemenerungsprozess entwickeln und durchführen. (Elsbernd 2007, 366)
Das Management muss eine klare, transparente und nachvollziehbare Strategie entwickeln mit den Aspekten übergeordnetes Ziel, Projektziel, Resultate und Indikatoren, die die Grundlagen für ein Monitoring- und Evaluierungssystem bilden. Die Implemenerung der Gesundheitsförderung verläu nicht geradlinig. Die Stufen des Akzeptanzprozesses gehen von akver Verweigerung („NEIN, warum etwas ändern? Es funkoniert gut so, wir haben es immer so gemacht“, blockierendes Schweigen), aggressiver Verweigerung (Widerstand), pareller Verweigerung („Wenn’s sein muss“), depressiver Annahme („Keiner hört auf mich“, innere Kündigung), bewusster Annahme (Oenheit) bis zu begeisterter Annahme (JA, bewusste Auseinandersetzung). Hier kann man übrigens Analogien zum Krankheitsverarbeitungsprozess, „Coping“, entdecken.
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Fühlen sich Mitarbeiter wahr- und ernstgenommen, dürfen Probleme und Fehler angs rei besprochen werden, sind Selbstverantwortung und Mitbesmmung im Tagesablauf erwünscht, können Pegepersonen ihre Professionalität leben und müssen nicht ihren Frust, ihre Demovaon und/oder Erschöpfung durch Gewalt zu Tage bringen. Sind die Rahmenbedingungen, Verantwortungen, Kompetenzen nachvollziehbar, haben die Mitarbeiter einen klaren Arbeitsaurag. Wenn die Organisaon Leitlinien entwickelt hat, die genau denieren, unter welchen Voraussetzungen freiheitseinschränkende Maßnahmen angewendet werden und wenn die Mitarbeiter zusätzlich durch gezielte Schulungsmaßnahmen (im Rahmen von Gewaltprävenon, Schulungen über FEM, Sedierung usw.) und Supervision unterstützt werden, können sie in schwierigen Situaonen gewal rei handeln, freiheitseinschränkende Maßnahmen egal welcher Art minimieren und deeskalierend wirken. Wo liegen die Vorteile für die Organisaon? • Transparenter Kommunikaonsuss und -prozess • Klares Organigramm, Verantwortung und Kompetenzgrenzen • Innovaonsprozess in der Organisaon, in den Abläufen, in den Zuständigkeiten etc. • Erhöhung der Arbeitszufriedenheit, dadurch Movaon und Corporate Identy • Posives Arbeitsklima, das zu einer Verbesserung des Unternehmensimages nach innen und nach außen führt. • Gegenseiges Helfen: Alle ziehen an einem Strang • All dies zusammen verringert die Anzahl der Krankenstände, reduziert die Fehlzeiten und Fluktuaonsrate und erhöht die Wahrnehmung von Risiken. Dies führt zu mehr Ezienz, besserer Konkurrenzfähigkeit und besseren Marktchancen. • Opmierung der vorhandenen Ressourcen 7.5.3 Hindernisse bei der Implemenerung Wo könnten Hindernisse in Bezug auf eine gesundheitsfördernde Pege liegen? • Im Individualismus: Die Bezugspege berücksichgt möglicherweise zu wenig die gesundheitsfördernden Komponenten, die außerhalb der Person mit Demenz liegen: Abstrakon der Person mit Demenz von ihrer Umwelt. • In dem Rollenverständnis der Pegeperson: Die Mitarbeiter-Bewohner-Beziehung soll einer Eltern-Kind-Beziehung gleichen, passives Verhalten wird gefördert.
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• In organisatorischen und systemischen Einüssen: Die Organisaonskultur in Langzeiteinrichtungen, die mit xen Esszeiten, Besuchszeiten, „Wasch-/Badetag“ u. ä. arbeitet. Die Person mit Demenz wird nur geduldet. Sie ist ein Störfaktor der Arbeitsabläufe. • Im Ignorieren der Gesundheitsförderung für die Pegeperson selbst: Pegepersonen sollen sich selbst nicht vernachlässigen. Eine Pegeperson kann nur so gut pegen, wie sie sich wohlfühlt. 7.5.4 Evaluaon der Implemenerung Jede Intervenonsstrategie der pegerischen Gesundheitsförderung sollte evaluierbar sein. Da das übergeordnete Ziel, das Projektziel, Resultate und Indikatoren durch das Management am Anfang des Implemenerungsprozess klar deniert wurden, düre eine Evaluaon als systemischer Vorgang mit der Schwerpunktsetzung, die Ezienz der Maßnahmen, Projekte und Programme zu prüfen, problemlos durchzuführen sein. Um etwa den Erfolg der ezienten Gesundheitsförderung in der geriatrischen Organisaon hinsichtlich der Häugkeit von Gewaltanwendungen sichtbar zu machen, könnten einfache Indikatoren benützt werden: • Wann, wie lang und warum wurden welche freiheitseinschränkenden Maßnahmen angeordnet? Wurden die Voraussetzungen, die medizinischen und pegerischen Indikaonen und die rechtlichen und juridischen Rahmenbedingungen für die Applizierung einer freiheitseinschränkenden Maßnahme eingehalten? • Wurden Psychopharmaka verschrieben? Wenn ja, mit welcher Indikaon und in welcher Dosierung?
8. Ein Beispiel für Good Practice32 Was kann eine Organisaon gegen Gewalt tun? Hierauf gibt es eine erste klare Teilantwort: Ohne eine entsprechende Leitung gar nichts. Als Grundvoraussetzung, um die Betreuung und Pege hochbetagter mulmorbider Personen mit und ohne Demenz zukünig auf hohem Standard 32 Die folgenden Beschreibungen beziehen sich auf das Pensionistenheim „Haus Paul“ (der Name wurde geändert), das ich, Monique Weissenberger-Leduc, in der Zeit von Anfang September 2008 bis Ende Oktober 2008 besuchte. Sie sind Teil einer qualitaven, nicht teilnehmenden Forschungsarbeit. Während der zweimonagen Beobachtungszeit verabreichten weibliche Pegepersonen oder Schülerinnen das Miagessen (es gab keine männlichen Pegepersonen oder Schüler zu dieser Zeit auf der Staon). Zivildiener und Abteilungshelferinnen halfen direkt bei der Essenseingabe nicht mit. Sie waren aber für das Vorbereiten in der Staonsküche (die Teil des Aufenthaltsraumes ist), das Anbieten und Servieren im Aufenthaltsraum, das Abservieren und für das Abwaschen auf der Staon zuständig.
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• In organisatorischen und systemischen Einüssen: Die Organisaonskultur in Langzeiteinrichtungen, die mit xen Esszeiten, Besuchszeiten, „Wasch-/Badetag“ u. ä. arbeitet. Die Person mit Demenz wird nur geduldet. Sie ist ein Störfaktor der Arbeitsabläufe. • Im Ignorieren der Gesundheitsförderung für die Pegeperson selbst: Pegepersonen sollen sich selbst nicht vernachlässigen. Eine Pegeperson kann nur so gut pegen, wie sie sich wohlfühlt. 7.5.4 Evaluaon der Implemenerung Jede Intervenonsstrategie der pegerischen Gesundheitsförderung sollte evaluierbar sein. Da das übergeordnete Ziel, das Projektziel, Resultate und Indikatoren durch das Management am Anfang des Implemenerungsprozess klar deniert wurden, düre eine Evaluaon als systemischer Vorgang mit der Schwerpunktsetzung, die Ezienz der Maßnahmen, Projekte und Programme zu prüfen, problemlos durchzuführen sein. Um etwa den Erfolg der ezienten Gesundheitsförderung in der geriatrischen Organisaon hinsichtlich der Häugkeit von Gewaltanwendungen sichtbar zu machen, könnten einfache Indikatoren benützt werden: • Wann, wie lang und warum wurden welche freiheitseinschränkenden Maßnahmen angeordnet? Wurden die Voraussetzungen, die medizinischen und pegerischen Indikaonen und die rechtlichen und juridischen Rahmenbedingungen für die Applizierung einer freiheitseinschränkenden Maßnahme eingehalten? • Wurden Psychopharmaka verschrieben? Wenn ja, mit welcher Indikaon und in welcher Dosierung?
8. Ein Beispiel für Good Practice32 Was kann eine Organisaon gegen Gewalt tun? Hierauf gibt es eine erste klare Teilantwort: Ohne eine entsprechende Leitung gar nichts. Als Grundvoraussetzung, um die Betreuung und Pege hochbetagter mulmorbider Personen mit und ohne Demenz zukünig auf hohem Standard 32 Die folgenden Beschreibungen beziehen sich auf das Pensionistenheim „Haus Paul“ (der Name wurde geändert), das ich, Monique Weissenberger-Leduc, in der Zeit von Anfang September 2008 bis Ende Oktober 2008 besuchte. Sie sind Teil einer qualitaven, nicht teilnehmenden Forschungsarbeit. Während der zweimonagen Beobachtungszeit verabreichten weibliche Pegepersonen oder Schülerinnen das Miagessen (es gab keine männlichen Pegepersonen oder Schüler zu dieser Zeit auf der Staon). Zivildiener und Abteilungshelferinnen halfen direkt bei der Essenseingabe nicht mit. Sie waren aber für das Vorbereiten in der Staonsküche (die Teil des Aufenthaltsraumes ist), das Anbieten und Servieren im Aufenthaltsraum, das Abservieren und für das Abwaschen auf der Staon zuständig.
M. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Ein Beispiel für Good Pracce
gewährleisten zu können, ist die Erarbeitung einer angemessenen Grundhaltung der Organisaon und aller ihrer Mitarbeiter unerlässlich. Ohne geeignete personzentrierte Grundhaltung kann die Pegeleitung alle möglichen Schrie setzen, alle möglichen Versuche unternehmen – die Qualität der Betreuung und der Pege wird nicht steigen. Obwohl Träger, Finanzierung, Heimverträge, Hausordnungen, Leitbilder, Pegekonzepte, Gesetze, Weiterbildungsbudgets o homogen sind, sind die einzelnen Heime sehr unterschiedlich. Woran kann das liegen? Am Beispiel des Heimes „Haus Paul“, das einerseits schwarze Zahlen schreibt und anderseits Teil einer großen österreichischen Organisaon ist, soll ein – trotz wirtschalichen Druckes – gangbarer, gewal reier, struktureller, prozesshafter Weg aufgezeigt werden. Thomas Görgen stellt Folgendes fest: Instuonen entwickeln auch Mechanismen, um sich von der Außenwelt abzuschoen und sich bei vielem von dem, was sie tun, nicht in die Karten schauen zu lassen. (Görgen 1999, 61)
Im Haus Paul nden sich solche Mechanismen nicht und seine Mitarbeiter behaupten auch nicht, „die Instuon sei frei von jedwelchen Gewaltphänomenen“ (Förster, 2008, 43). Der Zugang zum „Innenleben“ des Hauses Paul war nicht schwierig. Das Ansuchen, eine qualitave Forschungsarbeit im Haus durchführen zu dürfen, wurde nicht nur posiv aufgenommen, sondern die Forscherin wurde während des gesamten Projektes unterstützt: Unterlagen wurden problemlos zur Verfügung gestellt, Gespräche konnten jederzeit geführt werden, teilnehmende und nicht teilnehmende Beobachtungen konnten ohne Vorankündigung im öentlichen Raum sta inden usw. Die Mitarbeiter dieses Hauses schoen sich eindeug nicht ab. Auällig war die Haltung der Mitarbeiter gegenüber den Bewohnern, die auch im Rahmen der Landespegeeinschau dokumenert wird: Die Einstellung der MitarbeiterInnen gegenüber den BewohnerInnen ist sehr einfühlsam und bewohnerorienert, die Philosophie, das DaHeim wird von allen MitarbeiterInnen gelebt. (Landespegeeinschau 2005, 2)33
Der Pegedienstleiter hat eine klare Vorstellung von Pege und Betreuung. Er hat sich die zentrale Frage gestellt: „Welche Qualität will sich das Haus leisten?“ und hat die Antwort in der Übereinsmmung der Werte 33 Um die Anonymität zu gewährleisten, wird in diesem Fall (Landespegeeinschauen in Bezug auf das hier näher beschriebene Heim) auf eine nähere und eindeuge Quellenangabe bewusst verzichtet (daher auch keine Aufnahme ins Literaturverzeichnis).
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Ein Beispiel für Good Pracce
von Gesundheit, Krankheit und Alter gefunden. Er hat diese Einstellung zur Pege auch in der Stellenbeschreibung für diplomierte Gesundheitsund Krankenpeger und Staonsleitung-Stellvertretung deniert: „Den HeimbewohnerInnen ist ein menschenwürdiges, ihren Bedürfnissen und den modernen Grundsätzen der Pege entsprechendes Leben zu ermöglichen.“ Die Heimleiterin hat darüber hinaus eine klare Vorstellung von Wirtschalichkeit. Beide geben gemeinsam den Weg vor: Respekt und Wertschätzung des Einzelnen bei hoher Qualität und posiver Bilanzierung. Die Pegeorganisaon im Haus ist sehr gut strukturiert und lässt eine gute Zusammenarbeit zwischen Verwaltungs- und Pegebereich erkennen. (Landespegeeinschau 2006, 1)
Der Pegedienstleiter hat sich bewusst mit dem Pegepersonal auf Pegemodelle mit kleiner Reichweite geeinigt, die krankheitsbildspezisch entwickelt worden sind. In Konzepten und Modellen sind Bereiche verankert wie Ethik, Menschenwürde und die Haltung gegenüber Menschen, die vom Team in einem Leitbild formuliert sein sollten. (Protokoll 29. 4. 2009, 18) 34
Das gesamte Personal wurde und wird weiterhin besonders in Kinästhek, Christel Biensteins Basaler Smulaon® (Bienstein u. Fröhlich 2007) und im Integraven Pegemodell® von Maria Riedl (Riedl 2006) bzw. im Psychobiographischen Pegemodell®/Übergangspege® nach Erwin Böhm (Böhm 2009) weitergebildet. Diese Modelle ermöglichen eine bessere Situaonsanalyse, auf deren Grundlage erst eine situaons- und individuumsangemessene Hilfeplanung erstellt werden kann und deren Zielsetzungen durchgeführt werden können. Warum ist diese situaons- und individuumsangemessene Pegeplanung so wichg? Wenn Pegepersonen den Sinn des Instrumentes Pegeprozess und der Pegevisite verstanden haben, wird ihnen dadurch klar dargestellt, welche Aufgabe die diplomierte Gesundheits- und Krankenpegeperson hat und wofür sie bezahlt wird. Nämlich im Team und mit dem Kunden die gemeinsame Erarbeitung seiner pegerischen Maßnahmen, dieser Pegeprozess ist zugleich der Arbeitsaurag, Anleitung und Delegaon für die Pegehilfe. Das Arbeiten am Krankenbe sollte vom gehobenen Dienst ganz gezielt eingesetzt werden, zur Vorbildwirkung, zur Kontrolle und Aufsichtspicht, zur Beratungsfunkon, zur Rehabilitaon, als Bezugsperson und zur Umsetzung von Konzepten. (Protokoll 29. 4. 2009, 10) 34 Die Staonsleiterin hat ihre Gedanken zur Aufgabe und Rolle einer Führungskra am 29. 4. 2009 niedergeschrieben.
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Ein Beispiel für Good Pracce
Hier werden die Organisaonsstrukturen, die einzelnen Kompetenzen, Rollen und Aufgaben klar transporert. Doppelgleisigkeiten, die o durch Intransparenz, Unklarheiten, Nicht-Absmmen und Unübersichtlichkeit entstehen, können beseigt werden. Kapazitäten werden frei. Die Besetzung und die Zusammensetzung des Personals sind für alle Mitarbeiter klar dargestellt – das Ergebnis ist eine erhöhte Personalzufriedenheit. Die Bewohner und die Angehörigen wissen, wer wofür zuständig ist. Sie können sich orieneren, sind somit nicht der Willkür ausgeliefert – das Ergebnis ist eine erhöhte Kundenzufriedenheit. Auf Grundlage der Kriterien für strukturelle Gewalt (vgl. Kap. 6) soll jetzt der Blick näher auf das Haus Paul gerichtet werden. Hierarchie und Führungssl Die Erwartungen des Pegedienstleiters und der Heimleiterin des Hauses Paul stehen nicht im Gegensatz zu den Erwartungen der Heimbewohner. Die Bewohner kommen nicht zu kurz und müssen nicht durch negave Verhaltensweisen auf sich aufmerksam machen. Die Mitarbeiter können sich mit den Zielen und Normen des Hauses idenzieren und daher gleichzeig die Interessen der Bewohner respekeren. Dadurch entstehen keine Intrarollenkonikte. Die Mitarbeiter stehen nicht im Spannungsfeld zwischen Heimanforderungen und Bewohnererwartungen. Hierdurch entsteht ein Miteinander anstelle eines Gegeneinanders. Im Haus Paul gibt es eine sehr ache Hierarchie. Entscheidungen werden miteinander getroen und die Mitarbeiter werden ernst genommen. Der Pegedienstleiter und die Heimleiterin haben den Mitarbeitern beispielsweise erklärt, dass das Haus nur kostendeckend arbeiten kann, wenn es pro Staon einen Bewohner mehr gibt und die Bewohner erst ab Pegegeldstufe IV (ansta Pegegeldstufe III) aufgenommen werden. Die Mitarbeiter haben die Erläuterungen verstanden und akzepert. Selbstverantwortung wird bei ihnen groß geschrieben und sie haben das Gefühl, dass das, was sie tun, sinn- und wertvoll ist. Der Grund für die Movaon düren die guten Beziehungen und die Kooperaon zwischen Pegedienstleiter, Heimleiterin und Mitarbeiter sein. Verschiedene Aspekte sind hierbei relevant: • Eine Führung, welche die Movaon in ihren Mitarbeitern weckt. Am Erfolg zu arbeiten, moviert, macht Spaß, man wird süchg und kann nicht mehr au ören. Das Interesse, wie man zum Erfolg kommen kann, wird größer. […] Qualizierte und movierte Mitarbeiter sind somit der Schlüssel zur Wirtschalichkeit. (Protokoll 29. 4. 2009, 5)
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Ein Beispiel für Good Pracce
Die Idee dahinter ist, den Mitarbeitern die Sinnhaigkeit ihrer Leistungen, die sie im Rahmen einer Instuon im Aurag der Gesellscha leisten, zu vermieln. Ein persönlicher Umgang am Arbeitsplatz ist maßgeblich für die individuelle Movaon. Gute Beziehungen am Arbeitsplatz, Gerechgkeit und erlebtes Vertrauen wirken nicht nur movierend, sondern sind auch gesundheitsfördernd. Mitarbeiter, die in den Prozess der Qualitätsentwicklung eingebunden sind, fürchten sich nicht mehr vor Qualitätsevaluaonen. Der Heimleiter des Hauses Paul schmückt sich nicht mit fremden Federn. Er verteilt Lob und Dank an seine Mitarbeiter. Er zeigt den Mitarbeitern ihre eigenen Erfolge, die sie o selber nicht mehr wahrnehmen: Ruhe und Leben auf der Staon, keine Decubita, keine PEG-Sonden aufgrund von Mangelernährung etc. • Staonsleitungen, die ihr Budget kennen, können dadurch Prioritäten setzen. So liest man in der Stellenbeschreibung: „Die Wirtschalichkeit ist durch den zielführenden Einsatz sämtlicher Ressourcen sicherzustellen.“ Das Wissen um das eigene Budget ermöglicht die Suche nach dem opmalen Einsatz der vorhandenen materiellen, nanziellen und vor allem personellen Ressourcen und führt zu Kreavität. Im Haus Paul ist das besonders in der Dienstplangestaltung sichtbar: „Wie können wir mit dem vorhandenen Personal am besten den Erfordernissen der Staon gerecht werden?“ Gemeinsam wurden Dienstplanformen gesucht, ausprobiert und evaluiert. Der Tagdienst im Haus Paul ist zwischen 6 Uhr und 20.30 Uhr präsent. Einige Mitarbeiterinnen, die in der Nähe wohnen, haben sich bewusst für einen geteilten Dienst entschieden. Zum Beispiel: 6.45 bis 12.45 Uhr oder 7.30 bis 12.45 Uhr und dann 15.15 bis 19.45 Uhr oder 16.00 bis 20.30 Uhr. Hier liegt der Fokus nicht ausschließlich auf der Deckung der Bedürfnisse der Bewohner, sondern genauso auf der Deckung der Bedürfnisse der Pegeperson zum Beispiel als Muer, die ihre Tochter oder ihren Sohn nicht in der Rolle eines Schlüsselkindes alleine lassen möchte. Der Nachtdienst ndet zwischen 19.15 und 7.15 Uhr sta. • Sprechen alle Führungsmitarbeiter eine gemeinsame Sprache? Können die relevanten Fragen gestellt werden? Fachwissen und Eigenverantwortung führen dazu, dass Mitarbeiter im Haus Paul lernen, sich zu arkulieren und zu argumeneren. Durch gemeinsame Indoorschulungen und eine gemeinsame Haltung sprechen die Mitarbeiter die gleiche Sprache. • In der letzten Zeit wird sehr viel von Standards gesprochen, unter anderem auch von dem sehr vielschichgen Begri „Pegeassessment“. Für die Gesundheitsbehörde ist der Einsatz eines Sturzrisiko- oder Ernährungsassessments ein Qualitätskriterium, ein Indikator, da nach
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Ein Beispiel für Good Pracce
Meinung der Gesundheitsbehörde die Standards bewohnerzentriertes Pegehandeln indizieren. Im Haus Paul gibt es sehr wenige Pegeassessments und es wird auch nicht nach der Regel „Assessment vorhanden = gute Qualität“ gepegt. Mitarbeiter wurden befähigt, Assessmennstrumente krisch zu hinterfragen. Assessmennstrumente können zu einer professionellen bewohnerorienerten Pegepraxis beitragen, tun es aber nicht automasch (vgl. Bartholomeyczik 2007, 211). So ist die Kehrseite standardisierter Instrumente, dass sie zum Missbrauch verleiten, weil sie manchmal wie eine nicht zu hinterfragende Vorschri angewandt werden, ohne ihre inhaltlichen und formalen Qualitäten genauer zu beachten. (Bartholomeyczik 2007, 211 f.)
Im Haus Paul werden sehr wenige standardisierte Assessmennstrumente benützt, diese dafür aber gezielt eingesetzt. Die Pegepersonen wurden bestens geschult. Sie wissen, wann, wofür und wie die Qualitätsinstrumente anzuwenden sind. Viel Leid wird dadurch vermieden, viel Zeit und Kosten werden dadurch gespart. Pegehandeln basiert vorrangig auf dem Urteil der Pegenden. Pegepersonen erreichen durch partnerschaliche Zusammenarbeit, durch Verstehen-Lernen des Menschen und durch versuchen, in den Füssen des anderen zu gehen, eine opmale Pege für den Betroenen. (Protokoll 29. 4. 2009, 15)
Das Pegehandeln, das in den Selbstverantwortungsbereich des Pegenden gehört, muss „State of the Art“, muss stets nachvollziehbar und begründet sein. Das Ergebnis: Einstufung des Qualitätsniveaus der Pege auf Stufe 4, „opmale Pege; der Bewohner erhält die Möglichkeit, die Pege akv mitzugestalten und selbst zu entscheiden, die Anforderungen entsprechen seinen Fähigkeiten“ (Kämmer 1994, 134 f.). Die Konnuität wird unter anderem durch Pegevisiten gewährleistet: Die ständige Kommunikaon in Pegevisiten und deren Verschrilichung stellt sicher, dass Maßnahmen mit dem oder ohne den Pegebedürigen vereinbart wurden und dass alle Mitarbeiter an diesen Zielen beteiligt sind, daran arbeiten, Konzepte umsetzen und sie gelebt werden. (Protokoll 29. 4. 2009, 18)
• Kann eine Staonsleitung delegieren? Im Haus Paul werden gemeinsam Lösungen gesucht, Informaonen ießen in alle Richtungen. Es gibt viele kleine temporäre Arbeitsgruppen, sei es über Trauerbegleitung, über Schmerztherapie, Urlaub vom Heim oder über Pegeleitbilder. Die Ergebnisse aus diesen Arbeitsgruppen ießen in die Alltagspraxis ein.
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Die Stärke von Führungskräen liegt in der Wirksamkeit und Ausdauer, sie arbeiten im Hintergrund und es sind ganz gewöhnliche Menschen, die konstant, wie ein Motor, das Schi vorantreiben. (Protokoll 29. 4. 2009, 21)
Die Stärke eines Staonsleiters wird besonders sichtbar in seiner Fähigkeit, einen „Mitarbeiter so einzusetzen, dass er sich weiterentwickeln und verwirklichen kann.“ (Protokoll 29. 4. 2009, 21) Das ist eine vom Pegedienstleiter im Haus Paul vorgelebte Kunst: Präsent zu sein, ohne dabei aufdringlich zu wirken; die Geschichte jedes Bewohners und jedes Mitarbeiters so gut zu kennen, dass er oder sie sich wahrgenommen und ernst genommen fühlt; zu führen, ohne zu manipulieren; Raum für Kreavität und Freiheit zu bieten, ohne Chaos entstehen zu lassen. Der Pegedienstleiter des Hauses Paul kann mit einem Orchesterdirigenten verglichen werden.35 Jeder Musiker ist ein Experte in seinem Bereich. Die Rolle des Orchesterdirigenten ist es, diese Solisten so zu führen, dass sie ein Musikstück auf höchstem Niveau gemeinsam spielen, ohne dabei ihre Eigenheiten zu verleugnen. Jeder Einzelne ist wichg. Aufgabe des Dirigenten ist es, den Einsatz genau zu koordinieren, die Betonungen und Rhythmen aufzuzeigen, um den eigenen Klang des Orchesters entstehen zu lassen. All das geschieht zu dem Zweck, das „größere Ganze“, ein einzigarges Musikstück eines besonderen Komponisten, hörbar und spürbar zu machen. Der Pegedienstleiter hat nur diese eine Aufgabe: Seine Musiker sind die Mitarbeiter und das größere Ganze ist das Angebot einer Betreuung und Pege auf hohem Niveau bei gleichzeiger Wirtschalichkeit. Der Pegedienstleiter wie der Dirigent behalten das ganze Orchester und seinen Rahmen im Auge. Die Gesamtverantwortung trägt die Führungskra, aber durch Weitergabe von Verantwortung an die Mitarbeiter wird wiederum die Führungskra von den Mitarbeitern getragen. (Protokoll 29. 4. 2009, 22)
Dieses Geben und Empfangen von Kra ist ein entscheidendes Miel gegen Überforderung und Burnout. Es wirkt stabilisierend auf den Ressourcenhaushalt aller Personen, die im Haus Paul arbeiten, und schat die Grundlage einer Vertrauensbasis. Ein weiterer Aspekt dieses Gebens und Empfangens ist das Zugestehen der Möglichkeit, zu sagen: 35 Das Bild des Orchesters wurde in anderer Form von Erich Loewy bereits in den 90er Jahren verwendet – im Kontext des Lebensendes: „Den Tod zu ‚orchestrieren‘, genauso wie eine Symphonie zu dirigieren oder eine Partur zu schreiben, heißt, die richgen Instrumente in der richgen Tonart und zum richgen Zeitpunkt zu verwenden. Es ist eine Aufgabe, die nicht nur technisches, sondern in erster Linie auch Wissen um menschliche Gefühle voraussetzt. (Loewy 1995, 104)
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„Ich habe einen Fehler begangen“ oder „Hier sind wir auf dem falschen Weg“. • Wie funkoniert die Staon während einer Abwesenheitsphase der Staonsleitung? Dies ist ein interessanter Aspekt. Die Staonsleiterin meint in Anlehnung an Fredmund Malik (vgl. Malik 2006): Eine Staon hängt nicht alleine von einer Einzelperson ab, da der wahre Prüfstein für eine Führungskra nicht der Erfolg während seiner Akvphase ist, sondern vielmehr die Situaon, in die die Organisaon nach seinem Ausscheiden gerät: Ist sie weiterhin erfolgreich, ist sie trotz des Wechsels an der Spitze robust oder bricht sie zusammen, weil eben alles auf diese Person zugeschnien war. (Protokoll 29. 4. 2009, 23)
Diese Bemerkung birgt viel Kra in sich, besonders wenn wir sie anwenden auf die nur zeitweilige Abwesenheit einer Führungskra: Wie o werden Pegemaßnahmen nur dann durchgeführt, wenn die Staonsleitung anwesend ist? In diesen Häusern herrscht Angst vor Repressalien. Der Dienst wird nach Vorschri „abgearbeitet“. Die Haltung der Staonsleitung wurde nicht übernommen; der Sinn der Wertepriorität wurde nicht verstanden. Gleichzeig ist bekannt, dass ein solches Arbeitsklima allen Arten von Gewalt Tür und Tor önet. Nur wer die Grundhaltung des Respekts und der Achtung vor dem Mitmenschen verinnerlicht hat, wird auch ohne Anwesenheit der Leitung in diesem Sinne arbeiten. • Achten die Führungskräe auf ihre Mitarbeiter, dürfen sie sich en alten? In einer Organisaon, die Heiterkeit, Inspiraon, Respekt und Achtsamkeit vorlebt, wird jeder Einzelne ernst genommen und braucht keine Gewalt, keine Macht auszuüben. Jeder Mitarbeiter hat das Recht, er selbst zu sein. Der Pegedienstleiter des Hauses Paul stellt nicht wahllos jemanden an, weil gerade irgendwo jemand gebraucht wird, sondern er besetzt jeden einzelnen Posten ganz gezielt: Frau Meyer, weil sie Frau Meyer ist und über besmmte Kompetenzen, Fergkeiten und Fähigkeiten verfügt. In den Anfängen der Pegetägkeit des Hauses Paul gab es Schwierigkeiten, gutes Personal zu nden. Der Pegedienstleiter, im Einklang mit dem Team, hat manchmal eine Stelle unbesetzt gelassen, um niemanden anzustellen, der die Werte des Hauses nicht miragen kann. Diese Zeiten sind vorbei. Das Haus Paul kann sich jetzt ganz gezielt und bewusst sein Personal aussuchen: Wer passt zum Team? Um dies herauszunden gibt es vor einer Anstellung sowohl einen Schnuppertag als auch einen Probemonat. Das Haus Paul hat sich außerdem dazu entschlossen, zuerst nur Verträge mit
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Ein Beispiel für Good Pracce
einer Ein-Jahres-Frist mit seinen Angestellten einzugehen, weil die Mitarbeiter der Meinung sind, dass erst im Laufe der Zeit die Grundhaltung der Person im Alltag erkennbar wird. Der erste Punkt der Checkliste für neue Mitarbeiter ist die Übereinsmmung der Philosophie der Staon mit jener des Bewerbers: Normalitätsprinzip, Wertschätzung, Prioritäten. Dafür verwendet die Staonsleiterin viel Zeit, denn hierbei handelt es sich auch um ihre erste Priorität. Essenszeiten, eitpläne, Arbeitsablauforganisaon und Schlaf- und Weckzeiten Die Tagesabläufe werden von den Bewohnern besmmt, je nach ihrer Eigenständigkeit und ihren Lebensgewohnheiten. Ihre jeweilige Normalität gibt den Rhythmus vor. Beobachtung am 16. 9. 2008: • 12.35 Uhr: Frau Schönberg36 kommt im Nachthemd. • Pegerin Frau Maria zu Frau Schönberg: „Wer kommt daher? … Guten Morgen … Ausgeschlafen?“ • Frau Schönberg: „Sehr gut.“ • Pegerin Frau Maria: „Das ist fein.“ Sie zeigt Frau Schönberg ihren Platz am Tisch. Während der Essenszeiten ist die Anwendung der Basalen Smulaon® von größter Wichgkeit: Sowohl der Raum als auch die Atmosphäre und die Bewohner werden gut auf das Ereignis „Essen“ vorbereitet. Alle Sinne werden angeregt, um den Speicheluss in Gang zu setzen. Der Körper kann sich auf die Nahrungsaufnahme vorbereiten. Das Schlucken und Kauen werden dadurch smuliert. Beobachtung am 22. 9. 2008: • Pegerin Frau Pia: „Was riecht da?“ • Mehrere Personen versuchen, den Geruch zu erkennen und themasieren: „Das riecht nach Brot“, „nach Nusskipferl“ etc. • Pegerin Frau holt Apfelspalten, kommt zurück und sagt: „Schauen Sie [zu Frau Hackl und Frau Bäckmann, M. W.-L.], wie das gut ausschaut, riechen Sie einmal.“ • „Frau Köhler schauen Sie mal, eine Apfelspalte, sie riecht ganz intensiv.“ Die Tochter von Frau Schönberg ist da und macht ihre Muer auf ihre eigene Vorliebe für Apfelspalten aufmerksam. 36 Um die Anonymität zu gewährleisten wurden deutsche Vor- und Nachnamen aus dem Telefonbuch gewählt.
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Die Getränke besorgt der Zivildiener, der jeden Bewohner fragt, was er gerne zu trinken häe. Die Bewohner bekommen alles Mögliche zu trinken: Cola, helles oder dunkles Bier, Wein, Most, Leitungswasser, Apfelsa – je nach Wunsch. Ein Kompromiss zwischen den Hygienevorschrien und der Anwendung der Basalen Smulaon® musste hinsichtlich der Tischplaen gefunden werden: Diese sind aus Kunststo und regen dadurch nicht zum Nachspüren an, wie etwa unebene Holzplaen. Der Herrgoswinkel zu Tisch entspricht den Lebensgewohnheiten dieser Generaon, und es ndet keine Ablenkung durch Radio, TV oder Musik sta. Die Atmosphäre ist ruhig und auf Essen eingestellt. Diese Gusto-Vorbereitung ist für die Nahrungsaufnahme notwendig. Denn nur wenn die Sinne wach sind, ist der Bewohner in der Lage, zu essen. Zur Essenszeit wird ein Glöckchen geläutet. Hierbei handelt es sich um ein Einsegsritual wie auch das Mahlzeit-Wünschen, oder die Inialberührung beim Kommen und Gehen, die durch die Pegeperson bewusst gesetzt wird. Diese Adaptaonszeit ist notwendig, um die Bewohner da abzuholen, wo sie sich gerade mental benden. Die Pegepersonen achten auch sehr auf die Körperposion der Bewohner während des Essens. Ist eine Verbindung zwischen den Füßen und der Erde vorhanden? Passen Stuhl- und Tischhöhe zusammen? Pegerin Frau Pia lässt Frau Mayer schlürfen. Von der Resonanz her ist sie dicht bei ihr. Der Dialog ist sowohl verbal als auch nonverbal. Frau Mayer spürt, dass jemand bei ihr ist, der sie führt, aber dabei nicht drängt und ihren Rhythmus unterstützt. Werden Behinderungen des Schluckvorganges bemerkt? Bei Herrn Nagel ndet eine orale Anbahnung über die Ohren/Parosspeicheldrüse und der Wange sta. Die Wange wird ganz fein mit einen Froeetuch ausgestrei. Dadurch wird Herrn Nagel passiv der Kauapparat bewusst gemacht. Die Innervaon der Kaumuskeln im Gehirn wird angesprochen. Die Parosspeicheldrüse ist immer bereit, Speichel zu erzeugen. Nach fünf- bis sechsmal Streicheln kommt der Speicheluss im Mund in Gang. Dies führt zu einer Selbstreinigung des Mundes durch die eigene Mundora, zu Zungenbewegung und dadurch zu Schluckbewegung. Diese Vorgänge geschehen automasch durch den Hirnnerv (Innervaon zum Gedächtniszentrum), der mit der Zunge gekoppelt ist. Eine andere Vorgangsweise, die sich gerade zu dieser Jahreszeit (Herbst) für den Bauern Herr Nagel anbietet, ist Most. Herrn Nagel kann man sehr gut mit Most oder Sturm „locken“. Sein Bruder bringt einen Hausgemachten mit, den Herr Nagel früher immer gerne vor dem Essen getrunken hat.
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Ein Beispiel für Good Pracce
Die spannende Frage im Alltag ist: Wie viel individuelle Normalität kann gelebt werden, ohne die individuelle Normalität eines anderen Bewohners einzugrenzen? Konikte zwischen gegenteiligen Rhythmen müssen von vornherein angesprochen werden, um Kompromisse im Sinne der Gemeinscha nden zu können. Im Alltag bedeutet dies, dass es keine festen Zeiten für das Aufstehen und Zu-Be-Gehen geben kann. Die Staon bewälgt diese Vielfalt durch • eine klare Grundhaltung und das Bekenntnis zum Normalitätsprinzip • gut durchdachte Dienstplangestaltungen • eine kleine Küche auf der Staon • Flexibilität und muldisziplinäre Zusammenarbeit • Platz für Kreavität und En altungsmöglichkeiten: Obsternte einbringen • außerordentliche begründbare und argumenerbare Lösungen: Urlaub vom Heim Das Frühstück, die Zwischenmahlzeiten und das Abendessen werden individuell auf der Staon vorbereitet. Der Zivildiener holt den Warmhaltewagen für das Miagessen um 11.30 Uhr. Die Staon hat sich für ein Schöpfsystem entschieden, damit sie je nach Bedarf variieren kann. Die Bewohner werden nicht im Voraus gefragt, sondern an Ort und Stelle, bei Bedarf werden beide Hauptmenüs nacheinander (sehr wichg, sonst ndet eine Überforderung sta) vorgezeigt. Das jeweils aktuelle Menü wird täglich auf einem Schwarzen Bre mit großen handgeschriebenen Leern angekündigt. Da das Geschirr auf der Staon gewaschen wird, gibt es keinen Rückgabedruck. Frühstückszeiten des Personals Das Frühstück und das Miagessen stehen im Sozialraum bereit. Die Staonsleiterin legt nur darauf Wert, dass jeder ihrer Mitarbeiter seine Pausen einhält und in dieser Zeit nicht gestört wird. Hausordnung Die Hausordnung des Hauses Paul ist so konzipiert, dass sie so wenig wie möglich die individuelle Lebens- und Arbeitsgestaltung der Bewohner und Mitarbeiter einschränkt. Wo eine Einschränkung nög ist (durch baupolizeiliche Richtlinien), wird sie erklärt und begründet. Gemeinsam werden Lösungen und Alternaven gesucht. Das Moo lautet: „Wo können sich alle treen, damit die Entscheidung für alle lebbar und vertretbar wird?“ Einbindung der Angehörigen Die Betreuung der Bewohner inkludiert bei Bedarf die Betreuung der Angehörigen. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Angehörigenbetreuung
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und -begleitung nimmt viel Zeit in Anspruch. Sie werden nicht nur in ihrer Rolle als Bezugsperson geschätzt, sondern o auch als Kontakt zur Außenwelt (Kann jemand auf Besuch kommen bzw. eine Weile da bleiben, da der alte Mensch gerade eine schwierige Phase durchlebt; ist ein Besuch des alten Wohnsitzes möglich – Urlaub zu Hause?), als Dolmetscher (Was könnte sein Verhalten bedeuten? Welche Bewälgungsstrategien hat er früher erfolgreich verfolgt?), als Informaonsquelle (Wo und wie hat er gelebt? Was war er für ein Mensch?) und als Entscheidungsträger (Unterstützung bei der Entscheidung, ob der alte Mensch ins Krankenhaus überstellt werden soll oder nicht; Übernahme der Sachwalterscha etc.). Wenn die Familie den Geburtstag eines Bewohners im Haus feiern möchte, werden ein Raum, Geschirr, etc. zur Verfügung gestellt und Unterstützung angeboten. Privatsphäre und ebensräume Die Frage, wie viel persönliches Eigentum ein Bewohner ins Haus Paul mitnehmen darf, stellt sich hier nicht. Sondern eher umgekehrt: Wie können die Angehörigen davon überzeugt werden, dass die Mitnahme von Möbeln und Gegenständen besonders in der Eingewöhnungsphase sehr wichg ist? Im Wohn- und Esszimmer gibt es verschiedene Bereiche, die eine persönliche Note der einzelnen Bewohner tragen: der Herrgoswinkel von Frau Maier, der Küchensch von Frau Hamann; der Lehnsessel von Herrn Schüberl etc. Am Tisch benden sich Bilder, Nähzeug und eine Gießkanne. An der Wand hängen Bilder und Frau Hackls Küchenwanduhr. Frau Hackl hat sogar ihre Küchenecke von zu Hause mitgebracht. Als Frau Hackl ins Haus Paul einzog, konnte sie sich nicht mehr zurech inden. Sie war örtlich und zeitlich desorienert. Erst als die Küchenecke aus der alten Wohnung überstellt wurde, fand sie Ruhe. Auf den Tischen stehen entweder Glaskaraen oder Plaskkrüge, je nach Vorliebe. Die Trinkgefäße sind alle aus Glas, das Geschirr ist aus weißem Porzellan. Beobachtung am 4. 9. 2009: • Frau Hackl, will nicht essen (keinen Gusto). • Pegerin Frau Katharina: „Möchten Sie ein Joghurt?“ • Frau Hackl: „Ja.“ • Pegerin Frau Katharina holt aus dem Kühlschrank vier verschiedene Produkte: Schoko- und Vanillepudding, Fruchtjoghurt und einen Mohnstrudel und zeigt sie nacheinander Frau Hackl und fragt: „Worauf haben Sie Lust?“
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• Nach langem Überlegen entscheidet sich Frau Hackl für einen Vanillepudding und ein Stück vom selbstgemachten Mohnstrudel. Pegerin Frau Katharina ist einverstanden. Frau Hackl isst ein bis zwei kleine Löffel vom Pudding und schlä ein. Die Gänge sind schön gestaltet. Jede Ecke hat eine eigene Geschichte, denn viele von ihnen sind bewohnerbezogen. Vis-à-vis der jeweiligen Zimmertür sind private Möbel oder Gegenstände des Bewohners aufgestellt: eine Vitrine mit dem Nähzeug von Frau Hackl, die einmal Schneiderin war (sie trägt auch heute noch nur selbst angefergte Kleidung); den Vogelkäg mit zwei lebenden Vögeln von Herrn Konrad (sie werden auch von ihm betreut); die Grünpanzen des ehemaligen Gärtners Herrn Baier (der aufgrund einer Bauchdeckedialyse keine Panzen im Zimmer haben darf, weshalb eine Blumenecke im Gang eingerichtet wurde, die allein ihm gehört); der Schulschreibsch der Lehrerin Frau Atzler; die Ache von einem Konzert, bei dem Frau Kornberger Zither gespielt hat, der Frisiersch mit allen notwendigen Utensilien von Frau Bauer etc. Die Privatwäsche wird im Haus nicht nur gewaschen, sondern auch gebügelt. Eine Mitarbeiterin der Wäscherei/Näherei bringt jeden Tag die frisch gebügelte Wäsche auf einem fahrbaren Diener auf die Staon. Hingegen werden die Geschirrtücher, Schutzlatze, Tischtücher usw. auf der Staon gewaschen, und es nden sich immer Bewohnerinnen, die gerne bügeln und falten. Beobachtung am 5. 9. 2008: Pegerin Frau Katharina bringt den Bügelsch und steckt das Bügeleisen ein. Frau Kainz möchte die Geschirrtücher bügeln. Wenn es ihr zu warm wird, geht sie, wie sie sagt „kühle Lu holen“. Das bedeutet – eine Zigaree rauchen. Bewohner beziehen ein Zimmer und bleiben bis zu ihrem Tod in diesem. Es wird sehr großer Wert darauf gelegt, dass die Bewohner sich im ganzen Haus leicht orieneren können. Auf jeder Zimmertür ist ein persönlicher Bezug zum Bewohner zu nden. Eine Ausnahme sind Kurzzeitpege-Bewohner, die nach drei bis vier Wochen wieder nach Hause entlassen werden. Sollte sich herausstellen, dass eine permanente Aufnahme notwendig ist, wird der Bewohner in der Regel für einige Tage entlassen, damit er sich in Ruhe von seinem Zuhause verabschieden kann. Es gehört zur Philosophie des Hauses Paul, dass jeder Bewohner die Möglichkeit erhalten soll, sich von seinem Zuhause zu verabschieden. Dadurch kann es vorkommen, dass er nicht mehr im selben Zimmer aufgenommen wird. Sollten
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aufgrund einer neuen Belegung eines Zwei-Bezimmers Konikte entstehen, werden Alternaven gesucht. Das heißt aber nicht, dass gut funkonierende Gemeinschaen zerstört werden. In der Regel überlegt das Team jedoch bereits vor einer Neuaufnahme, ob für den Bewohner ein geeigneter Platz zur Verfügung steht. Die Bewahrung der Inmsphäre steht bei allen Mitarbeitern ganz oben auf der Agenda. Es wird diskret gefragt, ob jemand auf die Toilee muss; es ndet kein Einlagenwechsel auf dem Gang im Vorbeigehen sta; die Toileentüren sind zu, genauso wie die Zimmertüren während der Körperpege. Das Zimmer wird nur dann betreten, nachdem der Bewohner/die Bewohnerin dazu aufgefordert hat bzw. wird den Bewohnern nach dem Klopfen eine Adaptaonszeit gelassen. Bei einer Bewohnerin, die sich verbal nicht mehr arkulieren kann und Angst vor fremden Personen hat, wird angeklop, das Zimmer betreten und eine besmmte Spieluhr in Betrieb genommen. Die Pegeperson geht erst dann weiter ins Zimmer hinein, wenn die Spieluhr zu Ende gespielt hat. Somit kann sich die Bewohnerin auf den bevorstehenden Besuch der Pegeperson einstellen. Ein Besucher darf ein Zimmer nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Zimmerbewohnerin betreten. Die Pegeperson wird, während sie die Körperpege bei einem Bewohner durchführt, nicht unterbrochen. Sie kann sich die Zeit nehmen, sich auf den Bewohner einzulassen. Das Baden dient zum Beispiel weniger der Körperreinigung als dem Wohlbenden, da bei dieser Tägkeit, die körperliche Nähe erfordert, die Pegeperson dem Bewohner auch seelisch nahe sein kann. Es entsteht keine Diskrepanz zwischen körperlicher Nähe und seelischer Distanz (diese Diskrepanz würde beim Bewohner Frustraon und Unwohlbehagen erzeugen). Der Beziehungsaspekt, der Voraussetzung für das Wohlbenden des Pegebedürigen und für das Wohlbenden des Mitarbeiters ist, tri in den Vordergrund. Dadurch entsteht eine Vertrauensbasis. Die Grundpege steht jedem Bewohner zu. Das steht außer Frage. Was allerdings sehr wohl zur Diskussion steht, ist einerseits die Frage, von wem der Bewohner nicht gewaschen werden möchte, und anderseits das tägliche „Zwangswaschen“. Manche Bewohner, besonders jene vom Land, waren es o nicht gewohnt, sich täglich zu waschen. Es galt als Luxus und gehörte nicht zu ihrer Normalität. Diagnosk Eine mangelhae Diagnosk, die besonders in Alten- und Pegeheimen, in denen kein Arzt angestellt ist, o zu freiheitsbeschränkenden Maßnah-
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men in der Pege führt, kommt im Haus Paul trotz des fehlenden Arztes nicht vor. Warum? • Ausbildung des Personals: Die Pegepersonen sind die Schlüsselguren in der Entscheidungsndung zur Anwendung/Vermeidung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen in einem Haus. Dank des Fachwissens und der Grundhaltung der Mitarbeiter wird im Haus Paul solange nach Alternaven gesucht, bis eine passende Lösung gefunden wird, die die Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen obsolet macht. Der Pegedienstleiter organisiert die Rahmenbedingungen, die ermöglichen, dass die Pegepersonen ihrer Picht, das eigene Verhalten zu reekeren und zu hinterfragen, opmal nachkommen können. • Zeit für Fallbesprechungen, kollegiale Pegevisite und gegenseigen Austausch • Zeit für die Pegeplanung: Jede diplomierte Pegeperson hält alle 14 Tage einen Bürotag, an dem sie von der direkten Pege ausgenommen wird. Ihre Aufgabe besteht an diesem Tag darin, einerseits die Medikamente einzuordnen und anderseits die Pegedokumentaon für ihre Bewohner zu gestalten und zu evaluieren. Jedem Bewohner wird beim Einzug eine Bezugpegeperson an die Seite gestellt. • Zeit für Supervision, die nur auf Wunsch des Personals sta indet. Es ist kein xer Termin mehr vorgesehen. Die Mitarbeiter melden sich, wenn sie das Gefühl haben, eine Supervision zu benögen. Dies geschieht zum Beispiel manchmal, nachdem ein Bewohner gestorben ist, der eine besondere Herausforderung für das gesamte Team darstellte: Wo sind schwierige Situaonen entstanden und warum? Was können wir daraus lernen? Welche Alternaven häe es gegeben? Hat es überhaupt Alternaven gegeben? etc. • Fehler als eine Chance begreifen: Frau Maier sitzt am Tisch. Die Schülerin Claudia kommt vorbei und en ernt wortlos alle gebrauchten Gegenstände des Frühstücks. Frau Maier klop darauf hin auf den Tisch und ru „Ah, Ah“. Die Staonsleiterin beobachtet die Situaon. Sie geht zur Schülerin und versucht das Erleben von Frau Maier zu erklären. Die Schülerin Claudia erhält dadurch die Möglichkeit, ihr Tun zu reekeren und die Situaon zu entspannen. Arbeitsbedingungen und Personalschlüssel Der Personalstand wird von der Trägerorganisaon festgelegt. Der Pegedienstleiter gibt aber durch sein Pegeverständnis und seinen Führungssl die Richtung vor: • Es wird großer Wert auf Wertschätzung und Anerkennung gelegt, was im ganzen Haus Paul spürbar ist.
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• Den Mitarbeitern wird die Möglichkeit zur beruichen Weiterentwicklung geboten. Eine ehemalige Altenpegerin ist nach ihrer Weiterbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester gerade wieder angestellt worden, als das Forschungsprojekt lief. • Die Auswahl des Personals wird sehr sorgfälg und überlegt durchgeführt. Die meisten sind ehemalige Prakkanten, die um eine xe Anstellung bien. Viele Pegepersonen aus der näheren Umgebung bewerben sich. Das hat den großen Vorteil, dass sie die Kultur, die Geschichte und vor allem die Sprache der Region kennen. Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass sie mit den Bewohnern gern kleine Ausüge in die Umgebung unternehmen bzw. sogar mit einigen Bewohnern auf Urlaub in der näheren Umgebung fahren. Das Projekt heißt: „Urlaub vom Heim“ und ndet regelmäßig sta. • Organisaonskultur: Eine Organisaonskultur im Sinne von Empowerment und Gesundheitsförderung muss den Blick auf die Autonomie und auf die Lebenspraxis der Menschen richten. Die Organisaonskultur soll sie bei der Suche nach Befriedigung und Selbstbesmmung unterstützen, auch jenseits der Verwertungslogik des Arbeitsmarktes. Die Organisaonskultur ist ein unterstützender Wegbegleiter. Im Haus Paul wird nach dem Prinzip von Carl Rogers, Anselm Grün und Joachim Bauer gearbeitet: Jeder Mensch trägt die Kra zur Weiterentwicklung in sich. • Das Haus Paul ist ein gutes Beispiel für Transparenz: Es gibt dort im Organisaonsordner ein Papier, auf dem geschrieben steht, was zu tun ist, wenn ein Medikamentenfehler gemacht wurde. Es wird dort also zur Kenntnis genommen, dass solche Fehler passieren können, und es wird nicht versucht, diese zu vertuschen. Stadessen ist dort zu lesen, dass, wenn der Hausarzt nicht erreichbar ist, der Notdienst angerufen werden und genau erklärt werden soll, welcher Fehler passiert ist: welches Medikament, in welcher Dosis. Dass, falls es notwendig sein sollte, den Bewohner im Krankenhaus behandeln zu lassen, jemand ins Krankenhaus mi ahren und die Ärzte über die Geschehnisse informieren soll. Dies ist ein gutes Beispiel für Transparenz, auch nach außen. Begangene Fehler werden nicht verleugnet, sondern zugegeben. Sie können passieren und auf sie sollte dann richg reagiert und aus ihnen gelernt werden. „Fehler als Chance“ wird im Haus Paul gelebt. • WelcheK ommunikaonskultur hat die Organisaon? Man vergleiche diese beiden Kommunikaonssle: „Den Verband von Frau Müller hast du gestern schon wieder nicht gemacht, was soll denn das? Du weißt doch, wie wichg das ist!“ Und wie im Haus Paul: „Ich sehe, du hast gestern den Verband von Frau Müller nicht gemacht. Ich nehme an, das hat einen Grund. Kannst du es mir bie erklären, damit ich es
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verstehe?“ Die gleiche Frage in zwei sehr verschiedenen Weisen der Kommunikaon. • Für den Neurobiologen und Genforscher Joachim Bauer ist der Kern aller menschlichen Movaon die zwischenmenschliche Anerkennung und Wertschätzung. Die Grundhaltung einer gelebten Anteilnahme bedeutet, akv zuzuhören und die Fähigkeit zu besitzen, Fakten und Ereignisse zu schildern, ohne sie zu bewerten (vgl. Bauer 2008, 37). • Zuerst muss der Rahmen geschaen werden, um die zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung miteinander gestalten zu können. • Wenn diese Grundhaltung in der Gesamtorganisaon nicht tatsächlich auch in den kleinsten Tägkeiten von allen Mitarbeitern gelebt wird, ist es für die Leitungsperson auch nicht sinnvoll, neue Methoden und Konzepte wie Palliave Care, Biensteins Basale Smulaon® (Bienstein 2007), Feils Validaon® (Feil 2007), Algases NDB „Need-driven demena-compromised behavior“ (Algase et al. 1996), Kitwoods personzentrierten Ansatz (Kitwood 2000), oder Van der Kooijs Mäeuk (Van der Kooij 2007), neu einzuführen. Das würde nur verschwendetes Geld und verlorene Zeit bedeuten. Die Organisaonskultur im Haus Paul basiert auf einem integrierten Ansatz, um den Bedürfnissen der Mitarbeiter und der Bewohner nachzukommen. Umfassendes Denken und Handeln ist nur möglich, wenn der Lebensentwurf des Bewohners und des Mitarbeiters so früh wie möglich erfasst werden. Veränderungen in den Bedürfnissen der Bewohner und der Mitarbeiter lassen sich nur durch einen intensiven und hohen Zuwendungsaufwand feststellen. Wenn Bewohner und Mitarbeiter sich wahrgenommen fühlen, wenn sie im Heim als Wohnund Arbeitsort eine Bezugsperson nden, die ihnen Wertschätzung und Respekt entgegen bringt, dann müssen sie kein herausforderndes Verhalten entwickeln, um auf sich aufmerksam zu machen. Diese spezialisierte und integrierte Begleitung von Mitarbeitern und Bewohnern kann nur in einem Raum des Vertrauens, der Transparenz und der Wahrhaigkeit sta inden. Dieser Raum wird – vor allem durch das Vorleben an Ort und Stelle, hier – durch den Pegedienstleiter und die Heimleiterin gestaltet. Sie zeigen den Weg, die Richtung, welche Organisaonskultur im Haus Paul erwünscht ist. Der Pegedienstleiter und die Heimleiterin des Hauses Paul haben es auch nicht nög, den Ausdruck „freiheitsbeschränkende Maßnahme“ durch den Ausdruck „schützende Maßnahme“ zu ersetzen. Sie müssen nicht die Anwendung von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen durch den Vorwand des Schutzes und der Sicherheit des Bewohners rech ergen. Ihre
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strikte Ablehnung solcher Maßnahmen ist klar im Alltag sichtbar und spürbar. Ein solches Verhalten würde dem Prinzip der zwischenmenschlichen Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung völlig widersprechen. Wie Hankainen deutlich macht, ndet solches Verhalten in Organisaonskulturen des öeren sta, um die Schuldgefühle des Pegepersonals zu lindern (vgl. Hankainen 2008, 3). Im Haus Paul hat das Pegepersonal keine Schuldgefühle. Sie können klar einschätzen, ob eine Maßnahme freiheitsberaubend ist oder nicht. Das Anwenden von freiheitsbeschränkenden Massnahmen hat man auch aufgrund ihres Zieles deniert, nicht nur aufgrund der Verfahrensweise selber. Die Verfahrensweise, welche die Tägkeiten eines Betroenen einschränkt, stu man als freiheitseinschränkend ein, aber dieselbe Verfahrensweise wird als Hilfsmiel eingestu, wenn sie den Betroenen in seinen Tägkeiten unterstützt. (Hankainen 2008, 3)
Im Haus Paul gibt es Begier nur auf ausdrücklichen Wunsch der Bewohner, zum Beispiel als unterstützende Maßnahme bei der Selbstlagerung im Be. Der Einsatz von Therapieschen als versteckte freiheitseinschränkende Maßnahme wurde während meines [M. W.-L.] Aufenthalts auf der Staon und im gesamten Haus Paul nie beobachtet. • Weder die Mitarbeiter noch die Bewohner werden wie Kinder behandelt. Andererseits gibt es kein „Du-Verbot“. Die Bewohner und die Mitarbeiter werden so angesprochen, wie sie es möchten. Die Ansprache wird gleichzeig dem Demenzstadium angepasst: Frau Müller kann dann Fräulein Böhm (sie lebt gerade in der Zeit vor ihrer Eheschließung) bzw. Tante Rosa (sie lebt gerade in der Zeit, als sie Kindergärtnerin war) genannt werden. Um das Demenzstadium festzustellen, bedarf es eines ausgezeichneten Fachwissens und pegerischer Erfahrung. Die Angehörigen werden auch darin geschult, den Sinn der jeweiligen Ansprache verstehen und annehmen zu können. Dadurch müssen sie auf die Rollenumkehr nicht mit Verkindlichung antworten. Im Rahmen des qualitaven Forschungsprojektes wurden auch retrospekv die Pegeberichte einer qualitaven Inhaltsanalyse unterzogen. Alle Pegeberichte der letzten drei Monate (Juli, August und September 2008) der 29 Bewohner (inklusive Kurzzeitpege) wurden auf negave Schlüsselwörter37 oder Sätze analysiert. Es wurden keine ne37 Negave Schlüsselwörter sind zum Beispiel: aggressiv, unruhig ohne nähere Angabe (o. A.), keine besonderen Vorkommnisse, wenig, viel getrunken o. A., wenig, ausreichend, viel gegessen o. A., füern, gefüert, schlecht, wenig, viel geschlafen o. A., ungehalten o. A., ungeduldig o. A., schimpfen o. A. oder mit Erklärung (m. E.), Schmerzen o. A., unzufrieden o. A., läutet wie o, läutet o. A., usw.
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gaven Wörter oder Sätze gefunden. Im September wurde der Begri „Paent“ anstelle der persönlichen Anrede „Frau Maier“, „Frau Braun“ oder „Herr Müller“ in einigen wenigen (n = 4) Pegeberichten verwendet. Diese Berichte stammen alle von der gleichen Pegeperson. Es stellte sich heraus, dass diese Pegeperson gerade erst ihre Ausbildung zur diplomierten Gesundheits- und Krankenschwester beendet hae. Ihre letzten Prakka hae sie im Krankenhausbereich absolviert. Dort war es üblich, von Paent/Paenn zu sprechen. Sie hae sich in diesem Punkt noch nicht umgestellt. Schulungen Einen weiteren Unterschied zu anderen Instuonen sieht man zum Beispiel auch in den Schulungen. Werden viele, sehr teure Outdoor-Schulungen angeboten? Die Mitarbeiter reekeren die Inhalte dieser Schulungen, an denen sie teilgenommen haben, sehr o nicht. Die Mitarbeitergespräche können als Kontrolle erlebt werden, da sie sehr o unangemeldet und unvorbereitet sta inden. In Haus Paul hat sich der Pegedienstleiter bewusst zu Indoorschulungen entschlossen. Er ist der Meinung, dass die Grundhaltung im gesamten Team getragen werden muss und die Mitarbeitergespräche als Hilfe zur Weiterentwicklung angesehen werden müssen. In diesen Gesprächen wird gemeinsam nach Lösungen gesucht, es werden verschiedene Wege betrachtet und sowohl die Mitarbeiter als auch die Staonsleiterin oder der Pegedienstleiter haben Zeit, sich vorzubereiten und eine eigene Meinung zu entwickeln: • Über die Dinge nachdenken, sie mit den eigenen Sinnen erfassen, mit einer inneren Ruhe, was dann auch sachliche Stellungnahmen ermöglicht. • Den Mitarbeiter in seiner Meinungsbildung unterstützen, damit die Pegeperson sich nicht von unreekerten Äußerungen verunsichern lässt. Zum Beispiel: Ist Snoezele wirklich für hochbetagte mulmorbide Menschen gedacht bzw. für diese sinnvoll? Muss ein neues Pegekonzept immer übernommen werden, oder sollte es nicht eher zunächst auf seine Vor- und Nachteile überprü werden? • Bin ich eins mit mir selbst? Eigenes Gewissen, Konkurrenz, Integrität. • Die Möglichkeit nützen, sich kurz zurückzuziehen, um eine erlebte Situaon zu reekeren, damit Auseinandersetzungen möglich werden. Wenn die Bürotür auf der Staon geschlossen ist, bedeutet dies: „Bie nicht stören“. Zeitspannen sind notwendig, in denen man nicht erreichbar ist – außer im No all natürlich –, damit in Ruhe Entscheidungen getroen werden und Gespräche sta inden können.
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• Vermeidung von Konkurrenzdenken und Eifersüchteleien: Hierbei geht viel Energie verloren, die für etwas genützt werden könnte, das der Sache dienlich ist. Diese Energie fehlt aber zum Beispiel für die Durchsetzung einer wertvollen Idee, für die Haltung, die es im Alltag zu verkörpern gilt, nämlich den Respekt vor jeder Person, seien es Mitarbeiter, Angehörige, Besucher oder Bewohner. Sie fehlt auch für die Achtsamkeit im Handeln, sei es durch Tun oder Unterlassen. • Eine gute Leitungskra steht hinter ihren Mitarbeitern, besonders dann, wenn eine Obrigkeit wie zum Beispiel Träger, Aufsichtsbehörden, Richter, Bewohnervertretungen, Sachwalter etc. ihnen etwas ankreiden möchte. Sie steht hinter ihnen, wenn sie Probleme haben, beispielsweise mit Angehörigen. Wenn etwa bekannt ist, dass Herr Meyer, der Sohn von Frau Meyer, in regelmäßigen Abständen von ca. drei Monaten, auf der Staon einen Wutanfall bekommt. An solchen Tagen können die Schwestern machen, was sie wollen, das gesamte Personal kann machen, was es will, es wird am Verhalten von Herrn Meyer nichts ändern. Alle kennen solche Personen. Es ist die Überforderung, die sich in Wut äußert. Wenn die Mitarbeiter darüber Bescheid wissen, kann die Staonsleitung/der Pegedienstleiter den Mitarbeitern anbieten, dass sie sie anrufen sollen, wenn sie merken, dass Herr Meyer wieder in einer schlechten Smmung zu sein scheint. Die Staonsleiterin/der Pegedienstleiter wird dann Herrn Meyer in einen Extraraum bien und ihm ein Gespräch anbieten. So können die Pegekräe nicht nur in Ruhe arbeiten, sondern sie fühlen sich auch nicht schuldig. Sonst könnten sie sich persönlich für das Verhalten von Herrn Meyer verantwortlich fühlen und dabei übersehen, dass die Situaon nicht von ihnen verursacht wurde, sondern von Herrn Meyer, der überfordert ist. Das entlastet alle, Herrn Meyer, seine Muer und das Personal. • Die Situaon richg und nüchtern einschätzen. Nüchtern bedeutet wohlgemerkt nicht kalt und emoonslos. Alle Parteien sind gleichwerg, auch die Personen mit Demenz. Personen mit Demenz können sehr wohl – wenn auch nicht immer verbal – äußern, was sie wollen und was nicht. Das Personal hat durch gezielte geriatrische Weiterbildungen gelernt, dass Frustraon, Scham und mangelndes Selbstwertgefühl eine zunehmende Abhängigkeit von der Hilfe Anderer verursachen kann. Sie können diese Gefühle ansprechen und gemeinsam mit dem hochbetagten Menschen nach Lösungen suchen. Sie können zum Beispiel verstehen, dass alte Menschen o das Dahinschmelzen der eigenen Ersparnisse (durch
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den Aufenthalt im Heim verursacht), die sie eigentlich ihren Kindern vermachen wollten, als sehr frustrierend erleben. Heimbewohner haben o das Gefühl, nanziell abhängig zu sein. Sie schämen sich, da sie nicht mehr über ihre Finanzen Bescheid wissen oder über sie verfügen können. René van Neer formuliert es so: [I]ch möchte einfach wissen, wie es nanziell um mich steht. Es ist nicht mein Sl, Schulden zu machen. (Braam 2007, 37)
Darau in wollte sich René van Neer, wie bereits im ersten Kapitel berichtet, bei der Verwaltung über seine nanzielle Situaon erkunden, was ihm allerdings nicht gewährt wurde. Im Haus Paul hingegen darf ein Bewohner zur Verwaltung, zum Pegedienstleiter, gehen, sein Anliegen vortragen und ihm wird dabei akv zugehört und er wird ernstgenommen. Dadurch gewinnt der Bewohner nicht den Eindruck, die Kontrolle über seine Finanzen verloren zu haben. Eine Bewohnerin kam zum Beispiel nach einer kleinen Einkaufstour zurück ins Heim und berichtete ganz stolz: „Ich habe mein ganzes Geld verprasst.“ Sie war sehr glücklich, lächelte viel und bedankte sich mehrmals. Sie war sichtlich zufrieden. Was war geschehen? Eine Pegeperson war mit ihr in das benachbarte Geschä gegangen und hae sie selbst entscheiden lassen, was sie kaufen wollte von jenem Betrag, den sie in ihrer Handtasche bei sich hae. Sie dure die von ihr gewählten Produkte auch selbst bezahlen. Kontrollinstanzen Innerhalb des Hauses Paul nden Qualitätskontrollen nur nebenbei sta. Sie werden anhand der Mitarbeiter-, Bewohner- und Angehörigenzufriedenheit wahrgenommen. Die Behörde führt regelmäßig Pegeeinschauen durch. Die Haltung des Personals, die Bewohnerorienerung und die Vermeidung von freiheitseinschränkenden Maßnahmen wurden bei einer Pegeeinschau besonders hervorgehoben: Besonders hervorzuheben ist die Haltung und Bewohnerorienerung des gesamten Personals. Die Bewohnerzimmer werden als Inmbereich betrachtet, keine Pegeperson betri ohne Einwilligung des Bewohners ein Zimmer. Das Unterlassen von Fixierungsmaßnahmen gehört zur Philosophie des Hauses. Es herrscht das Normalitätsprinzip. (Landespegeeinschau 2003, 2)
Aspekt der elektronischen Überwachung Auch eine Art der elektronischen Überwachung ist im Haus Paul vorhanden und zwar eine Sensormae. Sie liegt bei Frau Kornberger vor ihrem Be. Wie kam sie dorthin?
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Beobachtungen am 8. 9. 2008: • Bei einer Visite sitzen die Staonsleiterin und ein Hausarzt nebeneinander und besprechen in Ruhe Punkt für Punkt die Pegeangelegenheiten, unter anderem auch, was in der Nacht geschehen soll. Frau Kornberger steht alleine auf, ist aber in der Nacht desorienert. Die Staonsleiterin rät von einem Begier eher ab, da die Gefahr zu groß ist, dass Frau Kornberger über das Gier steigt. • Der Arzt macht sich Nozen und spricht dabei laut mit, was er gerade noert: „Schwierige Situaon: allein aufstehen + Verwirrtheit. … Bewusst: Gefahr ist zu groß, dass sie über Begier steigt … noch dazu benützt sie keine Glocke … ich will ihr keine Psychopharmaka geben … Gefahr noch größer … • (Das Problem ist, dass Frau Kornberger wegen Schulterverletzungen nach einem Sturz aus dem Be in der Nacht gerade im Spital war.) Frau Kornberger ist mehrmals gestürzt und vergisst immer wieder zu läuten, wenn sie aufstehen will. Damit neue Stürze vermieden werden, wird eine Sensormae verwendet, wenn Frau Kornberger im Be liegt. Will sie aufstehen, meldet die Sensormae dies an das Pegepersonal. Eine Mitarbeiterin kann Frau Kornberger zur Hilfe kommen. Frau Kornberger ist einverstanden mit dieser Maßnahme, nachdem ihr die Funkon der Sensormae erklärt wurde. Die Türen der Staonen sind permanent oen. Die Bewohner können problemlos im ganzen Haus spazieren gehen, wenn sie es möchten. Es gibt einen Ausgang zur Straße. Tagsüber sitzt ein Porer am Eingang. Interessanterweise spüren die Bewohner mit Demenz keinen Drang zur Flucht. Warum sollten sie weggehen wollen, da das Haus Paul ihnen Geborgenheit und Sicherheit vermielt. Sollten sie dennoch hinausgehen wollen, können sie das jederzeit mit einer Mitarbeiterin tun, wovon die Bewohner auch Gebrauch machen. Bedeutet dies, dass es im Haus Paul keine Verhaltensaufälligkeiten gibt? Sicher nicht. Verhaltensveränderungen und Verlust der sozialen Normen gehören zum Bild der Syndrome, die unter den Begri „Demenz“ zusammengefasst werden. Die Frage ist nicht, ob diese Verhaltensveränderungen vorhanden sind oder nicht, sondern wie das Personal mit Verhaltensformen umgeht, die sie herausfordern.
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Beobachtung am 5. 9. 2008: • Fräulein Frank schlä ganz ruhig in einem Lehnsessel. • Frau Hackl: „Das ist mein Sessel!“ (Befehlston mit empörter Smme) • Pegerin Frau Dorothea: „Nein. Dein Sessel ist im Zimmer. Das ist der Sessel von Herrn Bayer. Er hat ihn dem Haus vererbt, als er gestorben ist.“ • Frau Hackl: „Wirklich wahr?“ • Pegerin Frau Dorothea: „Ja. Deiner steht im Zimmer.“ • Frau Hackl: „Dann ist ja alles in Ordnung.“ • Interpretaon: Frau Hackls Sorge um ihr Eigentum wird ernst genommen. Sie wird nicht angelogen, sondern die Fakten werden einfach erklärt. Beobachtung am 8. 9. 2008 • 10.30 Uhr: Frau Mayer ist sehr aufgeregt. Der Sohn war gerade da, der sie anscheinend sehr zornig (Gesk, Tonfall und Lautstärke) gemacht hat. • Pegerin Frau Pia versucht sie verbal zu beruhigen, aber ohne Erfolg. • Frau Mayer: „Nehmen Sie das weg“ und zeigt auf mehrere Kleinigkeiten, die auf dem Tisch vor ihr liegen. • Pegerin Frau Pia nimmt alles weg, außer einem Glas. • Pegerin Frau Pia: „Das habe ich jetzt gemacht. Das ist der Heidelbeertee für die Blase.“ • Frau Mayer: „Der aus der Apotheke? Der ist grausig.“ • Pegerin Frau Pia: „Ich habe Ihnen Apfelsa und Zucker hineingegeben. Es ist nicht so schlimm heute.“ • Frau Mayer kostet den Tee und meint „ja, so ist er gut“. (Der Gesichtausdruck hat sich entspannt, der Tonfall ist neutral) • Interpretaon: Pegerin Frau Pia versucht Frau Mayer zu zeigen, dass sie sich extra bemüht hat. Der Heidelbeertee, der nicht gut schmeckt, wurde so zubereitet, dass er Frau Mayers Geschmack trit. Dieses kleine Zeichen der Fürsorge genügt, um Frau Mayers Zorn zu lindern. Beobachtungen am 11. 9. 2008 • 12.10 Uhr: Frau Kornberger ru: „Ich kann hier nicht mehr sitzen.“ Sie sitzt zu Tisch im Gangbereich. • 12.15 Uhr: Frau Kornberger ru: „Liebe Schwester, ich halte es nicht mehr aus im Sitzen, es tut so weh. Verzeihen Sie mir“ (sie ist am Montag nach einem Schulterbruch vom Krankenhaus unerwartet zurückgekommen). • Frau Bäckmann antwortet: „Ja, Mama … Ja, Mama“.
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Ein Beispiel für Good Pracce
• Frau Wöginger schaut unwillig. • Frau Kornberger: „Liebe Schwester, ich halte es nicht mehr aus im Sitzen, es tut so weh.“ • Pegerin Frau Irene, die gerade einen Bewohner in den Speisesaal gebracht hat, geht zu Frau Kornberger. • „Grüßgo Frau Kornberger. Ich bin die Irene.“ • „Ich weiß noch vom vorigen Jahr.“ • „Wie geht es Ihnen?“ • „Ich habe so starke Schmerzen.“ • „Wo?“ • „Am Po.“ • „Am Po. Das ist schlimm.“ Sie nimmt den Hamster weg, der gerade auf dem Schoß von Frau Kornberger geschlafen hat. • Frau Kornberger: „Es tut mir leid.“ • „Kein Problem. Ich bringe Sie zu Be.“ • Frau Kornberger: „Es tut mir leid.“ • Beim Vorbeigehen zu einer Schülerin: „Ich bringe Frau Kornberger ins Be und komme gleich wieder.“ • Interpretaon: Zuerst wurde Frau Kornberger nicht ernst genommen. Sie musste sich erneut melden. Erst als Pegerin Frau Irene ihre Schmerzgefühle anspricht, wird sie ruhiger. Wobei Frau Kornberger eindeug Schuldgefühle hat, die sie im Gespräch mit den Pegepersonen verarbeiten muss. Andernfalls wird sie for ahren, ihre Entschuldigungen, die in keinem Zusammenhang mit der jetzigen Situaon stehen, zu wiederholen. In ihrer Biograe ndet sich wahrscheinlich ein Ansatzpunkt, der diese zusammenhangslosen Entschuldigungen erklärt. Im Lauf der nächsten Wochen wird dies auch zum Thema auf der Staon und Lösungsansätze werden gemeinsam gesucht. Für Hörl gibt es in der staonären Pege eine stärkere [als in der Familie, M. W-L.] Verzahnung und Wechselwirkungen zwischen individuellem Fehlverhalten (durch fehlende Movaon und Empathie, burnout usw.) und strukturellen Mängeln (Personalmangel, Fluktuaon, Arbeitsklima, niedriges Berufspresge usw.). (Hörl 2008, 6)
Wie man sieht, können in den Langzeitpegeeinrichtungen durch eine gezielte Prävenon Gewaltrisiken minimiert werden. Die Prävenon beinhaltet: • gelebte ethische personzentrierte Grundhaltung • Auswahl des Pegerahmens: Pegemodelle/Pegetheorie, die Paradigmen (Denion von Menschenbild, Gesundheit/Krankheit; Umwelt/
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• • • • • •
Umfeld, Pege und Rolle der Pegeperson) für die Praxis zur Verfügung stellen. bedachte Personalauswahl gezielte Personalentwicklung transparente Organisaonsstrukturen Fallbesprechungen, Pegevisiten, gezielte Reexion über den Umgang in schwierigen Situaonen Einbeziehung der Angehörigen: Angehörige als Chance und nicht als Feind Kommunikaonskultur, Fehlerkultur, Feedbackkultur
Qualität liegt im Spannungsfeld zwischen den Interessen der Bewohner, der Angehörigen, des Personals, des Trägers, des Financiers und der Gesundheitspolik des jeweiligen Bundeslandes. Die Heimleiterin und der Pegedienstleiter dieses Hauses haben den Spagat zwischen den verschiedenen Interessen unter Gewährleistung einer hohen Pege- und Betreuungsqualität geschat. Sie arbeiten täglich an diesem Prozess mit einem klaren Konzept für das Haus Paul weiter. Der rote Faden ist für alle involvierten Personen nachvollziehbar. Ein Gutteil der Qualitätsaspekte ist mittels eines einheitlichen und nachvollziehbaren Vorgehens nachzuweisen. Im Qualitätsprogramm finden sich dazu die Formen Konzept und Standard. Konzepte werden z. B. für die Pflege und Betreuung allgemein und für spezielle Bewohnergruppen gefordert. Sie haben nach innen eine handlungsleitende und nach außen eine Darstellungs- und Werbefunktion. (Diakonisches Werk Württemberg 2004 zit. in Dachverband, 2007, 8) Das grundsätzliche Schema eines Konzepts bleibt für alle Bereiche und Themen gleich und soll mindestens folgende Punkte beinhalten: • Einleitung • Beschreibung der Zielgruppe • Ziele und Grundsätze • Wohn- und Betreuungsform • Methodische Betreuungsgrundlagen • Leistungsangebot (Pegeorganisaon, Pegeprozess, Gestaltung des Alltags, Angehörigenarbeit, Gestaltung der räumlichen Umgebung) • Team und Mitarbeiter • Qualitätssicherung • Ausstaung (personell, räumlich, nanziell) (Dachverband, 2007, 8)
Die Landespegeaufsicht, die die jährliche Qualitätskontrolle durchführt, soll das letzte Wort haben:
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Ein Beispiel für Good Pracce
Im Haus „Paul“ [Name geändert, M. W.-L.] werden die Bewohner nach ihren individuellen Bedürfnissen gepflegt und betreut. […] Von Seiten der Pflegeaufsicht wird das Haus Paul gerne als positives Beispiel für ein gutes Pflegeheim angegeben. Kolleginnen und Kollegen aus anderen Häusern bestätigen immer wieder die vorzügliche Qualität. Zitat: ‚Ich habe mindestens schon hundert Heime gesehen, das Haus Paul in […] ist das beste davon.‘ (Landespflegeeinschau 2003, 2)
Hohe Pegequalität und Wirtschalichkeit müssen also keine Gegensätze sein.
9. Kulturelle Gewalt Mit der Betrachtung kultureller Gewalt werden die Gruppen der Gewalt ausübenden und Gewalt erleidenden Personen nochmals vergrößert: Ist die personelle Gewalt auf einzelne Personen oder Personengruppen als Akteure beschränkt, sind im Rahmen von struktureller Gewalt doch schon weit mehr Menschen als ausübende (Mit-)Täter beteiligt: in unserem Fall also all jene Menschen, die in irgendeiner Form mit der Betreuung von Menschen mit Demenz zu tun haben – seien sie nun Poliker oder andere Personen, die entsprechende Gesetze oder Verordnungen erlassen, seien sie Leitungspersonen eines Pegeheims, die sich weder für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter noch für die Lebensbedingungen der Bewohner sonderlich engagieren, seien sie Ärzte, die eine genaue Diagnose und Behandlung im Fall von Menschen mit Demenz als zu zeitaufwendig oder gar als Zeitverschwendung ansehen; seien sie Angehörige, die gewaläge Handlungen bzw. Unterlassungen ihrem dementen Familienmitglied gegenüber tolerieren (oder selbst Gewalt ausüben). Kulturelle Gewalt ist etwas, das jedes Mitglied der Gesellscha betrit, denn hier geht es vor allem um Stereotype und Vorurteile, um unreekerte Wertungen von (zum Teil großen) Teilen einer Gemeinscha – mit gravierenden Konsequenzen für die „Verurteilten“. Dies ist auch der Grund, warum wir dieses Kapitel an den Schluss des Buches stellen: Kulturelle Gewalt ist weder auf besmmte Personengruppen beschränkt noch gibt es besmmte klar zu idenzierende Orte, an denen sie vermehrt zu beobachten ist. Im Denionsteil haen wir mit Johan Galtung bereits kurz angedeutet, dass kulturelle Gewalt gewissermaßen den grundsätzlichen Kontext bietet, vor dessen Hintergrund gewaläge Handlungen und Unterlassun-
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Ein Beispiel für Good Pracce
Im Haus „Paul“ [Name geändert, M. W.-L.] werden die Bewohner nach ihren individuellen Bedürfnissen gepflegt und betreut. […] Von Seiten der Pflegeaufsicht wird das Haus Paul gerne als positives Beispiel für ein gutes Pflegeheim angegeben. Kolleginnen und Kollegen aus anderen Häusern bestätigen immer wieder die vorzügliche Qualität. Zitat: ‚Ich habe mindestens schon hundert Heime gesehen, das Haus Paul in […] ist das beste davon.‘ (Landespflegeeinschau 2003, 2)
Hohe Pegequalität und Wirtschalichkeit müssen also keine Gegensätze sein.
9. Kulturelle Gewalt Mit der Betrachtung kultureller Gewalt werden die Gruppen der Gewalt ausübenden und Gewalt erleidenden Personen nochmals vergrößert: Ist die personelle Gewalt auf einzelne Personen oder Personengruppen als Akteure beschränkt, sind im Rahmen von struktureller Gewalt doch schon weit mehr Menschen als ausübende (Mit-)Täter beteiligt: in unserem Fall also all jene Menschen, die in irgendeiner Form mit der Betreuung von Menschen mit Demenz zu tun haben – seien sie nun Poliker oder andere Personen, die entsprechende Gesetze oder Verordnungen erlassen, seien sie Leitungspersonen eines Pegeheims, die sich weder für die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter noch für die Lebensbedingungen der Bewohner sonderlich engagieren, seien sie Ärzte, die eine genaue Diagnose und Behandlung im Fall von Menschen mit Demenz als zu zeitaufwendig oder gar als Zeitverschwendung ansehen; seien sie Angehörige, die gewaläge Handlungen bzw. Unterlassungen ihrem dementen Familienmitglied gegenüber tolerieren (oder selbst Gewalt ausüben). Kulturelle Gewalt ist etwas, das jedes Mitglied der Gesellscha betrit, denn hier geht es vor allem um Stereotype und Vorurteile, um unreekerte Wertungen von (zum Teil großen) Teilen einer Gemeinscha – mit gravierenden Konsequenzen für die „Verurteilten“. Dies ist auch der Grund, warum wir dieses Kapitel an den Schluss des Buches stellen: Kulturelle Gewalt ist weder auf besmmte Personengruppen beschränkt noch gibt es besmmte klar zu idenzierende Orte, an denen sie vermehrt zu beobachten ist. Im Denionsteil haen wir mit Johan Galtung bereits kurz angedeutet, dass kulturelle Gewalt gewissermaßen den grundsätzlichen Kontext bietet, vor dessen Hintergrund gewaläge Handlungen und UnterlassunM. Weissenberger-Leduc et al., Gewalt und Demenz © Springer-Verlag/Wien 2011
Kulturelle Gewalt
gen (personeller wie struktureller Natur) legimiert werden und nicht mehr als solche erscheinen – man nimmt sie nicht als Unrecht wahr. Kulturelle Gewalt funkoniert zum einen dadurch, daß sie die „moralische Färbung“ einer Handlung von rot/falsch auf grün/richg oder zumindest auf gelb/ akzeptabel schaltet; ein Beispiel hierfür wäre: „Töten im Namen eines Landes ist gerech ergt, im eigenen Namen jedoch ungerech ergt“. Andererseits macht sie die Realität so undurchsichg, daß wir eine gewaläge Handlung oder Tatsache überhaupt nicht wahrnehmen oder sie zumindest nicht als solche erkennen. (Galtung 1993, 106)
Galtung weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass wir in verschiedensten Bereichen einer Kultur Elemente kultureller Gewalt vornden (seien es besmmte Aspekte einer Religion, seien es Aspekte unserer Sprache, aber auch unserer Wissenscha). In all diesen Bereichen treen wir auf Vorurteile, auf Wertungen, die in Zusammenhang stehen mit Dichotomien wie Selbst und Anderer, Eigenes und Fremdes, Erhöhung und Erniedrigung (vgl. Galtung 1993, 109). Man denke hier beispielha etwa an Dichotomien wie Gläubiger – Ungläubiger, Inländer – Ausländer, Jung – Alt, Leistungswillige – „Schmarotzer“, Raonalität – Irraonalität … Rolf Hirsch nennt folgende Beispiele für kulturelle Gewalt in Bezug auf alte Menschen: • Akzeptanz von Gewalt • Vorurteile gegen das Alter • Pegeverpichtung für Frauen • Scham der Opfer vor Öentlichkeit • starre intergenerave Beziehungsmuster • „Sendungsbewusstsein“ der Professionellen • Ungleichheit psychisch und körperlich Kranker (Hirsch 2001, 4) Wir werden uns in den folgenden Ausführungen auf den Aspekt der Vorurteile (und Stereotype) in Bezug auf alte Menschen und auf Menschen mit Demenz konzentrieren. Auch wenn bei weitem nicht alle Menschen mit Demenz in höherem Alter sind, betrit Demenz doch mehrheitlich ältere Menschen und wird auch in der Öentlichkeit vorrangig als „Alterskrankheit“ angesehen. Daher ist der Umgang mit Menschen mit Demenz zu einem nicht unwesentlichen Teil davon beeinusst, welche Altersbilder in einer Gesellscha vorherrschen und welcher Umgang mit alten Menschen aus diesen Bildern resul-
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Kulturelle Gewalt
ert (integrierend – ausgrenzend, wertschätzend – ablehnend); und damit zusammenhängend, welche Beziehungen zwischen den Generaonen (Eltern – Kinder, Großeltern – Enkelkinder) und innerhalb der Generaonen (Mann – Frau) gelebt bzw. als „gehörig“ skizziert werden. Die jeweiligen Altersbilder wie auch die Bilder der Generaonenbeziehungen zeichnen sich unabhängig von ihrer jeweiligen posiven oder negaven Ausrichtung vor allem dadurch aus, dass sie mehrheitlich aus Stereotypen bzw. Vorurteilen gespeist sind. Bevor wir im Folgenden solche Vorurteile und Stereotype in Bezug auf alte Menschen und in Bezug auf Menschen mit Demenz näher betrachten, ist es zunächst nög, sich über die beiden Begrie klar zu werden sowie die Funkonen von Stereotypen und Vorurteilen zu erläutern.
9.1 Stereotype und Vorurteile Auch wenn die Denionen in der Literatur nicht gänzlich einheitlich verwendet werden, lassen sich doch gewisse mehrheitlich genannte Kennzeichen herausarbeiten: Gemeinsam ist Stereotypen und Vorurteilen, dass sie sich auf soziale Gruppen beziehen. Menschen werden hierbei aufgrund eines besmmten Kriteriums wie Geschlecht, Alter oder Naonalität einer sozialen Gruppe zugeordnet (Männer/Frauen, Alte, Ausländer …). Ein Individuum wird aufgrund irgendeines Merkmals (zum Beispiel graue Haare) einer sozialen Gruppe (den alten Menschen) zugeordnet; und diese Zuordnung geht wiederum mit der Zuschreibung von besmmten Eigenschaen oder Merkmalen einher (gebrechlich, geisg verlangsamt, weise o. ä.), ohne dass das tatsächliche Vorhandensein eines dieser Merkmale an der Person selbst überprü wird. D. h., es gibt zum Beispiel die Überzeugung, dass alle alten Menschen vergesslich sind, und diese Überzeugung wird auf jeden alten Menschen übertragen, dem man begegnet. Da der alte Mensch nun von Vornherein als vergesslich kategorisiert wurde, konzentriert man entsprechend auch seine Aufmerksamkeit auf Verhaltensweisen, die dieser Kategorisierung entsprechen, wohingegen Verhaltensweisen, die ihr widersprechen, entweder nicht berücksichgt oder aber als Ausnahme von der Regel klassiziert werden („sie hat aber ein gutes Gedächtnis für ihr Alter“). Unabhängig davon, ob ein Stereotyp oder Vorurteil zumindest in mancher Hinsicht wahr oder falsch ist bzw. sich in Bezug auf einzelne Personen als wahr oder falsch erweist, besteht ein weiteres gemeinsames Kennzeichen also darin, dass wir es bei ihrer Bildung mit „Übergeneralisierungen und Ver-
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Stereotype und Vorurteile
einfachungen“ (Filipp u. Mayer 1999, 65) zu tun haben, in deren Rahmen das einzelne, konkrete Individuum kaum eine oder sogar gar keine Rolle spielt. Eine weitere Gemeinsamkeit von Stereotypen und Vorurteilen besteht darin, dass sie über eine „hohe Änderungsresistenz“ verfügen (Filipp u. Mayer 1999, 58). D. h., sie sind zwar nicht grundsätzlich unwandelbar oder unau ebbar – diese Möglichkeit besteht durchaus; aber eines ihrer Charakteriska besteht darin, dass sie sich hartnäckig halten – und, wie wir noch sehen werden, im Fall von Stereotypen sind diese sogar dann eventuell wirksam, wenn wir nicht an ihre Wahrheit glauben. Was die Unterschiede betrit, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass im Rahmen der psychologischen Forschung dann von Stereotypen gesprochen wird, wenn kognive Vorgänge im Vordergrund stehen, während man Vorurteile wegen ihres „aekven Gehalts“ als solche bezeichnet (Filipp u. Mayer 1999, 56). Bei Stereotypen handelt es sich um Vorstellungen über eine Gruppe, die nicht automasch mit Wertungen verbunden sein müssen. So ist das Stereotyp „alte Menschen sind gebrechlich“ eine Überzeugung, die nicht unbedingt mit irgendeiner Emoon verknüp sein muss (aber natürlich leicht verknüp werden kann). Es geht also zunächst schlicht um die Verknüpfung einer sozialen Gruppe mit besmmten, für sie als typisch angesehenen, verallgemeinerten Eigenschaen. Beim Vorurteil hingegen geht es um die Verknüpfung einer sozialen Gruppe mit mehrheitlich negaven Aributen (die ebenfalls für diese Gruppe als typisch angesehen werden) und mit aekven Reakonen, also mit Emoonen wie Hass, Furcht, Neid etc. In der Regel werden Vorurteile als immer mit negaven Emoonen verknüp angesehen. Wir schließen uns hier aber Jens Förster an, der unseres Erachtens zu Recht davon spricht, dass man ebenso gut posive Vorurteile haben kann (auch wenn diese vielleicht nicht gleich häug aureten wie negave Vorurteile). In dem Moment, wo ich einer besmmten sozialen Gruppe besonders posiv gegenüberstehe (zum Beispiel Frauen oder Männern), wird es nicht selten geschehen, dass ich Mitgliedern dieser Gruppe gegenüber von Vornherein (ohne sie zu kennen) posive Gefühle hege und sie tendenziell wohlwollender behandle (zum Beispiel bei Bewerbungen, bei Urteilen in Bezug auf Fehlverhalten u. v. m.). Zusammengefasst in den Worten von Jens Förster: Stereotype sind emoonslose Gedanken über besmmte Gruppen, die Erwartungen, Bilder und Assoziaonen enthalten. Man muss aber nicht an sie glauben. Vorurteile dagegen sind emoonale, persönliche negave und posive Urteile über besmmte Gruppen. (Förster 2007, 24)
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Kulturelle Gewalt
Mit dem Hinweis Försters, dass man an Stereotype nicht glauben muss, sind wir beim zweiten Unterschied angelangt. Ein Stereotyp kann ich kennen, muss es mir aber nicht unbedingt zu eigen machen in dem Sinn, dass ich an seine Wahrheit glaube. So kann ich das Stereotyp „alte Menschen sind gebrechlich“ kennen, aber dennoch der Meinung sein, dass es (in dieser Verallgemeinerung) nicht der Wahrheit entspricht. Ein Vorurteil hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass wir an es glauben, dass wir es für wahr halten. Wenn ich Vorurteile gegenüber Ausländern habe, dann bin ich auch tatsächlich davon überzeugt, dass sie – zum Beispiel – stärker zu Kriminalität neigen. In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich die Frage, wie es dazu kommt, dass wir Stereotypisierungen vornehmen und Vorurteile haben. Diese Frage lässt sich am leichtesten beantworten, wenn man sich ansieht, welche Funkonen sie laut psychologischer Forschung haben. Hierbei übernehmen wir die von Sigrun-Heide Filipp und Anne-Kathrin Mayer vorgenommene Einteilung in eine kognionspsychologische, eine sozialpsychologische, eine movaonspsychologische und eine konikheoresche Perspekve.38 Funkonen von Stereotypen aus kognionspsychologischer Perspekve Hier gilt zunächst das von den Autorinnen so genannte „Primat der ökonomischen Informaonsverarbeitung“ (Filipp u. Mayer 1999, 62). Es geht darum, sich möglichst rasch in der sozialen Welt zurechtzunden. Dadurch sollen Stereotype vor allem in Ermangelung weiterer Daten helfen, Informaonen zu strukturieren und Sicherheit im Umgang mit anderen zu erhalten. Damit liefern Stereotype eventuell objekv unangemessene, subjekv aber entlastende Vereinfachungen und damit letztlich kognive Sicherheit. (Filipp u. Mayer 1999, 62)
Betroen ist hier also unser Gedächtnisapparat, der, wenn verschiedene Schlüsselworte mehrfach zusammen aufgetreten sind, diese automasch gemeinsam aufru – um bei unserem Beispiel zu bleiben: Wenn von einem alten Menschen die Rede ist, wird automasch „gebrechlich“, „vergesslich“ o. ä. damit assoziiert. Diese Art der Informaonsverarbeitung ist grundsätzlich sehr hilfreich, da wir uns sonst in jeder Situaon, in jeder Begegnung mit einem bisher unbekannten Menschen völlig neu orieneren müssten. Eine unangenehme Konsequenz von Stereotypen kann aber darin bestehen, dass ich ein Stereotyp zwar für falsch halte, die Verknüpfung aber trotzdem akviert wird. 38 Filipp und Mayer argumeneren weit ausführlicher, wir geben im Folgenden nur einige der Überlegungen wieder.
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Stereotype und Vorurteile
Dies kann zum Beispiel dann passieren, wenn das Stereotyp häug wiederholt wird, ich also in meinem Leben regelmäßig damit konfronert werde. Hierbei ist zu berücksichgen, dass wir nicht nur dann Informaonen aufnehmen, wenn wir dies absichtlich tun (zum Beispiel, wenn wir etwas lernen wollen), sondern dass dies omals auch ohne Absicht geschieht (dass wir Informaonen sozusagen „im Vorbeigehen“ aufnehmen). Wenn wir jeden Tag einmal die Assoziaon ›Bombe‹ und ›Islam‹ lesen oder hören, akvieren wir diese Verbindung, selbst wenn wir die Hetze gegen islamische Mitbürger widerlich nden. Das heißt, zu einem gewissen Anteil liegt die Akvität dieser Verbindung außerhalb unserer Kontrolle. (Förster 2007, 78 f.)
Umgesetzt auf unser Thema kann man an die so häug zu hörende Rede von „Alterung“, „Überalterung“ oder gar „Vergreisung“ unserer Gesellscha denken. Wenn Förster schreibt, dass die Akvierung eines Stereotyps zum Teil außerhalb unserer Kontrolle liegt, dann heißt das wohlgemerkt nicht, dass wir keinerlei Einuss auf die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit von Stereotypen haben, sondern nur, dass uns 1. diese Akvierungen erst einmal bewusst werden müssen und dass es 2. mit einem gewissen Aufwand verbunden ist, ungeliebte Stereotype wieder loszuwerden oder zumindest ihre Wirksamkeit zu verringern. Neben der Häugkeit des Hörens oder Lesens von Stereotypen und Vorurteilen als Ursache für ihre Wirksamkeit besteht eine weitere Ursache für das Entstehen von Stereotypen und Vorurteilen in negaven Erfahrungen, da diese sich stärker einprägen und omals auch länger im Gedächtnis bleiben, denn „Tränen sind ein hervorragender Fitnessdrink für unser Gedächtnis.“ (Förster 2007, 80) Das ist sicherlich wichg für das Überleben, denn negaven, belastenden Erlebnissen wollen wir aus dem Weg gehen. Deshalb ist es sinnvoll, wenn wir potenziell ähnliche Situaonen schnell wiedererkennen und meiden. (Förster 2007, 80)
Beispiele in Bezug auf unser Thema könnten hierbei sein: Das Leben mit einem autoritären Elternteil (als Folge entsteht eventuell das Vorurteil, dass alle alten Menschen die Tendenz haben, das Leben jüngerer Menschen zu besmmen, sie herumzukommandieren usw.), sexuelle Beläsgung durch einen wesentlich älteren Menschen (als Folge entsteht eventuell das Vorurteil, dass alle alten Männer oder Frauen sexuell übergrig sind) u. ä. Funkonen aus sozialpsychologischer Perspekve Hier geht es nach Filipp und Mayer um die „Funkon für das Individuum als einem Mitglied sozialer Gruppen“ (Filipp u. Mayer 1999, 59). D. h., Ste-
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Kulturelle Gewalt
reotype und Vorurteile sollen dazu verhelfen, dass man in eine Gruppe integriert wird bzw. in ihr integriert bleibt und von dieser auch anerkannt wird. Neben der Identätssicherung wird als wesentliche Funkon auch gesehen, daß Stereotype der Stabilisierung und Erhöhung des kollekven und individuellen Selbstwertgefühls dienen. Denn in dem Maße, in dem Abwertungen stereotypisierter anderer Gruppen (outgroups) erfolgen, sollte die eigene Gruppe und damit die eigene Person zugleich aufgewertet werden. (Filipp u. Mayer 1999, 59)
Diese Überlegung kann man eventuell auf jene Situaonen anwenden, in denen Pegepersonen nicht nur als Einzelperson ein stereotypes Bild alter Menschen haben, sondern als Team dieses Bild teilen. Funkonen aus movaonspsychologischer Perspekve In diesem Bereich nennen die Autorinnen die „Angstabwehrhypothese“, die besagt, dass „Stereotypisierungen der Abwehr von Angst, Selbstunsicherheit und Gefühlen der Unterlegenheit dienen sollen“ (Filipp u. Mayer 1999, 60). Es geht in diesem Fall also weniger um die erhote Zugehörigkeit des Individuums zu einer Gruppe oder um das kollekve Selbstwertgefühl der Gruppe, sondern gewissermaßen um den Emoonshaushalt der Person in Bezug auf sich selbst. Es gibt auch in Bezug auf das Altersstereotyp nach Filipp und Mayer verschiedene Studien, denen zufolge die Angst vor dem Altern (und dem Sterben bzw. Tod) stereotypkreierend wirkt: Je mehr für ein Individuum das (hohe) Alter eine „angsterregende“ Situaon darstellt, umso ausgeprägter sollte – entsprechend der „Angstabwehrhypothese“ – das negave Altersstereotyp sein und umso stärker sollte die Distanzierung und Abwertung von alten Menschen erfolgen. (Filipp u. Mayer 1999, 61)
D. h., wenn ich vor etwas Angst habe, dem ich aber, so wie dem Alter, nicht ausweichen kann, dann versuche ich in meiner Darstellung alter Menschen möglichst viel Distanz zwischen mir und dem Alter zu erzeugen. Damit erscheinen diese Menschen nicht nur grundsätzlich als ganz anders als ich selbst, sondern sie werden darüber hinaus mit so vielen negaven Zügen charakterisiert, dass ich mir sicher sein kann, nie ein vergleichbares Bild abzugeben. Dies erlaubt mir des Weiteren, „unangemessenes Verhalten gegenüber anderen im Nachhinein zu rech ergen“ (Filipp u. Mayer 1999, 61).
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Stereotype und Vorurteile in Bezug auf das Alter – Altersbilder
Funkonen aus konikheorescher Perspekve Zentraler Aspekt ist hierbei der Kampf um begrenzte Ressourcen, und daher grenzt sich eine Gruppe von der anderen ab bzw. wertet die andere ab, um sich bessere Chancen im Kampf um diese Ressourcen zu erwerben. Gerade in Bezug auf alte Menschen erhält dieser Aspekt wieder zunehmende Aktualität, wenn man bedenkt, dass seit einigen Jahren vermehrt der Vorwurf erhoben wird, die jetzige alte Generaon lebe auf Kosten der jungen Generaon, dass manche Schreiber schon hingebungsvoll einen „Krieg der Generaonen“ prognoszieren, dass zunehmend Fragen laut werden, ob 80-jährige wirklich noch teure Operaonen erhalten sollen oder eine jahrelange Dialyse usw. Hierzu treend auch Filipp und Mayer: Schließlich bieten sich mit der auf Vorurteilen und Stereotypen basierenden Abwertung anderer Gruppen nicht selten auch willkommene Gelegenheiten, die Ursachen für tatsächliche oder vermeintliche Mißstände in einem sozialen Gebilde mit diesen Gruppen in Verbindung zu bringen und rasch vermeintlich Verantwortliche als Sündenböcke auszumachen. (Filipp u. Mayer 1999, 59)
9.2 Stereotype und Vorurteile in Bezug auf das Alter – Altersbilder Häug bekommt man zu hören, dass früher (wann auch immer dieses „früher“ angesiedelt wird) das Alter noch geehrt worden sei, heute hingegen werde es nicht mehr geschätzt. Ebenso wird man tendenziell häuger hören, dass das Alter ausschließlich negav angesehen werde, dass also eine Dezitsicht des Alters vorherrsche. Beides smmt zumindest in dieser Verallgemeinerung nicht: So ist eine Abwertung des Alters bzw. der alten Menschen alles andere als ein neues Phänomen – ganz im Gegenteil. Schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) etwa hat in der Rhetorik alte Menschen vorrangig negav skizziert (vgl. Rhet. II 1389b–1390a, Kap.13). Sie werden als schwankend skizziert, aus Furcht vor Fehlern, schlechten Handlungsausgängen usw. Des Weiteren seien sie, so Aristoteles, „argwöhnisch aus Mißtrauen“, „kleinmüg, weil sie vom Leben erniedrigt worden sind“, „knauserig“ (weil sie wissen, wie schwer man sich Geld erwirbt und wie leicht man es wieder verliert), sie „fürchten sich schon, bevor es Anlaß dazu gibt“ und sie „lieben sich selbst mehr als angemessen“ (Rhet. II 1389b, Kap.13) – um hier nur einige der negaven Zuschreibungen zu nennen. Auch wenn in diesem Zusammenhang zu berücksichgen ist, dass Aristoteles die postulierten negaven Eigenschaen mit der Lebenserfahrung alter Men-
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Kulturelle Gewalt
schen begründet, „[w]eil sie nämlich schon viele Jahre gelebt haben, öer enäuscht worden sind, öer Fehltrie begangen haben und die Mehrzahl der menschlichen Unternehmungen schlecht ausgeht“ (ebda.), so ist diese Einseigkeit doch erstaunlich. Von einer Ehrung des Alters oder einem Respekt vor dem Alter kann hier jedenfalls nicht die Rede sein. Aber auch eine einseige Erhöhung des Alters ist in der Tradion immer wieder zu nden. Hierfür ist Cicero (106 bis 43 v. Chr.) ein gutes Beispiel. In seinem Werk Cato der Ältere über das Alter vertri er die Ansicht, dass zwar die körperlichen Fähigkeiten alter Menschen nachlassen mögen, dies aber keine Rolle spiele, da körperliche Tägkeiten von alten Menschen ja auch nicht verlangt würden. In geisger Hinsicht aber würden die Fähigkeiten alter Menschen nicht nur nicht abnehmen, sondern könnten sogar zunehmen (vgl. Cato, 53). Er [der alte Mensch; A. W.] tut nicht, was die jungen Leute tun, aber er tut etwas viel Wichgeres und Besseres. Große Dinge vollbringt man nicht durch körperliche Kra, Behendigkeit und Schnelligkeit, sondern durch Planung, Geltung und Entscheidung; daran pegt man im Alter nicht nur nicht abzunehmen, sondern gar noch zuzunehmen. (Cato, 37)
Vor diesem Hintergrund ist auch die Abnahme der Sinnesfreuden, die o stereotyp mit dem Alter verknüp wird, nichts, das Cicero bestreiten will, sondern etwas, das er sogar besonders herausstreicht in dem Sinn, dass man dafür dankbar sein solle: „Die Lust behindert ja die Überlegung, sie ist die Feindin der Vernun, sie blendet sozusagen die Augen des Geistes, und sie verträgt sich überhaupt nicht mit der Tugend.“ (Cato, 63) Man sieht also hier ebenso stereotype Beschreibungen wie bei Aristoteles, nur diesmal ins Posive gewendet. Auch die ausschließliche oder vorrangige Dezitsicht des Alters kann entsprechend nicht bestägt werden, wie das Beispiel Ciceros zeigt. Zwar scheinen dem Alter tendenziell mehr negave Kennzeichen zugesprochen zu werden, aber eine posive Beschreibung des Alters lässt sich durchaus ebenso nden. In den Worten von Filipp und Mayer (in Anlehnung an Borscheid und Ehmer): Schon immer [ist] Alter mit Krankheit assoziiert gewesen und [sind] Menschen im Alter als unnütz angesehen worden. Andererseits [hat] es stets die posive Wertschätzung älterer Menschen gegeben, denen Lebenserfahrung, spezielle Kenntnisse und Fergkeiten sowie polisches Wirken zugeschrieben worden [sind]. Die Vorstellung vom Alter als Bürde und Jammertal ist nicht minder geläug als die vom Alter als Krönung des Lebens und des hohen Respekts. (Filipp, Mayer 1999, 12)
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Stereotype und Vorurteile in Bezug auf das Alter – Altersbilder
Das heißt, wir haben es mit mulplen Altersbildern zu tun – sowohl in einer Gesellscha als auch zum Teil bei einzelnen Personen. Hierbei wird der jeweils verschiedene Kontext eine nicht unwesentliche Rolle spielen (ob wir beispielsweise gerade einen brillanten Vortrag einer 70-jährigen Person gehört haben oder aber mit einer ebenfalls 70-jährigen Person gesprochen haben, deren Äußerungen sich auf die Aussage „früher war alles besser“ beschränken). Was aber wohl tatsächlich sehr häug vorzunden ist, ist, dass sowohl das posive als auch das negave Altersbild (sei es nun in Form von Stereotypen oder von Vorurteilen) stark überzeichnet werden, dass man also häug mit Ansichten konfronert wird, die das Alter entweder als äußerst vorteilha oder aber als nur durch großes Leiden gekennzeichnet sehen. Diese so einseigen und überzeichneten Altersbilder düren bis zu einem gewissen Grad damit in Zusammenhang stehen, dass man als sich noch nicht zur Gruppe alter Menschen zugehörig fühlender Mensch der Vorstellung von seinem künigen Lebensabend alles andere als neutral oder gar gelassen gegenübersteht. Manche möchten das Alter als Krönung des Lebens erlebt wissen; Manche möchten sich als in Würde auf das Ende zugehend denken können; Andere möchten einen letzten „Coup“ landen und wieder Andere haben vor allem die Honung, vor dem Alter den Tod zu nden … Wie auch immer diese Wünsche bzw. Vorstellungen konkret aussehen – anscheinend lässt es nur die wenigsten unberührt (unabhängig davon, ob sie o oder selten daran denken), wie sich ihr Lebensabend gestalten wird. Furcht und Honung scheinen hierbei zentrale Momente zu sein. Nun könnten Furcht bzw. Honung prinzipiell ja durchaus produkv genützt werden – in dem Sinn, dass sie Anlass sind, entweder sich mit dieser je eigenen Zukun auseinanderzusetzen oder aber sich dessen bewusst zu werden, dass es hier etwas gibt, mit dem man sich nicht auseinandersetzen will. Beide Wege könnten Stereotypen und Vorurteilen in Bezug auf das Alter entgegenwirken. Wenn aber Furcht bzw. Honung nicht zum Anlass für solche Reexionen genommen werden – warum auch immer: sei es, weil Furcht oder Honung zu groß sind; sei es, weil man in einem Umfeld lebt, das Überlegungen dieser Art allenfalls als lächerlich qualiziert – dann sind sie geradezu ideale Grundlagen für stereotype Altersbilder.
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Kulturelle Gewalt
9.3 Altersbilder als Quelle der Gewalt Simone de Beauvoir hat in ihrer 1970 erschienenen Studie über das Alter eine sehr einleuchtende Erklärung für einseige Altersbilder gegeben. Ausschlaggebend ist ihrer Ansicht nach die von Menschen im Erwachsenenalter gewünschte wie geforderte Auf- und Erlösung von Spannungen am Ende eines Lebens: Seit der Anke hat der erwachsene Mensch versucht, das Leben unter einem opmisschen Licht zu betrachten, und hat dabei den anderen Lebensaltern, die nicht die seinen waren, die Tugenden beigemessen, die er nicht besaß: die Unschuld dem Kind, die heitere Gelassenheit dem Greis. Das Ende des Lebens wollte er als die Lösung all der Konikte, von denen es zerrissen ist, betrachten. Das ist im Übrigen eine sehr bequeme Illusion: Sie erlaubt, dass man die Alten, trotz aller Leiden, von denen man sie gequält weiß, für glücklich hält und sie ihrem Schicksal überlässt. (Beauvoir 2004, 635)
Hier wird nun zunächst ein posiver Aspekt genannt: Heitere Gelassenheit. Dies könnte man auf den ersten Blick als Vorteil sehen – weist diese Zuschreibung doch immerhin in Richtung eines posiven Altersbildes, das noch dazu eventuell mit einer Wertschätzung der alten Menschen einhergehen könnte (nicht zuletzt, da heitere Gelassenheit nicht weit en ernt zu sein scheint von Zuschreibungen wie Weisheit, Friedfergkeit usw.). Beauvoir arbeitet aber sehr deutlich heraus, dass die Zuschreibung einer als posiv gewerteten Eigenscha nicht im Geringsten mit einem wertschätzenden Verhalten und Handeln gegenüber alten Menschen einhergehen muss. Denn 1. und vor allem, wie aus dem Zitat ersichtlich wird, entsteht die Zuschreibung einer heiteren Gelassenheit nicht als Resultat zahlreicher empirischer Beobachtungen, in deren Verlauf man so viele heitere und gelassene alte Menschen angetroen hat, dass man „heitere Gelassenheit“ als charakterissches Merkmal alter Menschen idenziert. Sondern es handelt sich sowohl um eine Honung in Bezug auf die eigene Zukun (aus der Perspekve des Erwachsenenalters) als auch – und vor allem – um eine Forderung an die bereits alten Menschen. Honung, weil das Lebensende die Lösung aller Konikte beinhalten soll; Forderung, weil man die bei sich selbst nicht entwickelte Tugend auf das Alter projiziert und von den alten Menschen (also gerade nicht von sich selbst) verlangt. 2. erlaubt diese Zuschreibung ein für die alten Menschen sehr gefährliches Vorgehen: Wenn man davon ausgeht, dass ein Mensch sowieso zufrieden ist, muss man sich auch nicht allzu intensiv um ihn kümmern. Ge-
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Altersbilder als Quelle der Gewalt
lassen und heiter (und entsprechend bedürfnislos), wie er ist, wird er mit seinem Schicksal schon zurechtkommen … 3. schließlich, wie Beauvoir an anderer Stelle deutlich macht, geht diese Zuschreibung mit weiteren Forderungen an das Verhalten alter Menschen einher, die alle als reale Eigenschaen alter Menschen behauptet werden und die den Handlungsspielraum alter Menschen sehr weitgehend einengen (in dem Sinn, was als der Konvenon, der Ekee entsprechend gilt und was nicht). Denn ihnen ist nicht erlaubt, was den jüngeren Erwachsenen erlaubt ist. Sie dürfen – um dem Bild der heiteren Gelassenheit zu entsprechen – nicht mehr die gleichen Wünsche oder Gefühle haben bzw. äußern; Liebe oder Eifersucht im Alter, so Beauvoir, wirken für viele Erwachsene „widerwärg oder lächerlich“, Sexualität im Alter wird von vielen als „abstoßend“ empfunden und „Gewalägkeit [als] lachha“ (Beauvoir 2004, 8). Hier sieht man also deutlich, dass gewisse Idealvorstellungen an das Alter und damit an die alten Menschen herangetragen werden, denen man selbst als Erwachsener gerade nicht entspricht. Beauvoir kontert diesen Haltungs- und Verhaltenszuschreibungen übrigens mit der schlichten Frage: „Warum sollte der Greis ‹besser› sein als der Erwachsene oder das Kind, das er einmal war?“ (Beauvoir 2004, 636) Womit sie nochmals die unhinterfragte Selbstverständlichkeit einer Erwartungshaltung der Entwicklung zum „Besseren“ beim alten Menschen (nicht etwa bei sich selbst) krisiert … Sollte aber ein alter Mensch in seinem Verhalten diesen Vorstellungen nicht entsprechen, so führt dies nach Beauvoir dazu, dass die Stereotypisierung von der Erhöhung auf ein übermenschliches Podest genau in ihr Gegenteil kippt: Weichen sie von dem erhabenen Bild ab, das man ihnen aufnögt, nämlich dem des Weisen mit einem Heiligenschein weißer Haare, reich an Erfahrung und verehrungswürdig, hoch über dem menschlichen Alltag stehend – so fallen sie ef darunter: Diesem Bild steht das des alten Narren gegenüber, der dummes Zeug faselt und den die Kinder verspoen. (Beauvoir 2004, 8)
Und damit sind wir auch schon beim negaven Altersbild angelangt. Wie an dem Zitat deutlich wurde, beschreibt Beauvoir posive bzw. negave Altersbilder mit den Begrien der Erhöhung bzw. Erniedrigung. Dies hat einen guten Grund (der sich übrigens auch gut mit den Funkonen von Stereotypen und Vorurteilen aus sozialpsychologischer, movaonspsychologischer und koniktpsychologischer Perspekve kurzschließen lässt) – denn ihre Schlussfolgerung lautet folgendermaßen:
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Kulturelle Gewalt
Auf jeden Fall stehen die Alten, sei es dank ihrer Tugend, sei es durch ihre Erniedrigung, außerhalb der Menschheit. Man kann ihnen also ohne Skrupel jenes Minimum verweigern, das man für ein menschenwürdiges Dasein als unerlässlich erachtet. (Beauvoir 2004, 8)
Stereotype/vorurteilsbeladene Altersbilder – gleich, ob posiv oder negav – bedeuten also, wie Beauvoir überzeugend deutlich macht, eine Ausgrenzung aus dem „Normalmenschlichen“. Und hierin liegt eine große Gefahr für die alten Menschen, wie auch Hirsch festhält (wenn auch nur in Bezug auf negave Altersbilder): Negave Vorurteile und gesellschalich geprägte altendiskriminierende Vororienerung werden leider o bei Fragen nach der Verursachung von Gewalthandlungen vernachlässigt. Doch sie sind der Nährboden39 für Gewalt gegen alte Menschen. (Hirsch 2001, 10)
Dieser Nährboden entsteht unseres Erachtens im Anschluss an Beauvoir sowohl bei posiven als auch bei negaven Vorurteilen gegenüber alten Menschen. Wie schon beschrieben, geht die Zuschreibung von heiterer Gelassenheit mit verschiedenen Erwartungen einher – etwa Bedürfnislosigkeit oder Mangel an starken Emoonen (wie Liebe, Begehren, Eifersucht, Wut usw.). Ersteres kann, wie schon erwähnt, zu einer mangelhaften Aufmerksamkeit gegenüber alten Menschen führen (bis hin zur Vernachlässigung), Zweiteres zu Überreakonen für den (wahrscheinlichen) Fall, dass der alte Mensch dieser Erwartung der weitgehenden Emoonslosigkeit nicht entspricht (Beschimpfungen, Demügungen u. ä.). Im Fall von negaven Altersbildern ist der Nährboden für Gewalt besser bekannt: Wer alte Menschen für dummes Zeug faselnde alte Narren hält, wird ihnen nicht mehr viele Rechte zugestehen, sondern sie in ihrer Selbstbesmmung und ihrer Freiheit – mehr oder weniger stark – einschränken.
9.4 Vorurteile in Bezug auf Menschen mit Demenz und deren Konsequenzen Auch wenn wir Beauvoirs These, dass auch posive Vorurteile gegenüber dem Alter eine Gefahr für alte Menschen bedeuten können, für einen sehr wichgen Aspekt halten, der weit mehr Berücksichgung zu nden verdient, so ist doch festzuhalten, dass Menschen mit Demenz dieser Ge39 Siehe Johan Galtung: „Auf dem Grund bendet sich die immerfort gegebene kulturelle Gewalt, die den Nährboden darstellt, von dem die zwei anderen zehren.“ (Galtung 1993, 108).
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fahr wohl kaum ausgeliefert sind. Denn wenn es eines gibt, mit dem Menschen mit Demenz mit großer Sicherheit nicht konfronert werden, dann sind es posive Vorurteile gegenüber ihnen bzw. ihrer Krankheit. Die negaven Vorurteile hingegen sind zahlreich – hier eine (sicher nicht vollständige) Liste an Beispielen, belegt durch Aussagen von Betroenen. (Mit all diesen Vorurteilen sind übrigens auch alte Menschen bis zu einem gewissen Grad konfronert.) 1. Vorurteil: Menschen mit Demenz sind arbeitsunfähig In dem von Demenz Support Stugart herausgegebenen Sammelband „Ich spreche für mich selbst.“ Menschen mit Demenz melden sich zu Wort nden sich einige Beispiele, anhand derer deutlich wird, dass eine der ersten Konsequenzen der Diagnose darin besteht, dass die Menschen ihre Arbeit verlieren. Wenn der Arbeitgeber von der Diagnose erfährt, erhält der Betroene recht schnell das Kündigungsschreiben, wie etwa ein amerikanischer Betroener berichtet: Nachdem er von meiner Diagnose erfahren hae, hat mir mein Arbeitgeber einen Brief geschickt, in dem er mir mieilte, dass ich nicht länger in der Lage sei, meinen Arbeitsverpichtungen nachzukommen. Ich häe mir gedacht, es häe bessere Wege gegeben, meine Fähigkeiten weiter zu nutzen, als mich bei der erstbesten Gelegenheit loszuwerden. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 108)
Ausführlich berichtet Helen Merlin in dem genannten Buch von dieser Problemak. Die frühere freiberuiche Dolmetscherin, bei der im Alter von 55 Jahren eine Lewy-Body-Demenz diagnosziert wird, stellt selbst fest, dass sie die Übersetzertägkeit nicht weiter ausüben kann, beantragt zunächst Hartz IV (ohne die Diagnose mitzuteilen) und vereinbart einen weiteren Termin, bei dem sich Folgendes ereignet: Wie auch immer, jedenfalls bin ich zu dem Termin gegangen. Und habe gesagt, dass ich bereit bin zu arbeiten, auch auf 400 Euro Basis oder auch nur einen EinEuro-Job zu machen. Ich sagte zu ihr: „Wissen Sie, ich bin zwar schwerbehindert, aber ich bin bereit, integriert zu werden und zu arbeiten.“ „Ja, was haben Sie?“ Und ich sagte ganz ta, ohne zu weinen: „Ich weiß nicht, inwieweit Sie medizinisch bewandert sind. Wissen Sie, was eine Demenz bedeutet?“ „Ja, ja, Sie haben Alzheimer“ sagte sie. Worau in ich entgegnete: „Nein, ich habe nicht Alzheimer. Ich bin noch nicht so alt. Aber ich habe eine Form der Demenz.“ Und ich sage Ihnen, die ist blass geworden, stand auf mit den Worten: „Ich geh’ zu meiner Vorgesetzten, ich muss die fragen. So einen Fall hae ich ja noch nie.“ Und lässt mich da sitzen wie einen Depp und kam nicht wieder. Ich habe dann ihren
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Kollegen gefragt, was ich machen soll, ob ich gehen oder warten soll. Der wusste aber auch nicht wie und was. Also habe ich gewartet. Und nach einer Ewigkeit kam sie dann wieder und meinte: „Bei Ihnen ist das so: Sie müssen zum Gutachter. Und so wie ich das sehe, fallen Sie in eine andere Gruppe. Sie sind ja nicht fähig, mehr als drei Stunden am Tag zu arbeiten.“ Ich war wie vor den Kopf gestoßen und sagte: „Aber das weiß ich ja nicht, ob ich arbeiten kann oder nicht. Gibt es nicht eine Kollegin, die sich mit solchen Leuten wie mir befasst, die eine neurologische Erkrankung haben? Haben Sie denn gar nichts für mich?“ „Nein“, sagte sie „ich schick’ Sie erst mal zum Gutachter, vorher kann man gar nichts machen.“ […] Irgendwann kam dann der Bescheid des Gutachters, und da stand: „Empfehlung auf volle Erwerbsminderungsrente“. Ich sei unfähig, drei Stunden am Tag zu arbeiten. (Merlin 2010, 17 f.)
2. Vorurteil: Menschen mit Demenz sind wie kleine Kinder Kleine Kinder dürfen nicht unbeaufsichgt gelassen werden; sie sind bei fast allem, was sie tun, auf Hilfe angewiesen; man muss ihnen vieles verbieten, da sie nicht in der Lage sind, vernünige Entscheidungen zu treffen und daher auch nicht entscheidungskompetent sind (weshalb sie in viele Entscheidungen gar nicht erst eingebunden werden). Ad Beaufsichgung: Da sind immer noch Fähigkeiten da, aber meine Frau lässt mir keinen Raum zum Atmen. Sie denkt, sie weiß es am besten und meine Meinung zählt nicht. Heute ist sie aus dem Haus gegangen und ich habe mich auf einen Tag Ruhe und Frieden gefreut. Aber sie hat meine Tochter damit beauragt, ‚mal eben vorbeizuschauen‘, so, als ob ich es nicht überleben würde, auch einmal eine Weile alleine zu sein. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 102)
Ad Angewiesensein auf Hilfe: Manche scheinen anzunehmen, dass eine Demenz die Hörfähigkeit einschränkt. Wenn sie mit mir sprechen, dann wird ihre Smme lauter. Sie sprechen langsamer als gewöhnlich. Und sie geben sich Mühe, jedes Wort deutlich auszusprechen. Manche scheinen der Ansicht zu sein, dass man von einer Demenz schwere Arme bekommt. Sie halten ständig meinen Ellenbogen fest, um mir dabei behilflich zu sein, durch das Zimmer oder über die Straße zu gehen. (Taylor 2010, 66.)
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Ad Verbote: Oder das Problem: Ich hab‘ kein Radl mehr, na, weil meine ehemalige Frau das halt unterbunden hat, weil sie meinte, das wird zu gefährlich für mich. Das Rad ist leider schon verkau worden. Ich würde so gerne wieder Radfahren. Aber keiner traut sich, mir ein Radl zu leihen. Das [sic!] man’s versuchen kann. Ein Auto, da würde ich drauf verzichten. Radeln kann ich mir vorstellen. […] Heimo, München (Demenz Support 2010, 103)
Ad Entscheidungskompetenz: Ich denke so o, dass die Menschen für uns sprechen oder einfach unterstellen, was wir wollen. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 105) Ich half ihr beim Ausziehen und beim Anlegen des OP-Hemdes. Während wir in einem Zimmerchen auf den Arzt warteten, kamen noch mehr Leute und stellten mir Fragen! Oh, dieses köstliche Gefühl, meiner Frau helfen und feststellen zu können, dass niemand meine Worte anzweifelte. Alle schienen sich auf meine Antworten zu verlassen. Man wechselte keine wissenden Blicke und suchte keine Bestägung meiner Antworten. Ich war wieder voll drin im Spiel des Lebens! Schließlich kam der Arzt herein und wollte mit meiner Frau sprechen. Nach ihrem vierten oder fünen von den Spasmen im Rücken ausgelösten Schmerzenslaut wandte er sich dann an mich. Was wussten wir von ihrem Krankheitsbild und was erwarteten wir von der bevorstehenden Prozedur? Es ist sehr lange her, seit ich zum letzten Mal gefragt wurde, was meine Frau und ich über irgendein Thema wissen. Die Leute haben es längst aufgegeben, sich bei mir zu erkundigen, was Linda und ich als Paar von einer Sache halten. Sie wenden sich inzwischen fast ausschließlich an Linda. Was wusste sie? Wie war ihr zumute? Wie steht es um Richard? (…) Erst als wir wieder zuhause waren, wo mich alle kennen und alle von meiner Erkrankung wissen, erfasste ich die volle Bedeutung dieses Erlebnisses. Daheim wurde ich behandelt, als häe ich den Termin im OP-Zentrum verschlafen und wäre überhaupt nicht mit dabei gewesen. (…) Meine Schwiegertochter wurde zur bevorzugten Informaonsquelle. Die Leute riefen sie an und redeten mit ihr. Sie kamen zu Besuch und blickten ihr in die Augen. Niemand zweifelte ihre Worte an. Richard Taylor, Cypress, USA (Demenz Support 2010, 104)
Ein besonders erschreckendes Beispiel für Infanlisierung von Menschen mit Demenz bietet Iris Radisch in einem Arkel, in dem sie vorgibt, sich krisch mit dem für sie „empörende[n] Buch“ von Tilman Jens über seinen Vater, Walter Jens, auseinanderzusetzen.40 Im Zuge dieser Krik liest man dann folgende Sätze: 40 Tilman Jens: Demenz. Abschied von meinem Vater. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2009.
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Vier Tage lang versorgte der Journalist Tilman Jens in der vergangenen Woche unter dem Titel Das lange Sterben des großen Walter Jens die Bild- Leser mit inmen Details aus dem Windeleimer seines kranken Vaters. […] Fassungsloses Staunen. Woher weiß der Sohn, was er zu wissen vorgibt: dass sein berühmter Vater mit dieser invesgaven Homestory über die väterliche Spielknete und die väterlichen Babypuppen im höchsten Maße einverstanden wäre? Und wem außer dem voyeurisschen Boulevard nutzt dieser Report aus der Krabbelgruppe des gelehrten Mannes? (Radisch 2009)
„Fassungsloses Staunen“ ergrei hier auch den Leser: Wie bringt man dieses Kunststück zustande, den Sohn angreifen zu wollen und dabei den demenzkranken Vater derart zu infanlisieren und zu verhöhnen? Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass bei diesem Vorurteil zu berücksichgen ist, dass Menschen mit Demenz zwar wie kleine Kinder behandelt werden, allerdings ohne in den Genuss des Sympathiefaktors zu gelangen, der Kindern üblicherweise zugute kommt. Außerdem bemüht man sich bei kleinen Kindern, ihnen etwas beizubringen. Sie sollen lernen, selbstständig zu werden usw. Ein analoges Engagement (Erhalt der Selbstständigkeit, Lernen des Umgangs mit der veränderten Lebenssituaon u. ä.) ndet sich in Bezug auf Menschen mit Demenz leider weit weniger häug – was ihre Situaon nochmals erschwert. Allenfalls ndet man bei einigen Pegepersonen oder Angehörigen die Tendenz, die Menschen mit Demenz (wieder) zu „richgem“ Benehmen zu erziehen (etwa nicht mit den Fingern zu essen) – mit all den negaven Konsequenzen, wie sie in den Kapiteln über personelle und strukturelle Gewalt beschrieben wurden. 3. Vorurteil: Menschen mit Demenz „begreifen nichts mehr“41 Wer nichts mehr begrei, dem ist die Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit verloren gegangen. Daher erscheint es Vielen nicht nur sinnlos, weiter mit diesem Menschen zu sprechen, sondern es erscheint ihnen auch unproblemasch, in seiner Anwesenheit über ihn zu sprechen und ihn selbst zu ignorieren. René stellt die Arkel der Reihe nach auf das Warenband, sucht in seinem Geldbeutel und gibt der Kassiererin einen Geldschein. Das Wechselgeld gibt sie nicht ihm, sondern mir. Immer häuger passiert es, dass sich die Leute an seine Tochter wenden. Das verunsichert ihn. »Denken die, dass ich ’ne Macke habe? Schlimmer: Habe ich eine Macke?« (Braam 2007, 15) 41 Dieses Vorurteil steht als erstes auf der Liste der Vorurteile gegenüber Menschen mit Demenz, die der niederländische Gesundheitsrat erstellt hat (vgl. Braam 2007, 64).
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In der Bibliothek kann er seine Sorgen für kurze Zeit vergessen. Wie ein Kiebitz läu er durch die Abteilung mit den Großdruckausgaben. Er grei ein willkürliches Buch aus dem Regal und beginnt zu lesen. »Es könnte eine Nummer größer sein«, bemerkt er. Er streckt den Finger in die Höhe. »Ein Vergrößerungsglas!« Schnell macht er sich auf die Suche nach einer Bibliotheksmitarbeiterin. »Verkaufen Sie Lupen?«, fragt er am Informaonsschalter. »So ein Ding, mit dem man die Buchstaben etwas größer sehen kann«, erklärt er zur Sicherheit. Es scheint, als verstehe man ihn immer weniger. »Wir haben tatsächlich eine Lupe da«, meint sie. »Sie dürfen sie hier benützen, aber nicht mitnehmen.« René nickt zusmmend. »Genau, was ich meine. Ein Buchstabenvergrößerer. Was schulde ich Ihnen?« »Wir verkaufen keine Lupen.« »Aber ist das nicht ein Lupengeschä?« »Nein, das ist eine Bibliothek.« »Aber gerade eben verkauen Sie mir doch eine Lupe?« Sie wendet sich an mich: »Können Sie es ihm erklären? Er versteht es nicht mehr, was? Schlimm.« Immer dasselbe Lied. In seiner Gegenwart spricht man über ihn. (Braam 2007, 62 f.) Zwei Stunden später ist er wieder dran [am Telefon]. »Ich bin ein bisschen benommen. Ich lasse die Arbeit gut sein, unser Buch. So schae ich es nicht mehr. Ich will dir nur sagen: Ich muss dieses Gebäude verlassen. Man hat mir gerade ein Ulmatum gestellt.« René hat Gesprächsfetzen zwischen den Pegekräen und mir und dem Personal untereinander aufgeschnappt. »Sie« kriegen eh nichts mehr mit. Dann kann man alles in ihrer Anwesenheit sagen. René: »Stell dir nur vor, ich würde um drei Uhr nachts auf die Straße gesetzt. Wohin soll ich dann?« (Braam 2007, 112)
Dieses Vorurteil bestärken entsprechend auch alle Autoren, die ein Leben mit Demenz einem Leben im Dämmerzustand vergleichen, die wie Frank Ochmann von einem „lebendige[n] Versinken ins ewige Vergessen“ schreiben (Ochmann 2007, 156) oder wie Nils Köhler von einem „Leben im Halbschaen“ (Köhler 2009). 4. Vorurteil: Demenz verändert die Person völlig/löscht die Person aus Das ist nicht der Walter Jens, den wir kannten. Muss dieser Walter Jens zu seinen Lebzeiten so vorgeführt werden? (Köhler 2009)
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Dieser Satz und die anschließende Frage sprechen eine deutliche Sprache. Der Literaturwissenschaler Walter Jens, der Denker, der brillante Rhetoriker, verliert sein Gedächtnis, verliert seine rhetorischen Fähigkeiten, seine intellektuelle Größe und Scharfzüngigkeit – und damit ist er nicht mehr „der Walter Jens, den wir kannten“. Nun mag es ja sein, dass Einbußen der rhetorischen Fähigkeiten und der Arkulaonsfähigkeit, dass Wor indungsstörungen und Gedächtnisverlust gerade angesichts eines Intellektuellen besonders gravierend erscheinen. Aber die Formulierung „das ist nicht der Walter Jens, den wir kannten“ geht um einiges weiter. Denn hier wird eine Gleichsetzung der Person Walter Jens mit den intellektuellen Fähigkeiten von Walter Jens vorgenommen. Wenn nun Walter Jens diese intellektuellen Fähigkeiten nicht mehr besitzt, so ist – legt zumindest diese Formulierung nahe – auch die Person Walter Jens – zu Lebzeiten – erloschen. Beauvoir hat anhand des Beispiels des Älterwerdens folgenden Satz formuliert: „In jeder Metamorphose liegt etwas Erschreckendes.“ (Beauvoir 2004, 9) In Bezug auf Demenz scheint dieser Schrecken noch viel größer zu sein, da mit ihr eine nicht verhinderbare und auch nicht kontrollierbare Veränderung im Sinne eines konnuierlichen Weniger-Werdens, eines „Absterbens“ assoziiert wird. Und damit sind wir auch schon beim fünen und letzten hier behandelten Vorurteil: 5. Vorurteil: Ein eben mit Demenz ist kein eben mehr, sondern ein tägliches Sterben „Ich möchte sterben, bevor ich alt bin“ ist eine Aussage, die man bei jungen und erwachsenen Menschen gar nicht so selten hört. „Lieber tot als dement“ allerdings hört man noch weitaus häuger. Und bis zu einem gewissen Grad klingt dies auch in der Frage von Nils Köhler an: „Muss dieser Walter Jens zu seinen Lebzeiten so vorgeführt werden?“ „Vorführen“ zeigt in diesem Zusammenhang deutlich, dass das jetzige Leben von Walter Jens als – wenn überhaupt – nur sehr eingeschränkt lebenswert eingestu wird. Noch deutlicher bzw. explizit ausgedrückt wird dieses Vorurteil etwa von Frank Ochmann im bereits zierten Arkel, wenn er schreibt, „dass kaum mehr von einem Menschen bleibt als eine welke Hülle und Kinder ihren kranken Eltern nur noch den Tod wünschen, damit das tagtägliche Sterben ein Ende hat“ (Ochmann 2007, 156) Welche Konsequenzen haben diese Vorurteile für Menschen mit Demenz? Stellen wir uns vor, wir häen vor kurzem die Diagnose einer Demenz be-
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kommen, benden uns also wahrscheinlich im Frühstadium einer Demenz. Die Diagnose selbst ist bereits für viele Menschen alles andere als leicht zu verkraen. Doch sta in diesem Verarbeitungs- und Umstellungsprozess umfassende Unterstützung zu erhalten, wird man von vielen Seiten mit gravierenden Angrien auf das Selbstwertgefühl konfronert. Denn das ist die Konsequenz, die aus all diesen Vorurteilen resulert. Du hast eine Demenz? Dann bist Du ab sofort auf keinen Fall mehr in der Lage zu arbeiten; dann kann man Dich nicht mehr alleine lassen, muss Dir bei jedem Schri, den Du gehen willst, über die Schulter schauen oder, noch besser, Dir diesen Schri abnehmen, Dir „unvernünige“ Schrie verbieten und Dir zeigen, welche Schrie Du selbst in welcher Richtung gehen solltest; da Du eh nicht mehr verstehst, worum es geht, müssen wir für Dich entscheiden; Du bist ab sofort ein völlig anderer Mensch; wir müssen den „Verlust Deiner Person“ (am besten in Deiner Anwesenheit) betrauern, weil Dein Leben ab jetzt ein Elend, ein Siechtum, ein lang anhaltendes Elend ist. Unterstützung sieht wohl anders aus … Wie reagiert man in einer solchen Situaon? Es gibt einige Menschen, die in die Oensive gehen. Der bereits zierte Alzheimer-Akvist Richard Taylor ist hierfür ein Beispiel. Chrisan Zimmermann, ein Unternehmer, ist ein weiteres Beispiel: Ich denke, dass man ganz schnell von der Diagnose wegkommen muss. Dann ist es einfacher. Mein Lieblingsspruch ist ja: Es gibt ein Leben nach der Diagnose! Klar ist da am Anfang der Schock. Aber das Leben ist dann doch nicht beendet. (Zimmermann 2010, 52)
Er zieht sich aus eigenem Willen aus der Firma zurück („Das [eventuelle Misstrauen; A. W.] überspringt man, wenn man gleich am Anfang alle krischen Sachen ferg macht und regelt. Das wird dann harmloser, diese Geldverlustängste, die ja häug da sind, oder dass man zu wenig kriegt, oder dass man rausiegt …“ Zimmermann 2010, 53) und beschließt: Ich kann es mir doch jetzt auch schöner machen, in dem Sinn, dass ich sag’: ‚Ich mach jetzt das, was ich versäumt hab’ bisher im Leben. Was ich mich nicht getraut hab’ bisher.‘ (Zimmermann 2010, 55)
Zu diesen neuen Akvitäten von Chrisan Zimmermann gehören vor allem das Malen, Theaterspielen, Reisen (in nicht zu große Städte) und gemeinsame Zeit mit dem Enkelkind Verbringen.
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Weit mehr Menschen aber gehen genau umgekehrt in die Defensive. Als „zu nichts mehr zu gebrauchen“ gebrandmarkt, ziehen sie sich zurück. Diese Reakon kann wohl auch nicht weiter verwundern angesichts der zuvor beschriebenen vorurteilsbeladenen Reakonen auf die Diagnose. Ebenso wenig kann es verwundern, dass etliche Betroene versuchen, ihre Diagnose so lang wie möglich zu verheimlichen. Hierzu nochmals Helen Merlin: Ich will das mal mit einer physischen Erkrankung vergleichen. In 2003 bekam ich eine onkologische Diagnose und die Leute haben das hingenommen. Sie waren natürlich bedrückt, aber sie haben mich normal behandelt. Im Gegensatz dazu ist es bei einer neurologischen Erkrankung so, als ob einem ein Stempel aufgedrückt wird: „Die ist nicht mehr klar in dem was sie so sagt. Die kann man nicht mehr ernst nehmen.“ Und das Verhalten ist dann so wie mit einem total Vertrottelten. Das habe ich ganz massiv bei den Ämtern erfahren. Daher sage ich meinen Freunden und Bekannten im Moment nicht, dass ich eine Demenz habe. Und ich möchte es solange hinaus zögern, bis ich selber merke, ich kann dieses „Theater“ nicht mehr spielen. Im Moment sind meine Freunde zwar etwas irriert über meine „Wortneubildungen“, aber sie wissen nicht, was dahinter steckt und halten mich vielleicht für ein bisschen überspannt. Aber ich will es ihnen noch nicht sagen, weil ich diesen Stempel nicht möchte. Auf der anderen Seite ist dieses „Theaterspiel“, das Verstecken, manchmal auch anstrengend. Ich will Ihnen mal ein Beispiel geben: Im Moment klappt es bei mir mit dem Kopfrechnen nicht mehr so. Aber demnächst veranstaltet ein Verein, bei dem ich Mitglied bin, einen Flohmarkt und ich bin zum Verkaufen eingeteilt. Da mache ich mir jetzt schon meine Gedanken, wie ich das mit dem Wechselgeld hin bekomme. Denn sechs plus sieben, das kann ich schon noch im Kopf, aber von 14,35 auf 20 herausgeben, da brauche ich ewig. Aber was werden die Leute sagen, wenn die Alte nicht mal mehr richg herausgeben kann. Ich werde wohl ein bisschen tricksen müssen und einer Kollegin sagen: „Gib du mal dem Herrn das Wechselgeld, ich mache mal dahinten weiter.“ (Merlin 2010, 14 f.)
Dass diese Befürchtung Merlins nicht so weit hergeholt ist, belegen verschiedenste Aussagen, in denen das Thema der sozialen Kontakte angesprochen wird. Die Palee reicht hierbei von • sozialer Isolaon Einigen so genannten ‚Freunden‘ häe ich niemals von der Diagnose erzählen sollen. Ich nehme an, ich hae mir irgendwie Unterstützung von ihnen erhot, aber sie haben sich sofort von mir zurückgezogen. […] Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 107)
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• über Sprachlosigkeit Die Leute wussten nicht mehr, wie sie mit mir reden sollten, obwohl ich doch dieselbe Person war wie fünf Minuten bevor ich ihnen erzählt hae, dass ich es habe. Sie sahen nur noch dieses große ‚A‘ auf meiner Srn. Sie betrachteten mich nicht mehr als dieselbe Person. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 106)
• und „Glaubwürdigkeitsverlust“ Wenn Du das Eke ‚Alzheimer‘ erst einmal hast, setzt eine suble Art von Glaubwürdigkeitsverlust ein. Ich war im Aufsichtsrat unserer Hausbesitzervereinigung. Und als publik wurde, dass ich Alzheimer hae, wurde alles, was ich auf den Tisch brachte, abgebügelt. Es war nicht oen und direkt – es wurde gewissermaßen hinter der Bühne arrangiert. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 107)
• bis hin zu Aufrechterhalten des Kontakts, allerdings unter stark veränderten Bedingungen Es scheint, als scheuten sich Freunde und auch Familienmitglieder, mir direkt in die Augen zu sehen und Blickkontakt zu halten. Unterhaltungen sind kürzer. Die Gesprächsthemen führen selten zu ausführlichen, introspekven, philosophischen und polischen Diskussionen. Ich habe die Leute gefragt, warum sie allem Anschein nach die Art verändert haben, in der sie mit mir kommunizieren. Viele haben mir gesagt, dass sie davor zurückschrecken mich etwas zu fragen, weil sie fürchten, dass ich die Antwort nicht weiß und mir das peinlich ist. (Taylor 2010, 66)
Zusammengefasst: Menschen mit Demenz erfahren nach (dem Bekanntwerden) der Diagnose in vielen Fällen massive Angrie auf ihr Selbstwertgefühl, sie erfahren Diskriminierungen und auch Gewalt: Sie werden durch Kündigung von einem Tag auf den anderen ihrer gewohnten Tagesstrukturierung und eines Teils ihres Lebensinhalts beraubt (unabhängig davon, ob sie ihren Beruf gern oder unwillig ausgeübt haben), damit einher gehen meist auch nanzielle Einbußen, man versucht sie davon abzuhalten, Akvitäten weiter auszuüben oder mit neuen Tägkeiten zu beginnen, man verweigert ihnen sowohl die Erfüllung des Bedürfnisses nach Ruhe und Privatsphäre als auch jene des Bedürfnisses nach – selbst gewählten – sozialen Kontakten. Omals werden Menschen mit Demenz gedemügt und erniedrigt – wenn man sie etwa aus dem Gespräch ausschließt, wenn in ihrer Anwesenheit über sie gesprochen wird, wenn sie
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ignoriert werden, wenn man ihnen gegenüber behauptet, sie seien ein „völlig anderer Mensch“ geworden (und dies nicht posiv meint). Zwei relavierende Bemerkungen erscheinen an dieser Stelle allerdings angebracht: 1. Viele der hier beschriebenen Handlungen werden nicht aus böser Absicht gesetzt. Ganz im Gegenteil, wie etwa in der letzten Bemerkung von Richard Taylor deutlich wurde, sind viele dieser Handlungen Resultat einer Intenon der Unterstützung, der Erleichterung, des Erhalts des Wohlbendens. Und wie bei anderen Menschen auch, ist es bei den je verschiedenen Menschen mit Demenz nicht immer einfach herauszunden, welche Unterstützung sie gerade benögen oder wünschen. Letztlich geht es wohl vor allem darum, gerade bei Menschen mit Demenz in einem frühen Stadium (aber nicht nur bei ihnen) die Fürsorge nicht auf Kosten der Selbstbesmmung „überborden“ zu lassen. Schließt uns nicht durch eure Freundlichkeit und Herzensgüte aus der Entscheidungsndung aus! Immerhin gilt der Satz: ‚Benutze es, sonst verlierst du es!‘ Wenn du jemandem etwas wegnimmst, wird er oder sie es niemals zurückbekommen. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen in den USA (Demenz Support 2010, 125)
2. Zumindest einige Menschen machen durchaus posive Erfahrungen mit der Bekanntmachung der Diagnose im persönlichen Umfeld. Hierzu nochmals Chrisan Zimmermann: Ich habe damals meine Freunde und meine Bekannten darüber informiert und das mache ich heute eigentlich auch noch so. Ich sage dann eben einfach: ‚Ich habe Alzheimer.‘ Nicht nur bei Freunden, auch in Geschäen hier in der Gegend und so weiter. Eigentlich überall, wo ich regelmäßiger hingehe oder mit zu tun habe. Und das Gute ist: Das haut hin! Wenn ich da oen bin, dann erfahr’ ich auch immer so eine Anteilnahme. Bei fast allen spür’ ich dann so eine Aufgeschlossenheit. Das nimmt mir auch eine Last ab, wenn es die anderen wissen. (Zimmermann 2010, 54)
Die hier skizzierten Vorurteile wurden absichtlich in „aufsteigender“ Reihenfolge angeordnet. „Aufsteigend“ insofern, als das nachgereihte Vorurteil das vorausgegangene meist bis zu einem gewissen Grad einschließt und die negaven Konsequenzen für die Betroenen immer gravierender und umfassender werden – bis zu jenem Punkt („lieber tot als dement“),
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an dem man sich dann schon die Frage stellen muss, welche Art von Betroenheit denn nun die schlimmere ist: Jene, von Demenz betroen zu sein, oder jene, von den Vorurteilen gegenüber Demenz betroen zu sein. Anders formuliert: Viele Menschen glauben, dass es besser sei, tot zu sein als dement zu leben. Und mit dieser Haltung/Überzeugung und den damit verknüpen Verhaltens- und Handlungsweisen bringen sie eine ganze Menge von Menschen mit Demenz in die Situaon, sich lebendig begraben zu fühlen.
9.5 Maßnahmen, mit denen Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Menschen mit Demenz entgegengewirkt werden kann Üblicherweise wird in Texten über gesellschaliche/kulturelle Bezüge über die Kultur, über die Gesellscha geschrieben, über die polische Verantwortung, über die Verantwortung von Staaten. Diese Verantwortung ist natürlich nicht zu leugnen und wir haben in diesem Buch auch einige Maßnahmen angesprochen, die auf polischer Ebene zu setzen sind, wie etwa die Aufwertung des Berufsbildes in der Gesellscha, erhöhte nanzielle Ressourcen und gerechtere Verteilung u. ä. Ebenso wenig ist zu leugnen, dass uns die Gesellscha, in der wir aufwachsen und leben, hinsichtlich unserer Vorurteile stark prägt – seien diese Vorurteile uns nun von den Eltern vermielt, von besmmten Medien, sozialen Gruppen oder polischen Parteien. Bei alledem wird aber omals vergessen, dass wir selbst ein Teil dieser Gesellscha sind. Zu o hört man (meist negave) Reden über die Gesellscha, als häe man selbst nichts mit ihr zu tun. Die Gesellscha orienert sich nur am Leistungsdenken, alte Menschen werden nicht wertgeschätzt, Menschen mit Demenz werden wegen der Priorität der kogniven Tägkeiten ausgegrenzt – das sind nur einige Beispiele für Aussagen, die in solchen Reden häug zu hören sind. Das erste Problem dabei besteht darin, dass sie in dieser Verallgemeinerung schlicht nicht wahr sind. Eine ganze Menge Menschen orienert sich nicht ausschließlich an Leistung, eine beträchtliche Anzahl alter Menschen wird zu Hause von den Angehörigen oder ambulant bzw. in einer Instuon von professionellen Pegepersonen gepegt – und zwar gut gepegt, gleiches gilt für Menschen mit Demenz in einem späteren Stadium, wenn sie pegebedürig sind.
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Das zweite Problem liegt in der Art, in der die Aussagen formuliert sind: Es sind immer die Anderen, die ein verweriches Verhalten an den Tag legen – nie wir selbst. Das drie Problem schließlich wird manifest anhand der Schlussfolgerungen, die häug aus solchen Aussagen gezogen werden: „Ich häe ja gern, dass sich etwas ändert, aber ich allein gegen die Gesellscha kann ja nichts tun.“ Diese Schlussfolgerung ist nicht nur ein Fehlschluss (denn warum sollte mich die Tatsache (wenn sie denn smmen würde), dass die meisten Menschen anderer Meinung sind als ich, daran hindern, etwas zu unternehmen, um diese Meinung/Haltung/Überzeugung zu ändern?), sondern vor allem überaus bequem: Denn nun bendet man sich in der Posion, zu wissen, wie es richg wäre, ohne sich aber mühsam engagieren zu müssen, da man ja gegen die Gesellscha ohnehin nichts ausrichten kann … Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen soll in diesem Kapitel das Hauptaugenmerk darauf gelegt werden, welche Maßnahmen wir in Bezug auf uns selbst ergreifen müssen, wenn wir tatsächlich einen Wandel erreichen wollen – und zwar unabhängig davon, ob wir beruich oder privat in Kontakt mit Menschen mit Demenz stehen oder nicht, ob wir selbst eine Demenz haben oder nicht. „Gewalt beginnt im Kopf“ ist eine häug zu hörende Redewendung, die wohl bis zu einem gewissen Grad auch durchaus ihre Berechgung hat, wenn wir etwa an die Ausführungen über Stereotype und Vorurteile zurückdenken. „Änderung beginnt mit Hinterfragung“ ist entsprechend eine (Haupt-) Antwort auf die Frage, wie man kultureller Gewalt in Form von Vorurteilen begegnen kann, wie man sie reduzieren kann (eine Auösung des Phänomens erscheint uns hingegen illusorisch). Versuchen wir eine solche Hinterfragung in Bezug auf die eigene Person, so sind wir mit einer Vielzahl von Fragen konfronert: 1. Eigene Stereotype und Vorurteile: • Tree ich selbst generalisierende Aussagen über soziale Gruppen bzw. deren Mitglieder? Wann, in welchen Situaonen und warum? Handelt es sich dabei um Vorurteile oder um Stereotype? • Teile ich es anderen Menschen mit, wenn sich ein Vorurteil in Bezug auf einen Menschen als falsch herausstellt? Bzw.: Nehme ich selbst es überhaupt zur Kenntnis, wenn sich ein Vorurteil als falsch herausstellt?
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Maßnahmen gegen Stereotype und Vorurteile
• Wie kommt es dazu, dass ich bei manchen Menschen ein Fehlverhalten zu erklären, zu entschuldigen oder zu rech ergen versuche, bei anderen Menschen aber nicht? • Habe ich ein Bild des Alters? Eine Wunschvorstellung in Bezug auf mein eigenes Altern? • Erfüllt mich die Vorstellung, an Demenz zu erkranken, mit Furcht? Furcht wovor? Habe ich genügend Wissen über diese Krankheit bzw. Belege, um diese Furcht begründet erscheinen zu lassen? • Habe ich eine Idealvorstellung eines alten Menschen oder eines Menschen mit Demenz? Wenn ja – kann es sein, dass diese Idealvorstellung meine posiven oder negaven Urteile über einzelne Menschen und mein Handeln ihnen gegenüber lenkt? Anders formuliert: Führt meine Idealvorstellung zu einer besmmten Erwartungshaltung an einzelne Menschen? 2. Umgang mit Stereotypen und Vorurteilen von anderen Menschen • Wie reagiere ich, wenn Menschen im Gespräch Vorurteile gegenüber Mitgliedern von sozialen Gruppen äußern? • Reagiere ich verschieden, wenn ich dieser sozialen Gruppe oder einzelnen ihrer Mitglieder nahestehe oder aber keinen Kontakt zu Mitgliedern dieser sozialen Gruppe habe? • Reagiere ich unterschiedlich, je nachdem, welche Person diese Vorurteile äußert? Wer einmal das Experiment gemacht hat, sein tägliches, alltägliches Handeln auf die hier formulierten Fragen hin „abzuklopfen“, der wird schnell feststellen, dass er vor der eigenen Tür noch viel zu kehren hat, bevor er in die moralisch überlegene Lage versetzt ist, Andere für ihre Vorurteile zu krisieren. Wer das Experiment länger durchführt, gerät zwischenzeitlich wahrscheinlich in einen Zustand der Verzweiung, weil der Eindruck entsteht, es sei geradezu unmöglich, den „Bann“ dieser Stereotype und Vorurteile zu brechen. Und es wird auch tatsächlich nicht möglich sein, „vorurteilsfrei“ durchs Leben zu gehen. (Ganz abgesehen davon wäre dies auch nicht von Vorteil, da ja im Kapitel über Stereotype und Vorurteile aufgezeigt wurde, das diese durchaus auch posive Funkonen erfüllen.) Nichtsdestoweniger kann man es schaen, den Anteil an vorurteilsgelenkten Gedanken und Handlungen zu reduzieren – vorausgesetzt, dass man bereit ist, diese Aufgabe als eine lebenslange zu begreifen und sie auch als Herausforderung anzunehmen.
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Kulturelle Gewalt
Es kann natürlich gute Gründe geben, dass wir nicht bereit oder nicht gewillt sind, dieses Maß an Eigenarbeit auf uns zu nehmen. Dann sollten wir aber zumindest damit au ören, allzu selbstgerecht Andere für ihre Vorurteile zu krisieren. Darüber hinaus müssen wir dann aber auch damit leben können, dass andere Menschen die Konsequenzen unserer Nicht-Bereitscha, unseres Unwillens tragen müssen: Die Menschen scheuen vor dir zurück. Es ist eine Reakon, wie man sie vom Körpergeruch her kennt. Es ist etwas, wofür man nichts kann, aber in Wirklichkeit wollen sie nichts davon wissen und da auch nicht hineingezogen werden. Teilnehmer eines Town-Hall-Meengs von Alzheimer-Betroenen, USA (Demenz Support 2010, 105)
Wenn man sich abschließend ansieht, welche Wünsche Menschen mit Demenz in Bezug auf ihr Umfeld äußern, dann stellt man fest, dass es vor allem drei Aspekte sind, die immer wieder genannt werden: 1. Ein Ende der Sgmasierung Ich möchte dieses Tabu brechen – mich einer Erkrankung zu schämen. Warum sollten wir uns wegen des physiologischen Ausfalls von Gehirnzellen mehr schämen als wegen des physiologischen Ausfalls irgendeines anderen Körperteils? Wir sind nicht irre, sondern krank, weshalb wir bien, unsere Würde zu achten, sich nicht über uns lusg zu machen und sich nicht für uns zu schämen. Vielleicht breche ich eines der letzten Tabus, wenn ich öentlich sage. ‚Ich habe Demenz!‘ (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 15)
2. Mitmenschlichkeit Die Leute müssen lernen, Alzheimerkranke zu verstehen. Wir sind noch da! Wir haben noch immer Gedanken und Ideen und können sie ausdrücken. Seid einfach geduldig und hört uns zu. Wir sind Menschen wie andere auch! Der Mensch und die Erkrankung sind zwei verschiedene Dinge. Nur die Krankheit unterscheidet uns von euch. (Simpson & Simpson 1999, zit. in Bowlby Sion 2008, 189)
3. Teilhabe Bie hel uns! Versteckt uns nicht, lasst uns dabei sein, lasst uns durch euer Gedächtnis, eure Fähigkeiten und eure Geduld an den Freuden des Lebens teilhaben. (Boden 1998, zit. in Bowlby Sion 2008, 246) Bie heißt Menschen mit einer Demenz willkommen, sta euch von ihnen zu verabschieden. (Taylor 2010, 72)
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Maßnahmen gegen Stereotype und Vorurteile
Nicht sgmasiert zu werden, Mitmenschlichkeit zu erfahren und an einem Leben in Gemeinscha teilzuhaben – viele Menschen haben weitaus unbescheidenere Wünsche . . .
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