Hedda J. Herwig, geb. 1944, promovierte (1969) und habilitierte (1976) an der Ludwig-MaximiliansUniversität München in ...
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Hedda J. Herwig, geb. 1944, promovierte (1969) und habilitierte (1976) an der Ludwig-MaximiliansUniversität München in Politischer Wissenschaft. Von 1975 bis 1978 war sie Assistentin für Medizinische Psychologie in Göttingen, von 1978 bis 1981 Dozentin, dann (1981-87) Professorin für Politische Wissenschaft an der RWTH-Aachen. Sie lehrt zur Zeit als Professorin für Politische Wissenschaft an der Universität-GH-Duisburg und hat bisher vor allem im Bereich von Psychoanalyse und Politik publiziert.
V. 041223
Coll. Bright
Da ist Rousseau mit seiner Vergötzung des Gefühls, einem typisch modernen Liebeskonzept, das sich strategisch hervorragend einsetzen läßt, weil es den Verstand ausschaltet und etwas als «Natur» erklärt, das alles andere als natürlich ist. Da ist Freud, der seiner Patientin Dora S. im Dienste seines neu entdeckten Ödipuskomplexes alles unterstellte, nur nicht, daß sie ganz schlicht die Wahrheit sagte, als sie behauptete, ein Freund ihres Vaters belästige sie sexuell. Sanfte Gewalt durchzieht wie ein Krebsschaden unsere modernen Gesellschaften. Es ist nicht leicht, sie zu erkennen, denn meist ist sie gesellschaftlich sanktioniert. Aber sie zielt darauf, uns etwas wegzunehmen, uns in Abhängigkeitsverh ältnisse hineinzumanövrieren, uns ein X für ein U vorzumachen. Zu begegnen ist ihr mit dem kühlen Blick auf die jeweiligen Interessen, die sie zu verschleiern sucht. Zu begegnen ist ihr mit einem gut entwickelten Sinn für Gerechtigkeit auf allen Gebieten unseres Lebens. Zu begegnen ist ihr nur, wenn wir unseren Verstand einsetzen, nicht, wenn wir ihn verlieren.
unverkäuflich
Der Begriff «sanfte Gewalt» gehört bereits so zu unserem Alltag, daß wir den Widerspruch, den er enthält, nicht mehr bemerken. Wenn schmunzelnd erzählt wird, jemand sei mit «sanfter Gewalt» zu irgend etwas gebracht worden, regt sich kein Mensch auf, ohne das Wörtchen «sanft» sähe die Sache anders aus. «Sanfte Gewalt» ist anerkannt, Gewalt ist verpönt. Was genau ist «sanfte Gewalt»? Frei nach Clausewitz könnte man sagen, daß sie die Fortsetzung von Gewalt mit anderen Mitteln ist. Sie wird angewandt, wenn offene Gewalt nicht möglich ist. Die Zielsetzung aber ist die gleiche: einen Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, was er freiwillig nicht tun würde. «Sanfte Gewalt» ist schwer zu durchschauen, da sie Verschleierungsstrategien einsetzt. Die Urteilskraft des anderen muß so weit außer Kraft gesetzt werden, daß er nicht mehr bemerkt, wie ihm Unrecht geschieht. Diese Art der Manipulation, sagt die Autorin, finden wir zwar in allen Gesellschaften, aber der Verdacht liegt nahe, daß sie gerade in unseren zivilisierten Demokratien besonders stark verbreitet ist, und zwar sowohl im öffentlichpolitischen wie im privaten Bereich. Hedda J. Herwig spürt in ihrem Buch den manipulativen Techniken der sanften Gewalt in vielen Bereichen des täglichen Lebens, der Politik, Literatur, Mythologie, Psychologie und Wissenschaft nach und greift einige der Verschleierungsstrategien exemplarisch heraus. Da sind die Männer, die Frauen unter der Maske des Begehrens aus reinem Machttrieb heraus verführen, und da sind die Frauen, die sich mit Schuldzuweisungen und ihren eigenen Schuldgefühlen herumplagen, wenn sie nein sagen. Da sind die sogenannten «heilen» Familien, aus denen die Kinder für ein ganzes Leben geschädigt hervorgehen. Da ist, ein Beispiel aus der Geschichte, der griechische Staatsmann Perikles, der nach dem Krieg gegen die Perser die Seekasse der attischen Staaten plünderte, das demokratische Athen mit glanzvollen Bauwerken überzog und, als Sparta sich das nicht gefallen ließ, die kriegsmüden Athener mit dem Hinweis aufs «Gemeinwohl» in einen weiteren Krieg hineinredete.
Hedda J. Herwig
«Sanft und verschleiert ist die Gewalt ...» Ausbeutungsstrategien in unserer Gesellschaft
Rowohlt
Der Titel dieses Buches ist Pierre Bourdieus Studie über die Kabylen, seinem «Entwurf einer Theorie der Praxis», entlehnt.
1. Auflage August 1992 Copyright © 1992 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung Susanne Müller Satz aus der Bembo Lasercomp, LibroSatz, Kriftel Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3 498 02913 4
Inhalt
I. Teil: 1.
Einführung in das Thema und Analyse einer alltäglichen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2. Die Gründe der Wirksamkeit von sanfter Gewalt: Kafka und der Vater. . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.
Die Gründe der Wirksamkeit von sanfter Gewalt: Die Sanktionierung von Geschlechterklischees und die «Maske des Begehrens» . . . . . . . . . . . . 73
4. Die Zerstörung des «Gewissens» und die Macht der «Baruya» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 5.
Die sanfte Gewalt des Mythos in der griechischen Tragödie: Euripides’ «Iphigenie in Aulis» . . . . . 151
6. Die sanfte Gewalt des Mythos im modernen Märchen: Oscar Wildes Erzählung vom Fischer und seiner Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
II. Teil: Schuldverleugnungsstrategien 1.
Die Exkulpation der «Täter» im Gewand der Wissenschaftlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 215
2. Das moderne Liebeskonzept: Jean-Jacques Rousseau . . . . . . . . . . . . . . 254 3.
Die Schuld des Opfers in der Freudschen Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
4. Die Fragmentarisierung der Welt: Nationalsozialistische Exkulpationsstrategien . 325
Teil III: Ursprung und Elegie der sanften Gewalt 1.
Die «heile» Familie und die «heile» Welt . . . . 360
2. Homers Lobgesang der Lüge:Odysseus oder «Die Angst des Helden vor der Heimkehr» . . 388
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
I. Teil: 1. Einführung in das Thema und Analyse einer alltäglichen Geschichte Der Titel dieses Buches ist Pierre Bourdieus Studie über die Kabylen, seinem «Entwurf einer Theorie der Praxis», entlehnt, soweit er dort Verhaltens- und Definitionsstrategien, mit deren Hilfe ausbeuterische Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden, als «sanfte Gewalt» bezeichnet hat. Von eben solchen Strategien handle ich im folgenden, und zwar in pointierter Hervorhebung ihrer Eignung, das Erkenntnisvermögen von Menschen derart zu manipulieren bzw. außer Kraft zu setzen, daß Unrecht erst gar nicht als Unrecht bewußt werden kann. Mein Interesse an dieser Thematik ist indes trotz einiger historischer Ausflüge, die ich unternehmen werde, aktuell bedingt. In anderen Worten: Wenn Bourdieu schreibt, «sanft und verschleiert ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen immer dann, wenn die direkte und brutale Ausbeutung unmöglich ist»1, dann liegt der Verdacht nahe, daß Verschleierungsstrategien nicht nur für «primitive» Verhältnisse wie die der Kabylen prototypisch, sondern erst recht unter den Bedingungen zivilisierter Demokratien wirksam sind, in denen die «Ausbeutung des Menschen durch den Menschen» offiziell verpönt ist. Das Ziel meiner Ausführungen ist daher, aus der Fülle von Verschleierungsstrategien, die die Geschichte der Menschheit zu bieten hat, einige exemplarisch herauszuarbeiten – solche, die eine längere historische Kontinuität besitzen, besonders aber solche, die
man spezifisch «modern» nennen kann. Es wird vor allem zu zeigen sein, daß unser gegenwärtiger, alleralltäglichster Umgang unter dem Einfluß von Verschleierungsstrategien bzw. «Erkenntnisverhinderungsstrategien» steht und daß unser geliebtes «Privatleben», das wir als Hort des Schutzes vor politischen Machenschaften begreifen, insoweit geradezu dazu prädestiniert, auf politische Verschleierungsstrategien hereinzufallen. Ich fange mit dem Privatleben an, obwohl ein solcher Anfang gut und schlecht zugleich ist. «Gut» ist er, weil sich damit ein Einstieg in die Thematik eröffnen läßt, der jedermanns Erfahrungshorizont zugänglich und damit für jedermann potentiell nachvollziehbar und überprüfbar ist. «Schlecht» ist er aus bestimmten Gründen, die ich zwar in Kauf nehme, aber doch erwähnen möchte: Wir leben nicht nur in einem Zivilisationsbereich, in dem die «Ausbeutung des Menschen durch den Menschen» offiziell verpönt ist, sondern auch in einer speziellen Gesellschaftsformation, genannt «Staat», in der es, was die Ausübung körperlicher Gewalt betrifft, ein sogenanntes Gewaltmonopol des Staates gibt. Es ist daher zu erwarten, daß die Erzwingung eines ausbeuterischen Verhältnisses nicht nur, aber besonders im sogenannten Privatleben der «sanften» resp. der verschleierten Gewalt weichen muß. Je sublimer aber Gewalt ist, desto schwerer ist sie durchschaubar. Hinzu kommt ein zweites Problem: Narzißtisch bzw. selbstverliebt, wie Menschen nun einmal sind, neigen sie dazu, sich ausgerechnet um der Rettung eines zumeist illusionär gesetzten Ich-Ideals willen der Demaskierung von Verschleierungsstrategien zu widersetzen, wenn die
Aufdeckung zu nahe an sie selbst herankommt, wären sie doch möglicherweise allzu deutlich entweder Opfer, womöglich sogar Täter. In der heutigen Zeit wird zudem unserem, wie ich meine, grundsätzlich angelegten Narzißmus durch die erwähnte spezielle gesellschaftliche Formation, in der wir leben, ein fataler Auftrieb gegeben. Da der Zwang des öffentlichen Gewaltmonopols, auf das wir relativ wenig Einfluß haben, in der Regel als eine Art Ohnmacht erfahren wird, mit der man sich abfinden muß, hüten wir unsere private sogenannte Freiheit, wenngleich nur scheinbar, als Arkanum unserer Autonomie. Wer möchte schon im Privatleben auch noch Opfer bzw. ohnmächtig, ausgebeutet, ausgeliefert sein oder gar umgekehrt die mühsam aufrechterhaltene Macht über andere, durch die sich politische Ohnmacht ganz gut kompensieren läßt, zugunsten der Erkenntnis aufgeben, selber ein Stratege bzw. Ausbeuter zu sein? Im vollen Bewußtsein des emotional bedingten Widerstands, auf den eine Analyse von Privatgeschichten unter dem Aspekt ihrer strategischen Implikationen grundsätzlich stößt, stürze ich mich trotzdem in dieselbe nach dem Motto «O sancte Socrates, ora pro nobis», Sokrates’ Ironie in zweifacher Hinsicht folgend: erstens in der, daß er wußte, daß man ohne die Hilfe der Götter in Fragen, die die Selbstvergötterung betreffen, nichts erreichen kann. Zweitens, soweit mir wie Sokrates bewußt ist, daß für denjenigen, der nicht bereit ist, seine Privatillusionen zu opfern, die Analyse öffentlicher Illusionen wertlos ist oder höchst fragwürdig, weil er sie immer benützen wird, um jeweils andere der Ausbeutung zu beschuldigen.
Meine erste Geschichte, die ich unter den Titel stellen möchte «Geben ist seliger als Nehmen», betrifft mich selbst, und zwar zunächst folgendermaßen: Daß ich mich seit einiger Zeit mit Erkenntnisverhinderungsstrategien beschäftige, resultiert u. a. daraus, daß ich 1981 in Aachen zur Professorin ernannt wurde und mich deshalb verpflichtet fühlte, Vorlesungen zu halten, vor allem solche zur Einführung in die politische Theorie. Als ich damit anfing, befiel mich ein Unbehagen angesichts der gängigen politikwissenschaftlichen Literatur, derzufolge ständig das, was ich bei meinem Lehrer Eric Voegelin gelernt hatte, für veraltet erklärt wurde. Zwar registrierten die Autoren den Anspruch der klassischen griechischen Philosophie, daß Politik der Herstellung von Gerechtigkeit im Zusammenleben der Menschen zu dienen habe, stellten sich aber in der Regel anschließend auf den Standpunkt der sogenannten Moderne, nach dem eine solche Sicht der Dinge als obsolet, weil idealistisch, utopisch oder reaktionär zu gelten habe. Richtiger sei der Standpunkt der Moderne, die Politik als Machtpolitik begreife und beschreibe, als eine Frage der Durchsetzung von Interessen und deren historisch bedingter, offiziell anerkannter Legitimation, wobei nicht einmal immer deren demokratische Legitimation als notwendig erachtet wurde – wenngleich eine Beschränkung auf diese mich auch nicht getröstet hätte, weil ich angesichts der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nicht zu der Überzeugung hatte gelangen können, daß Gerechtigkeit und sogenannte Volksmeinung immer zusammenpassen. Der Umstand, daß ich von dem erkenntnisförderlichen Anspruch der antiken Philosophie überzeugt war, das heißt dem Anspruch, daß Zusammenleben nur Sinn
macht, wenn jeder davon einen Vorteil hat, mir aber auch klar war, daß das, was in der Weltgeschichte unter Politik subsumiert wurde, in der Tat hauptsächlich von Machtpolitik übelster Art besetzt war, brachte mich zu dem Entschluß, selbständig auf die Suche nach dem Gegenstand «Politik» zu gehen, mit der Hypothese, daß er irgendwo zwischen Gerechtigkeitsanspruch und faktischen Machtverhältnissen zu finden sei – nicht als irgendein Tatbestand, sondern eventuell als Dilemma. Gleichzeitig hatte ich ein Unbehagen an meinem Privatleben. Ich sah mich in fast all meinen Unternehmungen und Beziehungen gescheitert, vor allem in den Unternehmungen oder Beziehungen, die von meinen «Idealen» getragen worden waren. Mir schwante, daß irgend etwas mit meinen Idealen nicht stimmte. Aber inwiefern? Gott sei Dank hatte ich schon damals genügend Literatur über Depressionen gelesen, um zu wissen, daß ich an diesem Zustand unmöglich allein schuld sein konnte. Außerdem fühlte ich dumpf, daß an meinen Idealen nur insofern etwas falsch war, als sie mich offenbar blind gemacht hatten für die Tatsache, daß ich mich andauernd von anderen Leuten becircen, instrumentalisieren, reinlegen, ausbeuten, einschnüren und übervorteilen ließ, ohne es zwar zu bemerken, aber eben mit dem Resultat, daß ich mir von einem bestimmten Zeitpunkt an völlig unwichtig, nichtig und unbrauchbar vorkam. Da ich mir aber nicht sicher war, ob dieses Resultat meiner Dummheit oder dem Verhalten anderer zuzuschreiben war, beschloß ich, mich und meine Umwelt endlich einmal zu beobachten, anstatt bloß zu agieren. Ich fing demzufolge an, darauf zu achten, wie Leute sich mir gegenüber verhielten, ob ihr Verhalten «gerecht» oder «ungerecht» war, wie ich darauf reagierte und gemäß welchen Empfindungen und
auch Vorstellungen, die ich dabei im Kopfe hatte. Ebenso beschloß ich, auf Verhaltensweisen, die mir inadäquat erschienen, nicht mehr einfach sanft lächelnd und tolerant zu reagieren, um irgendwann, wie das dann immer so ist, an einer anderen Stelle deplaziert einen Wutanfall zu kriegen, sondern mich ihnen direkt zu widersetzen und zu sehen, was dabei herauskam. Ich beschloß das, weil ich dachte, daß es mir zugleich bei meiner Suche nach dem, was Politik wirklich war, dienlich sein könnte, und als erstes kam dabei folgendes heraus: Ich entdeckte – und da werden manche lachen – die Strategie des Feuergebens. (Gemeint ist das Feuer, das in der Regel Männer den Damen «geben», wenn sie rauchen.) Ich muß dazu zunächst sagen, daß ich sehr viel rauche, insbesondere, daß ich viel in Gesellschaft rauche, vor allem, wenn ich in meinem Lieblingscafé sitze, wo ich sehr viele anstrengende Leute treffe, und daß ich immer mein eigenes Feuerzeug griffbereit neben mir habe. Trotzdem kamen irgendwelche Männer ständig auf die Idee, mir Feuer zu geben. Früher hatte mich das nie gestört, ich fand es, wie alle Leute, die selber Feuer geben oder sich Feuer geben lassen, nett, galant, höflich, aufmerksam und was es sonst noch so alles an Bezeichnungen idiotischer Art gibt. Wenn mir jemand vom Nebentisch aus Feuer gab, fühlte ich mich sogar richtig geschmeichelt und faßte es als Kompliment auf. Erst als ich, wie gesagt, anfing, mich und meine Umwelt mit analytischem Interesse zu beobachten und dabei den Gedanken im Kopf wälzte, daß es doch unmöglich sein konnte, daß ich in einer Umwelt von lauter so netten Menschen depressiv hatte werden können, fiel mir auf, daß ich zwar mit dem einen Teil meiner Seele auf Feuergeben freundlich reagierte, in einem anderen aber ein Unbeha
gen lauerte, dem ich bis dato nicht erlaubt hatte, sich mir selber deutlich bemerkbar zu machen. Jetzt erlaubte ich das und entdeckte, ganz ohne Bourdieu übrigens, den ich damals noch nicht gelesen hatte, den strategischen Charakter von sogenannten Höflichkeiten oder Gefälligkeiten: mein erster Schritt zur Entdeckung der Allgegenwärtigkeit von «sanfter Gewalt». Natürlich ging das dialektisch vor sich. Das heißt, zunächst wurde ich, einmal meinem unterschwelligen Unbehagen gegenüber aufgeschlossener, zunehmend ärgerlicher auf Leute – in der Regel Männer –, die mir Feuer gaben. Und je ärgerlicher ich wurde, desto absurder erschien mir die Sache, und je absurder sie mir erschien, desto ärgerlicher wurde ich. Erstens stellte ich fest, daß mir Männer Feuer gaben, obwohl ich weder mein Feuerzeug zu Hause vergessen hatte noch etwa krampfhaft danach suchte, was, wäre es der Fall gewesen, ihr Verhalten wirklich nett gemacht hätte. Es wäre eine echte Hilfeleistung gewesen. Aber sie gaben mir Feuer, wenn ich gerade dabei war, mein eigenes Feuerzeug in die Hand zu nehmen (ohne daß ich danach gesucht hätte) oder schon zur Zigarette zu führen. Sie unterbrachen mich also in einer schon begonnenen Handlung, in einer Intention, die ich leicht hätte ausführen können, ohne mir dabei den Daumen zu verrenken, mein Feuerzeug ungeschickterweise fallen zu lassen oder mir beim Anzünden der Zigarette die Haare zu verbrennen. Im übrigen hatte ich auch nie den unaufdringlichen, aber ach so deutlichen Augenaufschlag drauf, der Männern bedeuten soll, daß man «trotz allem» (trotz aller Emanzipation) darauf Wert legt, von ihnen Feuer zu bekommen. Ohne zwingende Gründe in der eigenen schon begonnenen Handlung unterbrochen zu werden – im übrigen unterbrechen einen dieselben
Leute natürlich auch immer, wenn man redet – bewirkt aber, psychologisch gesprochen, eine sogenannte Frustration, die in der Regel eine Aggression nach sich zieht, die wiederum, wenn man sie unterdrückt, zum Beispiel hier um der Anerkennung von Höflichkeitsspielregeln willen, ein schlechtes Gewissen macht. Ich werde Freud noch kritisieren, aber in diesem Punkt kann man ihm, fürchte ich, folgen: Eine Aggression, die man unterdrückt, die man eben nur latent spürt und nicht zu äußern wagt, weil sie nicht als legitim anerkannt würde, bewirkt ein schlechtes Gewissen im doppelten Sinn des Wortes. Natürlich keins, mit dem man etwas anfangen könnte. Hinzu kam, daß ich damals noch kein Wegwerffeuerzeug benützte; seitdem es Wegwerffeuerzeuge gibt, gibt es auch aus bestimmten Gründen weniger Männer, die einem Feuer geben, dagegen mehr, die einem das Feuerzeug klauen. Ich benützte ein sehr schönes, schwarzgoldenes Damenfeuerzeug, das mir sehr gut gefiel und sehr teuer war. Es machte mir Spaß, dieses Feuerzeug zu benützen. Ich hatte ein kindliches Vergnügen, etwas zu besitzen, das mir so gut gefiel und das ich selber benutzen konnte. Die Männer, die mir Feuer gaben, frustrierten mich daher doppelt. Nicht nur, indem sie meinen deutlichen Willen, mir selber Feuer zu geben, ignorierten, sondern indem sie mir auch mein spezielles kindliches Vergnügen damit nahmen. Drittens stellte ich fest, daß mir Männer Feuer gaben, die gar kein eigenes Feuerzeug dabei hatten – was sie unwiderstehlich dazu trieb, mein Feuerzeug zu benützen, um mir Feuer zu geben, und zwar häufig in der Form, daß sie es mir einfach entrissen, während ich schon dabei war, es gerade anzuknipsen. Manchmal gab es sogar längere
Kämpfe um mein Feuerzeug. Das amüsierte mich zwar, weil es mir meine Situation um so kindischer erscheinen ließ, frustrierte mich aber trotzdem. Ließ ich mir zum Beispiel das Feuerzeug entreißen, kam ich mir albern vor. Wollte ich darum kämpfen, war ich auch blamiert. Am absurdesten wurde es, wenn mein Feuerzeug kurzfristig versagte und meine Feuergeber sich sofort anheischig machten, mir mein eigenes Feuerzeug zu reparieren, mit dem ich mich sehr gut auskannte, sie aber nicht. Ich habe mir dabei, weil mein Protest dagegen ignoriert wurde, zwei Rechnungen zu jeweils 80,– DM eingehandelt, weil ich das Feuerzeug – es war eine sehr seltene Marke – anschließend in eine Spezialreparaturwerkstatt einschicken mußte mit dem Erfolg, daß ich es seit der zweiten Reparatur nicht mehr öffentlich benütze. Statt dessen habe ich mich dem Trend zu Wegwerffeuerzeugen angeschlossen, die mir nun ständig geklaut werden. Daß ich das tue, kommt aber nicht nur den Feuerzeugkleptomanen entgegen, sondern vor allem den Männern, die immer noch als stolze Besitzer eines schicken, dicken Prestigefeuerzeuges aufwarten können. Es sind übrigens diese, wie ich feststellen konnte, die besonders gern Feuer geben, obwohl man selber ein Feuerzeug hat, und sie besitzen auch meist ein Feuerzeug, mit dem sie blitzschnell reagieren können und das so richtig schön laut klack macht, damit man gut hinsieht und registriert, wie gediegen bzw. teuer es ist. Ich bemerkte auch, daß dieselben Männer, die mir Feuer gaben, den letzten Satz, den ich gesagt hatte, bevor ich zur Zigarette und zum Feuerzeug griff, nicht mitbekommen hatten, und daß ich ihn also wiederholen mußte, falls dabei nicht überhaupt das Gespräch wie zufällig auf ein anderes Thema kam, das mich nicht interessierte. Wer meinen Zigarettenkonsum kennt,
kann sich vorstellen, wie oft ich mich folglich wiederholen mußte und wie mir das auf die Nerven ging. Soweit meine «Primärgeschichte» vom «Feuergeben», die bis hierhin eher amüsant oder erheiternd erscheint, weswegen ich davon auch öfter in privater Gesellschaft spreche. Die Erheiterung, die ich damit auslöse, weicht indessen rasch einer gewissen Verstimmung, wenn ich dann anfange, die Primärgeschichte in den Rahmen meiner Sekundärerfahrung – damit meine ich mein Hintergrundwissen über die Leute, die an diesen Geschichten beteiligt sind – zu stellen, um das Feuergeben unter strategischen Aspekten zu analysieren, und zwar – das ist jetzt eine kurze apodiktische Vorwegnahme – als Strategie, in der eine faktische Abwertung meiner Person durch eine symbolische Aufwertung («Ich bin dein Diener» oder «Ich verehre dich») verschleiert wird – zu dem Zwecke, mich über den Löffel zu balbieren. Den Ausdruck «über den Löffel balbieren» benutze ich absichtlich, weil die Analyse strategischer Operationen oft den Eindruck erweckt, als handele es sich dabei um ganz komplizierte Vorgänge. Weil die Analyse kompliziert ist, wird der Eindruck erweckt, daß die Vorgänge selber kompliziert seien, obwohl es sich um ganz banale Vorgänge handelt, zu deren Inszenierung der aktive Teil weder besonderer dämonischer Begabung, wie sie etwa die Vulgärmeinung Adolf Hitler unterstellt, noch besonderer Intelligenz, wie sie Franz Josef Strauß unterstellt wurde, bedarf. Man muß auch kein Charisma haben. Man braucht nur ein gewisses demagogisches Talent, das sich aus einem minimalen Instinkt dafür, was anderen Menschen schmeichelt oder was sie betrübt bzw. ihnen ein
schlechtes Gewissen macht, und einer gehörigen Portion Skrupellosigkeit zusammensetzt. Es ist also ein Vorgang, den ich als Verschleierungsstrategie bezeichne, als solcher höchst banal, oft sogar ganz primitiv, seine Analyse indessen aus verschiedenen Gründen keineswegs so einfach. Zum Beispiel eben genau deswegen, weil das Mißverhältnis zwischen Banalität und analytischem Aufwand, der zur Demaskierung nötig ist, so groß ist, daß wir dazu neigen, den Sachverhalt zu bagatellisieren nach der Devise: Das ist doch wirklich einer größeren Denkanstrengung nicht wert. Korrespondierend neigen wir dazu, die Analyse selbst als Spitzfindigkeit abzuwerten. Diese und ähnliche Abwehrmechanismen mußte ich denn auch massiv und nach einiger Zeit dadurch ziemlich gelangweilt entgegennehmen: Feuergeben sei doch nun wirklich nur eine Höflichkeit. Man respektiere ja meine emanzipatorischen Ideen (die ich überflüssigerweise hätte, wie meine Gesprächspartner eigentlich sagen wollten). Aber sie auf solche Kleinigkeiten auszudehnen ginge nun wirklich zu weit. Wenn ich darauf verwies, daß die spezifische Höflichkeit, Damen Feuer zu geben, aus einer Zeit stamme, als es noch Damen gab, nämlich aus der Zeit der intellektuellen Salons des 18. und 19. Jahrhunderts, als Damen sich nur ab und an trauten zu rauchen und deshalb auf die Hilfestellung der Gastgeber oder sonstiger anwesender Herren tatsächlich angewiesen waren, weil sie selber meist weder Tabak noch Feuer dabei hatten, und daß diese Höflichkeit damals vielleicht eine freundlich gemeinte Geste war, allein schon deshalb, weil die anwesenden Herren in Kauf nahmen, daß die Damen rauchten, aber heute, auf alle Fälle bei mir, völlig obsolet sei, zogen sich meine Gesprächs
partner darauf zurück, daß sie das jetzt einsähen, und konstatierten bedauernd, sie seien wohl falsch sozialisiert worden (woran natürlich ihre Mutter schuld war). Wenn ich dann einwendete (die Erfahrungen, die ich damals machte, machte ich hauptsächlich mit Männern aus der sogenannten 68er-Generation, die für die Emanzipation, die Mündigkeit, die Befreiung von autoritärer Erziehung gepredigt hatten und sich daher längst Gedanken über ihre falsche Sozialisation hätten machen können), daß mich ihre Sozialisation nicht besonders interessiere, mir aber der Umstand, daß sie als Erwachsene schließlich merken müßten, daß ich ihrer Hilfe nicht bedürfe, das Recht dazu gebe, absolut unnötige und zugleich überaus «billige» Hilfeleistungen, wie Feuergeben, Türenaufhalten, In-den-Mantel-Helfen und, wie ich immer hinzusetzte, Alte-Damen-über-die-Straße-Bringen, die gar nicht rüber wollen, als Verschleierungsstrategien zu entlarven, wich die Betroffenheit der Empörung. Das sei ja nun wirklich spitzfindig, solche Banalitäten …, also, Hedda, jetzt übertreibst du aber wirklich, also ich … bestimmt nicht, ich hab das nie so gemeint (du kennst die falschen Männer), und überhaupt – ist das das, was bei deiner wissenschaftlichen Tätigkeit herauskommt, so ein Niveau? Einer meiner angeblichen Freunde sagte sogar einmal, als ich die Tatsache, daß Männertoiletten für mehrere Männer gebaut seien, Frauentoiletten dagegen meist oft nur für eine Frau, als ein typisches Relikt der indirekten Unterdrückung von Frauen bezeichnete, ich würde jetzt wirklich anfangen, die Wissenschaft aufs Niveau des Pissoirs herabzuwürdigen. Meine Versuche, banale Geschichten kritisch zu analysieren, und zwar unter dem Aspekt, daß sie eventuell
strategische Implikationen hatten, stießen also auf sehr viel Abneigung, die dann – das ist übrigens selber schon strategisch – in die Diffamierung meiner Person mündete, insbesondere in den Vorwurf, daß das wohl doch nicht wissenschaftliches Niveau habe, was ich da täte. All diese Leute, die sich um mein wissenschaftliches Niveau sorgten, waren natürlich ungeheuer «niveauvoll», das heißt verkrachte Studenten, gescheiterte Gastwirte und verarmte Stahlbauunternehmer, so daß ich mir zwischen Langeweile und Wut oft das Lachen nicht verkneifen konnte. Eingeschränkt unbeirrt, ich sage ganz bewußt eingeschränkt unbeirrt, wie mich das alles ließ, habe ich trotzdem meine Analysen des Banalen fortgesetzt, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich hier und jetzt die Relevanz dessen behaupten würde, hätte ich nicht mittlerweile zwei prominente Kompagnons gefunden, nämlich Pierre Bourdieu mit seiner Studie über die Kabylen und vor allem Maurice Godelier mit seinem Buch über die «Produktion der großen Männer», von dem ich noch sprechen werde. Um der Neigung zur Bagatellisierung des Banalen etwas bequemer, das heißt mit der Zitierung von Autoritäten, die man anerkennen muß (Heinrich Heine), entgegenzutreten, möchte ich daher kurz einen Abschnitt aus Pierre Bourdieus «Entwurf einer Theorie der Praxis» zitieren, in dem er zur Höflichkeit Stellung nimmt. Er schreibt: «Die ganze List der pädagogischen Vernunft besteht gerade darin, unter dem Deckmantel, das Bedeutungslose zu fordern, das Wesentliche zu entreißen: Indem sie den Respekt der Formen und die Formen des Respekts erwirkt, die die sichtbarste und zugleich meistverborgene,
weil natürlichste Manifestation der Unterwerfung unter die herrschende Ordnung darstellen, vernichtet die Einverleibung der Strukturen das, was Raymond Ruyer ‹die Nebenmöglichkeiten› nennt, d. h. all die Akte, die die Alltagssprache als ‹Verrücktheiten› bezeichnet und die doch nichts anderes sind als das alltägliche Antlitz des Wahnsinns. Würden die Institutionen und Gruppen auch dann ihnen einen solchen Wert zubilligen, wenn nicht die Konzession der Höflichkeit immer auch politische Konzessionen beinhaltete? Der Terminus obsequium, von Spinoza verwendet, um jenen von der Konditionierung erzeugten ‹konstanten Willen› zu bezeichnen, mittels dessen ‹der Staat uns nach seinem Gebrauch formt und der es ihm gestattet, fortzubestehen›, könnte herangezogen werden, um damit die öffentlichen Beweise der Anerkennung zu bezeichnen, die eine jede Gruppe – besonders in den Kooptationsverfahren – ihren Mitgliedern abverlangt, d. h. die symbolischen Beiträge, die die Individuen in die Tauschbeziehungen, die sich in jeder Gruppe zwischen dem Individuum und der Gruppe herstellen, einzubringen haben: Da, wie im Gabentausch, der Tausch Selbstzweck ist (Bourdieu bezieht sich hier auf Primitivkulturen, wo man ständig gegenseitig Gaben austauscht, die aber mehr oder weniger äquivalent sind; man tauscht nicht etwa Verschiedenes gegen Verschiedenes, sondern Gleiches gegen Gleiches, so daß es so aussieht, als wäre alles eine reine Beschenkerei. Darüber hat Marcel Mauss ein Buch geschrieben, auf das sich mittlerweile sämtliche Ethnologen und Soziologen beziehen, ‹Die Gabe›. Die Gabe heißt in diesem Falle Geschenke, entweder Eßwaren oder Dinge, die man sich ansonsten in Primitivkulturen
schenkt, die aber immer wieder zurückgegeben werden im Hin und Her. Das ist der sogenannte Gabentausch. Wir kennen das auch, man beschenkt sich gegenseitig, in Familienverhältnissen ist das heute noch so üblich, oder man lädt sich ein und lädt sich wieder zurück ein, H. H.), ist der Tribut, den die Gruppe einklagt, gewöhnlich auf Nichtigkeiten beschränkt, d. h. auf symbolische Rituale (Übergangsriten, Höflichkeitszeremonien usw.), deren Erfüllung ‹nichts kostet› und die so ‹natürlich› einklagbar scheinen (‹das ist das Wenigste›, ‹er könnte wenigstens …›, ‹das würde ihn doch nichts kosten›), daß die Unterlassung einer Weigerung und Herausforderung gleichkommt und die Entscheidung, sich diskussionslos den Formalitäten und Formalismen zu unterwerfen, die bestens angetan sind, die Willkür der Ordnung, diejene aufzwingen, zu verraten, nur als eine bedingungslose Erklärung der Anerkennung erscheinen kann, die allenfalls durch den, im übrigen unwahrscheinlichen Verdacht geistiger Beschränktheit oder ironischer Verdopplung angekratzt werden könnte. Die praktische Beherrschung dessen, was Höflichkeitsregel genannt wird, und vor allem die Kunst, jede der verfügbaren Formulierungen (etwa am Ende eines Briefes) den verschiedenen Klassen möglicher Empfänger oder Hörer anzupassen, setzt die implizite Beherrschung, also die Anerkennung und Verkennung einer für die implizite Axiomatik einer bestimmten politischen Ordnung konstitutiven Gesamtheit von Gegensätzen voraus. Damit ist ausgesprochen, wie naiv und trügerisch es wäre, das Feld dessen, was im Sinne von Schütz und in seiner Nachfolge der Ethnomethodologen ‹als selbstverständlich hingenommen› wird, auf eine Gesamtheit formaler
und universeller stillschweigender Voraussetzungen reduzieren zu wollen (das machen nämlich die Soziologen in der Regel, insbesondere machen das noch die, die um die Jahrhundertwende geschrieben haben. Sie hinterfragen nicht etwa kritisch die Gesellschaftsregeln, geschweige denn Höflichkeitsregeln, die sich auf Kleinigkeiten beschränken, sondern sagen, das ist eben so bei allen Menschen, alle Menschen haben diese Art, miteinander umzugehen. Das will Bourdieu sagen, wenn er von formalen und universellen stillschweigenden Voraussetzungen spricht, H. H.): ‹In der natürlichen Einstellung nehme ich es als selbstverständlich hin, daß Mitmenschen existieren, daß sie auf mich wirken und ich auf sie hinwirke, daß zumindest in gewissem Ausmaß Kommunikation und gegenseitiges Verstehen zwischen uns entstehen kann, und zwar vermittels irgendeinem Zeichen- und Symbolsystem im Rahmen einer sozialen Organisation und Institution – und daß all dies nicht von mir selbst geschaffen wurde.) In der Tat sind es gerade – über den Einfluß, den die Höflichkeit auf die scheinbar unbedeutendsten Akte des alltäglichen Lebens ausübt, also auf jene, die die Erziehung auf den Status von Automatismen herabzusetzen gestattet – die fundamentalsten Prinzipien einer kulturellen Willkür und politischen Ordnung, die sich derart in Form der blindmachenden und unbemerkten Evidenz durchsetzen.»2 Es ging mir darum, kurz mit Bourdieu zu illustrieren, daß er anhand seiner ausführlichen ethnologischen Studien zu dem Schluß gekommen ist, daß man aufpassen muß: Eben gerade in den Kleinigkeiten liegt unter Umständen des Pudels Kern. Er macht darauf aufmerksam, daß die
kleinen Dinge die eigentliche, aber undurchschaute Herrschaftsform des politischen Systems vermitteln, in dem man jeweils lebt. Ich komme zu meinem Einzelbeispiel zurück, um es als Verschleierungsstrategie zu verdeutlichen bzw. um es als Beispiel zu benützen, einige typische Grundelemente von Verschleierungsstrategien aufzuzeigen. Es sind vor allem zwei Grundelemente, die ich hervorheben möchte. Erstens die Invalidierung (Abwertung) durch Mystifikation. Eine Mystifikation kann sowohl positiv als auch negativ sein. Wenn man zum Beispiel zu einer Frau sagt, du bist eine Hexe, ist das eine negative Mystifikation, wenn man sagt, du bist eine Göttin, ist es eine positive. Meistens denkt man nur an die positive Konnotation, aber da wir hier begrifflich möglichst exakt sein müssen: Ich meine hier die positive. Zweitens geht es um die Inversion, die in diesem Falle darin besteht, eine Pseudogeberschaft aufzubauen. Zum ersteren: Die Strategie der Invalidierung durch Mystifikation zu durchschauen, ist sehr schwierig, gerade weil sie typisch modern ist. Ich gehe daher erst auf den in Wahrheit invalidierenden Charakter des Feuergebens unter den von mir geschilderten Bedingungen ein. Ich betone: unter den von mir geschilderten Bedingungen. Ich sagte, im Salon des 19. Jahrhunderts, wo die Damen kein Feuerzeug hatten, war das Feuergeben eine Nettigkeit, eine Hilfestellung. Die Fälle unterscheiden sich je nach der Situation, und deswegen muß man Situationen sehr genau analysieren. Zum Beispiel kann durchaus etwa ein guter Freund, wenn ich dabei bin, eine Party vorzubereiten, und eine Erdbeerbowle machen will, sagen «Ich komme vorbei und helf dir beim Anfertigen der Erdbeerbowle» – dazu würde ich nicht sagen, das ist per se schon eine Strategie,
denn er erleichtert mir ja tatsächlich die Arbeit. Ich brauche die Hilfe zwar nicht, sie ist nicht notwendig, aber sie erleichtert mir die Arbeit und macht unter Umständen sogar noch ein Vergnügen, weil es lustiger ist, zu zweit etwas zu tun. Wenn mir aber jemand «hilft», obwohl ich seine Hilfe nicht brauche oder diese mir nichts erleichtert, so nimmt er mir in Wirklichkeit etwas weg, nämlich mein spezifisches, mein eigenes authentisches Kompetenzgefühl, das heißt das Gefühl: Ich bin jemand, der diese und jene Dinge kann. Etwas, das ich Gott sei Dank selber kann und das ich insofern auch gerne tun werde, es sei denn, ich wäre selbst parasitär – das ist eine andere Sache –, wird mir geradezu gestohlen. In meinem speziellen Falle wird mir auch noch mein gewolltes kindliches Vergnügen an der Betätigung meines Luxusfeuerzeugs genommen, also auch noch die Lust, die ich dabei empfinde. Ein spezifisch eigenes Kompetenzgefühl hat man nicht allgemein; es setzt sich aus einzelnen Handlungen zusammen, die man begeht. Und wenn sie einem gelingen, so hat man dann vielleicht irgendwann ein «allgemeines» Kompetenzgefühl. Wenn man aber ständig in Handlungen unterbrochen wird, wenn man daran gehindert wird, Handlungen so auszuführen, daß sie gelingen, hat man irgendwann kein Kompetenzgefühl mehr. Wir sind es gewöhnt, ein abstraktes Selbstwertgefühl anzunehmen, als gäbe es das als solches. In Wirklichkeit stellt sich aber ein «allgemeines» Kompetenzgefühl nur ein, wenn wir nicht fortlaufend daran gehindert werden, Einzelhandlungen nicht unbedingt wie es uns paßt, aber einigermaßen gelungen bzw. geschickt auszuführen. Der Raub des authentischen Kompetenzgefühls ist eigentlich das Allerwesentlichste, das heißt Verabscheuungswürdigste an Verschleierungs
strategien. Denn er irritiert das Denken und kann es, wenn solche Dinge ständig passieren – und das ist der Fall –, völlig zum Erlahmen bringen. Ganz richtig setzt nämlich Platon Besonnenheit, Mut und Erkenntnisfähigkeit in eins. Das heißt, wer in sich selber hineinhört, wird merken, daß er nicht gut denken kann, wenn er entmutigt wird. Man braucht ein gewisses Selbstvertrauen, wenn man gut denken will, weil die Wahrheit oft nicht das ist, was man sich selber erhofft oder was andere mit einem teilen. Man muß auch Erkenntnisse machen, die einem contre coeur gehen, und das fällt um so schwerer, wenn wir ohnehin in einem Zustand mangelnden Selbstvertrauens sind. Jede Handlung, die einen anderen im Kompetenzgefühl irritiert, ich sage frech jede, egal, ob man ihn etwas zum Beispiel erst gar nicht ausprobieren läßt oder ob man ihn, obwohl er etwas kann, durch einen symbolischen Akt als inkompetent definiert, das heißt ihm indirekt vermittelt, daß er etwas eigentlich «doch nicht kann» oder zumindest irgendwie nicht können sollte oder daß es ihm nicht zusteht, stiehlt also genaugenommen dem anderen, dem Opfer in diesem Falle, die Basis, gut denken zu können. Wird diese Handlung zusätzlich sozial sanktioniert, das heißt von der Allgemeinheit akzeptiert, indem sie zum Beispiel, obwohl gänzlich überflüssig, als Verehrung, Tributleistung, Anerkennung perverserweise mystifiziert wird, zerstört sie erst recht die Basis guten Denkvermögens, weil derjenige, der ein Unbehagen empfindet, dies derart empfindet, daß er sich nur «eigentlich» in seiner Kompetenz irritiert fühlt, aber kein Ausgeschlossener sein will und daher lieber seinen Frieden mit einer kognitiven Dissonanz schließt. Man spürt vielleicht das Unbehagen, wird aber, weil Höflichkeit eine anerkannte Regel ist, sa
gen, ich lege mich nicht an – aber das sagt man natürlich nicht so, das funktioniert dann einfach. Man wird nichts unternehmen. Der Widerspruch, die kognitive Dissonanz, verschafft ja auch nur ein unbefriedigendes Gefühl. Also wird man dies schnell auflösen wollen, was wiederum ganz speziell das Denken und genau die Fähigkeit untergräbt, die die Substanz des Denkens ist, nämlich Widersprüche aushalten zu können bzw. zu unterscheiden, ob etwas zueinander paßt oder nicht. Soweit zur Invalidierung durch Mystifikation. Ich sprach aber von Raub – und auch den gilt es noch etwas näher zu explizieren. Es ist ja nicht so, daß der, der ohne Hilfe sein kann, nur in seinem Kompetenzgefühl irritiert wird, sondern daß zugleich der, der die angebliche Hilfestellung praktiziert, seine eigene Kompetenz überhöht, indem er sie in der Form einer Gabe als Huld, Gnade, Geschenk anbietet. Indem er das tut, eignet er sich aber quasi die durchaus vorhandene Fähigkeit des anderen an oder zu, so als ob der andere sie zwar ausüben könnte, aber doch nicht so richtig und so anerkanntermaßen, als daß er nicht froh sein müßte, wenn der Geeignetere das für ihn tut. Was der andere auch kann, spricht ihm der, der es ihm in Form einer Gabe gibt, ab, so daß der «Beschenkte» sogar noch dankbar sein muß – und das ist auch der eigentliche Sinn der Aktion. Man wird doch immer, wenn man noch nicht auf die Idee gekommen ist, daß bestimmte Höflichkeiten Strategien sind, recht höflich zu der Person sein, die vorher zu einem selber höflich war. Der Aneignungscharakter dieses Vorgehens ist nicht unmittelbar evident, er wird deutlicher, wenn man sich erinnert, daß einige mir mein Feuerzeug aus der Hand
rissen oder es sogar reparieren wollten. In der Regel tritt er immer hervor, wenn man sich gegen den ersten Übergriff wehrt. An der aggressiven oder eben zupakkenden Reaktion wird ersichtlich, daß tatsächlich eine Aneignung intendiert war. Das Perverse aber daran ist, daß der strategisch agierende Partner etwas, das anderen ebenfalls zueignet, quasi für sich allein in Anspruch nimmt, um es als Geschenk, als Gabe zu verteilen. Man könnte auch sagen, jetzt gehe ich in der Tat einmal in einen Wettkampf mit den Herren – im zitierten Falle sind es ja immer Herren –, jetzt probiere ich mal aus, wer von uns beiden besser Feuer geben kann. Das habe ich übrigens auch ausprobiert, indem ich meinerseits Männern Feuer gegeben habe, und das hatten sie nicht so gerne. Nicht einmal unter jüngeren Studenten ist die Umkehr der Gebergeste beliebt. Auch diese wollen sich nichts schenken lassen – angeblich. Der strategisch Operierende (in diesem Falle zumeist ein Mann) will «Geber» bleiben, das ist sehr wichtig. Damit erzielt er einerseits für sich eine Mystifikation, nämlich als Geber dazustehen, obwohl er in diesem Fall gar nichts zu geben hat, was der andere brauchte, und für seine eigene Geste kein großer Aufwand vonnöten ist. Und er erzielt andererseits, wenn die Handlung sozial sanktioniert ist, auch noch ein schlechtes Gewissen beim anderen. Das heißt, der andere steht als Nehmer da, der nun, natürlich ganz dunkel im Gefühl, verpflichtet ist, aufschauend, abhängig, dankbar, ergeben oder zumindest genötigt, den sogenannten Geber «irgendwie nett» zu finden, es sei denn, er oder sie wäre schon so weit, sich erst recht abgestoßen zu fühlen. Aber machen wir uns nichts vor, selbst dann wären er oder sie verunsichert.
Dies ist der Vorgang, den ich seines verdrehenden Charakters wegen Inversion nenne, wozu aber in den nächsten Kapiteln noch mehr zu sagen sein wird. Vorerst genügt das Folgende: Wir, soweit wir uns mit dem Opfer identifizieren, stehen also da, und zwar dreifach «beschädigt», allerdings vermutlich, ohne das bewußt zu bemerken: Erstens im Kompetenzgefühl irritiert, zweitens verunsichert zwischen Selbstwahrnehmung, eben einem gewissen Unbehagen, und sozialer Sanktion, die uns zur Anerkennung der sogenannten Höflichkeit zwingt, und drittens als Nehmer mit Verpflichtungsgefühlen, also: vereinnahmt. Sie werden sagen, schön und gut, aber worin besteht die Ausbeutung und damit die Verschleierung einer solchen? Diese Frage sei vorläufig so kurz wie möglich beantwortet. Erstens liegt der Ausbeutungscharakter schon in der Situation selbst. Sie, als Opfer betrachtet, werden in Ihrem authentischen Selbstwertgefühl gemindert, während der strategische Partner – in der Regel wird es ein Mann sein, es kann aber auch eine Frau sein – sich doppelt erhöht. Er oder sie kann sein oder ihr authentisches Kompetenzgefühl steigern und noch dazu die Illusion dazu haben, Geber zu sein und sich dadurch unabhängig zu fühlen. Als Geber ist man unabhängig, nur der Nehmer ist abhängig. Der Geber kann sich doppelt erhöht fühlen. Das gelingt ihm aber nur auf Ihre Kosten. Sie fühlen sich nämlich in Ihrem authentischen Kompetenzgefühl zumindest irritiert, fangen an, falsch zu denken, und merken nicht einmal, daß Sie als Publikum instrumentalisiert worden sind, weil der «Geber» nur Geber spielen kann, wenn er Sie als Publikum hat. In Wirklichkeit ist er von Ihnen abhängig, sonst könnte er nie Geber spielen. Ohne Publikum kann er sich
auch nicht selbst narzißtisch widerspiegeln. Aber er hat das Gefühl, unabhängig zu sein, während Sie das Gefühl haben, abhängig zu sein, das ist das Verrückte. Obwohl in Wirklichkeit immer ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis besteht, weil einer nur wirken kann, wenn er auf andere wirkt und diese wiederum zurückwirken oder etwas zurückspiegeln. Zweitens liegt der Ausbeutungscharakter in den Folgen darüber hinaus. Wenn Sie den strategischen Partner nicht in der Situation selber durchschauen, wird es Ihnen passieren, daß Sie sich mit Strategen näher einlassen, weil Sie sie für nette Menschen halten. Sie werden denken, daß ein Mensch, der so höflich ist, auch sonst ein guter Mensch sein muß. Natürlich denken Sie das nicht, wenn irgend jemand Ihnen irgendwann einmal Feuer gegeben hat, sondern weil Sie tagtäglich mit allen möglichen vergleichbaren Höflichkeiten konfrontiert sind, die Sie aber als Ausnahme von unserer ansonsten so tristen Welt dankbar registrieren. Je schlechter die Umweltverhältnisse, desto mehr fällt man auf «nette» Menschen rein. Also werden Sie diesem Menschen vertrauen, und das wird Sie teuer zu stehen kommen. Es gilt nämlich in diesem Falle, wie in so vielen Fällen, das Prinzip pars pro toto, d. h.: Was einer im Kleinen tut, tut er auch im Großen. Das gilt vor allem in dem Sinne, daß die Kleinigkeiten in den Verhaltensweisen der Menschen sehr wohl etwas mit dem Gesamtsystem zu tun haben, daß sie die gesamtgesellschaftliche Situation und deren Spielregeln reflektieren. Im zitierten Falle heißt es: Da der betreffende Stratege schon im Kleinen den Pseudogeber gespielt hat, wird er das im Großen fortsetzen. Die bloß symbolische Geste, Geber zu sein (bloß symbolisch genannt, weil sie billig und erschlichen ist),
kaschiert sogar unter dem Deckmantel, Diener zu sein, wird er fortsetzen, um Ihre echten Verluste als Ausdruck seiner Verehrung oder des sogenannten Respekts vor Ihnen zu vertuschen. (Politiker tun das jeden Tag.) Sie werden entweder sein oder ihr Sorgenträger und können sich stundenlang anhören, wie schlecht es ihm oder ihr geht, ob es Ihnen schlecht geht, interessiert dabei weniger. Sie werden schließlich alles Mögliche, letztendlich sogar Finanzier, vor allem, weil Sie das schlechte Gewissen plagt, daß Ihre seelische Unterstützung vermutlich gar nichts geholfen hat. Dieser nette Mensch, in dessen Augen Sie ein verehrungswürdiges Objekt sind, kommt einfach nicht durchs Leben. Das kann nicht an ihm liegen, der Fehler muß bei Ihnen liegen – das ist komischerweise der Effekt: Sie sind nicht gut genug. Kurzum, Sie sind ein Versager und können nur froh sein, wenn Sie aus dieser Verwicklung früh genug rauskommen, um wenigstens Ihr Bankkonto zu retten. Aber passen Sie auf, solange Sie es nicht begreifen, kommt der oder die nächste, der oder die Ihnen Feuer gibt. Denn vorher – das war ja nur der, das war ja die, «i wo, da steckt doch koa System dahinter», wie mein Freund Ali sagen würde, «da waar i ja selber deppert».
2. Die Gründe der Wirksamkeit von sanfter Gewalt: Kafka und der Vater Ich habe im vorhergehenden Kapitel eine dem Anschein nach banale Geschichte aus meinem privaten Alltag erzählt, der übrigens im wahrsten Sinne des Wortes privat ist. Das Wort privat kommt nämlich ursprünglich von privare (berauben), und ich sehe mich ständig Beraubungsstrategien ausgesetzt. Die Geschichte handelte vom Feuergeben, und ihre Analyse sollte den trotz aller Banalität ernstzunehmenden strategischen Charakter des Feuergebens verdeutlichen. Da für fast alle Strategien gilt, daß sie ein compositum mixtum aus mehreren Strategien sind, konnte exemplarisch die Struktur gleich zweier typischer Verschleierungsstrategien vorgeführt werden. Die erstere habe ich die Strategie der Invalidierung durch positive Mystifikation genannt, weil eine faktische Abwertung durch symbolische Aufwertung vorlag. Die zweite habe ich als Inversionsstrategie definiert, insofern dabei der strategisch aktive Partner der Interaktion eine Qualität oder Kompetenz, die der andere sehr wohl oder zumindest potentiell besitzt, diesem faktisch nimmt oder abspricht, sich selber aber nicht nur zuspricht, sondern sogar in einer Quasi-Verdoppelung ihrer Qualität sich zuspricht, indem er sie symbolisch überhöht. Die symbolische Überhöhung bestand in diesem Falle in der Überhöhung zur Geberschaft, genauer gesagt zur Pseudogeberschaft, da es sich ja nur um eine symbolische Geste, die man sich billig erschleichen kann, handelte. Die Überhöhung betreffend kommt also auch hier eine Mystifikation ins Spiel, so daß wir diese Strategie auch als Strategie der
Mystifikation durch Inversion bezeichnen können. Den zwar verschleierten, aber faktisch ausbeuterischen Charakter der geschilderten Interaktion, den ich aufgedeckt habe, kennzeichne ich hier noch einmal dahingehend, daß eine faktisch symmetrische Situation zwischen Partnern zu einer asymmetrischen gemacht wird, in der der strategische Partner schon in der Situation selber «seelisch» auf Kosten des anderen profitiert. Er kann sich großartiger fühlen und mächtiger, während der andere sich kleiner, verunsicherter fühlt. Womöglich kann er darüber hinaus den anderen auch noch materiell schädigen, sofern dieser seine «gute Meinung» vom strategischen Partner nicht rechtzeitig revidiert. Einen Schritt weiter gehend, möchte ich nunmehr die psychologische und soziale Dimension der Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien veranschaulichen. Das heißt, ich gehe der Frage nach: Aus welchen psychologischen und sozialen Gründen fallen wir auf Verschleierungsstrategien herein und mit welchen Folgen bzw., warum funktionieren sie überhaupt, was bedingt ihre ausbeuterische Effizienz? Dabei wird zwar die Frage nach den Gründen und Folgen bei den Opfern im Vordergrund stehen; was die Motive und Gewinne der Täter sind – oft sind wir übrigens beides in einer Person –, wird sich in der Verfolgung dieser Frage indes praktisch von selbst ergeben. Um meine Frage zu präzisieren, greife ich noch einmal kurz auf das im vorausgegangenen Kapitel Gesagte zurück. Ich habe die erste von mir geschilderte Strategie Invalidierungsstrategie oder Abwertungsstrategie genannt, nicht zuletzt deshalb, weil sie, obwohl als Aufwertung gut getarnt und daher nicht unmittelbar als Abwertung
deutlich erkennbar, im Opfer bestimmte Gefühle erweckt – zumindest wenn es noch nicht total abgestumpft ist –, Gefühle der Inkompetenz, der Verunsicherung. Ich sagte auch, die Verunsicherung steigert sich noch, wenn sich eine kognitive Dissonanz in einem ereignet, und zwar aufgrund dessen, daß die Handlung des anderen einerseits sozial sanktioniert ist, man aber trotzdem ein unangenehmes Gefühl bei sich selbst hat. Es können sogar Schuldgefühle, ja, es werden in der Regel Schuldgefühle, die aber natürlich auch in der Regel unbewußt bleiben, erzeugt. Ich habe hinzugesetzt, daß solche Gefühle, selbst bei jemandem, der denken kann und will, dazu angetan sind, das Denken zu verhindern, zumindest zeitweilig zu irritieren, womöglich aber sogar auf Dauer zu lähmen, wenn zum Beispiel die Situation, Opfer zu sein, eine perpetuierliche ist. Das liegt daran, wie ich sagte, daß richtiges Denken Mut voraussetzt, und zwar einen, der sein emotionales Fundament im Selbstvertrauen hat. Der induzierte Mangel an Selbstvertrauen – möglicherweise gibt es Leute, die per se keines haben, aber das glaube ich nicht, deshalb sage ich induzierter Mangel an Selbstvertrauen – bildet die eigentliche emotionale Basis der Unfähigkeit, Strategien situativ zu durchschauen und statt dessen auf sie hereinzufallen, indem man sich ausbeuten bzw. ungerecht behandeln läßt, was in der Folge das ganze Weltbild irritieren oder verzerren kann. Ich habe erwähnt, daß zu dieser, wie ich jetzt sage, emotionalen Basis der Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien hinzutreten müsse, daß Verschleierungsstrategien sich nicht vereinzelt, singulär, sondern gehäuft ereignen – was in der Regel wiederum nur dann der Fall ist, wenn sie zugleich vom sozialen Kontext sanktioniert sind bzw. Verhaltensregeln
entsprechen, die von einem sogenannten gesellschaftlichen Konsens, das heißt vom Majoritätskonsens einer Gruppe, eines Milieus oder gar der politischen Gesamtgemeinschaft akzeptiert bzw. normativ unterstützt werden. Ich verwies daher auf die Studie von Bourdieu, «Entwurf einer Theorie der Praxis», und seine Ausführungen zur Effizienz alltäglicher Selbstverständlichkeiten, wie eben zum Beispiel von Höflichkeitsritualen, ich verwies auf deren Abdeckung durch das jeweilige soziale System einerseits wie deren systemstabilisierende Funktion vice versa. Zum Problem des sozialen Kontextes werde ich, vor allem soweit es mein Ausgangsbeispiel, das Feuergeben, betrifft, im nächsten Kapitel ausführlicher sprechen, soweit nämlich speziell das Feuergeben im Kontext einer, trotz aller gesetzlich verankerten bzw. offiziell anerkannten Gleichberechtigung von Mann und Frau, bestehenden, offiziösen Sanktionierung von Geschlechterklischees zu interpretieren ist. Es ist also vor diesem Hintergrund, in diesem Rahmen zu interpretieren, demzufolge Frauen als emotionaler und daher intellektuell inkompetenter, als unselbständiger, ängstlicher, schwächer, launischer, hysterischer usw. als Männer gelten, obwohl sie das nicht per se sind und obwohl – das möchte ich an dieser Stelle gleich hinzusetzen – selbst Männer das von ihnen nicht wirklich denken (vor allem, diese Boshaftigkeit kann ich mir nicht ersparen, weil sehr viele Männer sowieso nicht denken); vielmehr wollen Männer Frauen nur gerne so behandeln, als wären sie das alles, weil sie sich selber dann «besser fühlen». In der sogenannten Moderne bzw. in unserer Gegenwart verkompliziert sich dieser soziale Kontext herrschender Geschlechterklischees, weil im allgemeinen, was in früheren Gesellschaften meist nicht der Fall war,
zu den abwertenden Epitheta (Kennzeichnungen) für Frauen sogar aufwertende, mystifizierende hinzutreten, wie etwa solche, daß Frauen ansonsten netter, umgänglicher, verständnisvoller, toleranter, aufopferungsvoller und, noch reaktionärer gesagt, mütterlicher sind, was sie übrigens auch nicht so einfach sind, höchstens gegenüber Männern, mir gegenüber nicht. Dazu aber, wie gesagt, mehr im nächsten Kapitel. Zunächst möchte ich die Frage nach der psychologischen und sozialen Dimension der Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien gezielt theoretisch stellen, das heißt, ich frage nach dem letztlichen Prinzip psychosozialer Art, dem wir verdanken, daß wir sie nicht durchschauen und daher auf sie hereinfallen. Um diese Frage zu beantworten, muß man sich zunächst über eine Erfahrung klarwerden, die wiederum sehr banal ist. Es gibt nichts auszubeuten, wo nichts auszubeuten ist. Das heißt erstens: Nur wer etwas hat, was ein anderer gut gebrauchen kann, ist ausbeutbar. Diese banale Einsicht hatten vor allem die Sklavenhalter in Sklavenhaltergesellschaften. Sie hüteten sich, ihre Sklaven allzu schnell verhungern zu lassen, denn sie brauchten schließlich ihre Arbeitskraft. Zweitens: Kein Mensch läßt sich von Natur aus gern ausbeuten – wenn er es merkt –, das heißt sich etwas nehmen, was er selber braucht; und kein Mensch läßt sich gerne unter Wert verkaufen. Wir sind keine geborenen Masochisten, das zeigen etwa die Jäger- und Sammlervölker (auf die ich noch zu sprechen kommen werde), die eben noch nicht essentiell im Bereich der strategischen Vereinnahmung durch Machthierarchien leben müssen. Ausbeutung läßt man sich nur gefallen, wenn der Weigerung, etwas abzugeben, die Androhung des Entzugs von
etwas, das, zumindest subjektiv, noch wichtiger ist als das, was wir abgeben müssen, entgegensteht. Zum Beispiel der Entzug von Leben, Gesundheit usw. Da wir aber hier nicht mit gewalttätigen Strategien bzw. mit brutaler Gewalt beschäftigt sind, angesichts derer wir um der Rettung unseres bloßen Lebens willen unserer körperlichen Existenz zuliebe klein beigeben, sondern mit «sanfter Gewalt» befaßt sind, hinter der natürlich häufig die «harte Gewalt» immer noch lauert – ganz auseinanderdividierbar ist das nicht –, ist zu fragen, was wir denn zu verlieren fürchten, wenn wir uns trauten, Strategien zu durchschauen. In der Sprache Michel Foucaults gesprochen, der sicherlich derjenige Denker ist, der sich in jüngster Zeit, leider allzu früh verstorben, am meisten Gedanken zur Frage nach den Fundamenten von Macht, vor allem nach den Fundamenten von Macht in uns selber, gemacht hat: Was ist das Dispositiv in uns selber, weswegen wir auf Machtstrategien verschleiernden Charakters hereinfallen? Ich übernehme den Ausdruck «Dispositiv» von Foucault, weil es keinen besseren für das, was zur Debatte steht, gibt. Er meint damit ein Bedürfnis, das heißt etwas für uns selber Lebensnotwendiges – ob psychisch oder existentiell notwendig, spielt dabei keine Rolle – und in diesem Sinne ganz Eigenes, das aber dennoch nicht klar bzw. eindeutig genug von Natur aus bestimmt ist, um nicht prägbar, umdefinierbar, transformierbar zugunsten der Zwecke anderer zu sein. Foucault hat damit einen sehr wichtigen Begriff geliefert, um dem Funktionieren von Macht auf die Spur zu kommen, hat sich aber – Sigmund Freud immer noch folgend – in der sachlichen Identifizierung des Dispositivs, das uns zu Opfern undurchschauter Machtausübung macht, zu sehr auf die Sexualität kapriziert, das heißt, unser
sexuelles Begehren und dessen Umfunktionierbarkeit in Herrschafts- wie Abhängigkeitsverhältnisse zum zentralen Dispositiv erklärt. Ich selber meine, daß das zentrale Dispositiv zwar nicht ganz woanders als in unserem sexuellen Begehren, aber doch in etwas, das mehr ist, nämlich in unserem Wunsch nach Anerkennung zu finden ist. Natürlich sind Sexualität und Anerkennung nicht voneinander zu trennen. Wenn man jemanden begehrt, will man ja in Wirklichkeit auch zurückbegehrt werden und sucht in der Regel eben dadurch eine gewisse Anerkennung. Dieser Wunsch nach Anerkennung aber macht uns entweder zu Opfern oder, wenn er sich zur Anerkennungssucht gesteigert hat, zu Tätern. Inwiefern dies der Fall ist und mit welch verheerender Wirkung, insbesondere für unser Erkenntnisvermögen, möchte ich an einem Beispiel plausibel machen, und zwar am Beispiel eines der sensitivsten Dichter unseres Jahrhunderts, an Franz Kafka. Ich sage mit Absicht «plausibel machen», denn natürlich kann ein singuläres Beispiel keinen Anspruch auf Repräsentativität erheben, kann kein sogenannter Beweis sein. Um zu belegen, daß die bei Kafka transparent werdende Problematik von Anerkennung und Nichtanerkennung nicht nur ein spezifisches Problem seiner Biographie war und ist, sondern als Beispiel für eine Problematik dienen kann, der wir alle Tag für Tag begegnen, insbesondere aber in den Tagen unserer Kindheit, müßte ich den derzeitigen Stand der psychoanalytischen und entwicklungspsychologischen Forschung vorführen. Das kann ich hier nicht tun und muß mich damit begnügen, darauf hinzuweisen, daß die neuere Forschung psychoanalytischer, insbesondere aber entwicklungspsychologischer Art, die sich auf empirische Beobachtung, vor allem auf die Beobachtung der frühkindlichen Entwicklung, stützt, statt
nur zu spekulieren, und die mutig genug ist, sich über Freud hinauszuwagen, nicht mehr nur die sexuelle Entwicklung berücksichtigt, sondern das Problem der Identitätsfindung durch Anerkennung in den Vordergrund stellt. Wie vor allem Jessica Benjamin in ihrem Buch «Die Fesseln der Liebe»1 belegt, zeigt schon das winzigste Baby nicht nur ein Bedürfnis, durch Nahrung und körperliche Zuwendung befriedigt zu werden, sondern zugleich ein Bedürfnis nach Aufmerksamkeit kognitiver Art, das heißt danach, in seiner je individuell ausgeprägten kognitiven Aktivität, später überhaupt in all seinen Unternehmungen selbständiger bzw. aktiver Art bemerkt, anerkannt, respektiert, ja, unter Umständen eben sogar ermuntert zu werden. Wird dem Kind diese Aufmerksamkeit entweder versagt oder umgekehrt übertrieben gewährleistet, hat das verheerende Folgen für sein späteres Selbstgefühl und Sozialverhalten. Wie Jessica Benjamin erläutert, scheitert die richtige Bewältigung der gegebenen Anerkennungsproblematik unter anderem vor allem daran, daß es sich hierbei um eine paradoxe Situation handelt. Es will nämlich das Kind in unabhängigen Handlungen ausgerechnet von Personen bestätigt werden, von denen es existentiell wie psychisch am allerabhängigsten ist. Die Anerkennungspartner wiederum selber – in der Regel die Mütter – tun sich daher höchst schwer: erstens, weil sie einen scheinbaren Widerspruch aushalten müssen – sie wissen ja, daß das Kind von ihnen abhängig ist, und sehen deswegen gerade unter Umständen schlicht nicht, daß es sich aktiv betätigt und darin bestätigt werden möchte. Zweitens, weil sie häufig gar nicht wollen, daß das Kind unabhängig wird, da das ihrer eigenen Anerkennung als Machtpersonen widerstreitet. Faktisch ist die Lage noch weitaus komplizierter, ich fasse aber nur Jessica Benjamins
Schlußfolgerungen zusammen: Sie stellt fest, daß nur dort, wo die Anerkennung als reziproke, also als gegenseitige, gelingt, zum Beispiel die Mutter die von ihr unabhängigen, vor allem von ihren Wunschprojektionen unabhängigen Leistungen des Kindes anerkennt, aber auch das Kind die Mutter als unabhängige eigene Person mit eigenen Wünschen und eigenen Eigenschaften und Qualitäten anerkennt, eine Entwicklung des Kindes ermöglicht wird, die – und das ist der springende Punkt – den zukünftigen Erwachsenen nicht zum Opfer oder Täter späterer undurchschauter und willkürlicher Herrschaftszwänge macht. Jessica Benjamin ist eine amerikanische Psychoanalytikerin, hat aber bei Adorno in Frankfurt studiert und stellt daher die gesamte analytische Darstellung des Problems gleich selber in den Zusammenhang von Herrschaft. Soviel zum Forschungsstand, soweit er mutig genug ist, um einen Rückhalt für meine Ausführungen zu liefern. Ich komme zum Beispiel, mit dem es mir, wie gesagt, nicht darum geht, die prinzipielle Bedeutung von Anerkennung für die menschliche Seele im allgemeinen zu belegen. Es geht mir darum, am Beispiel Kafkas die auf der Basis des Dispositivs von Anerkennungsbegehren funktionierende Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien in ihrer Fatalität zu verdeutlichen. Ich wähle das Beispiel Kafka, weil er in seinem sogenannten «Brief an den Vater» sein eigenes Leiden am Anerkennungsproblem so klarsichtig wie wohl sonst keiner öffentlich analysiert und dokumentiert hat, aber eben doch nicht klarsichtig oder mutig genug, um die Ursache seines Leidens in der Tatsache zu sehen, daß sein Vater – von seiner Mutter wird auch noch zu reden sein – ein «großer» Verschleierungsstratege war. Eben aufgrund dieses Zwiespalts eignet sich die Dokumentation
seines Leidens zu meinen eigenen analytischen Zwecken besonders gut – was ich übrigens ungern sage, denn die Beschäftigung mit Kafka nötigt mir jedesmal soviel Respekt vor ihm ab, daß ich ihn nicht gerne kritisch betrachte. Dennoch kann man sagen: Er ist intelligent und sensibel genug gewesen zu sehen, was mit ihm passierte, und doch hat er es letzten Endes nicht richtig durchschaut oder wollte es nicht durchschauen. Ich wähle das Beispiel Kafka aber auch deswegen, weil Kafka in seinem Brief sein Leiden am Anerkennungsproblem als Versuch, die Anerkennungsproblematik seiner Kindheit und deren fortwährende Wirkung zu bewältigen, dokumentiert. In Erinnerung an die Abhängigkeit der Wirksamkeit von Strategien vom Kontext ihrer sozialen Sanktionen sollten wir uns bewußt werden, daß die Sanktion von Verhaltensweisen dort am kräftigsten zuschlägt, wo wir vom sozialen Umfeld am abhängigsten sind. Und dies sind wir als Kinder von unseren Eltern bzw. anderen unmittelbaren Bezugspersonen der Kindheit. Wir sind von ihnen sowohl existentiell wie seelisch und spirituell total abhängig, gerade. in der modernen Gesellschaft, in der die Bezugspersonen so wenige sind. Bei Naturvölkern haben es die Kinder oft leichter, weil sie viel mehr Bezugspersonen haben, so daß sie von der einen Person zur anderen flüchten können. Es ist sehr wichtig, daß man flüchten kann, denn dann ist man Strategien natürlich weniger ausgesetzt. Je weniger hilfreiche Personen zur Verfügung stehen, desto schlimmer wird es, wenn sie nicht besonders gut sind. Denn wie sie auch sein mögen: Wir sind von ihnen abhängig, wir können nicht davonlaufen und müssen uns arrangieren. Infolgedessen ist die Kindheit am allerbesten dazu geeignet, uns unsere Anerkennungsängste
als Realängste erscheinen zu lassen und für die spätere Zukunft auf dieser Basis zu stabilisieren. Es hat daher auch fast jede politische Gesellschaft ihre «Erziehung», vor allem haben solche Gesellschaften «Erziehung», deren Gesamtordnung auf der Basis verschleierter Ausbeutung funktioniert. Ich sage das für «Erziehung», nicht unbedingt für das, was man heute Sozialisation nennt, die all das bezeichnet, was ein Kind in seinem sozialen Umfeld mitkriegt. Ich benutze auch nicht das Wort Ausbildung. Ausbildung ist notwendig, aber Erziehung ist ein Begriff, der eher für Erziehung im Dienste von Herrschaft steht. Außerdem hat Erziehung bekanntermaßen langfristige Folgen, insbesondere solche, wie ich hier konstatieren möchte, daß man Verschleierungsstrategien, auf die man als Erwachsener in einem politischen System hereinfällt, um so schwerer durchschaut, wenn man sie als Kind schon genossen hat. Es gehört also der Bereich des Umgangs mit Kindern bzw. unsere kindliche Erfahrungswelt in allererster Linie in den, in dem Verschleierungsstrategien ihre Wirksamkeit entfalten und unsere Disponibilität im Dienste eines politischen Gesamtsystems ausbeuterischer Natur beeinflussen. Später fallen wir bevorzugt auf Liebesbeziehungen herein, denn in diesen sind wir emotional wieder am abhängigsten. Von der «Liebe» wird auch noch zu sprechen sein. Da ich mir aber ein Extrakapitel über moderne Erziehungsstrategien im allgemeinen ersparen möchte, tangiere ich mit der Erörterung von Kafkas Bewältigungsversuch zumindest diesen Punkt und hoffe, daß das genügend Anregung zum eigenen Nachdenken gibt. Nun aber zu Kafka. Der «Brief an den Vater» ist 1919 geschrieben. Kafka war also schon 36 Jahre alt. Er hatte
sich, trotz seines allerdings absichtlich gewählten bürokratischen Versicherungsangestelltendaseins, einen literarischen Namen gemacht. Es waren schon einige seiner Erzählungen publiziert, wie zum Beispiel «Der Heizer» oder die Geschichte «Ein Landarzt». Im selben Jahr, in dem er den «Brief» geschrieben hat, erschien die Erzählung «In der Strafkolonie», die eigentlich am bekanntesten ist und am häufigsten zitiert wird. Er hatte sogar schon einen Literaturpreis erhalten, nämlich 1915 den Fontanepreis. Trotzdem fühlte sich Kafka genötigt, einen Brief an seinen Vater zu schreiben, in dem er sich pausenlos gegen diesen rechtfertigt. Wenngleich es einen aktuellen Anlaß zum Zorn auf seinen Vater gab, denn dieser hatte ihm ziemlich unflätig – eine Dame, die Kafka heiraten wollte, als Flittchen diffamierend – in eine geplante Heirat hineingeredet, von der Kafka dann auch Abstand nahm, weil er gleichzeitig keine Wohnung fand(!). Kafka hat übrigens mehrfach in seinem Leben versucht, sich «richtig» zu verlieben oder sogar zu heiraten. Alle Versuche, bis auf den letzteren – aber auch der ist mit einem Fragezeichen zu versehen –, scheiterten, und man kann daher sagen, daß dieser aktuelle Anlaß zum Zorn, den Kafka hatte, ihn um so mehr zur Unbarmherzigkeit dem Vater gegenüber hätte verleiten müssen. Hinzu kommt, daß Kafka damals schon todkrank an Tuberkulose litt – seit 1917 – und nach dem Strohhalm einer möglichen Liebe gegriffen hatte, von der er sich entweder wenigstens Trost oder sogar Hoffnung versprach, der tödlichen Krankheit vielleicht doch noch zu entrinnen. Kafka war also zum Zeitpunkt der Abfassung seines Briefes ein mit einem «seriösen» Beruf und sogar mit literarischen Meriten ausgestatteter erwachsener Mann, zugleich als unheilbar krank diagnostiziert. Er starb 1924,
der Vater starb fünf Jahre später, die Mutter sechs Jahre später. Noch etwas ist im voraus zu erwähnen, nämlich daß Kafka diesen Brief keineswegs bloß als literarisches Produkt für die Allgemeinheit intendiert hat. Er ist das dann geworden – sehr spät übrigens, weil Max Brod, der beste Freund und Nachlaßverwalter Kafkas, sich nicht traute, den Brief herauszugeben, solange es nahe Anverwandte Kafkas gab, die noch lebten. Kafka hat den Brief interessanterweise an seine Mutter geschickt und die Mutter gebeten, den Brief an den Vater weiterzuleiten. Diese weigerte sich aber zu vermitteln, wie Alice Miller in ihrer psychoanalytischen Kafka-Analyse in ihrem Werk «Du sollst nicht merken» schreibt: Sie weigerte sich «und schickte dem Sohn den Brief zurück mit der Bitte, den Vater damit zu verschonen. So wurde der robuste, nicht überaus sensible Hermann Kafka geschont, und sein Sohn erkrankte an Tuberkulose»2. Leider verschleiert Alice Miller trotz ihrer streitbaren Gesinnung für erziehungsgeschädigte Kinder mit ihrem letzten Nachsatz die Tatsache, daß Franz Kafka ja schon tuberkulös erkrankt war, und zwar als unheilbar diagnostiziert, wodurch das Makabre an der Reaktion der Mutter verharmlost wird. Der Brief beginnt folgendermaßen: «Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten
könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht. Dir hat sich die Sache immer sehr einfach dargestellt, wenigstens soweit Du vor mir und, ohne Auswahl, vor vielen andern davon gesprochen hast. Es schien Dir etwa so zu sein: Du hast Dein ganzes Leben lang schwer gearbeitet, alles für Deine Kinder, vor allem für mich geopfert, ich habe infolgedessen ‹in Saus und Braus› gelebt, habe vollständige Freiheit gehabt zu lernen was ich wollte, habe keinen Anlaß zu Nahrungssorgen, also zu Sorgen überhaupt gehabt; Du hast dafür keine Dankbarkeit verlangt, Du kennst ‹die Dankbarkeit der Kinder›, aber doch wenigstens irgendein Entgegenkommen, Zeichen eines Mitgefühls; statt dessen habe ich mich seit jeher vor Dir verkrochen, in mein Zimmer, zu Büchern, zu verrückten Freunden, zu überspannten Ideen; offen gesprochen habe ich mit Dir niemals, in den Tempel bin ich nicht zu Dir gekommen, in Franzensbad habe ich Dich nie besucht, auch sonst nie Familiensinn gehabt, um das Geschäft und Deine sonstigen Angelegenheiten habe ich mich nicht gekümmert, die Fabrik habe ich Dir aufgehalst und Dich dann verlassen, Ottla habe ich in ihrem Eigensinn unterstützt, und während ich für Dich keinen Finger rühre (nicht einmal eine Theaterkarte bringe ich Dir), tue ich für Freunde alles. Faßt Du Dein Urteil über mich zusammen, so ergibt sich, daß Du mir zwar etwas geradezu Unanständiges oder Böses nicht vorwirfst (mit Ausnahme vielleicht meiner letzten Heiratsabsicht), aber Kälte, Fremdheit, Undank
barkeit. Und zwar wirfst Du es mir so vor, als wäre es meine Schuld, als hätte ich etwa mit einer Steuerdrehung das Ganze anders einrichten können, während Du nicht die geringste Schuld daran hast, es wäre denn die, daß Du zu gut zu mir gewesen bist. Diese Deine übliche Darstellung halte ich nur so weit für richtig, daß auch ich glaube, Du seist gänzlich schuldlos an unserer Entfremdung. Aber ebenso gänzlich schuldlos bin auch ich. Könnte ich Dich dazu bringen, daß Du das anerkennst, dann wäre – nicht etwa ein neues Leben möglich, dazu sind wir beide viel zu alt, aber doch eine Art Friede, kein Aufhören, aber doch ein Mildern Deiner unaufhörlichen Vorwürfe. Irgendeine Ahnung dessen, was ich sagen will, hast Du merkwürdigerweise. So hast Du mir zum Beispiel vor kurzem gesagt: ‹ich habe Dich immer gern gehabt, wenn ich auch äußerlich nicht so zu Dir war wie andere Väter zu sein pflegen, eben deshalb weil ich mich nicht verstellen kann wie andere›. Nun habe ich, Vater, im ganzen niemals an Deiner Güte mir gegenüber gezweifelt, aber diese Bemerkung halte ich für unrichtig. Du kannst Dich nicht verstellen, das ist richtig, aber nur aus diesem Grunde behaupten wollen, daß die anderen Väter sich verstellen, ist entweder bloße, nicht weiter diskutierbare Rechthaberei oder aber – und das ist es meiner Meinung nach wirklich – der verhüllte Ausdruck dafür, daß zwischen uns etwas nicht in Ordnung ist, und daß Du es mitverursacht hast, aber ohne Schuld. Meinst Du das wirklich, dann sind wir einig. Ich sage ja natürlich nicht, daß ich das, was ich bin, nur durch Deine Einwirkung geworden bin. Das wäre sehr übertrieben (und ich neige sogar zu dieser Übertreibung).
Es ist sehr leicht möglich, daß ich, selbst wenn ich ganz frei von Deinem Einfluß aufgewachsen wäre, doch kein Mensch nach Deinem Herzen hätte werden können. Ich wäre wahrscheinlich doch ein schwächlicher, ängstlicher, zögernder, unruhiger Mensch geworden, weder Robert Kafka noch Karl Hermann, aber doch ganz anders, als ich wirklich bin, und wir hätten uns ausgezeichnet miteinander vertragen können. Ich wäre glücklich gewesen, Dich als Freund, als Chef, als Onkel, als Großvater, ja selbst (wenn auch schon zögernder) als Schwiegervater zu haben. Nur eben als Vater warst Du zu stark für mich, besonders da meine Brüder klein starben, die Schwestern erst lange nachher kamen, ich also den ersten Stoß ganz allein aushalten mußte, dazu war ich viel zu schwach. Vergleich uns beide: ich, um es sehr abgekürzt auszudrükken, ein Löwy mit einem gewissen Kafkaschen Fond, der aber eben nicht durch den Kafkaschen Lebens-, Geschäfts, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern durch einen Löwyschen Stachel, der geheimer, scheuer, in anderer Richtung wirkt und oft überhaupt aussetzt. Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit, natürlich auch mit allen zu diesen Vorzügen gehörigen Fehlern und Schwächen, in welche Dich Dein Temperament und manchmal Dein Jähzorn hineinhetzen. Nicht ganzer Kafka bist Du vielleicht in Deiner allgemeinen Weltansicht, soweit ich Dich mit Onkel Philipp, Ludwig, Heinrich vergleichen kann. Das ist merkwürdig, ich sehe hier auch nicht ganz klar. Sie waren doch alle fröhlicher, frischer, ungezwungener, leichtlebiger, weniger streng als Du. (Darin
habe ich übrigens viel von Dir geerbt und das Erbe viel zu gut verwaltet, ohne allerdings die nötigen Gegengewichte in meinem Wesen zu haben, wie Du sie hast.) Doch hast auch andererseits Du in dieser Hinsicht verschiedene Zeiten durchgemacht, warst vielleicht fröhlicher, ehe Dich Deine Kinder, besonders ich, enttäuschten und zu Hause bedrückten (kamen Fremde, warst Du ja anders) und bist auch jetzt vielleicht wieder fröhlicher geworden, da Dir die Enkel und der Schwiegersohn wieder etwas von der Wärme geben, die Dir die Kinder, bis auf Valli vielleicht, nicht geben konnten. Jedenfalls waren wir so verschieden und in dieser Verschiedenheit einander so gefährlich, daß, wenn man es hätte etwa im voraus ausrechnen wollen, wie ich, das langsam sich entwickelnde Kind, und Du, der fertige Mann, sich zueinander verhalten werden, man hätte annehmen können, daß Du mich einfach niederstampfen wirst, daß nichts von mir übrigbleibt. Das ist nun nicht geschehen, das Lebendige läßt sich nicht ausrechnen, aber vielleicht ist Ärgeres geschehen. Wobei ich Dich aber immerfort bitte, nicht zu vergessen, daß ich niemals im entferntesten an eine Schuld Deinerseits glaube. Du wirktest so auf mich, wie Du wirken mußtest, nur sollst Du aufhören, es für eine besondere Bosheit meinerseits zu halten, daß ich dieser Wirkung erlegen bin. Ich war ein ängstliches Kind; trotzdem war ich gewiß auch störrisch, wie Kinder sind; gewiß verwöhnte mich die Mutter auch, aber ich kann nicht glauben, daß ich besonders schwer lenkbar war, ich kann nicht glauben, daß ein freundliches Wort, ein stilles Bei-der-HandNehmen, ein guter Blick mir nicht alles hätten abfordern können, was man wollte. Nun bist Du ja im Grunde ein gütiger und weicher Mensch (das Folgende wird dem
nicht widersprechen, ich rede ja nur von der Erscheinung, in der Du auf das Kind wirktest), aber nicht jedes Kind hat die Ausdauer und Unerschrockenheit, so lange zu suchen, bis es zu der Güte kommt. Du kannst ein Kind nur so behandeln, wie Du eben selbst geschaffen bist, mit Kraft, Lärm und Jähzorn, und in diesem Falle schien Dir das auch noch überdies deshalb sehr gut geeignet, weil Du einen kräftigen mutigen Jungen in mir aufziehen wolltest.»3 Ich überschlage eine Passage, in der Kafka nun schildert, wie ihn sein Vater eines Nachts vor der Haustür einfach aussperrte, und fahre im Text unmittelbar danach fort: «Das war damals ein kleiner Anfang nur, aber dieses mich oft beherrschende Gefühl der Nichtigkeit (ein in anderer Hinsicht allerdings auch edles und fruchtbares Gefühl) stammt vielfach von Deinem Einfluß. Ich hätte ein wenig Aufmunterung, ein wenig Freundlichkeit, ein wenig Offenhalten meines Wegs gebraucht, statt dessen verstelltest Du mir ihn, in der guten Absicht freilich, daß ich einen anderen Weg gehen sollte. Aber dazu taugte ich nicht. Du muntertest mich zum Beispiel auf, wenn ich gut salutierte und marschierte, aber ich war kein künftiger Soldat, oder Du muntertest mich auf, wenn ich kräftig essen oder sogar Bier dazu trinken konnte, oder wenn ich unverstandene Lieder nachsingen oder Deine Lieblingsredensarten Dir nachplappern konnte, aber nichts davon gehörte zu meiner Zukunft. Und es ist bezeichnend, daß Du selbst heute mich nur dann eigentlich in etwas aufmunterst, wenn Du selbst in Mitleidenschaft gezogen bist, wenn es sich um Dein Selbstgefühl handelt, das ich verletze (zum Beispiel
durch meine Heiratsabsicht) oder das in mir verletzt wird (wenn zum Beispiel Pepa mich beschimpft). Dann werde ich aufgemuntert, an meinen Wert erinnert, auf die Partien hingewiesen, die ich zu machen berechtigt wäre, und Pepa wird vollständig verurteilt. Aber abgesehen davon, daß ich für Aufmunterung in meinem jetzigen Alter schon fast unzugänglich bin, was würde sie mir auch helfen, wenn sie nur dann eintritt, wo es nicht in erster Reihe um mich geht. Damals und damals überall hätte ich die Aufmunterung, gebraucht. Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit.» Hier überspringe ich wieder die – obwohl wichtige – Schilderung der körperlichen Differenz zwischen Vater und Sohn und zitiere weiter: «Dem entsprach weiter Deine geistige Oberherrschaft. Du hattest Dich allein durch eigene Kraft so hoch hinaufgearbeitet, infolgedessen hattest Du unbeschränktes Vertrauen zu Deiner Meinung. Das war für mich als Kind nicht einmal so blendend wie später für den heranwachsenden jungen Mann. In Deinem Lehnstuhl regiertest Du die Welt. Deine Meinung war richtig, jede andere war verrückt, überspannt, meschugge, nicht normal. Dabei war Dein Selbstvertrauen so groß, daß Du gar nicht konsequent sein mußtest und doch nicht aufhörtest recht zu haben. Es konnte auch vorkommen, daß Du in einer Sache gar keine Meinung hattest und infolgedessen alle Meinungen, die hinsichtlich der Sache überhaupt möglich waren, ohne Ausnahme falsch sein mußten. Du konntest zum
Beispiel auf die Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen, dann auf die Juden, und zwar nicht nur in Auswahl, sondern in jeder Hinsicht, und schließlich blieb niemand mehr übrig außer Dir. Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist. Wenigstens schien es mir so. Nun behieltest Du ja mir gegenüber tatsächlich erstaunlich oft recht, im Gespräch war das selbstverständlich, denn zum Gespräch kam es kaum, aber auch in Wirklichkeit. Doch war auch das nichts besonders Unbegreifliches: Ich stand ja in allem meinem Denken unter Deinem schweren Druck, auch in dem Denken, das nicht mit dem Deinen übereinstimmte, und besonders in diesem. Alle diese von Dir scheinbar abhängigen Gedanken waren von Anfang an belastet mit Deinem absprechenden Urteil; bis zur vollständigen und dauernden Ausführung des Gedankens das zu ertragen, war fast unmöglich. Ich rede hier nicht von irgendwelchen hohen Gedanken, sondern von jedem kleinen Unternehmen der Kinderzeit. Man mußte nur über irgendeine Sache glücklich sein, von ihr erfüllt sein, nach Hause kommen und es aussprechen, und die Antwort war ein ironisches Seufzen, ein Kopfschütteln, ein Fingerklopfen auf den Tisch: ‹Hab auch schon etwas Schöneres gesehn› oder ‹Mir gesagt Deine Sorgen› oder ‹Ich hab keinen so geruhten Kopf› oder ‹Kauf Dir was dafür!› oder ‹Auch ein Ereignis!› Natürlich konnte man nicht für jede Kinderkleinigkeit Begeisterung von Dir verlangen, wenn Du in Sorge und Plage lebtest. Darum handelte es sich auch nicht. Es handelte sich vielmehr darum, daß Du solche Enttäuschungen dem Kinde immer und grundsätzlich bereiten
mußtest kraft Deines gegensätzlichen Wesens, weiter, daß dieser Gegensatz durch Anhäufung des Materials sich unaufhörlich verstärkte, so daß er sich schließlich auch gewohnheitsmäßig geltend machte, wenn Du einmal der gleichen Meinung warst wie ich, und daß endlich diese Enttäuschungen des Kindes nicht Enttäuschungen des gewöhnlichen Lebens waren, sondern, da es ja um Deine für alles maßgebende Person ging, im Kern trafen. Der Mut, die Entschlossenheit, die Zuversicht, die Freude an dem und jenem hielten nicht bis zum Ende aus, wenn Du dagegen warst oder schon wenn Deine Gegnerschaft bloß angenommen werden konnte; und angenommen konnte sie wohl bei fast allem werden, was ich tat. Das bezog sich auf Gedanken so gut wie auf Menschen. Es genügte, daß ich an einem Menschen ein wenig Interesse hatte – es geschah ja infolge meines Wesens nicht sehr oft –, daß Du schon ohne jede Rücksicht auf mein Gefühl und ohne Achtung vor meinem Urteil mit Beschimpfung, Verleumdung, Entwürdigung dreinfuhrst. Unschuldige, kindliche Menschen wie zum Beispiel der jiddische Schauspieler Löwy, mußten das büßen. Ohne ihn zu kennen, verglichst Du ihn in einer schrecklichen Weise, die ich schon vergessen habe, mit Ungeziefer, und wie so oft für Leute, die mir lieb waren, hattest Du automatisch das Sprichwort von den Hunden und Flöhen bei der Hand. An den Schauspieler erinnere ich mich hier besonders, weil ich Deine Ansprüche über ihn damals mir mit der Bemerkung notierte: ‹So spricht mein Vater über meinen Freund (den er gar nicht kennt) nur deshalb, weil er mein Freund ist. Das werde ich ihm immer entgegenhalten können, wenn er mir Mangel an kindlicher Liebe und Dankbarkeit vorwerfen wird.) Unverständlich
war mir immer Deine vollständige Empfindungslosigkeit dafür, was für Leid und Schande Du mit Deinen Worten und Urteilen mir zufügen konntest, es war, als hättest Du keine Ahnung von Deiner Macht. Auch ich habe Dich sicher oft mit Worten gekränkt, aber dann wußte ich es immer, es schmerzte mich, aber ich konnte mich nicht beherrschen, das Wort nicht zurückhalten, ich bereute es schon, während ich es sagte. Du aber schlugst mit Deinen Worten ohneweiters los, niemand tat Dir leid, nicht währenddessen, nicht nachher, man war gegen Dich vollständig wehrlos. Aber so war Deine ganze Erziehung. Du hast, glaube ich, ein Erziehungstalent; einem Menschen Deiner Art hättest Du durch Erziehung gewiß nützen können; er hätte die Vernünftigkeit dessen, was Du ihm sagtest, eingesehn, sich um nichts Weiteres gekümmert und die Sachen ruhig so ausgeführt. Für mich als Kind war aber alles, was Du mir zuriefst, geradezu Himmelsgebot, ich vergaß es nie, es blieb mir das wichtigste Mittel zur Beurteilung der Welt, vor allem zur Beurteilung Deiner selbst, und da versagtest Du vollständig. Da ich als Kind hauptsächlich beim Essen mit Dir beisammen war, war Dein Unterricht zum großen Teil Unterricht im richtigen Benehmen bei Tisch. Was auf den Tisch kam, mußte aufgegessen, über die Güte des Essens durfte nicht gesprochen werden – Du aber fandest das Essen oft ungenießbar; nanntest es ‹das Fressen›; das ‹Vieh› (die Köchin) hatte es verdorben. Weil Du entsprechend Deinem kräftigen Hunger und Deiner besonderen Vorliebe alles schnell, heiß und in großen Bissen gegessen hast, mußte sich das Kind beeilen, düstere Stille war bei Tisch, unterbrochen von Ermahnungen: (zuerst iß, dann sprich) oder (schneller, schneller, schneller) oder
(siehst Du, ich habe schon längst aufgegessen). Knochen durfte man nicht zerbeißen, Du ja. Essig durfte man nicht schlürfen, Du ja. Die Hauptsache war, daß man das Brot gerade schnitt, daß Du das aber mit einem von Sauce triefenden Messer tatest, war gleichgültig. Man mußte achtgeben, daß keine Speisereste auf den Boden fielen, unter Dir lag schließlich am meisten. Bei Tisch durfte man sich nur mit Essen beschäftigen, Du aber putztest und schnittest Dir die Nägel, spitztest Bleistifte, reinigtest mit dem Zahnstocher die Ohren. Bitte, Vater, verstehe mich recht, das wären an sich vollständig unbedeutende Einzelheiten gewesen, niederdrückend wurden sie für mich erst dadurch, daß Du, der für mich so ungeheuer maßgebende Mensch, Dich selbst an die Gebote nicht hieltest, die Du mir auferlegtest. Dadurch wurde die Welt für mich in drei Teile geteilt, in einen, wo ich, der Sklave, lebte, unter Gesetzen, die nur für mich erfunden waren und denen ich überdies, ich wußte nicht warum, niemals völlig entsprechen konnte, dann in eine zweite Welt, die unendlich von meiner entfernt war, in der Du lebtest, beschäftigt mit der Regierung, mit dem Ausgeben der Befehle und mit dem Ärger wegen deren Nichtbefolgung, und schließlich in eine dritte Welt, wo die übrigen Leute glücklich und frei von Befehlen und Gehorchen lebten. Ich war immerfort in Schande, entweder befolgte ich Deine Befehle, das war Schande, denn sie galten ja nur für mich; oder ich war trotzig, das war auch Schande, denn wie durfte ich Dir gegenüber trotzig sein, oder ich konnte nicht folgen, weil ich zum Beispiel nicht Deine Kraft, nicht Deinen Appetit, nicht Deine Geschicklichkeit hatte, trotzdem Du es als etwas Selbstverständliches von mir verlangtest; das war allerdings die größte Schande.
In dieser Weise bewegten sich nicht die Überlegungen, aber das Gefühl des Kindes.»5 In den folgenden Passagen betont Kafka, daß er zwar nicht geprügelt, wohl aber verbal bedroht wurde, und fährt fort: «Ein besonderes Vertrauen hattest Du zur Erziehung durch Ironie, sie entsprach auch am besten Deiner Überlegenheit über mich. Eine Ermahnung hatte bei Dir gewöhnlich diese Form: ‹Kannst Du das nicht so und so machen? Das ist Dir wohl schon zuviel? Dazu hast Du natürlich keine Zeit?› und ähnlich. Dabei jede solche Frage begleitet von bösem Lachen und bösem Gesicht. Man wurde gewissermaßen schon bestraft, ehe man noch wußte, daß man etwas Schlechtes getan hatte. Aufreizend waren auch jene Zurechtweisungen, wo man als dritte Person behandelt, also nicht einmal des bösen Ansprechens gewürdigt wurde; wo Du also etwa formell zur Mutter sprachst, aber eigentlich zu mir, der dabeisaß, zum Beispiel: ‹Das kann man vom Herrn Sohn natürlich nicht haben› und dergleichen. (Das bekam dann sein Gegenspiel darin, daß ich zum Beispiel nicht wagte und später aus Gewohnheit gar nicht mehr daran dachte, Dich direkt zu fragen, wenn die Mutter dabei war. Es war dem Kind viel ungefährlicher, die neben Dir sitzende Mutter nach Dir auszufragen, man fragte dann die Mutter: ‹Wie geht es dem Vater?› und sicherte sich so vor Überraschungen.) Es gab natürlich auch Fälle, wo man mit der ärgsten Ironie sehr einverstanden war, nämlich wenn sie einen anderen betraf, zum Beispiel die Elli, mit der ich jahrelang böse war. Es
war für mich ein Fest der Bosheit und Schadenfreude, wenn es von ihr fast bei jedem Essen etwa hieß: ‹Zehn Meter weit vom Tisch muß sie sitzen, die breite Mad› und wenn Du dann böse auf Deinem Sessel, ohne die leiseste Spur von Freundlichkeit oder Laune, sondern als erbitterter Feind übertrieben ihr nachzumachen suchtest, wie äußerst widerlich für Deinen Geschmack sie dasaß. Wie oft hat sich das und ähnliches wiederholen müssen, wie wenig hast Du im Tatsächlichen dadurch erreicht. Ich glaube, es lag daran, daß der Aufwand von Zorn und Bösesein zur Sache selbst in keinem richtigen Verhältnis zu sein schien, man hatte nicht das Gefühl, daß der Zorn durch diese Kleinigkeit des Weit-vom-Tische-Sitzens erzeugt sei, sondern daß er in seiner ganzen Größe von vornherein vorhanden war und nur zufällig gerade diese Sache als Anlaß zum Losbrechen genommen habe. Da man überzeugt war, daß sich ein Anlaß jedenfalls finden würde, nahm man sich nicht besonders zusammen, auch stumpfte man unter der fortwährenden Drohung ab; daß man nicht geprügelt wurde, dessen war man ja allmählich fast sicher. Man wurde ein mürrisches, unaufmerksames, ungehorsames Kind, immer auf eine Flucht, meist eine innere, bedacht. So littest Du, so litten wir. Du hattest von Deinem Standpunkt ganz recht, wenn Du mit zusammengebissenen Zähnen und dem gurgelnden Lachen, welches dem Kind zum erstenmal höllische Vorstellungen vermittelt hatte, bitter zu sagen pflegtest (wie erst letzthin wegen eines Konstantinopler Briefes): ‹Das ist eine Gesellschaft!› Ganz unverträglich mit dieser Stellung zu Deinen Kindern schien es zu sein, wenn Du, was ja sehr oft geschah,
öffentlich Dich beklagtest. Ich gestehe, daß ich als Kind (später wohl) dafür gar kein Gefühl hatte und nicht verstand, wie Du überhaupt erwarten konntest, Mitgefühl zu finden. Du warst so riesenhaft in jeder Hinsicht; was konnte Dir an unserem Mitleid liegen oder gar an unserer Hilfe? Die mußtest Du doch eigentlich verachten, wie uns selbst so oft. Ich glaubte daher den Klagen nicht und suchte irgendeine geheime Absicht hinter ihnen. Erst später begriff ich, daß Du wirklich durch die Kinder sehr littest, damals aber, wo die Klagen noch unter anderen Umständen einen kindlichen, offenen, bedenkenlosen, zu jeder Hilfe bereiten Sinn hätten antreffen können, mußten sie mir wieder nur überdeutliche Erziehungsund Demütigungsmittel sein, als solche an sich nicht sehr stark, aber mit der schädlichen Nebenwirkung, daß das Kind sich gewöhnte, gerade Dinge nicht sehr ernst zu nehmen, die es ernst hätte nehmen sollen. Es gab glücklicherweise davon allerdings auch Ausnahmen, meistens wenn Du schweigend littest und Liebe und Güte mit ihrer Kraft alles Entgegenstehende überwanden und unmittelbar ergriffen. Selten war das allerdings, aber es war wunderbar. Etwa wenn ich Dich früher in heißen Sommern mittags nach dem Essen im Geschäft müde ein wenig schlafen sah, den Ellbogen auf dem Pult, oder wenn Du sonntags abgehetzt zu uns in die Sommerfrische kamst; oder wenn Du bei einer schweren Krankheit der Mutter zitternd vom Weinen Dich am Bücherkasten festhieltest; oder wenn Du während meiner letzten Krankheit leise zu mir in Ottlas Zimmer kamst, auf der Schwelle bliebst, nur den Hals strecktest, um mich im Bett zu sehen und aus Rücksicht nur mit der Hand grüßtest. Zu solchen Zeiten legte man
sich hin und weinte vor Glück und weint jetzt wieder, während man es schreibt. Du hast auch eine besonders schöne, sehr selten zu sehende Art eines stillen, zufriedenen, gutheißenden Lächelns, das den, dem es gilt, ganz glücklich machen kann. Ich kann mich nicht erinnern, daß es in meiner Kindheit ausdrücklich mir zuteil geworden wäre, aber es dürfte wohl geschehen sein, denn warum solltest Du es mir damals verweigert haben, da ich Dir noch unschuldig schien und Deine große Hoffnung war. Übrigens haben auch solche freundliche Eindrücke auf die Dauer nichts anderes erzielt, als mein Schuldbewußtsein vergrößert und die Welt mir noch unverständlicher gemacht.»6 Und wieder ein kleiner Sprung meinerseits bis zu folgendem Text: «Auch Du hast übrigens, entsprechend Deiner ähnlichen Lage mir gegenüber, eine Art Gegenwehr versucht. Du pflegtest darauf hinzuweisen, wie übertrieben gut es mir ging und wie gut ich eigentlich behandelt worden bin. Das ist richtig, ich glaube aber nicht, daß es mir unter den einmal vorhandenen Umständen im wesentlichen genützt hat. Es ist wahr, daß die Mutter grenzenlos gut zu mir war, aber alles das stand für mich in Beziehung zu Dir, also in keiner guten Beziehung. Die Mutter hatte unbewußt die Rolle eines Treibers in der Jagd. Wenn schon Deine Erziehung in irgendeinem unwahrscheinlichen Fall mich durch Erzeugung von Trotz, Abneigung oder gar Haß auf eigene Füße hätte stellen können, so glich das
die Mutter durch Gutsein, durch vernünftige Rede (sie war im Wirrwarr der Kindheit das Urbild der Vernunft), durch Fürbitte wieder aus, und ich war wieder in Deinen Kreis zurückgetrieben, aus dem ich sonst vielleicht, Dir und mir zum Vorteil, ausgebrochen wäre. Oder es war so, daß es zu keiner eigentlichen Versöhnung kam, daß die Mutter mich vor Dir bloß im geheimen schützte, mir im geheimen etwas gab, etwas erlaubte, dann war ich wieder vor Dir das lichtscheue Wesen, der Betrüger, der Schuldbewußte, der wegen seiner Nichtigkeit selbst zu dem, was er für sein Recht hielt, nur auf Schleichwegen kommen konnte. Natürlich gewöhnte ich mich dann, auf diesen Wegen auch das zu suchen, worauf ich, selbst meiner Meinung nach, kein Recht hatte. Das war wieder Vergrößerung des Schuldbewußtseins. Es ist auch wahr, daß Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehenkt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum Gehenktwerden miterleben muß und erst wenn ihm die Schlinge vor dem Gesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang daran zu leiden haben. Überdies sammelte sich aus diesen vielen Malen, wo ich Deiner deutlich gezeigten Meinung nach Prügel verdient hätte, ihnen aber aus Deiner Gnade noch knapp entgangen war, wieder nur ein großes Schuldbewußtsein an. Von allen Seiten her kam ich in Deine Schuld. Seit jeher machtest Du mir zum Vorwurf (und zwar mir allein oder vor anderen, für das Demütigende des
letzteren hattest Du kein Gefühl, die Angelegenheiten Deiner Kinder waren immer öffentlich), daß ich dank Deiner Arbeit ohne alle Entbehrungen in Ruhe, Wärme, Fülle lebte. Ich denke da an Bemerkungen, die in meinem Gehirn förmlich Furchen gezogen haben müssen, wie: ‹Schon mit sieben Jahren mußte ich mit dem Karren durch die Dörfer fahren.› ‹Wir mußten alle in einer Stube schlafen.› ‹Wir waren glücklich, wenn wir Erdäpfel hatten.› ‹Jahrelang hatte ich wegen ungenügender Winterkleidung offene Wunden an den Beinen.› ‹Als kleiner Junge mußte ich schon nach Pisek ins Geschäft.› ‹Von zuhause bekam ich gar nichts, nicht einmal beim Militär, ich schickte noch Geld nach Hause.› ‹Aber trotzdem, trotzdem – der Vater war immer der Vater. Wer weiß das heute! Was wissen die Kinder! Das hat niemand gelitten! Versteht das heute ein Kind?) Solche Erzählungen hätten unter anderen Verhältnissen ein ausgezeichnetes Erziehungsmittel sein können, sie hätten zum Überstehen der gleichen Plagen und Entbehrungen, die der Vater durchgemacht hatte, aufmuntern und kräftigen können. Aber das wolltest Du doch gar nicht, die Lage war ja eben durch das Ergebnis Deiner Mühe eine andere geworden, Gelegenheit, sich in der Weise auszuzeichnen, wie Du es getan hattest, gab es nicht. Eine solche Gelegenheit hätte man erst durch Gewalt und Umsturz schaffen müssen, man hätte von zu Hause ausbrechen müssen (vorausgesetzt, daß man die Entschlußfähigkeit und die Kraft dazu gehabt hätte und die Mutter nicht ihrerseits mit anderen Mitteln dagegen gearbeitet hätte). Aber das alles wolltest Du doch gar nicht, das bezeichnetest Du als Undankbarkeit, Überspanntheit, Ungehorsam, Verrat, Verrücktheit. Während Du also von einer Seite durch Beispiel, Er
zählung und Beschämung dazu locktest, verbotest Du es auf der anderen Seite allerstrengstens. Sonst hättest Du zum Beispiel, von den Nebenumständen abgesehen, von Ottlas Zürauer Abenteuer eigentlich entzückt sein müssen. Sie wollte auf das Land, von dem Du gekommen warst, sie wollte Arbeit und Entbehrungen haben, wie Du sie gehabt hattest, sie wollte nicht Deine Arbeitserfolge genießen, wie auch Du von Deinem Vater unabhängig gewesen bist. Waren das so schreckliche Absichten? So fern Deinem Beispiel und Deiner Lehre? Gut, die Absichten Ottlas mißlangen schließlich im Ergebnis, wurden vielleicht etwas lächerlich, mit zuviel Lärm ausgeführt, sie nahm nicht genug Rücksicht auf ihre Eltern. War das aber ausschließlich ihre Schuld, nicht auch die Schuld der Verhältnisse und vor allem dessen, daß Du ihr so entfremdet warst? War sie Dir etwa (wie Du Dir später selbst einreden wolltest) im Geschäft weniger entfremdet, als nachher in Zürau? Und hättest Du nicht ganz gewiß die Macht gehabt (vorausgesetzt, daß Du Dich dazu hättest überwinden können), durch Aufmunterung, Rat und Aufsicht, vielleicht sogar nur durch Duldung aus diesem Abenteuer etwas sehr Gutes zu machen? Anschließend an solche Erfahrungen pflegtest Du in bitterem Scherz zu sagen, daß es uns zu gut ging. Aber dieser Scherz ist in gewissem Sinn keiner. Das, was Du Dir erkämpfen mußtest, bekamen wir aus Deiner Hand, aber den Kampf um das äußere Leben, der Dir sofort zugänglich war und der natürlich auch uns nicht erspart bleibt, den müssen wir uns erst spät, mit Kinderkraft im Mannesalter erkämpfen. Ich sage nicht, daß unsere Lage deshalb unbedingt ungünstiger ist als es Deine war, sie ist jener vielmehr wahrscheinlich gleichwertig – (wobei
allerdings die Grundanlagen nicht verglichen sind), nur darin sind wir im Nachteil, daß wir mit unserer Not uns nicht rühmen und niemanden mit ihr demütigen können, wie Du es mit Deiner Not getan hast. Ich leugne auch nicht, daß es möglich gewesen wäre, daß ich die Früchte Deiner großen und erfolgreichen Arbeit wirklich richtig hätte genießen, verwerten und mit ihnen zu Deiner Freude hätte weiterarbeiten können, dem aber stand eben unsere Entfremdung entgegen. Ich konnte, was Du gabst, genießen, aber nur in Beschämung, Müdigkeit, Schwäche, Schuldbewußtsein. Deshalb konnte ich Dir für alles nur bettlerhaft dankbar sein, durch die Tat nicht.»7 Eine Passage über die Mutter ist bemerkenswert: «Wollte ich vor Dir fliehn, mußte ich auch vor der Familie fliehn, selbst vor der Mutter. Man konnte bei ihr zwar immer Schutz finden, doch nur in Beziehung zu Dir. Zu sehr liebte sie Dich und war Dir zu sehr treu ergeben, als daß sie in dem Kampf des Kindes eine selbständige geistige Macht für die Dauer hätte sein können. Ein richtiger Instinkt des Kindes übrigens, denn die Mutter wurde Dir mit den Jahren immer noch enger verbunden; während sie immer, was sie selbst betraf, ihre Selbständigkeit in kleinsten Grenzen schön und zart und ohne Dich jemals wesentlich zu kränken, bewahrte, nahm sie doch mit den Jahren immer vollständiger, mehr im Gefühl als im Verstand, Deine Urteile und Verurteilungen hinsichtlich der Kinder blindlings über, besonders in dem allerdings schweren Fall der Ottla. Freilich muß man immer im Gedächtnis behalten, wie quälend und
bis zum letzten aufreibend die Stellung der Mutter in der Familie war. Sie hat sich im Geschäft, im Haushalt geplagt, alle Krankheiten der Familie doppelt mitgelitten, aber die Krönung alles dessen war das, was sie in ihrer Zwischenstellung zwischen uns und Dir gelitten hat. Du bist immer liebend und rücksichtsvoll zu ihr gewesen, aber in dieser Hinsicht hast Du sie ganz genauso wenig geschont, wie wir sie geschont haben. Rücksichtslos haben wir auf sie eingehämmert, Du von Deiner Seite, wir von unserer. Es war eine Ablenkung, man dachte an nichts Böses, man dachte nur an den Kampf, den Du mit uns, den wir mit Dir führten, und auf der Mutter tobten wir uns aus. Es war auch kein guter Beitrag zur Kindererziehung, wie Du sie – ohne jede Schuld Deinerseits natürlich – unseretwegen quältest. Es rechtfertigte sogar scheinbar unser sonst nicht zu rechtfertigendes Benehmen ihr gegenüber. Was hat sie von uns Deinetwegen und von Dir unseretwegen gelitten, ganz ungerechnet jene Fälle, wo Du recht hattest, weil sie uns verzog, wenn auch selbst dieses ‹Verziehn› manchmal nur eine stille, unbewußte Gegendemonstration gegen Dein System gewesen sein mag. Natürlich hätte die Mutter das alles nicht ertragen können, wenn sie nicht aus der Liebe zu uns allen und aus dem Glück dieser Liebe die Kraft zum Ertragen genommen hätte.»8 Zum Schluß seien noch die folgenden Sätze aus der Mitte des Briefes zitiert: «Ich wiederhole zum zehntenmal: ich wäre wahrscheinlich auch sonst ein menschenscheuer, ängstlicher Mensch geworden, aber von da ist noch ein langer, dunkler Weg
dorthin, wohin ich wirklich gekommen bin. (Bisher habe ich in diesem Brief verhältnismäßig weniges absichtlich verschwiegen, jetzt und später werde ich aber einiges verschweigen müssen, was – vor Dir und mir – einzugestehen, mir noch zu schwer ist. Ich sage das deshalb, damit Du, wenn das Gesamtbild hie und da etwas undeutlich werden sollte, nicht glaubst, daß Mangel an Beweisen daran schuld ist, es sind vielmehr Beweise da, die das Bild unerträglich kraß machen könnten. Es ist nicht leicht, darin eine Mitte zu finden.) Hier genügt es übrigens, an Früheres zu erinnern: Ich hatte vor Dir das Selbstvertrauen verloren, dafür ein grenzenloses Schuldbewußtsein eingetauscht. (In Erinnerung an diese Grenzenlosigkeit schrieb ich von jemandem einmal richtig: ‹Er fürchtet, die Scham werde ihn noch überleben.›) Ich konnte mich nicht plötzlich verwandeln, wenn ich mit anderen Menschen zusammenkam, ich kam vielmehr ihnen gegenüber noch in tieferes Schuldbewußtsein, denn ich mußte ja, wie ich schon sagte, das an ihnen gutmachen, was Du unter meiner Mitverantwortung im Geschäft an ihnen verschuldet hattest. Außerdem hattest Du ja gegen jeden, mit dem ich verkehrte, offen oder im geheimen etwas einzuwenden, auch das mußte ich ihm abbitten. Das Mißtrauen, das Du mir in Geschäft und Familie gegen die meisten Menschen beizubringen suchtest (nenne mir einen in der Kinderzeit irgendwie für mich bedeutenden Menschen, den Du nicht wenigstens einmal bis in den Grund hinunterkritisiert hättest) und das Dich merkwürdigerweise gar nicht besonders beschwerte (Du warst eben stark genug es zu ertragen, außerdem war es in Wirklichkeit vielleicht nur ein Emblem des Herrschers) – dieses Mißtrauen, das sich mir
Kleinem für die eigenen Augen nirgends bestätigte, da ich überall nur unerreichbar ausgezeichnete Menschen sah, wurde in mir zu Mißtrauen zu mir selbst und zur fortwährenden Angst vor allem andern. Dort konnte ich mich also im allgemeinen vor Dir gewiß nicht retten.»9 Und nun zum Kommentar: Fraglos wird uns hier (soweit wir Kafka Glauben schenken können, was ich selber nicht bezweifle) ein Fall geschildert, in dem einem Kind – auch als späterem Erwachsenen noch – pausenlos Anerkennung versagt wird in Form von mangelnder Rücksichtnahme auf seine natürlichen Schwächen einerseits, andererseits und vornehmlich durch Invalidierung, das heißt durch Abwertung seiner potentiellen und aktuellen, sich entwickelnden Kompetenzen, die bei Kafka akzentuiert in seinen intellektuellen und verbalen Fähigkeiten lagen. Im Ganzen gesehen werden seine körperliche wie seelische Lage, seine Neigungen wie sein Denken und Sprechen, also alles, was er ist und sein kann, entweder ignoriert oder marginalisiert – an den Rand gedrängt – oder diffamiert, entwertet. Dagegen wird, was er nicht ist und nicht sein kann, aber dem Wunsch des Vaters nach sein sollte und zugleich wieder nicht, wie Kafka sehr deutlich sieht, als indirekter Schuldvorwurf, als Vorwurf, ein «Versager» zu sein, gegen das Kind gekehrt. Die Folgen, von denen ich zuerst sprechen will, um erst dann Kafkas Vater unter verschleierungsstrategischen Gesichtspunkten in Angriff zu nehmen, waren für Kafka verheerend. – Nicht nur hat er sich, wie er im Brief ja deutlich genug artikuliert, und zwar sowohl im ständigen Hin und Her zwischen Vorwürfen gegen den Vater, die er
aber dann doch nicht als Schuld an diesem festmachen möchte, als auch in den Vorwürfen gegen sich selbst, die er aber gleichzeitig in durchaus eher hilflosen Rechtfertigungsversuchen auf sich selber nicht als Schuld sitzen lassen möchte, sowie in dem klaren Bekenntnis, von ewigen Schuldgefühlen geplagt zu sein, sein Leben lang als Versager, sondern auch als jemand gefühlt, der irgendwo schuldig ist, ohne zu wissen warum. Immer auf der Suche nach einem Grund, den er aber nicht finden kann, einer undurchschauten und ewig undurchschaubaren Macht ausgeliefert, die ihn verurteilt und der man es durch nichts recht machen kann. Wie Alice Miller in ihrer Kafka-Analyse aufgezeigt hat, spiegeln daher auch Kafkas Erzählungen nicht nur eine derart erfahrene «Welt» wider, sondern vor allem eine Erfahrung von Welt, die sich seiner spezifischen Kindheitserfahrung verdankt – was übrigens nicht heißen soll, daß sein Weltbild deshalb falsch ist, eher im Gegenteil, aber auf diese Seite des Problems kann ich hier nicht eingehen. Daß Alice Miller in ihrer Deutung richtig liegt, läßt sich durch Kafka selbst bezeugen, insofern er in dem zitierten «Brief an den Vater» schreibt: «Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte. Es war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur daß er zwar von Dir erzwungen war, aber in der von mir bestimmten Richtung verlief.»10 Wie immer imponierend wir daher das literarische Werk Kafkas empfinden mögen und dabei zu dem Schluß verleitet werden, er habe es doch eben dadurch zu etwas,
ja zu sehr viel gebracht, habe wenigstens seine Identität ins Schreiben hinübergerettet: Wir dürfen uns dadurch gerade nicht davon ablenken lassen, daß er sein eigenes Leben als verunglückt empfand und als ständiges Scheitern durchlebte. Es war ihm sein literarisches Werk, das seiner authentischen Kompetenz entsprang, kein Trost geschweige denn eine Kompensation, aus der er Glück oder Befriedigung hätte schöpfen können – seltene öffentliche Lesungen vor Publikum ausgenommen. Vielmehr bedachte er sein Werk mit einer partiellen Nichtachtung, die so weit ging, daß er seinen Freund Max Brod darum bat, seine unveröffentlichen Manuskripte – und das waren nicht wenige – nach seinem Tode zu vernichten (was dieser nicht tat). Außerstande, aus seiner literarischen Tätigkeit genügend Selbstwertgefühl zu ziehen, das ihn zumindest von Schuldgefühlen befreit hätte, sah sich Kafka gleichermaßen außerstande, sein Glück in sexuellen Beziehungen zu finden bzw., wie er es selber wünschte, diese in Form einer Heirat zu festigen, die er vor allem deshalb, wie er im «Brief an den Vater» ebenfalls schreibt, erstrebte, um wenigstens auf der konventionellen Ebene von sogenanntem «Lebensglück» mit dem Vater «gleichzuziehen». Alle seine Heiratswünsche scheiterten am Vater, an widrigen Umständen, letztlich an ihm selbst, weil er – unterstelle ich – eigentlich lieber ein Versager bleiben wollte. Insbesondere aber blieb er sein Leben lang auf seine Familie, bei der er, bis auf zwei Jahre und mit Ausnahme des letzten Jahres vor seinem Tod auch wohnte, fixiert, vor allem auf den Vater, um dessen Anerkennung er weiter und weiter sich bemühte, um sie immer wieder und wieder versagt zu bekommen. Wie Max Brod berichtet, etwa so: «Eines seiner Bücher ‹Der Landarzt›
widmete er dem Vater. Die Antwort, mit der der Vater das Buch entgegennahm (gewiß nicht schlimm gemeint, sagt Max Brod! H. H.) wurde von Franz oft zitiert. Der Vater sagte nur ‹leg’s auf den Nachttisch).»11 Zu all dem kommt hinzu, daß Kafkas große Intelligenz ihn zwar befähigte, seine spezifische, schuldbelastete Selbst- und Welterfahrung in faszinierender Weise und mit durchaus hellsichtigem Sinn für ihre «Repräsentativität», ihre Verallgemeinerungsfähigkeit, literarisch zu dokumentieren, daß er aber ihren verschleierungsstrategischen Grund und die in diesem enthaltene ausbeuterische Absicht nur partiell, nicht wirklich durchschaute. Ob er es nicht konnte oder nicht wollte, spielt keine Rolle. Jedenfalls wagte er selbst als 36jähriger nicht, den Vater als das zu sehen, was er war: ein prototypischer Verschleierungsstratege, der seinen Sohn tatsächlich nicht liebte, vielmehr, wie auch die anderen Kinder, nur als Publikum für die Inszenierung seines aufgeblähten kleinbürgerlichen Krämer-Selbsts mißbrauchte, kurzum: ein schäbiger Lump. Ich sage das mit Absicht so hart, weil ich meine, daß Verschleierungsstrategien und deren Nichtdurchschaubarkeit ganz primär im Eltern-Kind-Verhältnis verankert sind, wir aber eben deshalb dazu neigen, Eltern zu «verschönen». Die von den Eltern betriebene Verschleierung ihrer eigenen Defizienz, die Kafka nicht gänzlich aufzudecken wagte – im übrigen half ihm dabei auch seine «befreundete» Umwelt nicht, auch Max Brod zum Beispiel verharmlost den Vater, erst recht aber die Mutter –, ließ ihn sich aber immer tiefer in die Opferrolle verstricken. Wie Alice Miller meint, verdankt er ihr vermutlich sogar seine Tuberkuloseerkrankung – psychosomatisch – und damit seinen frühzeitigen Tod. Wie ich meine, verdankt er ihr
zumindest die Ergebenheit, mit der er sich in diese Krankheit schickte, die Kampflosigkeit, mit der er ihr begegnete. Man kann fast sagen, daß er sie freudig begrüßte, um sich endlich opfern zu können, endlich sich dem Nichts anheimgeben zu können, in das sein Vater ihn aus seiner Sicht wünschte, um seiner Schuld zu entkommen, indem er sie büßte, obwohl er sie nicht anerkannte. Ich bezeichne diese Opferbereitschaft Kafkas, die wir bei vielen anderen auch finden, mit dem Begriff «ÄneasKomplex». Äneas war der einzige überlebende junge Mensch in Troja, der seinen greisen Vater auf seinen Schultern aus dem brennenden Troja rettete, und ist dann zum Gründungsvater Roms erklärt worden, weil die Römer ihre gesamte Gesellschaft auf der pietas, auf der Ehrfurcht vor den Eltern, aufgebaut haben. Weil Äneas sich als junger Mensch in Lebensgefahr bringt, um den greisen Vater zu retten, nenne ich dieses Phänomen den Äneas-Komplex und werde darauf auch später noch einmal zurückkommen. Soweit zu den verheerenden Folgen der Anerkennungsverweigerung, die Kafka in seinem Elternhaus erfuhr. Ich will aber auch noch ihren strategischen Charakter, wenngleich kurz, beleuchten: Als einfache Invalidierungsstrategie ist das Verhalten des Vaters leicht erkennbar, allerdings nur, weil Kafka es schon selber als eine solche beschreibt, auch wenn er diesen Begriff nicht benützt. Er sieht aber ganz deutlich, daß der Vater ihn abwerten, ja sogar demütigen wollte. Was er weniger genau durchschaut, wenngleich «illustriert», läßt sich von außen betrachtet dahingehend charakterisieren, daß Kafkas Vater nicht nur die Strategie der Invalidierung beherrschte, sondern auch die der (Selbst-)
Mystifikation durch Inversion, und zwar gleich dreifach, das heißt, alles, was er dem Sohn an positiv gewerteten Eigenschaften abspricht, spricht er sich selber zu, und zwar in dreierlei Hinsicht bzw. dreierlei Formen der symbolischen Überhöhung: Erstens ist er vitaler und deshalb in der Lage zu geben, während der Sohn schwach ist und nur nehmen kann. Der Vater ist der Geber, und zwar auch hier, trotz seiner realen Geberschaft – er hat ja tatsächlich Geld verdient (wiewohl vermutlich die Mutter die Geschäftstüchtigere war!), die Kinder haben sich von ihm ernährt, und er hat auch Kafkas Jurastudium finanziert –, in symbolischer Erhöhung, insofern er die materielle Unterstützung überbewertet gegenüber der seelisch-geistigen, um damit seine Unfähigkeit, letztere zu geben, zu kaschieren. Mit der Betonung seiner Geberschaft gestaltet er zudem das Vater-Sohn-Verhältnis extrem asymmetrisch, insofern er durchblicken läßt, daß er, aus unerklärlichen Gründen, auf Dank nicht hoffen kann (obwohl er «seufzend» meint, irgendeinen hätte er doch eigentlich verdient), und indem er darüber hinaus das Imponierende seiner Geberschaft noch überhöht, d. h. zur Aufopferung stilisiert, obwohl es sein eigener Wunsch war, ein gewinnmachender Geschäftsmann zu werden, dementsprechend viel dafür zu arbeiten und eine große Familie zu haben, in der er patriarchalisch residieren konnte. Das war sein Wunsch, er hat sich nicht von seiner Frau überreden lassen.12 Zweitens spricht der Vater dem Sohn Qualitäten ab, sich aber sogar Tugenden zu, und zwar die drei «klassischen»: Weisheit – er hat immer recht –, Tapferkeit – da er ständig davon spricht, wie schwer er es in seiner Kindheit gehabt hat und was er alles arbeiten mußte, damit er es überhaupt soweit bringen konnte, um jetzt seine Familie zu ernähren
–, Besonnenheit – nämlich ein abgewogenes Urteil, vor allem in praktischen Dingen –, und außerdem hat er auch noch eine bürgerliche Tugend: Er ist ja so ehrlich. Er ist also insofern omnikompetent, allmächtig als Geber, der nichts nimmt, allwissend und reinen Herzens. Drittens, und das ist vielleicht für Kafka am fatalsten gewesen, präsentiert der Vater sich schließlich auch noch als Opfer. Er opfert sich nicht nur auf, er leidet auch und will bemitleidet werden, während seine Kinder natürlich gar keine Sorgen haben – die nimmt er ihnen ja ständig ab. Stellen Sie sich ein Kind vor, das, in der Tat klein und schwach, so zum Sorgenträger – wie ich das nennen möchte – seiner Eltern, hier insbesondere des Vaters, wird, also Sorgen tragen soll, die es unmöglich tragen kann, die ihm aber noch dazu als Sorgen, die um seinetwillen bestehen, vorgeführt werden. Wer bräche unter dieser Last nicht mit unauflösbaren Schuldgefühlen zusammen – zumal dieselben gleichzeitig induziert wurden, indem man als asymmetrischer Nehmer und untauglich, untugendhaft definiert worden ist? Andere als Kafka, zum Beispiel Fritz Mertens, ein junger Mann, der im Gefängnis ein bemerkenswertes Buch geschrieben hat («Ich wollte Liebe und lernte hassen»), sind über einer solchen oder ähnlich gelagerten Situation zum Mörder geworden – «natürlich» nicht an den eigenen Eltern.13 Ich fasse, den Vater betreffend, kurz zusammen: Alle Menschen, insbesondere Kinder, haben ein Anerkennungsbedürfnis. Kinder wollen gut sein und brauchen die Bestätigung dafür in erster Linie von ihren Eltern. Bekommen sie diese Bestätigung nicht oder falsch, entwickeln sie Schuldgefühle. Kafkas Vater verweigerte seinem Sohn diese Bestätigung, weil er ihn – wie ich sagte
– nicht liebte. Aber nicht nur deshalb, denn dann hätte er Verschleierungsstrategien nicht zwangsläufig nötig gehabt. Daß er sich als «gütiger Geber», tugendhaftes Idol und gar als Opferlamm aufspielte, ist, wie ich meine, nur dadurch zu erklären, daß er seine mangelnde Liebe verleugnen mußte, weil er den Sohn brauchte, und zwar aus parasitären Gründen, welche es zu verschleiern galt, wenn er trotzdem Erfolg haben wollte. De facto behandelte er nämlich seinen Sohn und alle anderen Kinder nicht nur ungerecht im Sinne von inadäquat, sondern invertierte diese Ungerechtigkeit sogar symbolisch zu einer scheinbar höchsten Form von Gerechtigkeit, nämlich zu seiner gnädigen Herablassung, um doppelt Unrecht zu tun, das heißt, den Sohn auszubeuten. Auszubeuten, indem er ihn durch Abhängigmachung, also auf dessen seelische Kosten, als Publikum seiner Selbsterbauung, seiner eigenen Allmachtsphantasien, die er genießerisch auskostete, an sich fesselte. Doch ich will die Mutter nicht schonen, und daher noch einige Worte zu ihr: Obwohl Kafka sie mystifiziert, sah er doch auch ihre Schuld, die man allerdings kaum besser als er selber formulieren kann. Sie war der «Treiber». Sie stabilisierte unter dem Deckmantel der Liebe und Versöhnung die Strategien des Vaters und damit die Unterwerfung des Sohnes. Auch sie liebte ihren Sohn in Wirklichkeit nicht, aber sie verschleierte das mit der in diesem Fall geradezu als paradox zu bezeichnenden «Strategie der Liebe».14 Nebenbei ist allerdings anzumerken, daß das Verhalten der Mutter sicherlich nicht wenig dazu beigetragen hat, daß Kafka keineswegs nur als Opfer unser Mitleid verdient. Denn zwar wurde er im Verhältnis zum Vater zum Opfer, wurde aber, während er die Mutter «schonte», sehr wohl
im Verhältnis zu Frauen im allgemeinen, die er lieber erzog, bevormundete, gängelte und zum Sorgenträger degradierte, als mit ihnen ins Bett zu gehen – außer im Bordell, aber da waren sie ja statt Kindern und Müttern Huren –, selbst zum «Täter». Zum Abschluß sei noch einmal Kafka mit einer Passage zitiert, in der er die Mutter zwar nicht, strategisch gesehen, durchschaut, aber tragisch intuitiv ihre Wirkung auf ihn erfaßt: «Jedenfalls verhalte ich mich heute zur Tuberkulose, wie ein Kind zu den Rockfalten der Mutter, an die es sich hält. Kommt die Krankheit von der Mutter, stimmt es noch besser, und die Mutter hätte mir in ihrer unendlichen Sorgfalt, weit unter ihrem Verständnis der Sache, auch noch diesen Dienst getan. Immerfort suche ich eine Erklärung der Krankheit, denn selbst erjagt habe ich sie doch nicht. Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. ‹So geht es nicht weiter› hat das Gehirn gesagt, und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt zu helfen.»15
3. Die Gründe der Wirksamkeit von sanfter Gewalt: Die Sanktionierung von Geschlechterklischees und die «Maske des Begehrens» Meine bisherigen Ausführungen dienten dem Zweck, die psychologische und soziale Dimension der Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien am Beispiel Franz Kafkas zu verdeutlichen. Der Akzent lag auf der Verdeutlichung des psychosozialen Dispositivs in uns selber, das sich Menschen, die mit Verschleierungsstrategien operieren, zunutze machen können, und ich identifizierte dieses Dispositiv als unseren Wunsch nach Anerkennung, der uns, sofern uns letztere verweigert oder falsch gewährt wird, zu Opfern oder Tätern in einem je spezifischen Ausbeutungskontext prädisponiert – unter Umständen lebenslang und mit tödlichem Ausgang, wie das bei Kafka der Fall war –, vor allem dann, wenn die Kindheit schon Schauplatz strategischer Vereinnahmung unserer Person war, was sie in der bürgerlichen Gesellschaft nur selten nicht ist. Ich möchte nunmehr, im Rahmen der Verdeutlichung der psychosozialen Dimension der Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien, aber zugleich über diesen Rahmen hinausgehend, den Akzent auf den Kontext der sozialen Sanktion verlagern, der die Wirksamkeit von scheinbar individuellen Alltagsstrategien bedingt. Hierzu verlasse ich das Beispiel Kafkas und übersteige den Kontext der sozialen Sanktionen, denen wir in unserer Kindheit ausgeliefert sind, zugunsten des Eintritts in den größeren
Kontext von sozialen Sanktionen, denen wir in unserem Erwachsenenleben ausgesetzt sind – worin die Kindheit natürlich eingeschlossen ist. Aus bestimmten Gründen konzentriere ich mich diesen Kontext betreffend auf einen ganz spezifischen, nämlich auf den Kontext der sozialen Sanktion von Geschlechterklischees, durch den individuelle, verschleierte wie unverschleierte, Unrechtshandlungen in der Interaktion der Geschlechter sozial abgedeckt oder abgesichert werden, und zwar primär Unrechtshandlungen von Männern gegen Frauen, sekundär aber auch Unrechtshandlungen von Männern gegen Männer. Bevor ich meine Gründe dafür nenne, warum ich diesen speziellen Kontext der Geschlechterklischees ins Visier nehme, möchte ich vorweg bemerken, daß ich, da die zur Debatte stehenden Klischees dualistischer Natur sind, im folgenden, das Gesamtphänomen auf einen verkürzten Begriff bringend, auch einfach von Geschlechterdualismus sprechen werde. Unter Geschlechterdualismus verstehe ich die gesamtgesellschaftliche Sanktionierung von Bildern über Männer und Frauen, nach denen diese als Gegensätze begriffen werden, die Gegensätze als naturgegeben, als Wesen der Klasse Mann oder Frau, festgeschrieben werden und eine Bewertung enthalten, die für Männer «positiv» bzw. günstig ist, für Frauen dagegen «negativ» bzw. ungünstig ist – oft bis ins gnostisch-dualistische Extrem des Gegensatzes von Gut und Böse sich steigernd. Aber nun zu den Gründen dafür, daß ich mich in diesem meinem zweiten Schritt zur Verdeutlichung der psychoso-zialen Dimension der Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien auf den Geschlechterdualismus stürze. In Erinnerung an mein Anfangsbeispiel vom Feuergeben, an die ach so kleine, banale Höflichkeits
geste, die in der Regel auch als solche sozial anerkannt und daher verharmlost wird, die sich aber bei näherer Betrachtung als Invalidierungs- und Inversionsstrategie entlarven läßt, mit der Folge für den weiblichen Part (die Feuernehmerin), im Selbstwertgefühl und dadurch auch im Denken irritiert zu sein sowie sich auf der Basis unbewußter Schuldgefühle verpflichtet zu fühlen («er ist doch so nett, da kann ich doch nicht aggressiv werden, widersprechen oder mich unhöflich abwenden» usw.) – in Erinnerung an dieses Beispiel vom Feuergeben erinnere ich zugleich daran, daß ich auch sagte, daß der Verlust des Selbstvertrauens und die dadurch bewirkte Lähmung des Denkens natürlich nur dann von verheerender bzw. dauerhafterer Wirkung sind, wenn solche Handlungen gehäuft vorkommen. Gehäuft treten aber Handlungen immer nur auf, wenn sie sozial sanktioniert sind, und zwar durch einen gesamtgesellschaftlichen Konsens, den Konsens einer Gruppenmajorität oder eines bestimmten Milieus, in dem man verkehrt. Nehmen wir das Beispiel des Feuergebens als einen exemplarischen Fall für abwertendes Verhalten von Männern gegenüber Frauen, so ist, und zwar ausgerechnet für unsere aktuelle demokratische Gegenwart, festzustellen, daß solche Verhaltensweisen, ob sie nun direkt abwertend oder mystifizierend verdreht abwertend sind, in einem geradezu äußersten Maße gehäuft auftreten und, wie zu erwarten, natürlich auch durch die Akzeptanz geschlechterdualistischer Klischees sozial sanktioniert sind, obwohl unser Grundgesetz die Gleichberechtigung von Mann und Frau vorschreibt. Indem ich den Geschlechterdualismus der Gegenwart ins Blickfeld rücke, möchte ich daher zwei Fliegen mit ei
ner Klappe schlagen. Nicht nur soll er dazu dienen, die sozial bedingte Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien des privaten Alltags in unserer Gegenwart zu illustrieren, er soll mir zugleich dazu dienen, ihn als ein unsere heutige Situation massiv bestimmendes Phänomen zu identifizieren, das nicht nur private Verschleierungsstrategien sozial sanktioniert, sondern selbst eine Verschleierungsstrategie ist, die unser politisches System bzw. dessen Wirklichkeit, soweit sie ungerecht oder ausbeuterisch ist, stabilisiert. In anderen Worten: Ich möchte klarmachen, daß geschlechterdualistische Klischees keine altmodischen Vorurteile sind, die man so einfach abschütteln kann, und zwar, weil sie uns täglich begegnen, vor allem täglich neu in neuem Gewande produziert und verbreitet werden. Ebenso möchte ich klarmachen, daß geschlechterdualistische Klischees nicht deshalb von Tag zu Tag neu produziert und verbreitet werden, weil die Leute, die sie produzieren, zu dumm, zu faul, zu träge wären, um sie als Vorurteile zu überwinden, sondern weil sich durch die Produktion solcher angeblicher Vorurteile parasitäre Vorteile (vornehmlich Vorteile von Männern auf Kosten von Frauen, aber auch Vorteile von Männern auf Kosten von Männern) erzielen lassen. Ein Umstand, der aber eben gerade durch die Produktion geschlechterdualistischer Klischees verschleiert wird. Sowohl die massive Omnipräsenz des Geschlechterdualismus in der Gegenwart als auch sein strategischer Charakter sind zwar in der feministischen Forschung registriert und beschrieben, aber auch dort bisher nicht genügend in ihrer politischen Funktionalität, ihrer Systemdienlichkeit, durchschaut worden. Erst recht wird letztere in der politischen Wissenschaft, die sich vor allem in Deutschland zunehmend auf rein organisatorische
Aspekte des Funktionierens von Politik kapriziert, so als wäre Politik eine reine Organisationsfrage und nicht zugleich eine Frage von Bewußtseinspolitik und Lebenssinnformulierung, nicht durchschaut – sie überläßt uns diesbezüglich einer gähnenden Leere, die dringend der Ausfüllung bedarf. Aus diesen Gründen widme ich mich dem Geschlechterdualismus konzentriert, und zwar nicht nur hier dem gegenwärtigen, sondern auch noch in anderen Kapiteln dem von sogenannten Primitivkulturen sowie partiell dem der antiken griechischen Demokratie, weil man sagen kann, daß Geschlechterdualismus, als Strategie betrachtet, das Fundament schlechthin aller ausbeuterischen oder ungerechten Politik ist – vor allem dann, wenn sie ihren ausbeuterischen Charakter verschleiern möchte. Der Geschlechterdualismus stellt außerdem, wie Godelier in seinem Werk über die «Produktion der großen Männer» vermerkt, quasi eine Primärstrategie dar, die im Kern alle prototypischen Strukturelemente sonstiger Verschleierungsstrategien enthält, und ist daher als Veranschaulichungsbeispiel bestens geeignet. Soviel zu den Gründen meines Vorgehens, und nun zur Sache selber. Ich komme zuerst zur Art und Verbreitung gegenwärtiger Klischees über Mann und Frau, dann zur täglichen Interaktion zwischen Männern und Frauen und inwiefern diese durch die bestehenden Klischees mit Hilfe einer doppelten Verklärung bzw. Mystifikation sanktioniert wird, um schließlich in einem Exkurs die vielleicht für unsere Zeit prototypischste Form der sanften Gewalt zu illustrieren, nämlich die Verschleierung echter Gewalt durch deren erotisch-sexuelle Verklärung. Männer sind Denker, Kämpfer, Experten. Männer, vor
allem erfolgreiche, sind risikofreudig und abenteuerlustig, aktiv und initiativ. Der Erfolg, den sie haben, setzt sie instand, ihre Familien zu ernähren und ihren Frauen Geschenke zu machen. Frauen dagegen sind dümmer, emotional labil und bedürfen der Hilfe. Sie sind passiv und sorgen sich lieber um Haus, Mann und Kind. Während Männer die Außenwelt erobern, interessieren sich Frauen nur für ihr eigenes Äußeres. Das Verhältnis zwischen Männern und Frauen definiert sich dadurch, daß Frauen Männer brauchen, während Männer lieber «frei» sein wollen. Dennoch sind sie für Frauen da, als Versorger, Beschützer, als Retter in der Not, vor allem erobern sie Frauen sexuell, was Frauen entgegenkommt, denn diese bieten sich als sexuelles Objekt an, obwohl sie am liebsten gegen ihren Willen begehrt werden wollen. Mit Stereotypen dieser und ähnlicher Art werden wir tagtäglich bombardiert – als durchschnittliche Erwachsene in Film und Fernsehen, in Zeitschriften und Romanen, vor allem in der sog. Trivialliteratur, als Kinder in der Schule, im schulischen Alltag sowie in Schulbüchern, die wir dort zu lesen bekommen. Auch die Flucht in Universität und Wissenschaft nützt da nicht immer. Denn wenngleich sich in den Werken der empirischen Forschung ein Konsens darüber finden läßt, daß solche Bilder nicht der angeborenen Natur von Mann und Frau entsprechen, sondern – soweit sie als Verhaltensweisen dennoch auftreten – höchstens anerzogen sind, vernachlässigt diese doch, soweit sie nicht feministisch orientiert ist, den politisch-strategischen Aspekt der fortlaufenden Produktion solcher Bilder. Ich zitiere aus dem Band von Christiane Schmerl über «Frauenfeindliche Werbung»:
«Der bekannte amerikanische Soziologe Erving Goffman (1977) hat in einer Analyse von Zeitschriftenwerbung festgestellt, daß sich auf Reklamebildern bestimmte, immer wiederkehrende stereotype Darstellungsformen für die Interaktionen von Männern und Frauen aufweisen lassen. Er untersuchte auf den von ihm ausgewählten Fotos die Gesten, Haltungen und Ausdrucksbewegungen der abgebildeten weiblichen und männlichen Personen sowie den gesamten Bildaufbau als eine Form nichtverbaler Kommunikation. Er konnte aufzeigen, daß sich auf den Werbebildern auf seiten der Männer Dominanz, Expertentum, Initiative und körperliche Überlegenheit, auf seiten der Frauen Unterlegenheit, Unwissenheit, Passivität, Schwäche und körperliche Verfügbarkeit aus dem Zueinander der gezeigten Personen deutlich ablesen ließen. Goffmans Ergebnisse sind aufschlußreich und anregend, sowohl hinsichtlich der Rolle der Frau in der Werbung als auch im Hinblick auf neue, empfindlichere Methoden, Stereotype in sozialen Interaktionen zu erforschen. Goffmans Vorgehensweise ist hier jedoch noch aus einem anderen Grunde bemerkenswert: Goffman beschäftigt sich mit der geschlechtstypischen Interaktion in der Werbung in derselben abgehobenen und distanzierten Weise, in der er auch irgendwelche Kommunikationsformen bei fremden Eingeborenenstämmen untersucht. Seine Beobachtungen sind die eines interessierten, aber persönlich nicht betroffenen Wissenschaftlers, der Kommunikationsrituale untersucht, um bestimmte Hierarchien und Regelmäßigkeiten aufzuzeigen. Er beschreibt interessante Phänomene der visuellen Kommunikation unter rein kulturanthropologischen Gesichtspunkten. Es gelingt ihm zwar so, relativ
differenziert nonverbale Kommunikationsmuster zu beschreiben, allerdings bleibt er bei dieser Beschreibung stehen. Die aufgezeigten Phänomene werden in keiner Weise nach ihren gesellschaftlichen Hintergründen befragt. Der Zusammenhang zwischen konservativen Geschlechtsrollenklischees in der Werbung und ihren gesellschaftlichen Entsprechungen wie: – der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung – der für das kapitalistische Wirtschaftssystem äußerst günstigen Rollenzuteilung an Männer und Frauen und – der Funktionalisierung der weiblichen Sexualität zu Profitzwecken wird nicht angesprochen. Schließlich wird auch die ständige unterschwellig sozialisierende Wirkung der Werbeklischees nicht thematisiert, wie z. B. besonders die Förderung eines falschen Bewußtseins bei Frauen durch die millionenfache Dauerberieselung mit veralteten femininen Leitbildern und die Bestätigung der bei Männern ohnehin noch genügend tiefsitzenden Vorstellungen über Daseins- und Verwendungszwecke von Frauen. Wenn Goffman weder auf Ursachen noch auf Konsequenzen der von ihm beschriebenen Erscheinungen eingeht, bleibt dem Leser/der Leserin nur ein – je nach Standpunkt – amüsiertes oder resigniertes Schulterzucken.»1 Während sich Psychologie und Soziologie aber wenigstens partiell um den Abbau von Geschlechtsstereotypen bemühen, konfrontieren uns Historiker, Literaturwissenschaftler und Philosophen, ohne mit der Wimper zu zucken, nicht nur mit dem gegenwärtigen, sondern mit dem gesamten Wust von Klischees, die vergangene «Den
ker» produziert haben. Ich habe mich oft gewundert, daß Frauen nicht gleich die Lust an solchen Studien vergeht, wenn sie sogar bei neuzeitlichen Denkern und Dichtern Sätze lesen wie: «Der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist vielmehr der Mensch, und unter den Menschen der Mann. Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden.» (Kant)2 Oder: «Was die Weiber lieben und hassen, das wollen wir ihnen gelten lassen; wenn sie aber urteilen und meinen, da will’s oft wunderlich erscheinen.» (Goethe)3 Oder: «Frauen können wohl gebildet sein, aber für die höheren Wissenschaften, die Philosophie oder für gewisse Produktionen der Kunst, die ein Allgemeines fordern, sind sie nicht gemacht. Frauen können Einfälle, Geschmack, Zärtlichkeit haben, aber das Ideale haben sie nicht.» (Hegel)4 Oder: «Emanzipation des Weibes – das ist der Instinkthaß des mißratenen, das heißt gebäruntüchtigen Weibes gegen das wohlgeratene –, der Kampf gegen den ‹Mann› ist immer nur Mittel, Vorwand, Taktik. Sie wollen, indem sie sich hinaufheben, als ‹Weib an sich›, als ‹höheres Weib›, das allgemeine Rangniveau des Weibes herunterbringen, kein sichereres Mittel dazu als Gymnasialbildung, Hosen und politische Stimmvieh-Rechte.» (Nietzsche)5 Auch Naturwissenschaftler halten es im übrigen nicht anders. «Amazonen sind auch auf geistigem Gebiet naturwidrig. Bei einzelnen praktischen Aufgaben, z. B. in der Frauenheilkunde, mögen vielleicht die Verhältnisse anders liegen; im allgemeinen aber kann man nicht stark genug betonen, daß die Natur selbst der Frau ihren Beruf als Mutter und als Hausfrau vorgeschrieben hat, …» (Max Planck)6
Vielleicht überlesen Studentinnen geflissentlich solche Textstellen – wie ihre männlichen Professoren und Kommilitonen. Renate Feyl hat in ihrem Bändchen «Sein ist das Weib, Denken der Mann»7 solche und abweichende Äußerungen für die Neuzeit gesammelt, Annegret Stopczyk hat in einem größeren Band «Was Philosophen über Frauen denken»8 eine umfassendere Zitatensammlung von der Antike bis zur Gegenwart vorgelegt. Jedenfalls: Das Zurückflüchten von der Höhe der Universität zum heimischen Fernseher bringt keinen Trost. Ob wir uns einen Hollywoodschinken, einen Hollywoodwestern oder einen Schimanski-Verschnitt ansehen, wir bleiben von geschlechterdualistischen Klischees nicht verschont. Am übelsten kommt es, wenn wir vergessen, die Werbespots auszuschalten, aber wer vergißt das nicht angesichts so spannender Geschlechterklischees im Film vorher. Da die Vermarktung von Geschlechterklischees in der Werbung bisher am besten dokumentiert ist, verweise ich hierzu insbesondere auf den schon erwähnten Band von Christiane Schmerl über «Frauenfeindliche Werbung», aus dem ich gleich noch zitieren werde. Daß sich Spielfilme und Werbung gut ergänzen, möchte ich trotzdem vorher an einem Film kurz veranschaulichen, weil die Erinnerung an diesen Film mich immer besonders amüsiert. Einer meiner intellektuellen Freunde, Volker, der zugleich Cineast ist, stritt mit mir – wie so häufig – über den klischeehaften Charakter von Wildwestfilmen, den ich behauptet hatte, obwohl ich sie mir früher immer gerne angesehen habe. «Aber einen, Hedda, das kannst auch du nicht bestreiten», rief er dabei aus, «einen gibt es, der ist sogar richtig emanzipatorisch, nämlich Johnny Guitan.» Wie es der Zufall wollte, lief «Johnny Guitar» ausgerechnet
einen Tag später im Fernsehen, und ich sah ihn mir an, obwohl ich ihn schon kannte, mich aber nicht mehr genau an Details erinnern konnte. In dem Film spielt tatsächlich eine weibliche Person die Hauptrolle – eine Erholung für einen weiblichen Westernfan –, aber «natürlich» zu Pferde, denn anders kriegt man keine Hauptrolle in Wildwestfilmen, und «natürlich» als Barbesitzerin (also nicht ganz so astrein), die mit Banditen Handel treibt, ihnen Unterschlupf gewährt und sie deshalb – und weil sie so schön ist – alle in der Hand hat. Eines Tages taucht Johnny Guitar auf, ein ehemaliger Geliebter, der sie sitzengelassen hat, aber jetzt bei ihr Unterschlupf sucht (sehr lebensnah). Den gewährt sie ihm auch – offiziell, weil sie seine Unterstützung braucht, aber «natürlich» liebt sie ihn «heimlich» noch, wenngleich sie ihm ihre Zuneigung verweigert. Eine andere Frau, eine gutbürgerliche, verklemmte, ist aber auf sie eifersüchtig und zettelt gemeinsam mit den gutbürgerlichen Männern aus der Stadt eine Verschwörung gegen sie an. Sie geht auch in die Falle, ihre männlichen Begleiter versagen, sie wird gefangengenommen und soll – hoch zu Pferde, versteht sich – gelyncht werden. Da erscheint in letzter Sekunde der Retter in der Not – Johnny Guitar. Zwar ist sie damit noch nicht ganz aus dem Schneider und muß noch ein Pistolenduell mit ihrer Konkurrentin überstehen. Dann aber kann sie dem Exliebhaber erlöst in die Arme sinken. Happy-End. Sie merken hoffentlich die Botschaft und schreiben Sie sich hinter die Ohren: Auch Amazonen kommen letztlich nicht ohne Liebhaber aus, von denen sie mal sitzengelassen worden sind. Doch zurück zur Werbung. Christiane Schmerl konzentriert sich in ihrer Dokumentation vornehmlich auf
den frauenfeindlichen Charakter der Werbung, den sie in der durchgängigen Produktion folgender Stereotype erkennt: 1. Frauen werden mit Produkten und Konsumartikeln gleichgesetzt; 2. Frauen haben nur den Haushalt im Kopf; 3. Frauen werden als minderwertig verwitzelt, zum Beispiel «(technisch) – dumm, launisch, naschhaft, gehässig, tratschsüchtig, raffiniert, diebisch, modischüberdreht, umtauschwütig, Hausdrachenschlampen, Nervensägen»9 usw.; 4. Frauen werden in kosmetische bzw. ästhetische Zwangsjacken gepreßt; 5. Frauen werden überhaupt zynisch verwitzelt; 6. Frauenemanzipation findet in Jeans statt, die ihren Po zur Geltung bringen. Und last but not least: 7. Frauen werden zu sexuellen Objekten gemacht. Sie schreibt: «… in vielfacher Weise (wird) zum Ausdruck gebracht, daß Frauen sexuelles Spielzeug für Männer sind. Diese Masche ist die durchgängigste in der Werbung überhaupt; sie taucht als beliebte Zutat in vielen anderen Rezepten wieder auf. Die sexuelle Attraktivität der Frau wird mit jeder beliebigen Ware kombiniert: Brathendl, Cocktails, Zigarren, Deos, Feuerzeuge etc., etc. Der Effekt ist: die Gleichung Frau = Sex wird besonders gründlich gelernt. Aus der Art, wie diese Gleichung in Szene gesetzt wird, ergibt sich: Frauen an sich sind reduzierbar auf Sexualität. Was an ihnen interessiert und wesentlich
ist, ist ihre Verwendbarkeit als sexueller Anreiz, als sexueller Gebrauchsgegenstand. Frauen sind noch weiter reduzierbar bis auf bestimmte Körperteile: Busen, Beine, Bauch und Po. Die Verfügbarkeit von Frauen oder Frauenteilen gleicht der der angepriesenen Waren. Frauen sind vermutlich ebenso zum alsbaldigen (sexuellen) Gebrauch bestimmt.»10 Wie auch Thomas Kempas, Eberhard Roters und Rolf Weweder, die sich in Christiane Schmerls Sammelband speziell zur sexuellen Vermarktung der Frau äußern, sieht Christiane Schmerl diese zwar richtig als frauenfeindlich, übersieht aber damit den, wie ich meine, zugleich vorhandenen und wesentlichen Aspekt der Verschleierung eben dessen durch sexuelle Konnotationen, in anderen Worten: der Verschleierung oder Mystifikation der Verdinglichung der Frau durch das «Begehren». Ich werde darauf zurückkommen und frage zunächst noch kurz nach dem Männerbild der Werbung. Wie Georges Falconnet und Nadine Lefaucheur in ihrem Aufsatz dazu feststellen, freundlicherweise schon karikierend, sieht das so aus: «… es ist toll, so ein Männerleben, wenn mit Tiefseefischerei, Tauen, Meer und Muskeln für Rasierwasser geworben wird. Auch dies ein Männerleben: U-Bahn, Arbeit, Bett! Nein! Ein echtes Männerleben: Abenteuer, Krieg, Jagd, Gewitter, Sturm, Feuer, wilde Tiere, Pferde (‹die edelste Eroberung des Mannes›), starke Gefühle, Weite, Wüste, Wälder, Berge und Ozeane. Ein echtes Männerleben: angreifen, erobern, reiten, beherrschen, zähmen, dressieren, die Stirn bieten, bezwingen, führen, unterwerfen, handeln, unternehmen, gewinnen.
Unterhosen, Feuerzeuge, Rasierapparate und Socken verkaufen sich besser mit der Vorstellung von Abenteuer, entfesselter Natur, Urwald und Tarzan. Ein echtes Männerleben ist Abenteuer – so die Werbung. Wie ein Mann leben, heißt die Grenzen des Universums sprengen und alle Gefahren meistern. Abenteuer und Risiko sind auch die Werte, auf denen sich die westliche kapitalistische Zivilisation und der Imperialismus entwickeln konnten. Forschen, entdecken, erobern – um reich zu werden – ein wahres Männerleben. Nur mit Abenteuerlust und dem Mut zum Risiko kann man was werden. (Entdecken Sie den Geruch von Abenteuer auf Ihrer Haut, wenn Sie keine Angst haben, ein Mann zu sein›, besagt die Reklame Go West. (Erinnern Sie sich an den Geruch von Abenteuer, von langen Ritten und scharfem Galopp – alles was aus einem Leben ein Männerleben macht.»)11 Und: «Ein echter Mann muß aber nicht nur Natur und Tier bezwingen, er muß auch über den anderen Mann herrschen. Die Welt der Männer ist die Welt der Waffen, des Krieges, des Wettkampfes, des Machtkampfes. Die Werbung der männlichen Warenwelt benutzt eine Bildsprache, die voll ist von Aggressivität, Angriff, Sieg und Waffensymbolik. So werden jeden Morgen im Badezimmer die heftigsten Kämpfe, Schlachten und Duelle ausgetragen: ‹Jeden Morgen derselbe Kampf. Der Gegner … Sie kennen ihn. Nehmen Sie die schärfste Klinge, wenn Sie ihn schlagen wollen. Eine Klinge vom gleichen Stahl wie die
berühmten Schwerter Wilkinsons, die seit 200 Jahren an der Macht sind. Mit einem einzigen Zug rasiert die Klinge von Wilkinson den härtesten und kriegerischsten Bart … die Klinge ist ein für allemal fest und sicher von den beiden Backen gehalten.)»12 Korrespondierend dazu besitzt ein «echter Mann» natürlich auch ein Feuerzeug – ich kann’s mir nicht verkneifen und zitiere: «Ein Feuerzeug, das Hand und Auge gehorcht. Oder ein strenges, klares Feuerzeug für Männer, die sich entscheiden können und erreichen, was sie wollen. Nicht alle Männer würden so ein Feuerzeug benutzen, nein, aber er ist auch nicht wie alle. Er gehört doch zu denen, die das Leben und den Erfolg lieben, zu denen, die zu Besserem auserwählt sind, die immer mehr wollen.»13 Ich lasse es rnit dieser Beschreibung bewenden, weil es mir ja nicht um die Vielfalt der Bilder geht, sondern nur um den Hinweis auf ihre Allgegenwärtigkeit, vor allem um den Aufweis ihres verschleierungsstrategischen Charakters. Zu letzterem ist zunächst folgendes festzustellen: Nicht etwa «sind» Frauen und Männer so, wie sie dargestellt werden, sie werden vielmehr zu etwas gemacht, und zwar schablonisierend und mit einer, oberflächlich betrachtet, sogar evident strategisch-ausbeuterischen Absicht: Man will uns Geld aus der Tasche ziehen. Daß die strategische Absicht nicht nur diese ist, sondern, wie Christiane Schmerl schon andeutet, in Wirklichkeit auch eine gesamtsystemstabilisierende dahintersteckt, darauf werde ich kurz im nächsten Kapitel eingehen.
Trotzdem ist dieser Vorgang gar nicht so leicht durchschaubar, insofern er nämlich das «Gemachte» daran verschleiert (gar nicht so sehr die verkaufsstrategische Seite, das hat die Werbungspsychologie nicht mehr nötig), und zwar doppelt: Das Mittel ist in erster Linie eine Verschleierungsstrategie, die ich bisher noch nicht genannt habe, die aber im individuellen wie politischen Leben eine eminente Rolle spielt, nämlich die der Ver-Natürlichung des Gemachten. Das heißt, die Bilder, die in Wirklichkeit produziert, künstlich hergestellt werden, werden als Wesen, als Natur der Dinge, hier als die Natur von Mann und Frau, präsentiert. Frauen sind eben so, Männer sind nur echte Männer, wenn sie so und so sind. Diese Ver-Natürlichung des Gemachten wird durch eine Strategie ergänzt, die wir schon kennen, die der Mystifikation, die hier allerdings in einer spezifischen Doppelung auftritt. Die sogenannte Natur des Mannes wird verherrlicht oder glorifiziert, die Natur der Frau passiviert und damit invalidiert, welcher Vorgang aber zugleich mystifiziert wird durch die Dimension des Begehrens, ihre sogenannte weibliche Natur macht sie begehrenswert. Der verschleierungsstrategische Charakter des Vorgangs ist keineswegs so einfach durchschaubar, vor allem deshalb nicht, weil er sich wieder einmal ein Dispositiv, sogar zwei Dispositive zunutze macht. In der Tat gilt nämlich, daß wir zwar nicht so sind, wie die Bilder nahelegen, daß sie aber mit uns zu tun haben, nicht etwa gänzlich unnatürlich sind. Es gibt in uns etwas, das uns an ihnen anzieht: Erstens unser kindlicher Allmachtswunsch und zweitens unser sexuelles Begehren. Beide Dispositive gibt es, und ich betone das. Das Problem liegt daher in ihrer Funktionalisierung, die verheerend ist. Verheerend, weil das kindliche Allmachtsgefühl, das
wir um einer vernünftigen Anerkennung unserer selbst willen lieber abschaffen sollten, bei Männern zum Wesen erklärt und verherrlicht, bei Frauen dagegen negiert wird, während zugleich das an und für sich nicht schlechte Begehren verklärend mißbraucht wird, um im Dienste falscher Allmacht von Männern Frauen zu Objekten zu degradieren. Was ist schon Werbung, werden einige sagen, weswegen ich daran erinnern muß, daß dieselben Bilder überall in unserem gesamten Wahrnehmungsfeld produziert werden und auf uns einhämmern. Vor allem nicht nur die Wirtschaft, welcher Art auch immer, ist es, die an der Produktion der Bilder verdient und sie deshalb produziert, sondern, das ist hervorzuheben, auch der sogenannte Staat tut dies und arbeitet folglich zu, nicht nur indirekt, indem er all das nicht verbietet, sondern auch direkt: Er, das heißt unsere Landesregierungen, in deren Händen die Schulaufsicht liegt, lassen pausenlos Schulbücher drucken, deren sexistischer bzw. geschlechterdualistischer Charakter erschreckend ist. «Natürlich» ist darin weniger vom Begehren die Rede, das versteht sich von selbst, wohl aber wird die Ver-Natürlichung geschlechterdualistischer Klischees auf eine statistisch nachweisbar relevante Art und Weise in diesen Schulbüchern festgeschrieben, wie man es kaum glauben möchte. Ich kann und will das hier nicht demonstrieren und verweise statt dessen auf das von Ilse Brehmer herausgegebene Buch «Sexismus in der Schule»14 sowie auch auf die Erläuterung der Folgen, die eine solche Schulbuchlektüre für unsere nächste Generation zeigt, bei Cheryl Benard und Edit Schlaffer in ihrem Buch «Der Mann auf der Straße»15.
Diagnostizieren läßt sich jedenfalls, daß Wirtschaft und «Staat» bzw. Regierungen sich gegenseitig dabei in die Hände arbeiten, geschlechterdualistische Klischees, mit denen unsere Wahrnehmung befeuert wird, zu produzieren, die geeignet sind, das Selbstwertgefühl von Männern ohne Rücksicht auf dessen Berechtigung zu verhätscheln und zu steigern, das von Frauen dagegen zu untergraben bzw. in eine passivistische Richtung zu lenken. Daß dies geeignet ist, die Selbst-und Welterkenntnis von Frauen zu untergraben, brauche ich wohl nach den ersten beiden Kapiteln nicht zu betonen, hebe aber hervor, daß es ebenso geeignet ist, wirkliches Denken bei Männern zu untergraben. Da ich die Massivität des Einströmens geschlechterdualistischer Klischees auf unser Bewußtsein und Unterbewußtsein hier ohnehin nicht hinreichend belegen kann, wende ich mich meinem zweiten Punkt zu, das heißt der täglichen Interaktion zwischen Männern und Frauen und der Frage, inwiefern diese durch die öffentlich zugelassene Produktion von geschlechterdualistischen Klischees sanktioniert ist. Hierzu ist vorweg zu bemerken, daß Männer in einem gewissen Sinne tatsächlich in persönlichen Interaktionen das sind, was unsere Klischees und sie selber über sich gerne behaupten, zum Beispiel draufgängerisch, übermütig, eroberungssüchtig usw. Aber sie sind es, wie mit meinen Worten schon indiziert, keineswegs in der charmanten Form, die uns unsere Werbung nahelegt. Sie ziehen sich zwar gern die Maske des starken Helden oder umgekehrt des Softies an, aber die blättert bald ab, wenn man näher hinsieht. Umgekehrt gilt für Frauen, daß sie dem Bild der Werbung, das als repräsentativ gelten kann, sogar eher
entsprechen. Ich schieße insoweit nach beiden Seiten, aber überlegt, denn es ist zu fragen: Woran liegt das? Wie Benard und Schlaffer in ihrem für die Beantwortung dieser Frage einzigartigen Buch «Der Mann auf der Straße» akribisch und zugleich sehr witzig belegen: Es liegt daran, daß Frauen von Männern interaktionell zur Schablone gemacht, in sie hineingedrängt werden, und zwar durchaus gewaltsam und keineswegs immer verschleiert, was nur deshalb nicht ohne weiteres für beide Parteien durchschaubar ist, weil Männer und Frauen dabei Selbstbilder und Fremdbilder im Kopf haben (woher?), die diesen Umstand verschleiern helfen. Wie Benard und Schlaffer schildern, läßt sich die spezifisch moderne Interaktion zwischen Männern und Frauen auf einen Inbegriff bringen, wenn man sie auf der Straße beobachtet. Es zeigt sich dann nämlich, trotz des scheinbar gleichberechtigten Getümmels, daß Frauen in der Öffentlichkeit nur geduldet sind, das heißt nur insoweit sich Männer gnädig bereit finden, sie dort zu dulden. Wenn es ihnen gerade gefällt, demonstrieren Männer, vor allem Bauarbeiter, wie Benard und Schlaffer ironisch betonen, diese Gnade dadurch, daß sie an ihre eigentliche Vormachtstellung erinnern, indem sie Frauen öffentlich betatschen, in eine Ecke drängen, sie unaufgefordert anquatschen, Lob und Tadel über eine vorbeigehende Frau aussprechen, ihr nachpfeifen oder zweifelhafte Komplimente machen usw. Ich setze hinzu: Versuchen Sie einmal, als weibliche Person auf einem engen Bürgersteig darauf zu achten, wer ausweicht, wenn es eine männliche Person ist, die Ihnen entgegenkommt. Ironisierend und zugleich ernstgemeint kommentieren Benard und Schlaffer diesen Umstand, vor dessen sexueller
Deutung man sich hüten muß, obwohl sie dem äußeren Anschein nach oft als sexuelle «Anmache» wirken mag: «Der gesellschaftliche Status von Frauen drückt sich auch dann aus, daß sie kaum über Raum und Zeit verfügen. Zu Hause kann ihr Bereich jederzeit aggressiv verletzt, ihre Zeit von den Familienmitgliedern jederzeit zur Befriedigung diverser Bedürfnisse in Anspruch genommen werden (Frieze/Ramsey: 1976). Auch von der ‹Unsichtbarkeit›, die in gedrängten öffentlichen Räumen gegenseitig gewährt wird (z. B. in Aufzügen) sind Frauen häufig ausgenommen (Libby und Yaklevich: 1973, Leibmann: 1970, Henderson und Lyons: 1972). Frauen sind stärker als Männer unter Beobachtung; die Gefahr, die Aufmerksamkeit eines fremden Mannes zu erregen und mit seinen Erwartungen ihrer Verfügbarkeit für sexuelle oder aggressive Bedürfnisse konfrontiert zu werden, trägt zur Verunsicherung und potentiellen Abwehrhaltung von Frauen bei und drückt sich in Schrittempo, Körperhaltung usw. aus (Korda/Henley: 1977). Diese Prozesse finden auf der Straße ihren exemplarischen Ausdruck. Damit erheben Männer Territorialansprüche an die Öffentlichkeit (Hammer: 1976); Frauen haben bestenfalls ein Transitvisum. Der ‹Mann auf der Straße› ist Jedermann; ein weibliches Gegenstück gibt es nicht in Gestalt einer ‹Frau auf der Straße›, sondern nur sexualisiert und kommerzialisiert auf den Gebrauchswert definiert: als Straßenmädchen. Dieser Anspruch auf das Vertretungsrecht an der gesamten Menschheit seitens Jedermann ist ein politischer Akt, in dem Frauen marginalisiert werden; der Mann ist das Allgemeine, der Mensch; die Frau ist Geschlecht. Als Rand
mitglied der Menschheit definiert sie sich durch ihren Warencharakter; Preis und Qualität werden daher von den potentiellen Käufern und Konsumenten auf der Straße, wie in einem permanenten sexuellen Supermarkt, geprüft und besprochen. Das setzt die Vergegenständlichung der Frau voraus, was wiederum in der Umgangssprache einen Niederschlag findet: der Mann ist der Mensch, die Frau Sache: das Mensch. Während die Berechtigung hormoneller und chromosomaler Erklärungsansätze von uns nicht beurteilt werden kann, scheint die Widerlegung einiger Thesen der Verhaltensforscher eindeutig aus unseren Daten hervorzugehen. Ethologische Feststellungen eines ‹Balzverhaltens› bei den männlichen Angehörigen unserer Spezies erscheinen uns deshalb unbefriedigend, weil Balzverhalten zur Gewährleistung von Reproduktion beitragen soll, während das Verhalten der untersuchten Männer eher eine gegenteilige Reaktion als geschlechtliche Anziehung hervorrief. Unter den an der Untersuchung beteiligten Frauen konnte keine gefunden werden, die auf Grenzdebilität mit Gefühlen erotischer Attraktion reagierte. Wenn wir von der Hypothese ausgehen, daß Männer der Vernunft gemäß handeln und Handlungsweisen, die nicht den gewünschten Erfolg bringen, wieder einstellen, stehen wir vor Erklärungsproblemen. Da Männer trotz der in unseren Erhebungen völligen Erfolglosigkeit von Einladungen wie ‹servas Susi, wird’s was mit uns?› nach wie vor diesen Satz gebrauchen, muß davon ausgegangen werden, daß dieser Satz a) eine andere, indirekte und standardisierte Botschaft enthält, die b) von den Frauen entweder wahrgenommen wird oder bei diesen irgendwelche intendierten und ein Bedürfnis der Männer befriedigende Reaktionen hervorruft.
Angesichts der sexuell-negativen Reaktionen der befragten Frauen (17 Ekelgefühle; 43 Mitleid; 14 Besorgnis um die geistige Verfassung des anderen Geschlechts; 23 Langeweile; 3 ohne Meinung), dürfte dieses Bedürfnis jedoch nichts mit reproduktionsbezogenem Werbeinstinkt zu tun haben. Ausgehend von dieser Feststellung testeten wir die Hypothese, daß es sich hierbei vielmehr um Dominanzverhalten handelt, d. h. um den Anspruch auf und die ritualisierte Bestätigung von überlegenem Geschlechtsstatus. In besonders konzentrierter Form ließ sich diese Hypothese in den Fällen untersuchen, in denen zwei verschiedene Formen eines Statusgefälles konfrontiert waren: Klasse und Geschlecht und Rasse und Geschlecht. Männer einer untergeordneten Gesellschaftsgruppe beanspruchen allen Frauen gegenüber den Primat des Geschlechtsstatus, und die Abwehr des aggressiven Dominanzanspruchs seitens der Frauen wird nicht als Infragestellung der Dominanzverhältnisse überhaupt anerkannt, sondern gilt in den Augen der Männer als weibliche Inanspruchnahme ihres höheren Status auf der Basis von Klasse oder Rasse. So wurden wir in vier verschiedenen Ländern (BRD, Österreich, Holland, U.S.A.) des Rassismus bezichtigt, als wir die Umarmungen, Berührungen etc. fremder schwarzer Männer abwehrten. In drei Fällen versuchten wir, Diskussionen über die Gemeinsamkeit in der Unterdrückung von Frauen und Schwarzen einzuleiten, die jedoch in allen Fällen vergeblich waren. In Holland wurden wir um 15 Uhr 30 auf der Hauptstraße mit dem Hinweis, daß Frauen nicht allein auf der Straße zu gehen haben, zurechtgewiesen. Mehrere Bauarbeiter gaben explizit an, bei der Kommentierung ‹oberschichtiger› Frauen besondere Genugtuung
zu empfinden. Trotz der überproportionalen Beteiligung von Bauarbeitern an diesem Verhalten ließen sich keine Verallgemeinerungen über Schichtspezifität treffen. In Wien, wo der Hauptteil der Forschungen durchgeführt wurde, konnten keine unterschiedlichen Frequenzen für die Bezirke festgestellt werden. Weder im Vokabular noch in der Gestik ließen sich signifikante Unterschiede feststellen, vielmehr ergab sich eine Zufallsstreuung quer durch Einkommens-, Bildungs- und Altersklassen. Zur Häufigkeit des Auftretens dieses Verhaltens bei Bauarbeitern bietet sich folgende Erklärungshypothese an: ihre Beteiligung an der Konstruktion der Straßen mag diesen Männern das Gefühl geben, in noch höherem Maß als andere Männer ein Besitzrecht an diesen Straßen zu haben und für die Abgabe des Passierrechts an Frauen sozusagen Anspruch auf ‹sexuellen Zoll› zu haben. In einer Vielzahl der Fälle diente das Verhalten eher der Bestätigung der Beziehungen zwischen Männern, d. h., die Kommunikation über die Frau erfolgte nur zwischen Männern. Die Frau wurde nicht angesprochen, sondern besprochen, wobei es allerdings wichtig zu sein scheint, daß sie das Gesprochene hört: die Frau vermittelt zwischen den Männern. Sätze wie: ‹wia gfallad da so was?› (im englischen Sprachraum gemäß der höher entwickelten Konsumkultur noch ausgeprägter als ‹how would you like some of that?›) dienen der gegenseitigen Bestätigung von Männlichkeit und betreffen die Frau selbst eigentlich nicht.»16 Kurz zusammengefaßt können wir sagen, daß, wenn «Männer auf der Straße» mit Frauen interagieren – was ein euphemistischer Ausdruck ist –, dies vornehmlich dazu
dient, Frauen zu passivieren und zu marginalisieren, und zwar zu dem Zwecke der Hebung männlichen Selbstbewußtseins, der sexuell kaschiert wird. Zugleich können wir sagen, daß Frauen das peinlich ist, was dazu geeignet ist, Verunsicherungs- wie Scham- und Schuldgefühle zu erwecken. Was tut eine Frau damit? Sie versucht – psychologisch verständlich – diese Verunsicherung nicht denkerisch aufzuheben, sondern zu kompensieren. Ist sie emanzipiert, rennt sie nicht immer gleich nach Hause, sondern in die nächste öffentliche Institution, zum Beispiel in eine «Kneipe», wo sie schon ein paar Leute kennt. Wenn sie Pech hat und keine sogenannte «nette Kneipe» kennt, landet sie in einer, wo die Musik, weil das laut redende Männer nicht stört, so viel Lärm macht, daß sie ihr Problem sehr selten vortragen kann, weil sie dafür zu laut schreien müßte. Hat sie Glück und kennt eine Kneipe, die etwas intellektueller ist, darf sie sich auch nicht wundern, wenn ein Mann, dem sie ihr Problem erzählen will, darauf reagiert, indem er ganz andere und viel wichtigere Probleme hat oder freundlichst einen anderen Mann vom Nachbartisch dazubittet, mit dem gemeinsam dann alle drei über etwas noch Wichtigeres, nämlich die Politik von Helmut Kohl, sprechen können. Was macht die betroffene Frau dann? Sie beschließt, unter der Voraussetzung, daß sie emanzipiert ist, nicht mehr so oft irgendwohin zu gehen, sondern ihre Beziehung zu X zu intensivieren, der doch ein netterer Mensch ist, viel intelligenter als andere Männer, auch sensibel. Vielleicht ist er ein Wissenschaftler, Schriftsteller, Bildhauer oder nur ein gebildeter Autodidakt, auch da wird sie in der Regel ihr blaues Wunder erleben.
In Benards und Schlaffers Buch über den «Mann auf der Straße» findet man ausführliche Beispiele über Beziehungen zwischen intellektuellen oder künstlerischen Männern und Frauen von historischer Prominenz. Der Kürze zuliebe greife ich auf meine eigene Erfahrung zurück: Alle intellektuellen Männer, die ich kenne, haben mir immer versichert, wie sehr sie mich schätzen. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich begriffen habe, was sie an mir schätzten. Meine Besorgnis um ihr Wohlergehen, meine Sekundantinnenarbeit (ich kann selbst nicht glauben, wie viele männliche Manuskripte ich korrigiert, überarbeitet, umgeschrieben habe), meine guten Ratschläge, wenn sie ihrer Karriere dienten. Hatten sie sie gemacht, verließen sie mich. Als ich anfing, mich gegen solche Vereinnahmung meiner Intelligenz zu wehren – schlicht, indem ich meine Intelligenz für mich selber einsetzte, zum Beispiel einen Prozeß gegen das nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerium führte –, war ich trotz meiner respektierten Intelligenz und meines Titels plötzlich verrückt, was natürlich nicht an mir, das heißt meinem angeborenen guten Charakter lag, sondern daran, daß ich zuviel trank. Als ich darauf beharrte, daß ich dennoch ein Recht hätte, nordrhein-westfälische Ministerialbeamte, die einen beliebig von einer Universität zur anderen «versetzten», nicht nett zu finden, mußte ich zu meinem Erstaunen hören, daß ich eine eingebildete Provinzprofessorin sei, eine Prinzessin auf der Erbse, die das Übel in der Welt nicht akzeptieren wolle und nur deshalb so eingebildet sei, weil ich mir meine Promotion und Habilitation – jetzt kommt’s – ja nur «erfickt» hätte. Mein einziges Glück angesichts solcher Invektiven war, daß ich mir dabei immer das gesenkte Haupt meines Habilitati
onsvaters und die betretene Miene meiner übrigen vier Habilitationsgutachter vorstellte. Ich erspare mir weitere Ausflüge in mein eigenes Privatleben und vermerke nur zusätzlich, daß die Rolle der Sekundantin, mit der Frauen marginalisiert werden, natürlich nicht nur in intellektuellen Kreisen beliebter ist als die der eigenständigen Frau – von sogenannten Karrierefrauen möchte ich nicht reden –, wovon jede Sekretärin des sogenannten «großen Mannes» ein böses Lied zu singen weiß, wenn auch nicht unbedingt reflektierterweise. Ich komme daher, meinen zweiten Punkt betreffend, zu einem Fazit: Männer wie Frauen haben ein Dispositiv, sich selbst zu überschätzen und auf dieser Basis andere ungerecht und ausbeuterisch zu behandeln. Das Fatale an unserer Gegenwart ist jedoch, daß dieses Dispositiv durch die omnipräsente Produktion geschlechterdualistischer Klischees zur Natur des Mannes, und zwar diese zugleich verklärend-gloriflzierend, erklärt wird, weswegen Männer daran gehindert werden, ihre faktisch gewalttätigen oder auf alle Fälle zumindest ungerechten Handlungen, mit denen sie Frauen im wahrsten Sinne des Wortes «in die Ecke» drängen, als solche zu durchschauen, ja, sich im Gegenteil eher wohl dabei fühlen können. Frauen umgekehrt werden im Selbstvertrauen pausenlos erschüttert. Selbst wenn sie der Werbung nicht glauben, hindert sie der jeweilige Mann ihres Privatlebens daran, ein Selbstwertgefühl vernünftiger Art zu haben. Sie entwickeln demzufolge das Gefühl, nicht in Ordnung zu sein, es sei denn, wenn ein jeweiliger Mann sie lobt, und werden so, wie Männer sie haben oder sehen wollen, entweder angepaßt an die Klischees oder «zickig».
Ich möchte aber auch noch von der verschleierungsstrategischen Bedeutung des zweiten genannten Dispositivs genauer sprechen, vom Begehren. Ich möchte davon sprechen, weil angesichts meiner Kenntnis der durchgängigen machtstrategischen Bedeutung geschlechterdualistischer Klischees hier der spezifisch wunde Punkt der Moderne liegt. Man darf ja, anders gesagt, in einer neuzeitlichen Demokratie einen parasitären Machtwillen, wie ihn noch Nietzsche offen gegen die demokratische «Sklavenmoral» formulieren konnte, nicht mehr offen formulieren, man muß ihn kaschieren. Erlaubt dagegen ist, im Zuge zunehmender Liberalisierung, die Macht der Sexualität zu thematisieren. Was liegt also näher für Leute, die eine parasitäre Absicht verschleiern wollen, als an das Erlaubte zu appellieren, das zugleich ein mächtiges Dispositiv in uns allen ist. Die klischeehafte Kaschierung von Macht und Gewalt durch erotisch-sexuelle Konnotationen in der Werbung mag klar sein, die Frage ist, wie klar ist sie uns in der privaten Interaktion? Ich unterschlage diesmal mein Privatleben und zitiere ein literarisches Beispiel einer scheinbar sexuellen Interaktion. Das Beispiel stammt von der Schriftstellerin Doris Lessing und wird bei Benard und Schlaffer wie folgt aufgegriffen: «Die geradezu archetypische Szene, bestehend aus Mann, Kaffee und Wohnzimmer, beschreibt Doris Lessing in deprimierend minuziöser Präzision in einer Kurzgeschichte. Graham, der männliche Akteur der Geschichte, ist Journalist und interviewt Personen aus dem Londoner Kulturleben. Seine Tätigkeit bringt ihn häufig mit den interessanteren Frauen dieser Kreise zusammen, und
wenn ihm bei diesen Frauen eine (Eroberung) gelingt, dann empfindet er das als persönliche Aufwertung. Eines Tages erhält der die Aufgabe, Barbara zu interviewen, eine bekannte Bühnenbildnerin, deren Karriere er schon seit längerem verfolgt. Er setzt seinen Aktionsplan in Gang, der aus einem komplizierten strategischen Gefüge von Machtkampf, vermittelten Eindrücken, dem Wecken von Sympathien und Verständnis und der Herstellung einer Lage besteht, in der eine Ablehnung ungleich schwieriger ist als eine Einwilligung. Die Bedeutung von Gesten, Wortwahl, selbst von Gesprächsthemen, der Wahl eines bestimmten Restaurants, ist beiden Beteiligten bewußt und macht aus ihnen antagonistische Spieler. Nach dem Interview bringt er sie mit dem Taxi nach Hause, unter dem Vorwand, auf seinem Heimweg ohnehin durch ihren Bezirk fahren zu müssen. Im Taxi setzt sich das taktische Menuett fort: unter dem Vorwand einer mißverstandenen Bemerkung legt er den Arm um sie, unter dem Vorwand, eine Zigarette anzünden zu wollen, entfernt sie sich aus seinem Griff usw. Vor ihrem Haus angelangt, springt er aus dem Taxi: ‹Hastig sagt er, ,Und jetzt, Barbara, kannst du mir eine Tasse Kaffee und einen Brandy geben.‘ Sie zögerte, aber er war schon ausgestiegen, zahlte schon die Taxirechnung, machte ihr die Autotür auf … Sie ging vor ihm in die Wohnung. Im Gang sagte sie, ,Ich gehe jetzt und koche einen Kaffee. Und dann, mein Freund, mußt du nach Hause gehen, denn ich bin sehr müde.‘ Das ,mein Freund‘ traf ihn. Er sagte nervös, ,Du bist verärgert – das wollte ich nicht, das tut mir leid.‘ Sie lächelte kühl und distanziert … Sie sagte, ,Ich bin nicht im geringsten verärgert.‘ Es war, als ob sie vor Langeweile gähnen würde …›
Während sie in der Küche den Kaffee vorbereitet, recherchiert er in der Wohnung nach Hinweisen über ihren Charakter, die er zur Vorbereitung seines Aktionsplanes einsetzen könnte. ‹Sie kam herein, auf einem Tablett trug sie Tassen, Kaffee, Gläser. Sie sah abwesend aus. Das fand Graham eher günstig: wahrscheinlich bedeutet das, daß sie sich durch seine Anwesenheit nicht bedroht fühlte … Außerdem war sie ja müde. Er erinnerte sich daran, daß er vorher am selben Abend eine Chance ungenutzt vorübergehen ließ, weil er es nicht verstanden hatte, ihre Müdigkeit auszunutzen. Aber jetzt, wenn er klug handelte … Sie wollte gerade den Kaffee einschenken. Mit festem Griff nahm er ihr die Kanne weg und deutete auf einen Sessel. Lächelnd gehorchte sie ihm. ,Schon besser‘, sagte er. Er füllte die Tassen, schenkte Brandy ein und zog den Tisch heran. Sie sah ihm zu. Dann nahm er ihre Hand, küßte sie, streichelte sie und legte sie sanft nieder. Ja, dachte er, das habe ich gut gemacht. Jetzt aber, ein Problem. Er wollte näher zu ihr rücken, aber sie saß in einem verdammt dummen kleinen Sessel mit Armlehnen. Vielleicht sollte er sich neben sie auf den Boden setzen? – aber nein, für ihn, einen großen behäbigen Mann, konnte es keine solchen spontanen Bewegungen geben. Was wäre, wenn er sie aus dem Sessel heben und zum Bett tragen würde? Während er plante, trank er seinen Kaffee. Ja, er würde sie zum Bett tragen, aber noch nicht; später. ,Graham‘, sagte sie und setzte ihre Tasse nieder. Sie hatte, wie er mit Irritierung vermerkte, einen geduldigen Gesichtsausdruck aufgelegt. ,Graham, in spätestens einer halben Stunde möchte ich schlafen gehen.‘ Während sie sprach, bot sie ihm ein Lächeln des amüsierten gemeinsamen Bewußtseins über die Situati
on – Mann und Frau, manövrierend, ein Bewußtsein der Komik dieser allbekannten Situation. Und fast hätte er ihr Lächeln geteilt. Fast hätte er es getan, hätte er mit ihr darüber gelacht. (Tage später sagte er sich vorwurfsvoll: das war ein Fehler, diesen Augenblick nicht mit ihr zu teilen: da machte ich meinen größten Fehler.) Aber er konnte nicht lächeln. Sein Gesicht war eingefroren, mit steifem Stolz. Nicht weil sie ihn beim Planen ertappt hatte; das amüsierte Lächeln, das sie ihm anbot, entschärfte das, sondern weil er absolut entschlossen war, seinen Willen durchzusetzen. Er würde sie haben. Er würde nicht nach Hause gehen … Ihr Blick verdunkelte sich, und sie sagte: ,Graham, willst du noch eine Tasse Kaffee, bevor du nach Hause gehst?‘› Im Versuch, sie in ein Gespräch persönlicher Art zu verwickeln, um die Stimmung zu ändern, wird er zunehmend aggressiv, und Barbara wird zunehmend distanziert. Er bekommt das Gefühl, ‹seit Jahren zum erstenmal gegenüber einer Frau die Kontrolle über die Situation verloren zu haben›. ‹Barbara stellte ihr Glas hin und stand auf. ,Und jetzt‘, sagte sie, verabschiedend. Sein Plan war zusammengebrochen, er packte sie und stöhnte: ,Barbara!‘ Unter seinen Küssen drehte sie ihren Kopf weg. Er warf ihr einen schnellen diagnostischen Blick zu – ihr Ausdruck war noch immer geduldig. Er küßte ihren Hals, stöhnte noch einmal ,Barbara‘ und wartete. Sie mußte ja irgendwie reagieren. Kämpfen, seine Küsse erwidern, irgend etwas. Sie tat nichts. Schließlich sagte sie: ,Lieber Himmel, Graham!‘ Sie klang amüsiert: wieder bot sie ihm die Gelegenheit, über die Situation gemeinsam mit ihr zu lachen. Aber wenn er das tat, würde er seine letz
te Chance verlieren, doch noch mit ihr zu schlafen. Er küßte sie auf den Mund, damit sie nicht sprechen konnte … Damit begann, wie er später dachte, die peinlichste Episode seines Lebens. Er haßte sie für seine eigene Ungeschicklichkeit. Denn er hielt sie endlos fest, es mußte eine halbe Stunde gewesen sein. Sie war viel kleiner als er, er mußte sich bücken, und sein Rücken verkrampfte sich … Sie blieb bewegungslos. Während er mit seiner Intelligenz diese lächerliche Szene beobachtete, konnte er trotzdem nicht aufhören, denn früher oder später mußte sie wohl reagieren. Außerdem konnte er nicht aufhören, weil er den Augenblick fürchtete, in dem er sie freisetzen mußte und sie ihn ansah. Mit jedem Augenblick haßte er sie mehr … Sie blieb völlig bewegungslos. Fast so, dachte er spöttisch, als ob sie irgendwo gelesen oder erzählt bekommen hatte, daß es die Männer erregt, wenn man sich wehrt. Er dachte sich: Blöde Kuh, bildest du dir ein, daß ich dich attraktiv finde? Dann wurde ihm der Wahnsinn, die Absurdität dieses Gedankens bewußt, und vor lauter Schreck darüber ließ er sie los. Sie trat einen Schritt zurück und stand da, regungslos vor Fassungslosigkeit. Die Peinlichkeit seines Verhaltens war ihm bewußt, aber durch seinen Zorn konnte er sie unterdrücken. Sie sagte, immer noch freundlich: ,Bist du wahnsinnig geworden, Graham? Was ist denn los, bist du betrunken? Du wirkst nicht betrunken. Du magst mich ja nicht einmal‘ Eine Welle von Haß strömte über ihn, und er packte sie erneut. Sie hatte sich aber weggedreht, und während er die noch zugänglichen Teile ihres Gesichts und Halses küßte, wiederholte sie ruhig: ,Graham, laß mich los, laß mich doch los, Graham.‘ ... Es konnte die ganze Nacht so weitergehen: es war nur
mehr ein Kampf zwischen seiner Willenskraft und ihrer, sonst nichts. Er ließ sie los, aber er sagte: ,Ich werde heute mit dir schlafen, das weißt du doch, nicht?‘ … Sie sagte: ,Wie stellst du dir das vor? Was soll ich jetzt machen? Die Polizei anrufen oder was sonst? … Oder soll ich nach den Nachbarn rufen, ist es das, was du willst?‘ Ihre Augen waren fast schwarz, überschattet von Langeweile. Sie war müde und gelangweilt, das konnte er sehen. Er sagte: ,Ich werde mit dir schlafen.‘ ,Aber wie kannst du das denn überhaupt wollen?‘ – eine vernünftige, eine zivilisierte Frage, gerichtet an einen Mann in der Überzeugung (das konnte er sehen), daß er darauf reagieren würde. Sie sagte: ,Du weißt, daß ich es nicht will, und dir selbst ist es im Grunde genommen doch egal.‘ … ,Glaubst du, daß ich es nicht ernst meine‘, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und fühlte sich wieder in die Rolle des Barbaren gedrängt.› Diese beiderseitige Unfreiwilligkeit (kommentieren Benard und Schlaffer, H. H.), der Zwang, uneinsichtige, aber mächtige Anforderungen zu erfüllen, und die Konsequenz, eine Verhinderung möglicher Beziehungen zwischen Personen, haben die meisten von uns in irgendeiner Form schon erlebt. Die Notwendigkeit, Höflichkeiten zu wahren; das gegenseitige uneingestandene Wissen, daß man sich an einem vorgegebenen Spiel beteiligt, bei dem es eigentlich keinen Gewinner geben kann; der Verdacht, schnell wieder unterdrückt, weil die Konsequenzen unvorhersehbar sind, daß es vielleicht ein anderes Verhalten geben könnte, andere Interessen, andere Gesprächsverläufe, andere Beziehungen. Daß
der Kampf um Prestige und die Sorge um das eigene Abschneiden an irgendeinem Punkt für jeden schädlich sind, unfrei machen. Auf den direkten Appell an seine Vernunft konnte Graham nicht reagieren, weil er damit zugegeben hätte, daß sein vorhergehendes Verhalten lächerlich und er selbst im Unrecht war.»17 Ich kommentiere die geschilderte Situation so kurz wie möglich. Der Fähigkeit der Autorin, sich in die Psyche eines Mannes hineinzudenken (umgekehrt kommt das selten vor), verdanken wir, daß wir als Außenstehende Verhalten und Absicht des Mannes relativ klar durchschauen können. Die Absicht ist parasitär. Er möchte sie als Publikum und Objekt für seine Selbstaufwertung mißbrauchen. Er will Macht, Überlegenheit, Triumph spüren. Sie ist dafür ein besonders geeignetes Objekt, besitzt sie doch selbst ein gewisses Prestige. Sein Verhalten ist erpresserisch und brutal, also gewalttätig. In einer realen Situation würden wir das aber kaum so deutlich erkennen, wir wären vielmehr – vor allem als Frau – irritiert, weil unser Hauptdarsteller sein Verhalten kaschiert, und zwar – um wieder einen Ausdruck von Michel Foucault, aber in abgewandeltem Sinne, zu benützen – unter der Maske des Begehrens. Obwohl er an diese noch nicht einmal so richtig glaubt, spekuliert er doch darauf, daß die Frau darauf hereinfallen wird. Sie müßte sich, aller Wahrscheinlichkeit nach, durch sein Begehren geschmeichelt fühlen. In der Regel wird sie sich auch geschmeichelt fühlen, folglich zumindest in ihrer Wahrnehmung und Entscheidungsfähigkeit verunsichert werden, wenn sie nicht sogar auf ihn hereinfällt, weil sie ihn womöglich aus unerklärlichen Gründen attraktiv findet. Tut sie das, ist
aber so gut wie sicher, daß sie nachträglich Luft für ihn sein wird, während er bei anderen Männern ganz offen, seiner wahren Absicht gemäß, mit seiner Eroberung prahlen wird, wodurch sie wiederum bei diesen in den Ruf gerät, «ein leicht zu habendes Flittchen» zu sein. Fällt sie dagegen nicht herein, wie etwa unsere Autorin, tritt in der Regel ein Umstand ein, auf den ich das Augenmerk gesondert richten möchte: der Umstand, daß nunmehr er sich von ihr in die falsche Ecke gedrängt glaubt: «er fühlte sich wieder in die Rolle des Barbaren gedrängt». Obwohl er eben genau das ist und von niemandem dazu gemacht wird, wird in seinem «verhunzten» Denken sein Opfer zur Täterin, in diesem Beispiel zur kastrierenden Frau. Wir können daher hier eine zusätzliche prototypische Verschleierungsstrategie identifizieren, welche ich verkürzt als «negative Inversion» bezeichnen möchte. («Du bist schuld, wenn mein falsches Selbstwertgefühl angekratzt wird.») Sie gehört zu den Strategien, die ich in einem späteren Kapitel als «Exkulpationsstrategien» bzw. als Schuldverleugnungsstrategien abhandeln werde, weil sie trotz ihres psychoanalytisch deutbaren Abwehrcharakters dennoch nicht aus der Dimension der strategischen Verschleierung parasitären Verhaltens herauszulösen sind. Unter den genannten Bedingungen sitzt also eine Frau in einer doppelten Gefühls- und Denkfalle. Jede mögliche Reaktion ist stigmatisiert. Abgesehen von den Folgen für ihr Selbstvertrauen (und ihr Sexualleben), die das hat, gilt es hervorzuheben, daß dies alles unter der «Maske des Begehrens» stattfindet, obwohl das aktive Begehren der Frau dabei ausgeblendet wird – so weit, daß die Situation trotz ihrer Ablehnung gegen ihren Willen als erotische de
klariert wird. Es ist aber unschwer auszumachen, daß eine solche Definition der Situation, die besonders gerne von Männern betrieben wird, die aber auch Frauen akzeptieren, nicht so leicht interaktionell aufrechtzuerhalten wäre, würde sie nicht durch entsprechende Klischees, die, obzwar fremdproduziert, pausenlos auf uns niederprasseln, sanktioniert: vor allem durch solche, in denen männliche Gewalt erotisch verklärt wird, speziell durch Verwandlung von Frauen in solche, die froh sein können, «begehrt zu werden», auch wenn sie selbst nicht begehren! Die Strategie der Verschleierung von Gewalt unter der Maske des Begehrens ist indes nicht nur ein Bestandteil unseres offiziös sanktionierten Geschlechterdualismus, sie wird zugleich offiziell, unter anderem von höchsten richterlichen Instanzen, sanktioniert. In einer dankenswerten, empirisch-statistisch breit angelegten Studie über «Die Vergewaltigung und ihre Opfer»18 hat Kurt Weis unter anderem folgendes feststellen können: Während die Opfer von Vergewaltigungen ihre Situation als lebensbedrohlich und identitätszerstörerisch erfahren – so weit, daß sie zumeist für ihr Leben lang darunter leiden, vor allem sogenannte «normale Sexualität» nicht mehr verkraften –, glaubt ein erschreckend großer Prozentsatz der Bevölkerung daran, daß Frauen eine solche Situation provoziert haben, indem sie «irgendwie» sexuell aufreizend gekleidet waren oder «irgendwie» sexuell nicht prüde genug sind, weil sie unter Umständen schon ein paar Liebhaber gehabt haben – mit 35 Jahren. Angesichts dessen verwundert nicht, daß gerade betroffene Frauen die Schuld oft bei sich selber suchen. Es ist ja auch eigentlich ganz unmöglich, sich vorzustellen, daß man als ganz unschuldiger Mensch von irgendjemand
aus ganz willkürlichen Gründen fast ermordet wird, noch dazu in einer angeblich zivilisierten Welt, es sei denn, man erinnere sich, daß eine solche auch Konzentrationslager zuläßt. Ärgerlicher ist aber, daß selbst Viktimologen, wie Hans-Dieter Degler (im «Spiegel-Dossier› über Vergewaltigungen), vermerkt, «Männer-Meinungen zu Fakten stilisieren»19. Hans-Joachim Schneider zum Beispiel, «Autor eines führenden Viktimologielehrbuches» (Degler), schreibt über Frauen: «Sie möchten bewußt oder unbewußt zum Geschlechtsverkehr gezwungen werden, um einen scheinheiligen ‹moralischen› Anspruch zu wahren. Die Frauen und Mädchen reizen die Männer sexuell beständig. In der Intimsituation spielen sie mit ihrer Sexualität. Der Mann, der sich auf dieses für ihn kokette Spiel einläßt, trägt das Risiko, daß die Frau oder das Mädchen die Situation nachträglich als Notzucht definiert.»20 Oder, so Degler: «Der Soziologe Dieter Duhm beispielsweise behauptet schlankweg, daß ‹Frauen fast regelmäßig› bei Vergewaltigungen ‹ganz unerwartet große Lust› empfänden und ‹oft sogar zum Orgasmus› kämen. Denn: ‹Sie genießen es, wenn der Trieb gewaltsam befriedigt wird, der sonst durch die Angst blockiert ist.›»21 Noch ärgerlicher ist das Verhalten von Polizei und Richtern, denn auch sie teilen die sexuell verbrämte Einschätzung des strafrechtlichen Delikts (man fragt sich, warum es überhaupt als solches gilt). So ist zwar, wie Kurt Weis
berichtet, empirisch erwiesen, daß Vergewaltigungen in 85 Prozent aller Fälle unter Androhung körperlicher Gewalt, zum Teil sogar von Waffengewalt, praktiziert werden und daß die Bereitschaft von Männern, die brutale Gewalt zu steigern, mit der Abwehr, vor allem der körperlichen Abwehr der Frau, wächst. Aber in Köpfen von Richtern spielt das keine Rolle. Ich zitiere Kurt Weis: «Das Amtsgericht Schwandorf stellte fest: (Obwohl die Zeugin den Angeklagten bat, sie in Ruhe zu lassen, tat er das nicht … Sie sagte weiter, daß sie zur Zeit keine Pille nehme und deshalb einen Geschlechtsverkehr nicht durchführen wolle … Bei dem gesamten Vorgang weinte die Zeugin immer wieder.) – Dennoch folgerte das Gericht: ‹Dem Angeklagten konnte nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden, daß er wußte oder zumindest damit rechnete, daß die Zeugin einen Geschlechtsverkehr nicht haben wollte … Wegen des gesamten Verhaltens … können vernünftige Zweifel darüber nicht ausgeschlossen werden, daß der Angeklagte während des gesamten Vorganges annahm, daß die Zeugin mit dem Geschlechtsverkehr einverstanden wäre und sich nur zieren würde.) (Az 7 Js 563/75) Besonders klar hatte die Bedeutungslosigkeit der Meinungsäußerung einer Frau der Bundesgerichtshof 1956 definiert: ‹Wenn eine Frau dem Verlangen des Mannes nach Geschlechtsverkehr lediglich mit Worten, sei es auch eindeutig, widerspricht, sich aber gegen dieses Ansinnen nicht körperlich wehrt, so wird der Mann in der Regel annehmen und annehmen dürfen, daß sie trotz des Widerspruchs mit seinem Vorhaben letzten Endes einverstanden ist.) (BGB GA 56, 317)
Auch in unserer Aktenanalyse wird deutlich, wie sich die Urteile an der Vorstellungswelt der Täter ausrichten müssen. So finden sich in den Begründungen für Freisprüche folgende drei Zitate: ‹… es kann den Angeklagten jedoch nicht nachgewiesen werden, daß sie den Widerstand der Zeugin als ernsthaft aufgefaßt hatten. Diese hat ihren Widerstand nämlich kaum ausgedrückt. Zugunsten der Angeklagten muß daher angenommen werden, daß sie davon ausgingen, daß die Zeugin sich lediglich zierte, ihren Widerstand jedoch nicht als echt erkannten.› ‹Soweit er (der Angeklagte) die ihm vorgeworfene Vergewaltigung zum Nachteil der Zeugin bestreitet, konnte er in der Hauptverhandlung nicht mit der zur Verurteilung ausreichenden Sicherheit überführt werden, zumal die Zeugin bekundet hat, daß sie zwar nicht mit dem Angeklagten verkehren wollte, daß sie letztlich aber seinen Zudringlichkeiten keinerlei Gegenwehr entgegengesetzt habe.) ‹Da die Anzeigerin nach ihren eigenen Angaben keinen Widerstand geleistet hat, ist dem Beschuldigten Vorsatz zu § 177 StGB nicht nachzuweisen, …› Im erstzitierten Fall handelte es sich um ein 14jähriges Mädchen, das die zwei Angeklagten festhielten und mit der Faust und einem Hammer bedrohten. Im zweiten Fall ging es um ein 15jähriges Mädchen (vermutlich krank, da aus einer Landesnervenklinik entlassen), dem der Beschuldigte ins Gesicht schlug, als es den Geschlechtsverkehr nicht wollte. Im letztgenannten Fall schließlich lebten Beschuldigter und Geschädigte in einem eheähnlichen Verhältnis. Die 69jährige Frau
hatte sich gegen den überraschenden Angriff des Angeklagten nicht gewehrt, weil dieser sie zuvor gewürgt und sie Angst um ihr Leben hatte.»22 Es nimmt angesichts der Ausführungen von Weis nicht wunder, daß von 7 000 Vergewaltigungen und Vergewaltigungsversuchen, die in der Bundesrepublik jährlich angezeigt werden, nur ca. 700 Täter verurteilt werden. Noch weniger nimmt wunder, daß Frauen eine Vergewaltigung lieber erst gar nicht anzeigen, weswegen wir nach Schätzwerten von einer Dunkelziffer zwischen 70000 und 140000 Vergewaltigungen pro Jahr ausgehen müssen. Das heißt, alle sieben Minuten wird in Westdeutschland eine Frau vergewaltigt; in den USA wird alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt.23 Auch wenn ich nicht so streitbar bin wie Alice Schwarzer, so ist doch in diesem Zusammenhang der Umstand erwähnenswert, daß die gerichtliche Klage, die Alice Schwarzer 1987 zusammen mit neun anderen Frauen gegen Titelbilder des «Stern», die sie als entwürdigend für Frauen empfand, erhob, abgewiesen wurde. Wie konnte sie auch glauben, damit durchzukommen – angesichts dessen, daß die bildhafte «Entwürdigung» von Frauen in einer viel härteren Form gerichtlich sanktioniert wird, nämlich auf dem Sektor der «harten Pornographie»? Daß sie vor allem sanktioniert wird, wenn zur Maske des Begehrens deren Verschleierung durch «Kunstgenuß» hinzutritt? Da ich die Verbreitung «harter Pornographie» für einen durchaus relevanten Faktor der Einkreisung unseres Denkens durch Verschleierungsstrategien halte, zitiere ich kurz eine Szene aus Henry Millers Roman «Sexus», der Kate Millett in ihrem Buch «Sexus und Herrschaft» eine
längere Interpretation gewidmet hat. Vorauszuschicken ist, daß es sich bei der szenisch beteiligten Frau nicht um die eigene Ehefrau handelt, sondern um die Frau eines Freundes, bei dem der Hauptakteur zu Gast ist und die er gerade erst kennengelernt hat: «Ich bat sie, das Bad für mich einlaufen zu lassen. Sie tat so, als könne sie sich nicht dazu entschließen, tat es aber dann doch. Eines Tages, als ich in der Wanne saß und mich abseifte, bemerkte ich, daß sie die Handtücher vergessen hatte. ‹Ida›, rief ich, ‹bring mir ein paar Handtücher!) Sie kam ins Badezimmer herein und brachte sie mir. Sie hatte einen seidenen Morgenmantel und Seidenstrümpfe an. Als sie sich über die Wanne beugte, um die Handtücher auf das Gestell zu hängen, öff nete sich ihr Morgenmantel eine Handbreit. Ich kniete mich hin und vergrub meinen Kopf in ihrem Vlies. Es ging so schnell, daß sie nicht Zeit hatte, sich dagegen zu wehren oder auch nur so zu tun, als wehre sie sich dagegen. Im nächsten Augenblick hatte ich sie samt Strümpfen und allem in die Wanne gezogen. Ich streifte ihr den Morgenmantel ab und warf ihn auf den Boden. Die Strümpfe durfte sie anbehalten – das ließ sie lüsterner, mehr nach dem Cranach-Typ aussehen. Ich legte mich zurück und zog sie auf mich. Sie war wie eine läufige Hündin, biß mich überall, schnappte nach Luft und wand sich wie ein Wurm am Angelhaken. Als wir uns abtrockneten, beugte sie sich herunter und fing an, an meinem Schwanz zu lecken. Ich saß auf dem Rand der Wanne, und sie kniete, ihn gierig verschlingend, zu meinen Füßen. Nach einer Weile ließ ich sie aufstehen und sich bücken. Dann besorgte ich es ihr von hinten.
Sie hatte ein kleines, saftiges Loch, das mir wie ein Handschuh paßte. Ich biß in ihren Nacken, ihre Ohrläppchen, die empfindliche Stelle ihrer Schulter, und als ich mich von ihr löste, hinterließ ich das Mal meiner Zähne auf ihrem schönen weißen Hintern. Nicht ein Wort wurde zwischen uns gesprochen.»24 Ich erspare mir eine eigene Interpretation und konstatiere nur: Da insbesondere Jugendschützer und Richter solche Romane lesen, ist ihre Fehleinschätzung von Vergewaltigungsdelikten gar nicht erstaunlich. Die Kette der Verschleierung von brutalster Gewalt durch die Maske des Begehrens, die man Frauen um den Hals legt, hat hier allerdings noch längst nicht ihr letztes Glied. Frauen, die den öffentlichen Raum flüchten, um sogenannten sexuellen Abenteuern zu entgehen oder um vor Vergewaltigung bewahrt zu bleiben, irren nicht nur, was die Vergewaltigung betrifft, denn mehr als die Hälfte aller Vergewaltigungen findet in Wohnungen statt, 15 Prozent im Auto, nur 18 Prozent im Freien. Sie irren sich vor allem, wenn sie glauben, daß der Mann, den sie tatsächlich begehren, ihnen vor Attacken gegen Leben und Seele Schutz bietet. Ganz besonders irren sie, wenn sie naiv genug sind, diesen Schutz bei einem Ehemann zu suchen. Ich zitiere aus Andrea Dworkins Buch «Pornographie»: «Aufgrund von FBI-Statistiken haben Feministinnen errechnet, daß in den Vereinigten Staaten alle drei Minuten eine Frau vergewaltigt und alle achtzehn Sekunden eine Ehefrau geschlagen wird. Die Zahl der mißhandelten Ehefrauen wird in den USA derzeit auf 28 Millionen geschätzt.»25
Da ich über «Liebe» noch sprechen werde, lasse ich die bei Männern ach so beliebte Frage, warum Frauen sich das gefallen lassen, in diesem Kapitel beiseite. Festzuhalten ist vorläufig, daß Frauen, die, von der Maske des Begehrens enttäuscht, bei der Maske des Beschützers Zuflucht suchen, in eine zweite Falle geraten. Dennoch wird der eine Mann, der ganz anders ist als alle anderen, der Retter in der Not, pausenlos hochgespielt – von Männern selber wie von allen Medien, die sie in diesem Selbstbild unterstützen. Ich sah jüngst einen kritischen Film. Das heißt, einen Film, der das Thema Vergewaltigung behandelte und die Diffamierung von Frauen dabei durchaus eindeutig negativ sanktionierte. Aber was war das Endresultat? Ich fasse den Film – er lief unter dem Titel «Das perfekte Opfer» – ganz kurz zusammen: Eine junge Frau wird in einem Lokal im Beisein von Zeugen von drei Männern vergewaltigt. Vor Gericht gerät sie ins Kreuzfeuer des Verteidigers der angeklagten Männer, der sie dazu bringt, einzugestehen, daß sie Alkoholikerin ist. Sie begeht in der darauffolgenden Nacht Selbstmord. Hierdurch erschüttert, beschließt eine Zeugin des Vergewaltigungsvorgangs, die vorher geschwiegen hat, weil ihr eigener Mann der Bruder eines der angeklagten Männer ist, eine Aussage zu machen. Ihre Aussage wird von der Familie ihres Mannes, die ebenfalls in den Zeugenstand tritt, untergraben, indem Schwägerin und Schwager ihr Rachsucht unterstellen. Ihre Ehe sei gescheitert – was in der Tat der Fall ist, die Ehepartner leben zur Zeit getrennt –, und zwar insbesondere, weil sie nicht in der Lage gewesen sei, ein Kind zu bekommen, womit die Familie sie auch gehänselt habe. Deshalb sei sie rachsüchtig und nehme hier eine Gelegenheit wahr,
ihre Rachsucht öffentlich an den Mann bzw. an die Frau bringen zu können. Der Ehemann ist leicht irritiert, sagt aber, obwohl er selber Zeuge der Vergewaltigung war, nichts – zwischen Bruder und Frau hin- und hergerissen. Die Familie landet einen zusätzlichen Coup, um die Zeugenaussage seiner Frau zu entwerten. Sie schicken ihr einen Jugendfreund ins Haus, der ebenfalls Zeuge des Delikts war, aber kurz danach verreist ist. Der erklärt der Zeugin seine Bereitwilligkeit, mit ihr gemeinsam auszusagen, und zugleich seine Liebe. Sie geht mit ihm ins Bett. Vor Gericht sagt er aus, sie habe ihn dazu gebracht, mit ihm ins Bett zu gehen, um ihn als Zeugen zu gewinnen. In Wahrheit habe er gar nichts gesehen. Der Ehemann wird langsam sensibel. Er bemerkt, daß seine Frau fertiggemacht werden soll, und will sie überreden, mit ihm – trotz Entfremdung zwischen beiden – vom Ort der Handlung zu verschwinden, um woanders ein neues Leben aufzubauen, wofür er sogar seinen Job riskieren will. Diese edle Rettergeste verschmäht sie, und da wird er plötzlich zum Helden und sagt vor Gericht als Zeuge aus: Ende gut, alles gut. Männer sind eben doch Beschützer, alleine hätte sie es nicht geschafft. Bleibt die dumme Frage: Warum konnte das nicht von Anfang an so sein?
4. Die Zerstörung des «Gewissens» und die Macht der «Baruya» Die Erörterung des Geschlechterdualismus in unserer Zeit bedarf einer Ergänzung. Da es mir bisher darum ging, die Verschachtelung der offiziös sanktionierten Verbreitung geschlechterdualistischer Klischees mit der Wirksamkeit individueller privater Strategien aufzuzeigen, sowie zugleich darum, den nicht etwa vorurteilsbedingten, sondern verschleierungsstrategischen Charakter von Geschlechterdualismus zu verdeutlichen, mußte die Frage cui bono? (zu wessen Vorteil?) etwas zu kurz kommen. Ich wende mich daher im ersten Teil des nun folgenden Kapitels dieser Frage etwas expliziter zu, um danach den Versuch zu machen, den durchaus strategischen Charakter geschlechterdualistischer Klischees noch vertiefend zu verdeutlichen: erstens unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Eignung, unseren Gerechtigkeitssinn zu untergraben, zweitens anhand eines Beispiels von primitivem «Geschlechterdualismus», wie er bei den «Baruya», einem von Maurice Godelier untersuchten Stamm, zu finden ist – in der Hoffnung, daß gerade dieses Beispiel zeigt, daß Geschlechterdualismus zwar alt ist, aber dennoch nicht als eine anthropologisch zu rechtfertigende Selbstinterpretation von Menschen, sondern als Machtstrategie parasitären Charakters zu begreifen ist. Zuerst also zur Frage: Wem nützt die Verbreitung geschlechterdualistischer Klischees, und zwar parasitär? Ganz kurz gesagt profitieren davon zunächst einmal alle «durchschnittlichen» Männer. Sie profitieren davon psychisch, indem sie durchweg ein besseres Selbstwertge
fühl gegenüber Frauen welcher Art auch immer, ein Überlegenheitsgefühl Frauen gegenüber verbuchen können. Dieses steigert sich noch dadurch, daß Frauen aufgrund der gegebenen Lage dazu neigen oder gezwungen sind (trotz ihres Willens, zur Ernährung ihrer selbst und ihrer Familie außer Hause beizutragen), minderbezahlte und minderbewertete Berufe zu ergreifen, so daß sich Männer, auch wenn sie nicht mehr als Frauen leisten, immer noch großartiger fühlen können. Zum materiellen Gewinn, den sie als Familienväter durch die berufliche Tätigkeit von Frauen zum psychischen Gewinn dazubekommen, gewinnen sie darüber hinaus die Entlastung, die ihnen die sogenannte Schattenarbeit von Frauen beschert. Selbst Frauen, die berufstätig sind, kümmern sich gleichzeitig proportional übergewichtig – im Verhältnis zu ihren Männern – um die Ernährung, das schulische Fortkommen und die sonstigen Sorgen ihrer Kinder, um die Ordnung des Haushalts insgesamt und das Abendessen ihrer Männer – ohne Bezahlung – und selbst wenn der Mann dazubezahlt: zumindest ohne offizielle Anerkennung ihrer Leistung und mit dem Nachteil, finanziell von ihren Männern abhängig zu sein. Frauen leben, selbst im Rahmen von Regierungssystemen mit offiziell anerkannter Gleichberechtigung, folglich immer noch in einer Art «Zwei-Drittel-Gerechtigkeitsrelation»: Das heißt, Männer essen zwei Drittel vom Kuchen, Frauen ein Drittel davon. Es profitieren aber nicht nur alle durchschnittlichen Männer, es profitieren vor allem – und darauf möchte ich den Zeigefinger legen – «Staat» und Wirtschaft, das heißt vor allem solche Männer (und «natürlich» dann auch die angeheirateten Frauen), die in Politik und Wirtschaft
eine führende Position erklimmen, das heißt die «großen Männer». Denn: Zweifellos profitiert zum Beispiel jemand, der reich werden will, davon, wenn Frauen dem Klischee von Frauen entsprechen und ihren Männern die Arbeit zu Hause (vor allem die Aufzucht der Kinder) abnehmen, damit diese, von häuslichen Sorgen unbelastet, als ein besonders gutes Rädchen im außerhäuslichen Betrieb funktionieren. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, daß jeder Wirtschaftsbetrieb oder jede staatliche Institution ihren sogenannten Arbeitnehmern oder Angestellten einen Kindergarten ganztags zur Verfügung stellen müßte. Das würde doch einiges kosten. Noch mehr profitiert jemand, der reich werden will, davon, daß Männer, die aus ihrem außerhäuslichen Beruf ihr Selbstwertgefühl beziehen, zwangsläufig erpreßbar sind, sitzt ihnen doch – bewußt oder unbewußt – die Angst vor Arbeitslosigkeit oder Positionsverlust im Nacken, weshalb sie lieber das Risiko in Kauf nehmen, Familienleben und Gesundheit aufs Spiel zu setzen, als ihrem Chef zu widersprechen, lieber auf Reisen (und dabei auch in Bordelle) zu gehen, als einen weniger gut bezahlten oder weniger prestigeträchtigen Posten in Kauf zu nehmen. Woher nähmen vor allem unsere profitkräftigsten Unternehmen, nämlich die, die ins Ausland expandieren, ihre Arbeitskräfte, wenn es nicht Männer gäbe, die «abenteuerlustig» genug sind, sich nach Brasilien versetzen und Frau und Kind in Deutschland zu lassen, um einmal im Jahr zu Besuch zu kommen und sich in der Rolle des Ernährers und Gebers zu sonnen? Oder umgekehrt: Wo fänden sich Männer, die bereit sind, Giftgaswerke im Irak zu bauen, wenn nicht Frauen (und Kinder) dazu bereit wären, ihnen als «Anhängsel» dahin zu folgen, um kurz vor Ausbruch des Golfkrieges dann als
„höchst zweifelhafte Opfer von ihren Regierungen wieder losgekauft zu werden? Die Produktion von geschlechterdualistischen Klischees und die Unterwerfung unter solche macht demnach nicht nur Frauen kleiner, abhängiger und ausbeutbarer als Männer, sie macht auch die vielen Männer kleiner, abhängiger und ausbeutbarer durch die wenigen «großen Männer»: Daß letztere in der Mehrzahl Männer sind, dafür sorgt der mitgelieferte Stachel der Konkurrenz. Und der sorgt – das sei nebenbei bemerkt – vor allem dafür, daß diejenigen Männer größer werden als andere, deren Größenwahn sie zur Spitzenproduktion in Rüstungsindustrie und High Technology antreibt, ungeachtet des von Spitzenwissenschaftlern oder Ökologen erhobenen Zeigefingers, der warnend auf unerwünschte Nebenfolgen verweist. Ich mache in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß sowohl die Zerstörung unserer Umwelt als auch die allgemein zunehmende Rücksichtslosigkeit unter Menschen, die sich heutzutage beobachten läßt, durchaus im Rahmen der Sanktionierung geschlechterdualistischer Klischees zu interpretieren ist – nicht weil Frauen, wären sie an der Macht, sich als bessere Menschen erwiesen, sondern weil die Verbreitung geschlechterdualistischer Klischees Macht- und Größenphantasien in Männern züchtet. Je größer das Machtgefühl ist, das einer hat – unabhängig von der faktischen Macht –, desto geringer ist proportional in der Regel das «Gewissen», das heißt: Wer sich mächtig fühlt, wird weniger Rücksicht auf andere nehmen, wie überhaupt auf die Folgen seines Handelns. Er schlägt sich, wie unsere männlichen Vorfahren in der Altsteinzeit, nach der Jagd den Bauch voll und schmeißt die abgenagten Knochen einfach hinter sich. Damals
allerdings entsorgte die Natur den Abfall, heute werden unsere nachfolgenden Generationen an der sogenannten Entsorgung von Atomkraftwerken ihren «Spaß» haben. Aber, wie schon gesagt, nicht nur wer reich werden will, profitiert (ausbeuterisch) von geschlechterdualistischen Klischees und Strukturen, auch wer sich mit weniger Geld begnügt, aber dennoch Macht fühlen will und «Politiker» wird, profitiert davon. Genauer gesagt: Männer, die Politiker werden oder sein wollen, profitieren. Und zwar in erster Linie aus folgenden Gründen: Männer, die nicht genügend Geschäftssinn haben, um reich zu werden, Männer, die körperlich nicht dazu taugen, Spitzensportler zu werden, Männer, die weder genügend künstlerische Begabung haben, um große Dichter, Komponisten, Maler, Bildhauer, Schauspieler usw. zu werden, noch intelligent und diszipliniert genug sind, um sich mit philosophischen und wissenschaftlichen Problemen herumzuschlagen – Männer also, die zu all diesen Beschäftigungen kein Talent haben, müssen sich, falls sie sich dennoch bedeutend und groß fühlen wollen, zwangsläufig entweder für eine kriminelle oder für eine politische Laufbahn entscheiden. Sich für die politische Laufbahn zu entscheiden ist zweifellos, vom Selbstwertgefühl her betrachtet, die klügere Wahl. Denn trotz aller Schattenseiten des politischen Lebens muß das Selbstgefühl, das man daraus bezieht, als Landesvater, Minister, Bundeskanzler, wenigstens aber als Parteivorsitzender oder Abgeordneter zu fungieren, erhebend sein. Nicht nur wegen der Herausgehobenheit über andere, sondern weil man sich dabei zugleich noch als besonders guter Mensch fühlen kann: im Dienste am Volk. Männer, die aus den angegebenen Gründen Politiker werden und sein wollen (ich schließe nicht aus, daß es
andere Gründe gibt, bin aber skeptisch im Hinblick auf die Anzahl derer, die aus anderen Gründen politisch tätig werden), werden allerdings kaum ein Interesse daran haben, geschlechterdualistische Klischees abzubauen. Allein schon deshalb, weil ein solcher Abbau die Zahl der männlichen Konkurrenten um die Anzahl der weiblichen Konkurrentinnen erhöht, vor allem aber deshalb, weil die im Geschlechterdualismus verankerte Gleichung «Mann = Kompetenz = Überlegenheit = Macht» sehr dienlich ist, die Besetzung von Machtpositionen mit Männern für selbstverständlich hinzunehmen und darüber die Frage zu vergessen, ob und inwiefern ein solcher Mann für seinen Posten auch qualifiziert ist (und zwar mehr als in der Hinsicht, nur zu wissen, wie man nach oben kommt und sich dort hält). Den Profit betreffend profitiert vom Geschlechterdualismus ein bestimmter Typus von Politiker, der sich groß und gut fühlen will, ohne daß dem zwingend eine adäquate Leistung entspricht. Und ich füge hinzu: Je ausgeprägter der Geschlechterdualismus, desto wahrscheinlicher, daß eben dieser Typus an die Macht kommt und sich dort halten kann. Besonders er profitiert in der Regel nicht nur psychisch, sondem auch materiell durch staatliche finanzielle Unterstützung und freundliche Spenden aus der Wirtschaft, die deren Profit vom Geschlechterdualismus erhalten helfen sollen. Wer sich für diesen Aspekt interessiert, kann in dem jüngst erschienenen Buch von Hans Herbert von Arnim «Die Partei, der Abgeordnete und das Geld» fündig werden.1 Darüber hinaus profitieren Politiker, welcher Art auch immer, zugleich in prinzipiell legitimatorischer Hinsicht vom Geschlechterdualismus, und zwar zweifach: Erstens
reduziert sich der – besonders in Demokratien relativ hohe – Legitimationsdruck für ihre Politik, der von der Bevölkerung ausgeht: Frauen, die gewohnt sind, Schattenarbeit zu leisten, weil das ihrer sogenannten «Natur» entspricht, insbesondere Frauen, die in Deutschland aufgrund des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 25. Februar 1975 dazu «verdonnert» worden sind, ihre Schuldgefühle gegenüber dem ungeborenen Leben in unbezahlte Erziehungsarbeit an ungewollten Kindern umzusetzen, werden froh sein, wenn ihnen der sogenannte Staat überhaupt ein paar Notgroschen dazubezahlt und nicht fragen, ob dessen Verpflichtung, ein Sozialstaat zu sein, damit wirklich erfüllt ist.2 Auch Männer, die sich außer Hause unter Konkurrenzdruck beruflich profilieren wollen, um ihr «Mannsein» unter Beweis zu stellen, werden nicht merken, daß die Entfremdung von ihren Frauen und Kindern, die sie dafür in Kauf nehmen, nicht gerade sozial zu nennen bzw. daß eine staatliche Politik, die diese Entfremdung zugunsten wirtschaftlicher Profitinteressen ignoriert, nicht sozialstaatlich ist.3 In legitimatorischer Hinsicht profitieren jedoch Politiker vom Geschlechterdualismus auch unter einem zweiten Gesichtspunkt: Männer, die in ihrem Berufsleben aufgehen und um Arbeitsplätze konkurrieren, und Frauen, die sich in die Ecke haben drängen lassen, um womöglich sogar als Hausfrau, Mutter und Dazuverdienende dreifach belastet zu sein4, werden kaum Zeit und Geduld haben, geschweige denn ein rationalitätsförderliches Selbstgefühl, um das Verhalten von Politikern allzu deutlich unter die Lupe zu nehmen. Wie Mario Erdheim in seinem Buch über «Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit» aufzeigt, identifizieren sich Menschen, die private
Sorgen haben, erst recht mit der Macht der scheinbar Mächtigeren, von denen ihr eigenes Schicksal abzuhängen scheint.5 So können Politiker, vor allem wenn sie den verschleierungsstrategischen Gestus der «Väterlichkeit» beherrschen, sogar den Beschützer und Geber spielen, auf dessen Macht man vertraut, obwohl es unsere eigenen Steuergelder sind, die sie gnädig an uns als Sozialausgaben zurückverteilen, wenn sie sie nicht gerade für «höhere Zwecke» gebrauchen können. Zusammenfassend läßt sich also sagen: Von der Produktion geschlechterdualistischer Klischees profitiert die Majorität der Männer, es profitieren aber besonders die sogenannten «großen Männer» in Wirtschaft und Politik. Es ließe sich dieser «Profit» natürlich differenzierter und ausführlicher darstellen, aber das kann und will ich hier nicht tun, weil es mir im Rahmen dieser Ausführungen nicht darum geht, die ausbeuterische Seite unserer gesellschaftlichen Verhältnisse detailliert zu erfassen, sondern um Verschleierungsstrategien schlechthin und ihren erkenntnismanipulierenden bzw. -verhindernden Charakter. In Überleitung zur Absicht dieses Kapitels, den durchaus strategischen – machtstrategischen, verschleierungsstrategischen und nicht etwa naturbedingten – Charakter von geschlechterdualistischen Klischees noch etwas deutlicher zu machen, hebe ich hervor, daß das eigentliche Problem der offiziösen Duldung geschlechterdualistischer Klischees nicht einfach darin besteht, daß dadurch parasitäre Verhältnisse zwischen Männern und Frauen sowie zwischen «großen» Männern und etwas «kleineren» Männern zementiert werden, sondern daß unser Gerechtigkeitssinn unterminiert wird. Das heißt, es wird ausgerechnet der einzig mögliche erkenntnisleitende Maßstab unterwandert
und entrückt, mit dessen Hilfe Verschleierungsstrategien überhaupt als solche erkennbar werden und mit dessen Hilfe wir uns daher guten Gewissens ihrer Macht entziehen könnten: die Gerechtigkeit. Da ich auf die grundsätzliche politische Relevanz der «Gerechtigkeit» noch zu sprechen komme, präzisiere ich den letzteren Gedanken zunächst nur verkürzt unter dem Gesichtspunkt der Verschüttung des «Gewissens»: Wie ich im ersten und zweiten Kapitel zu verdeutlichen versucht habe, lösen Verschleierungsstrategien mangelndes Selbstvertrauen und Schuldgefühle bei den Opfern aus. Schuldgefühle mögen zwar nützlich sein, wenn sie berechtigt sind, haben aber verheerende Folgen, wenn sie induziert sind. Gekoppelt mit dem Mangel an Selbstvertrauen, den verschleierungsstrategische Operationen anderer in uns bewirken, führen sie nur dazu, daß wir uns in der Hoffnung, dennoch Anerkennung zu gewinnen, bemühen, unsere vermeintliche Schuld zu kompensieren, um ein sogenannter «guter Mensch» zu sein. Dies führt nicht nur dazu, daß wir den falschen Menschen gegenüber Verpflichtungen eingehen, sondern vor allem dazu, daß wir über der Fixierung auf unsere vermeintlichen Dankbarkeitsschulden die Frage nach dem cui bono, dem Nutzen, zu stellen vergessen. In anderen Worten: Das induzierte schlechte Gewissen oder Schuldbewußtsein stimuliert uns, weil wir ein «gutes Gewissen» haben wollen, unser rationalitätsfähiges Gewissen abzuwürgen. Nach Paulus haben wir alle, ob Christen oder Heiden, ein angeborenes Gewissen, und damit meint er, daß wir wissen, was Gut und Böse ist. Ich nehme einmal an, daß wir so etwas tatsächlich – zumindest potentiell – haben. Allerdings mache ich diese Annahme nur unter der Prämisse, daß
man die Begriffe des Guten und Bösen aus dem göttlich sanktionierten «Himmel» von Verschleierungsstrategien herunterholt auf die Erde und unter dem Guten das Nützliche und dem Bösen das Schädliche versteht. Ich möchte das Nützliche aber zugleich nicht ökonomistisch verstanden wissen, sondern als all das, was uns das Leben leichter, angenehmer, schöner, man könnte auch sagen: vergnüglicher macht. Tatsächlich läßt sich über eine solche Idee vom Guten mit Menschen, die nicht ideologisch verbohrt sind, zumeist leicht ein Comment finden, sogar darüber, daß nicht nur sie selber am «Guten» teilhaben möchten, sondern vermutlich auch andere Leute. Schwieriger wird es, wenn man dies «Wissen» hart an die politische Gerechtigkeit koppelt, das heißt an die Verpflichtung, denjenigen Nutzen, den man aus dem Dasein, der Arbeit oder der Zuwendung anderer zieht, auch entsprechend zu entlohnen, das heißt durch eigene Leistungen, die dem anderen ebenfalls nützlich sind, dessen Leben zu erleichtern, angenehmer zu machen oder zu verschönern. Unser einfacher Begriff von Gut und Böse hindert uns nämlich gar nicht daran, mehr Gutes für uns und mehr Böses für andere zu billigen, wenn sich die anderen nicht entschieden zur Wehr setzen. Andererseits wissen wir aber auch – zumindest in einem Hinterstübchen unseres Herzens –, daß man, wenn man sich dagegen wehrt, vereinnahmt oder ausgebeutet zu werden, zumindest nicht unrecht handelt. Dies möchte ich unseren Gerechtigkeitssinn nennen, ganz einfach so, wie ich es ausgeführt habe, womit also keine «große» Sache bezeichnet ist, vor allem noch keine «Gerechtigkeitsliebe». Das im «Gewissen» angelegte, wenngleich noch ganz primitive Zusammenspiel des «Wissens um Gut und Böse»
mit dem Gerechtigkeitssinn möchte ich der Vereinfachung zuliebe mit einem Ausdruck belegen, nämlich dem des «primärmoralischen» Bewußtseins. (Ich wähle diesen Ausdruck, um damit anzudeuten, daß eine solche Denkdimension keineswegs notwendig ethische Konsequenzen im Sinne einer rationalen Bestimmung des Guten oder des Gerechten nach sich zieht, sondern uns nur für Verpflichtungen disponiert. Dieses Dispositiv machen sich aber alle «Moralen» zunutze, egal ob sie rational begründbar sind oder nicht.) Der Ausdruck «primärmoralisches Bewußtsein» hilft indes nicht über die Fatalität hinweg, in die wir – gerade soweit wir so etwas wie ein primärmoralisches Bewußtsein haben – geraten, wenn wir Verschleierungsstrategien ausgesetzt sind. Die Situation, in die wir hineingeraten, sieht nämlich jetzt so aus: Schuldgefühle haben wir schon, insofern uns Anerkennung versagt wurde. Haben wir aber noch einen Rest von Gerechtigkeitssinn, so steigern sich unsere Schuldgefühle: Wir wollen nicht nur nett sein, um von einem «netten» Menschen oder einem «großen Geber» anerkannt zu werden, wir wollen auch nicht selber Parasit sein, das wäre ja nicht «gerecht». Von doppelten Schuldgefühlen geplagt, vergessen wir aber ganz unser Gewissen, und warum wir das tun, wird durch meine Ausführungen jetzt vielleicht klarer. Folgten wir unserem Gewissen, müßten wir nämlich ganz profan fragen: Was nützt mir dieser Mensch vor mir oder über mir, ja, wir müßten noch härter fragen: Was nützt er mir, und wie wirklich ist der Nutzen (auf Dauer zum Beispiel und in welcher Hinsicht), inwiefern nütze ich nicht gerade ihm oder ihr und vielleicht sogar mehr als er oder sie mir, so daß ich zu gar nichts darüber hinaus verpflichtet bin?
Ach nein, das sei ferne von uns, da wären wir ja richtige Egoisten! Das hieße, wir wären – besonders wenn wir christlich erzogen sind, und das sind wir letztlich alle noch – nun wirklich ganz schlechte Menschen, nämlich dreimal schuldig: nichts wert, nichts zurückgebend und dann noch Egoismus einklagend, auf den «schieren» Nutzen achtend! (Die Verunglimpfung des glücklichen Lebens als Egoismus, zum Beispiel durch Philosophen wie Kant oder Hegel, wäre an dieser Stelle einer Betrachtung wert, aber ich muß darauf verzichten.) Nein, die Frage nach dem wirklichen Nutzen einer Beziehung, sei es nun eine zwischen einzelnen Personen als einzelnen oder zwischen einzelnen Personen und dem sogenannten Staat, werden Menschen, die in ihrem Selbstwertgefühl ständig irritiert werden, ganz grundsätzlich zurückstellen und können und werden ganz grundsätzlich nicht merken können, wenn sie hereingelegt werden – von wem auch immer, von der besten Freundin, vom begehrten Mann oder von politischen Maßnahmen. Ich brauche wohl nicht hervorzuheben, daß diese Verschüttung des «Gewissens» und Untergrabung des Gerechtigkeitssinns durch Vereinnahmung zugunsten von falschen Schuldgefühlen im Rahmen des Geschlechterdualismus, der auf Frauen zielt, vornehmlich auch auf Frauen wirkt, was sich leider vielfach unangenehm bemerkbar macht. Nicht nur gegen sich selber richten Frauen ihren untergrabenen Gerechtigkeitssinn, indem sie sich zum Beispiel mit viel zu niedrigen Pensionen begnügen, sie richten ihn auch gegen eine mögliche positivere Entwicklung, insofern sie, um ihre Schuldgefühle zu kompensieren, ihre Männer verwöhnen und ihre Söhne verziehen, weil sie nach deren Nützlichkeit nicht fragen.
Der Geschlechterdualismus hat indessen, die Zerstörung des Gerechtigkeitssinns betreffend, eine besonders raffinierte Komponente, um eben deretwillen ich ihn zur Primärstrategie schlechthin erkläre. Das alte Prinzip des divide et impera (teile und herrsche) hat im Geschlechterdualismus seine perfekteste und perfideste Form gefunden, und deshalb ist er wohl auch, obwohl so «primitiv», am zählebigsten. Der Geschlechterdualismus zerstört nicht nur das Gewissen von Frauen und Männern, sondern er entfremdet zugleich das weibliche Gewissen vom männlichen. Er treibt einen Keil zwischen die Gewissen von Frauen und Männern, das heißt von Personen, die sich eigentlich am meisten brauchen und daher am ehesten wissen könnten, ob ihnen der oder die andere nützt oder nicht. Statt dessen teilt der Geschlechterdualismus dem einen Part, den Frauen, die Schuld- und Schamgefühle zu, dem anderen Part, den Männern, die Macht- und Überlegenheitsgefühle. Macht- und Überlegenheitsgefühle sind aber genauso dienlich, Gewissen zu verschütten wie falsche Schuldgefühle, nur daß es zwischen der einen Art der Verschüttung und der anderen gar kein gegenseitiges Verstehen gibt. Während Frauen ein falsches schlechtes Gewissen gemacht wird, das sie in der Regel durch falsches «Gutsein» zu kompensieren versuchen, wird Männern ein falsches Selbstbewußtsein induziert, wonach sie qua Natur schon überlegen sind. Diese Überlegenheit wird zudem in mystifikatorische Begriffe wie Macht und Stärke verlegt (wie sich noch deutlicher am Beispiel der Baruya zeigen wird), deren Nützlichkeitswert höchst fragwürdig ist, aber von Männern, die, so in ihrem Narzißmus bestätigt, in einem im Verhältnis zu Frauen umgekehrt proportional aufgeblähten Selbstwertgefühl schon aufwachsen, kaum
selber hinterfragt werden wird. Die Anerkennung ist ihnen ja quasi in die Wiege gelegt. Wer sie verweigert, ist dumm oder gehässig. Das Gewissen bleibt auf der Strecke, weil Machtgefühle, die nicht auf dem Wissen um die Abhängigkeit eigener Macht von der Zustimmung und Hilfe anderer beruhen, das primitive Wissen um das Unrecht, das man an anderen begeht, wenn man sie dennoch ausbeuterisch benützt, gar nicht erst hochkommen lassen. Man ist ja ohnehin ohne die anderen «was». Wie könnte es ungerecht sein, sie zu benachteiligen, da doch zweifellos sie einen sowieso mehr brauchen als man selbst sie? Was können sie einem erleichtern, angenehmer machen, verschönern, da man doch alle Kraft zum Leben in sich selber hat? Ich will hierauf nicht weiter eingehen und setze nur hinzu, daß auch Männer unter den Bedingungen des Geschlechterdualismus Schuldgefühlen ausgesetzt sind, die aber ebenso wie ein aufgeblähtes Selbstwertgefühl dazu geeignet sind, ihre Gewissensanstrengungen, soweit sie solche machen, zusätzlich zu untergraben. Um als «echter» Mann Anerkennung zu finden, hängen Männer faktisch davon ab, Bestätigungen ihrer Allmachtsphantasien bei durchschnittlichen anderen Männern zu finden. Lassen sie sich dagegen auf das Abenteuer ein, in der Beziehung zu einer Frau ihren eigenen wahren Nutzen zu testen, finden sie entweder bei dieser kein Verständnis (denn geschlechterdualistisch geprägte Frauen mögen keine wirklich netten Männer) oder riskieren, wenn sie eine finden, die sie versteht, von Männern als Pantoffelheld diffamiert zu werden. Es ist daher auch kein Wunder, daß unsere Literaturgeschichte seit der Zeit des Nibelungenliedes nur mißglückte Liebesgeschichten zwischen Männern und Frauen präsentiert. Entweder stirbt er, oder sie stirbt
– meistens sie, weil Männer lieber in den Männerklub zurückgehen. Es steht in diesem Zusammenhang noch aus, die grundsätzliche politische Relevanz der Gerechtigkeit als eines erkenntnisleitenden Maßstabs kurz zu thematisieren. Indem ich das tue, möchte ich indes wenig zum Begriff der Gerechtigkeit sagen, weil ich davon überzeugt bin, daß eine begriffliche Definition von Gerechtigkeit – in welchem Sinne auch immer – eine notwendig abstrakte Formel ist, die gar nichts einbringt. Um Verschleierungsstrategien zu durchschauen, bedarf man der Anstrengung des Gerechtigkeitssinns in dem von mir unterstellten Sinne, weil ansonsten der emotionale Halt im eigenen Gewissen fehlt. Das heißt – ich betone das noch einmal –, daß darauf zu achten ist, wie nützlich für uns eine Handlung ist, die uns gegenüber jemand begeht, wie nützlich die eigenen Handlungen für den anderen sind und ob sich die gegenseitigen Handlungen so ergänzen, daß uns selber wie dem anderen daraus ein Vorteil bzw. Nutzen entsteht, den man als äquivalent bezeichnen kann. Für die Erfüllung des letzteren Prinzips kennt die ethnologische und soziologische Literatur der Gegenwart seit Bronislaw Malinowski den Begriff der «Reziprozität». Die Äquivalenz zu bestimmen ist weder im Alltag noch in der großen Politik so einfach, allein schon deshalb, weil wir in der Regel nicht zwei Äpfel gegen zwei Äpfel tauschen und auch nicht Liebe gegen Liebe, was Karl Marx für den Inbegriff des «wahren» Tausches gehalten hat – vor dessen Idealisierung ich aber warne, weil Leute, die einen «lieben» – in Worten und in der Tat –, höchst skeptisch zu betrachten sind, wenn sie beim Wohnungsumzug, den man durchführen muß, ganz dringend etwas anderes zu tun haben.
Wir tauschen unter anderem materielle, seelische und geistige Güter gegeneinander, und das heißt Güter, die ganz ungleichartig sind, weshalb wir darauf angewiesen sind, ihre dennoch möglicherweise vorhandene Gleichwertigkeit, also die Äquivalenz, zu bestimmen. Eben deshalb können Verschleierungsstrategien so gut funktionieren, denn gleichartige Güter erkennt jeder, Gleichwertigkeit läßt sich vortäuschen. Es kommt uns dabei auch nicht gerade entgegen, daß wir selber parasitäre wie narzißtische Neigungen haben und deshalb sogar allzugerne andere als Ausbeuter abstempeln, die es unter Umständen gar nicht sind. Dies ist auch einer der Gründe, warum ich anstelle des Begriffs der «Ausbeutung» soviel Wert auf die Einführung des erkenntnisleitenden Maßstabs der Gerechtigkeit lege. Denn abgesehen davon, daß wir uns aufgrund unserer eigenen parasitären Neigungen nur allzu schnell als ausgebeutet empfinden können, nützt auch der streng marxistisch definierte Begriff der Ausbeutung wenig in der Beurteilung von alltäglichen Verschleierungsstrategien. Wir können ja unmöglich immer den Mehrwert einer Handlung ausrechnen, vor allem nicht außerhalb des Verhältnisses Kapitalist/Lohnarbeiter. Wir brauchen eine praktische Orientierung, die wir in unserem Gewissen, unserem Wissen um das, was uns «gut» tut, und in unserem Gerechtigkeitssinn finden, wenn wir wollen. In der Tat ist es also nicht einfach, unseren Gerechtigkeitssinn anzustrengen, selbst wenn er nicht unterwandert wird. Denn um ihn als erkenntnisleitende Idee richtig einzusetzen, bedürfen wir zugleich der Gerechtigkeitsliebe und der Anstrengung unseres Verstandes –, beides keine leicht zu erwerbenden Qualitäten. Trotzdem werden wir zu einem rationalen Begriff von Gerechtigkeit nur finden,
wenn wir unseren Gerechtigkeitssinn zur leitenden Idee machen, denn sonst hat unser Denken keinen Halt in der Sinnlichkeit, wie Nikolai Hartmann es ausgedrückt hat, und wird uns dahinschmelzen wie die «Flügel des Daidalos» (Sokrates). Wer dennoch einen Halt am bloßen Begriff finden möchte, sei auf die antike politische Philosophie Platons und Aristoteles’ und deren Gerechtigkeitsbegriffe verwiesen – auf die ich nicht deshalb verweise, weil ich ihr so wohlgesonnen bin, sondern weil in ihr ein Gerechtigkeitsbegriff entwickelt worden ist, der aus unserem natürlichen Gerechtigkeitssinn in dessen logisch-empirischer Ausdehnung folgt. Im Verweis darauf bin ich an einem zweiten Punkt angelangt, den es im Hinblick auf die erkenntnisleitende Funktion unseres Gerechtigkeitssinns hervorzuheben gilt, und zwar aus folgendem Grunde: Verschleierungsstrategien haben zwar den letztlichen Zweck, jemanden auszubeuten, aber bewußtseinspolitisch gesehen haben sie in erster Linie den Zweck, unseren Gerechtigkeitssinn zu unterwandern, damit wir das nicht merken. Anders ausgedrückt: Ausbeutung im Sinne dessen, daß einer seinen Nutzen auf Kosten eines anderen verfolgt, findet in der Natur wie in menschlichen Gesellschaften tagtäglich statt und muß sich gar nicht verschleiern, wenn der eine stärker ist als der andere bzw. Gewalt alleine hinreicht, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Verschleierungsstrategien sind daher, wie ich im ersten Kapitel mit Bourdieu schon sagte, nur nötig, wenn die direkte und brutale Ausbeutung nicht möglich ist, das heißt, wenn die, die man ausbeuten möchte, eigentlich stark genug sind, um Widerstand zu leisten, und man ihnen daher die Illusion vermitteln muß, daß
sie freiwillig zustimmen. Daß Menschen ihrer Ausbeutung freiwillig zustimmen, ist aber nur zu erreichen, indem man mitsamt ihrem Gerechtigkeitssinn zugleich ihr potentielles politisches Bewußtsein unterwandert. Ich meine damit folgendes: Wir reden in der Nachfolge der 68er-Bewegung ständig von politischem Bewußtsein, wundern uns über dessen mangelnde Präsenz und denken dabei leider viel zu wenig daran, was politisches Bewußtsein überhaupt sein könnte. Ich behaupte hier, daß der Begriff des politischen Bewußtseins nur einen Sinn macht, wenn man ihn, was in der Neuzeit allerdings nicht üblich ist, an den Begriff der Gerechtigkeit zurückvermittelt, und zwar so, wie das Platon und Aristoteles getan haben, indem sie ganz radikal die Frage stellten, welchen rationalen Sinn es überhaupt macht, in Gesellschaft mit anderen zu leben. Da sich das «Vaterland» Athen zur Zeit Platons ziemlich unschön dekuvriert hatte, indem es in einem imperialistischen Bruderkrieg nicht nur seine Soldaten, sondern auch noch seine materiellen Ressourcen ruinierte, konnte insbesondere Platon diese Frage so radikal wie möglich stellen, das heißt, ohne Rücksicht auf die Mystifikation von vaterländischen oder sonstigen Solidaritäten. Er fragte daher (nachzulesen in der Politeia) ganz einfach: Wie entsteht eine Polis? Das heißt übersetzt: Welchen rationalen bzw. freiwilligen (weil einsehbaren) Grund könnte es geben, die Existenz in einer Polis dem Alleinleben vorzuziehen? Gibt es Gründe, die für jedermann akzeptabel sind – qua seiner Bedürfnisse einerseits und seiner Fähigkeit zur Einsicht andererseits? Platon kam zu dem einfachen, aber nachvollziehbaren Schluß, daß wir, wenn wir freiwillig und bei Verstand entscheiden (wir, das heißt wenn alle freiwillig und bei Verstand entscheiden und nicht etwa die Sophisten seiner Zeit, die die Gesellschaft
als einen Tummelplatz für die Ausnützung ihrer eigenen Größenphantasien ansahen), daß wir dann Gesellschaft nur akzeptieren werden, wenn wir sie auch brauchen. Und wir brauchen sie nach Platon aus folgenden Gründen: Erstens, weil Menschen prinzipiell nicht alleine leben können, wir «brauchen» andere zum bloßen Überleben, zum Beispiel als Kinder, Alte, Kranke, aber auch, weil viele Dinge, selbst wenn wir erwachsen und stark sind, nicht einfach alleine bewältigt werden können. Aber nicht nur deswegen: Andere Menschen machen uns das Leben auch leichter, wenn sie etwas können, was wir selber nicht gut können, und dies gegen etwas tauschen, was wir selber gut können. Für die Potenz, etwas gut oder schön oder richtig oder geschickt zu können, führt Platon den Begriff Natur ein. Platon kam aufgrund dieser einfachen, aber radikalen Fragestellung zu dem Schluß, daß gesellschaftliches Zusammenleben nur dann einen Sinn macht für jeden, wenn jeder von jedem lebt, aber so, daß jeder jedem hilft, wenn er es gerade braucht, und dieselbe Hilfe zurückverlangen kann, wenn er sie braucht, und daß jeder jedem seine aus natürlichen Anlagen resultierenden Fähigkeiten anbietet, wenn jeder andere, der wiederum seine eigenen angeborenen Fähigkeiten hat, diese ebenso zurückanbietet, sofern es sich für beide lohnt. Dies ist für Platon zwar nur die einfache Art, Gerechtigkeit zu verstehen, aber sie ist für ihn die Grundlage, von der er ausgeht, um zu einem komplizierteren Gerechtigkeitsbegriff zu kommen. Im Festhalten an diesem einzig freiwillig akzeptablen Sinn von Zusammenleben pointierte Platon, daß alle «Politik» sinnvollerweise nur dann so genannt werden könne, wenn sie gerecht sei, das heißt dafür Sorge trage, daß Menschen ihre Bedürfnisse
in gegenseitiger Unterstützung befriedigen, und zwar so, daß dies mit Hilfe der jeweiligen natürlichen Anlagen bzw. Fähigkeiten aller in gegenseitiger Ergänzung geschieht. Politisches Bewußtsein, das heißt die Befähigung, zu durchschauen, was die gegenwärtige politische Lage ist, fällt daher nach Platon und Aristoteles mit dem Wissen um gerecht und ungerecht im vorher beschriebenen Sinne zusammen. In anderen Worten: Wir haben nur ein politisches Bewußtsein, wenn wir uns zutrauen, Politik von Politikern danach zu beurteilen, ob sie unsere Verhältnisse untereinander nach den angegebenen Prinzipien regelt. Nachdem ich hiermit den Maßstab der Beurteilungsfähigkeit von Verschleierungsstrategien klarzustellen versucht habe, hoffe ich, zugleich ein Bewußtsein geweckt zu haben, das dazu verhilft, den durchaus strategischen Charakter des Geschlechterdualismus am Beispiel der Baruya zu durchschauen, vor allem insoweit der Geschlechterdualismus bei diesen nicht nur – wie bei uns – offiziös sanktioniert ist, sondern die offizielle Sanktion ihrer «Politik» darstellt. Es sei indes noch vermerkt, daß es Völker gegeben hat und gibt, die, wenn auch in einfacher Form, dem platonischen Gerechtigkeitsgedanken sehr nahekommen. Dazu zählen zum Beispiel die Bambuti des Ituri-Flusses in Afrika und die !Kung-Buschleute der Kalahari.6 Auch bei ihnen gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen und gewisse Boshaftigkeiten, die zwischen Männern und Frauen ausgetauscht werden. Aber sie kennen nicht die geschlechterdualistischen Klischees abwertender oder aufwertender Art, noch sind sie geschlechterdualistisch organisiert wie die Baruya, von denen gleich zu sprechen sein wird. Sie kennen auch sonst kaum «Vorurteile», sie
sind nicht «abergläubisch», sondern eher im schlichten aufklärerischen Sinn «nüchtern» in der Weltbetrachtung und leben – soweit man sie nach ihren eigenen Vorstellungen leben läßt – recht glücklich und zufrieden. Da sie auf einfachem Jäger- und Sammlerniveau existieren, das die Akkumulation von Reichtümern und Macht weder begünstigt noch erstrebenswert erscheinen läßt, hängt ihre Organisation bzw. Kooperation nur von der «einsehbaren» Interessenlage aller einzelnen und deren Fähigkeiten, diese zu verwirklichen, ab, so daß man ihre Art des Zusammenlebens am ehesten als «freiwillig» und «natürlich» im Sinne Platons bezeichnen kann. Folglich läßt sich auch ihr Mangel an geschlechterdualistischen Klischees als «natürlich» bezeichnen – zumindest indiziert er, daß Geschlechterdualismus keineswegs lebensnotwendig (geschweige denn gerecht) ist und sich also anderen als lebensnotwendigen Gründen verdankt. Inwiefern und in welchem Sinne das so ist, möchte ich indes an der Gesellschaft der Baruya pointiert veranschaulichen: Ich greife die Baruya aus der Unmenge geschlechterdualistisch organisierter Gesellschaften heraus, weil Maurice Godelier in bezug auf die Analyse ihres strategisch bedingten Aufbaus von Macht und Herrschaft vorzügliche Arbeit geleistet hat, die ich hier als Frau «ausbeute». Ich beschreibe zunächst die soziale Organisation und das soziale Profil der Baruya und werde dann die verschleierungsstrategischen Fundamente ihrer Machtstruktur herausarbeiten. Die Baruya sind ein sehr kleiner Stamm im Inneren Neuguineas, des sogenannten Papua-Neuguineas, der von Ackerbau, Schweinezucht und der Produktion pflanzlichen Salzes lebt, erst 1951 von Weißen entdeckt wurde und
bis dahin, so Godelier, zu jenen Gesellschaften zählte, «die unsere eigene Gesellschaft ‹primitive› nennt, weil ihnen die beiden Pfeiler der (Zivilisation), die Klassen und der Staat, fehlen»7. Die soziale Organisation der Baruya ist die eines Stammes ohne Häuptling, bestehend aus fünfzehn Clans. Die Clans sind in Sippen unterteilt, die wiederum in Segmente zerfallen. Der Wohnsitz ist patrilokal, ihr Verwandtschaftssystem ist patrilinear, das heißt, ein Kind gehört bei seiner Geburt automatisch zur Sippe und zum Clan des Vaters. Sie praktizieren den sogenannten Frauentausch, das heißt allgemein, daß Frauen von Brüdern, Vätern, Onkeln oder sonst einer männlichen Instanz ihrer eigenen Gruppe zur Verheiratung an Männer einer anderen Gruppe vergeben werden, die ihrerseits verpflichtet ist, der gebenden Gruppe dieselbe Menge an Frauen zur dortigen Einheirat zurückzuerstatten. Über den sozialen Sinn des Frauentausches haben sich vor allem Claude Lévi-Strauss und Claude Meillassoux den Kopf zerbrochen. Letzterer mit folgendem Resultat: Frauen sind für Gesellschaften vom Typus häuslicher Wirtschaft von besonderer existentieller Wichtigkeit, was sich aus ihrer Gebärfähigkeit einerseits und deren Begrenztheit andererseits begründet. Solche Gesellschaften können sich nur sozial reproduzieren, wenn ihnen ein ausreichendes Potential an vitaler Arbeitskraft kontinuierlich zur Verfügung steht. Da sie dieses aus ihrer Nachkommenschaft rekrutieren, die Anzahl der Nachkommen aber wiederum von der Anzahl der gebärfähigen Frauen abhängt, stehen solche kleinen Gesellschaften vor dem Risiko, das mit zufälligen Geburten verbunden ist, nämlich zuwenig Frauen zu haben. Wie Meillassoux meint, wird dieses Risiko durch den Frauentausch minimiert, mit seiner Hilfe kann ein akuter Mangel in einer
Gruppe durch eine andere ausgeglichen werden. Optimal ist es, wenn man den wechselseitigen Austausch zu einem komplexen Kreditsystem ausbaut, an dem viele Gruppen über größere Zeiträume hinweg partizipieren.8 Ich stimme Meillassoux zu, soweit er hervorhebt, daß Gesellschaften vom Typus häuslicher Wirtschaft, wenn sie patriarchalisch-geschlechterdualistisch organisiert sind, sehr viel Wert, ja übersteigerten Wert auf die Fruchtbarkeit ihrer Frauen legen. Ich stimme ihm aber keineswegs zu, was seine Behauptung der ökonomischen Notwendigkeit des Frauentausches in solchen Gesellschaften betrifft. Als ich vor einem Jahr über die Machtstrategien der Baruya einen Vortrag an der Universität Freiburg hielt, stellte ich die ökonomische Notwendigkeit des Frauentausches in solchen Gesellschaften noch anheim. Professor Heinrich Popitz machte mich darauf aufmerksam, daß an Meillassoux’ These erhebliche Zweifel anzumelden seien, da Agrargesellschaften in der Regel an Kindern ganz und gar keinen Mangel hätten, im Gegenteil eher zur Überbevölkerung tendierten. Ich bin diesem Einwand nachgegangen und sage daher heute: Schon die Tatsache, daß patriarchalisch organisierte Agrargesellschaften chronisch zur Überbevölkerung neigen, weshalb sie dann in der Regel auch expansiv und kriegerisch sind, widerspricht der Annahme, daß ihrer Wertschätzung der Gebärfähigkeit von Frauen ein ökonomisch zweckrationaler Grund zu unterstellen sei. Obwohl Meillassoux ganz richtig die wesentliehen Unterschiede zwischen Jäger- und Sammlergesellschaften einerseits und Ackerbaugesellschaften vom matrilinearen und patrilinearen Organisationstypus andererseits betont, gewichtet er doch die Bedeutung des Frauentausches, auf diese Unterschiede bezogen, falsch: Während gerade bei Jä
gern und Sammlern der Frauentausch, der hier allerdings zwischen Schwestern und Brüdern (unter Berücksichtigung der «Liebeswahl») stattfindet, einen ökonomischen Sinn macht, weil sie ohne eine bestimmte Minimalgröße ihrer Arbeitsgruppen nicht überlebensfähig, vor allem aber auf die Hilfe ihrer Frauen angewiesen sind, bestreitet Meillassoux die Relevanz des Frauentausches für solche Gruppen. Zugleich übersieht er, daß zwar nicht matrilinear organisierte Ackerbaugesellschaften, wohl aber patrilinear organisierte, respektive patriarchalische Ackerbaugesellschaften, zur Überbevölkerung tendieren. Demzufolge übersieht er auch den ökonomisch durchaus irrationalen, aber sehr wohl machtstrategisch relevanten Charakter, den der Frauentausch bei patriarchalischen Agrargesellschaften besitzt. Hier, so meine ich, eignen sich nämlich Männer in der Eigenschaft als «Väter» ihre Kinder zu oder an, um vermittels ihrer Kinder Macht aufzubauen. Sie bestimmen, wer wen heiraten darf, um – über die Stiftung von Verwandtschaften – Allianzen, die ihnen nützlich sind, zu erzielen. Sie bauen sozusagen über ihre Kinder, in deren Aneignung damit das Primärpotential ihrer Macht steckt, eine «Klientelschaft» auf. Wie dem auch sei, festzuhalten ist für die Baruya, daß jedenfalls die existentielle Wichtigkeit der Frauen – sowohl was ihre Gebärfähigkeit als auch was ihre Arbeitsleistung betrifft – ihnen eine dazu umgekehrt proportionale Statusnegativität beschert. Denn der patriarchalische Frauentausch beruht, wie wiederum Godelier betont, auf dem Prinzip, «daß nur eine Frau einer Frau gleichwertig ist». Mit dieser Äquivalenz, schreibt er weiter, ist aber postuliert, «daß jedes junge Mädchen, sofern es gesund ist und an keinen ernsten körperlichen oder seelischen
Gebrechen leidet, gegen jedes andere ausgetauscht werden kann. Sie setzt voraus, daß man von den besonderen Merkmalen der einzelnen Frauen abstrahiert und sie als abstraktes Tauschmittel betrachtet»9. Im Dienste der Gewährleistung dessen, wofür man Frauen braucht, zieht das zugleich nach sich, daß man die reelle Äquivalenz ihres Gebrauchswertes zu garantieren bestrebt ist und sie deshalb alle auf dieselbe Rolle dressiert, nämlich hart zu arbeiten, fruchtbar zu sein, gute Mütter abzugeben und unterwürfige Ehefrauen. Der Verdacht, der hier auftaucht, daß bei den Baruya mehr geherrscht wird, als oberflächliche Kriterien nahelegen, wird von Godelier schon im Vorwort seines Buches ohne Umschweife zu folgender These verdichtet: «Bis 1960 also regierten sich die Baruya ohne Führungsklasse und ohne Staat, was jedoch nicht heißt: ohne Ungleichheiten. Ein Teil der Gesellschaft, die Männer, lenkte den anderen, die Frauen; sie regierten die Gesellschaft zwar nicht ohne die Frauen, aber gegen sie.»10 Inwieweit das stimmt, möchte ich mit Hilfe des sozialen Profils der Baruya etwas näher begründen. Ich charakterisiere dieses Profil kurz von seiner machtpolitischen, ökonomischen und symbolischen Seite her: Machtpolitisch relevant ist, daß Frauen von politischen Entscheidungen grundsätzlich ausgeschlossen sind. Sie können weder das Amt der Zeremonienmeister, die quasi Wächter der Gesamtordnung sind (ich komme auf sie noch zurück), noch etwa die rituell wichtige Tätigkeit des Jägers oder die das System nach außen abstützende Tätigkeit des Kriegers übernehmen. Selbstverständlich können sie auch
nicht in die Stiftung von Heiratsallianzen hineinreden. Zur ökonomischen Seite zitiere ich Godelier: «Die Frauen sind vom Eigentum an Grund und Boden ausgeschlossen, (…). Die Frauen sind vom Eigentum und von der Benutzung der wirksamsten Werkzeuge zur Rodung des Waldes ausgeschlossen. Die Frauen sind vom Eigentum und von der Benutzung der Waffen, der Destruktionsmittel, ausgeschlossen, (...). Die Frauen sind von der Salzherstellung und der Organisation der Handelsbeziehungen mit fremden Stämmen ausgeschlossen.»11 Summa summarum heißt das, daß Frauen in fast allen Bereichen als Abhängige tätig werden, das heißt Arbeiten nachgehen, die sie ohne die Vorleistung eines Mannes gar nicht anfangen können. Hierzu trägt eine streng nach Geschlechtern geordnete Arbeitsteilung flankierend bei. Der entscheidende Umstand ist jedoch, daß Frauen weitaus mehr echte Arbeit, das heißt Zeit und Mühe aufwenden, die zur ökonomischen und biologischen Reproduktion des Gesamtsystems notwendig ist. Die Ernährung und Aufzucht der Kinder ist ihnen allein überlassen, ähnlich die Zubereitung der Nahrung. Sie leisten das zeitlich größere Quantum beim Ackerbau und in der Schweinezucht, die sie praktisch allein betreiben usw., während Männer zwar auch arbeiten, aber lieber exzentrischeren Tätigkeiten nachgehen, wie Jagen oder Kriegführen, Tätigkeiten, die in diesem Falle ökonomisch bedeutungslos oder sogar destruktiv sind, aber einen hohen Prestigewert besitzen, was uns zur symbolischen Seite des Sozialprofils der Baruya hinleitet.
Bei den Baruya gilt auf symbolischer Ebene, was Thorstein Veblen schon 1899 für sogenannte barbarische Völker insgesamt diagnostiziert hat, nämlich die Unterscheidung zwischen Heldentum und Plackerei. Das heißt: Bestimmte Tätigkeiten, deren gemeinschaftlicher, vor allem ökonomischer Nutzen sehr hoch ist, werden als Plackerei abgewertet, andere, deren gemeinschaftlicher Nutzen eher fadenscheinig ist, werden symbolisch aufgewertet, wenn sie mit Konnotationen von kurzfristiger Kraftleistung, Risiko, Abenteuer verbunden sind. Letztlich sogar besonders dann, wenn sie räuberischer, erpresserischer, destruktiver, kurzum: insgesamt gewalttätiger Natur sind. Außerdem werden ausgerechnet solche Tätigkeiten als «politisch» wichtig glorifiziert.12 Ihren sozialen Niederschlag findet diese symbolische Seite auch in einer die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen überlagernden Ranghierarchie der Männer untereinander. Alle Baruya-Männer sind sowohl Ackerbauern wie Jäger und Krieger, nur einzelne können jedoch den Rang eines Großen Jägers, eines Großen Kriegers oder eines Schamanen erwerben und daraus höheres Ansehen und Einfluß gewinnen. Es gibt auch spezialisierte Salzhersteller, die ökonomisch wichtig sind, aber keine symbolische Anerkennung finden. Dies alles zusammengenommen, ist Godeliers These, daß die Baruya-Männer gegen ihre Frauen herrschen, durchaus vertretbar. Die Frauen der Baruya haben von ihrer Gemeinschaft mit den Männern gerade eben den «Nutzen», sich selbst zu erhalten, ihre sexuelle Befriedigung sei dahingestellt. Die Männer dagegen ziehen aus der Gemeinschaft mit den Frauen zu deren Nachteil den größeren Nutzen. Sie können sich außerdem materiell bereichern, sich vor allem
aber psychisch überhöhen durch Macht, Ansehen, Ruhm – ganz allgemein gegenüber Frauen. Letztere dürfen sich minderwertig fühlen und werden – wie zu erwarten – mit Schuldgefühlen beladen. Ihr Menstruationsblut macht sie nicht nur unrein, sondern gilt als tödliche Gefahr. Ihre Geschlechtsorgane stehen im Verdacht, unheilvolle dämonische Kräfte anzuziehen. (Ich betone: bei Jägern und Sammlern, zumindest bei den Buschleuten und bei den Pygmäen, ist das nicht so.) Dennoch gelingt es den Baruya-Männern, ihre Macht über Frauen zu behaupten und zu legitimieren. Wie machen sie das? Ich komme zum analytischen Teil: Aus der Komplexität sich gegenseitig unterstützender Mittel des Machtaufbaus greife ich den Dreh- und Angelpunkt heraus, die sogenannte Initiation, und zwar die männliche Initiation. Sie ist Dreh- und Angelpunkt, weil erstens nur über die Initiation ein Baruya-Mann überhaupt zum Mann wird (als Kind gilt er den Frauen gleich), er zweitens die Chance erhält zu heiraten, Gebieter über eine Frau zu werden und Kinder zu haben, und drittens allen Baruya-Männern insgesamt eine Selbstinterpretation vermittelt wird, in der Mannsein und Überlegenheit unauflöslich miteinander assoziiert werden, was das spirituelle Fundament ihrer Machtstruktur bildet. Da die Initiation bei den Baruya sich über viele Jahre erstreckt, muß ich ihre Beschreibung sehr verkürzen. Das wesentliche Moment in der Initiation ist die Trennung der Knaben von der weiblichen Welt, die brutal, wie Godelier sagt, vollzogen wird und dann über zehn Jahre andauert. «Wenn der Knabe etwa neun Jahre alt ist, kommt eines Abends ein Mann, holt ihn und schließt ihn mit einem gleichaltrigen Knaben in seinem Haus ein (…). Dieser Mann ist der Meister der ersten Initiationszeremonien.»13
Die Initiationszeremonienmeister der verschiedenen Phasen sind, wie vorher schon angedeutet, die Mächtigen der Mächtigen unter den Baruya, denn sie sind es, die mittels der Initiation der Knaben die grundlegenden Normen festlegen, einprägen und überwachen. Sie sind es auch, die die Eignung der jungen Männer testen, ein Großer Krieger, Großer Jäger oder Schamane werden zu können, und damit einzelnen zu einem Statusprivileg verhelfen. Die physische Trennung der Knaben von der Frauenwelt dient im ersten Schritt dazu, ihre psychische Ablösung und definitorische Abgrenzung zu erreichen. Zu diesem Zweck beläßt man sie noch ca. drei Jahre in ihrer mitgebrachten Frauenkleidung, unterwirft sie aber Hänseleien, Schlägen und Strafen, die vornehmlich dazu dienen, ihnen die Identifikation mit Frauen zu verleiden. In einer zweiten Phase, etwa ab dem dreizehnten Lebensjahr, dürfen die Initianden Männerkleidung tragen. Im Alter von etwa fünfzehn Jahren erhalten sie die Insignien männlicher Herrschaft, einen Rakenvogelschnabel auf einem Binsenring – was jeweils alles mit großem Tamtam einerseits und viel Schmerzzufügung andererseits verbunden ist. Mit der letztgenannten Phase beginnt die Suche der älteren Männer nach einer Gattin für die jüngeren. Ein lockendes Angebot, angesichts dessen die jüngeren sich meist bereitwillig der Fortsetzung der Initiationsprozeduren, um nicht zu sagen -torturen, unterwerfen. Bis sie die Gattinnen heiraten dürfen, dauert es allerdings noch eine Weile. Über alles bisher Gesagte hinaus ist nun aber vor allem ein Umstand bemerkenswert, dessen Erwähnung zwar anstößig, aber unumgänglich ist: Durchgängig bis zur Heirat sind die Initianden gezwungen, das Sperma eines jeweils älteren Initianden zu trinken bzw. vice versa
einem jüngeren Initianden Sperma zu trinken zu geben. Der Spermageber fungiert als eine Art Pate und muß noch unverheiratet sein, weil er sonst durch weiblichen sexuellen Umgang beschmutzt wäre. «Folglich durften und mußten einzig die unverheirateten Männer den neuen Initianden ihr Sperma geben. Diese waren gezwungen, den Penis zu akzeptieren, den man ihnen hinstreckte. Diejenigen, die sich weigerten, wurden mit Gewalt dazu gezwungen. Die Tradition berichtet, daß einige von ihnen sich das Genick brachen bei der Anstrengung, Widerstand zu leisten.»14 Dieser Spermatransfer, wie ich es nennen möchte, ist von größter Bedeutung, weil er den symbolischen Eckpfeiler in der strategischen Implantierung von Denkmustern bildet, die die Machtstruktur der Baruya zementiert. Über dies Ritual wird nämlich, natürlich mit Hilfe begleitender verbaler Instruktion, dreierlei an den Initianden vermittelt: Erstens die allgemeine Ideologie der Baruya über das Sperma, wonach das Sperma die eigentlichere Lebenssubstanz im Kontrast zur Gebärfähigkeit und Milchproduktion der Frauen ist. Die Baruya postulieren nämlich, daß auch Frauen Sperma trinken müssen, um überhaupt Milch produzieren zu können, und daß sie fortlaufend Sperma aufnehmen müssen, damit das Kind im Mutterleib überhaupt gedeiht. Zweitens wird die Ideologie vermittelt, daß ein männliches Kind erst zum wahren Mann wird, wenn es durch Sperma direkt ernährt wird. Männer erhalten somit, nach Godelier, durch die Initiation ein zweites Leben, eine zweite Natur, die für wahrer gilt als die biologische, weil sie durch eine vom Sperma produzierte Kraft und
Überlegenheit definiert ist. Drittens wird der Gedanke vermittelt, daß wahre männliche Natur ganz und gar in Abhängigkeit von Männern erworben wird, was sie zu Dankbarkeit und Solidarität diesen gegenüber verpflichtet, vor allem, weil das Sperma, wie Godelier meint, immer nur von oben nach unten, das heißt asymmetrisch, nie reziprok, vergeben wird. Unter machtstrategischen Gesichtspunkten läßt sich daher zunächst folgendes konstatieren: Die grundsätzliche Legitimationsbasis der Baruya ist offensichtlich die Schaffung und Erhaltung von Leben und seiner je spezifischen Erscheinungsform. Das verschleierungsstrategische Konzept, das die Männerherrschaft legitimiert, ist indes die Etablierung des Gedankens, daß die Männer den größeren, wesentlicheren Anteil an der Erschaffung und Erhaltung von Leben haben. Er findet seinen Ausdruck in dem Denkmuster, daß sie die eigentlichen Geber des Lebens sind, insbesondere des männlichen Lebens, der männlichen Natur. Auf Männer bezogen verdoppelt sich das Gebertum, weil die älteren Männer zugleich Frauengeber für die jüngeren sind. Die Verdoppelung durch eine «echte Gabe» trägt natürlich nicht unerheblich zur «Beweiskraft» des symbolischen Aufbaus bei. Der zentrale strategische Wert von «Geberschaft» ist in seiner legitimatorischen und allianzbildenden Bedeutung nicht zu unterschätzen, scheint doch Geberschaft das prototypische Denkmuster aller nichtdemokratischen Konsensbildung zu sein. Sogar für die Institution der Sklaverei, die sonst rein gewalttätigen Charakter hat, ist Geberschaft, wie Meillassoux in seiner Studie zur «Anthropologie der Sklaverei» nachweisen kann, von strategischer Bedeutung.15 Entscheidend für unseren Fall ist jedoch,
daß die Geberschaft hier keine einfache Machtstrategie ist (damit meine ich: man kann in der Tat ein echter Geber sein, man kann etwas zu vergeben haben, das die Empfänger zu Recht zu Dank verpflichtet), sondern bewußtseinsmanipulatorischen Charakter hat, insofern sie erschlichen wird. Das wird sie vor allem mit Hilfe zweier Denkoperationen, die wir schon kennen, nämlich durch Inversion und Mystifikation. Der inversive Charakter der Geberschaft der Baruya-Männer wird deutlich, wenn man sich an ihre in Wirklichkeit bestehende existentielle Abhängigkeit von Frauen sowie an deren biologisch wie existentiell faktisch größeren Beitrag zum Leben und Überleben erinnert. So gesehen wird nämlich die existentielle Realmacht der Frauen einerseits invalidiert, verleugnet, diffamiert, ja, sogar verteufelt, faktisch aber auf Männer transferiert. Der Transfer wird allerdings durch strategische Unterbewußtmachung (schockhafte Trennung von den Frauen, Diffamierung der Abhängigkeit von ihnen usw.) verschleiert, der darin enthaltene Raub sogar als eigene Gabe aufgewertet und kaschiert. Beides gelingt aber nur unter der Berufung auf etwas Höheres, Eigentlicheres als das biologische Leben, zum Beispiel hier auf eine imaginäre Kraft, die den realen Wert der Mutterschaft übertrumpft, artikuliert im Symbolwert des Spermas. Daß dann mit Lebendigkeit durch einen höchst fragwürdigen Wert von Kraft, Stärke, Macht ersetzt wird, was sich nicht nur zum Schaden der BaruyaFrauen, sondern auch zum Schaden der Baruya-Männer auswirkt, weil es sie in unsinnige kriegerische Operationen hineintreibt, sei nur beiläufig erwähnt. Neben die Denkoperationen der Inversion, die schon eine Mystifikation enthält, nämlich die des Spermas, tritt
unentbehrlich eine zweite Mystifikation. Ich nenne sie deshalb unentbehrlich, weil die Eigentlichkeitsdimension der Baruya leicht abstürzen könnte, würden sie sie nicht mit einer realitätshaltigeren Dimension liieren, einer sozusagen «echten Wahrheit», die ich hier die ontische nennen möchte. Es wissen nämlich auch die Baruya, daß das biologische Leben in seiner spezifischen Gestalt oder Natur nicht von ihnen allein abhängt. Zwar kennen sie nicht unsere Naturgesetze, aber sie «wissen», daß die spezifische Gestalt des Lebens von kosmischen Mächten abhängt, unter denen vor allem Sonne und Mond bei ihnen eine Rolle spielen. Weil sich nun aber, wie ich meine, dieses Abhängigkeitsverhältnis leicht als Argument gegen die männliche Geberschaft wenden ließe, müssen die Baruya-Männer geradezu zur Strategie der Mystifikation greifen. Und das heißt erstens, den Frauen den Wissenszugang zur kosmischen Situation versperren, zweitens, sich selber als Hüter und Vermittler kosmischer Mächte gerieren. Sie behaupten daher, durch die männliche Initiation die Natur, vornehmlich die der Männer, genauso zu gestalten, wie es der Intention ihrer Hauptgötter Sonne und Mond entspricht. Das rituelle Mittel, sich dessen selbst zu vergewissern, sind bei den Baruya die kwaimatnié und Schwirrhölzer, das sind Fetische, derer sich die Initiationszeremonienmeister während der Initiation bedienen und die sie selber herstellen (!). Ihr Gebrauch verbürgt magisch die Präsenz und Einwirkung kosmischer Mächte. Die Baruya-Männer versichern sich also eines ontischen Status ihrer Macht mittels magischer Praktiken. Da sie somit auch diesen, und zwar durch selbstzentrierte Vereinnahmung, erschleichen (schließlich partizipieren faktisch auch die Frauen an kosmischen Mächten), nenne ich diesen Vor
gang einerseits Ontologisierung des Faktischen, weil man sich auf hinter der Natur und durch sie hindurch wirkende Seinsmächte beruft, um das Selbstproduzierte als vorgegeben hinzustellen. Andererseits hat diese Ontologisierung zugleich auch (deshalb habe ich vorher vereinfacht nur von Mystifikation gesprochen) einen mystifikatorischen Charakter, und zwar einen, über den bisher noch nicht gesprochen wurde, der aber jedem aus der Weltgeschichte hinlänglich bekannt ist: die Überhöhung menschlicher Macht durch sogenannte Götter. Im Hinblick auf die Tatsache, daß zur Gewährleistung dessen, daß Unbeteiligte den Trick nicht als Trick durchschauen, ein weiteres «Mysterium» dabei in die Welt gesetzt wird, läßt sich sogar von einer Mystifikation der Mystifikation sprechen. Es ist nämlich bei Todesstrafe tabu, also verboten, über das, was in der Initiation geschieht, vor allem über die triviale Herkunft der Fetische zu sprechen, und dadurch wird sie zugleich Mysterium im ursprünglichen Sinne des Wortes, Geheimnis schlechthin. Ich fasse zusammen: Letztlich beruht die Macht der Baruya-Männer und deren Legitimation auf der Selbstverherrlichung der Männer bzw. ihrer Natur, strategisch induziert und wirksam nach innen wie außen über das im Zentrum stehende Denkmuster der asymmetrischen Geberschaft. Diese ist zwar erschlichen, aber das wird durch Inversion und Mystifikation verschleiert. Für die Mystifikation ihres Tuns durch Berufung auf göttliche Seinsmächte habe ich den Begriff der Ontologisierung des Faktischen, hier im ursprünglichen Sinne des Wortes: des Gemachten, ersatzweise angeboten, weil er besser ausdrückt, daß etwas, was von Menschen selbstverantwortlich getan bzw. sogar künstlich produziert wird, den Nimbus
des Vollzugs einer unabänderlichen höheren Bestimmung, der Schicksalshaftigkeit erhält. Ein Beispiel hierzu aus dem 20. Jahrhundert: Rudolf Höß, Kommandant von Auschwitz und verantwortlicher, ja höchst eifriger Organisator der Ermordung von ca. zweieinhalb Millionen Menschen, kommentiert Auschwitz an einer Stelle seiner biographischen Aufzeichnungen mit den Worten: «Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Bäumen des Bauerngehöftes meist nichtsahnend in die Gaskammern, in den Tod.» Sie gingen, wohlgemerkt, offenbar einfach so, keiner trieb sie dazu an, und daher fährt Höß auch fort: «Dies Bild vom Werden und Vergehen steht mir auch jetzt noch genau vor den Augen.»16
5. Die sanfte Gewalt des Mythos in der griechischen Tragödie: Euripides’ «Iphigenie in Aulis» Ich habe erwähnt, daß die Torturen, denen die jungen Baruya-Männer unterworfen sind, von rhetorischen Unterweisungen begleitet werden. Diese rhetorischen Unterweisungen sind, obwohl ich mir ihre inhaltliche Darstellung für den Fall der Baruya erspart habe, im Hinblick auf ihren verschleierungsstrategischen Charakter nicht zu unterschätzen. Zwar üben die Baruya-Väter ihren Söhnen gegenüber offensichtlich auch direkte Gewalt aus, um sie in ihre Dienste zu ziehen, was in der ethnologischen Literatur in der Regel verharmlost und als gesellschaftliche «Integration» beschönigt wird. Aber sie könnten diese Gewalt kaum als gute Tat kaschieren, würden sie ihr nicht einen «Sinn» geben. Diesen Sinn erzielen sie zwar einerseits über die Inaussichtstellung von Lohn: Sie verleihen die Kraft, die dazu dient, Frauen und Prestige zu erringen. Sie erzielen ihn andererseits aber vor allem dadurch, daß sie den von ihnen oktroyierten Weg, auf dem die jüngeren Männer dann Frauen und Prestige erlangen, rhetorisch als sinnvoll verkaufen, das heißt, indem sie Mythen erzählen – zum Beispiel darüber, daß es schon am Anfang der Welt so war, wie es jetzt ist, oder daß schon am Anfang der Welt Männer Frauen überlisten mußten, damit die Welt nicht insgesamt zusammenbricht bzw. Männer in ihr auf den falschen Platz geraten. Ich möchte daher im folgenden auf die verschleierungsstrategische Funktion von Mythen eingehen, und zwar anhand eines besonderen Beispiels, nämlich an
hand von Euripides’ «Iphigenie in Aulis». Daß ich dieses Beispiel auswähle, hat drei Gründe: Erstens möchte ich wieder in die zivilisierte Welt zurück, und zwar an einen historischen Ort von exemplarischer Bedeutung für uns – exemplarisch vor allem deshalb, weil im antiken Attika demokratische Institutionen erkämpft wurden, gegen schon bestehende demokratiefeindliche Machtstrukturen. Es gibt daher zwischen dem Prozeß der Entwicklung altgriechischer Demokratien und dem der Entwicklung unserer modernen europäischen Demokratien gewisse Parallelen, denen zufolge das Studium dieser älteren Entwicklung, insbesondere ihrer Krisen, für uns selber lehrreich sein kann. Zweitens verbindet uns mit der griechischen Tragödie und ihren mythischen Stoffen eine lange und immer noch wirksame Bewußtseinsgeschichte, auch wenn wir das angesichts eines ständig sinkenden historischen Bildungsniveaus unter Umständen gar nicht bemerken. Ob wir es aber merken oder nicht: Jedenfalls zehrten nicht nur Goethe und Schiller, es zehren auch noch unsere zeitgenössischen Romanciers und Dramatiker vom Stoff der griechischen Mythen, es zehren Filmregisseure – auch Wildwestfilmregisseure wie etwa Howard Hawks – davon, selbst Science-fiction-Filme für Kinder verwenden griechische Vorbilder. Es lebt vor allem eine scheinbar besonders moderne Errungenschaft vom Stoff der griechischen Mythen: die Psychoanalyse. Auch in ihrer modernisierten Originalfassung kommen altgriechische Tragödien in unseren Theatern laufend zur Aufführung. Die schwer «durchzusitzende» dreiteilige «Orestie» des Aischylos kam vor einigen Jahren in der Inszenierung von Peter Stein in Berlin auf die Bühne und wurde auch im Fernsehen übertragen.
Der dritte und entscheidende Grund, der mich veranlaßt, mich der «Iphigenie» des Euripides zuzuwenden, ist folgender: Ich meine, daß sich an der «Iphigenie in Aulis» zweierlei sehr gut demonstrieren läßt: Erstens, daß wir uns vor Mythen aller Art, seien sie alt oder modern, aufgrund ihrer verschleierungsstrategischen Implikationen (die vielfacher Art sind) in acht nehmen müssen. Der größte «Warner» auf diesem Gebiet ist zweifellos Platon gewesen, den man bei oberflächlicher Betrachtung fast als Mythenverächter oder Mythenhasser einstufen könnte. Von seiten Karl Poppers hat unter anderem dieser Umstand ihm den Titel eingetragen, ein «Feind der offenen Gesellschaft» zu sein, aber zu Unrecht, wie ich meine. Was Platon dazu veranlaßte, gegenüber Mythopoeten (Dichtern), vor allem gegenüber Homer und den Tragödien- wie Komödiendichtern seiner Zeit, mißtrauisch zu sein, war vielmehr seine genuine Gerechtigkeitsliebe. Aus deren Sicht, die ich hier einführen möchte, weil sie mir dazu verhilft, den Begriff des Mythos kurz zu klären, waren Mythen aus folgendem Grunde suspekt: Mythen sind nach Platon – und hier würde ihm auch jeder moderne Mythologieforscher folgen – in erster Linie erfundene Geschichten, die allerdings in sekundärer Linie einen wahren Kern haben. Der wahre Kern besteht darin – und hier folgt ihm nun leider nicht mehr jeder moderne Mythologieforscher –, daß sie von Göttern und Heroen handeln und an diesen veranschaulichen, daß es seinsmächtige, uns übergeordnete Prinzipien gibt, gegen die zu verstoßen wir geneigt sind, um den Preis, ins Unglück zu stürzen. Derjenige, der gegen solche Prinzipien nicht verstößt, sondern mit ihnen als Göttersohn oder -tochter (mythisch gesprochen) auf gutem Fuße steht, kann unter Umständen große Erfolge
im Dienste der Menschheit und seines eigenen Glücks erzielen. Daß uns Mythen damit zugleich erzählen, wie man glücklich oder unglücklich wird, darauf beruht ihre primär faszinierende Wirkung. Problematisch ist indes für Platon, daß Mythen erfundene Geschichten sind, das heißt: nichts garantiert uns, daß der Dichter, oder wer immer uns eine solche sinngebende Geschichte erzählt und dabei Ursachen mit Wirkungen verknüpft, diese richtig, das heißt vor dem Hintergrund einer Einsicht in die wirklichen Prinzipien des Weltgeschehens, verknüpft hat. Wir müssen vielmehr damit rechnen, daß er seiner Phantasie bzw. in der Darstellung dessen, was in der Welt ursächlich und wirksam ist, seinen eigenen Hoffnungen, Wünschen, Illusionen oder Machtphantasien freien Lauf gelassen hat – was nach Platon besonders deshalb problematisch ist, weil Mythen keine rationale Begriffssprache sprechen, sondern mit Bildern arbeiten, die uns emotional besonders anziehen, und das heißt an Hoffnungen, Wünsche, Illusionen oder Machtphantasien in uns selber appellieren, die uns bereit machen, uns mit den vom Autor entworfenen Bildern unreflektiert zu identifizieren. Eben damit wird aber – nach Platon – unsere rationale Distanz, die wir brauchen, um die erzählte Geschichte auf ihren vernünftigen Gehalt hin zu überprüfen, untergraben. Zu Platons Sicht der Dinge möchte ich hinzufügen, daß Mythen, wenn man sie näher betrachtet, vor allem an unsere Anerkennungswünsche und Schuldgefühle appellieren, indem sie uns zeigen, wie man Anerkennung findet oder wie man Schuldgefühle los wird. Andersherum gesagt: Wir werden solche Geschichten am meisten lieben, in denen wir, durch Identifikation mit dem jeweiligen Helden oder der jeweiligen Heldin, die Anerkennung fiktiv erreichen,
die wir suchen, oder in denen wir durch Identifikation mit dem jeweiligen Helden oder der jeweiligen Heldin fiktiv von Schuldgefühlen entlastet werden, unter denen wir leiden. Auf die verschleierungsstrategischen Implikationen von Mythen, von Sinngebungsgeschichten jedweder Art heißt das, aufmerksam zu machen, halte ich angesichts unseres verbreiteten Libertinismus gegenüber Kunstprodukten für besonders wichtig, haben sich doch die Verteidiger des gestürzten religiösen Sinns heutzutage ganz heftig in den Kathedralen der Kunst, insbesondere der dichtenden Kunst, verschanzt, aus denen heraus es schallt (weniger von seiten der Künstler selber, aber gehäuft von seiten der Kunstkritiker und Germanisten): Kunst ist Kunst, da gibt es nichts zu kritisieren noch nach menschlichen Motiven der Produktion und Konsumtion von Kunst zu fragen. Was Kunst ist, darf gefragt werden, aber das entscheidet das Kunstwerk selber. (So sprach schon Gott im Alten Testament: Ich bin, der ich bin!) Eine merkwürdige Entwicklung übrigens, da die Künstler der 60er Jahre doch unbedingt politisch wirksam sein wollten. Jetzt dagegen ist Kunst wieder Kunst. Soweit zum Mythos im allgemeinen. Ich sagte aber, daß sich an der «Iphigenie in Aulis» zweierlei gut demonstrieren lasse, und das heißt: Ich möchte die «Iphigenie» zugleich dazu verwenden, eine Verschleierungsstrategie spezifischer Art vorzuführen, die in demokratischen Gesellschaften bevorzugt verwandt wird, insbesondere in Krisenzeiten, in denen sie allerdings auch in monarchischen Gesellschaften Verwendung findet. Ich nenne diese Strategie vorwegnehmend die Strategie der symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung – ein Begriff, der
sicherlich erschreckt und daher der Erklärung bedarf. Gemeint ist zunächst schlicht der Appell an das sogenannte «Ganze», zum Beispiel an das Vaterland, den Staat, das Gemeinwohl. Wenn ich diesem uns allen bekannten Appell an die Gemeinschaft als solche unter verschleierungsstrategischen Gesichtspunkten einen komplizierten Begriff verleihe, so hat das indes seine Gründe: Es bedürfen alle Gesellschaften, wie Eric Voegelin1 nachgewiesen hat, einer symbolischen Artikulation ihrer Existenz, das heißt hier vereinfacht, eines zusammenfassenden Begriffs, der das Interesse zusammenlebender Menschen, sich gegenseitig verpflichtet zu fühlen, im Gegensatz zu anderen, denen sie sich nicht verpflichtet fühlen, artikuliert. Man kann, selbst in einer Jäger- und Sammlergesellschaft, die ihre Mitglieder nicht machtpolitisch vereinnahmt, nicht immer diskursiv erläutern, warum man gerade zusammenhält und inwiefern jeder einzelne davon profitiert. Man ist darauf angewiesen, die Zweckhaftigkeit des Zusammenlebens auf eine verkürzte Formel zu bringen und von der Gemeinschaft, die man nun mal bildet, zu sprechen. Man nennt sich «wir Bambuti», «wir Buschleute», «wir Athener» oder «wir Hellenen», «wir Deutsche», «wir Amerikaner» usw. Appellativ gemeint, das heißt, um daran zu erinnern, daß man in Gemeinschaft lebt und dabei nicht nur an sich selber denken darf, sagen die Bambuti «wir Waldmenschen». Wir selber sprechen vom Vaterland, von der Nation, vom Staat, vom Gemeinwohl oder der Einheit. Der Appell an das Ganze, will ich damit sagen, ist nicht primär eine Verschleierungsstrategie, er eignet sich aber gut dazu, eine zu sein, und ist es dann, wenn an die Gemeinschaft in Abstraktion von der Interessenlage der unterschiedlichen Mitglieder der jeweiligen Gemeinschaft
appelliert wird, und das heißt: wenn die pragmatisch erlaubte Zusammenfassung aller zur Gemeinschaft «hypostasiert», zu deutsch: «verdinglicht» wird. Werden Gemeinschaftssymbole aber hypostasiert, so ändert sich auch ihr Sinn, das heißt, an die Stelle der Idee von Gemeinschaft im Sinne der Verbundenheit ihrer Mitglieder durch reziproken Austausch tritt die Idee einer Gruppierung, die zu einer quasi personenhaften Einheit verschmolzen ist. Eben hierin liegt die verschleierungsstrategische Fußangel: Bin ich nämlich mit anderen verschmolzen, so bin ich gleichzeitig jeder notwendigen Anstrengung meines Gewissens und Gerechtigkeitssinns enthoben, denn es ist ja mein Wohl identisch mit dem anderer und vice versa das ihre mit dem meinen. Exemplarisch drückt dies der Leitspruch der drei Musketiere aus: Einer für alle, alle für einen. Auch Schuldgefühle gegenüber einzelnen Menschen sind daher obsolet, also überflüssig, wohl aber sind Schuldgefühle gegenüber der Gemeinschaft als solcher aktivierbar. Bin ich nämlich mit anderen verschmolzen, so bin ich ohne die Gemeinschaft gar nichts, folglich auf Gedeih und Verderb auf sie angewiesen, ihr also auch auf Gedeih und Verderb verpflichtet. Die Verschüttung von Gewissen und Gerechtigkeitssinn durch Identifikation mit einer Verschmelzungsgemeinschaft erklärt unter anderem auch, daß Völker, die unter dem Zeichen eines derart hypostasierten Gemeinschaftssinns auftreten – man erinnere sich an den Nationalsozialismus oder die jüngsten Ereignisse im Irak –, sowohl innenpolitisch wie außenpolitisch vor barbarischen Rücksichtslosigkeiten nicht zurückschrekken. Zur Präzisierung wiederhole ich noch einmal, daß ich folglich nicht jeden Appell an das «große Ganze» als
Verschleierungsstrategie bezeichne, wohl aber eine darin sehe, wenn dabei das Ganze, bzw. die Gemeinschaft, zur Verschmelzungsgemeinschaft hypostasiert wird. Dieser Vorgang ist in der Realität nicht immer leicht zu identifizieren, daher ist um so aufmerksamer darauf zu achten, ob er sich gerade heimlich im Gewande pragmatischer Appelle heranschleicht. Hinzuzusetzen ist, daß die Strategie der Hypostasierung von Gemeinschaft zur Verschmelzungsgemeinschaft keineswegs so ohne weiteres funktioniert und daher auch der Versuch, sie einzusetzen, nicht immer Erfolg hat – es sei denn, er erwischt uns einmal wieder an einem Dispositiv, in diesem Falle am Dispositiv unserer symbiotischen Sehnsüchte. Der Ausdruck Symbiose stammt aus der biologischen Welt und bezeichnet ein Verhältnis, in dem ein biologisches Wesen sich davon ernährt, Gast eines anderen zu sein, aber nicht einfach parasitär, sondern in einer merkwürdigen Legitimation seines faktisch parasitären Tuns, insofern nämlich der Gastwirt ohne seinen Parasiten auch nicht leben könnte. Sigmund Freud hat diesen Ausdruck übernommen, um damit das frühe Stadium der Mutter-Kind-Beziehung zu bezeichnen (in einer perversen Verdrehung des biologischen Tatbestandes, da das Kind im Mutterleib tatsächlich nur parasitär ist!). Er meint damit, daß das Kind in und außerhalb des Mutterleibes sich noch nicht im Ich-Du-Verhältnis versteht, sondern das Leben von der Mutter als Paradies versteht, das heißt Umwelt und Ich noch gar nicht nach dem Gesichtspunkt trennt, daß es etwas von jemand anderem bekommt, sondern Befriedigung unter dem Aspekt der Verschmelzung mit dem befriedigenden Objekt als einer Art Hülle erfährt. Befriedigendes Objekt und befriedigtes
Subjekt sind in diesem kindlichen Bewußtsein eins, wie Freud meint, und dies bildet nach Freud die eigentliche Basis unserer späteren kindlichen Allmachtsphantasien, nach denen wir uns – dann doch ein von der Außenwelt getrenntes Subjekt geworden – einbilden, wir hätten einmal die Macht gehabt, die Umwelt nach unseren eigenen Wünschen zu dirigieren, ohne daß diese einen Grund gehabt hätte, dagegen zu protestieren. Ob das wahr ist, was unsere frühkindliche Selbstinterpretation betrifft, lasse ich dahingestellt, gebe aber der Freudschen Analyse insoweit recht, daß sich in uns Menschen in der Tat eine Neigung zu Als-ob-Symbiosen historisch nachweisen läßt, das heißt eine Neigung, parasitäre Ausbeutung so zu interpretieren, als ob sie symbiotisch sei, das heißt als ob unser jeweiliger Gastwirt so sehr «eins» mit uns sei, daß er selber zugrunde ginge, wenn wir ihn nicht belästigten. Ich hoffe, ich habe hiermit genug zur Verdeutlichung meines Begriffs der Strategie der «symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung» gesagt, und komme nun zur Veranschaulichung am Beispiel, allerdings nicht ohne noch ein paar bzw. zwei Umschweife. In seinem 1937 zum erstenmal erschienenen Buch über die griechische Tragödie, das bis heute mehrfach Auflagen erfahren hat, schreibt der österreichische Altphilologe Albin Lesky über Euripides zunächst ganz richtig: «Den Dichter, der die Alkestis geschaffen hat, nannte das Altertum einen Frauenfeind. In seinen Thesmophoriazusen (im Jahre 411) läßt Aristophanes die Weiber Athens über ihn hochnotpeinliches Gericht halten, und die Anekdote wollte seinen Frauenhaß aus üblen häuslichen Erfahrungen erklären.»
Wie so häufig wissen aber unsere heutigen Historiker und Altphilologen alles besser als die antiken Zeitgenossen, und daher fährt Lesky fort: «Solch schiefes Urteil begreifen wir daraus, daß der Blick der Zeitgenossen an Gestalten wie Phaidra und Stheneboia haften blieb. Wir aber verstehen Euripides als den Dichter, dem sich alle Höhen und Tiefen der menschlichen Seele gerade am Weibe erschlossen haben. Er hat Frauen auf die Bühne gebracht, die in den Flammen wilder Leidenschaft sich und andere vergehen lassen.» Zugleich aber, so Lesky, «danken wir gerade ihm jene Frauengestalten, in denen sich menschliches Wesen in seiner größten Leistung erfüllt, in dem selbstentsagenden Opfer».2 Eine ähnlich verklärende und zugleich auch sehr unpolitische Sichtweise wird man bei den meisten Altphilologen finden, und daher möchte ich darauf hinweisen, daß meine eigene Darstellung von Euripides’ «Iphigenie», die nur auf deren politisch strategischen Gehalt abzielt, dennoch sehr berechtigt ist – berechtigt, insofern die Inszenierung von Tragödien und Satyrspielen bei den antiken Athenern keineswegs den Zweck verfolgte, privaten Kunstgenuß zu ermöglichen, vielmehr einem durch und durch politischen Zweck diente, nämlich das politische Bewußtsein der Athener zu bilden. Detaillierte Auskünfte hierzu erteilt Christian Meier in seinem Buch über «Die Entstehung des Politischen bei den Griechen»3 – ich selber setze nur hinzu, daß dem politischen Zweck entsprechend der Schauplatz des Geschehens, das Theater, gemessen an den damaligen Verhältnissen, riesengroß war: Das athenische
Theater faßte ca. 15 000 Zuschauerplätze, angesichts einer männlichen Einwohnerzahl von 30 000 bis 40 000. Es durften allerdings wohl auch Frauen an den Aufführungen als Zuschauer teilnehmen. Dem politischen Zweck entsprechend konnte auch keineswegs jeder beliebige Autor jedes beliebige Stück anbieten. Vielmehr wurde die Auswahl der Stücke, die zur Aufführung zugelassen wurden, von einem sogenannten Archonten überwacht. (Unter diesem Aspekt wird verständlich, warum es sehr schwierig ist, aus griechischen Tragödien die tagespolitische Botschaft herauszudestillieren. Manche Probleme konnten keineswegs unmittelbar angesprochen werden. Es wird auch verständlich, warum man immer wieder auf alte Mythen zurückgriff, um indirekt etwas durchaus tagespolitisch Gemeintes zum Ausdruck zu bringen.) Ein zweiter «Umschweif» ist leider vonnöten, um den spezifischen politischen Stellenwert der «Iphigenie» des Euripides aus seiner Zeit heraus einzukreisen. Das genaue Datum für die Aufführung der «Iphigenie» ist nicht bekannt, man schätzt es aber auf nicht lange nach 408 v. Chr., das heißt, sie kam nach dem Tode des Dichters zur Aufführung und in einer von seinem Sohn vollendeten Fassung. Jedenfalls aber fiel sie damit in eine Zeit, in der der Höhepunkt der Entwicklung Athens zur Demokratie (die «freien» Bürger betreffend) erreicht war. Ämter wurden im Losverfahren vergeben, das heißt, jeder konnte und mußte sogar ein öffentliches Amt übernehmen, und zwar unabhängig von seinem jeweiligen Stand und seiner jeweiligen Qualifikation. Die Teilnahme an den Volksversammlungen war sogar den Ärmsten möglich, weil Perikles sie durch die Zahlung von Diäten abgesichert hatte.
Gleichzeitig befand sich Athen zu diesem Zeitpunkt im Krieg (im Peloponnesischen Krieg, der von 431–404 v. Chr. dauerte und mit der Niederlage Athens endete), in einem sogenannten Bruderkrieg. Es kämpfte nämlich Athen gegen eigene griechische Bundesgenossen, die sich wegen zu hoher Tribute an den attischen Seebund, dem Athen vorstand, von athenischer Bevormundung befreien wollten. Vor allem kämpfte Athen gegen Sparta, das den «abtrünnigen» Bundesgenossen Athens Beistand leistete. (Gegen ein Sparta, mit dem Athen 40 Jahre vorher Seite an Seite siegreich einen «echten» Befreiungskrieg geführt hatte, nämlich gegen das übermächtige Persien!) Wie kam es dazu – angesichts so wunderbarer demokratischer Institutionen? Solon hatte 594 mit den «Solonischen Reformen» den ersten Meilenstein für die Entwicklung Attikas zur Demokratie hin gesetzt. Das war institutionell gesehen nur ein kleiner Meilenstein, und große Krisen und deren Bewältigung mußten erst nachfolgen, um den demokratischen Hochstand zu erreichen, den Athen bzw. Attika um 408 erreicht hatte. Aber es war doch ein ganz wesentlicher Meilenstein, und zwar deshalb, weil Solon seinen Reformen eine theoretische Begründung in Form einer zündenden Idee mitgeliefert hatte, auf die man sich in späteren Kämpfen um die Demokratie berufen konnte. Die zündende Idee Solons war, daß es eine «höhere» Gerechtigkeit gäbe als das bloß jeweils geltende Recht (das damals das aristokratische war, dessen formalistische Verfolgung verheerende Auswirkungen gehabt hatte) und daß diese «höhere» Gerechtigkeit in der Abwägung und im Ausgleich individueller Interessen gegeneinander bestehe. Darüber hinaus postulierte er, daß die Verwirklichung solcher Gerechtigkeit nur möglich sei, wenn die in der
Verfolgung ihrer Interessen voneinander Abhängigen ihre Interessen auch öffentlich und frei artikulieren und in öffentlicher Debatte, bzw. im öffentlichen Diskurs, gegeneinander abwägen konnten. Deshalb schuf er entsprechende öffentliche Institutionen, plaziert in Athen, der gemeinsamen Stadt, die solche Artikulation, wenngleich noch graduell abgestuft, ermöglichen sollten. Auf Solons zündende Idee, bzw. das politische Bewußtsein, das er damit erweckt hatte, konnte man sich berufen, wenn es um den Streit um mehr demokratische Rechte ging, und man tat das auch. Man tat es, aber man tat es so, daß sich dabei der ursprüngliche Gedanke verdünnte, vor allem die Warnung Solons vergessen wurde, daß Gerechtigkeit nicht ohne gleichzeitige Selbstgenügsamkeit zu verwirklichen sei. In anderen Worten: Die Athener waren bereit, für ihre Interessen mit- und gegeneinander zu kämpfen, sie waren aber nicht bereit, ihre konkreten Interessen zu beschränken oder in Frage zu stellen. So kam es dazu, daß im Zuge der Demokratisierung zwar die Interessen der Aristokratie gezügelt wurden, aber nicht die aller anderen. Die Idee des Wohllebens drängte die der Selbstgenügsamkeit ins Abseits, vor allem als man ein Instrument dazu gefunden hatte, das eigene Wohlleben auf Kosten anderer zu finanzieren: den attischen Seebund und dessen Kasse, in die die griechischen Bundesgenossen einzahlten, um militärische Vorsorge für den Fall eventueller erneuter persischer Übergriffe auf Griechenland zu treffen. Perikles insbesondere griff in die Kasse, um seiner eigenen Stadt schönere Bauten und erweiterte Bürgerrechte, etwa durch Zahlung von Diäten, zu bescheren, die Bundesgenossen merkten das, und einige fingen an zu revoltieren. Das wiederum wollten sich Perikles und die von ihm «gepäppelten» Bürger nicht gefallen las
sen, und so kam es zum Bruderkrieg. Daß es wirklich nur darum ging, sich von den Bundesgenossen nichts gefallen zu lassen, daß es nicht, wie Thukydides uns als patriotischer Athener weismachen will, die Mißgunst Spartas gegen das machtpolitisch mit Hilfe des Seebunds erstarkte Athen war, was den Krieg auslöste, sondern die machtpolitische Sturheit Athens bzw. seiner Repräsentanten, belegt Thukydides selber, indem er eine Rede des Perikles an die Athener wiedergibt, die notwendig wurde, weil die Athener offenbar, nachdem ihnen der Krieg (ein Jahr nach Ausbruch) nicht nur Verwüstung, sondern auch die Pest aufgeladen hatte, lieber wieder friedliebend werden wollten. In dieser Rede sagt Perikles: «Für die Ehre der Stadt, eine Folge der Herrschaft, und ihr alle seid stolz darauf, müßt ihr jetzt eintreten, ohne Mühen zu scheuen – oder ihr dürft überhaupt nicht nach Ehre streben. Glaubt ja nicht, der Kampf gelte nur der einen Entscheidung: Knechtschaft oder Freiheit; nein, es droht euch der Verlust des Reiches, und Gefahr bedeutet der Haß, den ihr euch durch eure Herrschaft zugezogen habt. Von ihr zurückzutreten steht euch nicht mehr frei, falls etwa jemand voll Angst über die Lage mit einem solchen Vorschlag den friedliebenden, biederen Bürger spielen will. Denn eine Art Tyrannis ist ja bereits die Herrschaft, die ihr ausübt; sie zu ergreifen mag ungerecht erscheinen, sie loszulassen (ist) aber lebensgefährlich.»4 Daß Perikles hier nicht nur offen den eigentlichen Unrechtsgrund des Krieges zugibt, sondern, um die Notwendigkeit seiner Fortführung zu begründen, die Strategie der symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung
betreibt (die Ehre der Stadt, mit der verschmolzen man ungetrübt parasitär sein kann, verlangt zugleich das Opfer, weil man ohne sie ins Nichts fiele), brauche ich wohl nicht näher zu kommentieren und wende mich daher dem Dichter zu, der bei der Erkenntnisverhinderung mythische Schützenhilfe leistete (vor dem Tode des Perikles und auch nach dessen Tod; Perikles starb 429 an der Pest). Wir stehen in den letzten Kriegsjahren – ca. 25 sind schon vergangen –, die «Iphigenie» kommt posthum zur Aufführung und wird preisgekrönt. Das Stück fand also Zustimmung und großen Anklang. Ich fasse es nicht vorweg zusammen, sondern folge in Schritten seinem dramatischen Aufbau, weil sonst dessen strategisches Geschick nicht deutlich würde. Der allgemeine Handlungsrahmen ist der Trojanische Krieg, von Homer in seinem großen Epos, der «Ilias», als ein zehnjähriger Krieg beschrieben, der um die schöne Helena geführt wurde. Helena, die Frau des Griechenkönigs Menelaos, ist von Paris, einem Königssohn aus Troja, nach Troja – offensichtlich mit ihrem eigenen Einverständnis – entführt worden. Menelaos will sie zurückhaben und führt mit Hilfe etlicher Bundesgenossen ein griechisches Heer gegen Troja (auch Ilion genannt), an dessen Spitze sein Bruder Agamemnon als Heerführer steht. Zu dem Zeitpunkt, an dem Euripides’ eigene Erzählung anhebt, hat der Krieg noch nicht begonnen, vielmehr liegt die griechische Flotte auf ihrem Weg nach Troja fest, weil ihr der nötige Fahrtwind fehlt. Der Seher Kalchas hat die Göttin Artemis als Verursacherin des schlechten Wetters identifiziert und ein Opfer für sie gefordert. Iphigenie, die erstgeborene Tochter Agamemnons, soll das Opfer sein, sie soll getötet werden.
Agamemnon ist einverstanden und sendet nach der in der Heimat gebliebenen Tochter und der Gattin, um die Tochter unter dem Vorwand, sie solle mit dem großen Helden Achill verheiratet werden, herbeizulocken. Achill selber ist in die List nicht eingeweiht. Euripides führt uns zum Auftakt den an Gewissensqualen leidenden Agamemnon vor, der sich bei einem alten Diener beklagt. Er, dem der Gedanke, sein geliebtes Kind umzubringen, ein Greuel scheint, hätte lieber Amt und Würden riskiert und die gesamte Flotte heimwärts entlassen, wäre er nicht durch den Bruder gezwungen worden, «den Greu’l zu dulden». Nun aber bereut er sein Nachgeben und will einen Brief auf den Weg nach Argos schicken, um Mutter und Tochter in ihrer Reise aufzuhalten. Besinnungslos sei seine Tat gewesen, gesteht er, und treibt den Diener, der den Brief befördern soll, zur Eile an. Der Plan scheitert, weil Menelaos dem Diener auflauert, den Brief entdeckt und Agamemnon zur Rede stellt. Es folgt eine Auseinandersetzung zwischen den beiden Brüdern, aus der ich zitieren möchte, weil sie hochinteressant ist: «Menelaos. Siehst du diesen Brief, das Werkzeug unerhört ruchloser Tat? Agamemnon. Ja, ich seh ihn. Gib vor allem ihn zurück aus deiner Hand! Menelaos. Nicht, bevor ich seinen Inhalt offenbart dem ganzen Volk. Agamemnon. Wie? Die Siegel lösend, weißt du, was dir nicht zu wissen ziemt?
Menelaos. Was du Böses sannst im stillen, deckt’ ich dir zum Ärger auf. Agamemnon. Wo bekamst du ihn? O Götter! Welch ein schamvergeßner Sinn! Menelaos. Deines Kinds aus Argos harrend, ob sie käme zu dem Heer. Agamemnon. Was bewachst du meine Schritte? Bist du nicht schamlos und frech? Menelaos. Weil der Wille mich gekitzelt; bin ich doch dein Sklave nicht. Agamemnon. Unerhört! Frei schalten soll ich nicht im eigenen Hause mehr? Menelaos. Weil du stets Verkehrtes sinnest, heut’ und ehemals und hinfort. Agamemnon. Wie du fein bist im Gemeinen! Schlimm ist allzukluger Mund! Menelaos. Ungerecht, untreu den Freunden ist ein unstet eitler Sinn. / Doch ich will dich überführen; aber du verschmähe nicht, / Übermannt von Zorn, die Wahrheit, wenn dich auch mein Wort verdrießt! /Weißt du noch, als um die Führung dieses Zugs du dich bewarbst, / Wohl dem Schein nach nichts erstrebend, doch in Wünschen still entbrannt, / Wie du voll Demut dich schmiegtest, alle Hände schütteltest / Und bei unverschloßnen Tü
ren offenes Ohr der Reihe nach /Allen aus dem Volke gönntest, wer es wünscht’ und wer auch nicht, / Daß du dir im Volk die Ehre kauftest durch Geschmeidigkeit? / Doch nach kaum errungener Würde nahmst du neue Sitten an, / Wärest nicht den alten Freunden mehr der Freund von ehedem, / Schwer daheim zugänglich, außen kaum zu sehen. Doch der Mann / Edler Art, der groß geworden, ändert sein Betragen nicht, /Nein, er sei gerad am meisten dann dem Freunde treugesinnt, /Wenn er, selbst im Glücke wohnend, ihm am meisten nützen kann. / Was an dir zuerst mich kränkte, dies warf ich zuerst dir vor. /Aber kaum kamst du nach Aulis mit Achäas ganzem Heer, / Warst du wie ein Wicht so kopflos, als ein Mißgeschick dich traf / Und der Wind ungünstig wehte; alles Volk verlangte laut, / Heimzusegeln, nicht in Aulis sich vergebens abzumühn. Wie verstört, wie kläglich blickt da dein Auge, daß du nicht, /Tausend Maste führend, Troja solltest überziehn mit Krieg! / Und du riefst mich: ‹Was beginnen? Welchen Ausweg zeigst du mir? /Daß ich nicht, beraubt der Herrschaft, auch verlier’ den schönen Ruhm?› / Kalchas hieß dich, laut dem Opfer, nun auf Artemis’ Altar Deine Tochter töten; Fahrtwind wehe dann. Du warst erfreut / Und verhießest froh des Kindes Opferung und schriebest gern, / Nicht gezwungen (sage das nicht!), deinem Weib, die Tochter dir / Herzusenden, zur Vermählung mit Achilleus, gabst du vor. / Aber dann umlenkend schriebst du geheim den andern Brief, /Weil du nicht des Kindes Mörder werden willst: der bist du, ja! /Dieser Himmel ist derselbe, der das Wort von dir vernahm. /Aber tausend andern ging es so wie dir: Aus freier Wahl / Streben sie rastlos nach Ehren, treten dann schmachvoll zurück, / Oft durch blöden Wahn des
Volkes fortgescheucht, oft auch mit Recht, / Weil, den Staat aufrecht zu halten, ihnen Kraft und Sinn gebricht. / Hellas aber, das geplagte, jammert mich am meisten, das / Wider Trojas nichtig Volk zu hoher Tat sich anschickt, / Jetzt um dich und deine Tochter, ihm ein Spott, es ziehen läßt. / Keinen wähl ich seiner Herkunft wegen je zum Kriegsherrn / Noch zum Landeshaupt; mit Einsicht sei der Heeresfürst begabt; / Denn im Staat zu herrschen taugt wohl jeder, wenn Verstand ihm ward. Der Chor. Wie schrecklich, wenn bei Brüdern Zank und Streit entbrennt, /Nachdem die Zwietracht unter sie getreten ist! Agamemnon. Kurz und mild will ich dich strafen, nicht mit Überheblichkeit, / Noch mit rücksichtsloser Rede, nein, mit edler Mäßigung, / Denn du bist mein Bruder; Scham auch liebt ein wohlgesinnter Mann. / Sage mir: Was schnaubst du zornig und das Auge blutig rot?/ Wer verletzt dich? Was begehrst du? Willst du ein vortrefflich Weib? / Ich vermag dir’s nicht zu schaffen. Das du hattest, hast du schlecht / Dir bewahrt. Nun soll ich büßen, was nicht ich, was du gefehlt?/ Quält dich wirklich so mein Ehrgeiz? Nein, im Arme wünschtest du/ Nur ein schönes Weib zu haben, achtest nicht Vernunft und Recht, / Höhnst die Zucht. Des schlechten Mannes Freuden sind gemeine Lust. / Wenn ich schlimm zuvor gewählt und dann zum Besseren mich besann, / Ras ich darum? Eher du, der rein von einem schlechten Weib Sie zurückzuführen trachtet, da’s ein Gott dir wohl gefügt! / Meine Kinder werd ich niemals morden, und dein eignes Wohl / Wehrt es, daß du widerrechtlich Rache für die Schnöde
nimmst. / Aber ich verzehrt’ in heißen Tränen Tag’ und Nächte mich, / Wenn ich ruchlos ungesetzlich freveln wollt’ am eigenen Blut. / Damit weißt du meine Meinung, kurz und deutlich zu verstehn, / Willst du nicht das Beßre wählen, wahr ich doch das Meinige.»5 Nach diesem Disput wendet sich Menelaos – mit den Worten: es bleibe also nichts anderes übrig, als sich andere, bessere Freunde zu suchen – zum Gehen. Ende des ersten Aufzugs. Liest man das Stück bis zu diesem Abschnitt, läßt sich nicht bestreiten, daß Euripides, allerdings in einem anderen Sinne als dem von Albin Lesky gemeinten, uns Einblicke in das menschliche «Wesen», vor allem ins männliche, erschließt. Da er sogar Männern selbst den Einblick ins gegenseitige Wesen unterstellt, würde sich sein Drama, gesetzt den Fall, es hätte hier schon sein Ende, gut eignen, um bei den friedliebenden Bambuti des IturiFlusses im Kongo aufgeführt zu werden und Beifall zu finden. Aber Euripides wollte ja nicht im kleinen Stamm der Bambuti berühmt sein, sondern im großen Athen, und deswegen geht das Stück weiter. Ein Bote tritt auf und verkündet, daß Klytaimnestra und ihre Tochter Iphigenie längst im Lager angekommen sind, was Agamemnon wieder Anlaß zu klagendem Selbstmitleid gibt: Ins «Schicksal» sieht er sich verstrickt, das schlechte Gewissen plagt ihn, wie sagt er’s Frau und Kind? Und er ahnt – woher auch immer –, daß es irgendwie doch zur Ermordung Iphigenies kommen wird. Wider Erwarten kommt indes Menelaos zurück, von Einsicht geläutert: «Als ich die Tränen deinem Aug’ entstürzen sah, / Da fühlt’ ich Mitleid, weinte selbst in deinen Gram / Und wi
derrufe, was ich sprach, will gegen dich / Nicht grausam sein; mit dir jetzt stimm ich überein / Und rate dir, die Tochter nicht zu töten, nicht / Mein Glück dem deinen vorzuziehn; denn wär’ es recht, / Daß mir’s nach Wunsch erginge, wenn du jammertest, / Die Deinen stürben, während wir die Sonne sahn? / Was will ich aber? Kann ich auserlesne Fraun / Nicht sonst erlangen, wenn nach Fraun mein Herz sich sehnt? / Den Bruder soll ich, soll ihn gar um Helena / Verlieren, Böses tauscht’ ich mir für Gutes ein?. / Ein Tor, ein Knabe war ich erst; nun näher es / Erwägend, fand ich, was es heiße, Kindesmord! / Und innig jammert mich der unglückseligen / Jungfrau, bedenk ich, daß sie meines Stammes ist, / Die meiner Lieb’ hier aufgeopfert werden soll. / Was hat mit dieser Helena dein Kind zu tun? / Nein, mag von Aulis aufgelöst abziehn das Heer!»6 Nun, diesmal hat sich Menelaos allerdings, im Gegensatz zu vorher, in seinem Bruder grundsätzlich getäuscht – wohl weil er selber in allzu herzensguter Stimmung ist. Diesen bewegt zwar auch die Bruderliebe, noch mehr bewegen ihn aber seine merkwürdigen «Ahnungen»: «Doch, ach! des Schicksals unerbittlich Wort gebeut, ich muß der Tochter blut’gen Mord vollziehn», hält er dem Bruder entgegen. Der fragt verwundert: «Du mußt? Wer wird zu deines Kindes Mord dich nötigen?», und erhält zur Antwort: «Der Danaiden ganzes hier vereintes Heer.»7 Auch warum das so sein wird, «weiß» Agamemnon schon. Der «ehrsüchtige» Odysseus wird das bisher gewahrte Geheimnis des Seherspruchs an das Heer verraten: «Drum, glaube mir, vor Argos’ Heere stehend, wird / Er
laut des Kalchas Seherspruch verkündigen, / Daß ich das Opfer hab gelobt der Artemis, / Nun aber lüge. Seine Red’ entflammt das Heer, / Daß dich und mich sie töten und auf sein Geheiß, / Mein Kind ermorden. Flöh’ ich auch nach Argolis, / Sie kämen, samt der Mauern unsrer Königstadt / Uns fortzuraffen, und zerstörten unser Land. / So schweres Leid umfängt mich Unglückseligen! / In welche Drangsal stürzte mich der Götter Zorn! / Eins, wenn du kommst ins Lager, eins verhüte mir, / Menelaos, daß die Mutter nichts davon erfährt, / Bis ich dem Hades meine Tochter opferte, / Daß mit der Tränen kleinster Zahl ich elend sei.»8 Es folgt, nach den üblichen Lamentos wie volkstümlichen Erbauungssprüchen des Chors, eine rührselige Begegnungsszene zwischen Klytaimnestra, Iphigenie und Agamemnon, in der sich Agamemnon in dunklen Andeutungen ergeht, aber mit seinen wahren Absichten hinterm Berg hält, vor allem seine Frau, die mißtrauisch wird, weil er sie – ganz unüblich – bei der angeblichen Hochzeit nicht dabei haben will, damit abspeist, daß ein braves, gutes Weib nun einmal ihrem Manne einfach zu gehorchen habe. Seine Hinterlist wird jedoch aufgedeckt, und ein Lichtschein taucht am Horizont von Iphigenies Schicksal auf: Unschicklicherweise trifft Klytaimnestra zufällig auf Achill, den sie als zukünftigen Schwiegersohn begrüßt und der – da er von allem nichts weiß – baß erstaunt ist. Ein hinzutretender alter Mann klärt beide schließlich darüber auf, daß eine Hochzeit zwischen Achill und Iphigenie vorgeschoben wurde, um Iphigenie in Wahrheit der Artemis zu opfern. Die Mutter ist entsetzt und wirft sich
dem vermeintlichen Schwiegersohn zu Füßen, der, selber empört, ihr Beistand verspricht: «Nie», so gelobt er, «soll die Jungfrau sterben durch des Vaters Hand, / die mein genannt ward; nimmermehr um solchen Trug zu flechten, biet ich deinem Gatten meine Hand.»9 Es folgt, nach einem weiteren Zwischenauftritt des Chors, die Wiederbegegnung zwischen Vater, Tochter und Mutter, bzw. Ehefrau, da Agamemnon kommt, um seine Tochter abzuholen, die, da sie inzwischen von der Mutter informiert wurde, natürlich keine heitere Miene zeigt. Nach einem kurzen Wortwechsel zwischen Klytaimnestra und Agamemnon, in dem dieser sich immer noch dumm stellt, rückt Klytaimnestra schließlich mit ihrem Wissen heraus und macht ihm bittere, berechtigte Vorwürfe, die sogar in Drohungen übergehen. Die Zuschauer wußten damals natürlich, daß sie diese Drohungen wahrmachen und Agamemnon bei seiner Heimkehr ermorden würde. Den Vorwürfen der Mutter schließt sich eine große, flehentliche Rede der Tochter an, in der sie an die gegenseitige einstige Liebe zwischen Vater und Tochter erinnert und vor allem die Sinnlosigkeit ihres möglichen Opfers apostrophiert: «Beim Vater Atreus, bei dem Ahn Pelops und ihr, / Der Mutter, die mich mit Schmerzen geboren einst / Und nun von neuem diesen Schmerz erdulden soll, / Was gehen mich denn Paris an und Helena? / Warum, o Vater, brachte mir ihr Bund den Tod? / … / Gedrängt in ein Wort faß ich aller Gründe Kraft: / Dies Licht der Sonne
schauen ist das Süßeste, / Der Tod so grauenvoll. Rasend, wer zu sterben wünscht! Ein traurig Leben besser als ein schöner Tod!»10 Ihr Flehen stößt auf keine Gegenliebe. Der Vater wendet sich ab mit den Worten: «O Tochter, nicht Menelaos unterjochte mich / Und nicht in seinen Willen hab ich mich gefugt; / Nein, Hellas zwingt mich, dem ich, wollend oder nicht,/ Dich opfern muß, das ist die stärkste Gewalt. / Denn frei, soviel, o Tochter, du vermagst und ich / Soll Hellas sein und nicht Barbaren Untertan / Sich seine Frauen mit Gewalt entreißen sehen.»11 Die beiden Frauen bleiben klagend zurück, und es folgt die entscheidende vorletzte Szene, der Höhepunkt des Dramas. Achill erscheint und macht den letzten Rest an Hoffnung zunichte. Das Heer tobt. Es fordert den Tod der Iphigenie, sein Widerspruch provozierte tätliche Angriffe gegen ihn, sein Motiv wurde als Liebeskrankheit diffamiert. Dennoch will er mit den wenigen bewaffneten Freunden, die er dabei hat, gegen das herantobende Heer, das von Odysseus angeführt wird, kämpfen, Iphigenie soll zumindest nur gegen seinen Willen der Mutter entrissen werden. Aber dazu kommt es nicht mehr: Iphigenie ergreift das Wort, sie hat ihren Sinn gewandelt. Wie, das möchte ich kurz zitieren. Sie sagt, zur Mutter gewandt: «Was ich ruhig überlegend mir erdachte, höre nun! / Sterben muß ich unabwendbar und vollenden will ich es / Auch mit Ruhm, unedle Regung tilgend aus der edlen
Brust. / Drum erwäge du mit uns jetzt, Mutter, ob ich’s wohl bedacht! / Mir hat Hellas’ ganzes großes Volk die Blicke zugewandt, / Und auf mir ruht seiner Schiffe Fahrt und Trojas Untergang; / Mir verdankt es, wenn der Fremdling künftig buhlt um seine Frauen, / Daß er sie nicht mehr von Argos’ sel’gem Land entführen darf, / Wenn um Helenas Entführung Ilion Verderben traf. / All dies Heil werd ich erringen, wenn ich sterbe, und mein Ruhm / Wird unsterblich weiterleben, daß ich Hellas’ Volk befreit, Denn warum sollt’ auch das Leben mir vor allem teuer sein? / Allen hast du mich geboren, allem Volk, nicht dir allein. / Viele tausend Männer werden, mit dem Schild am Arm bewehrt, / Tausend, die das Ruder schwingen, für’s gekränkte Vaterland / Mutig auf den Feind sich stürzen, in den Tod für Hellas gehn: / Sollte da mein einzig Leben alledem im Wege sein? / Wäre das gerecht, und welches Wort erwidern könnt’ ich hier? / Dieses auch noch laß mich sagen: eines Weibes wegen nicht / Darf zum Kampf mit allem Volk er schreiten und zugrunde gehn; / Dieses einen Mannes Leben wiegt ja tausend Frauen auf. / Und wofern als blutend Opfer Artemis mein Leben will, / Soll ich ihr entgegentreten, Göttern ich, die Sterbliche? Nein! Unmöglich! / Hellas geb ich meinen Leib zum Opfer hin.»12 Hierauf, Abschied nehmend von der Mutter, schreitet sie erhobenen Hauptes, mit Kränzen geschmückt und vom Gesang des Chores gepriesen, zum Opferplatz. Eine kleinere Schlußszene schließt sich an, die es aber – unter mystifikatorischen Gesichtspunkten gesehen – ebenfalls in sich hat. Ein Bote erscheint und verkündet Klytaimnestra, daß ein «Wunder» geschehen sei. Als der
Opferpriester den Dolch in Iphigenies Herz stieß, war sie plötzlich entschwunden, an ihrer Stelle lag eine Hirschkuh: «… am Boden zappelnd da, / Von hohem Wuchs und herrlich, deren frisches Blut in / Strömen rings der Göttin Opferherd benetzt».13 So berichtet der Bote und fügt hinzu: «Gewiß, zum Sitz der Götter ist dein Kind entschwebt. / Laß denn die Trauer und dem Gatten zürne nicht! / Unvorhergesehn kommt über Menschen Gottes Rat; / Er rettet, wen er lieb hat.»14 Ein Tor wäre, wer nach diesen Worten noch sagen wollte, die griechischen Heiden seien keine guten Christen gewesen; um einiges fortschrittlicher sogar, da es sich ja um eine Frau handelt, die sich für die Religion des Vaters opfert und dann «aufersteht»! Daß letzteres unserem schon zitierten Altphilologen Albin Lesky nicht ganz so gut gefällt, kann man sich denken, aber ich möchte ihn trotzdem kurz zitieren: «Immer wieder», schreibt er über Euripides, «ist der Dichter zu dem Motiv der opfernden Hingabe des eigenen Lebens zurückgekehrt …», und so findet auch «Iphigeneia von wilder Todesangst zu der gefaßten Hingabe ihres Lebens für die größere Sache». Aber (!): «Als tiefer Seelenkünder bewährt sich der Dichter dort, wo das Opfer nicht vom Weibe gebracht wird. In den Phoinissen rettet Minoikeus durch sein Leben die Vaterstadt, und hier ist es der Knabe, dessen reiner Jugend wir solchen Opfermut ebenso glauben wie dem weiblichen Herzen.»15 (Ja, das
stimmt schon «irgendwie», es opfern immer die Männer ihre Jugend und die Frauen ihre Herzen.) Ich komme zur abschließenden Herausdestillierung der verschleierungsstrategischen Implikationen des Stückes. Angesichts dessen, daß ich das leitende Kriterium zur rationalen Betrachtung eingangs vorformuliert habe, indem ich begrifflich präzisierte, was eine Strategie der symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung ist, und angesichts dessen, daß wir nicht wie das athenische Publikum seinerzeit in einen Krieg verstrickt sind und uns folglich in emotionaler Distanz befinden (?), unterstelle ich, daß schon die Art und Weise meiner Darstellung des Stückes genügend Evidenzerlebnisse ermöglicht hat, und fasse mich kurz. Ich verweise nebenbei darauf, daß natürlich nicht unbedingt entscheidend dabei ist, daß gerade ein Krieg stattfindet, es genügt auch eine «Wiedervereinigung». Ich schicke voraus, daß ich keine Pazifistin bin, aber aufgrund der angedeuteten Umstände des Peloponnesischen Kriegs dieses Stück nur als äußerst fragwürdige Kriegspropaganda verstehen kann. Kennt man diese Umstände nicht oder möchte man sie ignorieren wie Albin Lesky, wird man es dagegen wie dieser als Kunstwerk verklären oder es achselzuckend beiseite legen, weil man es überhaupt nicht versteht. Die Absicht, die aus der Gipfelszene, in der Iphigenie ihren Sinn wandelt, hervorgeht, ist ganz offensichtlich. Eu-ripides will den Zuschauern das Opfern im Dienste des Krieges mystifizieren, um Kriegs- und Opferbereitschaft wenn nicht weiter anzuheizen, so doch zu verschönen. Er will damit zugleich, das ist auch offensichtlich, den Zuschauer für die angeblich gemeinsame Sache, das große Ganze Athens, vereinnahmen. Ganz gewiß nicht wollte
Euripides eine «weibliche Heldin» schaffen, denn er ließ Iphigenie weder kämpfen noch Zivilcourage zeigen (wie etwa Sophokles seine Antigone), sondern er mystifizierte in ihr die brave Tochter, die sich in das Leiden fügt, also eine ganz konventionelle Rolle, die athenischen Frauen ohnehin zugemutet wurde. Seine Botschaft an die athenischen Frauen war also, sich bei all ihren Opfern für den Krieg dennoch «erhoben» zu fühlen, die an die Männer, sich erst recht anzustrengen in derselben Richtung, wenn sogar «Weiber» ihnen vorausgingen. Daß die Botschaft bei den Athenern gut ankam, ist verbrieft, die Frage ist also, wie erreichte Euripides das? Ich konzentriere mich auf die Gipfelszene: Hätte Euripides nicht den Trick verwendet, das Volk (hier das Volk in Waffen) aktiv ins Spiel zu bringen, so wäre klar, daß Iphigenies Rede davon, «Hellas ganzes großes Volk» habe ihr den Blick zugewandt, bloßes Gefasel ist, daß sie sich in Wirklichkeit der platten Ruhmsucht ihres Vaters (von Menelaos klar erkannt) opfert. Die älteren Männer, die Väter, brauchen auch hier – wie bei den Baruya – gehorsame Söhne und Töchter, um von ihrem Machtsattel nicht herunterzufallen. Aber die im Zwiegespräch zwischen Agamemnon und Menelaos klargestellte Eitelkeit der Vaterfiguren (eine Eitelkeit, von der Menelaos, soweit es nur um die Sucht geht, bei Frauen beliebt zu sein, sogar zurücktreten will) wird sukzessive für das Bewußtsein des Zuschauers verschattet, zwar immer wieder aufgegriffen, zum Beispiel durch Achill, aber dann doch ganz verdunkelt: Denn es «bewahrheiten» sich urplötzlich Agamemnons düstre Ahnungen: Nicht er, sondern das Volk will den Tod Iphigenies. Er kann ihn so oder so nicht verhindern und bekommt endlich im Zuschauer das Bedauern, das
er immer schon beim Chor einklagt: Der arme machtlose «Mächtige»! Euripides baut diese Wendung zur «Wahrheit» dramaturgisch höchst geschickt auf. Er lockt uns erst in den psychologischen Realismus, bestätigt unser Mißtrauen gegen alte Mächte und lockt uns dann dahin, unsere Hoffnung auf jüngere Mächte zu setzen, auf eine typische Sohnfigur, den jugendlichen Helden Achill. Er läßt uns am Gram des Vaters, der Mutter, der Tochter, an der Empörung des Achill mitfühlend teilnehmen, um uns erst dann mit der schockierenden Botschaft zu konfrontieren, daß wir Mißtrauen, Hoffnung und Mitleid (drei wichtige Sozialtugenden!) dahinfahren lassen müssen, wenn die Stunde der «Wahrheit» schlägt: des Volkes Wille. Es ist aber angebracht, diese Wahrheit als Trick zu durchschauen, und das heißt, sich des Konstruktcharakters der gesamten Erzählung bewußt zu sein und zu bleiben, vor allem des Konstruktcharakters des eingeführten Volksaufstandes. In der ursprünglichen mythischen Fassung des Iphigeniemotivs kommt ein solcher Aufstand nicht vor. Homer schildert uns die Kriegsbegeisterung des Fußvolks der Griechen vor Troja als eher gelinde; wie es um die Kriegsbegeisterung der Athener zu Euripides’ Zeit selber stand, nach ca. 25 Jahren Krieg, muß ich dahingestellt sein lassen; aus der zitierten Rede des Perikles können wir zwar entnehmen, daß sie schon ein Jahr nach Ausbruch des Krieges keine Lust mehr hatten und überredet werden mußten, aber – das räume ich ein – gerade nach 25 Jahren sieht das vielleicht ganz anders aus, kann oder will man vielleicht erst recht nicht mehr zurück. Wie dem auch sei, jedenfalls schmeichelt Euripides seinen Zuschauern, indem er den Volkswillen als eigentliche Macht einführt, und wenn seine Zuschauer auch an dieser Stelle noch nicht
ganz überzeugt sein mochten vom notwendigen Opfer (schließlich gab es ja zu Euripides’ Zeit keine religiösen Menschenopfer in Griechenland, sie galten als barbarisch, und daher wird auch Iphigenie im ursprünglichen Mythos nach ihrer Opferung ins Land der Taurer, zu den Barbaren, versetzt, um da selbst Opferpriesterin zu werden), so waren sie doch sicherlich zu Tränen gerührt, als er ihnen das Opfer als freiwilliges, und zwar für sie präsentierte. Man bedenke, daß Athen Jahre unter seinem Krieg litt. Das Opfer, das im Falle der szenischen Darstellung zwar am Anfang eines Krieges steht, aber doch als Garant dafür dargestellt wird, daß der Krieg siegreich für die Griechen enden wird, mußte beim Publikum, das unter dem Druck stand, endlich zu einem Ende des Krieges zu kommen, so wirken, als sei es ein letztes Opfer, das von der Kriegslast endlich erlöse. (Die Symbolik des «erlösenden» Opfers ist hoffentlich anhand der Schlußszene klar geworden.) Indem er den Athenern so schmeichelte, konnte Euripides leicht die Brücke vom Volkswillen, den er selber, wohlgemerkt, als Konstrukt einführt, zur Verdinglichung des Gemeinschaftssinns schlagen. Opfert sich Iphigenie Hellas, dem großen Ganzen, das sie in ihrer Rede dem Volkswillen gleichsetzt, opfert sie sich der psychologischen Wirkung nach für das Publikum im Zuschauerraum. Wäre es da nicht beschämend, wenn man nicht bereit wäre, ihr nachzufolgen? Aber mehr noch. Indem Euripides das Opfer Iphigenies zum freiwilligen, erlösenden Opfer im Dienste des großen Ganzen, der gemeinsamen «Sache», stilisiert, erweckt er über die Idee der Erlösung regressivsymbiotische Sehnsüchte (wie Ängste). Denn Erlösung heißt: Lasten abschütteln, Sorgen vergessen, Schuldgefühle tilgen.
Ohne schlechtes Gewissen in dieser Welt erlöst zu werden, wünschen sich parasitäre Menschen oder solche, die unter seelischen und körperlichen Belastungen auf parasitäre Wunschträume zurückfallen. Und beide erreichen die gewünschte Gewissensentlastung, wenn sie sich in die Illusion hineinsteigern, mit der Welt oder den Menschen, denen sie verpflichtet sind, eins zu sein. Im Appell an die emotionale Neigung, dies zu tun, macht Euripides ein zweifach verführerisches Identifikationsangebot: Erstens kann man sich mit Iphigenie identifizieren, aber beileibe nicht einfach deshalb, weil ihr Opfer beschämend ist. Es ist im Gegenteil faszinierend zu sehen bzw. zu hören, wie gut Euripides unser Unbewußtes instinktiv erfaßte, ohne Freud gelesen zu haben (aber das ist hoffentlich klar: Kein Dichter muß Freud gelesen haben, wenn er «etwas auf sich hält»). Wie man nachlesen kann, steigert sich Iphigenie trotz angeblich ruhiger Überlegung ihres Entschlusses in Wirklichkeit in Allmachtsphantasien hinein (Hellas’ ganzes Heil hängt von ihrem Opfer ab), durch die Identifikation mit dem großen Ganzen wächst sie selber ins Übermächtige, so als hätte sie wirklich das Schicksal von ganz Hellas in der Hand. Zwischen Nichtigkeit (ohne symbiotische Identifikation) und Allmächtigkeitsphantasie (mit symbiotischer Identifikation) schwankend, steigert sie sich in die letztere hinein. Da sie mit Hellas eins ist, ist Hellas nichts ohne sie. (Sie hätte den Gedanken nicht auf der mythischen Ebene belassen, sondern zu Ende denken sollen, dann wäre das dabei herausgekommen, was tatsächlich dabei herausgekommen ist: der Ruin Athens!) In Wahrheit macht Euripides also mit seinem Angebot, sich mit Iphigenie zu identifizieren, ein Angebot an
Allmachtsphantasien, was dem eigentlichen Grund, aus dem heraus Athen Krieg führte, sehr entgegenkam. Zugleich machte er aber auch ein Identifikationsangebot an sein Publikum, sich mit der Gleichung «Volkswille = das große Ganze» zu identifizieren. Erinnern wir uns daran, daß der eigentliche Kriegsgrund parasitärer Natur war. Es ging gar nicht ums «Ganze», sondern darum, parasitäre Wünsche unter dem Namen der Ehre der Stadt zu verstecken. So gesehen kommt Euripides zugleich dem Wunsch entgegen, parasitär zu sein, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Er appelliert an den unbewußten Gedanken: Wir sind eine verschmolzene Einheit, das Opfer, das andere gebracht haben – in unseren Reihen –, war unser eigenes Opfer. Ihr, unsere Feinde, habt folglich nur verdient, wenn wir euch opfern. Darüber, das ist, denke ich, klar, vergißt man gern die rationale Gerechtigkeit, und strickt sich das verschleiert parasitäre Wollen seinen eigenen Strick, das heißt werden Menschen letztendlich zu selbstverschuldeten Opfern in Verfolgung ihres eigenen parasitären Wollens – gestellt in den Dienst des parasitären Wollens von Demagogen, eitlen Machtmenschen, Vätern. Mehr möchte ich zur Anwendung der Verschleierungsstrategie vom Typus der symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung nicht sagen, füge aber hinzu, daß Euripides’ Trickkiste umfassender ist, als wir ahnen, zum Beispiel mit Verschweigungen und «marginalen» Appellen gefüllt, deren verschleierungsstrategischer Wert auch nicht zu unterschätzen ist. Verschwiegen wird bei Euripides unter anderem, daß nach den älteren Mythen Agamemnon an dem Opfer, das ihm Artemis aus «heiterem Himmel» heraus abforderte, ganz und gar selber die Schuld trug,
wie Karl Kerenyi im zweiten Band seiner «Mythologie der Griechen» berichtet: «Die Geschichte der Versündigung des Agamemnon ist nicht leicht zu wiederholen, da die späten Erzähler sie sehr gekürzt und vereinfacht, wenn nicht gar entstellt haben und die Tragödiendichter nur in Andeutungen sie berühren. Es scheint, daß damals das günstige Wetter für die Schiffahrt ungewöhnlich lange Zeit ausblieb. Da versprach Agamemnon von sich aus das Schönste, was das Jahr hervorgebracht hatte, der Göttin zu opfern. Dies scheint Artemis angenommen zu haben. Es geschah indessen, daß der König zufällig im Hain der Göttin ein Hirschkälbchen aufscheuchte, mit sprießendem Geweih und mit geflecktem Fell. Wünschte die Göttin dieses schöne Geschöpf für sich als Opfer? Dem Mund des Königs entschlüpfte das unbedachte Wort: (Nicht einmal Artemis selbst …!› Er meinte wohl: ‹Nicht einmal Artemis, selbst wenn sie es wollte, könnte das Tier mehr retten!› Denn er schlachtete das Hirschkalb sogleich ab, gut zielend, im heiligen Hain. Wenn er in seinem allzugroßen Selbstvertrauen nur die Macht der Göttin nicht in Zweifel gezogen hätte! So hörte das günstige Wetter wieder auf, ob nun ein Sturm ausbrach oder die Winde nunmehr völlig ausblieben. Kalchas, der Wahrsager des Heeres, wurde befragt, und er offenbarte, daß die erstgeborene Tochter des Agamemnon müßte geopfert werden, um den Zorn der beleidigten Göttin zu beschwichtigen: für das verfehlte Opfer wäre sie der einzige Gegenwert.»16 Wir verstehen unter diesem Gesichtspunkt vielleicht Platon besser, wenn er das Wissen von Dichtern um
die wahre Verknüpfung von Ursache und Wirkung in Zweifel zog. Zu erwähnen sind aber auch die marginalen Appelle des Euripides an die letztliche Schuld Helenas an allem Geschehen, die vielleicht gar nicht so marginal sind, die man nur als moderner Leser, vor allem wegen der langweiligen Chorgesänge, in denen sie unter anderem redundant vorgetragen werden, überliest oder überhört. Bei Euripides sind letztlich Frauen schuld, wenn etwas schiefgeht. Sie bilden ein und dieselbe symbolische Assoziationsebene mit dem Feind, den es niederzuhalten gilt. Ähnlich wie bei Aischylos, vor allem in dessen «Orestie», bildet die Angst vor der anarchistischen Gefahr, die von Frauen ausgeht, die eigentliche unbewußte Basis der männlichen Symbiose bzw. verdinglichten Solidargemeinschaft. An Aischylos läßt sich das pointierter demonstrieren, aber seine Orestie ist – als Trilogie überliefert – zu umfassend, als daß ich sie hier hätte vorführen können. Genaugenommen reicht es auch hin, den Opfertod der Iphigenie unter dem Aspekt des Wissens um geschlechterdualistische Klischees mit der schlichten Frage zu konfrontieren (die Klaus Theweleit17 sicherlich stellen würde): Was geht in einem Mann vor, in dessen Phantasie sich eine junge Frau auf dem Opferstein in eine Hirschkuh verwandelt, die zappelnd daliegt: «Von hohem Wuchs und herrlich, deren frisches Blut in Strömen rings der Göttin Opferherd benetzt?»18
6. Die sanfte Gewalt des Mythos im modernen Märchen: Oscar Wildes Erzählung vom Fischer und seiner Seele Am Beispiel von Euripides’ «Iphigenie in Aulis» bin ich den Spuren der verschleierungsstrategischen Implikationen sogenannter Mythen nachgegangen, und zwar in besonderer Akzentuierung einer prototypischen Verschleierungsstrategie, die gern im politischen Leben (besonders im politischen Leben von Demokratien) angewandt wird: die Strategie der symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung des Gemeinwohls. Wenngleich unsere eigene gegenwärtige politische Situation genügend Anlaß bietet, die aktuelle politische Relevanz meines Rückgriffs auf die Antike zu durchschauen bzw. uns die arrogante Geste der Zurückweisung antiker Beispiele nach der Devise: So was kommt bei uns aufgeklärten Menschen nicht mehr vor, zu versagen, fürchte ich, daß meine Hellhörigkeit, gerade diesen Punkt betreffend, nicht jedermanns Sache ist. Ich fürchte das nicht nur deshalb, weil bei uns sogenannten modernen Menschen der Sinn dafür, daß Schlechtes im Gewande des Guten daherkommt, ziemlich verkümmert ist, der bei Euripides immerhin noch aufscheint, wenn er Agamemnon den Tod seiner Tochter als Hochzeit kaschieren läßt, und dem auch Schiller noch Tribut abstattete, indem er sein Gedicht über Kassandra (die Seherin in Troja, der niemand Glauben schenken will) mit den Worten beginnen läßt: «Freude war in Trojas Hallen, / Eh’ die hohe Feste fiel …»
Ich fürchte vor allem, daß wir die Strategie der symbiotischen Vereinnahmung auf dem politischen «Großraumsektor» gar nicht wahrnehmen möchten, weil wir vorwiegend damit beschäftigt sind, die potentielle Erkenntnis abzuwehren, daß sie fortlaufend unser Privatleben okkupiert. Obwohl dieser Umstand hier nicht – jedenfalls nicht direkt – mein Thema sein soll, möchte ich kurz auf ihn aufmerksam machen. Auch wenn wir aus institutionalisierten Festschreibungen der Opfer, die wir im Dienste einer sogenannten «Sache», zum Beispiel berufsbedingt in einem Wirtschaftsbetrieb, in einer sozialen Institution oder sogar in einer Hochschule zu bringen haben, entfliehen möchten, ereilt uns dort, wohin wir fliehen möchten, in unseren intimsten und freiwilligsten Bereichen von Bekanntschaft, Freundschaft und Liebe, die Hypostasierung bzw. Verdinglichung von Beziehungen. Sie ereignet sich hier in erster Linie in der Form der Festschreibung sympathetischer Gefühle, das heißt: Kaum lernt man jemanden kennen und unterhält sich mit ihm ganz nett, wird man in Zukunft so behandelt, als hätte man einen Teufelspakt geschlossen, aus dem man ohne Schuldgefühle nicht mehr austreten kann. Die Verdinglichung ereignet sich in zweiter Linie in der Form, daß der «Pakt der Gefühle», den man angeblich geschlossen hat, vor allem durch rationale Argumente nicht beeinträchtigt werden kann. Ob der Betreffende, der uns seinen Gefühlspakt zu Füßen legt, sich schlecht benimmt (weswegen wir aus dem Pakt austreten möchten), spielt keine Rolle. Er bleibt uns «verbunden». Ja, sogar wir dürfen uns schlecht benehmen, denn das macht uns «menschlich». Nicht erwarten dürfen wir dagegen, daß unser «schlechtes Benehmen»
rational gedeutet wird, womöglich als echte Abneigung, die Beziehung fortzusetzen. Am schlimmsten wird es, wenn man sich mehr als einmal mit einer Person getroffen hat, dabei den eigenen positiven Gefühlen durch freundschaftliches Zureden, sexuelles Entgegenkommen oder gelegentliches Aushelfen mit einem Zwanzigmarkschein Ausdruck gegeben und – das ist wichtig – darüber hinaus versäumt hat, auf irgendwelche Schattenseiten des anderen zu reagieren, weil man das für unwichtig hielt. Dann sitzt man fest in der Falle des Teufelspakts, denn man «findet» ja offensichtlich selber «etwas» an der betreffenden Person, weshalb der desillusionierende Einblick in die Situation schwerfällt; außerdem hat man, ohne das bewußt zu wollen, signalisiert, daß man die Person so «akzeptiert, wie sie ist». In dritter Linie ereignet sich daher die Verdinglichung unserer intimsten und scheinbar freiwilligsten Beziehungen als Festschreibung des gegenseitigen «Soseins» – wie man nun mal ist –, allerdings mit der unter verschleierungsstrategischen Gesichtspunkten zu erwartenden Schlagseite, daß dabei der eine Part so sein darf, wie er «ist», indem er sich parasitär verhält, der andere so sein darf, wie er «ist», indem er sich opfert. Es muß dabei die Rolle des Parasiten nicht nur auf einen Partner festgeschrieben sein. In der Regel wird sie aber in Zweierbeziehungen – rechnet man die Kosten-Nutzen-Rechnung auf beiden Seiten, den existentiellen oder materiellen Nutzen, den seelischen und den rationalen bzw. geistigen Gewinn einbeziehend, ordentlich durch – von einer männlichen Person gespielt. Die männliche Neigung, Beziehungen zu verdinglichen bzw. festzuschreiben, erweist sich besonders dann, wenn einer einmal so begonnenen Beziehung ein Trauschein
und Kinder hinzugefügt werden. Denn die dadurch hinzukommenden symbolischen und existentiellen Abhängigkeiten verstärken nolens volens die Sinnfälligkeit des vermeintlichen Gefühlspakts, sogar dann, wenn die Gefühle selber längst unterkühlt sind, und daher kommen Männer wie Frauen (insbesondere aber Männer) unter diesen Bedingungen in ihrem «Sosein» erst richtig zur Entfaltung: Sie lassen sich gehen, und in der Regel bringt sie nichts dazu, ihr Verhalten – mag es auch faktisch noch so beziehungszerstörerisch sein – zu verändern. Letzteres kann man, besonders eindringlich dargestellt, bei Cheryl Benard und Edit Schlaffer in ihrem Buch «Die ganz gewöhnliche Gewalt in der Ehe» und bei Bram van Stolk und Cas Wouters in ihrem Buch «Frauen im Zwiespalt» nachlesen.1 Ich selber war bei einem Gespräch zwischen zwei Jungverheirateten dabei, dessen Pointe ich wegen ihres exemplarischen Charakters hier zitieren möchte: Sie, trotz abgeschlossenen Studiums in einem anderen Land, geht kellnern, um ihn und sich über Wasser zu halten. Er, im 15. Semester und beträchtlich älter als sie, brüstet sich gerade mit seinen jüngsten Erfolgen. Er hat es geschafft, in einem Strafprozeß gut wegzukommen. Er hat, selbstverschuldet, einen Fahrradfahrer beinahe zum Krüppel gefahren, ist aber mit einer Geldstrafe und drei Jahren Führerscheinentzug davongekommen. Er setzt hinzu, daß er, so wie er es in diesem Prozeß geschafft hat, gut «rauszukommen», demnächst auch schaffen wird, aus seinen Schulden herauszukommen, zu deren Zahlung er in einem früheren Prozeß «verdonnert» wurde. Sie, sehr sanft, sehr lieb, wendet ein, daß es aber vielleicht nicht immer so gut für ihn ausgehen müsse, und fügt als Ar
gument hinzu, daß der «Erfolg» seiner bisherigen Taten vielleicht doch ein bißchen eingeschränkt zu sehen sei, unter dem Aspekt zum Beispiel, daß sie ja zur Zeit für ihn arbeiten gehe. «Lisa», sagt er, «das ist jetzt ganz unfair von dir. Du weißt genau, daß wir einen Vertrag haben, den ich erfüllen werde. Du arbeitest jetzt, und wenn ich mit dem Studium fertig bin, und das wird in drei Monaten der Fall sein, dann werde ich Geld verdienen, und du wirst entlastet.» «Ja, aber», wendet sie wieder ein, «jetzt sagst du in drei Monaten, vor zwei Jahren hast du schon gesagt, du bist in drei Monaten fertig, vor einem halben Jahr, im Januar, hast du gesagt, du bist im Mai fertig. Jetzt haben wir Mai und dann …» «Lisa», unterbricht er sie, «du laberst nur, ich weiß immer genau, was ich tue!» Die im Privatleben, insbesondere von Männern – ich sage einschränkend: von parasitären Männern – gern betriebene Strategie der Verdinglichung von Liebe, Freundschaft, Bekanntschaft im Sinne der von mir präzisierten Festschreibung eines «Gefühlspaktes» hat übrigens eine beachtenswerte Ähnlichkeit mit Usancen des Duisburger Universitätslebens, unter anderem mit dem Verhalten von männlichen wie weiblichen Studenten, die es für ganz selbstverständlich halten, daß Professoren sich für sie abrackern, während sie selber daumendrehend herumsitzen, ja, sich sogar zu vornehm sind, einem Professor ein Kompliment zu machen, wenn er eine interessante Vorlesungsstunde gehalten hat. Welcher merkwürdige Pakt da in studentischen Köpfen spukt, versage ich mir zu erörtern, und wende mich dem eigentlichen Thema dieses Kapitels zu, das heißt einer Variante der symbiotischen Vereinnahmung durch Hypostasierung, die ich
für den besonderen Fall, den ich behandeln möchte, als «Entzauberung durch Verzauberung» (Entmystifikation durch Mystifikation) spezifiziere. Ich verbleibe damit noch etwas länger im Rahmen des Mythos, das heißt bei der Absicht, die verschleierungsstrategischen Implikationen, die Gefahren von Mythen bzw. sinngebenden Geschichten zu verdeutlichen, und zwar aus folgendem Grund: Meine Darstellung der «Iphigenie in Aulis» war ironisch angelegt. Das war Absicht, hat aber vermutlich den Nachteil, daß die emotionale Attraktivität des Mythischen, seine verwandelnde «Zauberkraft» unterbelichtet worden ist. Da uns aber gerade diese den nötigen Verstand untergräbt, um verschleierungsstrategische Implikationen an Mythen wahrzunehmen, und mir durchaus daran gelegen ist, die Zauberkraft von Mythen bewußt zu machen, will ich ein Märchen aus neuerer Zeit erzählen, dessen Zauberkraft sich – wie ich meine – nicht so leicht ironisch unterhöhlen läßt wie etwa die bei Euripides. Ich habe eines meiner Lieblingsmärchen zu diesem Zwecke ausgesucht, und zwar Oscar Wildes Geschichte «Der Fischer und seine Seele». Sie stammt aus der Zeit zwischen 1880 und 1890. (Oscar Wilde wurde 1856 in Dublin geboren, konnte sich ab 1876 aufgrund einer Erbschaft seines Vaters erlauben, als freier Schriftsteller zu arbeiten, wurde 1895 in einem Skandalprozeß, der auf Betreiben seiner Frau in Gang kam, wegen Homosexualität zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt und starb drei Jahre nach seiner Haft, verarmt und seelisch zerstört, am 20. November 1900 in Paris. Seine berühmteste Erzählung ist wohl «Dorian Gray»; er hat aber auch Theaterstücke, und zwar sehr sozialkritische Theaterstücke, geschrieben.) Daß ich Oscar Wildes Geschichte vom Fischer und seiner Seele erzählen
möchte, hat neben dem vorher genannten einen zweiten Grund. Es soll mir der Dichter zugleich die Ursache in uns selber veranschaulichen helfen, auf der die Zauberkraft von Mythen und Märchen primär beruht. Dazu ist dieses Märchen geeignet, weil Oscar Wilde darin so etwas wie eine Entmythisierung im Mythos betreibt. Inwiefern tut er das – und inwieweit dennoch mit verschleierungsstrategischen Implikationen? Zur psychischen Ursache in uns selber, auf der die Zauberkraft von Mythen beruht, schicke ich folgendes voraus: Ich habe im letzten Kapitel ausgeführt, daß wir damit rechnen müssen, daß uns Mythen Identifikationsangebote machen in Form von Bildern, die an unsere Hoffnungen, Wünsche, Illusionen und Machtphantasien appellieren. Ich habe hinzugefügt, daß wir in der Regel solche Mythen am meisten lieben, die uns durch Identifikation eine fiktive Anerkennung oder eine fiktive Entlastung von Schuldgefühlen verschaffen. Da wir anhand von Euripides gesehen haben, daß sich mit mythischen Mitteln sogar parasitäre Wünsche in die Identifikation mit einem «selbstlosen» Opfer transformieren lassen, setze ich nunmehr hinzu, daß ich, wenn ich von der Zauberkraft von Mythen spreche, eben diese verwandelnde Wirkung meine, die sie haben können. Und ich behaupte darüber hinaus, daß sie diese Wirkung keineswegs aufgrund des allerbesten Teils in unserer Seele ausüben, das heißt – nach Platon – nicht aufgrund unserer Vernunft, sondern primär aufgrund unseres Narzißmus bzw. eines, wie ich mal sagen möchte, narzißtisch eingefärbten Anerkennungswunsches. Damit will ich ausdrücken, daß nicht nur Dichter eine Neigung dazu haben, die platte Wirklichkeit auf der Folie mehr oder weniger unsichtbarer göttlicher, heroischer
oder dämonischer Mächte, die sich in ihr manifestieren, zu interpretieren. Auch weniger begabte Menschen haben einen Hang, sich und ihr Umfeld heroisch zu stilisieren. Wir mythisieren uns, zumindest in bestimmten Situationen, selbst, vor allem in der Form, daß wir von unseren sichtbaren Taten und deren Erfolg oder Mißerfolg ein unsichtbares Ich, ein Selbst oder eine «Seele» abspalten und – das ist der wesentliche Punkt – diesem Selbst oder dieser Seele zuschreiben, wahrhaftiger als unsere äußere Erscheinung, das heißt «irgendwie», wenn schon nicht unbedingt edelmütig, so doch mit einer gewissen Erhabenheit ausgestattet zu sein. Solche Abspaltung ist an und für sich ganz natürlich, kann sich aber unter kritischen Bedingungen bis zum schizophrenen Größenwahn steigern. Sie ist auch nicht notwendig – das möchte ich betonen – an einen religiösen Glauben, welcher Art auch immer, gebunden. Sie spukt in religiösen Köpfen genauso wie in einem ganz atheistischen Bewußtsein, heutzutage vor allem in der Form, daß fast alle Menschen um ihrer selbst willen «geliebt» werden wollen – statt aufgrund irgendwelcher guter Eigenschaften. Ein geschickter Dichter appelliert daher in der Regel nicht nur an unsere Seelenregungen im Sinne aller uns möglichen Affekte (wie Platon meint), sondern koppelt den Appell daran mit dem gleichzeitigen Appell an das «erhabene» Selbstgefühl, das wir aus unserem abgespaltenen Selbst, unserer abgespaltenen «Seele» beziehen, und kann uns auf diese Weise in das gewünschte Gefühlslager hinüberziehen. Das gelingt – nebenbei bemerkt – aufgrund einer Art Verdinglichung in uns selbst, indem unsere durchaus fragwürdigen Gefühlsregungen aller möglichen Art ins Lager des abgespaltenen Selbst und
dessen Erhabenheitswert hinübergezogen und mit diesen verschmolzen werden. Am deutlichsten bemerken wir diesen Vorgang im Falle der Kränkung. Kaum kritisieren wir jemanden, fühlt er sich gleich in seinem «wahren» Selbst verletzt und immunisiert sich gegen die Kritik. Ich habe dies vorausgeschickt, um ganz grundsätzlich auf das primäre Dispositiv der Zauberkraft von Mythen aufmerksam zu machen, aber auch, weil uns in Oscar Wildes Märchen vom Fischer und seiner Seele eine ganz besondere «Seele» entgegentritt, deren erzählerischer Stellenwert sonst unklar bliebe. Doch nun zum Märchen selber, das ich natürlich zusammenfassen muß – in der Hoffnung, es möge trotzdem nicht allzuviel von seiner Zauberkraft verlorengehen: Ein junger Fischer, der regelmäßig zum Fischfang auf das Meer fährt, mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg, macht eines Tages einen verblüffenden Fang. Er zieht mit seinem Netz ein kleines Meermädchen herauf, das in festem Schlaf liegt. «Ihr Haar war ein feuchtes, Goldenes Vlies, und jedes einzelne Haar wie ein Faden aus feinem Golde in einer glänzenden Schale. Ihr Leib war wie weißer Elfenbein, und ihr Schwanz war aus Silber und Perlen. Aus Silber und Perlen war ihr Schwanz, und die grünen Algen der See schlangen sich darum; und wie Seemuscheln waren ihre Ohren, und ihre Lippen waren wie Meerkorallen. Die kalten Wogen spritzten über ihre kalten Brüste, und das Salz glitzerte auf ihren Augenlidern. So schön war sie, daß der junge Fischer, als er sie sah, von Staunen erfüllt war, und er streckte die Hand aus und zog das Netz dicht an sich, und er lehnte sich über das Boot
und nahm sie in seine Arme. Und als er sie berührte, stieß sie einen Schrei aus wie eine erschreckte Möwe und sah ihn entsetzt mit ihren Malven- und Amethystaugen an und wand sich, um ihm zu entkommen. Er aber hielt sie fest an sich gedrückt und wollte sie nicht fortlassen. Und als sie sah, daß sie sich ihm auf keine Weise entwinden konnte, begann sie zu weinen und sagte: ‹Ich bitte dich, laß mich gehen, denn ich bin die einzige Tochter eines Königs, und mein Vater ist alt und allein.› Aber der junge Fischer antwortete: ‹Ich will dich nicht gehen lassen, wenn du mir nicht das Versprechen gibst, sooft ich dich rufe, heraufzukommen und mir zu singen, denn die Fische freut es, dem Sange des Meervolks zu lauschen, und so werden meine Netze sich füllen.› ‹Willst du mich in Wahrheit gehen lassen, wenn ich dir das verspreche?› rief das Meermädchen. ‹Ich will dich in Wahrheit gehen lassen›, sagte der junge Fischer. Da gab sie ihm das Versprechen, das er verlangte, und schwor es beim Eide des Meervolks. Und er löste die Arme von ihr, und sie sank hinab in das Wasser und zitterte vor fremder Furcht.»2 Die Meerjungfrau hält sich an den unfair erpreßten Pakt, und des jungen Fischers Netze werden jeden Abend voll, während sie über das bunte Leben des Meervolks und der sonstigen Bewohner, der Pflanzen und Tiere singt. Sie singt indes so lieblich, daß er eines Abends seine schnöde Gewinnsucht total vergißt. Er hat sich in sie verliebt und will sie heiraten. Sie ist auch gar nicht abgeneigt, doch es gibt ein Problem:
«‹Kleines Meermädchen, kleines Meermädchen, ich liebe dich. Nimm mich zum Bräutigam, denn ich liebe dich.› Aber das Meermädchen schüttelte den Kopf. ‹Du hast eine menschliche Seele›, antwortete sie, ‹wenn du nur deine Seele fortsenden wolltest, dann könnte ich dich lieben.› Und der junge Fischer sprach zu sich selber: ‹Was nützt mir meine Seele? Ich kann sie nicht sehen. Ich kann sie nicht fassen. Ich kenne sie nicht. Wahrlich, ich will sie fortsenden, und große Freude wird meiner harren.› Und ein Freudenschrei brach von seinen Lippen, und er stand auf im bemalten Boot und streckte die Arme aus nach dem Meermädchen. ‹Ich will meine Seele fortsenden›, rief er, ‹und du sollst meine Braut sein, und ich will dein Bräutigam sein, und in der Tiefe des Meeres wollen wir zusammen wohnen, und alles, wovon du gesungen hast, sollst du mir zeigen, und alles, was du verlangst, will ich tun, und unser Leben soll nie getrennt sein.› Und das kleine Meermädchen lachte vor Vergnügen und verbarg das Gesicht in den Händen. ‹Aber wie soll ich meine Seele von mir schicken?› rief der junge Fischer. ‹Sage mir, wie ich es tun kann, und siehe, es soll geschehen.› ‹Ach! ich weiß es nicht›, sagte das kleine Meermädchen, ‹das Meervolk hat keine Seelen.› Und sie sank hinab in die Tiefe und sah ihn sehnsuchtsvoll an.»3 Darauf machte sich der junge Fischer auf den Weg, seine Seele loszuwerden, was sich als schwierig erweist. Sein erster Weg führt zum Priester, der natürlich vor Entsetzen blaß wird. Der junge Mann solle um Gottes willen von seinem
Vorhaben Abstand nehmen. Die Seele sei der «edelste Teil des Menschen», «von Gott gegeben, daß wir sie edel gebrauchen». Sie sei «alles Gold wert, das in der Erde ist» und «wertvoller als die Rubine der Könige». Sein Vorhaben sei eine Sünde, «für die es keine Vergebung gibt»: Das Meervolk sei ein «verlorenes» Volk, weil es wie die Tiere das «Böse nicht vom Guten» trenne, seine Liebe sei als «Liebe des Leibes» verächtlich. Er verflucht das Meervolk, die Geliebte und den jungen Fischer selbst, der nun sehr betrübt seine Seele auf dem Markt der Kaufleute anbietet. Da erntet er zwar nicht Fluch, aber Spott, da seine Seele den Kaufleuten keinen Pfifferling wert ist, und so bleibt er allein und dem Grübeln überlassen. Es fällt ihm ein, daß er von einer jungen Hexe gehört hat. Die, eine schöne Rothaarige, hilft ihm auch schließlich, allerdings kommt es dazu erst auf Umwegen. Sie verliebt sich in ihn und bestellt ihn zum Walpurgisnachttanz, in der Hoffnung, ihn dort für sich zu gewinnen. Er durchkreuzt ihre Absicht, indem er vor dem vornehmsten Besucher der Walpurgisnacht – vor dem Teufel – das Kreuz schlägt. Alle Hexen stürmen entsetzt auseinander, auch die schöne Rothaarige will fliehen, aber der junge Fischer hält sie mit Gewalt zurück und preßt ihr das Geheimnis ab, das er hören will. Sie schenkt ihm ein kleines Messer. Damit soll er sich an die Meeresküste, den Rücken zum Monde gekehrt, stellen und rings um seine Füße den Schatten abschneiden, der «seiner Seele Leib ist», und dann seine Seele auffordern, ihn zu verlassen. Der junge Fischer ist erfreut, seine Seele dagegen beginnt zu flehen, er solle sie nicht verstoßen. Er lacht. Er braucht sie nicht, sagt er. Am Strand angekommen fleht sie ihn an, er solle ihr, wenn er sie schon fortschicke, wenigstens sein Herz mitgeben, die Welt sei grausam, sie fürchte sich. Er antwortet, daß
sein Herz seiner Liebe gehöre und schneidet den Schatten rings um seine Füße ab. Vor ihm stehend, bittet die Seele ihn, ihr wenigstens einen Wunsch zu erfüllen. Einmal in jedem Jahr wolle sie ihn hier am Ort wiedersehen können, vielleicht brauche er sie ja doch. Das glaubt er zwar nicht, gesteht ihr aber das Treffen zu und taucht ins Wasser, sein Meermädchen kommt ihm entgegen und umarmt ihn. Die Seele zieht traurig von dannen. Sie kommt aber in der Tat zurück, dreimal insgesamt, und schildert ihm, was sie in der Welt erlebt hat. Die Schilderungen der Seele sind ein sprachliches Meisterstück Oscar Wildes, wahre Sprachkaskaden, und man sollte sie nachlesen. Ihre erste Reise hat die Seele nach Osten angetreten, denn «vom Osten kommt alles», wie sie sagt, «was weise ist». Ihre Reise, auf der sie sich einer Karawane angeschlossen hat, war beschwerlich, voller Torturen und Kämpfe, bei denen zwei Drittel ihrer Reisegenossen ums Leben gekommen sind. Aber sie hat ihr Ziel erreicht. Sie hat den Priester des Landes, in das sie wollte, dazu gebracht, ihr den wahren Gott dieses Landes zu entdecken, und sie hat diesen Gott mitgebracht, es ist der «Spiegel der Weisheit», in dem man nicht sich selber, aber deswegen alle Dinge der Welt sieht. Die Seele hat den Spiegel eine Tagesreise weit vom Meerufer entfernt verborgen, wenn der junge Fischer sie wieder bei sich aufnimmt, wird er weiser als alle anderen Menschen werden. Aber der junge Fischer lehnt ab. Sein Meermädchen liebe ihn, und Liebe sei besser als Weisheit, sagt er und taucht wieder unter in den Fluten. Nach einem Jahr berichtet die Seele von ihrer zweiten Reise, die sie gen Süden angetreten hat, denn «vom Süden kommt alles», wie sie sagt, «was kostbar ist». Sie hat eine Stadt ausfindig gemacht, deren Leben sie farbenprächtig
schildert, und aus dieser farbenprächtigen Schilderung möchte ich einige Zeilen zitieren: «Und drinnen war es wie ein Basar. Wahrlich, du hättest bei mir sein sollen. Durch die engen Straßen flattern bunte Papierlaternen gleich großen Schmetterlingen. Wenn der Wind über die Dächer weht, steigen und fallen sie wie bunte Seifenblasen. Vor ihren Buden sitzen die Kaufleute auf seidenen Teppichen. Sie haben gerade, schwarze Bärte, und ihre Turbane sind mit Goldzechinen bedeckt, und lange Ketten von Bernstein und geschnittenen Pfirsichsteinen gleiten durch ihre kühlen Finger. Einige von ihnen verkaufen Galbanum und Narden und seltsames Duftwerk von den Inseln des Indischen Meeres, und dickes Rosenöl und Myrten und kleine nagelförmige Nelken. Wenn man stillesteht, um mit ihnen zu reden, werfen sie kleine Stückchen Weihrauch auf ein Kohlenbecken und machen die Luft süß. Ich sah einen Syrer, der hielt in der Hand eine dünne Rute wie ein Rohr. Graue Fäden von Rauch stiegen davon auf, und der Duft, als sie verbrannte, war wie der Duft der Mandelblüte im Frühling. Andere verkaufen silberne Armbänder, die rundherum mit milchblauen Türkisen besetzt sind, und Knöchelspangen aus Erz waren mit kleinen Perlen gefranst, und Tigerklauen in Gold gefaßt, und die Klauen der goldgelben Katze, des Leoparden, auch in Gold gefaßt, und Ohrgehänge aus durchbohrten Smaragden, und Fingerringe aus gehöhlten Nephriten. Von den Teehäusern kommt der Ton der Gitarre, und die Opiumraucher sehen mit weißen, lächelnden Gesichtern heraus auf die Vorübergehenden. Wahrlich, du hättest bei mir sein sollen. Die Weinverkäufer bahnen sich ihren Weg durch die Menge
mit großen schwarzen Schläuchen auf den Schultern. Die meisten verkaufen den Wein von Schiras, der süß ist wie Honig. Sie reichen ihn in kleinen metallenen Schalen und streuen Rosenblätter darauf. Auf dem Marktplatz standen die Fruchtverkäufer, die alle Arten von Früchten verkaufen: reife Feigen mit ihrem weichen Purpurfleisch, Melonen, die nach Moschus duften und gelb sind wie Topase, Zitronen und Rosenäpfel und Trauben weißen Weins, runde, rotgelbe Orangen und längliche Limonen aus grünem Gold. Einmal sah ich einen Elefanten vorübergehen. Sein Rüssel war rot und gelb bemalt, und über den Ohren trug er ein Netz aus roter Seidenschnur. Er hielt vor einer der Buden und fing an, die Orangen zu fressen, und die Leute lachten nur. Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein merkwürdiges Volk es ist. Wenn sie froh sind, gehen sie zu einem Vogelverkäufer und kaufen von ihm einen Vogel in einem Käfig und lassen ihn frei, damit ihre Freude größer sei, und wenn sie traurig sind, geißeln sie sich mit Dornen, damit ihr Gram nicht geringer werde.»4 Aber die Seele ist nicht nur wortreich, sondern natürlich auch nicht mit leeren Händen zurückgekommen. Sie hat den König des Landes dazu gebracht, ihr einen Ring zu vermachen, der einen, wenn man ihn besitzt, zum reichsten Menschen der Welt macht. Sie will ihn dem jungen Fischer schenken. Der ruft nur: «Liebe ist besser als Reichtum, und das kleine Meermädchen liebt mich», und springt wieder ins Meer. Beim dritten Mal, als die Seele zurückkommt, geht die Sache – wie man sich denken kann – anders aus. Die Seele war in einer Stadt, die nur eine Tagesreise entfernt
liegt, wie sie sagt, und hat dort ein verschleiertes Mädchen tanzen gesehen: ‹«Ihr Gesicht war mit einem Gazeschleier verhüllt, aber ihre Füße waren nackt. Nackt waren ihre Füße, und sie bewegten sich über den Teppich wie kleine weiße Tauben. Nie habe ich etwas so Wunderbares gesehen, und die Stadt, in der sie tanzt, ist nur eines Tages Reise entfernt.) Und als der Fischer die Worte seiner Seele hörte, dachte er daran, daß das Meermädchen keine Füße habe und nicht tanzen könne. Und ein großes Verlangen kam über ihn, und er sprach zu sich selber: ‹Es ist nur eines Tages Reise, und ich kann zu meiner Liebe zurückkehren›, und er lachte und stand auf im flachen Wasser und schritt zum Ufer.»5 Dort vereinigt er sich mit seiner überglücklichen Seele, die ihn zur Eile antreibt, vom Meerufer wegzukommen. Es folgt, wie zu erwarten, die Enttäuschung, aber gleich doppelt. Die Seele schleppt den jungen Fischer von einer Stadt zur anderen, aber weder in der ersten noch in der zweiten, noch in der dritten Stadt gibt es ein tanzendes Mädchen. Statt dessen überredet die Seele den jungen Fischer in der ersten Stadt zu einem Diebstahl, in der zweiten dazu, ein unschuldiges Kind zu schlagen, in der dritten ermordet er auf ihr Geheiß einen Kaufmann, der ihm in reinster Herzensgüte Gastfreundschaft gewährt hat. Hat er sich bei der ersten und zweiten Tat von der Seele sein Gewissen beruhigen lassen, fordert er nach der dritten Tat von seiner Seele Rechenschaft. Und seine Seele antwortet ihm:
«Als du mich in die Welt hinausschicktest, gabst du mir kein Herz, und so lernte ich alle diese Dinge tun und sie lieben.»6 Der junge Fischer, von ihrer Bosheit entsetzt, will seine Seele wieder fortschicken. Er schneidet seinen Schatten ab, aber die Seele bleibt. Die Hexe hatte ihm nicht gesagt, daß man seine Seele nur einmal im Leben wegschicken kann, klärt ihn die Seele auf: «Und als der junge Fischer wußte, daß er nie wieder seiner Seele ledig sein würde und daß es eine böse Seele sei und daß sie immer in ihm wohnen würde, da fiel er zu Boden und weinte bitterlich.»7 Nachdem er beschlossen hat, auf seine Seele nie mehr zu hören und zum Meer zurückzukehren, versucht ihn seine Seele wieder und wieder zu becircen. Zuerst mit der Aussicht auf ein lustvolles Leben, worauf er nicht hört. Seine eigenen Versuche, Kontakt zu seinem Meermädchen zu finden, bleiben indes auch erfolglos. Dennoch gewinnt die Seele keine Macht über ihn, heißt es, «so groß war die Macht seiner Liebe»8. Die Seele versucht nun, ihn zu guten Taten an der leidenden Menschheit zu überreden. Auch das fruchtet nicht, und die Seele gibt auf, allerdings mit einem kleinen Haken. Nach zwei Jahren endlich will sie ihn nicht mehr in Versuchung führen, aber sie bittet ihn, in sein Herz eindringen zu dürfen, um wieder wirklich eins mit ihm zu sein. Er erlaubt ihr das aus Mitleid, denn: «… in den Tagen», da sie «ohne Herz durch die Welt gewandert» sei, habe sie «viel dulden müssen». «Ach», ruft da aber seine Seele, «ich kann keinen Eingang finden, so
umfangen ist dein Herz von deiner Liebe.» Und er spricht zurück: «Und doch wollte ich, ich könnte dir helfen.»9 Im selben Moment, als er das sagt, ertönt ein Schrei vom Meer, er läuft hinab zum Ufer und findet sein Meermädchen tot an den Strand gespült. Er rast, weint, umschlingt sie und beschließt, ihr in den Tod zu folgen. Er küßt sie, als die Wogen ihn selbst erreichen und sein eigenes Ende naht. «Und als die Fülle seiner Liebe das Herz ihm brach, da fand die Seele einen Eingang und ward eins mit ihm wie früher.»10 Der Priester findet am nächsten Tag das tote Paar, verflucht das Meervolk und läßt das Paar ungesegnet und ohne Grabstein auf einem abgelegenen Feldstück begraben. Drei Jahre später stehen, als er zur Predigt kommt, fremde Blumen auf seinem Altar, die so betörend duften, daß er, obwohl er sich vorgenommen hat, über den Zorn Gottes zu sprechen, ungewollt von dem Gott, dessen Name die «Liebe» ist, spricht. Er erfährt später, daß die Blumen vom Grab des jungen Fischers und seiner Meerjungfrau stammten. Doch obwohl er daraufhin das Meer und alle wilden Wesen darin segnet, wachsen im Winkel des Feldes, von dem die Blumen stammten, nie wieder Blumen – es bleibt öde wie zuvor. «Und auch das Meervolk kam nicht mehr in die Bucht wie früher, sondern es zog in einen anderen Teil des Meeres.»11 Ich gehe zum Kommentar des Märchens über: Wie schon im Falle von Euripides’ «Iphigenie» kann mir auch bei
Oscar Wilde nicht an einer literaturwissenschaftlich zu rechtfertigenden Interpretation liegen, ich ziele nur auf die verschleierungsstrategischen Implikationen der Erzählung ab, vor allem, inwiefern wir es hier sogar mit einer Entzauberung durch Verzauberung zu tun haben, worauf wohl aber gerade in diesem Falle der spezifische Reiz, die Zauberkraft der Erzählung beruht. Ein paar literaturgeschichtliche Randbemerkungen erlaube ich mir jedoch vorweg, die meiner Deutung dienlich sind. Oscar Wilde greift mit seiner Erzählung einen beliebten Stoff der Romantik auf, das Motiv der «Undine» oder «Melusine», einer weiblichen Meerschönheit, die sich mit einem männlichen Part aus der Menschenwelt durch eine Liebe verbindet, der kein glücklicher Ausgang beschert ist. Schon vorher ist dieses Motiv jedoch Anlaß zu dichterischer Bearbeitung gewesen, und auch später hat das 20. Jahrhundert uns Fassungen geliefert, zum Beispiel 1938 Jean Giraudoux’ Theaterstück «Ondine» (1939 aufgeführt), Ingeborg Bachmanns Erzählung «Undine» (1961) oder Hans Werner Henzes Ballett «Undine» (1958). Die aus der Romantik herstammende erste und erfolgreichste Erzählung war die von Friedrich de la Motte Fouqué (1811), die von ihrer Grundstruktur her gesehen als exemplarisch für andere romantische Fassungen des frühen 19. Jahrhunderts, wie etwa die von Tieck oder Andersen, gelten kann. Die wesentlichen Elemente dieser Struktur sind, daß die Liebe von der Meerfrau selber ausgeht, daß sie sich einem Menschen-Mann anschließt, um eine menschliche Seele zu gewinnen, und daß die Liebe der Menschen-Männer zu schwach ist, der Meerfrau dazu zu verhelfen. Wer mit geschlechterdualistischen Klischees vertraut ist, wird un
schwer schließen können, daß die Romantiker damit einen Mythos belebten, der dienlich war, geschlechterdualistisches Denken romantisch zu überhöhen, denn trotz der Kritik an der mangelnden Liebe der Menschen-Männer wurde doch das Mißlingen der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau im Gegensatz «Mann = Seele/Geist – Frau = Natur/Sinnlichkeit» verankert. Wie wir aber aus dem Gesagten ebenfalls unschwer erschließen können, weicht Oscar Wildes Fassung zwar nicht in geschlechterdualistischer Hinsicht, aber in ganz wesentlichen Punkten von der romantischen Struktur ab. Hier, bei Wilde, geht die Initiative nicht von der Meerjungfrau aus, schon gar nicht, weil sie eine menschliche Seele haben will. Die Initiative geht vom Mann aus, er verliebt sich und will im Dienste dessen sogar die «Seele» loswerden. Es ist daher auch nicht seine mangelnde Liebe, die ihn scheitern läßt, es ist ausgerechnet seine Seele, um die andere Meerfrauen – nicht die seine – buhlen, das ach so erhabene Unsterblichkeitsgut, das sich bei Wilde als Ungeheuer entpuppt. Wir verdanken diese Wendung gegen die Seele unter anderem Wildes heidnischer Bildung und einem merkwürdig christologisch verhafteten antichristlichen Affekt, vermutlich auch seiner Homosexualität. Was jedoch immer seine Motive gewesen sind, interessant unter strategischen Gesichtspunkten ist zunächst, daß Wilde damit eine Entmystifizierungsstrategie, eine Entzauberungsstrategie in einen Mythos einbaut. Er sagt uns nämlich, daß es unsere eigene Seele ist – in dem von mir vorher geschilderten Sinne –, die uns Märchen glauben machen will, um ihre eigene Wichtigkeit vorzugaukeln, die uns aus den Armen echter Abhängigkeiten, in denen wir aber zugleich Erfüllung finden können (symbolisiert hier in
der begehrenden Liebe), reißen will, um einer Taube auf dem Dach willen, um traumtänzerischer Wunschgebilde willen. Ich betone: Daß uns Wollust, Habgier, Hochmut und dergleichen Laster in die Arme des Verderbens stürzen, sagt er nicht auf die platte christliche Art. Nein, er sagt: Eben unsere christlich ins Erhabene versetzte Seele, unser abgespaltenes, empirisch gereinigtes Selbst verleitet uns zum Glauben an Traumtänzereien und erweist sich bei näherem Hinsehen als ein verdinglichtes Selbst, in dem schurkisch motivierte Triebkräfte zu einer pseudoerhabenen Selbstidee verschmolzen sind. So weit, so gut. Während Wilde indes auf der einen Seite die Zauberkraft von Mythen psychologisch gezielt demaskiert, gelingt ihm dies dennoch nur um den Preis einer Mystifikation, die der, die er eben zu entlarven bereit ist, aufs Haar gleicht. Inwiefern? Die Demaskierung der Seele hat bei Wilde eine tückische Fußangel. Einerseits hat der junge Fischer eine Seele, ein Selbst in dem von mir gemeinten abgespaltenen Sinne, das trotz seiner Abgespaltenheit Identifikationsgrund für uns ist. Dies vorausgesetzt, führt nun aber Wilde eine Verdopplung der Abspaltung ein. Der junge Fischer will seine Seele loswerden, sozusagen tatsächlich abspalten, nicht nur verdinglichen, und das kostet den Preis, daß Herz und Seele sich voneinander abspalten. Hieraus resultiert zunächst einmal ein Irritationseffekt, den wir aber nicht als Zufall, sondern intentional deuten sollten. Erinnern wir uns an das Anfangskapitel: Dort führte ich aus, daß Verschleierungsstrategien eben darauf zielen, uns zu irritieren, zu verunsichern, und daß durch die Irritation in uns Anerkennungsprobleme wie Schuldgefühle geweckt werden, die uns dazu verleiten, ein bloß symbolisches An
gebot kompensatorisch zu ergreifen, um Schuldgefühle loszuwerden bzw. Anerkennungswünsche zu befriedigen. Jemanden zu irritieren ist daher sogar notwendig, wenn man ihn verwandeln, verzaubern, das heißt sein Denken und Fühlen in eine gewünschte Richtung lenken will. Auch Sokrates benützt daher die Irritation, wenngleich nicht, um uns zu verzaubern, sondern um uns zu ernüchtern, was wir aber nicht so gerne haben, wie verzaubert zu werden, und eben deshalb wurde Sokrates wegen «Asebie» (Gottlosigkeit) und Jugendverhetzung verurteilt. Der – wie gesagt, also nicht «zufällige» – Irritationseffekt läßt sich wie folgt charakterisieren: Man bekommt, wie der junge Fischer, selber einen Schreck. War es also gar nicht die Seele, die ihn korrumpiert, sondern nur die Seele ohne Herz? Wenn es aber nur die Seele ohne Herz war, wer hat dann eigentlich schuld? Der Fischer, der sein Herz anderweitig verschenkt hat, oder die ums Herz verarmte Seele, mit der er ja dann auch Mitleid hat, wohl aus denselben Erwägungen heraus? Ist dann überhaupt jemand an etwas «schuld», ist es nicht vielmehr die Liebe selber, die erst die Seele, dann unser Leben ruiniert? Können Herz und Seele im Leben nur eins sein, wenn die Liebe kleiner ist als die des jungen Fischers? Weniger begehrlich und weniger absolut? Wir können Oscar Wilde dankbar sein, daß er uns aus der Irritation wenigstens nicht auf eine Weise herausholt, die bei seinen romantischen Vorgängern angelegt und gerade zu seiner Zeit (im Übergang zur Jahrhundertwende) reaktiviert und verschärft wurde. Es ist bei ihm nicht der weibliche Vampirismus, der Männer schaudern machen muß, nicht das weibliche Begehren, mit dem Männer nicht Schritt halten können, es sei denn, sie würden sich versklaven.12
Bei Wilde ist klar, daß der Mann begehrt, daß er im Festhalten an seinem Begehren zugrunde geht und daß er dies auch will – gegen seine lebensbejahende, vermeintlich zugleich erhabene unsterbliche Seele. Erst als sein Herz bricht, im Tode, sind Liebespaar, liebendes Herz und Seele wieder vereint. Aber obzwar nicht frauenfeindlich – warum löst Oscar Wilde den Konflikt erst im Tode auf? Und auf welchen Weg der Auflösung unserer Irritation lockt er uns dabei? Trotz der Irritation darüber, ob Seele oder Fischer oder Liebe schuld sind, unterstreicht Oscar Wilde ganz klar, daß die Seele ohne Herz ihm nichts gilt, ja, sogar ein erbaulich-verklärtes Ungeheuer ist. Die Geschichte enthält insofern eine durchaus klare entmystifizierende Absage an unsere Neigung zur platten narzißtischen Selbstaufwertung (in Form des abgespaltenen, von unseren schlechten Eigenschaften abstrahierend gesetzten Selbsts). Der Akzent liegt auf Herz, auf dem liebenden, objektbezogenen Herzen, verstärkt durch die Vision des Dichters, nach der der junge Fischer mit Herz, ohne Seele, «fabelhaft» leben kann, die Seele dagegen ohne Fischer und Herz ein Schurke ist. Den Ausdruck fabelhaft habe ich absichtlich gewählt, denn die Akzentuierung des Herzens ist hier durchaus problematisch zu werten. Das heißt: Wilde entmystifiziert zwar die Seele, aber indem er deren Mystifikation verschiebt. Das wahrhaft fabelhafte Leben, das die Seele sich andichtet, wird hin zum wahrhaft fabelhaften Leben des liebenden Fischers im Meeresgrund verschoben, die Verdinglichung der Seele wird durch die Verdinglichung des Herzens abgelöst. Oscar Wilde ist ein sehr moderner Dichter. Er faßt uns nicht bei unseren politischen Ambitionen, sondern im Privatesten, und daher schiebe ich eine Warnung ein,
bevor ich fortfahre: Es ist zu bedenken, daß auch das Herz – wie die Seele – nur ein Symbol ist und in seinem Tun hinterfragt werden muß. Ich selber habe das an meiner eigenen Mutter hart erfahren müssen. Meine Mutter sprach pausenlos von Herzensbildung, die ein Mensch haben müsse. Vor allem ich hatte ihr, als ich älter wurde, zu wenig davon, denn ich dachte zuviel. Sie konnte aber ruhigen Herzens mit ansehen, wenn mein Vater meine Schwestern und mich mit dem Ochsenziemer verprügelte. Ich hebe noch einmal hervor: Das Herz bzw. die Liebe des Herzens wird von Oscar Wilde bevorzugt. Der Untergang der Liebenden ist mitnichten als Absage an die Liebe zu deuten, vor allem deshalb nicht, weil der Tod hier eindeutig nicht als Vernichter auftritt, sondern als Entrücker. Er entrückt die Liebenden in ein Jenseits, aus dem heraus sie – wie Jesus Christus – über die schale Welt und die entsinnlichte Seele des Christentums triumphieren. Sie treiben Blumen hervor, die selbst den Priester rühren. Dies ist zwar eine zusätzliche Mystifikationsebene, die aber literarisch gesehen der Bekräftigung der Bevorzugung des Herzens dient. Mag Oscar Wilde damit auch zugleich ausdrücken wollen, daß wahre Liebe keinen Platz auf Erden hat, und mag er in gewisser Weise damit sogar recht haben: Eindeutig bringt er erzähltechnisch doch zum Ausdruck, daß er diese wahre Liebe hochhalten möchte, daß er ihr ein höheres Recht als allem anderen einräumen möchte, sie sogar göttlich sanktioniert, in einem Letztgrund legitimiert sehen möchte. Ich hätte dagegen auch nichts einzuwenden, würde er nicht in seinem Konzept von «wahrer Liebe» das liebende Herz verdinglichen bzw. hypostasieren. Was tut der Fischer mit Herz, wenn er zugleich seine Seele dabei
hat? Er läßt sich zu Diebstahl, Kinderschlagen und Mord überreden und bereut erst im nachhinein. Das Böse zwar fliehend, will er sich doch auch zu guten Taten gegenüber der Menschheit nicht überreden lassen. Lieben kann er offenbar letztlich doch nur, wenn er begehrt, mit dem für alles Begehren charakteristischen Ausschließlichkeitsanspruch. Das Fatale an der Geschichte ist, daß Oscar Wilde uns dennoch weismachen will, daß eine Seele ohne ein solches Herz kein Gewissen haben könne. Er zieht demnach das Gewissen, das nach christlicher Sicht der Seele zugeschrieben wird, ins begehrende Herz hinüber, was insbesondere modernen Menschen gut gefällt, weil man dann, um ein Gewissen zu haben, nicht mehr rational denken muß. Ich will nicht bestreiten, daß ethisches Denken nicht ohne Gefühle auskommt – im Gegenteil –, aber Oscar Wilde lockt uns mit seinem Appell daran in eine Gefühlsfalle. Denn es ist ja in Wahrheit das begehrende Herz, das nunmehr den Nimbus der Erhabenheit erhält, weil es mit dem Gewissen assoziiert wird, aber in verdinglichter, hypostasierter Form, weil vom Gewissen – genau betrachtet – abstrahiert wird (worin der Schuldentlastungseffekt der Geschichte besteht). Sein Herz für die Meerfrau läßt den Fischer zwar im nachhinein Reue empfinden, aber nicht vorher. Noch schlimmer! Was wissen wir eigentlich, wie er sich seiner Meerjungfrau gegenüber verhält? Hilft er ihr beim Ackerbau auf dem Meerboden? Tröstet er sie, wenn sie krank ist? Hat er mit ihr Kinder, um die er sich kümmert? O nein. Oscar Wilde spricht dem liebenden Herzen ein Gewissen zu, dessen es nach seinem Konzept von wahrer Liebe gar nicht bedarf. Es lebt ja, wie ich schon sagte, der Fischer in seiner Liebe ganz «fabelhaft». Er lebt tief im Meeresgrund, mit einem Meermädchen, deren
Vater ein König ist, noch dazu ein König über ein Land, in dem es keine Äcker zu bestellen gibt, keine Dienstboten zu befehligen, keine Sklaven zu peitschen. Kurzum, er lebt seine Liebe in einer Welt, die frei von allen Sorgen ist, in einer Traumwelt, die es nicht gibt. Ich will nicht sagen, daß Oscar Wilde damit keine Wahrheit ausdrückt, im Gegenteil, er drückt eine psychologische Wahrheit über die symbiotische Liebe aus, die es gibt, das heißt zu der wir neigen und die wir – wie ich meine – bevorzugt wählen, weil sie unser Gewissen zu entlasten scheint. Ich bin du, und du bist ich, es gibt kein Unrecht zwischen uns beiden, was sollte uns das Unrecht in der Außenwelt irritieren? Aber: Er verlockt uns darein, solche sorgenlose Liebe ausgerechnet mit «Gewissen» zusammenzubringen und dadurch ins Erhabene, das er der Seele stiehlt, zu überführen. Er entmystifiziert damit zwar die Seele, aber über die Hypostasierung des Herzens in gleichzeitiger Mystifizierung des Begehrens. Ebenso – das ist der entscheidende letzte Punkt, den ich hervorheben möchte – hypostasiert er mit der Hypostasierung des Herzens auch die Liebe selber. Inwiefern? Alles, was wir über das Objekt der Liebe des Fischers erfahren, ist, daß sein Meermädchen glitzert. Sie ist schön, aber warum eigentlich nicht von menschlicher Schönheit? Warum verliebt er sich nicht in eine Menschen-Frau, gar in die rothaarige Hexe? Betrachtet man die Sache ent-zaubert, sind die Gründe klarer: Hexen verlangen einen echten Preis. Man müßte wirklich die erhabene Seele zum Teufel jagen. Menschlichere Frauen, die sich nicht auf Zauberkünste verstehen, verlangen leider auch einen Preis: Sie haben Sorgen, die man mit ihnen teilen muß, und lieben einen nicht immer so ergeben, wie Meerfrauen das tun. Zumindest sterben sie
nicht gleich, wenn Männer im Selbstmitleid ihrer eigenen Seele folgen anstatt ihrer Liebe. Meerfrauen dagegen lieben einen über alles. Sie kennen den «Unterschied zwischen Gut und Böse» nicht, sie bescheren einem ein sorgenfreies Dasein. Ist aber das «Objekt» unserer Liebe in dieser nicht vorhandenen irrealen Projektion gewählt, so steht es um unser Konzept von wahrer Liebe nicht anders. Sie soll wahr sein, insofern sie rein ist, das heißt aber kritisch betrachtet: frei von notwendigen Rücksichten, frei von Anerkennung der wirklichen Eigenschaften von Personen und ihres reziproken Austauschs, frei von Sorgen – im wahrsten Sinne des Wortes: «entrückt», doch nüchtern betrachtet parasitär. Eben dieses Konzept von Liebe bietet aber Oscar Wilde an und erhöht es zweifach mystifizierend als Gewissensentlastung mit Gewissen und als göttlich geheiligt. Soll da nicht die arme Seele – ihres Gewissens so beraubt – weinend von dannen ziehen? Aber ich meine es anders als Oscar Wilde: Soll sie nicht weinen, da er ihr gar keine Chance gibt, als Seele mit Gewissen zu lieben? Gäbe er ihr eine Chance, hätte sie vielleicht mehr davon und müßte nicht – am Maßstab eines irrealen Liebeskonzepts gemessen – «böse» werden. Vielleicht würde sie auch scheitern, wenn sie «mit Gewissen» und mit ihm zusammen liebte. Aber: Dann erführe die Seele vielleicht wenigstens, warum! Im Anfangskapitel führte ich aus, daß Verschleierungsstrategien an sich ganz banal sind und ohne großen Aufwand an Intelligenz inszeniert werden können – daß nur ihre analytische Demaskierung kompliziert ist. Daß dies immer noch der Fall ist, möchte ich abschließend durch ein Beispiel bekräftigen, weil Euripides und Oscar Wilde den Eindruck hinterlassen könnten, Verschleierungsstra
tegien seien schon als solche kompliziert. Natürlich gibt es geschicktere und weniger geschickte Verschleierungsstrategen und -strateginnen. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Es glitzern Verschleierungsstrategien nur schöner im Gewande dichterischer Sprachgewalt. Ihrer Struktur nach sind und bleiben sie durchaus banal. Wenngleich ich das Konsumieren von Mythen und Märchen zu unserem Privatleben zähle – es ereignet sich quasi an der Schaltstelle zwischen öffentlichem und privatem Bereich –, möchte ich doch noch kurz ein Beispiel aus dem engeren Privatleben anfügen, aus dem Bereich der persönlichen Interaktion zwischen Menschen. Mein Freund Ali, den ich zum Schluß des ersten Kapitels zitierte, ist zwar kein Dichter, aber ein waschechtes bayerisches Schlitzohr und daher ein großer Zauberer. Das heißt: Auch er beherrscht jede Menge Strategien, insbesondere die zu Oscar Wildes Strategie der Entzauberung durch Verzauberung passende Zwillingsschwester: die Verzauberung durch Entzauberung. Er macht das so: Ich sitze, nichts Böses ahnend, zu Hause, der Welt entrückt, und Ali, der vorher mal wieder viel zu lange in unserem gemeinsamen Lieblingscafé gesessen hat, kommt vorbei. Wie so häufig ist Ali ganz empört (ganz Achill, wenn auch nicht ganz so jung wie der): Was der Soundso und der Sowieso mal wieder über dich im Café geredet haben, Hedda, das mußt du hören, das geht auf keine Kuhhaut. Ja, und das darf ich mir dann alles anhören, was da geredet worden ist, und es geht auch auf keine Kuhhaut, aber unter meine. Natürlich hat Ali mich verteidigt, das versteht sich. Aber es wollte wie immer keiner auf ihn hören, er sei ohnehin mir gegenüber verblendet und blöd. Meine heile Welt,
meine heile Seele, die ich mir zu Hause zurechtgelegt habe, sind empfindlich gestört, mein Selbstwertgefühl ist unter dem Tisch. Es ist wie so oft, sobald ich nach draußen schaue: Alle Welt, besonders Männer, finden mich bescheuert, nur Ali nicht. Soll ich da ausgerechnet ihm gegenüber mein Herz verschließen? Nein, Ali, der liebt mich, der bleibt mir treu, verteidigt mich gegen die ganze böse Welt der anderen, wie ich ja gerade höre, und er muß dafür auch noch leiden. Ich bin gerührt, die symbiotische Liebesfalle schnappt zu. Vergessen ist, daß Ali neulich meinen Wohnungsschlüssel verschlampt hat, daß Ali mir Geld schuldet und es nicht zurückzahlt, daß er mich vor einer Woche versetzt hat, als ich ihn dringend brauchte. Das ist alles läppisch, denn Ali und ich, wir sind wenigstens noch echte Freunde, wir halten zusammen, wir sind eins. «Komm, Ali, laß uns ein Glas Sekt trinken. Ich wollte zwar heute abend arbeiten, aber was soll’s, es ist doch viel wichtiger, mit dir zusammen zu sein!» So verwandelt also auch Ali – mit einem ganz banalen Trick – meine weltentrückte Seele in eine «allerweltwärts» ungeliebte Person, die durch einen echten Märchenprinzen in die Entrücktheit der reinen Liebe befördert wird. Ich denke, es dürfte dies Beispiel auch noch einmal in einfacherer Form verständlich gemacht haben, was Zauberkraft ist, das heißt, wie Ali durch seinen einfachen Trick meine Gemütslage und mich «verwandelt». Alis Strategie läßt sich nebenbei auch unter den Formenkreis der Isolierungsstrategien, mit denen Männer vor allem gern ein Doppelleben verschleiern, subsumieren. Als spezielle Variante des symbiotischen Formenkreises betrachtet ist sie jedoch Verzauberung durch Entzauberung. Natürlich habe ich das Beispiel so erzählt, wie es mir früher einmal
erging. So leicht legt mich Ali – nach fast zehn Jahren Freundschaft – heute nicht mehr rein. Meine Liebe zu ihm ist auch nicht so groß wie die eines Meermädchens. Aber obwohl ich Ali schon hundertmal verboten habe, mir zu erzählen, was andere Leute über mich reden, gibt Ali nicht auf und erzählt es mir brühwarm oder auch abgestanden immer wieder. Und so gelingt es ihm auch immer wieder, daß ich ihm zwar nicht mein Herz schenke, aber wenigstens die 20 Mark, die er gerade im Café vertrunken hat, während er mich verteidigte, und die er jetzt so dringend braucht.
II. Teil: Schuldverleugnungsstrategien 1. Die Exkulpation der «Täter» im Gewand der Wissenschaftlichkeit Kehren wir aus der «Zauberwelt» des Mythos in die gegenwärtige Wirklichkeit zurück: Ein Teilbereich dieser Wirklichkeit, den die meisten der Zauberei am wenigsten verdächtigen, ist die Wissenschaft, die sogenannte «nüchterne» Welt der modernen Wissenschaft, wie manche sagen. Von wenigen wissenschaftlichen Autoren, etwa den wenigen, die ich positiv zitiert habe, abgesehen, besteht indes die sogenannte Nüchternheit zumeist nur dem Scheine nach. Wer sich der machtstrategischen Vereinnahmung seines eigenen Bewußtseins durch Alltag und Politik entziehen möchte und zu diesem Zwekke Erkenntnishilfe bei der Wissenschaft, insbesondere bei humanwissenschaftlichen und gesellschaftswissenschaftlichen Publikationen sucht, verliert unter Umständen den letzten Rest an kritischer Distanz. Ich komme daher auf die verschleierungsstrategischen Fallstricke moderner wissenschaftlicher Publikationen zu sprechen, das heißt, ich komme nicht auf die Wissenschaft als solche zu sprechen, wohl aber auf einige verschleierungsstrategische Momente, die prototypisch modern sind, wie ich meine, und sich eben deshalb auch und sogar leider allzuoft in wissenschaftlichen Arbeiten auffinden lassen. Prototypisch modern ist nach meinem Dafürhalten
folgender Umstand: Wir vermeinen zwar heutzutage zu wissen, daß politische Gemeinschaften, Verhaltensnormen und Machtstrukturen nicht gottgewollt, sondern menschengemacht sind. Wir neigen aber nichtsdestotrotz dazu, die persönliche Verantwortung einzelner für bestimmte Gemeinschaftsformierungen, für bestimmte Verhaltensnormierungen und für bestimmte Machtstrukturen zu verdunkeln oder zu verleugnen – bei uns selber am liebsten –, und leider sogar dann, wenn die Verantwortung anderer, bestimmter Menschen dingfest zu machen wäre. Ein Beispiel der prototypisch modernen Allgegenwärtigkeit von individueller Verantwortungsverleugnung, die, nebenbei bemerkt, mit der massiven Präsenz geschlechterdualistischer Klischees korrespondiert, erlebte ich an einem Intellektuellenstammtisch in Düsseldorf: Ich sagte zu einer jungen Kunststudentin, es sei höchst erschreckend und betrüblich, daß es heutzutage keine Kommunikationskultur mehr gäbe, und setzte, wohl wissend um die Fatalität von Worten wie Kommunikation und Kultur, präzisierend hinzu, es höre keiner dem anderen mehr zu und keiner repliziere, selbst wenn er die Worte des anderen höre, auf das, was der andere sage. «Ja», steuerte eine andere weibliche Person, die politisch aktiv ist, bei, «es ist fast noch schlimmer, die Leute hören sogar etwas, das man gar nicht gesagt hat, und antworten darauf.» Ich war ganz entzückt und wollte das «Bambuti-Gespräch» gerade weiterführen, als der Begleiter der jungen Kunststudentin – ein Mediziner, etwa in meinem Alter – eingriff: Das sei doch kein Wunder, wir würden schließlich durch unsere Medienwelt auf einseitige Kommunikation konditioniert. Mir behagte das Wort Konditionierung nicht, und ich wandte ein: «Gut, ich gebe Ihnen gerne zu, daß der Kapi
talismus letztlich …», kam aber gar nicht weiter, weil er mich unterbrach, um mich dahingehend zu korrigieren, daß er nicht den Kapitalismus gemeint hätte, worauf ich antwortete: Den Kapitalismus als System hätte ich auch nicht gemeint, ich sei keine Marxistin, er könne mir getrost vertrauen, aber es gäbe doch wohl einzelne Leute, die reich oder prominent werden wollten und die …, weiter kam ich wieder nicht, denn er meinte, die marxistische Theorie habe sich ja nun als trügerisch entlarvt usw. usw. Mein Versuch, die Verursacher der Manipulation unseres eigenen Bewußtseins als Personen dingfest zu machen, der ohnehin nur dazu dienen sollte, zur Sache überzuleiten, nämlich zu unserer eigenen Verantwortung für unser eigenes Denken, wäre sicher in ein abstraktes Gespräch über die marxistische Theorie entglitten, hätte nicht seine junge Freundin – die Kunststudentin –, die seine Strategie der doppelten Entpersönlichung des Gesprächs bemerkte, eingegriffen – aber leider auch falsch. Sie äußerte, wie bedauernswert es sei, daß er in ein typisches Männerstreitgespräch abgleite, obwohl sie doch wisse, daß er intuitiv mehr von der Wahrheit wisse, die er nur nicht bei sich selber zulassen wolle usw. Und so wurde daraus ein Liebespaargespräch, aus dem ich mich sukzessive zurückzog, weil mir die Rettung seiner Seele – ob mit oder ohne Herz – weniger am Herzen lag als ihr. Dies Beispiel zeigt, wie die Verleugnung und Ablenkung von individueller Verantwortung im Alltag funktioniert, soll aber auch indirekt mitteilen, daß ich keineswegs die Absicht verfolge, Strategien, die unser Bewußtsein in der Tat verdrehen können, vorzuführen, damit man sich als armes, manipuliertes Objekt auf dem sanften Kissen des so delegierten eigenen Gewissens niederlassen kann.
Ohne pädagogische Absichten zu haben, geht es mir aber immerhin darum, Verschleierung aufzudecken, durchschaubar zu machen, und das heißt: Verschleierung nicht nur anderswo, sondern zugleich in uns selbst zu orten. Wenn ich daher in diesem Kapitel verschleierungsstrategische Implikationen in wissenschaftlichen Schriften der Gegenwart herausarbeite, so tue ich das nicht nur, um die Wissenschaft zu demaskieren. Deren Demaskierung dient mir vielmehr dazu, zu einem zweiten, größeren Komplex von Verschleierungsstrategien überzuleiten, in dem wir alle, ob als primäre Täter oder als primäre Opfer, zugleich als Mittäter angesprochen sind. In anderen Worten: Ich habe bisher über Verschleierungsstrategien gesprochen, die geeignet sind, ganz prinzipiell unsere Rationalität als «Opfer» zu untergraben, und ganz speziell zu dem Zwecke angewandt werden, den Aufbau von einseitiger Macht im Dienste ausbeuterischer bzw. ungerechter Handlungen durch «Vereinnahmung der Opfer» zu kaschieren. In den folgenden Kapiteln möchte ich über Strategien sprechen, die spezifisch dazu geeignet sind, nicht nur den künstlichen Charakter von strategisch herbeigeführten Machtgefällen ausbeuterischer Herkunft zu verschleiern, sondern vor allem dazu geeignet sind, die einzelnen Verursacher und deren Motive zu verschleiern. Wir kennen beide Strategien schon aufgrund unseres Einblicks in die Welt der Baruya, als Ontologisierung des Gemachten (nicht Männer machen etwas, die Götter haben es gewollt) und als Vergeheimnissung der Mystifikation bzw. als Mystifikation der Mystifikation. (Ich erinnere an das Tabu, über die magischen Fetische, die den Kontakt der Baruya-Männer zu den Göttern garantieren, zu sprechen, vor allem darüber zu sprechen, daß sie
von ihnen selber hergestellt und daß sie von bestimmten Männern, insbesondere von «Vätern», hergestellt werden.) Aber die moderne Welt ist hinsichtlich der Fähigkeit, Verursacher und deren Motive zu verschleiern, obwohl archaisch geblieben, so doch zugleich komplizierter geworden. Proportional gemessen an dem in der christlich geprägten Hemisphäre vorherrschenden «Ideal», aufgeklärt zu sein und Aufklärung zu betreiben, wächst ganz disproportional, aber verständlicherweise, der Aufwand an Verschleierungsstrategien, vor allem an solchen gegenüber Verursachern von Unrecht und deren Motiven. Verständlicherweise sage ich, denn wo Aufklärung das Selbstideal ist, muß Aufklärungsverhinderung taktische Haken schlagen. In der entgötterten Welt, in der offiziell die Menschen ihre Geschichte selber machen, müssen die, die Untaten begehen wollen, oder die, die sich gegen menschliche Untaten nicht wehren wollen, weil ihnen der Preis zu hoch ist, nach allem möglichen greifen, um individuelle Verursachung und individuelle Schuld zu verleugnen. Da wir aber in dieser, das heißt in einer in der Spannung zwischen aufklärerischem Ideal und dessen ständiger Unterwanderung befindlichen Realität leben, ist es sinnvoll, sich der mit Hilfe aller möglichen Ausflüchte heutzutage stattfindenden Verleugnung individueller Verantwortung zuzuwenden, vor allem, wie ich sagte, um unserer eigenen Mittäterschaft näherzukommen. Ich nenne den damit zu behandelnden Komplex von Strategien global den der exkulpativen Apperzeptionsverweigerung. Ich könnte auch sagen: individuelle Schuld entlastende Erkenntnisverweigerung. Aber das klingt nicht sehr gut. Wie leicht zu bemerken, habe ich außerdem eine gewisse Vorliebe für Fremdwörter, in diesem
Falle habe ich vor allem eine Vorliebe für das Wort Apperzeptionsverweigerung – aus sentimentalen Gründen, weil mein Lehrer Voegelin es in der Nachfolge von Heimito von Doderer gerne benützte, aber natürlich auch aus einem sachlichen Grunde. Denn Erkenntnisverweigerung wäre nicht ganz das richtige Wort, da «Erkenntnis» nur verweigert werden kann, wenn man sie noch gar nicht hat, also nur in der Form der Wahrnehmungsverweigerung zum Beispiel stattfinden kann. Wahrnehmung heißt aber primär sinnliche Wahrnehmung und drückt daher auch nicht aus, was gemeint ist, nämlich die Verweigerung, «etwas zur Kenntnis zu nehmen», was man bei gesundem Menschenverstand zur Kenntnis nehmen müßte. Um der leichteren Verständlichkeit willen habe ich im Obertitel dieses Untersuchungsteils den Ausdruck «Schuldverleugnungsstrategien» gewählt. Dazu ist anzumerken, daß auch dieser Ausdruck nur bedingt zu rechtfertigen ist, denn er akzentuiert zwar die exkulpative Intention, vernachlässigt aber die mangelnde Bereitschaft, schuldhafte Täterschaft und deren Motive überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Die Behandlung der exkulpativen Apperzeptionsverweigerungs-Strategien teile ich in zwei Abschnitte. Der erste (Kapitel 1–3) ist der «Erkenntnisverhinderung» unter dem Banner des «Erkenntnisfortschritts» gewidmet. Obwohl uns die Moderne alle möglichen Ausreden beschert, die dazu dienen, die Einsicht in individuelle Verursachung von Unrecht oder Ausbeutung exkulpierend zu verweigern, möchte ich, bevor ich zur Wissenschaft komme, diese verschiedenen «möglichen Ausreden» bzw. Verschleierungsstrategien kurz systematisieren – zumindest die, auf die ich hier eingehen werde.
Ich untergliedere die exkulpativen Apperzeptionsverweigerungs- bzw. Schuldverleugnungsstrategien in zwei Großgruppen, in die Gruppe der Bagatellisierungen und in die Gruppe der Kausalitätsverwirrungen. Die Bagatellisierungsstrategien dienen dazu, Unrecht, Ausbeutung und «Greueltaten» (Mary Daly) sowie deren Maskierungen herunterzuspielen, und zwar durch Verniedlichung, Verharmlosung, Beschönigung, in der Regel flankiert durch Außerachtlassung oder Unterbelichtung wesentlicher Momente. Der Zweck ist, durch das Herunterspielen der Taten die Schuld der Täter zu verkleinern und in diesem Sinne die Täter von Schuld zu entlasten. Dem Zweck entsprechend treten Bagatellisierungs- und Kausalitätsverwirrungsstrategien oft gemeinsam oder in Überschneidung auf, obwohl sie sich logisch widersprechen. Da Kinder, Erwachsene und Wissenschaftler sich kaum unterscheiden, finden wir diese Verquickung im Alltagsumgang auf das einfache Motto gebracht: Ich war’s nicht, aber wenn ich es war, so war es doch nur halb so schlimm. Als ich vor einigen Jahren einen meiner ehemaligen – ich betone: ehemaligen – Freunde, den ich R. F. nennen will, zur Rede stellte, weil ich gerüchteweise gehört hatte, er habe seine Frau verprügelt, war dieser äußerst empört. Ich sei doch seit Jahren mit ihm befreundet, wie ich denken könne, daß er in der Lage sei, Frauen zu schlagen. Ich ließ aber nicht locker, denn das Gerücht kam von einer Person, die ich ebenfalls gut kannte, außerdem hatte ich schon so einiges über die Vergeßlichkeit von schlagenden Männern erfahren, und er gestand mir schließlich, er habe seiner Frau eine «symbolische» Ohrfeige gegeben. Mich interessierte damals brennend, was das sei, und ich rief, obwohl ich mit ihr zerstritten war, seine Frau an. Sie war gerade
aus dem Krankenhaus zurück, denn es war, wie später vor Gericht ihr Arzt bestätigte, aufgrund der Prügel, die sie abbekommen hatte, und eines Fußtritts in den Bauch zum Abortus des Fötus gekommen, mit dem sie erst seit kurzem schwanger ging! Die Gruppe der Kausalitätsverwirrungsstrategien ist indes komplexer als die der Bagatellisierungsstrategien. Allen Kausalitätsverwirrungsstrategien ist zwar gemeinsam, daß sie nicht nur auf die Täterentlastung zielen, sondern darauf, die Verursacher eines Geschehens mitsamt ihren Motiven selber unsichtbar zu machen. Ich nenne das die Entindividualisierung von Schuld. (Mit Schuld bezeichne ich hier kausale Verantwortung; unter einem Individuum verstehe ich die bestimmte, einmalige Person mit ihren je einmaligen Eigenschaften.) Der Entindividualisierung von Schuld bzw. von kausaler Verantwortung begegnen wir aber gerade in der Moderne in zigfacher Verkleidung. Im individuellen und politischen Alltag begegnet sie uns vermutlich am häufigsten in der Verkleidung der Schuldverschiebung auf andere Personen, deren spezielle, perfideste Variante die Schuldverschiebung auf das Opfer ist. Ein einfaches, wenngleich beharrliches Beispiel hierfür bietet mein eben schon erwähnter ehemaliger «Freund» R. F. Vor Gericht zitiert, sagte er aus, seine Frau habe ihn zu der – natürlich immer noch symbolischen – Ohrfeige provoziert. (Sie hatte ihm Vorwürfe gemacht, weil er sein Geld in Kneipen vertrank – das stimmte auch –, während sie ihren gesamten Arbeitsverdienst in den gemeinsamen Haushalt investierte.) Da Staatsanwälte in Kausalitätsverwirrungsstrategien etwas bewanderter sind als unsereins, wurde er trotzdem wegen Körperverletzung verurteilt. Er hat daraufhin gegen seine mittlerweile von ihm geschie
dene Frau einen Prozeß anzustrengen versucht, in dem sie des Meineids überführt werden sollte. Mit diesem Vorhaben ist er gescheitert – ihre Mutter war Zeugin des Vorfalls, und ihr Arzt hatte die Verletzung attestiert –, aber er bleibt dabei, das heißt: Immer wenn ich auf Leute treffe, die inzwischen mit R. F. bekannt geworden sind, erzählen sie mir, was das für ein bedauernswerter Mann sei: mit einer Frau verheiratet gewesen zu sein, die vor Gericht aus purer Rachsucht einen Meineid geschworen habe! Die in diesem Falle zu konstatierende Schuldverschiebung auf das mißhandelte Objekt hat ihre Zwillingsschwester in der Schuldverschiebung vom aktiv begehrenden Subjekt auf das begehrte, aber passive Objekt («Du bist daran schuld, daß ich hoffnungslos in dich verliebt bin»). Die Schwestern können sich sogar inzestuös vereinen, wie zum Beispiel im Falle von angeblich sexuell gemeinten Vergewaltigungsdelikten, die geschlechterdualistisch als von Frauen provoziert verstellt werden dürfen. Auf diese Zwillingsschwestern und ihre inzestuöse Vereinigung werde ich im Kapitel über Sigmund Freud zurückkommen und belasse es zunächst bei meiner kurzen Illustration der Strategie der Schuldverschiebung auf das mißhandelte Objekt. Wenn ich vorher ausgeführt habe, daß wir im politischen und privaten Alltag am häufigsten der Schuldverschiebung auf Personen begegnen, wollte ich damit nicht sagen, daß wir nicht gerade auch diese gehäuft in wissenschaftlichen Publikationen antreffen. Dasselbe gilt daher für eine zweite Form der Strategie der Entindividualisierung von Schuld, nur in etwas proportional verschobener Häufung, das heißt, wir finden diese zweite Strategie etwas gehäufter in Wissenschaft und Politik als im privaten
Alltag im engeren Sinne (in der persönlichen Interaktion) – vermutlich aber nur deshalb, weil wenigstens Kinder und Jugendliche sie noch nicht so gut beherrschen wie Erwachsene und durchschnittliche Erwachsene sie vielleicht weniger beherrschen als der Typus von Erwachsenen, der groß und bedeutend sein möchte. Diese zweite Strategie der Entindividualisierung von Schuld agiert ebenfalls in Verkleidung der Schuldverschiebung, allerdings abstrakter. Ich nenne sie die Strategie der exkulpativen Verdinglichung von Fiktionen, insofern Schuld auf Fiktionen, auf erdachte Gebilde, verschoben wird, mit denen aber so operiert wird, als besäßen sie eine von uns abgespaltene Eigenmacht, der sich unser Wille durch nichts entziehen kann oder von dem er überrollt wird. Die Verdinglichung von Fiktionen hat es in sich, denn unter dem Namen, den ich ihr gegeben habe, versammelt sich eine stattliche Anzahl von Einzelverschiebungen. Besonders beliebt bei Philosophen und Historikern ist der Mensch, das heißt die Zusammenziehung der guten wie schlechten Taten einzelner Menschen in den Menschen oder auch die Menschen schlechthin. Der Mensch erfindet den Ackerbau – wie schön –, der Mensch erfindet aber auch – weniger schön – den Krieg. Es fällt unter den Tisch, daß eher Frauen die existentiell konstruktive Arbeit leisten, Männer, besonders bestimmte Männer, die existentiell destruktive «Arbeit» übernehmen. Vor allem überlebt immer der Mensch alle Massaker und Kriege, die vielen und die ganz bestimmten einzelnen, die sterben, gibt es da eigentlich gar nicht, denn der Mensch überlebt! Aber nicht nur der Mensch, den es nur als Fiktion gibt, tut, macht und setzt vor allem Unrecht in die Welt, auch die Kultur, die Sitte, der Brauch, die Gesellschaft oder die Gruppe, das Vaterland, die Nation, das Volk, der Staat,
die Gattung – sie alle tun, machen und setzen Dinge in die Welt und werden bevorzugt für die unschönen Dinge verantwortlich gemacht. Die Schuldverschiebungen dieser Art lassen sich als Untergruppe zusammenfassen unter dem Titel der Exkulpation durch Personifikation von Unpersonen. Es wird darin eine symbolische Abstraktion fiktiv als Einheit gesetzt und zusätzlich zu einem Quasi-Individuum erhoben, das, mit eigenem Willen ausgestattet, zumindest mit einem aus sich selbst heraus (autonom) entwickelten Programm agiert, einem Programm, an dem einzelne Menschen höchstens als Willensinstrumente mitwirken. Diese Strategie der Exkulpation durch Personifikation von Unpersonen kreiert ein wahres Monster. Eine personifizierte Übermacht, die durch Hypostasierung einer Hypostase entsteht. Von konkreten Personen oder Ereignissen wird abstrahiert, die Abstraktion wird zu einer Einheit erhoben und darüber hinaus noch wie eine Person betrachtet, die selber einen Willen hat und dementsprechend handelt. Mit dem Begriff der Hypostasierung einer Hypostase will ich nur ein bißchen erschrecken, um den Sinn für eine Verwandtschaft zu erwecken, die zwischen den begrifflichen Monstern unserer aufgeklärten Neuzeit und den Fabelwesen angeblich weniger aufgeklärter Völker und Zeiten besteht. Denken Sie zum Beispiel an die Sphinx, das merkwürdige Wesen, das Löwen-, Flügeltiernatur und Menschenantlitz (Frauenantlitz) in sich vereint, das Menschenopfer fordert und nur den verschont, der sein Rätsel zu lösen versteht. Sind Fabeltiere nur das Produkt frei-flottierender Phantasie oder der Angst primitiver Völker vor der Natur, wie uns Mythologieforscher weismachen wollen? Oder konnten sich nicht vielmehr
Verschleierungsstrategen in primitiven Kulturen noch einfacher hinter Bildern verstecken und müssen heute Begriffe erfinden, deren Rätsel schwer zu lösen sind? Zurück zur Sache: Zur Untergruppe der exkulpativen Personifikationen von Unpersonen gesellt sich, ebenfalls als Verdinglichung von Fiktionen, die Untergruppe der Verschicksalungsstrategien. Damit meine ich die Berufung auf die Letztschulden von Umständen, wie da sind: die Geschichte bzw. die historische Notwendigkeit, der Fortschritt, die Entwicklung, das Milieu, das genetische Erbe, vor allem sogenannte Sachzwänge des politischen, wirtschaftlichen und militärischen Lebens. Ich subsumiere solche Verschicksalungsstrategien unter die Gesamtstrategie der Verdinglichung von Fiktionen, obwohl man sich mit ihrer Hilfe auf Umstände beruft, in denen oftmals tatsächlich ein empirischer Verursachungsfaktor – zumindest als Konditionalfaktor – enthalten ist. Bin ich zum Beispiel in den Nationalsozialismus hineingeboren, sind schuldvermeidende Entscheidungen nicht leicht zu treffen, unter Umständen sogar mit dem Tode bedroht. Bin ich als Sohn einer Prostituierten und eines Kriminellen geboren, sind meine Chancen, ein halbwegs vernünftiger Mensch zu werden, nicht gerade die besten. Man muß indes in diesem Falle nur besonders gut aufpassen: In der Regel dient der Verweis auf die genannten Umstände gerade dazu, von ihrer ganz konkreten Gestalt zu abstrahieren – vor allem dort, wo die sogenannten Umstände im Gegensatz zu den Genen, von denen viele gar nicht so gerne hören, selber wieder menschenbewirkte Umstände sind, wie die historischen Notwendigkeiten, die Milieus, die Sachzwänge. Jürgen Bartsch zum Beispiel war zweifellos ein Fall, der milieu- bzw. erziehungsbedingt zum
Knabenmörder wurde. Aber außer bei einem freundlichen Journalisten, der Jürgen Bartsch im Gefängnis besuchte und seine Biographie durchleuchtete1, und bei Alice Miller, die diese Biographie aufgegriffen hat2, hat dies keine Steine ins Rollen gebracht, geschweige denn die Wissenschaften, die sich anheischig machen, für solche Fälle zuständig zu sein, wie Kriminalistik, Jurisprudenz oder Medizin, bewegt. Ein Mediziner sah die Lösung darin, ihn kastrieren zu lassen, und verschuldete damit seinen Tod. Die konkreten Adoptiveltern, die Mutter, die ihn in Mädchenkleidern aufzog und ihn über die Pubertät hinaus eigenhändig an allen Körperteilen in der Badewanne wusch, der Vater, der duldete, daß sie sogar mit dem Metzgermesser nach ihm warf – sie wurden nicht vor Gericht gezogen. An diesem Punkt möchte ich meine, wenngleich durch einige Illustrationen aufgelockerte, aber doch sehr abstrakte Systematisierung prototypischer moderner Exkulpationsstrategien, vor allem solcher, die unter dem Anspruch von Erkenntnisfortschritt in wissenschaftlichen Werken auftauchen, vorerst beenden. Der Katalog wird noch zu differenzieren sein, aber der Aufgabe einer systematischen Vorwegschau mag er genügen. Um meine Ausgangsbehauptung, daß uns wissenschaftliche Bücher der Gegenwart mit prototypischen Verschleierungsstrategien der Moderne, insbesondere mit exkulpativen Strategien nicht verschonen, zu konkretisieren, greife ich drei Publikationen auf: eine kritische Publikation, nämlich Mary Dalys «Gyn/Ökologie» (Mary Daly ist Professorin für Theologie und Philosophie an der Universität von Boston) sowie zwei kritisch bzw. erkenntnisförderlich «gemeinte» Publikationen, Jost Herbigs «Nahrung für die Götter» (Jost Herbig ist Wissenschafts
schriftsteller) und Eli Sagans «Tyrannei und Herrschaft» (Eli Sagan lehrt als Soziologieprofessor an der Universität von Californien in Berkeley. Berkeley gilt als besonders progressiv). Mary Dalys «Gyn/Ökologie»-Buch greife ich auf, weil sie dort selber «jede Menge» wissenschaftlicher Autoren vorführt und «jede Menge» von Strategien (Mary Daly spricht von «Ritualen»), mit deren Hilfe die vorgeführten Autoren sogar eindeutig gewalttätige Greueltaten an Frauen innerhalb extrem geschlechterdualistisch fundierter Kulturen verschleiern helfen. Ich greife aber nur einige kurze Abschnitte heraus. Die zwei anderen Bücher greife ich auf, weil sie relativ frisch auf dem Markt sind, den derzeitigen Forschungsstand repräsentieren und direkt der Erforschung des Aufbaus von Machtstrukturen im historischen Prozeß gewidmet sind, das heißt dem Aufbau von Machtstrukturen von den sogenannten Primitivkulturen bis hin zum sogenannten modernen Staat. An ihnen möchte ich – ohne weibliche Schützenhilfe – demonstrieren, auf welche Weise Ausbeutung, Unrecht und sogar eindeutige Greueltaten, in diesem Falle sowohl an Frauen wie an Männern, «wissenschaftlich» verschleiert werden, insbesondere wie deren Verursacher exkulpiert werden. Mary Daly widmet sich im dritten Kapitel ihres Buches «Gyn/Ökologie» dem indischen Ritual der Witwenverbrennung und dessen wissenschaftlicher Rezeption durch «aufgeklärte» westliche Wissenschaftsautoren und -autorinnen. Sie schreibt: «Das indische Ritual des Sati oder der Witwenverbrennung mag zunächst der heutigen westlichen Welt völlig
fremd erscheinen, da unsere Witwen nicht zeremoniell bei lebendigem Leibe auf dem Begräbnis-Scheiterhaufen ihrer Ehemänner verbrannt werden.»3 Es folgt eine längere Anmerkung dazu, daß es trotz des Verbots des Sati im Jahre 1829 den modernen indischen Witwen immer noch nicht sehr viel besser geht, denn man läßt sie entweder am Bettelstab verhungern oder ermordet sie heimlich. Dann fährt Mary Daly fort: «Bei näherer Betrachtung jedoch stellt sich ein Zusammenhang mit ‹unseren› Ritualen heraus. Das läßt sich allein schon an den Versuchen, dieses Ritual und seinen gesellschaftlichen Kontext mit den Methoden westlicher Wissenschaft zu untersuchen, beweisen. Denn die Wissenschaftler, die diese Methoden anwenden, geben sich bereits durch ihre Sprache als Komplizen der gleichen gesellschaftlichen Ordnung, die die eigentliche Quelle derartiger Frauenopfer-Riten war/ist, zu erkennen. Das Hindu-Ritual des Sati ersparte den Witwen die Versuchung der Unreinheit, indem es sie zwang, sich (selbst zu opfern), das heißt, auf den Begräbnis-Scheiterhaufen ihrer Ehemänner bei lebendigem Leibe verbrannt zu werden. Dies rituelle Opfer muß in seinem gesellschaftlichen Kontext gesehen werden. Da ihre Religion die Wiederverheiratung verbot und zugleich lehrte, der Tod des Ehemanns sei die Schuld der Witwe (wegen ihrer Sünden in einer früheren Inkarnation, wenn nicht in der gegenwärtigen), konnte sie jeder für den Rest ihres Lebens verachten und mißhandeln. Da es allgemein üblich war, daß Männer mit fünfzig, sechzig oder siebzig Jahren Kindbräute heirateten, sträuben sich unsere
Vorstellungen beim Gedanken an den quantitativen Überschuß solcher unverheiratbarer Witwen. Ehe wir uns zu astronomischen Zahlenspielen hinreißen lassen, sollten wir bedenken, daß dieses Ritual weitgehend auf die Obere Kaste beschränkt war, obgleich die Tendenz einer Ausdehnung nach unten herrschte. Wir sollten ebenfalls bedenken, daß es in einigen Fällen – besonders, wenn die Witwe vor dem (für sie) unglücklichen Tod ihres Ehemannes ein ganz junges Kind war – den Ausweg gab, das Leben einer Prostituierten zu führen, was einen frühen Tod durch Geschlechtskrankheit bedeutete. Dies war jedoch ihre einzige Fluchtmöglichkeit vor der Verfolgung durch die Familie ihres Mannes, ihre Söhne und andere Verwandte. Als Prostituierte würde sie natürlich der Ausbreitung von noch mehr moralischer und körperlicher Unreinheit beschuldigt werden. Wenn die allgemeine Situation der Witwenschaft in Indien kein ausreichender Grund für eine Frau der höheren Kaste war, sich dankbar und zeremoniell ms Feuer zu werfen, so wurde sie häufig mit langen Stangen gestoßen und gepufft, nachdem sie gebadet, in rituelle Gewander gekleidet und mit Betäubungsmitteln vollgestopft worden war. Sollten diese Fakten unserem klaren Mißverständnis der Situation widersprechen, so lädt uns Webster’s Lexikon ein, die Geschichte der Frauen in folgender Definition von Sati wiederzuentdecken: ‹Die Handlung oder der Brauch, daß eine Hindufrau sich freiwillig verbrennt oder verbrannt wird auf dem Begräbnis-Scheiterhaufen ihres Ehemannes, gilt als ein Zeichen für ihre Zuneigung zu ihm› (Hervorhebung M. D.).»4
In der Lexikonpassage, die Mary Daly zitiert, haben wir in einem Satz gleich mehrere Exkulpationsstrategien versammelt: der Brauch, hinter dem die Frage «zu wessen Nutzen?» ebenso wie die Frage nach einzelnen Erfindern des Brauches verschwindet und in dem flankierend eine Greueltat durch Verharmlosung zu einem bloßen Brauchtum bagatellisiert wird. Zugleich werden die wirklichen Erfinder, in erster Linie die Familienväter, die nämlich ihre Töchter an ranghohe Männer «liefern» und als Witwen nicht ernähren wollen, in zweiter Linie die Ehemänner, die ihren Frauen keine Erbschaften hinterlassen, aber deren Mitgift vorher einstecken, und in dritter Linie die Söhne – wie gleich noch deutlich werden wird–, außer Betracht gelassen, während die Schuld auf die Opfer verschoben wird: Die Frauen lassen sich freiwillig verbrennen. Da sie das auch noch aus Zuneigung zum Manne tun, wird das Grauenvolle an der Sache gleich noch einmal durch Beschönigung bagatellisiert. Mary Daly meint sarkastisch: «Es lohnt sich, die Realität, die sich hinter dem Terminus Zuneigung verbirgt, zu bedenken, denn eine Ehefrau mußte tatsächlich Zeichen einer ganz besonders sklavischen Zuneigung während der Lebzeit ihres Ehemannes gezeigt haben, da ja ihr eigenes Leben völlig vom Gesundheitszustand ihres Gatten abhing. So hatte eine dreizehnjährige Ehefrau allen Grund, sich um die Gesundheit ihres sechzig Jahre alten Ehemannes zu sorgen.»5 «Joseph Campbell», schreibt Mary Daly weiter,
«sieht Sati als die im Hinduismus übliche Variante des weitverbreiteten ‹Brauchs›, die Familie oder einen Teil der Familie (zusammen mit dem Hauptmitglied ins Jenseits zu schicken). Der altehrwürdige Brauch des ‹Menschenopfers›, der manchmal in Form des Lebendig-begraben-Werdens auftrat, war auch in anderen Kulturen üblich, beispielsweise im alten Ägypten. Campbell berichtet, daß Professor George Reisner eine riesige Totenstadt in Nubien, einer ägyptischen Provinz, ausgegraben hat und ohne Ausnahme ‹ein Modell des Begräbnisses mit Menschenopfern – vor allem weiblichen Opfern: die Ehefrau oder, in den wohlhabenderen Gräbern, den gesamten Harem zusammen mit der Dienerschaft) fand. Nachdem er Reisners Beschreibung der weiblichen Skelette zitiert, welchen anzusehen war, daß die Opfer einen schrecklichen Tod durch Ersticken gestorben waren, schreibt Campbell: ‹Trotz dieser Anzeichen für Leiden, ja sogar Panik, im tatsächlichen Augenblick des Erstickungs-Schmerzes sollten wir den seelischen Zustand und die seelische Erfahrung dieser Menschen gewiß nicht nach dem Maßstab einer unserer mehr oder weniger denkbaren Reaktionen auf ein solches Schicksal messen. Denn diese Opfer waren keine Individuen im eigentlichen Sinne; das heißt, sie waren keine eigenständigen Lebewesen, die sich aus einer Klasse oder Gruppe durch ein Bewußtsein von persönlichem, individuellem Schicksal oder von persönlicher, individueller Verantwortlichkeit heraushoben.)» «Ich habe keines der Worte dieses Zitats hervorgehoben», bemerkt Mary Daly hierzu, «weil ich sonst jedes Wort hätte
unterstreichen müssen. Es ist unmöglich, hier irgendeinen angemessenen Kommentar zu geben.»6 Ich selber gebe trotzdem einen Kommentar – aus einem bestimmten Grunde: Campbell bagatellisiert hier nicht nur auf mehrfache und in der Tat atem- bzw. sprachberaubende Art und Weise. Er exkulpiert vor allem die Verursacher durch eine ganz exquisite Verschleierungsstrategie aus dem Formenkreis exkulpativer Apperzeptionsverweigerung, die ich bisher nicht genannt habe, da ich sie im nächsten Kapitel gesondert behandeln möchte. Ich nenne sie die «Strategie der Entindividualisierung von Schuld durch Entindividualisierung von Individuen». Wir werden sie in Jean-Jacques Rousseaus Konzept von «Liebe» auffinden, wo sie besonders perfid versteckt, aber unter diesem Deckmantel bis heute um so populärer ist. Folgen wir noch etwas weiter dem Text von Mary Daly: «Zuerst war Sati auf die Frauen von Prinzen und Kriegern beschränkt, doch, wie es ein Wissenschaftler (Benjamin Walker) irreführend ausdrückt, ‹im Laufe der Zeit wurde der Brauch von den Witwen der Weber, Schreiner, Barbiere und anderer der niedrigen Kaste übernommen) (Hervorhebung M. D.). Der Gebrauch des Aktivums an dieser Stelle erweckt den Eindruck, daß sich die Witwen selbst diesen ‹Brauch› aussuchten, ihn durchgesetzt und akzeptiert hätten. Offensichtlich ohne jedes Gefühl für seine Inkonsequenz bringt der gleiche Autor Beweise, daß die Witwen von Verwandten auf die Scheiterhaufen gezwungen wurden. Er beschreibt einen Fall aus dem Jahre 1796, wo eine Witwe während der Nacht, im Regen, dem Scheiterhaufen entkam. Eine Suchaktion wurde gestartet, und sie wurde aus ihrem Versteck hervorgezerrt.
Walker beschließt die Geschichte dieser Frau, die den (Brauch übernahm), wie folgt: ‹Sie bat flehentlich, verschont zu bleiben, doch ihr eigener Sohn bestand darauf, daß sie sich ins Feuer würfe, denn sonst würde er seiner Kaste verlustig gehen und ständige Demütigungen erleiden. Als sie sich immer noch weigerte, fesselte der Sohn mit der Hilfe einiger Anwesender ihre Hände und Füße und schleuderte sie in die Flammen.) Der gleiche Autor informiert über das zahlenmäßige Ansteigen des Sati: ‹Bei den Rajputs und anderen Kriegerstämmen im nördlichen Indien nahm die Befolgung des Sati überwältigende Proportionen an, denn die Frauen und Konkubinen opferten sich zu Hunderten. Es wurde üblich, daß sich nicht nur die Ehefrauen, sondern auch die Mätressen, Schwestern, Mütter, Schwägerinnen und/oder nahe weibliche Verwandte zusammen mit ihrem verblichenen Herrn verbrannten. Bei den Rajputs entwickelte sich das zu dem schrecklichen Ritual des Jaubar, das in Zeiten von Krieg oder starker Gefahr stattfand, um die Ehre der weiblichen Stammesangehörigen zu retten.› (Hervorhebungen M. D.) Wieder werden die Opfer, durch einen grammatikalischen Taschenspielertrick, als die treibende Kraft ihrer eigenen Vernichtung hingestellt. Das Ritual des Jaubar bestand darin, alle Frauen des Clans ins Feuer zu werfen, wenn die Gefahr bestand, daß der Feind siegte. Tausende von Hindufrauen wurden auf diese Weise während der islamischen Invasion in Indien umgebracht. Ihre Herren konnten es nicht ertragen, daß die Frauen von fremden männlichen Wesen, die einem ‹anderen› religiösen Glauben angehörten, vergewaltigt, gefoltert und getötet wurden, statt von ihnen persönlich.
Diese Horror-Show wurde durch die legitimierende Rolle des religiösen Rituals ermöglicht, die dem einzelnen zwischen seinem eigentlichen Ich, das vielleicht ängstlich oder voller Skrupel ist, und seinem Ich als Träger einer Rolle zu unterscheiden erlaubt. Die schizoide Wahrnehmung derer, die an dem Ritual teilnehmen, überträgt sich auf die Gelehrten, die sich – obgleich sie zeitlichen und räumlichen Abstand von dem Ritual haben – eher mit ihm statt mit den Opfern identifizieren. Joseph Campbell schreibt seelenruhig über die gefolterte und geopferte Frau: ‹Sati, das weibliche Prinzip von Sat, ist daher die Frau, die wirklich jemand ist, insofern nämlich, als sie die weibliche Rolle gut und getreu befolgt: Sie ist nicht nur gut und treu im ethischen Sinne, sondern auch ontologisch treu und wahr. In ihrem treuen Tod ist sie eins mit ihrem eigenen wahren Sein.› So geht man gelassen über die ontologischen und moralischen Probleme hinweg, die die Hinmetzelung von Frauen aufwerfen. Campbell erörtert lediglich einen sozialen Kontext, in dem es für eine Frau ‹gut und treu› ist, getötet zu werden und wo das Ende der irdischen Existenz das eigentliche Sein bedeutet. Seine subjektiv androkratische Objektivität gegenüber der Marter der Frauen zeigt sich in jeder Zeile. Nachdem er das lebendige Begräbnis einer jungen Witwe, das 1813 stattfand, beschrieben hat, bezeichnet dieser Anhänger einer objektiven Wissenschaft das Ereignis als ‹einen erhellenden, wenn auch einen etwas abstoßenden flüchtigen Einblick in das tiefe, stille Wasser der orientalischen, archaischen Seele …› (Hervorhebungen M. D.).»7
Es gibt also nicht nur den Menschen, wie ich vorher sagte, sondern auch die orientalische Seele. Es gibt fast jede mögliche Verdinglichung, wenn es um Schuldverschleierung geht. Ich konnte unmöglich in meinem vorhergehenden Katalog jede aufzählen. Wissenschaftler sind einfach zu einfallsreich, wie gleich noch deutlicher werden dürfte. Welche Greueltaten schon vor dem Sati an indischen Frauen begangen wurden und noch werden, vor allem insofern sie meist als Kinder zu Ehe und Sexualität mit alten Männern gezwungen wurden, erspare ich mir zu erzählen. Ich erspare mir auch die bei Mary Daly folgenden Schilderungen und Zitierungen von wissenschaftlichen Kommentaren zu dem in China bis zur kommunistischen Revolution üblichen «Brauchtum» der Verkrüppelung von Frauenfüßen, das sogenannte Füßeeinbinden, mit dessen Hilfe Frauenfüße auf ein Minimum verkleinert wurden, um sie in entsprechender «Bandagierung» als Anreiz männlichen Begehrens wie «Lotosblüten» erscheinen zu lassen – unter den Bandagen zu übelriechenden, vereiterten Stümpfen entstellt, auf denen Frauen sich nur mit Schmerzen bewegen konnten. Ebenso erspare ich mir eine Wiedergabe von Mary Dalys Schilderung der in Afrika bis heute üblichen Klitorisausschneidungen und Schamlippenabtrennungen, die an jungen Mädchen bei deren vollem Bewußtsein mit Scherbenstücken durchgeführt werden – mit der Folge, daß die Vagina von Frauen beim ersten Sexualverkehr und bei der Geburt von Kindern aufgeschnitten werden muß, weil sie üblicherweise auch noch nach der Beschneidung auf eine bestimmte Größe zugenäht wird, die zum Glied des Mannes paßt, den sie heiraten wird. Andere Folgen sind unter anderem alle möglichen Krankheiten, die sich aus diesen sogenannten
Operationen ergeben, Schmerzen beim Sexualverkehr und, wie uns zumindest einige etwas echter aufgeklärte Sexualwissenschaftler heutiger Tage nahelegen, der Verlust von sexuellen Empfindungen überhaupt. Daß auch solche Greuel nach den bisher konkretisierten Sprachregelungen von Wissenschaftlern bagatellisiert, die Verursacher durch Schuldverschiebung exkulpiert werden, kann man sich schon denken, vor allem bei Mary Daly nachlesen. Ich füge nur hinzu: In seinem Buch «Staatsfeinde» singt der französische Ethnologe Pierre Clastres in totaler Verkennung der hierarchisierenden Wirkung von männlichen Initiationsriten sogar ein Loblied der bei primitiven Völkern damit verbundenen Grausamkeiten: «Die archaischen Gesellschaften, Gesellschaften des Zeichens, sind Gesellschaften ohne Staat, Gesellschaften gegen den Staat. Das Zeichen auf dem Körper, auf allen Körpern das gleiche, verkündet: du sollst nicht den Wunsch nach Macht haben, du sollst nicht den Wunsch nach Unterwerfung haben. Und dieses nicht losgelöste Gesetz kann, um sich einzuschreiben, nur einen nicht losgelösten Raum finden: den Körper selbst. Bewundernswerte Tiefe der Wilden, die von Anfang an dies alles wußten und, zum Preis einer schrecklichen Grausamkeit, dafür sorgten, eine noch erschreckendere Grausamkeit zu verhindern …»8 Angesichts solcher Verdrehungen im Dienste der Exkulpation von Vätern und deren Motiven, ihre Söhne zu quälen, angesichts solcher Mystifikation der Qualen von Geschlechtsgenossen wird man sich nicht wundern, wenn männliche Wissenschaftler Greueltaten in weiblichen
Initiationsriten, wenngleich diese noch schlimmer ausfallen, bagatellisieren und deren Erfindung an die Opfer verschieben. Es nimmt vor allem nicht wunder, wenn Clastres Kollege Arnold van Gennep, für den Initiationsriten ohnehin nur der «sozialen Integration» dienen, über die Klitorisausschneidung schreibt: «‹Die Länge der Klitoris schwankt je nach Person und Rasse. In gewissen Fällen kann Ziel der Ausschneidung sein, das Anhängsel zu entfernen, durch das die Frau dem Manne ähnelt (eine Anschauung, die unter anatomischen Gesichtspunkten korrekt ist), und die Operation ist nichts anderes als ein Ritual der Geschlechtsunterscheidung in der gleichen Größenordnung wie die erste (rituelle) Zuweisung bestimmter jedem Geschlecht angemessener Kleidungsstücke, Instrumente oder Geräte.) (Hervorhebungen M. D.)»9 Mary Daly kommentiert: «Es kann uns nicht überraschen, daß wir bereis auf der folgenden Seite nicht nur die vertraute Feststellung finden, die Ausschneidung (vermindere die sexuelle Erregbarkeit), sondern daß er dort auch die Klitoris zu den Organen zählt, die ‹wegen ihrer histologischen Beschaffenheit jeglichen Formen von Behandlung unterzogen werden können, ohne daß Leben oder die Aktivität des Individuums beeinträchtigt werden). (Hervorhebungen M. D.)»10 Genaugenommen sollten uns dergleichen Äußerungen aber doch wundern und überraschen. Wie kann man grau
envolle Dinge sehen und doch nicht zur Kenntnis nehmen, es sei denn, man will sie nicht sehen? Eben deswegen erlaubte ich mir ja, all diese Vorgänge verschleierungsstrategisch zu deuten und nicht bloß als Dummheit. Wenden wir uns dem zweiten Buch zu, Jost Herbigs «Nahrung für die Götter». Herbig beschreibt darin, wie er selber sagt, «die Auflösung der Welt der Jäger und Sammler und die Entstehung der Zivilisation»11 – eine imponierende Absicht. Imponierend sind auch seine Kenntnisse des heutigen Materialwissens der Ethnologie, Geschichtswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft, die er synthetisch zu einer Art Theorie der politischen Evolution des Typus moderner gegenwärtiger Zivilisation zusammenfaßt. Allerdings stimmt schon der Untertitel bedenklich. Er lautet: «Die kulturelle Neuerschaffung der Welt durch den Menschen.»12 Dennoch will Herbig selber damit zunächst sagen, daß er die Evolution der Zivilisation als das eigene Werk von Menschen betrachtet, in scharfer Abgrenzung von irgendeiner Art des evolutionsbiologischen Determinismus, auch in Abgrenzung vom ökonomistischen Marxismus. Er sieht die Evolution der Zivilisation als Produkt der Entstehung von Machtkonzentrationen und deren Veränderungsbereitschaft bzw. -fähigkeit unter dem durch sie selber produzierten Druck sozialer und politischer Verhältnisse. Demzufolge bemüht er sich vor allem, die Wurzeln historisch erster, ursprünglicher Machtkonzentration auszugraben. Seine ganz richtige Ausgangshypothese ist, daß Machtkonzentration erst in Pflanzer- und Agrargesellschaften möglich wird, in denen ein sogenannter Surplus (Überschuß) von einzelnen Haushalten erarbeitet und auch akkumuliert werden kann. Da er Macht mit Max Weber definiert, das heißt als jede
(«Chance …, innerhalb von sozialen Beziehungen den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen)»13, entdeckt er die erste «ursprüngliche» Machtkonzentration bei den sogenannten «großen Männern», die sich etwa auf Neuguinea finden lassen. Diese «großen Männer» sind nicht zu verwechseln mit denen von Godelier beschriebenen bei den Baruya. Herbig schreibt: «Der Große Mann war, wie alle anderen Mitglieder seines Stammes, als gewöhnlicher ‹kleiner Mann› geboren worden. Seine Macht war erworben. Er verdankte sie seiner Fähigkeit, durch großzügige Gaben und grandiose Feste andere in seine Abhängigkeit zu bringen. Die benötigten Reichtümer schuf er mit seinen Frauen und Gefolgsleuten durch eigener Hände harte Arbeit.»14 Die hierin enthaltene Verharmlosung der Ambitionen sogenannter großer Männer und die Entindividualisierung ihrer Frauen und Gefolgsleute nimmt Herbig zwar kurz zurück, indem er zugibt, daß «große Männer» ihre Frauen ausbeuteten und daß deren Lohn, wie auch der Lohn sonstiger Gefolgsleute, höchstens darin bestand, im Abglanz des Ruhms «großer Männer» zu stehen, dessen Grundlagen sie zum größten Teil – wie er selber schreibt – durch ihre eigene Arbeit geschaffen hatten. Er schreibt auch: «Wie die Ureinwohner der Solomonen-Inseln östlich von Neuguinea scharfsinnig erkannt haben, bestand der wahre Lohn ihrer Arbeit darin, ‹das Ansehen des Anführers zu essen›.»15
Dennoch formuliert er einige Seiten weiter: «Großzügigkeit verbunden mit Bescheidenheit war die Grundlage dieses Ansehens.»16 Und er zitiert zur Absicherung seines Urteils Marshall Thomas (eine Ethnologin), die über den «großen Mann» sagt: «‹Er vermittelte zwischen den anderen, für seine selbstauferlegte Armut gewann er die Achtung und Gefolgschaft aller Leute.)»17 Man sieht: Wissenschaftsschriftsteller wie Herbig sind eher noch zurückhaltend, wenn es um die Exkulpation der Verursacher von Ausbeutung geht. Marshall Thomas als waschechte Ethnologin verharmlost nicht nur, sie mystifiziert die «großen Männer» zu Selbstaufopferern. Ich denke dabei übrigens an viele Szenen meines Privatlebens, denn ich kenne viele solcher großzügigen und bescheidenen Menschen. Heiner, einer meiner Exliebhaber, ging sehr gerne mit mir zum Essen aus, hatte aber nie Geld dabei. Ein letztes Mal, als ich wieder mit ihm ein Eßlokal aufsuchte, ließ ich ihn vorher schwören, daß er diesmal Geld dabei hatte. Er schwor, und als die Rechnung auf den Tisch kam, sah er mich nur auffordernd an. Ich legte fünfzig Mark auf den Tisch – die Rechnung betrug fünfundvierzig –, Heiner griff nach dem Geld, bevor ich es verhindern konnte, drückte es dem Kellner in die Hand und sagte großzügig: «Stimmt so!» Vergessen wir indes nicht, was Godelier uns über den Aufbau der männlichen Macht bei den Baruya gelehrt hat. Er funktioniert nicht ohne Riten, Mythen, Götter. Auf diesen Punkt kommt denn auch Jost Herbig zu sprechen (es lassen sich ja nun einmal die Religionen der Menschheit nicht übersehen), und zwar indem er der Frage nachgeht, wie aus Macht Herrschaft wurde, das heißt in seinen Worten institutionalisierte, stabile Macht, die bei
den sogenannten großen Männern noch nicht vorhanden ist. Demzufolge wendet er sich Häuptlingen zu. In Häuptlingsgesellschaften findet er, was die Macht der Häuptlinge stabiler werden läßt als die von «großen Männern»: «Wie im übrigen Polynesien beruhte die Macht der Tikopia-Häuptlinge auf einem religiös begründeten Amt. Die Häuptlinge sowie weitere rituelle Anführer von geringerem Rang kontrollierten die wichtigsten Riten des Pflanzens und Erntens. Solche Riten waren notwendig, um die Götter günstig zu stimmen.»18 Wie Herbig im folgenden zeigt, diente die rituelle Kontrolle den Häuptlingen dazu, die übrigen Haushalte zur Mehrarbeit anzutreiben – und unschwer könnten wir schließen, daß nunmehr eine Person aus der Ausbeutung nicht nur eigener Frauen und eigener Gefolgsleute, sondern zusätzlich aus der Ausbeutung aller möglichen Leute (die das mitmachen) erhöhtes Ansehen für sich verbuchen kann. Sichert der Häuptling doch vermittels der Veranstaltung von Festen, die dazu dienen, angeblich den Göttern Nahrung zu verschaffen, scheinbar seinen Leuten die Gunst der Götter und versichert sich zugleich ihrer Dankbarkeit doppelt, indem er die gesammelte Nahrung und bestimmte sonstige Gaben gönnerhaft beim Fest verteilt. Wir schließen das aber nicht, wenn wir Jost Herbigs Text lesen. Er schreibt: «Die Arbeit der Haushalte … wurde nicht allein von den autonomen Bedürfnissen ihrer Mitglieder bestimmt. Eine wesentliche Antriebskraft der Produktion der Haushalte waren die Entscheidungen von Männern von
Rang, Riten durchzuführen und große gemeinschaftliche Feste abzuhalten. Die für solche Feste benötigte Nahrung und die zeremoniell verteilten Güter … verlangten den Haushalten erhebliche produktive Anstrengung über den Eigenbedarf hinaus ab. Der Häuptling setzte das Beispiel und begann, ein zusätzliches Stück Land zu umbrechen. Wissend, daß er wahrscheinlich ein großes Fest plante, folgten seine Leute dem Beispiel und bauten zusätzliche Nahrung an.»19 Daß der Häuptling seine Frauen und Gefolgsleute beim «Beispielgeben» arbeiten läßt, wird hier schon gar nicht mehr erwähnt. Das Tun der Frauen und Gefolgsleute ist entindividualisiert. Aber nicht nur das: Während der Häuptling «Gutes» tut, spornt er auch nicht etwa seine Dorfbewohner zur Mehrarbeit an, weil ihm das womöglich nützt. Denn: «Der Druck zur Mehrarbeit ging nicht vom Ehrgeiz eines Menschen aus, sondern von den Bedürfnissen der Götter.»20 Die hierin enthaltene Exkulpation von Ausbeutung durch Exkulpation des Ausbeuters und seiner Motive in der Form der Schuldverschiebung auf personifizierte Unpersonen wird von Herbig aber noch durch ergänzende strategische Manöver bekräftigt: «Materiell», schreibt er, «zogen die Häuptlinge der Tikopia keine Vorteile, weder aus ihrer Mehrarbeit noch aus ihrem Rang.»21 Sie litten sogar unter ihrer eigenen Mehrarbeit, ganz besonders unter der Unmenge an rituellen Verpflichtungen, «an der Last der Verantwortung gegenüber Ahnen und Göttern». Zur Bekräftigung zitiert Jost Herbig einen echten Häuptling, der stöhnend sagt: «‹Groß ist die Arbeit, Freund!›»22 Während schon 1899 Thorstein Veblen klargemacht hat, daß der Aufbau symbolischer Werte höchst nutzbringend
ist für Leute, die weniger als andere arbeiten wollen, verklärt uns Jost Herbig mit Hilfe seiner Verkehrung ritueller Arbeit in Plackerei den Häuptling, wie schon Marshall Thomas vorher den «großen Mann», zum wahren Opferlamm. Die Erinnerung an Kafkas Vater ist angebracht; ich denke zugleich an eine Witzermahnung, die mir ein älterer Privatgelehrter aus meinem Bekanntenkreis auf den Weg gegeben hat: «Lerne klagen, ohne zu leiden.» Doch wenn der Verursacher von Ausbeutung unserem Bewußtsein so entschwindet, woher kommen dann die Götter, und was motiviert die übrigen Menschen, in einer Gesellschaft mit anderen zu leben, die sie, wie Jost Herbig an einer anderen Stelle richtig vermerkt, reziprok gesehen kaum brauchen? (Die Haushalte sind alle mehr oder weniger autark, und was sie tauschen, sind nur Luxusgüter.) Jost Herbig gibt auf beide Fragen eine verblüffende Antwort: Erstens: «Die Götter und Ahnengeister hatten schon immer die Macht gehabt, in das Leben der Menschen einzugreifen.»23 «Unbeabsichtigt entstanden, prägte sakrale Macht der Evolution menschlicher Gesellschaften ihren Stempel auf.»24 Zweitens: Eben weil die einzelnen Haushalte in Häuptlingsgesellschaften sich gegenseitig kaum brauchen, ja sogar (wegen der Surplus-Produktion) die Bevölkerungszahl steigt, so daß diese Gesellschaften viel zu groß und dadurch wirtschaftlich schwach werden, weshalb ihre Mitglieder – aus meiner Sicht – besser dran wären, wenn sie auseinandergehen würden, muß nach Jost Herbig der Häuptling für Zusammenhalt sorgen. Und warum sorgt er für diesen offensichtlich ganz sinnlosen Zusammenhalt?: «Nicht der Anführer, sondern die rituelle Ordnung organisiert die Gesellschaft. Die Häuptlinge trugen zum Zusammenhalt
der Gesellschaft primär als Antriebskräfte und Organisatoren der rituellen Ordnung bei.»25 Nicht nur göttliche Unpersonen treiben ihr Unwesen, auch die Unperson der rituellen Ordnung muß also herhalten, ehrgeizige Absichten einzelner Personen zu verschleiern. Interessanterweise trifft die Verschleierung des Ehrgeizes aber nur «große» Personen. Kleine Leute haben nach Jost Herbig sehr wohl einen Ehrgeiz, und zwar einen angeborenen. Eben deshalb leben sie gerne in Häuptlingsgesellschaften, auch wenn sie noch soviel Ärger dabei bekommen, können sie sich doch – in einer von Häuptlingen kontrollierten Form, versteht sich – ihren Ehrgeiz austoben. Wenngleich Jost Herbig schreibt: «Um den Arbeitseifer des gemeinen Volkes anzustacheln, das den Speicher des Häuptlings zu füllen hatte, stachelte dieser systematisch den Ehrgeiz seiner Untertanen an»26, erfahren wir doch wenige Seiten später: «Rang, Macht und Wohlstandsunterschiede entstanden also nicht, weil Landwirtschaft technisch die Voraussetzung für die Befriedigung individueller Antriebskräfte wie Ehrgeiz, Machthunger oder Besitzstreben geschaffen hätte. Die Gesellschaft bediente sich der Arbeitskräfte und Fähigkeiten ihrer Mitglieder, kontrolliert wurde sie von ihnen nicht.»27 Natürlich führen Häuptlinge auch Kriege, aber die sind bei Jost Herbig eine ganz «harmlose» Sache, treten sie doch als gleichberechtigtes Element in folgender Kette auf: «Aus dem Ertrag der von ihm kontrollierten Dorfokonomie organisierte der Häuptling gemeinschaftliche Projekte wie den friedlichen Austausch mit anderen Gruppen, wie Kriegführung, den Bau hochseetüchtiger Kanus, von Tempeln, von Bewässerungssystemen oder Schutzwällen.»28 Später wird der Krieg bei Jost Herbig dann zu einer personifizierten Unperson, aber das übergehe ich und
zitiere nur noch die verschicksalende Konklusion: «Rang und Macht entsprachen also wirtschaftlichen und sozialen Notwendigkeiten» (hier haben wir auch den beliebten Sachzwang), «die in einer bestimmten Phase der Evolution menschlicher Gesellschaften aufgetreten sind.»29 (Dem Sachzwang unterliegt also offensichtlich auch noch eine historische Notwendigkeit.) Und: «Untersuchen wir die Funktionen der Ariki (Häuptlinge) und der Großen Männer genauer, dann gelangen wir zu einer überraschenden Erkenntnis: Macht muß unabhängig vom menschlichen Wollen entstanden sein.»30 Daß es bei Jost Herbig so weitergeht, auch wenn er auf Primärformen staatlich organisierter Gesellschaften zu sprechen kommt, deren Anführer massenweise Menschen im Krieg oder anläßlich von rituellen Menschenopfern dahinschlachten lassen, sei nur am Rande vermerkt. Ich möchte mich noch Eli Sagan zuwenden, der sich in seinem Buch «Tyrannei und Herrschaft» den sogenannten frühen Formen staatlicher Organisation spezifisch widmet, und zwar auf der Grundlage heutigen Wissens über die vorkolonialen Strukturen Hawaiis, Tahitis und Bugandas. Auch seine Absicht ist es, den Wurzeln der Zivilisation und des gegenwärtigen Staatslebens auf die Spur zu kommen, auch er sieht sie in der Entstehung von Machtkonzentrationen und deren Veränderung. Er schreibt über Buganda (heute ein Teil von Uganda), das bis 1884, als es unter britisches Protektorat kam, ein selbständiges Königreich mit 500jähriger «Tradition» war und ca. eine Million Menschen umfaßte: «Daß ein einzelner Mann über eine Million Menschen herrschen konnte, war eine bemerkenswerte Leistung,
welche die Schaffung vieler neuer politischer Formen erforderte, deren Entwicklung Hunderte von Jahren brauchte, eine Leistung, die ein Volk mit einem Wunsch nach einem solchen Staat voraussetzte.»31 Da wir einen Satz später lesen, daß die Ziele der komplexen Gesellschaften – damit meint er zentralisierte Verbände, in denen machtpolitisch relevante Verwandtschaftsloyalitäten gesprengt worden sind – nur «unter großen psychologischen Kosten erreicht» werden konnten32, sind wir gespannt, was ein Volk dazu bringt, solche Kosten auf sich zu nehmen, und wie sie aussehen. Nachdem Sagan einleitend die Evolution zu staatlichen Gesellschaften in die Phase des Häuptlingstums, der komplexen und der fortgeschrittenen komplexen Gesellschaften unterteilt hat, erfahren wir zunächst ganz grundsätzlich über die Antriebskräfte dieser Phasenevolution: «Zur Erleichterung kultureller und sozialer Entwicklungen haben die Menschen unter anderem folgenden Mechanismus entwickelt: Zuerst erschaffen sie eine Legende oder einen Mythos, in dem etwas Neues geschieht …, was sie anschließend nachmachen.»33 Nebst dem Volk und seinem Wunsch, von einem einzelnen regiert zu werden, treffen wir also hier auf die Menschen, noch dazu auf die Menschen, die – im Gegensatz zu Jägern und Sammlern, die gar keinen Mechanismus zur Erleichterung kultureller und sozialer Entwicklungen ausgeheckt haben, weil sie lieber frei leben – ein Interesse an einer Unperson nehmen, an Entwicklungen (es steht da nicht: ein Interesse an der Erleichterung ihres Lebens). Kein Wunder, daß sie das, wie wir dann erfahren, büßen müssen. Denn ich habe den Ausdruck Unperson
nicht von ungefähr gewählt. Sie, die Menschen, produzieren nämlich zum Zwecke der Entwicklung auf dem Weg zur komplexen Gesellschaft Mythen, nach denen es erforderlich wird, rituelle Menschenopfer zu bringen, die dann auch praktiziert (nachgemacht) werden und ihren Höhepunkt in «fortgeschrittenen» komplexen Gesellschaften erreichen: «Als komplexe Gesellschaften sich zu fortgeschrittenen komplexen Gesellschaften entwickelten, wurde das geistliche Leben der Völker zunehmend durch die Menschentötung beherrscht.»34 Nun denn – wenn die Menschen mechanisch Mythen um einer Unperson (der Entwicklung) willen produzieren, dürfen sie sich wohl nicht wundern, wenn auch ihr «geistliches Leben» (eine zusätzliche Verdinglichung unseres Denkens) von Dämonen obsediert wird. Zwar konstatiert Sagan, daß alle faktischen Menschenopfer – er schildert sie so ausführlich, daß einem nur schlecht werden kann – dem jeweiligen König gebracht werden, nämlich bei jeder x-beliebigen Gelegenheit, die er als Gefahr für sich und seinen Thron deutet, weshalb auch die Menschenopfer massenhaft sind: «Das Menschenopfer war in Wahrheit eine so machtvolle Funktion, für die Autorität von Häuptlingen (Königen) offensichtlich so notwendig, daß einige Häuptlinge (Könige), die von Europäern gedrängt wurden, diese Praxis aufzugeben, ausriefen: ‹Wenn wir das tun, wird es keine Häuptlinge mehr geben›.»35 Geht es also, wie Häuptlinge selber sagen, ihnen an den Kragen, wenn nicht andere geopfert werden, so könnten wiederum wir schließen, daß auch das Interesse und die Verursachung von Menschenopfern von ihnen ausgeht. Aber mitnichten nach Eli Sagan. Vielmehr entwickelt sich in fortgeschrittenen komplexen Gesellschaften
ein «Ideal», und zwar das von politischer und religiöser Allmacht. Nun gut, könnte man sagen, «Ideal» ist zwar ein mystifizierender Begriff für Allmachtsphantasien, aber daß häuptlingsamtsgierige Menschen ein solches haben oder zunehmend zu verwirklichen trachten, kann man ja wirklich vermuten. Doch Eli Sagan meint das nicht so: «Die Gesellschaft war von der Idee angetan, daß einige Menschen allmächtig werden könnten, und die Praxis des Ritualmordes verstärkte diesen Traum.» «Das Menschenopfer war die höchste Bestätigung der Macht der frühen Könige.»36 Die zum Menschen oder den Menschen diffundiert verdinglichten Menschen haben also, zur Gesellschaft fort-verdinglicht, selber schuld. Ähnlich verzeichnet daher auch Eli Sagan (eine Nebenbemerkung, die ich mir nicht verkneifen kann), daß Menschen «einen irrationalen biologischen Impuls in sich tragen …, ihre eigene Nachkommenschaft zu vernichten»37, woraus sich ihm erklärt, daß es auch heute noch Abtreibungsbefürworter gibt! Über liberale Abtreibungsbefürworter entsetzt, sieht Eli Sagan jedoch in der Abschlachtung von Erwachsenen eine historische Notwendigkeit: «Trotz seiner psychologischen und moralischen Kosten und trotz der Zunahme von Angst, Menschenopfern und politischer Tyrannei war der Fortschritt von sippenbestimmten Formen des sozialen Zusammenhalts zu nicht durch die Sippe bestimmten Formen ein großer Entwicklungsschritt nach vorn, ein Schritt, der getan werden mußte. Wir mögen uns zwar wünschen, daß es dabei weniger Konflikte gegeben hätte, daß dieser große Fortschritt um einen geringeren Preis hätte erreicht
werden können, aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Richtung notwendig Also auch die Verschicksalung (durch historische Notwendigkeit) ist wieder da und bereit, über Leichen zu gehen – jetzt fragt man sich nur noch, um welchen Fortschritts willen sich Völker wünschen konnten, selber abgeschlachtet zu werden. Der Fortschritt, belehrt uns Eli Sagan, liegt darin, daß die zivilisatorische Entwicklung den menschlichen Trieb nach «Individuation» befriedigt: «Unser Verständnis der menschlichen Gesellschaft ist noch nicht tief genug, um erklären zu können, warum die Nuer im Sippensystem befangen blieben, während die Baganda frei genug waren, den Staat zu erschaffen. Eines scheint jedoch klar zu sein: Die Nuer blieben dem Sippensystem nur verhaftet, weil sie den Trieb nach Individuation hemmten, und die Baganda entwickelten den Staat, weil sie seinem Ruf folgten.»39 Zwischen den primitiven und den fortgeschrittenen Gesellschaften liegen daher nach Eli Sagan «Welten», denn in den letzteren «war es die autoritäre Macht des Königs, welche die Gesellschaft zusammenhielt, und diese freute sich über jede individuelle Leistung – beim Sport, in den Künsten, beim Theater, in der Sexualität, in der Politik, im Leben»40. Wie man, wie hier Eli Sagan, die Entindividualisierung vieler einzelner im Menschenopfer zu einem Vehikel der Individualisierung umstilisieren kann, es sei denn, er meinte mit Individualität das Sich-ausleben-Können mächtiger einzelner, worin er dann aber eine merkwür
dige Verwechslung von Irrationalität mit Individualität vollzieht, ist «wahrlich» schleierhaft. Aber er tut es und verknüpft den Fortschritt der Individuation zugleich mit der einhergehenden Errungenschaft der Erschaffung des Staates, einer neuerlichen Unperson, die offensichtlich der Gott aller Götter ist, denn, so schreibt Sagan: «Nyungu, Kamehameha, Pomare II., Finow I., Alexander, Cäsar, Iwan der Schreckliche und Wilhelm der Eroberer waren alle Männer eines Schlages: Vernichter von Menschen und Staatengründer. Sie waren keine bloßen Sadisten, die um des Tötens willen andere Menschen umbrachten, ebensowenig Gangster oder Piraten, die nur auf Reichtum und unbegrenzte Macht aus waren, alles an sich zu reißen, was sie sich wünschten; sie waren auch keine Größenwahnsinnigen, in deren Psyche blinder Ehrgeiz alle anderen Überlegungen verdrängt hatte. Ihr wilder Individualismus arbeitete in erheblichem Umfang unter dem Banner eines Ideals: nämlich der Erschaffung eines großen, permanenten Staates.»41 Da Eli Sagan so alle irrationalen Motive des Aufbaus ausbeuterischer Macht in uns Menschen verlegt hat, alle mystifizierbaren Antriebe in verdinglichte Fiktionen, die das engelreine Gewissen von Machthabern obsedieren, gilt es nur noch aus seinen Schlußpassagen zu zitieren, in denen er seinen (aus seiner Sicht höchst verständlichen) Ärger darüber artikuliert, warum bloß Jäger und Sammler, die jahrtausendelang vor unserem Zivilisationsprozeß sich als Menschen auf unserer Erde tummelten, seinen Fortschritt nicht mitmachen, müßte es doch seinen Gedankengängen nach zwingend in ihrer allgemeinen Natur und in der Na
tur ihrer Gesellschaft liegen. Er konstatiert zunächst, daß man inzwischen weiß, wie gut Jäger und Sammler gelebt haben, und daß es daher keine ökonomisch zwingenden Gründe für sie gab und gibt, sich zu verändern. Dann vermerkt er bedauernd: «Meines Wissens hat noch niemand, der über die Ursprünge des Staates geschrieben hat, auf irgendwelche unversöhnlichen Widersprüche in Politik oder gesellschaftlichem Leben der primitiven Gesellschaft hingewiesen, die einen entwicklungsmäßigen Fortschritt erzwungen hätten. Theoretisch kommen alle diese Arbeiten allenfalls zu dem Schluß, daß sich einige wenige Menschen den wirtschaftlichen Mehrwert aneignen und daß es diese Wenigen sind, welche die politische Unterdrückung und den Staat erschaffen. Was in der Natur der primitiven Gesellschaft diese letzte Entwicklung ermöglicht, wie eine egalitäre Gesellschaft zu den Anfängen der Tyrannei fuhren kann, hat meines Wissens noch niemand erschöpfend erklärt. Noch niemand hat die große Frage beantwortet, was in der Natur des Sippensystems dazu geführt hat, daß es unhaltbar wurde.»42 Daß die jetzt noch lebenden Bambuti und KalahariBuschleute auf die Idee kommen, mechanisch einen Mythos zu erfinden, womöglich einen von Menschenopfern, damit die «große Frage» in einem für Sagan genehmen Sinne beantwortet werden kann, steht zwar nicht zu befürchten. Wohl aber kann man sich vorstellen, daß ein westlicher Wissenschaftler zu ihnen kommt, der so gut Märchen erzählen kann wie Eli Sagan, und sie dann … hoffentlich das gleiche tun, was Colin M. Turnbull von
den Bambuti berichtet, bei denen er zu Anfang der 50er Jahre lebte: Als Cephu, einer der wenigen Bambuti, die sich im stolzen Besitz von drei Frauen sonnen konnten, einmal wieder versucht hatte, seine übrigen BambutiGefährten bei der gemeinsamen Jagd zu betrügen, seinen Betrug aber natürlich lügnerisch zu verschleiern versuchte, konstatierte Manyalibo, einer der älteren Bambuti: «Es habe offenbar keinen Zweck, die Unterhaltung mit Cephu weiterzuführen. Cephu sei ein großer Häuptling, und ein Häuptling gehöre ins (Neger-)Dorf.»43
2. Das moderne Liebeskonzept: Jean-Jacques Rousseau Angesichts der Unzahl verschleierungsstrategischer Sprechweisen auf wissenschaftlichem «Niveau», in die ich mit meinem bisherigen Ausschnitt aus dem Bereich wissenschaftlicher Publikationen einen Einblick gegeben habe, erscheint es mir sinnvoll, zunächst die systematische Ausgangsposition dieses Einblicks ins Gedächtnis zu rufen: Als prototypisch modern habe ich Strategien identifiziert, die spezifisch geeignet sind, die Verursacher von Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Greueln sowie deren Motive durch Verschleierung zu exkulpieren. Ich habe den Gesamtkomplex solcher Strategien unter den Oberbegriff der «exkulpativen Apperzeptionsverweigerung» gefaßt, die darunter fallenden Einzelstrategien in Bagatellisierungsund Kausalitätsverwirrungsstrategien unterschieden. Die Kausalitätsverwirrungsstrategien habe ich wiederum in Strategien der Schuldverschiebung auf Personen – vor allem auf Opfer – und in Strategien der Schuldverschiebung auf verdinglichte Fiktionen unterteilt und letztere nochmals unterschieden, nämlich in die Personifikationen von Unpersonen und die Verschicksalungsstrategien. Soweit es mir darum ging, vor allem die Formen darzustellen, die exkulpative Strategien angesichts des Drucks aufklärerischer Ideale angenommen haben bzw. anzunehmen pflegen, habe ich vom Phänomen der «Erkenntnisverhinderung» im Gewand des «Erkenntnisfortschritts» gesprochen und daher zunächst versucht, anhand von Beispielen das Ausmaß zu verdeutlichen, in dem uns moderne, wissenschaft
liche Publikationen in Exkulpationsstrategien spezifischer Art hineinziehen. Wie ich sagte, soll die Behandlung prototypisch moderner Exkulpationsstrategien aber auch dazu dienen, ein Problembewußtsein für unsere eigene Mittäterschaft zu wecken. Zum letzten Kapitel setze ich daher kurz hinzu: Daß Wissenschaftler oder Wissenschaftsschriftsteller, wie die von mir negativ zitierten, sich zu Komplizen von Übeltätern machen, dürfte klar sein. Ich weise aber daraufhin, daß auch wir selber uns, sofern wir uns nicht aus wissenschaftlich akzeptierten Sprachregelungen oder Denkmustern der von mir zitierten Art lösen, zu Komplizen machen. Es gibt indes eine Form, in der wir selber uns besonders gern zu Tätern und Mittätern machen und in der wir diesen Tatbestand am liebsten exkulpieren, auch wenn wir weder besonders ehrgeizig sind noch extensiv zum Lesen wissenschaftlicher Bücher neigen. Diese Form ist das «Lieben», und zwar besonders dann, wenn es mit einer bestimmten Vorstellung von «wahrer Liebe» einhergeht, mit einem Liebeskonzept – wie ich das nennen möchte –, das sich strategisch verwenden läßt. Solche Liebeskonzepte, die sich strategisch verwenden lassen, gab und gibt es vielfacher Art – ich erinnere an das Liebeskonzept Oscar Wildes –, es gibt aber vor allem eines, das sich als prototypisch modern identifizieren läßt1 und das ich daher vorführen möchte. Sein Erfinder ist Jean-Jacques Rousseau. Er kreierte es unter dem Banner der Blüte der Aufklärungsphilosophie, und unter aufklärerischem Vorzeichen fand es, obwohl schon im 18. Jahrhundert erfunden, denn auch ständige Neuauflagen, die bis in die jüngste Zeit hinein reichen. Gerade in allerletzter Zeit,
in den achtziger Jahren, ist es schon vor Aids, aber wohl auch deswegen, zu frischer Popularität gelangt – mit Hilfe von Psychoanalytikern, zum Beispiel mit Hilfe von Erich Fromms Buch «Die Kunst des Liebens», das in Deutschland in den achtziger Jahren mit einer Auflage von über 2 Millionen verkauft wurde, oder mit Hilfe von Psychologen, wie mit Peter Lausters Buch «Die Liebe»2. Da dieses Liebeskonzept unter aufgeklärtem Vorzeichen erfunden wurde und sich, wie ich schon andeutete, unter seiner Verkleidung eine ganz besondere Strategie des exkulpativen Formenkreises verbirgt, nämlich die der Entindividualisierung von Schuld durch Entindividualisierung von Individuen, möchte ich dies Konzept hier unter dem Gesamtkomplex des «Erkenntnisfortschritts als Erkenntnisverhinderung» behandeln. Es hat darin allerdings eine exzeptionelle Stellung, insoweit es sich mit allen möglichen, vorher schon von mir benannten Strategien deutlich überschneidet, zum Beispiel mit der Invalidierung durch positive Mystifikation oder mit der Vernatürlichung von Gemachtem. Es hat aber auch eine besondere Stellung in diesem Rahmen, insoweit seine exkulpativen Implikationen (das, was dahintersteckt, was man herauslesen kann) nicht so leicht durchschaubar sind. Zumindest seine entindividualisierenden Implikationen sind jedoch beim Erfinder noch transparenter als bei dessen Imitatoren (oder Imitatorinnen – für die Gegenwart rechne ich darunter etwa Luise Rinser), und deshalb rekurriere ich zum Zweck der Illustration auf den Erfinder, also auf Jean-Jacques Rousseau. Jean-Jacques Rousseaus Einfluß in der westlichen Welt war beträchtlich, obwohl er selber sich zeitlebens von der Welt verfolgt fühlte. Sein unmittelbarer politischer
Einfluß auf die Französische Revolution dürfte bekannt sein. (Dieser war übrigens betrüblich, denn vermittelt über seinen glühenden Verehrer Robespierre mündete Rousseaus Einfluß im «Terreur» der Guillotine – im Namen der volonté général, die Rousseau bekanntlich erfunden hat.) Ebenso bekannt dürfte sein Einfluß auf die Pädagogik des 19. und 20. Jahrhunderts sein, der bis heute anhält. Vor allem auch in Deutschland war sein pädagogischer Einfluß groß, gefordert durch die sogenannte «philanthropische» (menschenfreundliche) Bewegung. Weniger bekannt sind vermutlich die betrüblichen Seiten auch dieses Einflusses, man kann sie unter anderem nachlesen bei Katharina Rutschky in ihrem Buch «Schwarze Pädagogik» oder in Helga Glantschnigs Buch «Liebe als Dressur»3. Am allerwenigsten beim größeren Publikum bekannt – obwohl faktisch am meisten imitiert – ist Rousseau als Erfinder des typisch modernen Liebeskonzepts, und es lohnt sich daher, sich dieses anzuschauen. Bevor wir das tun können, sind wieder einige kurze Vorbemerkungen unumgänglich. Rousseaus Liebeskonzept gewinnt seine Plausibilitätskontur vor dem Hintergrund einer mindestens 300jährigen Abwechslung der Ebbe und Flut von Hexenprozessen, die Europa – wie auch später Amerika – überrollten und in der Hauptsache gegen Frauen gerichtet waren. Vielleicht neun Millionen Hexen wurden in dieser Zeit ermordet, vielleicht weniger, aber jedenfalls Millionen (in Gesamteuropa) und jedenfalls Millionen Frauen. Als Rousseau seinen Roman «Emile», in dem er sein Liebeskonzept mitsamt dem darin enthaltenen Frauenbild präsentierte, herausgab (1762), war die letzte «Hexe» in Deutschland noch nicht verbrannt – sie starb 1775. Diese
Hexenprozesse waren – wohlgemerkt – kein mittelalterliches Relikt, sie verdankten sich auch nicht einfach irrationalen Ausbrüchen aus der «Tiefe» der germanischen Seele. Sie waren zielbewußt auf die Ausrottung sexuell und existentiell unabhängiger Frauen gerichtet (auch wenn die Verwirklichung dieser Absicht den Initiatoren oft entglitt), vor allem waren sie auf die Ausrottung solcher Frauen gerichtet, die sich als Hebammen oder Kräuterkundige auf die eigenmächtige Geburtenkontrolle verstanden. Auch wenn die Initiatoren Leute der Kirche waren (Katholiken wie Protestanten), kam deren Eifer dem neuzeitlich erwachten Sinn von Fürsten und Monarchen, einer typisch neuzeitlichen Leitidee von Politik, nämlich der sogenannten «Staatsraison», entgegen. Es reüssierten daher religiöse Eiferer für die Hexenverbrennungen auch nur dort, wo weltliche Mächtige sie deckten und förderten. Kurzum: Die Hexenprozesse sind als Auftakt für die Neuzeit, für neuzeitliche politische Machtstrategien zu werten, und es läßt sich das, insbesondere was die bevölkerungspolitischen Intentionen betrifft, die dahinterstanden, unter anderem bei Gunnar Heinsohn und Otto Steiger in ihrem Buch «Die Vernichtung der weisen Frauen» nachlesen.4 Wenngleich der gewalttätige Charakter dieses Auftakts zur Neuzeit sich weder damals noch heute verschleiern ließ und läßt, wurden sehr wohl seine Motive verschleiernd legitimiert, in diesem Falle mit Hilfe einer Invalidierung durch negative Mystifikation, das heißt mit Hilfe der Dämonisierung partiell unabhängiger Frauen zu mörderisch gesinnten Hexen. Das Grundmuster, das diesem Hexenbild Auftrieb verschaffte, war ein generelles Verdikt über Frauen, das Jakob Sprenger und Heinrich Institoris, die Verfasser des leider allzu berühmt gewordenen «Hexenhammers» (1487)
wie folgt propagierten: Frauen verfallen am ehesten der Hexerei, das heißt, sie lassen sich mit dem Teufel ein, um anderen Menschen zu schaden (insbesondere um Kinder umzubringen), weil das Weib «fleischlicher gesinnt ist als der Mann»5. Und sie schlußfolgerten daher: «Also schlecht ist das Weib von Natur, da es schneller am Glauben zweifelt, auch schneller den Glauben ableugnet, was die Grundlage für die Hexerei ist.»6 Aus dieser Verdammung versuchten aufklärerische Denker Frauen zu retten, allerdings erst als die Hexenprozesse ohnehin abklangen, weil es aus pragmatischen Gründen den politisch Mächtigen nicht mehr sinnvoll erschien, so viele Frauen umzubringen. (Man könnte insoweit fragen, ob aufklärerische Denker nicht eher das Hexenbild verschleiert «retten» wollten – denn sie «retteten» Frauen um den Preis, daß Frauen, die sich abweichend von Bescheidenheit und sexueller Monogamie oder gar Askese verhielten, als Hysterikerinnen bzw. als Verrückte klinisch stigmatisiert wurden und Frauen, die sich an männlich und politisch modern gewordene Kontrolle anpaßten, positiv mystifiziert wurden: zu tugendhaften Gelehrten oder sanftmütigen Ehefrauen.) In den Rahmen dieser Ablösung einer negativen Mystifikation durch abgeschwächt negative Mystifikationen – wie etwa die klinische Stigmatisierung –, nicht zuletzt aber durch positive Mystifikationen, ist Rousseaus Liebeskonzept einzuordnen, und in diesem historischen Kontext wird verständlich, warum sein Liebeskonzept, verknüpft mit einem Frauenbild, das wir heute eher als reaktionär einstufen würden, zu seiner Zeit als progressiv empfunden wurde, sogar von Frauen literarisch imitiert7, vor allem von Frauen in bürgerlichen Kreisen sukzessive akzeptiert und
praktisch imitiert wurde. Rousseaus Frauenbild, wenngleich positiv mystifiziert, kann daher seine Abstammung bzw. seinen verdeckten Zwillingsschwesterncharakter zum dämonisierten Frauenbild auch oftmals nicht gelungen verschleiern, so zum Beispiel, wenn er im «Emile» schreibt: «Allerdings ist es auch nicht mehr als gerecht, daß das Frauengeschlecht die Strafe für die Übel mitträgt, die es uns gebracht hat.»8 Soviel, um verständlich zu machen, vor welchem politischen Hintergrund Rousseaus Liebeskonzept Furore machen konnte und vor welchem es vielleicht auch heute noch gerade von Frauen (als Opfer betrachtet) hochgehalten wird, denn hinter der positiven Mystifikation von Frauen lauert latent auch heute noch die Dämonisierung und nebst dieser die Gewalt, die ausbricht, wenn eine Frau auf die positive Mystifikation verzichtet. Ich erinnere an den Saura-Film über «Carmen», der im Jahre 1983 in Deutschland lief– mit sehr hohen Besucherzahlen –, und zitiere aus dem «Spiegel» von 1983: «Wenn zur Zeit in deutschen Kinos Carmen in den letzten Kinominuten des Saura-Films im off – man sieht den Mörder und nicht das Opfer – mit ein paar Messerstichen getötet wird, bleibt das Publikum danach noch ergriffen im Saal, steht auf und beklatscht den Tanzfilm, als wär’s ein Stück Theater. … Rund 200 000 Besucher haben Carmen beim Sterben verzückt zugeschaut; manche von ihnen, auf Nietzsches Spuren, fünf- bis sechsmal.»9 Wenden wir uns nunmehr Rousseaus Liebeskonzept direkt zu: Ich beziehe mich hier nur auf den «Emile» (nicht auf
die «Nouvelle Heloise»). Darin ist es eingebettet zu finden, und das heißt: in einen sogenannten Erziehungsroman, in dem Rousseau auf mehreren hundert Seiten in erster Linie sein Konzept von «wahrer Erziehung» präsentiert, obwohl er sich – wohl zu Recht, denn er steckte seine fünf Kinder ins Waisenhaus – zum konkreten Pädagogen nicht geeignet fühlte, wie er schreibt. Seiner politischen Idee folgend, die er parallel zum «Emile» im «Contrat social» entwickelt und nach der nur Menschen im Naturzustand wahre, das heißt gleiche und freie Menschen sind, während sie durch Zivilisation bzw. den Verkehr mit anderen Menschen verdorben werden (die Gesellschaft ist bei Rousseau schuldig!), versucht er im «Emile» in pseudo-biographischer Form darzustellen, wie er als Erzieher dennoch einen Menschen, das heißt einen männlichen Menschen, sogar unter den Bedingungen des korrupten Zivilisationsstandes seiner Zeit, zum «Menschen macht»10. Dies macht er, indem er seinen männlichen Zögling ganz allein durch «Erfahrung» (bloß keine Bücher! Allerhöchstens Heldengeschichten darf Emile lesen), in Auseinandersetzung mit der sogenannten Natur Überlebenstechniken lernen läßt, isoliert von der Gesellschaft, zumindest der städtischen. Wie merkwürdig es dabei zugeht, muß man nachlesen – das gehört nicht zu meinem Thema –, vor allem inwiefern die ganze Sache, die «natürliche Erziehung» genannt wird, letztlich ein Schwindel ist, den Rousseau sogar mit schwindelerregender Freimütigkeit ab und zu zugibt, was man aber leicht überliest. Denn obzwar Rousseau im «Contrat social» konstatiert, der Verzicht auf Freiheit sei «unvereinbar mit der Natur des Menschen; seinem Willen jegliche Freiheit nehmen heißt seinen Handlungen jegliche Sittlichkeit nehmen»11, und weswegen er auch seinen
«Emile» frei von jedem Dogma erziehen möchte, sagt er doch über seinen Zögling: «Er möge stets glauben, er sei der Herr, aber ihr müßt es trotzdem sein. Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die scheinbar freiwillige, denn man nimmt den Willen selbst gefangen. Ist denn das arme Kind, das nichts weiß, nichts kann und nichts kennt, nicht völlig in euren Händen? Verfügt ihr denn nicht über alles, was es umgibt? Könnt ihr es nicht beeinflussen, wie ihr wollt? Sind nicht seine Arbeiten, seine Spiele, sein Vergnügen und sein Ungemach in euren Händen, ohne daß es davon weiß? Ohne Zweifel soll es nur das tun, was es selber will, aber es soll nichts wollen, was ihr nicht von ihm wollt. Es darf nicht einen Schritt tun, den ihr nicht hättet vorausgesehen, es darf nicht den Mund öffnen, ohne daß ihr wißt, was es sagen will.»12 Das Trickreiche an «moderner Pädagogik» hintanlassend, muß ich mich hier auf den Rousseauschen «Liebestrick» beschränken, und der sieht folgendermaßen aus: Der Pädagoge entdeckt «natürlich» eines Tages erwachende Triebe im Jüngling, die er ebenso «natürlich» unterdrückt, dann aber wieder «natürlich» langsam ihrem Recht zufuhren muß. Das heißt: Nachdem Rousseau seinen Emile seiner eigenen Vorstellung nach zu einer Art Robinson Crusoe erzogen hat, der sich aber bei näherer Hinsicht eher als Provinztrottel entpuppt (den er später auf Reisen mit der zivilisierten Welt bekannt macht, in die er sich aber auf keinen Fall verstricken darf), denkt er daran, daß ein Mann «Liebe» braucht, daß er Liebe aber nur bei einer passenden Frau finden kann. Diese Frau
bekommt von Rousseau den Phantasienamen «Sophie», und daher schreibt er: «Endlich drängt die Zeit. Wir müssen sie allen Ernstes suchen, er möchte sonst selbst eine schaffen, die er für die wahre Sophie hält, und seinen Irrtum zu spät einsehen. Lebe also wohl, Paris, berühmte Stadt, voll Geräusch, voll Rauch und Kot, in der die Frauen nicht mehr an Ehrbarkeit und die Männer nicht mehr an Tugend glauben. Lebe wohl, Paris! Wir suchen die Liebe, das Glück und die Unschuld, und dabei können wir nicht weit genug von dir fortgehen.»13 «Ländlich», wie Emile erzogen ist, soll auch – wie wir aus dem Zitat schon schließen können – seine zukünftige Frau Sophie sein. Bevor wir sie uns ansehen, möchte ich jedoch hervorheben, daß der Stellenwert der Liebe bei Rousseau keineswegs nur daraus resultiert, daß sie der Erfüllung eines «natürlichen» privaten Bedürfnisses dient. Sie bildet vielmehr in dieser Funktion zugleich das Fundament des Staates respektive der «politischen Tugend» (da bei Rousseau auch die politische Tugend primär immer die sogenannte Tugend des Herzens ist).14 Alle «konventionellen Bande» werden «erst durch ein natürliches Gefühl geknüpft», schreibt er in scharfer Abgrenzung, unter anderem gegen Platon (nach dem ja, wie dargestellt, die politische Gemeinschaft nicht aus dem Gefühl heraus entsteht, sondern aus dem gegenseitigen Vorteil, dem gegenseitigen Nutzen, den man aneinander hat – und der daher auch, wie Rousseau bedauert, auf die «merkwürdige Idee» gekommen ist, Frauen und Männer gleich zu erziehen). Die «Liebe zu den Nächststehenden» ist «die Grundlage der Liebe …, die man dem Staat schuldet;
… durch das kleine Vaterland der Familie wird das Herz an das große gefesselt ...; ... der gute Sohn, Ehemann und Vater ist auch der gute Bürger.»15 Sehen wir uns unter diesem Aspekt zunächst einmal an, was Rousseau von der Liebe ganz allgemein sagt, bevor wir das «Objekt» männlicher Liebe, Sophie, in Augenschein nehmen. Die zentrale Aussage über die Liebe im «Emile» wird von Rousseau mit einer Eloge auf die Frauen eingeführt. «Unglücklich ist das Jahrhundert, in dem die Frauen ihren Einfluß verlieren und in dem ihr Urteil den Männern nichts mehr gilt! Das ist der tiefste Grad der Verkommenheit. Alle gesitteten Völker haben die Frauen geachtet.»16 Da er von «gesitteten» Völkern spricht, meint er indes auch nur, daß Frauen zu achten seien, die «tugendhaft» sind. Und daher fährt er fort, nun auf die Liebe zu sprechen kommend: «Ich sage noch mehr und bleibe dabei, daß die tugendhafte Haltung der Liebe nicht weniger nützlich ist als den übrigen natürlichen Rechten und daß das Ansehen der Geliebten dadurch nicht weniger gewinnt als das Ansehen der Frauen und Mütter. Es gibt keine wahre Liebe ohne Begeisterung, und es gibt keine Begeisterung ohne einen Gegenstand, der wirklich oder eingebildet vollkommen ist, den man sich aber immer vorstellt. Für was sollen sich die Liebenden entflammen, für die Vollkommenheit nichts mehr bedeutet und die in dem, was sie lieben, nur einen Gegenstand sinnlichen Vergnügens sehen? Nein, nicht das ist es, woran sich die Liebe erwärmt und sich dem hohen Entzücken überläßt, das den Liebenden die Sinne benimmt und den Reiz ihrer
Leidenschaft ausmacht. In der Liebe ist alles Illusion, das gestehe ich ein; aber das, was wirklich ist, das sind die Gefühle, mit denen sie uns für das wahre Schöne begeistert und es uns lieben lehrt. Dieses Schöne liegt allerdings nicht im Objekt, das wir lieben, es ist ein Werk unserer Phantasie. Nun, was bedeutet das? Opfert man deshalb all seine niederen Gefühle weniger dem erträumten Vorbild? Erfüllt man deshalb sein Herz weniger mit den Tugenden, die man dem geliebten Gegenstand verleiht? Legt man deshalb weniger alle Gemeinheit des menschlichen Ich ab? Wo ist der wahrhaft Liebende, der nicht bereit ist, seiner Geliebten sein Leben zu opfern? Und wie kann grobe sinnliche Leidenschaft in einem Menschen sein, der sterben will?»17 Wenngleich hier Rousseau mit bemerkenswerter Offenheit den Illusionscharakter seines Liebeskonzepts zu apostrophieren scheint, müssen wir uns doch hüten, das Gesagte auf die leichte Schulter zu nehmen und ihm in die Falle zu gehen. (Rousseau ist überhaupt der Künstler der strategischen Kunst, durch «Offenheit» und «Ehrlichkeit» etwas zu verschleiern.) Daß in der Liebe alles Illusion ist, übernimmt er als platte Volksweisheit nämlich nur, um das Illusionäre zur Wahrheit zu verklären, indem er es auf «wirkliche Gefühle» baut, die noch dazu für das «wahre Schöne» begeistern. Erst wenn man die hierin enthaltene verbale Nähe zum Platonismus (auf die übrigens moderne Pädagogen immer wieder hereinfallen, um Rousseau und Platon in eine Reihe zu stellen) als Scheinplatonismus entlarvt, wird klar, was Rousseau wirklich meint. Ich pointiere daher: Bei Platon entzündet sich der wahre Eros an der tatsächlich vorhandenen Schönheit bzw. an
tatsächlich vorhandenen guten Eigenschaften, zumindest guten Anlagen im oder am Liebesobjekt. Dieses erweckt aufgrund seiner tatsächlichen Erscheinung im Liebenden daher zwar zugleich den Eros zum Guten, Schönen und Wahren schlechthin, aber so, daß die Erweckung dieses Eros objektdienlich dem Objekt selber zunutze wird: Der Liebende (der wahrhaft Liebende) setzt nämlich um der Verwirklichung der Idee des Wahren, Schönen, Guten willen seinen Eros dafür ein, die tatsächlichen guten Anlagen bzw. Eigenschaften des oder der Geliebten helfend zu unterstützen bzw. zu fördern – und wendet sich ab, wenn das Objekt das gar nicht will! Bei Rousseau dagegen wird eine Phantasie vom Schönen und Guten auf ein Objekt projiziert – in Abstrahierung von dessen wirklicher Natur. Obgleich bzw. eben deswegen, weil diese Art, sich zu verlieben, gerade heutzutage weit verbreitet ist, wie Dorothy Tennov in ihrer empirischen Studie «Limerenz – über Liebe und Verliebtsein« nachgewiesen hat18, müssen wir uns um so deutlicher bewußt machen, daß Rousseau insofern die pure Irrationalität zur «Wahrheit» verklärt. In anderen Worten: Gerade weil wir selber allzuoft und gern Opfer der «Liebesfalle» – wie ich das nennen möchte – werden, das heißt Opfer der Neigung, Objekte, an denen uns irgend etwas fasziniert, durch mythische Projektionen aufzuwerten, haben wir es dringend nötig, uns über den objektiven Irrationalitätscharakter solcher Liebe Klarheit zu verschaffen, die weder uns noch den Objekten förderlich sein kann. Genau das aber will Rousseau verhindern. Machen wir uns folgendes ganz deutlich: Nichts spricht dafür, daß die Liebe zu irgendwelchen Objekten – mögen wir uns auch noch so sehr in sie verlieben – in uns zugleich den Sinn für das
Wahre, Gute, Schöne erweckt; es spricht also auch nichts dafür, daß wir das Wahre, Gute und Schöne in ihnen zu fordern wünschen, wenn wir sie angeblich lieben, abgesehen davon, daß ein solcher Versuch töricht wäre, wenn das Objekt durch nichts oder nur dem Anschein nach beweist, daß es sich zu einem solchen Versuch eignet. Rousseau will uns aber vormachen, daß dieser Sinn für das Gute, Wahre, Schöne unabhängig vom Objekt geweckt werde, und zwar durch ein «wirkliches Gefühl». Der eigentliche Trick besteht also darin, daß Rousseau die illusionäre Liebe zur wahren Liebe verklärt, indem er sich auf ein – wie wir heute sagen – «echtes Gefühl», das sie auslöst, beruft. Die «echten Gefühle» sind hier die Hypostase, die von Verstand und Objekt abstrahierende Verdinglichung, die uns dennoch ermöglicht, ein Festhalten an illusionär bedingten Fehlverhaltensweisen für legitim zu halten. (Ich sage: illusionär bedingten Fehlverhaltensweisen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß man, wenn man sich in einer Illusion befindet, nur Fehler begehen kann.) Damit betreibt Rousseau eine doppelte Exkulpationsstrategie, deretwegen ich sein Liebeskonzept unter die Strategien der exkulpativen Apperzeptionsverweigerung eingereiht habe. Erstens exkulpiert er uns, und zwar ganz bauernschlau: Unsere Gewohnheit (ich sage extra nicht Neigung, denn ich meine, daß nicht Liebe blind macht, sondern ganz andere Ursachen uns blind machen), uns blind zu verlieben, die schon die alten Griechen gern zur Fatalität verklärten – in Amors Pfeilen, die er abschießt, ohne auf uns Rücksicht zu nehmen – und auf die wir uns ebenso gerne als Fatum berufen, wird bei Rousseau sogar zur Tugend stilisiert. Daß wir in blinder Verliebtheit sowohl dem Partner Unrecht tun, von dessen Eigenschaften
wir abstrahieren, um ihn in ein Liebesglück zu ziehen, von dem er vielleicht erdrückt wird, daß wir uns selber unglücklich machen, weil wir vom Partner Dinge erwarten, die er – so wie er ist – gar nicht erfüllen kann, daß wir – insbesondere als Frauen – an einer Liebe zu einem Partner festhalten, dessen Liebe zu uns, bei Verstand betrachtet, gar keine wahre Liebe sein kann, weil sie zum Beispiel uns gar nicht zum Guten hin befördert – das alles brauchen wir nicht zur Kenntnis zu nehmen. Wir haben statt dessen unsere «echten Gefühle» und sind daher auch an nichts schuldig, wenn alles schiefgeht. Wir haben weder die Leiden anderer noch unsere eigenen verursacht. Die Gefühle waren schließlich «echt». Ja, das hört Mann und Frau gerne! Wenden wir Rousseaus Liebeskonzept auf das «Vaterland» an, dann scheint es uns töricht, sich für ein Vaterland zu opfern, das nur aus einer Illusion besteht und das nicht in Wirklichkeit gut ist.19 Wenn wir es aber auf unser Privatleben anwenden, dann erscheint es uns allen sehr glaubwürdig, weil es sehr angenehm ist, uns auf diese Art und Weise entschuldigen zu können – für eine Illusion, der wir aufsitzen. Die Vergötzung des Gefühls, strategisch von Rousseau unter dem Deckmantel von rationaler Aufklärung in die Welt gesetzt, ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt seines Denkens überhaupt und hat sich in unser aller Köpfe (Fühlen ist auch eine Sache des Kopfes!) als schleichende Krankheit eingenistet. Ich mache nur auf ein Symptom dieser schleichenden Krankheit aufmerksam, auf das ich später noch einmal zurückkommen werde: Fast alle Nazimörder und -Schergen hatten «liebende» Frauen. Kein Mensch kommt auf die Idee, solche Frauen zur Rechen
schaft zu ziehen, ja, es gibt nicht einmal wissenschaftliche Untersuchungen darüber, was solche Frauen veranlaßte, bei ihren Männern zu bleiben20, oder ob es welche gab, die sich von ihnen trennten. Daß die, die bei ihren Männern blieben, Mittäterinnen waren, daß sie sogar ganz miese Profiteurinnen waren, wie zum Beispiel die Frau von Rudolf Höß oder die von Hans Frank21, von denen man das wissen kann, weil es unter anderen Aspekten belegt worden ist, ist tabu. Sie liebten vermutlich ihre Männer – basta. Rousseau ist aber nicht nur ein ganz raffinierter Exkulpateur, der alle Übel bei der Gesellschaft sucht, seine Leser und Leserinnen aber von aller Schuld freispricht. Er exkulpiert in zweiter Linie zugleich sich selber. Nicht er hat sein Liebeskonzept in die Welt gesetzt, er ist nicht der Verursacher: die Menschen verlieben sich nun mal so. Es verlieben sich vor allem gerade diejenigen Menschen so, die nicht durch gesellschaftliche Machtmechanismen verdorben sind, sondern, wie sein Emile, nur durch die Auseinandersetzung mit «der» Natur ihre eigene Natur entwickelt haben. Demgemäß hat zwar Rousseau seinen Zögling «erzogen», aber ja nur «nach der Natur». Und demgemäß verkuppelt er zwar de facto Emile an eine Frau, die er, Rousseau, ausgesucht hat, aber die ist auch nur «natürlich» erzogen, und folglich, so legt er es uns jedenfalls nahe, verlieben sich Emile und Sophie ganz spontan. Sehen wir uns jedoch nunmehr Sophie, ihre Erziehung und ihr Naturell, ihre Persönlichkeit etwas näher an. Was ihre «natürliche» Erziehung anbelangt, halte ich mich knapp. Sophie hat es nicht nötig gehabt, von einem philosophisch gebildeten Mann erzogen zu werden. Da Frauen – bei Rousseau – «von Natur aus» Gefühlsmenschen sind,
reicht es, wenn sie lernt, ihre Gefühle zu bilden und zu beherrschen, und das lernt sie am besten zu Hause bei ihrer Mutter. Diese erzieht sie – ganz «natürlich» versteht sich, nämlich auf der Basis gegenseitiger Liebe – nach folgenden Grundsätzen: Wenngleich, wie Rousseau vermerkt, Männer viel leichter ohne Frauen als Frauen ohne Männer bestehen können, hängt doch, weil Frauen sanftmütiger sind und daher – mit Hilfe der Liebe – Männer «domestizieren» können, das Glück der Männer von den Frauen ab. Also muß, so schlußfolgert er (aber die Mutter «weiß» das «natürlich» qua Naturinstinkt auch), «alle Erziehung der Frauen auf die Männer bezogen sein. Ihnen zu gefallen und nützlich zu sein, sich bei ihnen beliebt und geehrt zu machen, sie in ihrer Jugend zu erziehen und als Erwachsene zu umsorgen, ihnen zu raten und sie zu trösten, ihnen das Leben angenehm zu machen und zu versüßen sind die Pflichten der Frauen zu allen Zeiten, und die muß man sie lehren von Kindheit an». Und: «Eine Frau ist von Haus aus gefallsüchtig, aber diese Gefallsucht wechselt die Form und den Gegenstand je nach ihren Anschauungen. Bringen wir diese Anschauungen in Übereinstimmung mit den Absichten der Natur, dann erziehen wir die Frau so, wie es ihrem Wesen entspricht.»22 Da es Männern nicht gefällt, wenn Frauen lesen und schreiben können, womöglich sogar Bücher lesen oder irgendein Talent bis zur kompetenten Beherrschung des Metiers entfalten, nimmt die Erziehung Sophies von solcherlei Dingen Abstand. Sie lernt nur solche Dinge, die dazu förderlich sind, sie gefügig bzw. sanftmütig zu machen. Denn, so Rousseau:
«Frauen bedürfen ihr ganzes Leben hindurch» eines fügsamen Wesens, «da sie immer entweder einem Manne oder den Urteilen der Männer unterworfen sind und es ihnen niemals erlaubt ist, sich über diese Urteile hinwegzusetzen. Die erste und wichtigste Eigenschaft einer Frau ist die Sanftmut. Geschaffen, einem so unvollkommenen Wesen wie einem Manne zu gehorchen, der oftmals lasterhaft, immer aber mit Fehlern behaftet ist, muß sie frühzeitig lernen, selbst Unrecht zu erleiden und Fehler des Ehemannes zu ertragen, ohne sich zu beklagen. Nicht seinetwegen, sondern ihrer selbst wegen soll sie sanftmütig sein; denn Verstimmtheit und Halsstarrigkeit der Frauen vermehren immer nur ihre Übel und das schlechte Betragen der Ehemänner.»23 Daß Rousseau hier die Götter der Baruya durch die sogenannte Natur ablöst, das heißt eine Vernatürlichungsstrategie betreibt, indem er das Zurechtstutzen von Frauen auf parasitäre Verwöhnungswünsche und Machtphantasien von Männern als wesensgemäß für Frauen deklariert, ist, nach allem in den vorhergehenden Kapiteln Gesagtem, evident. Daß die Vernatürlichung zugleich eine Entindividualisierung bedeutet, und zwar in der Form der geschlechterdualistischen Schabionisierung, ist wohl ebenso klar. Akzentuieren möchte ich daher nur, daß die Entindividualisierung hier unter dem besonderen Gesichtspunkt der Widerspiegelung zu sehen ist: Die Frau bedarf keiner eigenen Kriterien der Selbsteinschätzung. Wie und was sie ist, hängt von der Anerkennung durch den Mann ab. Zu akzentuieren ist auch, daß Rousseau diese Entindividualisierung im Dienste der Liebe proklamiert bzw. unter dem Deckmantel der Liebe versteckt, ohne die Mann und
Frau gleichermaßen nicht glücklich werden können. Dies gilt es noch näher zu beleuchten, ich will mir aber eine Bemerkung am Rande dazu gestatten: Interessant in verschleierungsstrategischer Hinsicht ist, daß Rousseau Sophie von der Mutter erziehen läßt. Er vernatürlicht so nicht nur das von ihm konstruierte Frauenbild, er verschleiert auch sich selber als Verursacher des Konstrukts, indem er die Schuld doppelt an Frauen verschiebt. Erstens wollen sie selber Männern gefallen (das Opfer ist der Täter), zweitens läßt er die Mütter als Verwirklichungsagenten des Konstrukts auf den Plan treten. Das tun vergleichbar, wie man bei Mary Daly nachlesen kann, primitive Afrikaner und altchinesische Väter, die den Müttern überlassen, Töchtern die Klitoris herauszuschneiden oder Töchtern die Füße zu verkrüppeln. So kann die durch Delegation bewirkte tatsächliche Mittäterschaft von Frauen zur Verursacherschaft verschleiert werden. Die eigentlichen Verursacher, die Väter, die als Frauengeber von zurechtgestutzten Frauen Söhne auf sich verpflichten (was Rousseau mit seinem Emile ebenfalls bewerkstelligt, wenngleich nur in der Phantasie), und die nutznießenden Söhne bleiben so besonders gut «verschattet». Sehen wir uns noch diejenigen Eigenschaften an, durch die Sophie die Anerkennung, vor allem die Liebe Emiles gewinnt. Abgesehen davon, daß sie keusch ist, rein ist und kein übermäßiges Essen zu sich nimmt, wie es sich für eine tugendhafte Person überhaupt gehört, hat sie ganz persönliche Eigenschaften, auf denen ihre spezifische Liebenswürdigkeit beruht, zum Beispiel: «Sophie ist nicht schön, aber bei ihr vergessen die Männer die schönen Frauen, und die schönen Frauen
sind unzufrieden mit sich selbst. Beim ersten Anblick erscheint sie kaum hübsch, aber je länger man sie betrachtet, um so schöner wird sie. Sie gewinnt, wo andere verlieren, und was sie gewinnt, verliert sie nicht wieder. Man kann schönere Augen, einen schöneren Mund und eine eindrucksvollere Figur finden, aber keinen anmutigeren Wuchs, keine schönere Hautfarbe und weißere Hand, keinen niedlicheren Fuß, keinen süßeren Blick und keine eindrucksvolleren Züge. Sie fesselt, ohne zu blenden, sie entzückt, und man wüßte nicht zu sagen warum.»24 Sophie ist also schön, ohne schön zu sein. Sie hat aber auch geistige Eigenschaften, ohne welche zu haben. «Sophies geistige Eigenschaften berühren angenehm, ohne glänzend zu sein, sie sind gediegen, aber nicht tiefgründig; eigentlich kann man darüber wenig sagen, weil niemand bei ihr andere findet als bei sich selbst. Sie weiß immer das, was denen gefällt, die sich mit ihr unterhalten, obgleich ihr Geist nicht dem Bild entspricht, das wir uns vom Geist einer kultivierten Frau machen, denn sie hat sich nie durch Lektüre gebildet. Vielmehr verdankt sie ihre Bildung allem der Unterhaltung mit Vater und Mutter, ihrem eigenen Nachdenken und den Beobachtungen in dem kleinen Kreis der Welt, den sie bisher kennen lernte. Sophie ist von Natur aus heiter; in ihrer Kindheit war sie sogar ausgelassen; aber nach und nach hat ihre Mutter sich bemüht, ihr leichtsinniges Wesen zurückzudrängen, und zwar aus Furcht, ein bald eintretender plötzlicher Wechsel könne sie über den Augenblick belehren, in dem das absolut notwendig
sei. Sie wurde dann sittsam und zurückhaltend, sogar vor der Zeit, in der sie es sein mußte; und jetzt, wo die Zeit gekommen ist, wird es ihr leichter, den einmal angenommenen Ton beizubehalten, als es ihr geworden wäre, ihn anzunehmen, ohne den Grund des Wechsels durchblicken zu lassen. Es ist vergnüglich zu sehen, wie sie sich manchmal einem Rest der lebhaften kindlichen Gewohnheiten überläßt, sich dann plötzlich besinnt, schweigt, die Augen niederschlägt und errötet.»25 Schließlich weiß Sophie auch, wie man sich benimmt, ohne zu wissen, wie man sich «in der Welt» benimmt. «Sophie hat wenig Weltkenntnis, aber sie ist dienstfertig, aufmerksam und tut alles mit Anmut. Eine glückliche Naturanlage kommt ihr dabei mehr zustatten als alle Kunst. Sie hat eine gewisse feine Lebensart an sich, die weder an Formen hängt noch der Mode unterworfen ist, die nicht mit der Mode wechselt noch alles nur nach Herkommen tut, die aber alles tut aus dem großen Wunsch zu gefallen und die auch gefällt. Sie kennt keine allzu gewöhnlichen Höflichkeitsformen und sucht auch nicht nach gewählteren; sie sagt nicht, daß sie jemandem ‹sehr verbunden ist›, daß man ‹ihr viel Ehre antue›, daß man ‹sich keine Mühe machen möge› usw. Es fällt ihr noch weniger ein, Phrasen zu drehen; auf eine Aufmerksamkeit, eine Höflichkeit antwortet sie mit einer Verneigung oder einem einfachen ‹Ich danke Ihnen›.»26 Die Lächerlichkeit von Eigenschaften, die gar keine sind, die faktische Entindividualisierung des weiblichen Liebesobjekts, die nur den männlichen Wunsch nach einer
leicht unterdrückbaren Kindfrau kaschieren helfen soll, ist hier wohl leicht durchschaubar und bedarf keines Kommentars. Doch weshalb habe ich – da doch schon vorher klar war, daß Rousseaus Liebeskonzept von tatsächlichen Eigenschaften des Objekts abstrahiert – die spezielle Entindividualisierung Sophies eigens vorgeführt? Aus einem bestimmten Grunde. Auch hier gilt es, wie beim Feuergeben, das uns schmeichelt, aber unbewußt unbehaglich sein kann, genauer in uns selber hineinzuhören, nur aus einem umgekehrten Grunde: Wir lachen vielleicht, wenn wir Rousseaus Beschreibung lesen. Wenn wir aber ehrlicher mit uns selbst sind, müssen wir zugeben, daß gerade wir modernen Menschen am liebsten nur um unserer selbst willen geliebt werden wollen, um eines Selbst willen, von dem wir gar nicht sagen können, was an ihm dran ist – ich erinnere an das abgespaltene Selbst, die Seele, von der ich anläßlich Oscar Wildes Märchen «Vom Fischer und seiner Seele» gesprochen habe –, ein ganz unbestimmtes Selbst zwar, in eben dem wir uns aber großartig erhöht fühlen, wenn uns jemand zu lieben scheint, vor allem, wenn wir meinen, wir liebten zurück. Ist es nicht wunderbar, weder schön sein zu müssen, noch Verstand zu haben, sondern nur zu fühlen, vor allem, wenn man sich dabei erhaben fühlen kann, weil man in den Augen eines Mannes oder einer Frau vergöttlicht worden ist? An die Frauen gewandt: Mag auch der, der uns vergöttlicht, ein Mann sein, der uns nicht einmal verklärt, sondern uns nur beteuert, wie sehr er uns braucht. Wollen wir da wirklich fragen, ob sein «Brauchen» nur darauf hinausläuft, unsere Gutmütigkeit auszunützen? Wollen wir nicht vielmehr unsere «dummedle Gutmütigkeit» – wie Thrasymachos bei Platon sagt – zur Tugend verklären, weil uns das doch immerhin
«erhebt»? Sind wir nicht sogar richtig «gute» Menschen, wenn wir «arme Männer» nicht zugrunde gehen lassen? Rousseau schreibt über die keusche bzw. tugendhafte Frau, die, indem sie sanft ist, angeblich das Herz eines Mannes regiert: «Während sie die ganze Welt zu ihren Füßen sieht, triumphiert sie über alle und über sich selbst. In ihrem eigenen Herzen errichtet sie einen Thron, dem alle huldigend nahen; die zarten und eifersüchtigen, aber immer ehrfürchtigen Zuneigungen beider Geschlechter, die allgemeine und die eigene Achtung vergelten ihr die Kämpfe kurzer Augenblicke immer mit neuem Ruhm. Die Entbehrungen gehen vorüber, aber der Lohn bleibt beständig. Welche Freude für eine edle Seele, wenn sich Tugendstolz mit Schönheit vereinigt! Denken Sie sich eine Romanheldin verwirklicht, dann wird eine solche Frau ihr gegenüber doch köstlichere Freuden genießen als alle Lais’ und Kleopatras; und wenn ihre Schönheit einst auch vergangen ist, ihr Ruhm und ihre Freude werden bleiben, sie allein kann sich der Vergangenheit mit Freude erinnern.»27 Hat Rousseau nicht recht, soweit er leider ein sehr guter Kenner der Neigungen des Durchschnittsmenschen ist, der gerne Herz und Seele gegen Verstand und Leistung ausspielt? Mußte er nicht besonders die Seele und das Herz von Frauen ansprechen, die für einen trainierten Verstand eher auf dem Scheiterhaufen zu landen riskierten, geschweige denn hoffen konnten, Anerkennung für Leistungen männlicher Art zu finden? War es nicht ansprechend, sich als «sanfteres Geschlecht» statt dessen
über das männliche sogar erhaben fühlen zu können? Ich denke, es ist gar nicht verwunderlich, daß Rousseau zu einem Rattenfänger für vor allem bürgerliche Frauen seiner Zeit und späterer Zeiten wurde, und ich denke – wie schon angedeutet –: daß modernisierte Fassungen seines Liebeskonzepts auch heute noch scharenweise Anhänger und Anhängerinnen finden, ist nicht überraschend. Weshalb er Anhänger findet, dürfte klar sein, weshalb aber besonders auch Anhängerinnen, möchte ich noch kurz zu veranschaulichen suchen. Frauen leben auch heute noch unter dem Druck geschlechterdualistischer Klischees. Das bedeutet, daß sie für genuine persönliche Leistungen (außerhalb der Weiblichkeitsschablone) kaum Anerkennung emotional unterstützender Art erhalten, eher emotionale Ablehnung erfahren. Geliebt zu werden – als erotisches Objekt – bietet sich als einziger Ausweg an, das durch mangelnde Anerkennung lädierte Selbstwertgefühl zu kompensieren. Dies erklärt auch den merkwürdigen Umstand, daß selbst geschlagene Frauen zu lange bei ihren Männern bleiben; sie können einfach nicht glauben, daß auch noch ihr letzter «Joker», auf den sie gesetzt haben – die Liebe –, eine «Lusche» war. Darüber hinaus hat Rousseaus Liebeskonzept einen besonderen Reiz für Frauen, indem er darin viel weniger den männlichen Nutzen als vielmehr den weiblichen Nutzen verschleiert. Er exkulpiert im Namen der Liebe und damit emotional ansprechend, vor allem Frauen. Nicht nur, insofern er sie, wie die Männer auch, das Fühlen verdinglichend, der Verantwortung für die Wahl von Liebesobjekten enthebt und damit für das selbstverschuldete eigene Unglück oder das selbstverschuldete Unglück von Partnern. Er enthebt vor allem die Frauen der Verantwortung, über
die Welt Bescheid wissen zu müssen, sowie darüber, wie Männer tatsächlich sind – im Rahmen der Welt –, außer unter dem Blickwinkel der Liebe. Rousseaus Emile ist unter der Schirmglocke der Liebe ebenso entindividualisiert wie Sophie. Sie wird ihn nur als liebenden Ehemann und Vater ihrer Kinder kennenlernen, allerhöchstens noch als «charmanten» Gastgeber in der häuslich-ländlichen Idylle. Was er sonst tut, wie er im öffentlichen Leben handelt, kann sie nicht beurteilen, da sie selber von der Welt nichts versteht und kein politisches Wissen hat, braucht sie aber vor allem auch nicht, da sie als liebende Frau den Mann nicht fragen muß, was er sonst so tut, Hauptsache, er liebt sie. Unter letzterem Gesichtspunkt gesehen entindividualisiert also Rousseaus Liebeskonzept Frauen, entläßt sie aber damit auch ganz wunderbar aus jeglicher politischen Verantwortlichkeit. Sie können nichts dafür, wenn sie, anstatt Männern, die außerhalb oder sogar innerhalb der Familie Greueltaten begehen, ihre Liebe zu entziehen, diese Greuel unterstützen, indem sie ihren Männern weiter das Essen kochen oder ihnen sexuell zur Verfügung stehen. Machen wir uns nichts vor – das kommt Frauen sehr entgegen. Ich fragte, wie ich das häufiger tue, eine junge Frau – eine studierte –, ob sie den neuen Freund, den sie gerade kennengelernt hatte, nach seinem Beruf gefragt habe. Was für ein Unsinn, erwiderte sie, auf die Idee käme sie nie, das sei doch vollkommen irrelevant! Wie «irrelevant» solche Fragen sind, zeigt Jill Tweedie sehr schön in ihrem Buch «Die sogenannte Liebe»: «Fritz Stangl war ein kleiner österreichischer Polizist, als er seine Frau Theresa heiratete. Er liebte sie, und sie liebte ihn, und so liebten sie einander fünfunddreißig Jahre
lang, bis daß sein Tod sie schied. A-a-h. Wie romantisch. Immerhin gesteht Frau Stangl ein, daß sie furchtbar wütend wurde, als ihr Mann freiwillig der österreichischen Nazipartei beitreten wollte. ‹Ich wußte halt an dem Tag einfach, daß er mir nicht die Wahrheit sagte. Und der Gedanke, daß er mich die ganze Zeit belogen hatte – er, den ich des Lügens für unfähig hielt –, das war schrecklich für mich … oh, es war ein fürchterlicher, ein arger Schlag … mein Mann … ein Nazi … Das war unser erster wirklicher Streit – nein, mehr als ein Streit – ein ernster, tiefer Konflikt. Ich konnte wochenlang … nicht … Sie verstehen … ihm nahe sein; und wir waren uns immer so nahe – das war immer so wichtig für uns gewesen. Das Leben wurde plötzlich so schwer.› Aber natürlich nicht zu schwer – Liebe überwindet solche Hindernisse, dazu ist die Liebe ja da. Frau Stangl, selbst gläubige Katholikin, brachte es auch fertig, das nächste Hindernis zu überwinden, wenn auch unter bösen Vorahnungen. Fritz unterschrieb das Beitrittsformular der Partei, womit er zugleich seine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche aufkündigte. ‹Das war der zweite furchtbare Schlag für mich. Schließlich konnten wir überhaupt nicht mehr darüber reden.› Ihre Liebe wurde noch stärker auf die Probe gestellt, als Fritz Stangl als Polizeiverwalter in Berlin-Charlottenburg, einem hübschen, vornehmen Viertel der Hauptstadt, zu der ‹Gemeinnützi-gen Stiftung für Anstaltspflege› beordert wurde. Dort wurden ihm seine zukünftigen Aufgaben mitgeteilt. Er meldete sich auf Schloß Hartheim in der Nähe von Linz, erfreut darüber, immer noch in Österreich und in der Nähe seiner Frau sein zu können. Seine Aufgabe bestand darin, das
Vergasen von ‹Patienten› zu überwachen, die erste Stufe des Hitlerschen Euthanasieprogramms. Über mehrere Jahre, während derer Tausende von Patienten auf Schloß Hartheim getötet wurden, sah Fritz Stangl seine Frau häufig. Sie fragte, was er dort zu tun habe, aber nur beiläufig, da sie sich daran gewöhnt hatte, daß ihr Fritz über dienstliche Angelegenheiten nicht sprechen konnte. Frau Stangl wußte, wie sie selbst zugibt, von der Existenz des Euthanasieprogramms, sagt aber, daß sie bis nach dem Krieg nicht gewußt habe, daß Schloß Hartheim ‹so ein Ort› war. Fritz Stangls zweite Beförderung machte ihn zum Kommandanten von Sobibor. ‹Ich kann Ihnen nicht beschreiben, wie das war›, sagte Stangl zu Gitta Sereny, die ihn nach dem Krieg im Gefängnis interviewte. Jetzt war Frau Stangl mit einem Mann verheiratet, dessen Arbeit darin bestand, den Massenmord an einer ganzen Rasse zu überwachen – was zweifellos eine Beförderung bedeutete, nachdem es zunächst nur um das Vergasen sogenannten (lebensunwerten Lebens) gegangen war, geisteskranker Krimineller, Schwachsinniger, Tuberkulosekranker und natürlich auch der dort inhaftierten Zigeuner, Homosexuellen und politischen Gegner. Unter Stangl wurden etwa 100 000 Männer, Frauen und Kinder vergast. Herr Stangl ließ sich Reitstiefel, eine weiße Reithose und eine passende Jacke nach Maß anfertigen. Als Frau Stangl während eines ihrer Besuche bei ihrem Mann in einem Haus in der Nähe wohnte, erzählte ihr ein betrunkener Offizier haarklein, was in Sobibor vor sich ging. Sie war entsetzt.»28 Die Geschichte geht indes so weiter wie zuvor. Frau Stangl verweigert sich ihrem Mann sexuell, um dann doch wieder
mit ihm zu schlafen. Als er schließlich zum Kommandanten von Treblinka befördert wird, wo unter seiner Regie mindestens 1,2 Millionen Menschen ermordet werden, wiederholt sich das «Sich-Entsetzen- und Klein-Beigeben-Spiel». Wie «wahre Liebe» Mördern förderlich ist, um Mittäterschaft mystifizierend zu verstellen, dürfte anhand des Zitierten klar geworden sein. Es kommt mir jedoch auch noch auf etwas anderes an, das heißt darauf, die Haken, die eine wahre Liebende schlägt, wenn sie als Schuldige ertappt wird, zu demonstrieren. Gitta Sereny stellte Frau Stangl, wie Jill Tweedie schreibt, im Jahre 1971 folgende Frage: «Würden
Sie mir sagen, was (Ihrer Meinung nach) geschehen wäre, wenn Sie, an irgendeinem Punkt, Ihren Mann vor eine absolute Wahl gestellt hätten; wenn Sie zu ihm gesagt hätten: ‹Also hier ist’s, wie ich es seh: Ich weiß, es ist schrecklich gefährlich, aber entweder du löst dich aus dieser schrecklichen Sache heraus, oder die Kinder und ich werden dich verlassen.)… Wenn Sie ihn vor diese Alternative gestellt hätten, welche, glauben Sie, hätte er gewählt? Frau Stangl konnte erst nach einer Stunde auf diese Frage antworten. Sie lag auf dem Bett und weinte, dann faßte sie sich und antwortete: ‹Ich habe sehr nachgedacht. Ich weiß, was Sie wissen wollen. Ich weiß, was ich tu, wenn ich Ihre Frage beantworte. Ich werde sie beantworten, weil ich glaub, daß ich es Ihnen schuldig bin, Ihnen, anderen und mir selbst. Ich glaub, daß wenn ich Paul (ihr Kosename für Stangl) jemals vor diese Alternative gestellt hätte:
Treblinka oder ich, er würde ... ja, er hätte letzten Endes mich gewählt.)»29 Jill Tweedie meint, Frau Stangl glaubend, diese hätte ihren Mann wirklich zur Flucht überreden können. Ich bin da eher skeptisch. Ich glaube, daß sie genau vor der möglichen Wahrheit zurückschreckte, daß ihr Mann Hitler mehr liebte als sie. Das Erschreckende ist jedenfalls, daß sie im Namen der Liebe schon wieder ihre Mitschuld verklärend exkulpiert: Sie war ja nur ein Opfer ihrer Liebe zu ihm. Hätte sie ihn nicht zu sehr geliebt, hätte sie ihn vor die Alternative gestellt – Hitler oder ich –, er hätte aus Liebe sie gewählt. Wie kann sie da so sicher sein? Was liebte er denn an ihr außer ihrer Dusseligkeit? Eine ethische Person war sie ja nicht, sonst hätte sie ihm nicht jedesmal nachgegeben. Das Ethische an ihr konnte er also gar nicht lieben, als Nazi-Scherge schon gar nicht. Was bildete sie sich also jetzt noch ein auf ihr unbestimmtes, abgespaltenes Selbst, das er «geliebt» hat? Das Verrückte ist, daß sie ihre Mitschuld sogar größer macht, als sie ist, aber nur um sich selber schon wieder zu verklären. Wie deutlich zeigt das die Verhaftung dieser Frau an ein Liebeskonzept, in dem sie – entindividualisiert – sich dennoch überhöht, und das heißt: dem sie aus ganz egoistischen Gründen anhängt. Ob sie nicht in Wahrheit, wie es für Frau Höß und Frau Frank belegt ist, schon zu Lebzeiten ihres Mannes – ich persifliere Rousseau – die ganze KZ-Welt zu ihren Füßen sah, triumphierend über alle? Soviel zu Rousseaus Liebeskonzept als Strategie der exkulpativen Apperzeptionsverweigerung, speziell als Entindividualisierung von Schuld durch Entindividuali
sierung von Individuen. Daß dies Konzept in modernisierter Form auch heute großen Anklang findet, möchte ich kurz anhand Erich Fromms Buch «Die Kunst des Liebens» belegen (es fand reißenden Absatz, und reißenden Absatz finden Bücher nur, wenn sie weiterempfohlen werden). Ganz klar formuliert hier Fromm, daß sexuelle Liebe keineswegs schnöder sexueller Befriedigung dient, sondern daß es sich dabei «um das Bedürfnis nach Einheit mit dem anderen sexuellen Pol» handele. Und er formuliert weiter, was sexuelle Pole sind: «Männlichkeit und Weiblichkeit zeigen sich ebenso im Charakter wie in Sexualfunktionen. Man kann den männlichen Charakter definieren, indem man ihm Eigenschaften wie Eindringungsvermögen, Führungsbefähigung, Aktivität, Disziplin und Abenteuerlust zuschreibt; den weiblichen Charakter dagegen kennzeichnen Eigenschaften wie produktive Aufnahmefähigkeit, Beschützenwollen, Realismus, Geduld und Mütterlichkeit.»30 Die «wahre» sexuelle Liebe zwischen diesen Polen, die, die zur Einheit antreibt, ist primär die «gebende» Liebe nach Fromm, denn «im Akt des Schenkens erlebe ich meine Stärke, meinen Reichtum, meine Macht»31. Im Akt des Schenkens kommt «die eigene Lebendigkeit zum Ausdruck»32. «Das elementarste Beispiel dafür», schreibt er weiter, «finden wir im Bereich der Sexualität. Der Höhepunkt der männlichen Sexualfunktion liegt im Akt des Gebens; der Mann gibt sich selbst, gibt sein Geschlechtsorgan der Frau. Im Augenblick des Orgasmus gibt er ihr seinen Samen.» Und die Frau? Da wird
es mal wieder schwierig: «Auch sie gibt sich; sie öffnet die Tore zum Innersten ihrer Weiblichkeit; im Akt des Empfangens gibt sie.»33 Da Erich Fromm hier so verlogen das Empfangen auf Frauen projiziert, um es doch verkrampft als Geben anzupreisen, wundert mich nicht – nebenbei bemerkt –, daß mein Freund Ali, der das Verhältnis zwischen Mann und Frau viel unverkrampfter sieht, sich entsprechend verhält. Das heißt: Er leiht sich von mir zwar heute, da ich platonisch mit ihm befreundet bin, immer nur zwanzig Mark, um sie nicht zurückzuzahlen. Früher aber, als ich noch mit ihm ab und zu ins Bett ging, lieh er sich jedesmal fünfzig Mark, um sie nicht zurückzuzahlen. Warum? Er hat mir ja anderswo viel «gegeben». Ali beiseite, ist für Fromm die wahre sexuelle Liebe aber nicht nur die «gebende» Liebe, sondern vor allem das Verlangen, in das «Geheimnis» eines anderen Menschen einzudringen. Da denken wir wohl, ach, also hat nach Erich Fromm Frau Stangl ihren Mann nicht geliebt? Weit gefehlt! – Denn: «Liebe ist ein aktives Eindringen in den anderen, wobei das eigene Verlangen, ihn zu erkennen, durch die Vereinigung gestillt wird. Im Akt der Vereinigung erkenne ich dich, erkenne ich mich, erkenne ich all die anderen, und ich weiß doch nichts. Ich erkenne auf die einzige Weise, in welcher dem Menschen Erkenntnis des Lebendigen möglich ist: im Erleben von Einheit – und nicht aufgrund des Wissens, das mir mein Verstand vermittelt... Im Akt der Liebe, im Akt der Hingabe meiner selbst, im Akt des Eindringens in den anderen finde ich mich selbst, entdecke ich mich selbst, entdecke ich uns beide, entdecke ich den Menschen.»34
Nachdem das «liebende Erkennen» bei Fromm so – frei von Verstand, versteht sich, unterschwellig aber ganz männlich, eindringlich geworden – zwar gar nichts über den anderen weiß, wohl aber eine Unperson, den Menschen entdeckt, versteht man wenigstens, warum Frau Stangl – ganz weiblich, uneindringlich – die Unperson in ihrem Mann nicht entdecken konnte. Ansonsten verstehe ich an Fromms Liebeskonzept gar nichts, außer seiner Ähnlichkeit zu Rousseaus Vereinigung von Emile und Sophie. Ich schätze jedoch angesichts solcher Lektüre einen Autor, der 1981 einen Kontrast-Aufsatz geschrieben hat, nämlich Wolfgang Pohrt, ein Autor meiner Generation, dem es aber nichts ausmacht, auch auf die eigene Generation zu schimpfen. Sein Kontrast-Aufsatz ist in seinem Sammelband «Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation» publiziert und handelt über die «käufliche Liebe» in den Romanen Honoré de Balzacs. Der Lektüre solcher Romane, konstatiert hier Wolfgang Pohrt, enthält sich der gegenwärtige aufgeklärte deutsche Lehrer – vor allem, weil er auf Kapitalverhältnisse schlecht zu sprechen ist. Pohrt schreibt: «Und wenn er aufs Kapitalverhältnis gerade mal besonders schlecht zu sprechen ist, so beschuldigt er es eines Sakrilegs: Es habe selbst vor dem Heiligsten nicht haltgemacht, denn es verwandele die Gefühle, die Lust, die Erotik, die Sexualität in eine Ware. Da stimmen nicht nur Sozialisten zu, denn Liebe gilt in Deutschland für ein Ding, dessen Reinheit durch Geld besudelt und verdorben würde. Anders gesagt: die Liebe darf nichts kosten.»35
Das gilt wohl genauso für Amerika, merke ich an, denn erst recht dort wird Erich Fromm gelesen, und wie wir von ihm erfahren, «schenkt» man ja in der Liebe «sich selbst», also wozu noch etwas anderes? Pohrt schreibt weiter: «In den Romanen Balzacs hingegen gibt es keine preiswerte Liebe, sondern sie ist immer teuer und häufig ruinös.»36 Er illustriert dann, wie es in etwa in den Romanen Balzacs zugeht: «Die Strapazen und Entbehrungen, die aufstrebende junge Männer um ihrer Liebschaft zu einer großen Dame willen ertragen müssen, zählen dabei noch zu den kleinen Opfern. Die großen fordern von denen, die sie bringen können, mit dem finanziellen auch den gesellschaftlichen und moralischen Ruin. Die Gräfin Anastasie de Restaud zum Beispiel liebt den Glücksritter, Schwerenöter und Spieler de Marsay und bezahlt deshalb seine Schulden. Die astronomischen Summen, die ihr Geliebter verschlingt, stiehlt sie aus dem Familienbesitz, und sie riskiert damit die Existenz ihres Gatten und die Zukunft ihrer Kinder. Sie schröpft bedenkenlos ihren Vater, den alten Goriot, der seine Töchter abgöttisch liebt und ihnen deshalb erst sein Vermögen, dann seine Rente, seinen bescheidenen Komfort, seine Andenken und schließlich sein Leben opfert. Alle Galanterie, alle Koketterie, alle Liebeleien, Tändeleien, Turteleien, all jene delikaten Feinheiten im Verkehr der Geschlechter, die Balzac beschreibt, lösen sich ebenso wie tödliche Leidenschaft niemals in substanzlose Gefühlsduselei
auf, weil sie von einem unerbittlichen Gesetz beherrscht werden: Wer liebt, muß zahlen. Die verhängnisvolle Rolle, welche de Marsay für die Familie Restaud spielt, spielt für die Familie Hulot Josépha: ein schönes Arbeitermädchen, welches mit fünfzehn Jahren die ausgehaltene Geliebte eines reichen Bürgers wurde. Das gelehrige Kind entwickelte sich unter der Protektion vornehmer Gönner zu einer berühmten Sängerin und raffinierten Kurtisane. Mit ihrer Geldgier, deren Ursprung nicht Geiz oder Erwerbssinn ist, sondern jene kultische Verschwendungssucht, die noch heute das Showbusiness an dessen sakrale Herkunft erinnert; mit ihrem Verlangen also, der Liebhaber müsse als Preis für die Glückseligkeit opfern, ruiniert sie den Baron Hulot. Als dieser Spuren des Alters zeigt und sich außerdem in finanziellen Schwierigkeiten befindet, läßt sie sich vom Herzog von Herouville ein Stadtpalais schenken, wo Hulot, völlig ahnungslos, sie zur Rede stellt. Zwischen beiden kommt es zu einer kurzen Szene, in der Josépha erklärt: ‹Hör mal zu, bist du die sechshunderttausend Francs wert, die Haus und Einrichtung kosten? Kannst du mir Staatspapiere mit dreißigtausend Francs Zinsen verschaffen, wie der Herzog sie mir in einer Tüte aus weißem Papier voller Krämerbonbons geschenkt hat …? Das ist doch ein hübscher Einfall! … Mein Gott, du armer lackierter Kater, du solltest mir dankbar sein; ich verlasse dich in dem Augenblick, da du mit mir zusammen die Zukunft deiner Frau und die Mitgift deiner Tochter vernascht hättest … Oh, du weinst!› Der grausame Spott, mit welchem die erfolgreiche Kurtisane den alternden, zahlungsunfähig gewordenen Liebhaber davonjagt, denunziert weder ein besonders
kaltherziges, raffgieriges Biest oder einen besonders blöden Trottel, noch verhöhnt er mit dem billigen Zynismus des resignierten Spießers die Liebe, sondern er denunziert und verhöhnt die einfältige Vorstellung, welche zwischen der reinen, echten und der käuflichen Liebe strikt unterscheidet. Die Liebe ist eine kostbare Ware und fordert deshalb einen hohen Preis – so lautet die oberste aller grammatischen Regeln. Erst durch die Kühnheit, diese mächtige Regel zu verletzen, entsteht dann manchmal für Augenblicke Poesie.»37 Und noch einen Abschnitt aus Pohrts Aufsatz möchte ich zitieren: «Erotische Verhältnisse zwischen Gleichberechtigten, gar Kollegen – die partnerschaftliche Beziehung, wie man heute sagen würde – sind hingegen bei Balzac verpönt. Sie fallen gewissermaßen unter ein erweitertes Inzesttabu. Erst aus dem exogamen Reiz des fremden Standes, der fremden Klasse entstehen bei Balzac im Verhältnis der Geschlechter Lust und Liebe. Die aufstiegssüchtigen jungen Talente wie de Valentin, de Rubempré oder Rastignac, die bettelarm und unbekannt sind und sich stets in die reichsten Damen aus der vornehmen Gesellschaft verlieben, sind deshalb nicht mit abgebrühten Heiratsschwindlern oder verbissenen Karrieristen modernen Stils zu verwechseln. Da sie weder verhärtet noch berechnend sind, lieben sie in der vornehmen Frau nicht ein Mittel, um Macht und Einkommen zu ergattern, sondern sie lieben in ihr den Genuß, den ihnen, die im Elend leben, nur die fremde Pracht glitzernden Reichtums zu gewähren vermag. Selbst der unbändige
Wille, zu den vornehmsten Kreisen aufzusteigen, fällt bei ihnen unter das Exogamiegebot, gehört zur Liebe zum Fremden. Jene erst reduziert die Frau nicht mehr auf den abstrakten Geschlechtsunterschied, sondern läßt das Geschlecht zur Person sich entfalten. Und als Personen, deren Geschlecht kein separates Merkmal bleibt, sondern Wohnung, Kleidung, Stand, Lebensweise prägend an der Zivilisation Anteil nimmt, sind die Geschlechter füreinander nicht mehr Mittel der Bedürfnisbefriedigung, sondern Objekte von Begierde, Lust und Liebe. Sie zielt, wo sie diesen Namen verdient, gerade nicht, wie man in Deutschland denkt, auf das höchst banale Wesen, sondern sie zielt auf die Accessoires, auf die Begleitumstände, auf die Erscheinung. Sie verlangt mehr als Mann und Frau und eine Matratze.»38 Wir sollten indes nicht glauben, daß Pohrt uns an fragwürdigen Idolen der Aristokratie oder Großbourgeoisie mißt. Auch und gerade die herrschaftsfreien «Buschleute» zum Beispiel lassen sich die Liebe was kosten. Ich zitiere daher ergänzend aus Marjorie Shostaks Buch «Nisa erzählt», was Nisa, die Buschfrau unter anderem so über die Liebe plaudert: «Aber als Frau sitzt du nicht nur am Feuer und tust nichts ... du hast Liebhaber. Du sitzt auch nicht nur bei deinem Mann, bei dem Mann in deiner Hütte; nicht nur bei einem Mann. Ein Mann kann dir nur wenig geben. Ein Mann gibt dir nur eine Art Nahrung. Aber wenn du Liebhaber hast, bringt dir der eine etwas und der nächste etwas anderes. Der eine kommt nachts mit Fleisch, ein anderer mit Geld und wieder ein anderer mit Perlen.
Auch dein Ehemann tut etwas für dich … Aber nur bei einem Mann sitzen? Nein, das tun wir nicht. Hat ein Mann genug Gedanken für dich im Kopf? Es gibt viele Arbeiten, die eine Frau tun muß. Wohin sie auch geht, sollte sie Liebhaber haben. Macht sie einen Besuch und ist allein, schenkt ihr jemand Perlen. Ein anderer gibt ihr Fleisch, und ein dritter gibt ihr etwas anderes zu essen. Wenn sie dann in ihr Dorf zurückgeht, ist sie gut versorgt worden. Auch wenn sie mit ihrem Ehemann irgendwohin geht, sollte sie ein paar Liebhaber haben, denn jeder gibt ihr etwas. Sie bekommt von dem einen Mann etwas, von einem anderen etwas anderes und von einem dritten wieder etwas anderes. Es ist, als seien ihre Genitalien Geld wert … Pfunde! Rand! Schillinge! (Sie lacht.) Sie nimmt von jedem Ort Geschenke mit und füllt ihren Mantel mit Perlen, Kleidern und Geld … Aber wenn eine Frau zu Hause bleibt, ist es nicht anders. Wenn sie mit ihrem Mann wie gewöhnlich zusammenlebt, sagt er eines Tages: ‹Ich gehe für ein paar Tage weg.› Sie bleibt zurück und trifft sich mit ihren Liebhabern. Der eine Liebhaber lebt vielleicht im Nachbardorf und hat ein Tier erlegt. Er nimmt ein Stück Fleisch und bringt es ihr. Es ist schönes Fleisch, saftig und sehr fett. Er setzt sich zu ihr, kocht es, bis die Suppe schön fett und das Fleisch weich ist. Die Frau ißt, und ihr Herz ist glücklich. Sie denkt: ‹Oh, mein Mann ist gerade gegangen, und ich sitze hier und trinke diese wunderbare Fleischbrühe.›»39 Natürlich hätte ich konkludierend auch noch einmal auf Platons Gegenbild zu Rousseaus «wahrer Liebe» rekurrie
ren können. Aber ich meine, daß ein solcher Rekurs wenig fruchtet, wenn man nicht überhaupt erst einmal wieder den Sinn für «wahre Leidenschaft» gegen sogenannte «wahre Liebe» à la Rousseau oder Fromm erweckt und ins Feld führt – macht uns das doch wenigstens deutlich, daß Irrationalität was kostet. Und daher schließe ich mich Pohrts Schlußworten an: «Wenn Sie nun, verehrter Leser, in ihrer partnerschaftlichen Beziehung oder, wie man in den zwanziger Jahren das Ding so sportlich nannte, Kameradschaftsehe nicht ganz glücklich werden; und wenn Sie in der Heimsauna, unter dem Solarium oder am Nacktbadestrand bisweilen das Gefühl beschleicht, dies alles reize Sie nicht mehr, dann können Ihnen weder der eingangs erwähnte fortschrittliche Lehrer noch Oswald Kolle oder gar Beate Uhse helfen. Helfen kann Ihnen auch nicht Balzac. Bei ihm aber können Sie wenigstens nachlesen, was Sie verpaßten.»40
3. Die Schuld des Opfers in der Freudschen Psychoanalyse Im Rahmen der Behandlung prototypisch moderner Exkulpationsstrategien, insbesondere solcher, die im Gewande des Erkenntnisfortschritts auftreten, um in Wahrheit Erkenntnisverhinderung zu bewirken, komme ich nicht umhin, mich der vertracktesten Verschleierungsstrategie unseres Jahrhunderts zuzuwenden: der Psychoanalyse. Ich sage bewußt «ich komme nicht umhin», denn als ich dieses Kapitel zu formulieren begann, stellten sich Schwierigkeiten ein, die mir beim Formulieren anderer Kapitel zu meinem großen Glück erspart geblieben sind. Ich saß vor meinen leeren Blättern und verfiel ins Grübeln; ich sehnte mich danach, statt schreiben zu müssen lieber schlafen zu gehen. Und das passierte mir, obwohl ich bei der Konzeption dieses Buches gerade Freud ständig im Auge hatte – habe ich mich doch jahrelang mit Freud beschäftigt, über ihn geschrieben, mich über ihn geärgert und schließlich – fast zu spät – entdeckt, was der Grund meines Unbehagens an ihm war und ist. Endlich schien die Gelegenheit gekommen, mich darüber auszusprechen. Aber ich war wie gelähmt. Mit Freud wieder unmittelbar konfrontiert, verfiel ich auch wieder seinen Sirenentönen: Will ich vielleicht doch nur meinen Vater abservieren, aus Rachsucht, weil ich ihn verehrte, er mich aber nicht? Unsinn! Ich weiß, daß ich meinen Vater gar nicht für mich haben wollte, ich fand ihn schon immer schrecklich. Er war es, der mich in eine Kameraderiegemeinschaft hineinzog, deren Ablehnung mir Schuldgefühle machte. Aber ob ich darüber nicht jetzt unbedingt nachdenken muß, auf
der Couch? Und Lucia, meine heißgeliebte Freundin, die Psychoanalytikerin ist, was wird sie sagen, wenn ich Freud ohne jegliche Umschweife angreife? Weiß ich denn nicht selber, daß es «richtig idiotische» Feinde der Psychoanalyse gibt, mit denen ich tatsächlich nicht auf einer Bank sitzen will, Leute, die glatt abstreiten, ein Unterbewußtes oder Unbewußtes zu haben, vor allem dann, wenn sie es gerade mal wieder deutlich beweisen, indem sie ein Bierglas umkippen, wenn man sie auf ihre von ihnen geschiedene Frau anspricht? Muß ich mich also rechtfertigen, ewig erklären, warum – trotz aller sogenannten Verdienste Freuds, trotz einiger progressiver Psychoanalytiker wie zum Beispiel Ronald Laing, Thomas Szasz oder Alice Miller – ausgerechnet ich was gegen «die» Psychoanalyse sagen möchte? Ja, Freud, wenn man ihm zu nahe kommt, schafft das. Er beherrscht die Taktik, dem Opfer oder Gegner ein schlechtes Gewissen zu machen, um Greueltäter zu exkulpieren, sehr sublim – hat er doch das Unbewußte entdeckt, über das wir nicht Herr sind und deshalb nie behaupten können, es wäre nicht der wahre Verursacher aller Übel in der Welt, es sinne (unbewußt natürlich) gerade auf Böses, während wir (bewußt) das Gute im Auge haben, eben deswegen aber doch die Schuldigen sind und kein Tribunal finden können, das uns freispricht, weil man ja nie wissen kann, ob nicht doch unser Es gerade wieder zu frech geworden ist. Kafkas induzierte Schuldgefühle im Gedächtnis und meinen eigenen zum Trotz habe ich deswegen beschlossen, so gut wie ohne vorgestellte Rechtfertigung, bis auf das, was ich eben gesagt habe, zur Sache zu kommen und Sigmund Freud als Verschleierungsstrategen vorzuführen.
Daß ich auf Freud zu sprechen komme, hat einen einfachen Grund. Obgleich die Freudsche Psychoanalyse in ihren Anfängen äußerst umstritten, teilweise sogar verpönt gewesen ist und obgleich vor allem der Wissenschaftscharakter ihrer Methode noch heute gern, vor allem von positivistischen Psychologen, in Frage gestellt wird, haben sich psychoanalytische Denkmuster Schrittchen für Schrittchen einen Platz am durchschnittlichen Bildungshorizont erobert. Das ist in Deutschland aufgrund des Nationalsozialismus langsamer geschehen als etwa in Amerika oder Frankreich, auch viel ambivalenter, was sich zum Beispiel darin dokumentiert, daß vulgärpsychoanalytische Kenntnisse gerne dazu eingesetzt werden, ernsthafte Probleme zu verwitzeln, und viel problematischer, was sich unter anderem darin zeigt, daß bei einigen «Grünen» die groteske Idee aufgekommen ist, die Strafbarkeit der Unzucht mit Kindern aufzulockern, da Kinder ja nach Freud mit natürlichen sexuellen Bedürfnissen ausgestattet sind und nur durch sexuelle Verbote Schaden nehmen, nicht durch sexuelle Akte. (Der letzte Gedanke ist natürlich nicht «freudianisch».) Dennoch sind psychoanalytische Kenntnisse, verzerrte und weniger verzerrte, mittlerweile auch in Deutschland ins Alltagsbewußtsein vorgedrungen, geradezu verinnerlicht worden. Man trifft, zumindest unter halbwegs gebildeten Menschen, die allerdings gleichzeitig immer rarer werden, kaum noch jemanden, der nicht wüßte, daß wir alle einen Ödipuskomplex haben (oder sein Pendant: den Elektrakomplex), daß Kinder sexuelle Wesen sind und daß man, sieht man sich außerstande, Probleme alleine zu lösen, erwägen müßte, ob man nicht doch eine psychoanalytische Beratung in Betracht zieht, um ungelösten Kindheitstraumen (Schockerlebnissen) auf
die Spur zu kommen, die möglicherweise für gegenwärtige Irritationen verantwortlich zu machen sind. Scheut man den Weg zum klassischen Psychotherapeuten, der aus deutscher Sicht eine amerikanisch-dekadente Unsitte ist, vor allem, weil in Deutschland nicht nur die Liebe, sondern auch die Selbsterkenntnis möglichst wenig kosten soll, erwägt man zumindest, ob man nicht ein Wochenende in einer Selbsterfahrungsgruppe verbringen sollte. Weniger üblich ist es, sich mit den Grundlagen der Psychoanalyse ernsthaft und zugleich kritisch zu beschäftigen, obwohl gerade das angesichts der verschleierungsstrategischen Implikationen der Freudschen Psychoanalyse dringend erforderlich ist – übernimmt man doch mitsamt der Verinnerlichung unreflektierter psychoanalytischer Denkmuster zugleich unbemerkt deren verschleierungsstrategisches Fundament, und zwar zum eigenen, möglicherweise sehr großen Schaden. Dies ist der Besorgnisgrund, aus dem heraus ich mich Freud zuwende, der analytische Grund ist ganz einfach der, daß Freud bei näherer Betrachtung im Gewande psychoanalytischer Aufklärung exkulpative Apperzeptionsverweigerung betrieben hat. Eine Apperzeptionsverweigerung, die er hartnäckig bis an sein Lebensende zu einer dogmatischen Festung ausgebaut hat, welche letztere bis heute von seinen orthodoxen Anhängern mit Zähnen und Klauen verteidigt wird. Aus einem Kapitel über prototypisch moderne Exkulpationsstrategien ist Freud daher – für mich zumindest – gar nicht wegzudenken, vor allem, weil er unseligerweise eine ganz primitive Verschleierungsstrategie, zu der parasitäre Menschen am leichtesten greifen, nämlich die Verschiebung von Schuld auf das Opfer, unter eine modernisierte Fassade gebracht hat, eine
Fassade, deren Tünche aber so gut war, daß progressive Nachfolger wie Wilhelm Reich oder Herbert Marcuse sie als «sexuelle Befreiung» feiern konnten. Bevor ich dies erläutere, muß ich noch auf drei Bücher verweisen, denen zwar meine heutige Betrachtung Freuds nicht entsprungen ist, die mir aber Kenntnisse vermittelt haben, durch die ich in ihr bekräftigt worden bin. Das erste ist, in chronologischer Reihenfolge der deutschen Veröffentlichungsdaten, Marianne Krülls Buch «Freud und sein Vater»1. Das zweite ist das schon zitierte Buch von Alice Miller «Du sollst nicht merken»,2 und das dritte ist Jeffrey M. Massons Buch «Was hat man dir, du armes Kind, getan?»3 Ich werde auf Massons Buch noch zurückkommen, weil es von den drei aufgezählten Büchern am meisten dazu geeignet ist, einem über Freud die Augen zu öffnen. Es hat ihn übrigens seinen Posten als Direktor des Freud-Archivs in London gekostet. Ansonsten belasse ich es bei meinem Hinweis auf diese Bücher, und zwar aus folgendem Grunde: Als ich im Wintersemester 1986/87, schon längere Zeit beschäftigt mit der Frage, was Menschen sich im Alltag so alles in strategischer Verkleidung antun, darauf kam, daß Sigmund Freud ein großer Verschleierungsstratege war, hatte ich keines der genannten Bücher gelesen. Ich war nach einem längeren professionellen Abstecher in die medizinische Psychologie schon lange wieder in die politische Wissenschaft zurückgekehrt und las psychoanalytische und psychologische Bücher nur mehr am Rande, vor allem deshalb, weil ich zu viele Erfahrungen mit Neurotikern und Psychotikern gemacht hatte, die mir die gängigen Theorien über solche Personen höchst dubios erscheinen ließen. Was ich an ihnen verstehen
konnte, hatte ich bei den Antipsychiatern, wie eben etwa Ronald Laing, David Cooper oder Thomas Szasz, gelernt, die orthodoxe Psychoanalyse steuerte dazu aus meiner Sicht nichts mehr bei. Außerdem hatte ich – wie ich nicht verhehlen kann – auch überhaupt keine Lust mehr, andauernd Neurotiker und Psychotiker zu verstehen. Ich fand, sie sollten – was mich betraf und ihren schlechten Charakter – mal für eine Weile unverstanden bleiben. Ich habe mich zwar nicht dazu verstiegen, sie, wie Freud in seinem späteren Alter, als «Gesindel»4 zu diffamieren oder wie C. G. Jung in «wertvolle» und «weniger wertvolle» Menschen zu unterteilen5, aber ich dachte mir, ganz wie die italienischen Antipsychiater das für sich in den 70er Jahren auch beschlossen haben, sie sollten alle mal versuchen, alleine zurechtzukommen. Das wäre wohl das beste für sie und für mich. Daß ich deswegen versäumte, gerade die genannten kritischen Bücher zur orthodoxen Psychoanalyse zu lesen, war zwar eine Schande, aber eine, die ich auch heute noch auf die leichte Schulter nehme. (Ich hatte übrigens sehr wohl Alice Millers Buch «Am Anfang war Erziehung» gelesen, aber es gefiel mir aus bestimmten Gründen nicht, auf die ich noch zurückkommen werde, und deshalb habe ich ihre späteren Bücher erst in jüngster Zeit nachgelesen.) Auf die leichte Schulter nehme ich diese Schande indes nur aus zwei Gründen: Erstens hatte ich mir damals längst ohnehin versagt, im Leben meiner Bekannten psychoanalytisch herumzupfuschen, zweitens – und das ist der entscheidende Grund im Hinblick auf das, was ich hier sagen möchte – erlaubte mir meine literarische Ignoranz einen ganz unverstellten Blick auf die sanfte Gewalt in Freuds Theorie, den ich sicher nicht gehabt hätte, wenn ich zum Beispiel vorher Alice Miller
oder gar Jeffrey Masson gelesen hätte, belegen sie doch allzu deutlich, daß Freud richtige Greueltaten verschleiert hat, ja sogar, wie man bei Masson nachlesen kann, selber an Patienten begangen hat. Mir geht es aber vornehmlich um die Verdeutlichung «sanfter Gewalt» im Sinne allgegenwärtiger Strategien, mit deren Hilfe nicht nur gewalttätige Greuel, sondern Ausbeutung und Unrecht materieller wie seelischer Art verschleiert werden. Demgemäß geht es mir auch besonders um die am Beispiel Kafkas schon einmal akzentuiert versuchte Verdeutlichung der Verschleierung seelischer Grausamkeit, die darin besteht, die Individualität eines anderen taktisch zu ignorieren, zu invalidieren, zu diffamieren und gleichzeitig parasitär zu vereinnahmen, indem man den anderen zum Publikum eigener Allmachtsphantasien degradiert oder überhaupt für alle möglichen parasitären Interessen seelisch verfügbar, disponibel macht. Es ist auch gerade dieser verschleierte seelische Mißbrauch, der verschleierte seelische Vampirismus oder Kannibalismus – wie ich es nennen möchte –, der aus Gründen, die ich zu Anfang erwähnt habe, spezifisch modern ist, und deshalb soll mir Freud hier dazu dienen, eben diese Seite seines Denkens und Tuns unter dem Aspekt seiner exkulpativen Apperzeptionsverweigerungshaltung zu illustrieren. Dazu eignet sich ein spezieller Fall aus Freuds Praxis, der Fall «Dora S.», der von Freud 1905 unter dem Titel «Bruchstück einer Hysterie-Analyse» veröffentlicht worden ist. Dieser Fall ist in keinem der von mir eingangs zitierten Bücher zur Dokumentation von Freuds Erkenntnisunterschlagung, der sich alle drei Bücher widmen, herangezogen worden, wohl weil er zu wenig spektakulär erscheint. Es ist aber dieser Fall derjenige, an dem mir selber der
verschleierungsstrategische Charakter in Freuds Denken aufgegangen ist, und ich wähle ihn, weil ich aufgrund dessen meine, daß er auch ohne Kenntnis spektakulärerer Hintergründe Freuds Erkenntnisverhinderungsstrategien transparent machen kann – zumindest sollte. Sollte, sage ich im Hinblick darauf, daß es in unserem täglichen Leben ja immer harmlos erscheinende Handlungen sind, die durchaus weniger harmlose Absichten kaschieren, um welch letztere wir aber eben nicht vorher wissen. Deshalb gilt es, sich für strategische Verbergungen zu sensibilisieren; es nützt uns ja wenig, sie da aufzudecken, wo das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Vor allem seelische Grausamkeit ist unter der Maske von Harmlosigkeit, ja gar selbstloser Hilfsbereitschaft, wie bei Freud etwa, schwer zu entlarven, wenn man nicht dafür sensibilisiert worden ist. Um solcher Sensibilisierung willen greife ich daher den für andere Freud-Kritiker als für mich offenbar weniger spektakulären Fall der «Dora S.» auf. Ich bleibe auch ansonsten hauptsächlich in den Spuren meiner naiven Erkenntnisschritte des Wintersemesters 1986/87, die zunächst folgendermaßen aussahen: Ich «unterhielt» damals – in Aachen – einen freiwilligen Wochenendarbeitskreis von Studenten wie Nichtstudenten, in dem wir uns in abwechselnder Nachgiebigkeit gegen unsere intellektuelle Arbeitswut und unsere Vergnügungssucht mit politischen, psychologischen und philosophischen Fragen beschäftigten, die das offizielle Studium nicht vorschrieb. Im Wintersemester 86/87 wollten wir uns dem Zusammenhang von individuellem Narzißmus und politischer Macht und Ohnmacht widmen. Wir griffen zu diesem Zwecke Mario Erdheims Studie über «Die gesellschaftliche Pro
duktion von Unbewußtheit» auf und scheiterten gleich in der ersten Sitzung. Das heißt: Alle hatten das Buch vorher gelesen, und alle kamen zu dem Schluß, daß es einen Widerspruch enthielt, den wir nicht ohne weiteres hinnehmen konnten. Mario Erdheim schildert darin nämlich Freud als einen Mann von wahrer Seelengröße, der es fertiggebracht habe, seinen Machtkomplex bzw. seine Erfahrung sozialer Ohnmacht – er spricht vom sozialen Tod – angemessen zu verarbeiten, schildert aber zugleich, wie enthusiastisch sich Freud mit der von ihm selber (M. Erdheim) als Theaterpolitik entlarvten Politik des österreichischen Kaisers Franz Joseph und vor allem mit dessen Kriegserklärung von 1914 identifizierte. Da Freud sich von seiner anfänglichen Kriegsbegeisterung auch später nicht klar distanziert hat, vielmehr diese sogar ontologisierte, indem er einen Aggressionstrieb in die psychoanalytische Theorie einbaute (nach dem Ersten Weltkrieg), der noch heute selbst seinen orthodoxen Anhängern Kopfschmerzen bereitet, mußten wir Mario Erdheims Freud-Präsentation in Frage stellen. (Eine Anmerkung: Das heißt natürlich nicht, daß ich eine Aggressionsbereitschaft bei Menschen ableugne; es ist nur in Zweifel zu ziehen, ob diese natürliche Aggressionsbereitschaft Menschen dazu veranlaßt, Kriege im modernen Sinne zu fuhren.) Wir fragten uns, ob uns Mario Erdheim nicht folgerichtig in weitere Fallen locken würde, in die wir aufgrund unseres Unwissens hineintappen würden, und funktionierten – kurz entschlossen – unsere Veranstaltung um. Wir waren ja frei. Wir beschlossen daher, herauszufinden, wie es um Freuds Bewältigung seines Machtkomplexes wirklich bestellt gewesen sei. Ich erinnerte mich an eine Fallgeschichte, die
ich während meiner frühen Freud-Studienzeit gelesen hatte, an den Fall «Dora S.», und schlug vor, diese Falldarstellung Freuds aus seiner relativ frühen Analytikertätigkeit gemeinsam zu lesen. Ich schlug das vor, weil ich den Fall schon in der angegebenen früheren Zeit mit einem unterdrückten Unbehagen gelesen hatte, dessen Erwekkung vielleicht dienlich sein konnte, das Unbehagen in Mario Erdheims Freud-Präsentation zu klären. Wir lasen den Fall «Dora S.» und waren empört. Wenn Freud in der praktischen Analyse mit seinen Patienten, vor allem Patientinnen, derart umgesprungen war, was war dann von seiner Theorie zu halten? Erst hierauf machten wir uns auf die Suche nach Sekundärliteratur, die hilfreich sein konnte, diese Frage zu klären, und stießen auf Marianne Krülls Buch «Freud und sein Vater». Sie gab uns die wichtigsten Hinweise darauf, wo wir bei Freud selber nachlesen mußten, um die Apperzeptionsverweigerung, die wir in seiner Analyse der «Dora S.» bemerken zu müssen glaubten, erklärbar zu machen. Wir lasen unter anderem seinen 1896 publizierten Vortrag zur «Ätiologie der Hysterie» und stellten fest, daß Marianne Krülls Grundthese stimmte, die sie lange vor Alice Miller und Jeffrey Masson formuliert hat, was ich betonen möchte, weil ihr Buch so wenig Anklang gefunden hat. Ihre Grundthese ist nämlich, daß Freud vor 1897 Erkenntnisse über die «wahren» Ursachen der Erkrankung seiner Patienten gemacht hatte, die er 1897 fallenließ, um seine neue Fassung der Psychoanalyse zu begründen, diejenige Fassung, in der sie ihn berühmt gemacht hat und deren Grundstein ist, daß Kinder ein sexuelles Interesse an ihren Eltern nehmen, dessen Ablehnung seitens der Eltern sie traumatisiert, indem sie aufgrund der Unterdrückung
ihrer aggressiven Reaktion auf die elterliche Ablehnung Schuldgefühle entwickeln, mit denen sie auch später noch schwer zu kämpfen haben. Auf die Tatsachen im Leben seiner Patienten, die Freud seiner neuen Theorie zuliebe unter den Tisch fallen ließ, werde ich noch zu sprechen kommen. Was meinen Arbeitskreis betrifft, ist zu ergänzen, daß wir uns zu Semesterschluß auf die vorläufige Meinung einigten, Marianne Krülls Gedanke, Freuds Unterschlagung früheren Wissens sei auf einen Schuldkomplex gegen seinen eigenen Vater zurückzuführen, sei wohl nicht falsch, doch etwas zu exkulpativ, da sie Freuds eigenen Ehrgeiz und die Zugeständnisse, die er an diesen machte, ignoriert hat. Wir trennten uns für das Wintersemester – das Sommersemester war überschattet von meiner bevorstehenden Versetzung nach Duisburg – und beschäftigten uns, rückblickend verständlicherweise, im Arbeitskreis mit dem Tod und seiner politischen Verwertung. Wir mußten uns ja trennen! Dennoch habe ich «Dora S.» nicht vergessen, vor allem deshalb nicht, weil sie eine bewundernswert intelligente Person gewesen sein muß, was in meiner folgenden Schilderung hoffentlich deutlich werden wird: Dora S. kam am 14. Oktober 1900 auf Drängen ihres Vaters zu Freud in die «Behandlung» (wie wahr doch deutsche Worte sind) und blieb in dieser bis zum 31. Dezember desselben Jahres, also ca. drei Monate. Ihr Erscheinen wird von Freud auf zwei Gründe zurückgeführt: Der Vater hatte Vertrauen zu Freud, da Freud ihn 1894 erfolgreich medizinisch behandelt hatte, und zwar wegen einer vorher nicht erkannten Lues-Erkrankung, das heißt einer Syphilis, die er sich schon vor seiner Eheschließung geholt und mit der er seine Frau augenscheinlich angesteckt hatte, was Freud
aber nicht weiter irritierte; Hauptsache, der Ehemann war geheilt, war er ihm doch höchst sympathisch: «Ein Mann in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre (Freud war damals selber gerade 44 Jahre), von nicht ganz gewöhnlicher Rührigkeit und Begabung. Großindustrieller in sehr behäbiger, materieller Situation.»6 Zum Vertrauen des Vaters in Freud gesellte sich der Umstand, daß die Tochter Dora nervöse Symptome zeigte, das heißt sie litt in Abständen, seit ihrem achten Lebensjahr, an anfallsweise sehr gesteigerter Atemnot. Liest man Freuds eigenen Text aufmerksam, kann man zwar aus Doras eigener Darstellung ihrer Situation leicht schließen, daß die Besorgnis ihres Vaters weniger ihrer Atemnot galt, als ihrer zunehmenden Renitenz gegen den Vater, dem sie immer häufiger Vorwürfe machte. Doch das wird von Freud ignoriert. Dora leidet an Atemnot, ein früherer Arzt hat somatische (körperliche) Gründe ausgeschlossen, der Vater vertraut Freud, also vertraut Freud dem Vater, das heißt, es stimmt was mit Dora nicht, ihre Symptome müssen hysterischer Art sein. Der Vater leidet ebenfalls an Atemnot, also simuliert sie, das heißt imitiert sie, die Symptome des Vaters, um irgend etwas zu erreichen. Da man nach Freud aber nur Symptome hat, wenn man sexuelle Wünsche verstecken will, muß sich Freud auf die Suche nach Doras versteckten sexuellen Wünschen begeben. Diese findet er auch, und zwar folgendermaßen: Dora erzählt Freud, daß der Vater seit Jahren ein sexuelles Verhältnis zu einer Frau K. unterhält, dessen sexueller Charakter ihr von Freud bestritten wird, aber sich später als wahr herausstellt, was Freud indes zu keinerlei Korrektur seines Mißtrauens gegenüber Doras eigenen Angaben veranlaßt. Dieses Verhältnis wird von Dora mißbilligt,
vor allem, weil der Vater es als platonisches Verhältnis kaschiert, was sie mit zunehmendem Alter durchschaut hat. Als Achtjährige ist ihr offenbar aufgefallen, daß die Atemnotanfälle ihres Vaters ein Vorwand waren, mitsamt Familie – sie hat noch einen eineinhalb Jahre älteren Bruder – in die Berge zu entfliehen, wo man «wie zufällig» immer auf die Familie K. trifft, die dort ebenfalls Urlaub macht, und wo die Symptome des Vaters allerschnellstens verfliegen. Von der ersten Bergtour her rühren ihre ersten eigenen Anfälle von Atemnot, woraus Freud unschwer hätte schließen können, daß Dora diesen «Trick» anwandte, um sich einer Situation zu entziehen, in der sie sich zweckentfremdet bzw. mißbraucht fühlte. Im Konflikt mit der gleichzeitigen Anhänglichkeit an den Vater und ihrer existen-tiellen Abhängigkeit von der Familie hätte sie wohl auch kaum einen rationaleren Ausweg ersinnen können. Doch Freud sieht das nicht. Er interpretiert Doras Symptome als den Versuch, die Liebe des Vaters für sich zurückzugewinnen, obwohl er gleichzeitig bemerkt, daß Dora sich mit zunehmendem Alter immer mehr mit der im Stich gelassenen Mutter identifizierte, die sie zwar nicht besonders liebte, von deren Ansteckung durch den Vater sie aber zum Beispiel erfahren hatte. Daß Dora sich offensichtlich durch die Vergeheimnissungsstrategien ihres Vaters in eine schismatische Beziehung zwischen Vater und Mutter gedrängt sah und deshalb dem Vater zu Recht Vorwürfe machte – zu Recht, wie Freud selber immer beiläufig konstatiert, ohne es für seine Interpretation von Doras Verhalten zu verwenden –, läßt Freud ganz kalt. Er sucht ja, wie gesagt, das sexuelle Motiv. Zum Glück, man höre und staune, hat er dabei den aufrichtigen Vater als Helfershelfer gefunden. Nicht nur
hat ihm dieser erzählt, daß er schon zehn Jahre vor dem Eintritt seiner Tochter in Freuds Behandlung wegen einer Tuberkuloseerkrankung nach einem sogenannten Ort B. übergesiedelt ist (als Dora etwa sechs Jahre alt war), sondern auch, daß er und seine Familie schon damals gleich zu Beginn der Übersiedlung mit der dort ansässigen Familie K. Freundschaft geschlossen haben. Ich zitiere Freud selber: «Bei meiner Patientin Dora dankte ich es dem schon mehrmals hervorgehobenen Verständnis des Vaters, daß ich nicht selbst nach der Lebensanknüpfung, wenigstens für die letzte Gestaltung der Krankheit, zu suchen brauchte. Der Vater berichtete mir, daß er wie seine Familie in B. intime Freundschaft mit einem Ehepaar geschlossen hätten, welches seit mehreren Jahren dort ansässig war. Frau K. habe ihn während seiner großen Krankheit gepflegt und sich dadurch einen unvergänglichen Anspruch auf seine Dankbarkeit erworben. Herr K. sei stets liebenswürdig gegen seine Tochter Dora gewesen, habe Spaziergänge mit ihr unternommen, wenn er in B. anwesend war, ihr kleine Geschenke gemacht, doch hätte niemand etwas Arges daran gefunden. Dora habe die zwei kleinen Kinder des Ehepaares K. in der sorgsamsten Weise betreut, gleichsam Mutterstelle an ihnen vertreten. Als Vater und Tochter mich im Sommer vor zwei Jahren aufsuchten, waren sie eben auf der Reise zu Herrn und Frau K. begriffen, die Sommeraufenthalt an einem unserer Alpenseen genommen hatten. Dora sollte mehrere Wochen im Hause K. bleiben, der Vater wollte nach wenigen Tagen zurückreisen. Herr K. war in diesen Tagen auch zugegen. Als der Vater aber zur Abreise rüstete, erklärte
das Mädchen plötzlich mit größter Entschiedenheit, sie reise mit, und sie hatte es auch so durchgesetzt. Einige Tage später gab sie erst die Aufklärung für ihr auffälliges Benehmen, indem sie der Mutter zur Weiterbeförderung an den Vater erzählte, Herr K. habe auf einem Spaziergang nach einer Seefahrt gewagt, ihr einen Liebesantrag zu machen. Der Beschuldigte, beim nächsten Zusammentreffen von Vater und Onkel zur Rede gestellt, leugnete aufs Nachdrücklichste jeden Schritt seinerseits, der solche Auslegung verdient hätte, und begann das Mädchen zu verdächtigen, das nach der Mitteilung der Frau K. nur für sexuelle Dinge Interesse zeige und in ihrem Hause am See selbst Mantegazzas Physiologie der Liebe und ähnliche Bücher gelesen habe. Wahrscheinlich habe sie, durch solche Lektüre erhitzt, sich die ganze Szene, von der sie erzählt, ‹eingebildet›. ‹Ich bezweifle nicht), sagte der Vater, ‹daß dieser Vorfall die Schuld an Doras Verstimmung, Gereiztheit und Selbstmordideen trägt. Sie verlangt von mir, daß ich den Verkehr mit Herrn und besonders mit Frau K., die sie früher geradezu verehrt hat, abbreche. Ich kann das aber nicht, denn erstens halte ich selbst die Erzählung Doras von der unsittlichen Zumutung des Mannes für eine Phantasie, die sich ihr aufgedrängt hat, zweitens bin ich an Frau K. durch ehrliche Freundschaft gebunden und mag ihr nicht wehe tun. Die arme Frau ist sehr unglücklich mit ihrem Manne, von dem ich übrigens nicht die beste Meinung habe; sie war selbst sehr nervenleidend und hat an mir den einzigen Anhalt. Bei meinem Gesundheitszustand brauche ich Ihnen wohl nicht zu versichern, daß hinter diesem Verhältnis nichts Unerlaubtes steckt. Wir sind zwei arme Menschen, die einander, so
gut es geht, durch freundschaftliche Teilnahme trösten. Daß ich nichts an meiner eigenen Frau habe, ist Ihnen bekannt. Dora aber, die meinen harten Kopf hat, ist von ihrem Haß gegen die K. nicht abzubringen. Ihr letzter Anfall war nach einem Gespräch, in dem sie wiederum dieselben Forderungen an mich stellte. Suchen Sie sie jetzt auf bessere Wege zu bringen.»)7 Dies versucht Freud denn auch, hat jedoch im Hinterkopf, daß eine Achtzehnjährige kaum durch Liebesanträge sexuell traumatisiert werden kann. Anstatt aber darüber erschüttert zu sein, daß die Erzählungen einer Achtzehnjährigen als bloße Phantasien abgetan, als sexuelle Verderbtheit diffamiert werden, und anstatt zu schließen, daß Doras unerwünscht-ungehörte Empörung darüber sehr wohl hysterische Anfälle zu provozieren geeignet war, sucht Freud nach einem tiefer liegenden sexuellen Motiv bei Dora, das sie ihm auch gutmütigerweise liefert. Offenbar lieferte sie es, um ihm ihre eigene Empörung verständlich zu machen – das Gegenteil bei Freud erreichend. Es war nämlich Dora schon Jahre zuvor von Herrn K. sexuell belästigt worden. Was dabei vonstatten ging, gibt Freud folgendermaßen wieder: «Nachdem die ersten Schwierigkeiten der Kur überwunden waren, machte mir Dora Mitteilung von einem früheren Erlebnisse mit Herrn K., welches sogar besser geeignet war, als sexuelles Trauma zu wirken. Sie war damals 14 Jahre alt, Herr K. hatte mit ihr und seiner Frau verabredet, daß die Damen am Nachmittag in seinen Geschäftsladen auf dem Hauptplatz von B. kommen sollten, um von dort aus eine kirchliche Feierlichkeit mitanzusehen. Er bewog
aber seine Frau, zu Hause zu bleiben, entließ die Kommis und war allein, als das Mädchen ins Geschäft trat. Als die Zeit der Prozession herannahte, ersuchte er das Mädchen, ihn bei der Türe, die aus dem Laden zur Treppe ins höhere Stockwerk führte, zu erwarten, während er die Rollbalken herunterließ. Er kam dann zurück, und anstatt durch die offene Türe hinauszugehen, preßte er plötzlich das Mädchen an sich und drückte ihm einen Kuß auf die Lippen. Das war wohl die Situation, um bei einem 14jährigen unberührten Mädchen eine deutliche Empfindung sexueller Erregtheit hervorzurufen. Dora empfand aber in diesem Moment einen heftigen Ekel, riß sich los und eilte an dem Manne vorbei zur Treppe und von dort zum Haustor. Der Verkehr mit Herrn K. dauerte nichtsdestoweniger fort; keiner von ihnen tat dieser kleinen Szene je Erwähnung, auch will sie dieselbe bis zur Beichte in der Kur als Geheimnis bewahrt haben. In der nächsten Zeit vermied sie übrigens die Gelegenheit, mit Herrn K. allein zu sein. Das Ehepaar K. hatte damals einen mehrtägigen Ausflug verabredet, an dem auch Dora teilnehmen sollte. Nach dem Kuß im Laden sagte sie ihre Beteiligung ab, ohne Gründe anzugeben. In dieser, der Reihe nach zweiten, der Zeit nach früheren Szene ist das Benehmen des 14jährigen Kindes bereits ganz und voll hysterisch. Jede Person, bei welcher ein Anlaß zur sexuellen Erregung überwiegend oder ausschließlich Unlustgefühle hervorruft, würde ich unbedenklich für eine Hysterika halten, ob sie nun somatische Symptome zu erzeugen fähig sei oder nicht. Den Mechanismus dieser Affektverkehrung aufzuklären, bleibt eine der bedeutsamsten, gleichzeitig eine der schwierigsten Aufgaben der Neurosenpsychologie … Der Fall unserer Patientin Dora ist durch die Hervor
hebung der Affektverkehrung noch nicht genügend charakterisiert; man muß außerdem sagen, hier hat eine Verschiebung der Empfindung stattgefunden. Anstatt der Genitalsensation, die bei einem gesunden Mädchen unter solchen Umständen gewiß nicht gefehlt hätte, stellt sich bei ihr die Unlustempfindung ein, welche dem Schleimhauttrakt des Einganges in den Verdauungskanal zugehört, der Ekel. Gewiß hat auf diese Lokalisation die Lippenerregung durch den Kuß Einfluß genommen; ich glaube aber auch noch die Wirkung eines anderen Moments zu erkennen.»8 Wenn ich diese Zeilen heute lese, geht es mir immer noch genauso wie im Wintersemester 1986/87: Ich bin fassungslos, und mir fehlen die Worte, Freuds Perfidie zu beschreiben. Sie hat so viele Ebenen und so viele Schlupflöcher. Aber: Was fällt Freud ein, Dora zu unterstellen, daß sie an Herrn K. was hätte «finden» müssen? «Ich kenne zufällig Herrn K.», schreibt er in einer Anmerkung, «es ist dieselbe Person, die den Vater der Patientin zu mir begleitet hat, ein noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußeren.»9 Freud «kennt» ihn also, und sein Urteil über männliche Attraktivität ist ja wohl ausschlaggebend, vor allem wenn man weiß, daß er damals 44 Jahre alt ist, Herr K. kaum jünger, eben deswegen ein «noch jugendlicher Mann». Bei seinen Patienten wäre Freud der heimliche Sinn solcher Beschönigungen sofort aufgefallen. Man sollte jedoch auch wissen, daß Freud mit 40 Jahren seinen Sexualkontakt zu seiner Frau für immer eingestellt hat und daß er von da an erst recht glaubte, alle seine Patientinnen seien in ihn verliebt. Er nannte das dann g’schamig die «Übertragung» (der Patientenliebe auf ihn!), welche er auch an Dora S.
zu bemerken glaubte, obwohl sie ihn abrupt verließ – das war in seinen Augen nur Rache dafür, daß er sie nicht «erhören» konnte. Ich muß sagen, daß ich wirklich glücklich darüber bin, daß ich angesichts der vielen Verhältnisse meines Vaters keine Atembeschwerden bekommen habe und folglich auch nicht in psychoanalytische Behandlung kam (es legten allerdings auch meine Eltern ihre sexuellen Probleme miteinander fast allzu deutlich vor uns Kindern klar, und mein Vater hat sich wenigstens nie als Platoniker geriert). Hätte ich meinem Psychoanalytiker erzählt, daß ich meinen ersten Kuß, den ich mit dreizehn bekam, höchst widerlich fand, obwohl er sogar von einem Gleichaltrigen stammte, was wäre mit mir passiert? Ich wußte zwar den Grund meines Ekels, ich war in den Jungen gar nicht verliebt und schalt mich hinterher selber eine törichte Kuh, daß ich mich «ihm zuliebe» zu einem Kuß hatte hinreißen lassen, wohl wissend, daß keiner gern die Spucke von Leuten im Gesicht hat, die er nicht besonders mag. Aber mein Psychoanalytiker hätte das für anormal gehalten und hätte mir sogar unterstellt, wie Freud das gegenüber Dora im weiteren Verlauf seiner Schrift tut, ich wäre in Wahrheit verliebt gewesen und hätte nur meine eigenen sexuellen Triebe abgewehrt – erstens aus Schuldgefühlen darüber, daß ich als Kind masturbiert hätte, zweitens weil ich dabei die sexuelle Liebe zu meinem Vater abwehren mußte, die im Kußmoment in mir wieder hochkam. Was hätte er erst gesagt, wenn ich ihm gestanden hätte, daß mir die Idee von sexuellen Berührungen mit Männern, die dreimal so alt waren wie ich, das kalte Grausen einjagte? Ich wäre glatt im Irrenhaus gelandet. Wie hätte ich mich dagegen wehren können, wenn es einem Psychoanalytiker erlaubt ist, das eiskalte «Nein» einer weiblichen Person zu
einer hinterlistig erzwungenen sexuellen Attacke für verrückt zu erklären, anstatt als Ausdruck genuiner Empörung zu sehen? Nicht zu Unrecht hat Thomas Szasz in seinem Buch «Die Fabrikation des Wahnsinns»10 Freud beschuldigt, die Hexeninquisition im medizinischen Gewande prolongiert zu haben, wenngleich er sich dabei leider nicht auf die von mir zitierte Stelle beruft. Es läßt sich aus dieser Stelle aber – auch wenn man nicht einmal um Freuds expressis verbis formulierte Parteinahme für Hexenrichter weiß («Ich träume also von einer urältesten Teufelsreligion, deren Ritus sich im geheimen fortsetzt, und begreife die strenge Therapie der Hexenrichter»11) – wohl erkennen, daß sie nur dann Plausibilität gewinnt, wenn man unterstellt, daß Frauen – egal wie jung oder alt – grundsätzlich «fleischlicher gesinnt» sind als Männer. Nur so kann der eigentliche Täter, der sich zu einem strafrechtlich verfolgten Sexualdelikt anschickt, als noch jugendlicher Mann von einnehmendem Äußeren davonkommen, während das weibliche Kindopfer zur Verrückten wird, weil sie nicht fleischlich genug gesinnt ist. Daß Freud hier die Schuld vom Täter auf das Opfer verschiebt, ist klar, zu verdeutlichen bleibt jedoch die geradezu perverse Weise, in der er das tut. Er verschleiert nämlich sein Tun durch eine doppelte Inversion, er betreibt die Strategie der exkulpativen Inversion durch Inversion – eine Strategie, die man sonst nur bei Sadisten, Hexenverfolgern und Psychiatern alter Schule findet, auf die aber heutzutage alle möglichen Leute verfallen wie hereinfallen, falls sie mit dem Zauber psychoanalytischer Denkmuster in Berührung gekommen sind. Freud, heißt das, handelt hier ebenso inversiv wie meine Feuergeber, die mir meine Zigarette anzünden,
welche ich gerade selber anzünden will. Er nimmt sich, heißt das, aus den Erzählungen von Dora das heraus, was ihm selber dienlich ist, um sich als kompetenten Helfer in Pose setzen zu können; ihr dagegen spricht er zugleich die authentische Kompetenz, Wissen in eigener Sache zu haben, ab. Dies gelingt ihm aber nicht so einfach wie meinen Feuergebern. Verständlicherweise muß er sich mehr «bemühen», handelt es sich doch in diesem Falle um etwas gewichtigere Kompetenzansprüche auf beiden Seiten. Er bemüht sich daher, die Kompetenz seiner Patientin als solche zu verdrehen. Ihre ablehnende Reaktion, die sie auf der Basis der kompetenten Einsicht in den Verrat Herrn K.’s an ihrer naiven Vertrauensseligkeit zeigt, ihre rational ganz einsichtige Empörung wird als inversiv interpretiert. Sie hat «Affektverkehrung» betrieben, und zwar sogar eine doppelte: Sie hat eine sexuelle Erregung in Abscheu verwandelt und noch dazu die sexuelle Erregung ihrer Genitalzone auf ein Unlustempfinden des Mundes verschoben. Eine wahre Künstlerin! Es wundert da gar nicht, daß Freud seine Patienten, die ihn immer so «belogen», eines Tages nicht mehr leiden konnte, vor allem wenn sie wie Dora S. auch noch konsequent abstritten, gelogen zu haben. Es muß in der Tat, wie Freud im zitierten Passus sagt, «eine der schwierigsten Aufgaben der Neurosenpsychologie»12 gewesen sein, seine Strategie der exkulpativen Inversion durch Inversion zur dogmatischen Wahrheit zu erheben – aber er hat es geschafft. Generationen von Freudianern sind ihm gefolgt, für die wenigen, die sich dagegen auflehnten, ging das übel aus. Wie Freud im zitierten Passus durch inversive Schuldverschiebung den Herrn K. exkulpiert, so exkulpiert er in
den folgenden Schilderungen seiner «Analyse» fortwährend all die Personen, von denen Dora seelisch mißbraucht bzw. getäuscht wird, um für fremde Zwecke eingespannt zu werden. Da ich diese Einzelheiten nicht schildern kann, gebe ich eine Kurzfassung, in der ich mich im wesentlichen auf Doras Sicht der Dinge, die klarer ist als die Freuds, beschränke. Dora ist nicht nur wütend auf ihren Vater, weil er ein platonisches Verhältnis zu Frau K. vorspielt, sie ist besonders wütend, weil sie – erstaunlich hellsichtig – zu bemerken vermeint, daß ihr Vater so etwas wie «Frauentausch» mit ihr betreibt. Sie meint, ihr Vater wolle ihre Erzählung von K.’s sexuellen Attacken sowie ihre Abneigung dagegen nur deshalb ignorieren, weil es ihm gerade recht käme, gäbe sie K.’s Wünschen nach. Da er K. mit dessen Frau betrügt, könnte er sich mit Hilfe von Doras Gefälligkeit von seinen Schuldgefühlen freikaufen. Sowas, meint dagegen Freud, kommt einem liebenden Vater gar nicht in den Sinn. Denn, das steht für Freud ja schon seit 1897 fest, weil er den Ödipuskomplex an sich selber entdeckt hat: Kleine Jungen lieben ihre Mutter (sexuell), kleine Mädchen ihre Väter (sexuell) und müssen das wegen der ablehnenden Haltung der Eltern verdrängen, was latente Aggressionen verfestigt, vor allem in Form von Schuldgefühlen, die bei Neurotikern ausbrechen, wenn sie im späteren Alter mit echten sexuellen Situationen konfrontiert werden. Doras Ablehnung des noch «jugendlichen» K.’s korrespondiert daher für Freud mit der Ablehnung des sexuellen Verkehrs mit dem Vater, der in Wahrheit nur «ihre verdrängte Liebe zum Vater» zugrunde liegt, zugleich aber auch mit der Abwehr früherer Schuldgefühle beim Masturbieren. (Ein Nebenkriegsschauplatz, den Freud mit Hilfe der Deutung
von Doras Träumen strategisch eröffnet, auf dem er ausführlichst seine eigenen Assoziationen zu Doras Träumen breittritt [nicht ihre] und der daher geeignet ist, einen gänzlich konfus zu machen bzw. Doras faktische Lebenssituation völlig aus dem Auge zu verlieren.) Zurück zu Doras Version der Dinge: Abgesehen davon, daß sie sich, in ganz kühler Betrachtung übrigens, als Opfer eines Komplotts vermutet, nämlich eines Komplotts zwischen ihrem Vater, Herrn K. und Frau K., hat Dora auch noch andere Anlässe gefunden, sich mißbraucht zu fühlen. Eine Gouvernante im eigenen Hause, der sich Dora emotional angeschlossen hat, die erst gegen Frau K., dann gegen Doras Mutter hetzt, Dora aber ins Herz geschlossen zu haben scheint, entpuppt sich als Verräterin. Sie hat Dora nur benutzt, um sich beim Vater einzuschmeicheln, in den sie sich verliebt hat. Die Wahrheit der Geschichte wird von Freud nicht angezweifelt, Doras erbitterte Reaktion ist aber mal wieder nur Ausdruck ihrer Eifersucht. Frau K. wiederum, der sich Dora ebenfalls anzuschließen versucht hat, die von Dora bewundert worden ist und der Doras Zuneigung sehr entgegenkam, weil sie damit ihr Verhältnis zu Doras Vater als allgemeine Familienfreundschaft kaschieren konnte, läßt Dora fallen, als diese den sogenannten Liebesantrag Herrn K.’s – nach der Seefahrt – offenbart, und unterstellt Dora sexuelle Verdorbenheit, nachdem sie selber es war, wie wir von Freud erfahren, die Dora in sexuelle Dinge eingeweiht hat. Schließlich hatte Dora auch noch allen Grund, dem Antrag Herrn K.’s nach der Seefahrt, den Freud ständig beschönigend als Liebesantrag apostrophiert, zu mißtrauen. Wiederum eine Gouvernante, diesmal eine aus dem Hause K., hatte nämlich Dora anvertraut, daß Herr K. sie zu einem sexuellen
Verhältnis überredet, kurz darauf aber fallengelassen hatte. Da Herr K. seinen sogenannten Antrag mit denselben Worten gegen Dora einleitete wie gegenüber der Gouvernante («Sie wissen, ich habe nichts an meiner Frau»13), war Doras prompte Reaktion in Form einer Ohrfeige nur allzu verständlich. Nach ihrer eigenen Erfahrung mit K., seiner hinterlistigen Belästigung, als sie vierzehn war, und im Wissen um sein Verhalten gegenüber der Gouvernante, konnte sie nur schon wieder einen Mißbrauch ihrer Person – hier den sexuellen Mißbrauch – wittern, hätte er doch vor allem sonst auch seine Rede ähnlich anfangen müssen wie etwa: «Sie wissen, ich verehre Sie schon lange.» Hätte Herr K., wie Freud indes ständig unterstellt, ernsthafte Heiratsabsichten gehabt, hätte er diese doch wohl zugeben müssen, als Dora seinen Antrag verriet, anstatt sie zu diffamieren. War es aber anders, wollte er sie heiraten und stritt es doch ab, war er offenbar ein erbärmlicher Feigling, den sie, auch aus diesem Grunde, zu Recht zu meiden suchte, ob sie nun (wie immer unbewußt) in ihn verliebt war, wie Freud meint, oder nicht. Wie dem auch gewesen sein mag: Summa summarum ist der entscheidende Punkt der, daß Freud alles daransetzt, vor dem ständigen Mißbrauch von Doras Person die Augen zu verschließen und die Authentizität ihrer Empörung darüber genauso zu verleugnen wie die sie umgebenden Personen, die sich zum Komplott vereinigt haben. Alle wirklichen Täter sind harmlos, Dora ist krank. Es ist schon allerhand, einer jungen Person, die aus einem Vereinnahmungskomplott aussteigen will, was Dora offensichtlich wollte und durch ihre Renitenz bewies, auch noch Schuldgefühle deswegen zu machen. Aber Freud tat dies, indem er ihr eine verzerrte Wahrnehmung be
scheinigte, die sie noch dazu eben deshalb habe, weil sie Schuldgefühle aus ihrer frühen Masturbationszeit nicht wahrhaben wolle. Freud, kann man folglich sagen, irritierte nicht nur das Denkvermögen von Dora S., indem er ihr Schuldgefühle machte, um die Schuld anderer zu verschleiern und um an seiner eigenen Machtposition als besserwissender Helfer nicht rütteln zu müssen. Er bestritt glattweg Doras Denkvermögen überhaupt, und zwar auf der Grundlage seiner Strategie der exkulpativen Inversion durch Inversion, und sanktionierte so den Mißbrauch ihrer Person. Zu ihrem eigenen Glück war Dora S. aber, wie ich anfangs schon sagte, sehr intelligent und außerdem für Schuldgefühle nur sehr bedingt empfänglich. Sie brach die psychoanalytische Behandlung abrupt ab, verließ ihr Elternhaus, widmete sich ihrem Studium, heiratete später einen jungen Mann und war – zu Freuds Überraschung – «dem Leben wiedergewonnen». Es vollzog sich bei ihr also eine Selbstheilung, wie man heute sagt. Allerdings erreichte sie diese durch einen ganz wichtigen eigenständigen Schritt: Sie verließ Freud, klagte die Wahrheit ein, obsiegte dabei und gesundete. «Sie war noch vier bis fünf Wochen, nachdem sie die Behandlung verlassen, im ‹Durcheinander›, wie sie sagte. Dann trat eine große Besserung ein, die Anfälle wurden seltener, ihre Stimmung gehoben. Im Mai des jetzt vergangenen Jahres starb das Kind des Ehepaares K., das immer gekränkelt hatte. Sie nahm diesen Trauerfall zum Anlasse, um den K. einen Kondolenzbesuch zu machen, und wurde von ihnen empfangen, als ob in diesen letzten drei Jahren nichts vorgefallen wäre. Da
mals söhnte sie sich mit ihnen aus, nahm ihre Rache an ihnen und brachte ihre Angelegenheit zu einem für sie befriedigenden Abschlüsse. Der Frau sagte sie: Ich weiß, du hast ein Verhältnis mit dem Papa, und diese leugnete nicht. Den Mann veranlaßte sie, die von ihm bestrittene Szene am See zuzugestehen, und brachte diese sie rechtfertigende Nachricht ihrem Vater. Sie hat den Verkehr mit der Familie nicht wieder aufgenommen.»14 Es gäbe noch viel zu diesem Fall zu sagen, ich erwähne nur die groteske Tatsache, daß Dora S., nachdem Freud ihr genügend Schuldgefühle eingeredet hatte, tatsächlich einen kurzen Rückfall bekam und eine Gesichtsneuralgie entwickelte (der echten Ohrfeige wegen, die sie K. gegeben, und der symbolischen Ohrfeige wegen – hier ist der Ausdruck berechtigt –, die sie Freud gegeben hatte), worauf Freud sie davon erlöste, indem er ihr gnädig verzieh, daß sie ihn «um die Befriedigung gebracht» hatte, «sie weit gründlicher von ihrem Leiden zu befreien»15. «Die Probleme lösen, die man vorher selbst geschaffen hat», sagt Bourdieu zu solchen Tricks. Die «weit gründlichere Befreiung», die Freud «befriedigt» hätte, kommentiere ich nicht. Zu konstatieren ist nur, daß Freud sich in diesem Falle tatsächlich nicht mit Hexenverfolgern messen konnte, sie trieben den Hexen die Besessenheit wirklich gründlicher aus. Wenden wir uns noch den spektakuläreren Hintergründen von Freuds Apperzeptionsverweigerung gegenüber dem Erkenntnis-, Wahrnehmungs- und Erlebnishorizont seiner Patienten zu. Bevor Freud im Rahmen seiner sogenannten Selbstanalyse den Ödipuskomplex an sich selber entdeckte,
hatte er eine ganz andere Theorie vertreten, die er für revolutionär und aufrichtig wahr hielt. Wir finden sie abgedruckt in seiner Schrift «Zur Ätiologie der Hysterie», die er erstmalig 1896 publizierte, und zwar dem eisigen Schweigen zum Trotz, mit dem sie als mündlicher Vortrag im Kollegenkreis Aufnahme gefunden hatte. Er vertritt darin die These, daß seine hysterischen Patienten bzw. Patientinnen ihre krankhaften Symptome einem sexuellen Trauma verdanken, das sie in ihrer Kindheit oder frühen Jugend erlitten haben. Im Gegensatz zu seinen späteren Schriften, in denen Freud dies Trauma als Produkt eigener sexueller Phantasien seiner Patienten interpretiert, sagt er aber in seiner Schrift «Zur Ätiologie der Hysterie», daß die Traumen seiner Patienten durch echte Erlebnisse ausgelöst worden sind, das heißt kurz und bündig: daß seine Patienten in ihrer Kindheit sexuell mißbraucht worden sind. Er schreibt daher: «Sexuelle Erfahrungen der Kindheit, die in Reizungen der Genitalien, koitusähnlichen Handlungen usw. bestehen, sollen also in letzter Analyse als jene Traumen anerkannt werden, von denen die hysterische Reaktion gegen Pubertätserlebnisse und die Entwicklung hysterischer Symptome ausgeht.»16 Und: «In sämtlichen achtzehn Fällen (von reiner Hysterie und Hysterie mit Zwangsvorstellungen kombiniert, sechs Männer, zwölf Frauen) bin ich, wie erwähnt, zur Kenntnis solcher sexueller Erlebnisse des Kindesalters gelangt. Ich kann meine Fälle in drei Gruppen bringen,
je nach der Herkunft der sexuellen Reizung. In der ersten Gruppe handelt es sich um Attentate, einmaligen oder doch vereinzelten Mißbrauch meist weiblicher Kinder von Seiten erwachsener, fremder Individuen (die dabei groben mechanischen Insult zu vermeiden verstanden), wobei die Einwilligung der Kinder nicht in Frage kam und als nächste Folge des Erlebnisses der Schreck überwog. Eine zweite Gruppe bilden jene weit zahlreicheren Fälle, in denen eine das Kind wartende erwachsene Person – Kindermädchen, Kindsfrau, Gouvernante, Lehrer, leider auch allzuhäufig ein naher Verwandter – das Kind in den sexuellen Verkehr einführte und ein – auch nach der seelischen Richtung ausgebildetes – förmliches Liebesverhältnis, oft durch Jahre, mit ihm unterhielt. In die dritte Gruppe endlich gehören die eigentlichen Kinderverhältnisse, sexuelle Beziehungen zwischen zwei Kindern verschiedenen Geschlechts, zumeist zwischen Geschwistern, die oft über die Pubertät hinaus fortgesetzt werden und die nachhaltigsten Folgen für das betreffende Paar mit sich bringen.»17 Damals brachte Freud für die mißbrauchten Opfer auch noch das nötige Mitleid und Verständnis auf. Er schreibt: «Eine andere Reihe überaus gemeiner hysterischer Phänomene, der schmerzhafte Harndrang, die Sensation bei der Defäktion, Störungen der Darmtätigkeit, das Würgen und Erbrechen, Magenbeschwerden und Speiseekel, gab sich in meinen Analysen gleichfalls – und zwar mit überraschender Regelmäßigkeit – als Derivat derselben Kindererlebnisse zu erkennen und erklärte sich mühelos
aus konstanten Eigentümlichkeiten derselben. Die infantilen Sexualszenen sind nämlich arge Zumutungen für das Gefühl eines sexuell normalen Menschen; sie enthalten alle Ausschreitungen, die von Wüstlingen und Impotenten bekannt sind, bei denen Mundhöhle und Darmausgang mißbräuchlich zu sexueller Verwendung gelangen. Die Verwunderung hierüber weicht beim Arzte alsbald einem völligen Verständnis. Von Personen, die kein Bedenken tragen, ihre sexuellen Bedürfnisse an Kindern zu befrieden, kann man nicht erwarten, daß sie an Nuancen in der Weise dieser Befriedigung Anstoß nehmen, und die dem Kindesalter anhaftende sexuelle Impotenz drängt unausbleiblich zu denselben Surrogathandlungen, zu denen sich der Erwachsene im Falle erworbener Impotenz erniedrigt. Alle die seltsamen Bedingungen, unter denen das ungleiche Paar sein Liebesverhältnis fortführt: der Erwachsene, der sich seinem Anteil an der gegenseitigen Abhängigkeit nicht entziehen kann, wie sie aus einer sexuellen Beziehung notwendig hervorgeht, der dabei doch mit aller Autorität und dem Rechte der Züchtigung ausgerüstet ist und zur ungehemmten Befriedigung seiner Launen die eine Rolle mit der anderen vertauscht; das Kind, dieser Willkür in seiner Hilflosigkeit preisgegeben, vorzeitig zu allen Empfindlichkeiten erweckt und allen Enttäuschungen ausgesetzt, häufig in der Ausübung der ihm zugewiesenen sexuellen Leistungen durch seine unvollkommene Beherrschung der natürlichen Bedürfnisse unterbrochen – alle diese grotesken und doch tragischen Mißverhältnisse prägen sich in der ferneren Entwicklung des Individuums und seiner Neurose in einer Unzahl von Dauereffekten aus, die der eingehendsten Verfolgung würdig wären.»18
Um so verständlicher schien es Freud damals noch, daß seine Patienten ihre Erlebnisse vergessen wollten, daß die Erinnerung daran sie quälte, daß sie sie sogar lieber abstritten als offen zuzugeben. «Sie leiden», schreibt er, «unter den heftigsten Sensationen, deren sie sich schämen und die sie zu verbergen trachten, während sie sich diese infantilen Erlebnisse ins Bewußtsein rufen, und noch, nachdem sie dieselben in so überzeugender Weise wieder durchgemacht haben, versuchen sie es, ihnen den Glauben zu versagen … Letzteres Verhalten scheint nun absolut beweiskräftig zu sein. Wozu sollten die Kranken mich so entschieden ihres Unglaubens versichern, wenn sie aus irgendeinem Motiv die Dinge, die sie entwerten wollen, selbst erfunden haben?»19 Wie Jeffrey M. Masson in seinem Buch «Was hat man dir, du armes Kind, getan?» nachweist, hatte Freud auch noch ganz andere einschlägige Gründe, an den frühen sexuellen Mißbrauch, der seinen Patienten angetan worden war, zu glauben. Zirka elf bzw. zehn Jahre vor Niederschrift seiner «Ätiologie der Hysterie» hatte Freud nämlich zum Zwecke eines Studienaufenthalts Paris aufgesucht und hatte dabei Gelegenheit gehabt, sich mit erschreckenden Kenntnissen über das Ausmaß sexueller Delikte und sonstiger Gewalttaten gegenüber Kindern bekannt zu machen. Zwar gab es auch in Paris Männer der Wissenschaft, die – vor allem weibliche – Beschuldigungen gegen Vergewaltiger als Hirngespinste abtaten, empirisch bewanderte Forscher aber, zum Beispiel Gerichtsmediziner, zeigten zugleich ganz andere, böse Tatsachen auf. Der mutigste unter ihnen, Ambroise Tardieu, Professor für Gerichtsmedizin an der Pariser Universität, veröffentlichte erstmals 1857 seine «Étude médico-légale sur les attentats aux moeurs». «In diesem Buch», schreibt Masson,
«und in seinen sechs Neuauflagen (die letzte erschien 1878) machte Tardieu darauf aufmerksam, wie häufig Sexualdelikte an Kindern, insbesondere an jungen Mädchen, begangen wurden. Seine Statistiken lassen einen erschaudern: Auf Seite 62 der letzten Auflage gibt Tardieu die Zahlen für den Zeitraum von 1858 bis 1869 in Frankreich wieder. Insgesamt wurden während dieser Jahre in 11 576 Fällen Menschen wegen Vergewaltigung oder versuchter Vergewaltigung angeklagt, davon 9 125 der versuchten oder vollendeten Vergewaltigung von Kindern. Tardieu hebt hervor, daß fast alle Opfer Mädchen waren. Er zählt alle unter sechzehn Jahren zu den Kindern, doch waren die Opfer in den meisten der von ihm beschriebenen Fälle zwischen vier und zwölf Jahre alt. In dem Buch geht es im wesentlichen um den sexuellen Mißbrauch von Kindern. Auf Seite 8 der fünften Auflage (1867) erklärt Tardieu, seine Fallgeschichten beruhten auf der Analyse von 616 Fällen, die er selbst als gerichtsmedizinischer Experte untersucht habe. Ein paar Seiten weiter stellt er fest, daß es sich bei 339 seiner 616 Fälle um die versuchte oder vollendete Vergewaltigung von Kindern unter elf Jahren handelte. Auf den Seiten 158 und 159 stellt Tardieu Fälle vor, in denen Väter ihre Töchter vergewaltigt haben, und auf Seite 170 schildert er den Fall einer an einem siebenjährigen Mädchen begangenen Vergewaltigung mit Todesfolge. Es ist nicht bekannt, ob Tardieu selbst einen Zusammenhang zwischen seinem früheren Werk über die körperliche Mißhandlung von Kindern und seiner späteren Untersuchung des sexuellen Mißbrauchs von Kindern gesehen hat. Für Tardieu lag es jedoch auf der Hand, daß eine an einem kleinen Kind begangene
unzüchtige Handlung wie jede andere körperliche Mißhandlung ein Gewaltakt war, der tödliche Folgen haben konnte und tatsächlich in verschiedenen ihm bekannten Fällen zum Tod des Opfers geführt hatte. Im Vorwort erklärt Tardieu, er breche mit der Tradition, indem er die Sachverhalte nicht mit den üblichen lateinischen Fachausdrücken verschleiere. Er bringt klar zum Ausdruck (in der Ausgabe von 1878, S. 62), daß Väter oft ihre eigenen Töchter mißbrauchen: ‹Noch trauriger ist es, mit anzusehen, daß die Blutsbande diesen schuldhaften Neigungen nicht nur keine Schranke setzen, sondern sie nur allzu oft begünstigen. Da mißbrauchen Väter ihre Töchter und Brüder ihre Schwestern. Meinen Beobachtungen zufolge treten diese Tatbestände vermehrt auf. Seit der vorletzten Ausgabe dieser Studie sind mir zwölf neue Fälle bekannt geworden.)»20 Tardieu betont, schreibt Masson weiter, «… daß die Kinder, die ihre Väter anklagten, dies nur widerwillig und unter großen Ängsten taten … Einige der Fallgeschichten (…) handeln von Mädchen, die erst vier oder fünf Jahre alt waren und sowohl vaginal als auch anal vergewaltigt worden waren. In einem Fall berichtet Tardieu: ‹Den Informationen des Kindes zufolge, die es nur zögernd und unter Tränen preisgab, hat der Angeklagte dreimal versucht, ihr Gewalt anzutun. Insbesondere am 10. Januar habe er sie in sein Zimmer gelockt, sie aufs Bett geworfen und sich auf sie gelegt; er habe ihr ein sehr hartes Stück Holz ins Gesäß gesteckt, dann sei er etwa eine Viertelstunde lang auf ihr liegengeblieben,
und schließlich habe sie etwas Feuchtes um ihre Genitalien gespürt. Sie fügte hinzu, sie habe gelitten und vor Schmerz geschrien.›»21 Ein Nachfolger Tardieus, Paul Bernard, veröffentlichte 1886 das Buch «Des Attentats à la pudeur sur les petites filles». Einige seiner Beobachtungen sind, wie Masson meint, bemerkenswert, und daher zitiere ich auch diese noch nach Masson: «Auf Seite 49 stellt Bernard fest, daß Kinder schon im Alter von vier Jahren durch sexuellen Mißbrauch gefährdet sind. Wenn es dazu kommt, ‹bewahren die Eltern lieber Stillschweigen). Wer geglaubt hatte, Vergewaltigung sei ein Delikt, das ausschließlich alleinstehende Männer begingen, wurde eines Besseren belehrt. Erstaunt stellt Bernard fest: ‹Der Einfluß der Familie wirkt sich nicht spürbar positiv aus – im Gegenteil: es scheint sogar so zu sein, daß die Kinder, wenn sie zu Hause wohnen, ein Anreiz zu bösen Taten sind. Bei unseren Beobachtungen stießen wir nämlich überraschenderweise auf eine Vielzahl von Fällen von Inzest.› … Doch ‹am erstaunlichsten› findet es Bernard, daß ‹die Zahl der Personen mit höherer Schulbildung, die wegen Unzucht mit Kindern angeklagt wurden, bis 1880, wo sie ein Maximum erreicht, regelmäßig gestiegen ist›.»22 Freud – das hat Masson herausgefunden – besaß nicht nur Tardieus zitiertes Werk, er besuchte vor allem auch die öffentlichen Autopsieveranstaltungen Paul Camille Hippolyte Brouardels, des Nachfolgers von Tardieu auf
dem Lehrstuhl für Gerichtsmedizin in Paris, der ganz offensichtlich dort «bestimmte» Todesfälle, vor allem die weiblicher Kinder, im Sinne seines früheren, Lehrers kommentierte. Es war also, kurz gesagt, keineswegs «abwegig», wenn Freud in seiner «Ätiologie der Hysterie» vermutete, daß er den Schlüssel zu den «Traumen» seiner Patienten in frühen sexuellen Schockerlebnissen gefunden habe, ja, daß er diese Erkenntnis für ein «caput Nili» (den Ursprungsquell des Nils), wie er selber sagte, hielt. Der mündliche Vortrag seiner «Ätiologie der Hysterie» wurde indes mit eisigem Schweigen aufgenommen. Dazu schreibt er an seinen – übrigens verhängnisvollen – Freund Wilhelm Fließ: «Ein Vortrag über die Ätiologie der Hysterie im psychiatrischen Verein fand bei den Eseln eisige Aufnahme und von Krafft-Ebing die seltsame Beurteilung: Es klingt wie ein wissenschaftliches Märchen. Und dies, nachdem man ihnen die Lösung eines mehrtausendjährigen Problems, ein caput Nili aufgezeigt hat!» Damals setzte Freud noch hinzu «Sie können mich alle gerne haben.»23 Ein Jahr später wurde dieser Satz auf fatale Art und Weise wahr. Zwar schlägt Freud noch am 22. Dezember 1897 in einem Brief an seinen Freund Fließ, offenbar unter dem Schock einer Patientinnenerzählung, vor, die Psychoanalyse unter das Motto zu stellen «Was hat man Dir, Du armes Kind, getan?»24; aber bald darauf widerruft er. Ein Gedanke, den er schon früher gefaßt hat (September 1897) setzt sich durch: Seine «Hysteriker» haben ihn belogen, die Verführung (ein euphemistischer Ausdruck, den Freud gebraucht) durch andere, vor allem durch Väter, ist ein Phantasiegebilde.25 Und nicht nur das. Das Phantasieren der Hysteriker ist sogar das Resultat einer beschleunigten
sexuellen Reifung, hervorgerufen durch allzu große elterliche Zärtlichkeit, durch Verwöhnung.26 Was Freud zu diesem Umschwung bewogen hat, vor allem angesichts dessen, daß für diejenigen seiner Patienten, deren Biographie noch zugänglich war, später nachgewiesen werden konnte, daß sie in ihrer Kindheit tatsächlich sexuell mißbraucht worden waren, ist umstritten. Marianne Krüll – wie schon erwähnt – führt, da Freuds Vater in der Zeit des Sinneswandels starb, den Umschwung auf Freuds Schuldkomplex gegenüber seinem Vater zurück. Freud hatte nämlich in seiner Selbstanalyse vermerkt, daß auch sein Vater zu den sexuellen Attentätern gehörte, diesen Gedanken aber nicht weiter verfolgt. Masson dagegen sieht den Umschwung in Freuds homophiler Freundschaft zu Wilhelm Fließ begründet und hat dafür ebenfalls gute Gründe, kann er doch deutlich zeigen, wie sehr sich Freud bemühte, eine Untat, die beide gemeinsam verursacht hatten, vor allem den Anteil seines Freundes Fließ daran, zu exkulpieren. (Freud hatte Fließ, der HalsNasen-Ohren-Arzt war, überredet, Anfang 1895 an einer seiner Patientinnen, Emma Eckstein, eine Nasenoperation durchzuführen. Freud interpretierte die Symptome Emma Ecksteins, nämlich unregelmäßige und schmerzhafte Menstruationen, als Folge früherer Masturbation und zog Fließ hinzu, weil er dessen Überzeugung teilte, daß «die Nase und die Sexualorgane in einem engen Zusammenhang stehen und daß Sexualprobleme durch chirurgische Eingriffe an der Nase gelöst werden können».27 Aufgrund eines sogenannten Kunstfehlers, den Fließ bei der Operation beging – er ließ ein riesengroßes Stück Gaze in ihrer Nase zurück, vermutlich hat er aber noch mehr versaut –, wäre Emma Eckstein an der Operation beinahe gestorben,
das heißt, zweimal bestand die Gefahr, daß sie verblutete. Zunächst schockiert, griff Freud später immer mehr auf den Strohhalm zurück, daß Emma Ecksteins Blutungen hysterisch von ihr selber erwünscht gewesen seien.) Klar ist jedenfalls, daß Freud schon im Verhältnis zu Fließ, erst recht aber seit 1897 und in der Folgezeit eine geradezu besessene Mühe aufwandte, mit Hilfe psychoanalytischer Denkmuster, wie eben etwa der von mir geschilderten Inversion durch Inversion, wirkliche Täter, sich selber und andere, vor allem aber Eltern, zu exkulpieren. Da er nie sich selber, wie Kafka, die Schuld an etwas gab, wage ich zu behaupten, daß es letzten Endes die Karriere war, in deren Diensten Freud Apperzeptionsverweigerung betrieb. Wie dem aber auch sei: Jedenfalls dürfte nach dem, was ich über den Bekanntheitsgrad von Sexualdelikten aus Freuds Zeit hinzugefügt habe – wir wissen ja inzwischen auch einiges darüber, aber wichtiger ist der Einblick, den Freud haben konnte –, der verschleierungsstrategische Charakter seiner Behandlung von Dora S. hoffentlich noch klarer geworden sein. Mochte sie auch noch soviel sexuell «phantasieren» – was sie vor ihm im übrigen gar nicht tat, sondern nur Tatsachen berichtete –, es wäre seine Pflicht gewesen, sie nach vielleicht noch früheren Erlebnissen zumindest zu fragen. (Zum Beispiel hatte Dora S. Ausfluß, ihre Mutter hatte auch Ausfluß, augenscheinlich aufgrund der Ansteckung durch den Vater, aber das hat Freud nicht medizinisch nachgeprüft. Dora selber befürchtete, eine Übertragung der Syphilis vom Vater auf sich zu haben, Freud aber hielt das für ihre «hereditäre Phantasie» und fragte nichts.) Angesichts der erschreckenden Daten zum sexuellen Mißbrauch von Kindern, den wir hoffentlich nicht, wie
Freud, verdrängen werden, ist eine Warnung abschließend angebracht: Der seelische Mißbrauch, den Dora S. erfuhr und den Freud unterstützte, sowie die Verleugnung ihrer genuinen Erfahrung, mit der ihr andere, Freud an der Spitze, begegneten, schmerzen nicht geringer und beschädigen nicht weniger das Erkenntnisvermögen und die Person als Gewalt – vielleicht sogar mehr!
4. Die Fragmentarisierung der Welt: Nationalsozialistische Exkulpationsstrategien Mit Sigmund Freud ist das Reservoir an prototypisch modernen Exkulpationsstrategien, die im Gewande des Erkenntnisfortschritts auftreten, keineswegs erschöpft, wohl aber im Rahmen dieses Buches mein Eifer, solche Strategien aufzuspüren. Der Erörterung prototypisch moderner Exkulpationsstrategien überhaupt, vor allem der Erörterung von Kausalitätsverwirrungsstrategien, möchte ich indes einen Exkurs über eine spezielle Strategie hinzufügen, die ich die Strategie der Fragmentarisierung nenne. Als Sonderfall unter den von mir schon erwähnten Verschicksalungsstrategien verdient sie eine hervorgehobene Betrachtung, und zwar aus folgenden Gründen: Wie ich im Kapitel über die «Exkulpation der «Täter im Gewand der Wissenschaftlichkeit» ausführte, können Umstände alltäglicher, historischer, politischer, erbbiologischer oder welcher Art auch immer tatsächlich «partiell» an Untaten schuld sein. Ob sie verschleierungsstrategisch mißbraucht werden, um Schuld zu verschieben, muß aufmerksam überprüft werden, vor allem im Hinblick darauf, welche konkreten Umstände zu verzeichnen sind. Um zu beurteilen, ob Schuld verschoben worden ist, muß vor allem geklärt werden, ob und inwiefern zwischen sogenannten Umständen und handelnden Personen ein Zusammenhang besteht, ob dieser Zusammenhang kausaler Natur ist und, wenn ja, um welche Art von Kausalität es sich dabei handelt. Der «Tatbestand» der Schuldverschiebung auf sogenannte Umstände setzt daher bei näherer
Betrachtung immer eine fundierende Ignorierung oder Verleugnung von Zusammenhängen voraus. Genaugenommen ist die Ignorierung oder Verleugnung von Zusammenhängen überhaupt das A und O aller Verschleierungsstrategien und bedürfte ohnehin einer hervorgehobenen, ausführlichen Betrachtung. Eine ausführliche Betrachtung kann ich hier jedoch nicht leisten, sondern nur eine hervorgehobene, was in diesem Falle heißt: Ich widme mich der Ignorierung resp. Verleugnung von Zusammenhängen nur insoweit, als sie uns nicht «konditional», sondern gezielt bzw. als absichtsvolle Verschleierung eigenständiger Art entgegentritt. Zu diesem Zwecke begebe ich mich wieder auf den Schauplatz des «Vulgärlebens», denn dort taucht die Ignorierung oder Verleumdung von Zusammenhängen gehäuft in ihrer eigenständigen absichtsvollen Fundierung von Exkulpation auf: eben als «Fragmentarisierung», als «Zerstückelung» von Wirklichkeit, als Isolierung von Fakten, die im Zusammenhang zu sehen wären. Sie tritt in dieser Form im Vulgärleben gehäuft auf, weil Täter und Opfer dort am ehesten unmittelbar Einblick in Schuldzusammenhänge haben können und gerade deshalb dieser Einblick dem Opfer oder Gegner vom Täter gezielt verwehrt werden muß. (Die beliebte Berufung auf die grundgesetzlich geschützte Intimsphäre ist leider zu oft unter diesem Gesichtspunkt zu werten!) Daß ich mich der Ignorierung oder Verleugnung von Zusammenhängen in der Form der Fragmentarisierung gesondert zuwende, hat jedoch nicht nur einen analytischen Grund, sondern – ähnlich wie bei Freud – auch einen Besorgnisgrund. Es ist nämlich die Strategie der Fragmentarisierung von Wirklichkeit in Deutschland
im 20. Jahrhundert von den Aktivisten und Mitläufern einer sogenannten Bewegung, das heißt: der nationalsozialistischen «Bewegung», zu einer Perfektion getrieben worden, die sonderbarerweise sogar noch auf die Enkelkinder faszinierend wirkt, obwohl oder vielleicht weil diese damit angeblich gar nichts zu tun haben wollen. Dieser sogenannten Bewegung werde ich mich daher zum Zwecke der Exemplifikation auch zuwenden, allerdings an dem Punkt, wo ihre Träger aus Machtphantasien in die «vulgäre Wirklichkeit» zurückgerissen wurden und sich dieser gegenüber verschleierungsstrategisch zu exkulpieren bemühten. Die Wahl dieses Punktes ist Resultat sorgfältiger Überlegungen. Es ist meines Erachtens – und diese Ansicht teilt glücklicherweise mein Freund und Kollege Claus Barsch mit mir, der Spezialist für den Nationalsozialismus ist1 – der Nationalsozialismus in seinen Anfängen und Höhepunkten der Machtergreifung und des Machtbesitzes keineswegs ein besonders interessanter Fall von Verschleierungsstrategie. Im Gegenteil: Zwar besaß er, wie alle demagogischen Unternehmungen, verschleierungsstrategische Elemente, in der Hauptsache aber verhießen das nationalsozialistische Programm oder Hitlers oder Goebbels’ Reden ganz klar und deutlich, zu wessen Vorteil und zu wessen Nachteil das NS-Regiment dienen sollte. Dies abzustreiten gehört eher zur Phase der Entmachtung und darauffolgender Zeiten sowie in das Repertoire der Profiteure, die, um eben des Profits willen, der ihnen deutlich versprochen worden war, mochte er seelischer oder materieller Natur sein, Nationalsozialisten oder Mitläufer wurden. Verschleierungsstrategisch brisant ist daher erst das Verhalten der nationalsozialistischen Täter nach dem Krieg, nach der Entmachtung und vor einem
aufgeklärten «Tribunal», das sie nicht mit Waffengewalt niederrennen konnten, sondern vor dem sie sich durch Rede und Antwort verteidigen bzw. verantworten mußten. Diese Situation ist vor allem deshalb brisant, weil sie unserer gegenwärtigen normalen demokratischen Öffentlichkeitssituation viel mehr ähnelt – nicht in ihrer damaligen Gestalt, wohl aber strukturell unter dem Aspekt des Öffentlichkeitsdrucks, dem aktuelle oder potentielle Untäter ausgesetzt sind, die als solche nicht demaskiert werden wollen. Hieraus resultiert die speziell für Deutschland geltende Faszination, die weniger vom «mächtigen» als vom «entmachteten» Nationalsozialismus ausgeht, liefert doch eben dieser die vor allem familiär tradierten Denkmuster, mit denen man unter demokratischem Druck – nicht zuletzt US-demokratischen – vermeinen kann, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Versucht man diesen Zusammenhang zu sehen, der allerdings noch einer Aufklärung harrt, zu der ich hier nur sehr begrenzt beitragen kann, werden zum Beispiel die bösen Ahnungen, die amerikanische Politiker angesichts des Verhaltens der Deutschen, vor allem aber auch der deutschen Jugend zum Golfkrieg befallen haben, durchaus verständlich, wenngleich ihnen vermutlich der springende Punkt des von mir apostrophierten Zusammenhangs nicht bewußt ist oder entgeht. Ich muß diesen Aspekt an den Rand verbannen, betone aber, daß ich um eben seinetwillen auf den Nationalsozialismus und eben deswegen nur auf dessen exkulpative Seite rekurriere. Verständlicherweise haben prominente und weniger prominente Nationalsozialisten vor Gericht fast den kompletten Reigen aller Verschleierungsstrategien vorgeführt, vor allem der Verschleierungsstrategien exkulpativer Art. Auch darauf kann ich keine Rücksicht
nehmen, sondern beschränke mich auf die Darstellung der Verschicksalung durch Fragmentarisierung – aus den eingangs erwähnten Gründen. Die Strategie der Verschicksalung durch Fragmentarisierung wird besonders deutlich bei zwei prominenten Greueltätern des Nationalsozialismus, die ich auswähle: bei Rudolf Höß, der von 1940 bis 1943 Kommandant des Vernichtungslagers Auschwitz war (in dem unter seiner Regie ca. zweieinhalb Millionen Menschen umgebracht worden sind), und bei Adolf Eichmann, der, als «schlichter» Leiter des Amts für Judentum dem Reichssicherheitsdienst unter Heydrich unterstellt, sämtliche Deportationen von Juden, Zigeunern und anderen mißliebigen Personen in die Vernichtungslager organisierte. Beider Verhalten unter Anklage ist vor allem besonders gut, das heißt ausführlich und authentisch dokumentiert, für Höß durch seine eigenen Memoiren, die er während seiner Krakauer Untersuchungshaft schrieb: «Kommandant in Auschwitz»2; für Eichmann durch die von Avner Less protokollierten Verhöre3 vor seinem Prozeß in Israel von 1961 bis 1962, wo er am 31. Mai 1962 gehängt wurde. Zur erweiternden Lektüre verweise ich aber auch auf G. M. Gilberts «Nürnberger Tagebuch»4, auf Niklas Franks «Der Vater›5 und Harry Mulischs «Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozeß»6 (Mulischs Reportage ist interessant, weil er einen Zusammenhang zwischen der Person Eichmanns und dessen Verhalten zur modernen Technik herstellt. Er legt nahe, sich von der Idee zu lösen, daß der Nationalsozialismus ein singuläres, barbarisch-irrationales Phänomen gewesen ist, und zu fragen, ob nicht ein ähnliches Bewußtsein im Dienste des technischen Fortschritts weitergezüchtet wird.)
Im wesentlichen werde ich mich auf Rudolf Höß’ Memoiren stützen, mich beiläufig aber auch auf Eichmann beziehen. Eine ausführliche biographische Beschreibung beider muß ich mir ersparen und rekurriere auf biographische Daten nur, soweit sie zur Demaskierung verschleierungsstrategischer Momente wichtig sind: Vorweg ist der entscheidende biographische Umstand zu erwähnen, daß beide – Höß und Eichmann – freiwillig der Nationalsozialistischen Partei beigetreten sind, Höß sogar sehr früh (1923), Eichmann erst in der Aufstiegsphase, am 1. April 1932, und daß sie ebenso freiwillig der SS beigetreten sind. Sie taten dies angesichts einer bis dahin typischen «Versagerlaufbahn». Beide verließen vorzeitig die Schule, um schneller als andere an den «Kick» der großen weiten Welt heranzukommen. Der eine, Eichmann, wurde mit 21 Jahren «Vertreter» bei der American Oil Company, blieb aber gänzlich erfolglos und wandte sich deshalb der NSDAP zu. Der andere, sechs Jahre älter, 1900 geboren (in der Nähe von Baden-Baden), sah mit 16 seine große Chance im Ersten Weltkrieg, den er zwar dekoriert, aber als «Verlierer» überlebte und aus dem er dennoch erst recht nicht ins bürgerliche Leben umwechseln konnte. Während Eichmann gleich ins gemachte Bett politischer Großkriminalität überwechselte, begab sich Höß 1918 ungeschickterweise zunächst ins offiziell verpönte kriminelle Milieu, das heißt, er trat einem der verbotenen Freikorps bei, die auf eigene Faust vermeintliche Staatsfeinde bekämpften. Er wurde so zunächst einmal zu einem schlichten Mörder, indem er zusammen mit anderen Freikorpsbanditen, die er immer euphemistisch «Kameraden» nennt, einen unschuldigen Menschen zu Tode prügelte. Zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, saß er sechs Jahre ab (bis 1929) und schloß
sich nach seiner vorzeitigen Entlassung den sogenannten «Artamanen» an. In der NSDAP, deren Mitglied er seit 1923 war, wollte er angeblich nichts werden, denn es gab für ihn damals, wie er 1946 in seinen Memoiren schreibt, «nur ein Ziel, für das es sich zu arbeiten, zu kämpfen lohnte – der selbsterarbeitete Bauernhof mit einer gesunden großen Familie»7. Konzentrieren wir uns von hier an genauer auf Höß. Bei den Artamanen lernt Höß auch seine Frau kennen, die er gleich 1929 heiratet. Beider Zusammengehörigkeit steht wie für Emile und Sophie «schon beim ersten Sehen … unverbrüchlich fest»8. Weniger unverbrüchlich fest stehen seine Karrieregrundsätze: Die Landwirtschaft erweist sich als mühselig, nach fünf Jahren (1934), drei Kinder sind schon geboren, ruft Himmler Höß zur SS, und Höß tritt ein, obwohl er weiß, daß sein Eintritt identisch ist mit dem Eintritt in die Wachtruppe eines Konzentrationslagers, nämlich in die des KZ’s Dachau. Ich zitiere Höß’ eigenen Kommentar von 1946 zu diesem Eintritt, denn er ist prototypisch: «Durch das in Aussicht gestellte schnelle Vorwärtskommen, also Beförderung, und die damit verbundenen finanziellen Vorteile wurde ich mit dem Gedanken vertraut, daß ich zwar von unserem bisherigen Weg abgehen müsse, aber trotzdem an unserem Lebensziel festhalten könne. Dies Lebensziel, der Bauernhof als Heimat, … stand für uns unverrückbar fest, auch in den späteren Jahren. Nie sind wir davon abgewichen. Nach dem Krieg wollte ich aus dem aktiven Dienst ausscheiden und den Hof schaffen. Nach langem, zweifelsvollem Abwägen entschied ich mich für den Übertritt zur aktiven SS. Heute bereue
ich tief das Verlassen des bis dahin gegangenen Weges. Mein Leben, das meiner Familie, wäre anders verlaufen, obzwar wir jetzt genauso ohne Heimat, ohne Hof dastünden. Aber Jahre innerlich befriedigender Arbeit hätten dazwischen gelegen. Doch wer vermag den Verlauf ineinandergeketteter Menschenschicksale zu übersehen? Was ist richtig, was ist falsch? Bei der Aufforderung Himmlers, in die aktive SS, in die Wachtruppe eines Konzentrationslagers (einzutreten), hatte ich mir über den Nachsatz, über das Konzentrationslager gar keine Gedanken gemacht. Der Begriff war mir zu fremd. Ich konnte mir darunter gar nichts vorstellen. In der Abgeschiedenheit unseres Landlebens in Pommern hatten wir kaum von einem KL etwas gehört. Mir stand nur der aktive Soldat, das Militärleben vor Augen.»9 Daß Höß hier sowohl seine ursprünglich freiwillige Entscheidung wie auch deren spätere Folgen (er wurde Blockund Rapportführer im Lager Dachau, wo er von 1934–1938 blieb; von 1938–1940 war er Adjutant und Schutzhaftlagerführer im KZ Sachsenhausen und von 1940-1943 Kommandant von Auschwitz; von 1943–1945 war er Amtschef bei der Inspektion der Konzentrationslager insgesamt) zum Schicksalsgeschehen stilisiert, ist klar, insoweit er selber von Schicksal spricht («Doch wer vermag den Verlauf ineinandergeketteter Menschenschicksale zu übersehen?»). Die Frage ist, wie macht er das, genauer betrachtet, wie schafft er es, daß seine Rede einen tatsächlich irritiert? Er fragmentarisiert den impliziten engeren Zusammenhang seines Handelns, um einen expliziten zu konstruieren,
nämlich den Schicksalszusammenhang, welch letzteren er aber wiederum nur gewinnt durch Fehlsynthetisierung, das heißt durch Zusammenschachtelung von Teilen, die er ebenfalls durch Zerstückelung bzw. Fragmentarisierung, durch Verdrehung und Verzerrung eines allerdings breiteren Wirklichkeitszusammenhangs gewonnen hat. Ich weiß, das klingt kompliziert, aber ich kann nichts dafür, daß Nationalsozialisten wie nicht nationalsozialistische Menschen, insbesondere ganz banale, wie Hannah Arendt in ihrem Buch über Eichmann betont hat10, sowas tun. Vielleicht klingt es einfacher, wenn ich sage: Höß zerstückelt faktische Zusammenhänge, schmeißt einige der dadurch gewonnenen Teilstücke weg und setzt aus den übriggebliebenen Fragmenten ein Puzzle zusammen. Dies sieht zwar so aus, daß man am Geisteszustand seines Erfinders Zweifel haben kann, wir sollten sie aber nicht haben, denn Höß hätte sich ins Fäustchen gelacht, hätte ihn diese oder eine andere Wirkung seines Puzzles vor dem Strang bewahrt. Fragen wir zunächst, was er ausläßt: Er verschweigt nicht, daß er zur SS übertrat um der Karriere willen, wenngleich er diesen Umstand beschönigt, indem er einige Zeilen vorher auf sein «wirklich nicht leichtes» Leben in der Landwirtschaft verweist. Er bestreitet aber, über die Art seines neuen Postens informiert gewesen zu sein. Wenngleich es ganz unwahrscheinlich ist, daß er von KZ’s nichts wußte, vor allem, wenn er selber sagt, «kaum» was wußte und vor allem angesichts dessen, daß er überzeugter Nazi war (außerdem wußte jedermann, daß es Lager für politische Gegner gab), so ist jedenfalls ganz unwahrscheinlich, daß sich jemand, der so voller Zweifel ist, wie Höß sich selber darstellt, gar nicht darüber informiert, welche Art
von «Job» ihm da angeboten wird. Überdies verrät er sich in der letzten Zeile: Er wußte zumindest, daß er sich bewaffnen durfte; wenn es ihm egal war, gegen wen, so spricht das auch Bände über seinen Entschluß. Aber der notwendige Zusammenhang zwischen Zweifel und Frage wird bei Höß zerrissen. Darüber hinaus unterschlägt er, daß Himmler ihn zweifellos für die KZ-Laufbahn auserkoren hatte, weil er dafür wahrhaft «prädestiniert» war, hatte er doch einschlägige Erfahrungen im Zuchthaus gesammelt. Man kann auch ganz sicher sein, daß der damals schon «große» Himmler nicht einen damals noch «kleinen» Höß persönlich zu sich bestellt hätte, ohne dafür wichtige Gründe zu haben, zum Beispiel, daß er über Höß’ NS-Überzeugung wie einschlägige Zuchthauserfahrung informiert war, sich persönlich aber von Höß’ dementsprechenden Qualitäten überzeugen wollte und auch darüber mit Höß sprach. Und wir finden dann auch wenige Zeilen weiter eine Bemerkung von Höß, mit der er zugibt, daß Eicke, sein «Vorgesetzter» im KZ Dachau, natürlich mit ihm darüber gesprochen hat. Aber diesen Zusammenhang zerstückelt Höß ebenfalls, läßt die Relevanz seiner NSÜberzeugung und Hafterfahrung für seine Bestellung zu Himmler unter den Tisch fallen und hebt nur ein Stück für das Puzzle auf: Der reine Zufall läßt Himmler in sein Leben schreiten, ein Schicksalsschlag für Höß! Es hätte, wie er später immer wieder bei anderen Gelegenheiten postuliert, sozusagen ja jeden anderen treffen können, «er» hat gar nichts «Spezifisches» an sich, was ihn von sich aus für diesen Posten womöglich prädestiniert. Der Verschicksalung durch Unterschlagung wichtiger Fragmente des Handlungszusammenhangs eilt Höß außerdem zu Hilfe, indem er sich selber fragmentarisiert: Da
ist die eine Person, die den später fragwürdigen Posten übernimmt, aber zugleich die andere, die am Lebensziel, dem Bauernhof als Heimat, festhält. Ein Spagatkünstler! Immer weiter hat ihn seine Karriere vom Bauernhof entfernt, doch er hat am Bauernhof festgehalten. Wäre er wirklich so schizophren gewesen, wie er sich darstellt, wäre er daran zerbrochen. Ist es aber so, daß die «beharrlichere» Person am Bauernhof festhält, dann hat Höß sich gar nicht als identische Person entschieden, die Entscheidung des «schwächeren» Ichs hat das «wahrere» nur auf Abwege gebracht, «eigentlich» hat er seine Entscheidung nicht gewollt, das Uneigentliche hat sich durchgesetzt, also haben wir noch mehr Schicksal, allerdings auch zwei Personen, zu denen sich eine Person fragmentarisiert hat, denn offensichtlich gehören beide Personen zueinander, doch in keinerlei Zusammenhang. Geschickt ergänzt Höß seine Fragmentarisierung des engeren Zusammenhangs zwischen Himmlers Entscheidung und seiner eigenen, zwischen sich und sich, indem er ein Argument a posteriori (aus dem nachhinein) hinzuzieht: Obwohl er vom Krieg und dessen Ende 1934 tatsächlich nichts wissen konnte, im Gegensatz zu dem, was er über Konzentrationslager wissen mußte, zieht er die Unabsehbarkeit solcher zukünftiger Dinge heran, um den Eindruck zu verstärken, er sei immer derselbe geblieben. Fragmentarisiert er so den breiteren Zusammenhang von Wirklichkeit, um das Fragment Zukunft für ein Fragment der Vergangenheit auszutauschen, synthetisiert er den Zusammenhang seiner Entscheidung auch noch falsch, indem er darauf verweist, daß ihm nur der «aktive Soldat, das Militärleben» vor Augen stand. Die darin implizite Zerstörung eines zusätzlichen breiteren Zusammenhangs, nämlich die Zerstörung des Zusam
menhangs, nach dem Soldatsein primär bedeutet, einem bewaffneten Feind im Kriege begegnen zu können, und nicht, unbewaffnete Häftlinge zu schikanieren, fällt aber kaum auf; sie ist ja notorisch benützt worden, um freiwillig vergötterte liebedienerische Befehlsgefolgschaft, die im Zivilleben per se nichts zu suchen hat, als soldatische «Ehre» zu verkaufen. Daß Höß Reue empfindet, aber nicht etwa, weil er über andere ein tödliches Schicksal verhängte, sondern weil er Jahre «innerlich befriedigender Arbeit» verloren hat, ist ein makabres Aperçu, das ich unter verschleierungsstrategischen Gesichtspunkten nicht kommentieren möchte: Das reine Selbstmitleid darin war sicher ehrlich. Im Verweis darauf, daß alles genauso gekommen wäre, wenn er nicht zur SS gegangen wäre, wird jedoch wieder ein Zusammenhang fragmentarisiert, der Zusammenhang zwischen seiner Mittäterschaft (vor allem insofern in Auschwitz für die Rüstung produziert wurde) und den zerstörerischen Zielen, die das NS-Regime aufgrund solcher Mittäterschaft verfolgen konnte – als deren Opfer er sich aber durch Zerstückelung dieses Zusammenhangs darstellen kann. Halten wir zunächst fest, daß Höß sich zu exkulpieren trachtet, indem er Zusammenhangshintergründe – engere wie breitere – zerstückelt, beliebige Stücke zusammensetzt und dabei zugleich sich selber fragmentarisiert. Letzteres betreffend haben wir schon an dieser Stelle drei offizielle Personen, die Rudolf Höß heißen, faktisch unverbunden vor uns: den Bauernhoffanatiker, den Karrieristen und den Unwissenden (der Zuchthäusler und der Nationalsozialist sind bei der Exkulpation unter den Tisch gefallen). Verbunden sind faktisch nur der Karrierist und das Bild vom Soldaten, das aber falsch ist bzw. einer Fragmentari
sierung eines Außenweltzusammenhangs entspringt. Zu den drei unverbundenen Personen treten später noch viele andere hinzu. Hier ist zunächst eine vierte, eine Unperson, zu nennen, die zur Verschicksalung der erstmaligen Entscheidung für Dachau hinzutritt, indem sie (die Unperson) alle folgenden Entscheidungen ein für allemal an die erste Entscheidung zurückkettet, weshalb ich mich bei seinem Rückblick auf diese Entscheidung so lange aufhalte. Zwar hat Höß innerhalb seiner halbjährigen sogenannten Ausbildung die widerwärtigsten Dinge erlebt. Zum Beispiel war er «gezwungen» (er erlebt alles, was er erlebt, immer nur passiv oder als Beobachter), den Vorgang genau anzusehen, daß an einem Häftling die Prügelstrafe vollzogen wurde. Er schreibt dazu unter anderem: «Ich sage gezwungen, denn hätte ich in einem hinteren Glied gestanden, hätte ich nicht hingesehen. (Sehr praktisch: Wenn man nicht hinsieht, braucht man sich nicht einmal anzustrengen, zu fragmentarisieren. Man hat ja nichts gesehen. H. H.) Mich durchlief es kalt und heiß, als die Schreierei begann. Ja, der ganze Vorgang, schon beim ersten, ließ mich schaudern. – Ich war später bei der ersten Exekution bei Kriegsbeginn nicht so erregt wie bei dieser körperlichen Züchtigung.»11 Dennoch gibt es, als Eicke, sein «Vorgesetzter», ihm «befiehlt», er müsse Blockführer in Dachau werden, und Höß sich angeblich «wieder zurück auf den schweren Acker» wünscht, «kein Zurück mehr» für ihn. Sein Eid, den er «selbst gewollt» hat, wie er zugibt, bindet ihn. Mit «eigenartigen Gefühlen» tritt er in seinen neuen «Wirkungskreis». In eine «neue Welt», schreibt er weiter, «mit
der ich die nächsten zehn Jahre verbunden und verkettet bleiben sollte»12. Ist es also doch er selber, der etwas gewollt hat, der unbedingt (im wahrsten Sinne des Wortes) Karriere machen wollte, womöglich sogar Spaß am KZ-Leben, am Befehlegeben hatte? Nein, natürlich nicht, «es» gab kein Zurück mehr. Eine vierte Person spaltet sich von ihm ab und obsediert ihn zugleich, indem sie ihn an einen einmal geleisteten «Eid» bindet. Machen wir uns angesichts dessen nicht vor, wie Höß seinen Richtern und uns vormachen will, der nationalsozialistische SS-Eid sei objektiv unverbrüchlich gewesen. Daß er dies nicht war, gibt Höß an einer anderen Stelle, auf die ich noch zu sprechen kommen werde, selber zu. Es ist also faktisch eine Unperson, die Höß obsediert, über deren Zusammenhang zu seiner Person er uns hinwegtäuschen will, indem er diesen Zusammenhang zerstückelt. Dieser «entscheidenden» Fragmentarisierung eilt er im Verlauf seiner Memoiren mit weiteren Fragmentarisierungen seiner selbst und seines Handlungszusammenhangs zu Hilfe. Den Handlungszusammenhang betreffend, liebt er es besonders, die Kausalkette zwischen sich als Befehlendem und den Taten seiner Untergebenen zu negieren. Zwar beantragte er als Kommandant in Auschwitz Prügelstrafen, war aber «selten zugegen». Mit denen, die Prügelstrafen ausführten (auf seinen Befehl), hatte er nichts zu tun, denn, so Höß: «Die Blockführer, die sich dazu drängten und die ich so kennengelernt habe, waren fast durchweg hinterhältige, rohe, gewalttätige, oft gemeine Kreaturen, die sich auch den Kameraden oder ihrer Familie gegenüber
entsprechend benahmen. Häftlinge waren für die keine Menschen.»13 So moralisch war Herr Höß: Nichts verband seine hehre Seele mit den Taten niedrig gesinnter Untergebener, obwohl man doch offensichtlich genau solche Leute brauchte, um seine Befehle durchzuführen, denn «er» konnte ja nicht hinsehen! Umgekehrt schaltet er aber sich als ausführenden Befehlsempfänger ebenfalls aus der Kette von Befehl, ausführender Person und Resultat aus, was dazu führt, daß er sogar noch «Mitleid» mit seinen Häftlingen hat. Die übergeordneten Dienststellen machen Fehler, er kann das nicht ändern. «Das Opfer war und blieb der Häftling, ... In der Regel blieb die Haftdauer (er bezieht sich auf Dachau, H. H.) der Laune des Schicksals überlassen!»14 Wird schon hier verständlicher, warum Höß eingangs von ineinandergeketteten Menschenschicksalen spricht, so wird das noch verständlicher, wenn man seine Fragmentarisierungsstrategie weiter verfolgt: Es ist nicht das nationalsozialistische Programm (mit dessen Hilfe unschuldige Leute ins KZ gesperrt werden), das zu beanstanden wäre, denn das ist an und für sich betrachtet, nach Höß, richtig. Zwar gehört auch eine solche abstrahierende Betrachtung einer sogenannten Idee, die von den Anhängern und ausführenden Organen absieht, in den Rahmen der Fragmentarisierung von Zusammenhängen, denn es dürfte wohl kaum eine Idee geben, die an sich gut ist, aber lauter freiwillige schlechte Anhänger hat. Doch nach Höß ist es nur «die Willkür, Bosheit und Niederträchtigkeit gleichgültiger oder böswilliger Individuen unter dem Bewachungs- oder Beaufsichtigungspersonal»15, die an den Häftlingen alles verdirbt.
Höß selber macht alles richtig, er scheitert nur andauernd, in erster Linie an seinen Untergebenen, letztlich sogar an seinen Häftlingen. Über seine Untergebenen im Vernichtungslager Auschwitz schreibt er: «Doch schon in den ersten Monaten, ja ich kann sagen in den ersten Wochen, wurde ich bitter gewahr, daß alles gute Wollen, alle besten Absichten zerschellen mußten an der menschlichen Unzulänglichkeit und Verbohrtheit des größten Teils der mir zugeteilten Führer und Männer.»16 Vor allem ist der Draht zwischen Befehlshabern und Untergebenen – nach Höß – in Auschwitz gebrochen, ja geradezu verdreht: «Der eigentliche Gebieter des Häftlingslagers ist der Schutzhaftlagerführer in jedem KL. … Wohl ist der Kommandant der Richtungsgebende, der Maßgebende – letzten Endes der für alles Verantwortliche. Doch der wirkliche Beherrscher des gesamten Lebens der Häftlinge, der gesamten inneren Gestaltung, ist der Schutzhaftlagerführer. … Wohl gibt der Kommandant die Richtlinien, die Anordnungen, die Befehle … Wie dies aber durchgeführt wird, liegt einzig und allein in der Hand der Führung des Schutzhaftlagers.»17 Man fragt sich, warum Höß so jammert, da doch die Vernichtungsmaschinerie in Auschwitz dermaßen perfekt lief, daß in drei Jahren zweieinhalb Millionen Menschen umgebracht werden konnten? Ganz einfach: Höß hatte sich mittlerweile in noch mehr Personen fragmentari
siert. Unter anderem war er auch ein «liebender Vater», vor allem für «seine» Zigeunerkinder, denn die Zigeuner waren – so Höß – «meine liebsten Häftlinge».18 Daher rackert er sich für die Zigeunerkinder richtiggehend ab, aber natürlich erfolglos. Ich zitiere: «Die Kinder richtig zu ernähren war schon gar nicht möglich, obwohl ich mich eine Zeitlang – auf den RFSSBefehl berufend, bei den Ernährungsämtern durchschwindelte und Nahrungsmittel für die Kleinkinder erhielt. Dies fiel aber bald weg, als vom Ernährungsministerium jegliche Kindernahrungsmittel für das KL abgelehnt wurden. Es kam der RFSS-Besuch im Juli 1942. Ich zeigte ihm das Zigeunerlager eingehend. Er sah sich alles gründlich an, sah die vollgestopften Wohnbaracken, die ungenügenden hygienischen Verhältnisse, die vollbelegten Krankenbaracken, sah die Seuchenkrankheiten, sah die Kinderseuche Noma, die mich immer erschaudern ließ, ... Er sah alles genau und wirklichkeitsgetreu – und gab uns den Befehl, sie zu vernichten, …»19 Es sei vermerkt, daß Höß, seine leiblichen Kinder betreffend, im Schwindeln sehr viel erfolgreicher war. Sein eigenes Verbot, das dem Bewachungspersonal den Zugriff auf Nahrungsreserven der KZ-Kantine versagte, überschritt Frau Höß (!) mit seinem Wissen täglich und in ungeheuerlichstem Ausmaße. Der Zeuge Stanislav Dubiel berichtet darüber im Prozeß gegen Höß am 7. August 1946 ausführlich und konstatiert unter anderem: «Es ist also nicht verwunderlich, daß sich bei einer solchen Vorsorge Hössens im sogenannten Hause Höß so
viele Waren befanden, daß für ihre Beförderung nach Hössens Versetzung vier Eisenbahnwaggons notwendig waren.»20 Weder Höß noch seine Frau hatten daher, als Höß von Auschwitz wegversetzt wurde, Lust, von dort Abschied zu nehmen. Sogar er selber schreibt: «Ja, meine Familie hatte es in Auschwitz gut. Jeder Wunsch, den meine Frau, den meine Kinder hatten, wurde erfüllt. Die Kinder konnten frei und ungezwungen leben. Meine Frau hatte ihr Blumenparadies.»21 Aber natürlich fragmentarisiert Höß auch sich und seine Familie. Der ging es gut, ihm dagegen war die «Losreißung» von Auschwitz «schmerzlich», «gerade weil ich durch die Schwierigkeiten, durch die Mißstände, durch die vielen schweren Aufgaben mit Auschwitz verwachsen war»22. Da Höß ein so liebevoller «Vater» seiner Zigeunerkinder und seiner eigenen war, liegt geradezu auf der Hand, daß er nicht nur an seinen Untergebenen scheiterte, sondern daß auch zwischen seinen Befehlen und der Vernichtung der Opfer, vor allem der Juden, kein wirklicher Zusammenhang bestand. Die Juden betreffend schreibt er: «Doch am meisten wurden sie drangsaliert durch ihre eigenen Rassegenossen, ob Vorarbeiter oder Stubenälteste. Besonders darin hat sich (in Dachau, H. H.) ihr Blockältester, Eschen, hervorgetan. … Er war die Verkörperung des ‹Bösen›. Gegenüber den SS-Angehörigen von einer widerlichen Diensteifrigkeit, gegenüber seinen Mithäftlingen, seinen Rassegenossen zu jeder Schandtat
bereit. Ich wollte ihn etliche Male absetzen. Das war nicht zu machen.»23 In Auschwitz, im Vernichtungslager, waren die Juden sogar insgesamt selber daran schuld, daß sie zugrunde gingen. «Sie wußten, ausnahmslos, daß sie zum Tode verurteilt waren, daß sie nur so lange am Leben blieben, als sie arbeiten konnten. Das Gros machte sich auch keine Hoffnung auf eine Änderung ihres traurigen Loses. Sie waren Fatalisten. (Hervorh. H. H.) … Die Aussichtslosigkeit, dem vorauszusehenden Ende zu entgehen, ließ sie psychisch an ihrer Umwelt völlig teilnahmslos werden .… Ich behaupte fest – nach dem, was ich beobachtet habe –, die hohe Sterblichkeit der Juden war nicht durch die für die meisten schwere, ungewohnte Arbeit, durch die unzureichende Ernährung, die vollgepreßte Unterkunft und all die anderen Widrigkeiten und Mißstände des Lagerlebens bedingt, sondern hauptsächlich und entscheidend durch den psychischen Zustand.»24 Freud eingedenk, kann ich den makabren Gedanken nicht unterdrücken, daß der große arische «Psychologe» Höß hier weit hinter dem jüdischen Kontrahenten Freud zurücksteht. Er hätte doch wissen müssen, daß der eigentliche «psychologische» Grund, der den Juden zum Verderben gereichte, in ihren Schuldgefühlen zu suchen war, die sie aufgrund frühkindlicher Masturbation entwickelt hatten! Er hätte dann, mit Freuds Hilfe, auch gut erklären können, warum er, Höß, von Schuldgefühlen grundsätzlich frei war. Hatte «er» doch, wie er G. M. Gilbert im Nürnberger Gefängnis gegenüber standhaft
behauptete, «nie das Verlangen gehabt», … «zu onanieren, und tat es auch nie»25. Wozu auch? «Mein Leben war bunt und vielfältig», schreibt er zum Abschluß seiner Lebensbeichte. «Durch alle Höhen und Tiefen des Lebens hat mich mein Schicksal geführt. Das Leben hat mich oft hart angepackt und geschüttelt, ich hab mich aber überall durchgebissen. Hab nie verzagt.»26 – Ja, wenn das Leben so bunt ist, muß man nicht onanieren, auch nicht verzagen, wie die jüdischen Häftlinge im KZ. Man – Höß – hat ja in Wirklichkeit ein Größen-Ich, das zwar durch Fragmentarisierung vor den Richtern und vor der Nachwelt verborgen werden soll, angesichts des eigenen Überlebens aber aufjauchzt («Wie oft bin ich um Haaresbreite dem Tode entronnen.»27). Auch angesichts des deutlich bevorstehenden Todes am Strang, der aber unwirklich für ihn bleibt, kann Höß daher noch Memoiren schreiben, statt «fatalistisch zu verzagen». Aber ich will Höß nicht psychologisieren, es lag aufgrund seines Kommentars zu den Juden nur nahe, einen kurzen Einblick in seinen wahren Charakter, den des «Überlebenskünstlers», zu nehmen. Über den Zusammenhang zwischen Größenwahn, Überlebenskunst und Gewissenlosigkeit läßt sich bei Elias Canetti in seinem Buch «Masse und Macht» in dem Kapitel «Der Überlebende» nachlesen.28 Zurück zur Fragmentarisierung, insbesondere noch zu der von Höß’ eigener Person: Während er pausenlos im Dienste seiner Karriere Menschen vernichtet, ist Höß nicht nur weiterhin Bauernhoffanatiker und Unwissender. Das heißt, was die Unwissenheit betrifft: Er «ahnte» immer bestimmte «Zusammenhänge», «konnte und wollte» sie aber «nicht für wahr halten». Erst 1946 sieht er «das Bild …
genauer»29. Um diese Unwissenheit plausibel zu machen, verwendet er übrigens die Strategie der De-Realisation, der Entwirklichung von Geschehnissen, sowohl auf der Seite der Opfer seiner Taten wie auf der Seite seiner Taten selber. Alles, was im KZ passiert, zieht immer nur in Form von Bildern an ihm vorüber, in Form von Szenen. Es ist nur Theater: «So gab es viele erschütternde Einzelszenen, die allen Anwesenden nahegingen. Im Frühjahr 1942 gingen Hunderte von blühenden Menschen unter den blühenden Obstbäumen des Bauerngehöftes, meist nichtsahnend, in die Gaskammern, in den Tod. Dies Bild vom Werden und Vergehen steht mir auch jetzt noch genau vor den Augen.»30 (Hervorhebungen H. H.) Korrespondierend dazu ist auch sein eigenes Verhalten nur Schein. Er «selbst durfte auf keinen Fall», schreibt er, seine «Zweifel» bekennen. «Ich mußte mich, um die Beteiligten zum psychischen Durchhalten zu zwingen, felsenfest von der Notwendigkeit der Durchführung dieses grausam-harten Befehls überzeugt zeigen. Alle sahen auf mich. Welchen Eindruck machten solche Szenen, wie oben geschildert, auf mich, wie reagierte ich darauf. Daraufhin wurde ich genau beobachtet, jede Äußerung meinerseits durchgesprochen. Ich mußte mich sehr zusammenreißen, um nicht einmal in der Erregung über eben Erlebtes meine inneren Zweifel und Bedrückungen erkennen zu lassen. Kalt und herzlos mußte ich scheinen, bei Vorgängen, die jedem noch menschlichen Empfinden das Herz im Leibe umdrehen ließen.»31 (Hervorh. H. H.) Kurzum: Höß spielt also nur eine Theaterrolle, sitzt aber gleichzeitig im Kino und schaut sich einen Film an. Wie
wird es mit einer Generation und deren Wirklichkeitssinn bestellt sein, die mit Fernsehapparaten schon aufgewachsen ist? Die Entwirklichung, auf die ich als eigenes Phänomen hier nicht eingehen kann, ermöglicht es Höß indes zugleich, seine Person weiter zu fragmentarisieren – in den «wahren» Höß und den «Schauspieler», in den «wahren» Höß und den «bloßen Zuschauer». Im Fragment des Zuschauers fühlt Höß sich am wohlsten, wenn er sich dabei als «psychologischer Beobachter» gerieren kann, wie schon aus seinen Bemerkungen zum jüdischen «Fatalismus» hervorgeht. Fast durchweg spielt er diese Rolle am liebsten in seinen Memoiren. Durch «teilnehmende Beobachtung» – wie man das heute in der Psychologie so schön nennt – lernt er im KZ «die Menschen kennen». Vor allem dem «Leben und Treiben» der Zigeuner, wie er sich ausdrückt, «zuzusehen wäre interessant gewesen», hätte er nicht «dahinter das große Grauen gesehen».32 An Höß ist ein großer Psychologe verlorengegangen! Der Münchener Psychologe Matussek hat versucht, das gutzumachen, indem er eine Studie über «Die Konzentrationslagerhaft und ihre Folgen»33 erstellte, in der er zu ganz ähnlichen Resultaten über die seelischen «Schwächen» und «Stärken» von Häftlingen im KZ gelangt, und auch bei ihm sind die interviewten überlebenden Häftlinge VPs (Versuchspersonen)! Während Höß am liebsten «Psychologe» ist, ist er aber auch sehr gern ein «braver Bürger». Wenn er Menschen vernichtet, so liegt das daran, daß er so gerne «arbeitet». «Ich sah nur noch meine Arbeit, meine Aufgabe»34. «Ich ging verbissen an die Arbeit.»35 «Jeder von uns arbeitete mit aller Verbissenheit weiter, als ob von unserer Arbeit der Sieg abhinge.»36 Kommen in Höß Zweifel an seiner «Arbeit» auf, weil sie im Zusammenhang
mit der Vernichtung von Menschen steht, denkt er als treusorgender «Vater» an die eigene Familie. «Wenn man die Frauen mit den Kindern in die Gaskammern gehen sah, so dachte man unwillkürlich an die eigene Familie»37 – ohne Konsequenzen, versteht sich. Ganz ferne ist ihm vor allem die Sucht nach Alkohol, der so viele andere verfielen. «Ich habe mich aber auch nie betrunken, mich gar zu alkoholischen Exzessen hinreißen lassen. … Denn nichts wirkt demoralisierender auf Untergebene, als das Fehlen des Vorgesetzten beim Dienstbeginn durch allzu reichlichen Alkoholgenuß.»38 Bis hierhin haben wir neun offizielle Personen: den ehrgeizigen NS-Mann (der allerdings sukzessive verschattet wird), den Landwirtschaftsfanatiker, den Unwissenden, den Schauspieler, den Kinobesucher, den psychologischen Beobachter, den braven Bürger, nicht zu vergessen den treusorgenden Vater «seiner» Zigeunerkinder, sowie den treuen Eidgenossen. Sie haben aber alle nichts miteinander zu tun, sind nicht durch eine Person verbunden, sie können beliebig hervortreten, aber fragmentarisiert. Die konkrete Person dahinter gibt es gar nicht, Herr Höß selber ist bei allem letztlich nicht dabei. – Das kommt daher, daß Höß noch eine zehnte Person hat, eine «innerliche»39: «Nicht ohne innere Teilnahme stand ich all den ‹Vorkommnissen› im Lager gegenüber. Äußerlich kalt, ja steinern – aber innerlich zutiefst erregt stand ich (dabei, H. H.) …»40 «Und hier beginnt eigentlich meine Schuld. Ich war mir klar geworden (in Dachau, H. H.), daß ich für den Dienst nicht geeignet war, weil ich innerlich mit dem Leben und Treiben im KL, … nicht einverstanden war. … Damals
hätte ich zu Eicke oder zum RFSS gehen und ihm erklären müssen, daß ich für den Dienst an einem KL nicht geeignet wäre, weil ich zuviel Mitleid mit den Häftlingen hätte. Ich brachte den Mut dazu nicht auf: weil ich mich nicht bloßstellen wollte, weil ich meine Weichheit nicht eingestehen wollte, …Doch durch mein Verbleiben am KL machte ich mir die dort geltenden Anschauungen, Befehle und Anordnungen zu eigen. Ich fand mich mit meinem Los (Hervorh. H. H.) ab, das ich mir freiwillig (Hervorh. H. H.) auferlegt. Im Stillen hoffend, später doch einmal eine andere dienstliche Verwendung zu finden … Wohl gewöhnte ich mich an all das Unabänderliche im KL, doch nie stumpfte ich ab gegenüber menschlicher Not. Gesehen und empfunden habe ich sie immer. Doch mußte ich über sie hinweggehen, weil ich nicht weich sein durfte. Ich wollte als hart verschrien sein, um nicht als weich zu gelten.»41 Ich kann und will diese Sätze und deren zigfache Fragmentarisierungsstruktur nicht ausführlich kommentieren, ich kann nur hoffen, daß sie nicht womöglich auch noch «gut ankommt». Es gibt kein «Los», das jemand sich freiwillig auferlegt, es gibt keinen «weichen» Menschen – im Sinne von Höß’ Weichheit, er meint ja Sensibilität –, der nicht umfällt, wenn er (vor allem noch selbst herbeigeführtes) Elend an anderen sieht, oder sich selber umbringt oder schlicht demissioniert. Es gibt überhaupt kein echtes Mitleid mit anderen ohne heraushelfende Tat. Es läßt uns das Leid anderer höchstens unbeteiligt, weil wir an uns selber mehr interessiert sind – aus allen möglichen Gründen oder aus Feigheit. Verwechseln wir aber nicht diese Feigheit, die uns alle des öfteren befällt, mit der, die Höß sich hier als
angebliche Schuld anrechnen möchte (die einzige Schuld, die er sich anrechnet). Es gibt nämlich auch keine Feigheit, die darin besteht, menschliches Mitgefühl nicht zugeben zu wollen, wenn man es hat. Was Höß sich da bescheinigt, ist nicht mangelnder Mut, sondern Lumperei. Soviel zu Höß. Wenden wir uns noch kurz Adolf Eichmann zu. Eichmanns Fragmentarisierungsstrategie ist leichter faßlich als die von Höß. Sie beschränkt sich in seinen Gesprächen mit Afner Less auf zwei Hauptlinien seiner Verteidigung. Die erstere kennen wir aus der gegenwärtigen Politik sehr gut: Eichmann hat nämlich ganz einfach immer irgend etwas vergessen, vor allem Zuständigkeiten, im Rahmen derer er Dinge verfügte oder anordnete, die fatale Konsequenzen für seine Opfer hatten. Er, der zentral für die Organisation der Transporte, die ins KZ führten, verantwortlich war, zeigte denn auch im Verhör besondere Gedächtnislücken, als man ihm nachweisen konnte, daß er 1944 die Ausrottung der Juden in Ungarn (über 400 000) sogar gegen den Willen Himmlers ganz eigenmächtig forcierte – was nebenbei auch indiziert, wie es um den Befehlsgeist von Nationalsozialisten wirklich stand. Die zweite Hauptlinie seiner Verteidigung verfolgte Eichmann, indem er mit der Redundanz eines Betrunkenen bestritt, daß zwischen seiner Anordnung von Deportationen bzw. Transporten in die KZs und der Vernichtung von Personen dortselbst irgendein Zusammenhang bestehe, der von ihm zu verantworten sei. Er war für die eine Sache zuständig, die andere ging ihn nichts an. Zwar berichtet zum Beispiel Höß von Eichmanns Besuch in Auschwitz und dessen forcierten Ermahnungen an ihn, sich nur ja mit der Vernichtung
zu beeilen – eine Wiedergabe der wirklichen Einstellung Eichmanns, an der nicht zu zweifeln ist, wenn man andere Zeugenaussagen über seine aktive Nazizeit kennt. Aber solche Aussagen sind für Eichmann natürlich nur an den «Haaren herbeigezogenes Geflunker»42. Auf die Frage von Avner Less: «Wie erklären Sie sich aber die Tatsache, daß vergast wurde und daß die verschiedenen Personen, die damit zu tun haben, alle auf Eichmann und auf die Abteilung IVB4 weisen?» antwortet er: «Ja, das ist ein … das ist eben der Witz, nicht wahr, das ist es, das ist es. Wir haben nichts damit zu tun gehabt, nichts, gar nichts. Wir haben gar nichts damit zu tun gehabt. Nichts, nichts, nichts.» Einige Sätze weiter sagt Avner Less provokativ: «Sie haben aber dienstlich gewußt, daß vergast wurde!» Und Eichmann muß zugeben: «Das habe ich gewußt, selbstverständlich, das wußte ich.»43 Da indes der Transport zu den KZs für Eichmann trotzdem mit der Vergasung in KZs nichts zu tun hat, ist der Aufenthalt im KZ für Eichmann auch reines Pech, ein Schicksal anderer Leute, mit denen er sich aber ebenso wie Höß auf eigenartige Art und Weise verkettet sieht – allerdings so, wie wir es vom lieben Onkel Doktor gewöhnt sind. Ein jüdischer Kommerzialrat namens Storfer, mit dem Eichmann zur Zeit seines Wiener Judenreferats «friedlich» für die Auswanderung von Juden zusammengearbeitet hatte, war im KZ Auschwitz gelandet und hatte sich an Höß gewandt mit der dringenden Bitte, mit Eichmann sprechen zu dürfen. Höß hatte die Bitte weitergeleitet. Eichmann fuhr nach Auschwitz und sagt dazu im Verhör: «Ich fuhr nach Auschwitz und suchte Höß auf. Der sagte mir: ‹Er wurde einem Arbeitsblock zugeteilt.› Storfer ist geholt worden und hat mir sein Leid geklagt. Ich habe
gesagt: ‹Ja, mein lieber, guter Storfer, was haben wir denn dafür ein Pech gehabt?›»44 (Hervorh. H. H.) Zum Glück haben die israelischen Behörden herausgefunden, daß hinter Storfers und Eichmanns gemeinsamem Pech ein «lachender Teufel» wirkte. Eichmanns engster Mitarbeiter, Wisliceny, dem nach dem Krieg der Prozeß gemacht wurde, sagte im Prozeß sehr viel über Eichmann aus, unter anderem berichtet Avner Less im Verhör mit Eichmann darüber: «Wisliceny wurde noch gefragt, ob Sie damals etwas über die Zahl der getöteten Juden zusätzlich gesagt hätten. Er antwortete: ‹Eichmann drückte das in einer besonders zynischen Weise aus, er sagte, er würde lachend in die Grube springen, denn das Gefühl, daß er fünf Millionen Menschen auf dem Gewissen habe, wäre für ihn außerordentlich befriedigend.›» Doch was sagt Eichmann, von Less mit seiner damaligen Rede konfrontiert? «Das ist ... Theater, Theater! Das ist... nichts andres dazu zu sagen als Theater, Theater! Alles das ist ... das ist ... diese Sache hier, ja, Herr Hauptmann, … Aber das ist Theater! Nie gesagt, nie gesagt, Herr Hauptmann, die Grube, das ist das einzige, was stimmt: Die Grube, das stimmt, das habe ich gesagt …»45 Um klarzustellen, daß hinter den Fragmentarisierungsstrategien gefesselter Nationalsozialisten ein ganz einheitlicher «lachender Teufel» steckt, der deutlich erkennbar wird, wenn man ihn losläßt, möchte ich noch aus einer
polnischen Veröffentlichung zitieren, aus dem Buch «KL Auschwitz in den Augen der SS». Es ist hierin in Auszügen das Tagebuch eines NS-Arztes dokumentiert, das dieser während seiner Aktivitäten für den Nationalsozialismus verfaßte. Er hieß Johann Paul Kremer (geb. 1884), war Doktor der Medizin und Doktor der Philosophie und gehörte, wie Jerzy Rawicz in seinem Vorwort schreibt, «formal betrachtet – als Professor und Gelehrter mit zwei Doktortiteln zur intellektuellen Elite Deutschlands»46. Als Mitglied der SS wurde er am 29. August 1942 nach Auschwitz beordert, wo er nicht ganz drei Monate blieb – zu seinem eigenen Bedauern, welches man versteht, wenn man folgende Tagebuchnotizen liest, der andere, ähnliche folgen: «5. 9. 1942. Heute Mittag bei einer Sonderaktion aus dem F.K.L.I (‹Muselmänner›: Das Schrecklichste der Schrecken …»47 – Ich füge aus den Anmerkungen der Herausgeber ein: «An diesem Tage wurde im Frauenkonzentrationslager Birkenau eine Selektion durchgeführt, in deren Folge ungefähr 800 weibliche Häftlinge vergast wurden.»48 Mit den «Muselmännern» waren von Kremer die «ausgemergelten» Frauen gemeint. Im Tagebuchtext heißt es weiter: (Hschf.) Thilo (Truppenarzt) hat recht, wenn er mir heute sagte, wir befänden uns hier am anus mundi (After der Welt). Abends gegen 8 Uhr wieder bei einer Sonderaktion aus Holland … 6. 9. 1942 Heute Sonntag ausgezeichnetes Mittagessen.
Tomatensuppe, 1/2 Huhn mit Kartoffeln u. Rotkohl (20 g Fett), Süßspeise und herrliches Vanilleeis. … Abends um 8 Uhr wieder zur Sonderaktion draußen.»49 Über die vielen Freßpakete, die Kremer nach Hause schickte, erspare ich mir ausführlichere Bemerkungen, erinnere aber an Höß’ vollgestopfte Küche in Auschwitz und sage nur: «Guten Appetit!» Gibt es zur Fragmentarisierungsstrategie eine Privatgeschichte aus meinem Leben? Ich begegne dieser Strategie seit Jahren fast täglich, meine Notizbücher sind voll davon – und das ist ja auch kein Wunder angesichts der zentralen Funktion, die Fragmentarisierungen für verschleierungsstrategische Manöver ganz grundsätzlich haben, und angesichts dessen, daß ich in Deutschland lebe. Alle meine Fragmentarisierungsgeschichten, die ich über Jahre notiert habe, sind aber viel zu lang. Da ich außerdem am Anfang dieses Kapitels darauf hingewiesen habe, daß eher der «entmachtete» als der «mächtige» Nationalsozialismus – wegen des demokratischen Öffentlichkeitsdrucks unserer Gegenwart, der exkulpative Strategien begünstigt – von aktueller Relevanz ist, möchte ich lieber noch zu diesem Punkt etwas nachtragen. Ich beschränke mich allerdings auf einige Zitate und überlasse die re-identifizierende Aufgabe, den Bezug zum Vorhergesagten herzustellen, meinen Kritikern. Ich zitiere zunächst Rudolf Augstein, der «formal betrachtet» – als Herausgeber des «Spiegels» – zur gegenwärtigen intellektuellen Elite Deutschlands zählt. Da ich aus seinem Artikel «Kein Hitler» zitiere (in dem er sich mit einem Artikel, den Hans Magnus Enzensberger vorher geschrieben und darin Hitler mit Saddam Hus
sein verglichen hat, auseinandersetzt), schicke ich ein paar Informationen vorweg, um mir einen Kommentar im nachhinein ersparen zu können. Erstens ist Augsteins Kommentar in derselben Nummer des «Spiegel» erschienen, in der von den Greueltaten Saddamscher Schergen im besetzten Kuweit berichtet wird. Zweitens hat Saddam Hussein jahrelang aus eigener Initiative Krieg gegen den Iran geführt und sein eigenes, früher blühendes Land ruiniert, vom Land des «Gegners» ganz zu schweigen. Drittens hat er im Zuge dessen unendliche Schulden gemacht, unter anderem bei Kuweit, die er nach dem Krieg einfach schlichtweg nicht zurückzahlen wollte und lieber Kuweit überfiel. Was schreibt Augstein dazu, bzw. wie sieht er die «Zusammenhänge»: «Was hat denn Saddam getan? Er ist, gestützt auf US-Appeasement und geplagt von seinen Kriegsschulden, im reichen Emirat Kuweit eingefallen. Dazu hatte er nicht viel Recht, aber immer noch mehr als Preußens Friedrich 1740 in Schlesien und Bismarck 1866 in Hannover … George Bush nach seiner Statur mußte eingreifen und ist der Sieger. Man mag es ihm gönnen. Seine Armada hatte allerdings keinen echten Gegner. Israel gab ihm mit seinen Atomwaffen für den Fall eines Gasangriffs einen Stand-by-credit.»50 Ich ergänze das Augstein-Zitat durch eine ausführliche Zitierung Henryk M. Broders, lasse indes in diesem Falle Henryk M. Broder an meiner Stelle sprechen. Ich zitiere aus seinem «Spiegel»-Artikel vom April 1991 «Unser Kampf»:
«Ein anderer Protagonist der neuen deutschen Friedenssehnsucht mit einem unverarbeiteten Groll im Herzen auf die alten und die neuen Alliierten ist Alice Schwarzer, Herausgeberin der Zeitschrift Emma. In einem Interview mit Günther Jauch im Stern-TV am 23. Januar 1991 sagte sie unter anderem: … ‹Und der Einmarsch in Kuweit ist sicherlich problematisch, aber so ganz absurd nicht. Es gibt den Staat erst seit ungefähr 30 Jahren, das war wirklich mal irakisch. Wie auch immer, es ist ein Konflikt. Aber ich bin der Meinung, daß die Amerikaner besser zu Hause geblieben wären. Sie haben uns in den letzten Jahrzehnten, ich hab’ ein gutes Gedächtnis, schon eine Menge Konflikte beschert, wo sie meinten, sich einmischen zu müssen, warum auch immer, und wo es Millionen Tote gegeben hat auf beiden Seiten …› Und auf die Frage nach den irakischen Raketenangriffen auf Israel sagte Alice Schwarzer: ‹Die sind sehr dramatisch, die sind an sich dramatisch, also gefährdete und tote Menschen sind, ist immer schlimm, die sind in bezug auch für uns Deutsche, denn die Tatsache, daß Israel existiert und Gott sei Dank existiert, hat ja auch etwas mit dem Holocaust und dem Faschismus zu tun, besonders schmerzlich. Aber ich glaube, daß das sicherste auf die Dauer für Israel wäre, eine friedliche Koexistenz mit seinen Nachbarländern, alles andere bringt Israel nicht weiter …› Wer die Eloquenz kennt, mit der die Emma-Herausgeberin ansonsten auftritt, konnte sich über diese Stotterstrecke nur wundern. Läßt man die Verlegenheitsschübe weg, bleibt eine Aussage übrig. Die Raketenangriffe auf Israel waren ‹für uns Deutsche besonders schmerzlich›. Schon wieder sind die Juden bevorzugt worden! Wäh
rend ihnen nur die Scud-Raketen um die Ohren flogen, kam ‹uns Deutschen› gleich der Holocaust wieder hoch. Hat unsere Protagonistin deswegen, was Israel und die Juden angeht, mit einer gewissen Befangenheit zu kämpfen, kann sie sich zu anderen Fragen ganz ungeniert äußern. Dabei gerät ihr nicht nur die Dritte Welt ins Rutschen. Der Einmarsch in Kuweit, erfahren wir, war ‹sicherlich problematisch, aber so ganz absurd nicht›, also ungefähr so wie die Vergewaltigung einer Frau, die sich den Avancen eines Verehrers widersetzt und dann eben mit Gewalt genommen wird. Problematisch, aber nicht ganz absurd. Daß es Kuweit als Staat ‹erst ungefähr seit 30 Jahren› gibt, ist ein Argument von ähnlichem Charme. Zum einen ist die Bundesrepublik als Staat gerade 10 Jahre älter, zum anderen gibt es eine Reihe von Staaten, die noch jüngeren Datums sind. Die Amerikaner, meint sie, wären besser zu Hause geblieben, und der Kontext, in den sie ihre Meinung einbettet, der Verweis auf die ‹Menge Konflikte› und ‹Millionen Tote›, läßt vermuten, daß sie nicht nur die letzte Intervention meint, sondern auch jene, die schon 45 Jahre zurückliegt. In diesem Falle würde Alice Schwarzer nicht Emma, sondern bestenfalls eine Zeitschrift der NSFrauenschaft redigieren, was im Detail, zum Beispiel, was die Beurteilung des US-Imperialismus angeht, keinen großen Unterschied ausmachen würde. Der Gedanke, wo sie heute wäre und was sie machen würde, wenn die Amerikaner damals zu Hause geblieben wären, trübt ihr nicht die Weltsicht, obwohl sie doch ein so gutes Gedächtnis hat. Alice Schwarzer lehnt sich zufrieden zurück und sagt ganz gelassen: ‹Ich bin sehr froh, daß die Amerikaner keinen Grund haben, uns hier zu helfen.›
Diese neue deutsche Unschuld, die linke Variante der Gnade der späten Geburt, hat auch Hans Christian Ströbele dazu gebracht, einen Satz zu sagen, den er noch heute inhaltlich für richtig und nur für unglücklich formuliert hält: ‹Die irakischen Raketenangriffe auf Israel sind die logische, fast zwingende Folge der israelischen Politik.› Nur ein paar Tage vor diesem Satz sagte er in einem Telefongespräch mit dem grünen Kreistagsabgeordneten in Tübingen, Christian Vogt-Moykopf: ‹Wenn ich eine Eskalation des Krieges damit verhindern könnte, daß eine Million Juden sterben müßten, würde ich das in Kauf nehmen.› Anlaß für das Telefonat und die Äußerung, für die Vogt-Moykopf die Hand zum Eid hebt, war ein Brief, den einige baden-württembergische Grüne, darunter auch Vogt-Moykopf, an den israelischen Botschafter in Bonn geschrieben und in dem sie sich für die Lieferung von ‹Patriot›-Raketen an Israel ausgesprochen hatten. ‹Nach dem Bekanntwerden unseres Briefes rief mich Ströbele im Landtag an. Er sagte, ich sei doch sonst immer ein ,so vernünftiger Mensch‘ gewesen und er verstehe gar nicht, wie ich die Lieferung von Patriots und in bestimmten Fällen die Entsendung von Truppen ,in diesen Staat‘ befürworten könnte … Jede Waffenlieferung nach Israel würde eine ,Eskalation des Krieges und der Konflikte im Nahen Osten überhaupt‘ nach sich ziehen … Ich fragte ihn weiter, ob ihm das Leben von möglicherweise Tausenden von Menschen gleichgültig sei, worauf er wörtlich antwortete: ,Wenn ich eine Eskalation des Krieges damit verhindern könnte, daß eine Million Juden sterben müssen, würde ich das in Kauf nehmen.‘ Die Frage, ob Ströbele seine Meinung vertraulich oder
versehentlich kundgetan oder Ansichten vertreten hat, die seine eigentliche Meinung nicht wiedergeben, muß man späterer Forschung überlassen. Fest steht, daß er in jedem Fall die Haltung eines Teils der grünen Basis wiedergegeben hat. Nach seinem im Interesse der Partei vollzogenen Rücktritt meldete sich nicht nur DKPKünstler Franz Josef Degenhardt mit einem Leserbrief in der taz zu Wort (‹Lieber Ströbele, ich gratuliere Dir herzlich …›), es kamen auch Solidaritätsadressen von weniger bekannten Friedensfreunden, denen Ströbele aus dem Herzen gesprochen hatte. Galt früher mal die Parole ‹Die Juden sind unser Unglück!›, so verständigte sich die Friedensbewegung diesmal auf das Motto: ‹Die Juden sind an ihrem Unglück selber schuld!› Daß Saddam Hussein seit langem die Vernichtung Israels angekündigt hatte, wurde entweder ignoriert oder bagatellisiert. Man habe keine Zeit gehabt, auf die Bedrohung Israels hinzuweisen, erklärte Brigitte Erler am Vorabend der großen Bonner Friedensdemo. Als die ersten irakischen Raketen in Tel Aviv einschlugen, da wären die Aufrufe zu der Kundgebung schon gedruckt gewesen.»51 Es drängt sich die Frage auf: Sind die von mir und Henryk M. Broder zitierten Protagonisten gefesselte oder schon wieder losgelassene «lachende Teufel» im Engelsgewand? Die Antwort sei freigestellt, doch ist offenbar das «Vergessen» und «Ignorieren» von Zusammenhängen gerade in Deutschland notorisch. Als eine «Deutsche» unter «Deutschen» finde ich daher nur mit Heinrich Heine die abschließenden Worte:
Wenn ich, beseligt von schönen Küssen, In deinen Armen mich wohl befinde, Dann mußt du mir nie von Deutschland reden; – Ich kanns nicht vertragen – es hat seine Gründe. Ich bitte dich, laß mich mit Deutschland in Frieden! Du mußt mich nicht plagen mit ewigen Fragen Nach Heimat, Sippschaft und Lebensverhältnis; – Es hat seine Gründe – ich kanns nicht vertragen. Die Eichen sind grün, und blau sind die Augen Der deutschen Frauen; sie schmachten gelinde Und seufzen von Liebe, Hoffnung und Glauben; – Ich kanns nicht vertragen – es hat seine Gründe.
Teil III: Ursprung und Elegie der sanften Gewalt 1. Die «heile» Familie und die «heile» Welt In den vorhergegangenen Kapiteln habe ich eine beträchtliche Anzahl von Formen der «sanften Gewalt» vorgeführt, das heißt von Strategien, die dazu geeignet sind, Ausbeutung und Unrecht, sogar schlimmste Greueltaten durch Untergrabung unseres Erkenntnisvermögens zu verschleiern. Der Katalog, den ich bisher zusammengestellt habe, ist zwangsläufig unvollständig. Es fehlt vor allem die beliebteste und einfachste Strategie: die Lüge. Ihrer Sonderstellung entsprechend werde ich diese auch noch zum Abschluß behandeln, und zwar in der Form einer Kolportage der «Irrfahrten» des Odysseus. Zuvor möchte ich einer ganz grundsätzlichen Frage nachgehen, die bisher offengeblieben ist. Zum Zwecke ihrer Exposition eignet sich ein Gleichnis: Wenn Sie im Vorgarten Ihres Hauses oder im Keller eine Ratte entdecken, werden Sie einen Schock bekommen. Manche werden vielleicht beherzt genug sein, die Ratte sofort zu erschlagen – mit dem nächstbesten Gegenstand, der zur Hand ist. Andere werden so erschrocken sein, daß die Ratte Zeit genug hat zu entkommen. In der Regel wird sich unser Schreck nach einer Weile legen. Wir machen uns dann zwar eine Zeitlang noch Sorgen, woher die Ratte gekommen sein mag, vergessen aber unsere Sorgen
bald und lassen die Sache auf sich beruhen. Anders ist es, wenn wir ein paar Tage später schon wieder auf eine Ratte treffen, womöglich sogar auf zwei, gar auf drei. Und wenn das andauernd so weitergeht, verdirbt das die Laune; wir müssen etwas dagegen unternehmen. Wenn wir selber nichts von Rattenvertilgung verstehen, aber gewitzt sind, werden wir einen Fachmann zu Rate ziehen, der mit Rattengift zu uns nach Hause kommt. Ist dieser wirklich ein Fachmann und kein Stümper, der uns nur Geld für Rattengift aus der Tasche ziehen will, wird er nicht mit uns gemeinsam darauf warten, bis eine Ratte sich bemerkbar macht, er wird auch das Gift nicht willkürlich überall in der Gegend versprühen, er wird vielmehr versuchen, das Nest zu finden, die Brutstätte unserer Rattenplage. Dabei tut er übrigens gut daran, sich ordentlich davor zu wappnen, daß ihm die Ratteneltern nicht ins Gesicht springen. Nachdem wir nun aber gesehen haben, daß es sich mit Verschleierungsstrategien ähnlich verhält wie mit einer Art Rattenplage – aus primitiven Anfängen, wie etwa bei den Baruya, entsprungen, haben sie sich über Jahrtausende verbreitet und reproduzieren sich auch heute fortlaufend in mutierendem Gewande –, ist es angebracht, das Nest aufzuspüren, aus dem sie entspringen. Ich schlage damit zugleich die Brücke zurück zum zweiten Kapitel, zu Franz Kafka, beziehungsweise zur Wurzel der psychologischen Wirksamkeit von Verschleierungsstrategien in induzierten Schuldgefühlen und deren notorischer Verankerung in unserer Kindheit. Inwiefern? Es interessieren mich weniger die Motive, die Menschen dazu stimulieren, Verschleierungstäter zu sein. Ich habe hier ja nicht über normale «Verbergungsdelikte» gesprochen, die jedem gestattet sind, der sich selber nicht schaden
will. (Wie zum Beispiel das «Delikt», das ich mir inzwischen gestatte, meinem Freund Ali ab und zu vorzulügen, ich hätte kein Geld dabei, wenn er mal wieder welches von mir borgen will.) Ich habe vielmehr über die Verschleierung von Unrecht und Ausbeutung gesprochen, deren Motivierung, zumindest ihrem Charakter nach, auf der Hand liegt. Dieser ist immer parasitär, das heißt ausbeuterischer Natur, mag auch in einzelnen Fällen die dahinter liegende Motivationsstruktur viel komplizierter sein, zum Beispiel von verdrängten Machtkomplexen oder Rachegelüsten gespeist, ja, oftmals das Produkt einer zurückliegenden unbewältigten kindlichen Tragödie. Dies ist zum Beispiel bei meinem Freund Ali der Fall, mit dem ich vermutlich sonst gar nicht mehr reden würde. Ich weiß nämlich, daß seine Mutter ihn gleich nach der Geburt sitzenließ. Der Vater war vorher schon verschwunden. Der nie vorhandenen Liebe, vor allem der seiner biologischen Mutter, die er, gerade weil er sie nicht hatte, erst recht mythisch überhöht, trauert Ali unbewußt nach und klagt diese Liebe strategisch bei anderen, greifbareren Menschen ein. Das untergründige Motiv ist also sogar verständlich, glaubt doch Ali, einen gerechtfertigten Anspruch auf etwas zu haben, das ihm ungerechtfertigterweise in seiner Kindheit entzogen worden ist. Indes klagt er seinen Anspruch bei den falschen Leuten ein, die deshalb seine Ansprüche nicht nur verständlicherweise, sondern ganz objektiv gerechtfertigt nach einiger Zeit als Zumutung zurückweisen. Ein erwachsener Mensch, füge ich erklärend hinzu, muß, auch wenn das bitter ist, begreifen, daß er lebensalterspezifische Zuwendungen und Glückserlebnisse nicht einholen kann, und sollte, wenn er das schon nicht begreift, seine Wünsche oder seinen Groll zumindest an den Personen auslassen, die
für seine Versagungserlebnisse verantwortlich zu machen sind. Merkwürdigerweise tun gerade das aber die wenigsten Menschen, und sie tun es insbesondere dann nicht, wenn die versagenden Personen Eltern waren. Kehren wir kurz zum Ausgangspunkt zurück. Genauso wie der parasitäre Charakter der Motivierung von Verschleierungstätern auf der Hand liegt, versteht sich auch von selbst, daß Täter diesen Charakter ihrer Motive verbergen müssen, falls sie damit zu rechnen haben, daß ihre potentiellen Opfer oder Gegner einigermaßen intelligent sind und sich zu wehren wissen und daß sie also, wenn sie sie nicht zwingen können, Macht über ihr Bewußtsein gewinnen müssen. Es gibt daher auch einen guten Test, mit dem man Verschleierungstäter entlarven kann, der aber leider nicht zur Anwendung zu empfehlen ist. Man braucht ihnen nur das Gefühl zu geben, sie seien gerade in einer Position der Stärke, dann lassen sie sofort die Maske fallen. Weniger auf der Hand mag liegen, was außerdem schlicht der Fall ist, daß wir nämlich alle potentielle Verschleierungstäter sind, da wir alle in irgendeiner Form in parasitäre Machenschaften größeren oder kleineren Formats verstrickt sind – vor allem in durchaus gewollte. Zur Schärfung der Selbstwahrnehmung für das kleinere Format empfehle ich wärmstens die Lektüre von Siegward Roths jüngst erschienenem Buch «Die Kriminalität der Braven»1. Es handelt sich bei dem Autor um einen deutschen Polizisten, dessen Dienstauffassung und -eifer sich wohltuend von Rudolf Höß’ Auffassungen unterscheiden und der daher auch nicht leichtsinnig zwischen sich und «bösen» anderen trennt. Aber wie gesagt, die parasitäre Wurzel aktiver Verschleierung interessiert mich hier weniger; nicht deshalb,
weil man sie nicht allerschärfstens im Auge behalten muß, sondern weil sie per se nicht ausrottbar ist. Da Verschleierungsstrategien von Menschen praktiziert werden, ist das einzige, was man gegen sie tun kann, ohne selber Unheil anzurichten, ihre Aufdeckung. Sie kann denen, die eher potentielle Opfer als Täter sind, dazu verhelfen, sich gegen Verschleierungsstrategien besser zur Wehr zu setzen und damit zur Begrenzung verschleierungsstrategischer Umtriebe beitragen. Leider läßt sich nun aber feststellen, daß potentielle Opfer nicht nur gern auf faktische Verschleierungsstrategien hereinfallen, weil letztere Irritationen und Schuldgefühle bewirken, über deren innerer Abwehr das Opfer vergißt, den Täter zu identifizieren. Potentielle und aktuelle Opfer wehren sich vielmehr zumeist heftig dagegen, wenn man ihnen zur Hilfe eilt und ihnen aufdeckt, daß sie gerade wieder einmal strategisch vereinnahmt worden sind. Und nicht einmal nur das. Der Aufklärer oder die Aufklärerin muß sich sogar davor hüten, nicht selber zum Täter gestempelt zu werden, der einem was Böses will, zum Hexer oder zur Hexe. Man versuche zum Beispiel, eine Frau aus den Händen eines Felix Krull zu retten, bevor er sie ruiniert hat, und man wird sein wahres Wunder erleben. Liegt das daran, daß Opfer letztlich doch auch selber Täter mit parasitären Absichten sind? In einigen, sehr wenigen Fällen: ja. In den meisten Fällen aber nicht, sage ich apodiktisch, damit wir nicht auf das Niveau vorverschleierungsanalytischer Naivität zurückfallen. Es kann daher ein solcher Widerstand – wägt man alle möglichen Gründe gegeneinander ab – nur plausibel sein, wenn allen variierenden Verschleierungsstrategien nicht nur ein Grundmotiv, sondern ein Grundmuster inhärent ist – ein
Denkmuster, dem wir einen höheren Wahrheitscharakter als allen eigenen Zweifeln zuzuschreiben geneigt sind. Tatsächlich gibt es dieses Grundmuster, und es läßt sich durch die einfache Formel ausdrücken: X = U. (Es war ein dramatisches Unternehmen, herauszufinden, woher die Redensart, jemandem «ein X für ein U vormachen», stammt. Mein Kollege Claus Bussmann hat mir schließlich geholfen: Das «X für U» geht darauf zurück, daß in der spätlateinischen Sprache, also auch noch im Mittelalter, das V wie U geschrieben wurde. Da X = 10 und V = 5 ist, kommt der Spruch, jemandem ein X für ein U vormachen, daher, daß Gläubiger ihren Schuldnern gerne aus einem V ein X, das heißt aus einer 5 eine 10 gemacht haben, um mehr Schulden eintreiben zu können.) Die Banalität dieser Formel kann nicht überraschen, denn ich betonte ja mehrfach den banalen Charakter von Verschleierungsstrategien im Gegensatz zur komplizierten Denkanstrengung, die aufgewandt werden muß, um sie zu demaskieren. Alle Verschleierungsstrategien laufen letztlich darauf hinaus, uns ein X für ein U vorzumachen, uns dahin zu bringen, ein Nichts für ein Etwas, eine kleinere Gabe für die größere, eine irreal symbolische Dimension für wichtiger als die reale Dimension unserer Existenz zu halten. Überraschend muß dagegen der Gedanke erscheinen, daß von der aller Logik widersprechenden Formel, X sei U, eine Faszination ausgehen soll, die unser Denken lähmt. Jedes Kind weiß doch, daß X = X ist. Ja, jedes Kind weiß das, es lernt das sogar in allen sogenannten zivilisierten Gesellschaften in der Schule, vor allem im Rechen- und Mathematikunterricht, und wehe, es würde dort X mit Y verwechseln! Aber wir sollen ja auch nicht X mit Y verwechseln, sondern X mit U. Wir bewegen uns, wenn wir
mit Verschleierungsstrategien konfrontiert sind, im moralischen Bereich der Wertungen, der qualitativen Urteile und Aufrechnungen. So gesehen impliziert die Gleichung X = U in etwa die moralische Formel: Das Schlechte, das man sieht, ist das Gute, das man nicht sieht. Es kann daher vorkommen, daß derselbe Lehrer, der uns im Mathematikunterricht verbietet, X mit Y zu verwechseln, uns in anderen Bereichen umgekehrt ermahnt, nur ja nicht zwischen Gut und Schlecht allzu klar zu unterscheiden. Vor allem nicht auf der platonischen Logik zu bestehen, daß ich von einem Unrecht, das ich sehe oder erfahre, notwendigerweise nur auf ein schlechtes «Dahinter» schließen kann, sowie von einer rechtschaffenen Handlung, die ich sehe oder erfahre, nur auf ein gutes «Dahinter». Ein solcher Lehrer kann aber nicht nur vorkommen, er kommt – ob als Mathematiklehrer oder sonstiger Lehrer, als Lehrer oder Lehrerin – ständig und pausenlos vor. Ist also das Rattennest die Schule? Nein, Lehrer bekräftigen zweifellos, wenn sie in einem verschleiert ausbeuterischen politischen System unterrichten, das Grundmuster aller Verschleierungsstrategien, und zwar auf unheilvolle Weise. Aber sie tun das nicht einfach für das System oder für Geld. Sie tun das, weil sie in der Regel selber Eltern sind, weil sie auf alle Fälle einmal Eltern oder so etwas ähnliches hatten und weil Lehrer im Durchschnitt besonders elternidentifizierte Kinder sind – behaupte ich. Das Ursprungsnest, das Nest, in dem das Grundmuster aller Verschleierungsstrategien geboren wird, ist die Familie, das Elternhaus, die Eltern-KindBeziehung. Ich meine damit ganz strikt die biologische Familie, nicht deren symbolische Ersatzformen. Wenn ich dies behaupte, folge ich primär meiner eigenen Erfahrung
und nur sekundär den Schriften von Alice Miller. Ich will mich aber trotzdem auf Alice Miller beziehen, erstens, weil sie das aufgrund ihrer einzigartigen Rigorosität in Sachen Familie verdient, zweitens, weil ich mich mit ihr zugleich auseinandersetzen möchte, insoweit mein eigener Standpunkt von dem ihren abweicht. Ich beziehe mich – Alice Millers Standpunkt betreffend – auf diejenigen Bücher, die vor allem dem verschleiernden Charakter elterlicher Erziehung gewidmet sind, das heißt auf das schon erwähnte Buch «Du sollst nicht merken» wie auf zwei neuere Bücher, nämlich «Das verbannte Wissen» und «Der gemiedene Schlüssel»2. In allen drei Büchern belehrt uns Alice Miller in erster Linie darüber, daß wir uns in einem Irrtum befinden, wenn wir glauben, wir seien aufgeklärte Atheisten. Wie sie zeigen kann, halten nämlich selbst die rigorosesten Vertreter des aufgeklärten Atheismus, wie etwa Nietzsche, am eigentlichen Kern aller Religiosität (nicht zu verwechseln mit Metaphysik) fest, am Gebot: «Du sollst nicht merken.» Der für das Abendland verbindliche Mythos, den Alice Miller zu Recht zur Exemplifizierung heranzieht, ist der im Alten Testament verzeichnete Mythos vom Sündenfall. Eine in der Tat denkwürdige Geschichte, belehrt sie uns doch darüber, daß Erkenntnis, und zwar die von Gut und Böse, eine Sünde ist, die zu begehen schlimme Folgen hat. Man wird aus dem Paradies vertrieben. Daß Eva diese Sünde begangen hat und damit über die gesamte Menschheit das Unheil der Paradiesvertreibung gebracht hat, wundert den, der über den machtstrategischen Charakter geschlechterdualistischer Klischees informiert ist, nicht. Grüblerisch sollte indes stimmen, daß Eva nur im Paradies denken konnte. Nachher tut sie das überhaupt
nicht mehr, wie uns ja alle Männlichkeitspropagandisten stetig verkünden. Zu Alice Millers gerechtfertigter Heranziehung des biblischen Sündenfalls möchte ich anmerken, daß es mir lieber wäre, sie zöge zur Erläuterung des religionsfundierenden Denkverbots im Abendland nicht nur die jüdischalttestamentarische, sondern auch die christliche Tradition heran. Im Gegensatz zu ihr kann ich nämlich in Jesus Christus nicht den Überwinder des altjüdischen Denkverbots sehen, sondern nur dessen geschickteren Verschleierer. Das gilt es insbesondere zu bedenken, wenn man weiß, daß die Lehren des noch geschickteren Verschleierungsstrategen, nämlich Paulus’ Lehren, zum eigentlichen dogmatischen Fundament christlicher Tradition geworden sind und daß dieser, wie Christus allerdings auch schon, ausschließlich den sogenannten Glauben zum alleinseligmachenden Fundament christlicher Überzeugung erklärt hat, und zwar in eindeutiger Frontstellung gegen weltliches Wissen. Ich sehe daher im Fundament der christlichen Religion nichts anderes als die pseudo-liberalisierte Fassung des Fundaments altjüdischer Religiosität. Sagt der Gott der letzteren: Du sollst nicht denken, sagt sein sogenannter Sohn: Du brauchst nicht zu denken. Diese verniedlichte Form des Denkverbots ist zweifellos attraktiver, aber vielleicht sogar verheerender, weil sie die latente Drohung, daß Denken mit dem Risiko verbunden ist, das Paradies zu verlieren, um so unbewußter transportieren kann. Jenseits meiner Anmerkung zeigt Alice Miller indessen ganz richtig und deutlich auf, daß wir das genannte Denkverbot als «aufgeklärte Menschen» offiziell ablehnen, ihm aber dennoch ständig verfallen, weil wir zwar am liebsten den gesamten Dekalog wegwerfen würden, mitnichten
aber ein Gebot, das wir hüten, als wäre es unser Augapfel, nämlich das Gebot: «Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt.»3 Wie konsequent wir das tun, belegt Alice Miller an zigfachen Beispielen aus ihrer psychoanalytischen Praxis, am Erfinder der Psychoanalyse, an Literaten, Künstlern, Philosophen, insbesondere in den zwei letztgenannten Büchern. Deutscher Fragmentarisierungskünstler, die im letzten Kapitel zu Worte kamen, eingedenk, zitiere ich indes nur folgende Sätze Alice Millers: «Als der Sohn des bekannten Massenmörders Hans Frank, des NS-Generalgouverneurs in Polen von 1939 bis 1945, die Taten seines Vaters eindeutig verurteilte, ohne sie zu beschönigen, zu verzeihen, zu relativieren oder sich selbst für diesen Bericht zu entschuldigen, löste er damit eine Welle von Wut und Empörung aus. Die Leser schrieben unter anderem: ‹Was auch immer Hans Frank getan haben mag, seine größte Schandtat besteht zweifellos in der Zeugung dieses perversen Monstrums von Sohn.› Denn: ‹Jeder dürfte, ja sollte, diesen Artikel schreiben, aber nicht der Sohn. Damit reagiert er ebenso unmenschlich wie einst der Vater.› Es wird also als unmenschlich und zutiefst abscheuerregend bezeichnet, wenn ein Kind eines Massenmörders nicht bereit ist, seinen Vater zu idealisieren, die Wahrheit zu verschweigen und sich selbst zu verraten.»4 Aber weshalb ist für Alice Miller das Festhalten an der Ehrfurcht vor den Eltern identisch mit dem grundsätzlichen Denkverbot des biblischen Mythos vom Sündenfall?
Ich erinnere an meine Ausführungen zum Machtaufbau der Baruya, zu Kafkas Brief an seinen Vater und zu Dora S. bei Freud. Allen drei Beispielen ist gemeinsam, daß Kinder im Interesse von Eltern vereinnahmt werden, daß diese Vereinnahmung strategisch durch Induktion von Schuldgefühlen vor den Kindern verschleiert wird und daß sich Kinder dagegen entweder gar nicht oder nur um einen sehr hohen Preis verwahren können. Im Hinblick auf die Baruya erinnere ich zusätzlich daran, daß ihr «primitiver» Machtaufbau uns Einblick in einen Sachverhalt verschafft, dessen politische Brisanz ich hier eigens hervorheben möchte. Die primäre Strategie des Aufbaus ausbeuterischer, politischer Herrschaft ist, wo Ausbeutung sich nicht allein auf Gewalt stützen kann, sondern verschleiert werden muß, die Vereinnahmung von Kindern durch Eltern bzw. ältere Menschen überhaupt. Sie steht an den historischen Anfängen verschleierungsstrategischer Politik und zieht sich durch alle Zivilisationstypen hindurch, was ganz verständlich ist. Kinder sind zwangsläufig die unwissendsten und abhängigsten Personen und daher am leichtesten wie effizientesten manipulierbar, was man nicht erst heute aus Entwicklungspsychologie und Psychoanalyse wissen kann. Es empfiehlt sich daher grundsätzlich, darauf zu achten, welche Art von Sorgfalt die Erwachsenenwelt in einer Gesellschaft auf die Gewissensbildung ihrer Kinder verwendet bzw. mit welcher Sorglosigkeit sie dieser begegnet. Da die Baruya ihre Kinder nicht nur zu individuellen Zwecken verwenden, sondern als Schachfiguren im gesamtpolitischen Aufbau von Macht und da die Macht patriarchalisch sein soll, setzen sie verschleierungsstrategisch, neben der Induzierung von Schuld, sehr wirksam das Mittel der
Privilegierung ihrer Söhne ein. Diese Strategie finden wir zwar auch in modernen Durchschnittsfamilien, oft aber in beschönigter Form, soweit demokratische Durchschnittsväter und -mütter ein geringeres Interesse an der politischen Laufbahn ihrer Kinder nehmen. Die beschönigte Form ist die der «elterlichen Liebe», die schon bei Kafka und Dora S. eine Rolle spielte: Kafkas Vater «opfert sich auf», Doras Vater «liebt» seine Tochter und schickt sie «besorgt» in die Psychotherapie. Eingedenk all dessen und vor allem der unerträglichen seelischen Zerreißprobe, der sich Kafka angesichts der verschleierten Vereinnahmung durch seinen Vater – unter Mithilfe seiner Mutter – ausgesetzt sah, möchte ich mich bei der Präzisierung von Alice Millers Kerntheoremen so kurz wie möglich fassen: Auch in allermodernsten Gesellschaften werden Kinder, und zwar die meisten, entweder in der einen oder anderen Form unter dem gesetzlichen Schutz der Gesellschaft von Eltern körperlich, sexuell oder seelisch mißhandelt. Ich sage extra mißhandelt, denn es geht nicht um die Ohrfeigen, mit denen auch Buschkinder oder Bambuti-Kinder rechnen müssen, wenn sie nicht erwachsen werden wollen. Es geht darum, daß Kinder willkürlich geschlagen werden, weil Eltern ihre Wut an ihnen auslassen oder sie dafür bestrafen, daß sie Anforderungen nicht erfüllen, die sie nicht erfüllen können. Sie werden sexuell mißbraucht im Dienste des Begehrens von Eltern, Onkel, älteren Geschwistern, und wenn sie nicht von Eltern selber sexuell mißbraucht werden, dann drücken Eltern zumindest ein Auge zu. Werden Kinder nicht willkürlich geschlagen oder sexuell mißbraucht, dann werden sie seelisch vereinnahmt, müssen gescheiterte Zukunftspläne der Eltern verwirklichen oder
emotionale Einsamkeitslücken der Eltern stopfen, trösten, wo sie selber noch Hilfe brauchten, verstehen, wo sie selber Verständnis nötig hätten. Sie werden in jeder Hinsicht im Dienste der Interessen von Eltern überfordert, und ich füge zu den genannten Überforderungen eine hinzu, die Alice Miller immer gerne ignoriert: Auch laissez-faire-behandelte Kinder werden überfordert, denn Kinder brauchen nicht nur körperlichen und emotionalen Schutz und seelisches Verständnis, sie brauchen auch eine erkenntnisleitende Stütze, sind doch Menschen zumindest potentiell denkende Wesen. Sie brauchen diese Stütze vor allem bei der Unterscheidung von Gut und Böse, und daher kann ich Alice Millers Meinung nicht teilen, daß Kinder am besten erzogen werden, wenn wir sie «lieben, wie sie sind»5. Ich ziehe den Ausdruck, wenn wir sie «respektieren» vor, denn Kinder sind nicht immer «lieblich», sie stellen auch Ansprüche, die gerechtfertigterweise zurückgewiesen werden müssen, die Frage ist daher eher: Wie bringt man ihnen das ehrlich bei? Doch zurück zu Alice Miller. Kinder werden also entweder direkt mißhandelt oder indirekt durch Überforderung mißbraucht. Sie merken das auch, aber sie dürfen es nicht merken. Dem, daß sie es merken dürfen, steht nämlich entgegen, daß Eltern wie Erzieher im allgemeinen alles nur tun, was sie tun, weil sie «das Beste» für das Kind wollen. Solche Phrasen, wie Alice Miller sie nennt, zementieren aber trotz ihrer Phrasenhaftigkeit im Kind das entscheidende Denkverbot, von dem vorher die Rede war. Es darf die Phrasen nicht als verlogenes Gerede entlarven, muß an der impliziten Gleichung von «Böse gleich Gut» irgendwie festhalten, weil es ihm sonst noch übler erginge, als es ihm ohnehin schon geht. Dies ist der entscheidende Punkt, den
Alice Miller unter psychotherapeutischen Gesichtspunkten hervorhebt. Sie verweist aber auch beiläufig auf seine politische Relevanz. «Ohne Schwarze Pädagogik gäbe es auch vieles andere nicht, es wäre zum Beispiel undenkbar, daß phrasendreschende Politiker auf demokratischem Wege höchste Machtpositionen erlangen können. Wenn aber den Wählern in ihrer Kindheit, als sie noch dazu befähigt gewesen wären, das Phrasendreschen mit Hilfe ihrer Gefühle zu entlarven, gerade dies verboten wurde, wird ihnen diese Fähigkeit später abhanden kommen.»6 Das gilt aber auch durchaus für Menschen, die sich politisch aktiv engagieren. Ich zitiere Alice Miller: «So halten sich viele Menschen für politisch aktiv, wenn sie mit Hilfe des Lüftens versuchen, den aufsteigenden Rauch zu beseitigen, sich allenfalls mit abstrakten Theorien begnügen (US-Imperialismus), die dessen Herkunft erklären, und in aller Ruhe die Tatsache ignorieren, daß es in ihrer Nähe lichterloh brennt.»7 (Man denke z. B. daran, daß Berlin ohne jede Rücksicht auf das Schicksal der Bürger Bonns zur Hauptstadt gemacht worden ist, ohne daß das die Öffentlichkeit irritiert. H. H.) Unter meinem eigenen Gesichtspunkt gesehen, der Frage nach dem «Nest», aus dem das Grundmuster aller möglichen Verschleierungsstrategien, politischer wie individueller, entspringt, glaube ich, daß diese Frage mit der Darstellung von Alice Millers Thesen analytisch hinreichend geklärt ist: Wer als Kind schon das Grundmuster erlernt
hat, wie man eigene (nämlich elterliche Interessen) als Interessen anderer (des Kindes) verkauft, kann dies leicht variieren, wenn er gewissenlos genug ist, Stratege werden zu wollen. Umgekehrt wird das weniger gewissenlose oder anspruchslosere Kind nicht glauben wollen, daß es betrogen wird. Die letztere Behauptung gilt es zu unterstützen, was ich im Rekurs auf die Gründe tue, die Alice Miller für den Umstand angibt, daß ein Kind sich dem Gebot «Du sollst nicht merken» emotional nicht entziehen kann. Ich fasse auch diese Gründe nur sehr kurz zusammen. Ein Kind braucht körperliche, emotionale, geistige Zuwendung. Eine Zuwendung, die ihm das Gefühl gibt, akzeptiert zu werden. (Ich sprach im Zusammenhang mit Kafka von dem entscheidenden Problem der Anerkennung.) Es braucht außerdem das Gefühl, beschützt zu werden, denn es ist klein, schwach und abhängig. Werden einem Kind diese Gefühle übermäßig versagt, geht es – ganz schlicht und einfach gesagt – zugrunde. Nicht nur seelisch, sondern auch körperlich. Ein Kind wird daher von sich aus alles tun, diese Gefühle zu haben, koste es, was es wolle. Ist es dabei auf bestimmte Bezugspersonen angewiesen, die elterliche Aufgaben erfüllen – in der Regel sind das heute die leiblichen Eltern –, wird es alles daran setzen, diese Gefühle durch seine Eltern zu erhalten. Eben diese, wie ich zu verdeutlichen versucht habe, erfüllen aber in den meisten Fällen entweder die eine oder andere Funktion nicht. Entweder gewähren sie dem Kind den Schutz nur nach Lust und Laune und bedrohen es sogar von sich aus mit Gewalt, oder sie können es nicht hinreichend schützen, vor mächtigeren Lehrern zum Beispiel oder weil sie womöglich selber einem Verbrechen zum Opfer fallen. Ebenso verhält es sich mit der Akzeptanz: Mal
wird das Kind akzeptiert, mal nicht. Wird ein Kind nicht genügend akzeptiert oder nur willkürlich, fürchtet es den sogenannten Liebesentzug, was aber zugleich die Angst nach sich zieht, den notwendigen Schutz zu verlieren. Das Kind denkt zwangsläufig: Wenn meine Eltern mich nicht lieben, werden sie mich fallenlassen; worin vermutlich – setze ich dazu – der eigentliche, nicht sexuelle Grund für den sogenannten Ödipus-Komplex zu sehen ist. Die Angst, elterliche Akzeptanz und elterlichen Schutz zu verlieren, begründet vermutlich viel plausibler die Eifersucht auf Vater oder Mutter oder Geschwister, denn alle können zur Gefahr für die eigene Akzeptanz werden – als Konkurrenten aus der Sicht des Kindes. Willkürlicher Schutz oder Ohnmacht der Eltern sowie willkürliche Akzeptanz versetzen demnach das Kind in eine verzweifelte Lage. Woher soll es die Gefühle bekommen, die es braucht, um nicht unterzugehen? Es verschafft sie sich, sagt Alice Miller, durch Idealisierung der Eltern. Es stellt sich die Eltern groß und mächtig und gut vor und retuschiert das Bild, wenn sie es nicht sind. Ohne diese Idealisierung kann es nicht leben, und daher gibt es lieber sich selber schuld, wenn etwas schiefgeht, anstatt den Eltern. Es haßt dafür vielleicht sogar die Eltern, aber es verdrängt den Haß und verschont sie (so wie Jürgen Bartsch und Fritz Mertens, die ich am Rande erwähnt habe, die beide allen Grund hatten, ihre Eltern zu hassen, und doch andere statt ihrer Eltern ermordeten). Das Kind verschont die Eltern, sagt Alice Miller, und zwar um einer Illusion willen, aber es braucht diese Illusion, weil es sonst nicht lebenstüchtig wäre. Ich nenne diese Illusion die von der «liebenden Macht» und füge unter verschleierungsanalytischen Gesichtspunkten hinzu, daß wir darin sicherlich die entscheidende emotionale
Basis für die Verhaftung der potentiellen Opfer von Verschleierungsstrategien, aber auch für die Verhaftung der Täter an die unlogische Gleichung X = U zu sehen haben. Wenn X = U ist, kann ich die Illusion einer mich liebenden Macht aufrechterhalten, einer, die mich nie fallenlassen wird. Wesentlich ist dabei vor allem, daß im kindlichen Gemüt damit einhergehend auch die Gleichung festgeschrieben wird: Illusion (einer mich liebenden Macht) = Überlebenstüchtigkeit! Auch Rudolf Höß wird aus dieser Sicht erklärbarer, wenngleich nicht weniger mies. Unter diesem Gesichtspunkt wird dann auch verständlich, warum wir – unbewußt – einer ganz unlogischen Gleichung X = U eine Art höheren Wahrheitscharakter unterstellen als der von X = X. Das interessanteste religionshistorische Dokument, in dem die genannte kindliche Festschreibung der Gesamtgleichung «X = U = Illusion der liebenden Macht = Überlebenstüchtigkeit» im Bewußtsein eines Erwachsenen vorgeführt wird, findet sich im Alten Testament im Buch Hiob. Hiob, der einstmals geehrteste Mann seines Stammes, verliert Vieh, Haus, Hof und Kinder und wird vom Aussatz befallen. Er klagt Gott an, seine Freunde klagen ihn an: Er selber ist schuld, Gott ist gerecht und straft nur die, die gesündigt haben. Hiob weist die Sünde von sich, glaubt aber weiterhin an Gott und will, daß dieser sich ihm offenbart. Das tut Gott denn auch schließlich in Form einer grandiosen Machtdemonstration. Was will Hiob gegen ihn, Gott, rechten, da Hiob ein kleiner Wurm ist gegen Gott, der die Macht über Himmel und Erde hat? Über das Unrecht gegen Hiob, das er zusammen mit dem Teufel ausgeheckt hat, schweigt er sich aus. Er spricht nur von seiner übermäßigen Macht. Aber er schenkt, weil er seinen Knecht Hiob für seine Treue liebt,
diesem Gesundheit, Kinder, Haus, Hof und Ehre wieder – natürlich nicht dieselben Kinder, dasselbe Vieh usw., so mächtig ist Gott wohl doch nicht, aber Hiob ist es recht. Denn Hiob «lebte danach noch hundertvierzig Jahre»8. Man versteht so auch, warum das Gebot «Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren» besser nicht verkürzt (wie bei Alice Miller) zitiert werden sollte, sondern eben genau mit dem Nachsatz «auf daß du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, gibt». Es ist nun zwar das «Nest» bzw. das Ursprungsmuster von Verschleierungsstrategien aufgefunden, und es läßt sich daraus auch ein vorläufiges Fazit ziehen: Wer sich unbedenklich oder vorschnell mit dem Unrecht aussöhnt, das er von Eltern erfahren hat, oder dieses vergißt, wird leicht zum Opfer von Verschleierungsstrategien, wird sogar Widerstand gegen ihre Aufdeckung leisten. Er oder sie ist daran aber als Erwachsener oder Erwachsene durchaus nicht ganz unschuldig, tut er oder sie das doch um einer Illusion willen. Wer sich sogar mit der Macht der Eltern identifiziert, wird selber zum Täter. Ich erwähnte indes, daß ich mich mit Alice Miller auch noch auseinandersetzen möchte, und das hat seinen Grund. Das bisher Gesagte bedarf nämlich dringend einer kritischen Ergänzung, und diese möchte ich in Form einer Kritik an Alice Miller anschließen. Alice Miller betont immer wieder, daß Kinder, die geliebt werden, selber liebesfähig und erkenntnisfähig werden. Zugleich setzt sie die emotionale Basis von Liebeswie Erkenntnisfähigkeit in unser «‹Ja› zum Leben» und ‹Nein› zum Tode»9. Das klingt sehr schön, gehört aber in die Watzlawiksche Kategorie der «terribles simplifications» (der furchtbaren Vereinfachungen) und hat verschleiernde
Implikationen. Ob es sich bei ihr dabei um eine absichtliche Verschleierung handelt oder «nur» um eine Illusion, sei dahingestellt. Um das äußerst Problematische an ihrer Rede von Elternliebe ins Extremlicht zu rücken, zitiere ich eine Autorin, die ich, die Liebe als Strategie betreffend, schon einmal zitiert habe, nämlich Jill Tweedie; und zwar, weil sie sich durch ihre harte, klare Begrifflichkeit in Sachen Elternliebe von Alice Miller unterscheidet: «Ich kenne eine Frau, die sagen würde, daß sie ihren Sohn sehr liebt und jede Art körperlicher Züchtigung verabscheut. Ihr Mann, ein jähzorniger Mensch, prügelt ihn regelmäßig. Sie bleibt dann jedesmal im oberen Stockwerk, bis es vorbei ist, und tröstet anschließend beide Parteien – den Sohn wegen des erlittenen Unrechts, den Ehemann wegen seiner reuigen Tränen. Eine pathetische und in vielerlei Hinsicht abstoßende Rolle, aber sie spielt sie, ohne sie zu hinterfragen, weil sie allgemein anerkannt ist. Sie ist eine Florence Nightingale, eine Unschuldige zwischen den Fronten, mit reiner Seele, reinem Gewissen, verwirrt, aber ohne Schuld, ein helfender Engel. Es kommt ihr nicht in den Sinn, daß es zu ihrer Pflicht gehören könnte zu handeln, um dem, was sie für Unrecht hält, ein Ende zu machen. Natürlich fleht sie um Strafmilderung für den Sohn, natürlich plädiert sie für ihn, so gut sie kann. Zahllose Beispiele müßten ihr jedoch die Nutzlosigkeit solcher Fürbitte längst deutlich gezeigt haben – unbarmherzig wie eh und je bricht der Zorn hervor, saust der Gürtel nieder –, aber mehr traut sie sich nicht, sagt sie. In Wirklichkeit ist sie ein Feigling. Oder vielleicht genießt sie es sogar unbewußt – was noch schlimmer wäre –, daß ihr immer
wieder bestätigt wird, daß sie soviel besser als ihr Mann und für ihren Sohn so unentbehrlich ist. In der Welt, die über die Frauen urteilt, ist Mitgefühl eine der höchsten Tugenden, und wer würde sie dafür verurteilen, daß sie ständig beiden Männern gegenüber vor Mitleid überströmt? Aber Mitleid ist etwas Armseliges und Passives, die letzte Zuflucht der Schwachen. Es wäre viel besser, wenn diese Frau ihr Mitleid in das umsetzen könnte, was eigentlich die logische Folge wäre – rechtschaffene Wut und auf Abhilfe gerichtetes Handeln. Dem Unrecht Leidenden über die Stirn streichen – das tut man, wenn man sonst nichts tun kann, und alle Frauen können noch mehr tun, obwohl sie dabei vielleicht alles riskieren. Aber gerade darin besteht ja Mut. Wenn nun ihr deswegen Vorwürfe macht, sagt diese Frau mit weitgeöffneten blauen Augen: aber ich liebe ihn doch. Er tut mir leid. Er kann nicht anders. Hinterher tut es ihm doch so leid. So verstellt sie sich und fördert durch ihr stillschweigendes Einverständnis die verderbliche Entwicklung der beiden Menschen, die sie liebt; von beiden als Heilige verehrt, untergräbt sie deren Moral noch weiter, indem sie den entsetzten Sohn beschwichtigt und dem Mann seinen Jähzorn verzeiht. Und dabei verstößt sie natürlich, ohne eine Sekunde zu überlegen, gegen ihren eigenen Grundsatz, daß körperliche Züchtigung Unrecht ist, unter allen Umständen und unabhängig davon, wer sie vornimmt. Welcher Strategie könnte sie folgen, um irgend etwas zu bewirken, irgend etwas dafür zu tun, daß diese Mißhandlung aufhört? Sehr wahrscheinlich keiner. Aber man steht nicht nur dann zu seinen Grundsätzen, wenn man davon überzeugt ist, daß die eigene Standhaftigkeit Erfolg bringen
wird. Der Ausgang läßt sich in solchen Fällen nicht von vornherein absehen, und er sollte ohnehin nicht unser Handeln bestimmen. Eine Frau muß tun, was sie als Frau eben tun muß. Punkt. Das bißchen Macht, das sie hat, nutzen, ankündigen, daß sie sofort samt ihrem Sohn gehen wird, wenn der Ehemann noch einmal auf ihn losgeht, und das dann auch wahrmachen. Nur so kann sie anfangen, wahre Liebe zu zeigen, zu ihrem Sohn wie zu ihren Grundsätzen. In derartigen Fällen muß Liebe schwerere Geschütze auffahren als nur eine kühle Hand auf einer heißen Stirn. Wer sich als Opfer anbietet, wird auch zum Opfer und hat es nicht besser verdient. Wer für seine Überzeugung blaue Flecke und Prügel einsteckt, ist kein Opfer. Wenn die einzige Waffe gegen die Ungerechtigkeit die physische und psychische Lösung ist, dann muß man wenigstens zu dieser Waffe greifen. Daß Mütter ihre Kinder der Mißhandlung durch ihre Ehemänner ausliefern, ist ein ständig akutes und sehr beschämendes Thema. Es ist kein Zufall, daß solche Kinder, wenn sie heranwachsen, nicht nur den gewalttätigen Vater, sondern auch die kriecherische Mutter hassen. Sehr wahrscheinlich ist dieser Haß auf die Mutter noch viel schädlicher für sie, da er verschleiert, verzerrt, oft scheinbar unerklärlich ist, stets befrachtet mit Ambivalenz und der Angst, die falsche Person auf die verkehrte Art und Weise zu hassen. Einen körperlich gewalttätigen Mann zu hassen ist vergleichsweise direkt und vermutlich weniger schädlich. Untersuchungen über geschlagene Söhne ergaben, daß sie sich wiederum zu prügelnden Ehemännern entwickeln. Dieses Phänomen wird auf das Gewaltklima zurückgeführt, in dem der Junge aufgewachsen ist, an das er sich nicht nur gewöhnt,
sondern das er auch mit der Zeit als einzig mögliche Lebensform anzusehen gelernt hat. Ich glaube, es läßt sich mindestens ebensogut als Rache an der kriecherischen Mutter erklären, die verbal ihre Liebe beteuerte, die vorgab, ihn zu beschützen, und dennoch Tag für Tag zuließ, daß die Angriffe gegen ihn weitergingen, ohne irgend etwas Angemessenes dagegen zu unternehmen. In der tiefsten Tiefe seines Herzens sieht er in Frauen Betrügerinnen und Scheinheilige, die Wunden mit sanften Worten bedecken. Mächtige Erwachsene, die, wenn es darauf ankommt, weich wie Wackelpudding werden und denen man nie trauen kann. Die Sängerin, Lyrikerin und Komponistin Dory Previn wurde von ihrem verrückten Vater zusammen mit ihrer Mutter und ihrer neugeborenen Schwester viereinhalb Monate lang in ein Zimmer gesperrt. Sie ließ es damals irgendwie über sich ergehen und mußte Jahre später für diese stumme Duldung mit wiederholten psychischen Zusammenbrüchen bezahlen. Als ich zum erstenmal etwas über diesen Vorgang las, kam mir das Ganze vor wie eine jener Naturkatastrophen, von denen Kinder manchmal verfolgt werden. Der Vater war wahnsinnig, er wußte nicht, was er tat, und Wahnsinn ist etwas, wogegen man nichts tun und wofür man niemanden verantwortlich machen kann. Aber sobald die Fakten genauer geschildert werden, nimmt die Sache eine viel entsetzlichere Dimension an: Die Mutter hätte verhindern können, daß ihr ohnmächtiges Kind diese Schäden davontrug, sie hätte Handlungsmöglichkeiten gehabt, sie war nicht nur ein Opfer der Situation. «Eigentlich hätten wir jederzeit entkommen können. Es gab eine Tür. Die, die zur Küche ging. Ich war zu klein,
um für meine Rechte einzutreten. Aber wenn Mama gewollt hätte, hätte sie nur uns Kinder zu nehmen und aus dem elenden Zimmer hinauszugehen brauchen. Aber sie hat es nicht getan … von da an waren wir eine Familie manchmal war es sogar lustig die Bretter vor der Eßzimmertür wurden weggenommen und Daddy legte sein Gewehr weg und ich vergaß, daß es geschehen war, wie etwas was ich geträumt hatte bis ich etwa achtzehn Jahre später plötzlich aufwachte und schrie).»10 Zu Jill Tweedies Anklage würde Alice Miller sagen: Ja, das ist eben die falsche Liebe, die vereinnahmende Liebe, und damit hätte sich der Fall für sie. Da Alice Miller aber nirgendwo klärt, was «wahre» Liebe ist, außer im Verweis darauf, daß, wenn «es wirklich einen liebenden Gott geben sollte … dieser uns lieben würde, wie wir sind»11, ist ihr Rekurs auf die Liebe, soweit diese ein Axiom bei ihr ist, höchst bedenklich. Da sie nicht einmal weiß, ob es einen Gott gibt, der uns liebt, wie wir sind, wie kann sie da von Menschen verlangen, daß sie ihre Kinder lieben, wie diese sind? Genaugenommen macht also Alice Miller selber eine Phrase zum Axiom ihrer Therapie, was deshalb problematisch ist, weil sie ihre Patienten damit zwar unter Um
ständen darüber aufklärt, daß sie von ihren Eltern nicht geliebt worden sind, sie aber in der Illusion bestärkt, daß es an und für sich sehr wohl «liebende Mächte» gibt, die einen so lieben wie man ist, daß es vor allem Eltern gäbe, die einen so lieben könnten, wie man ist. Das ist nun aber aus zweierlei Gründen ganz gefährlich: Erstens nämlich, das möchte ich ganz kraß konstatieren, kann es überhaupt keine biologischen Eltern geben, die ihre Kinder lieben, wie diese sind; schon deshalb nicht, weil uns unsere Eltern nicht aus solcher Liebe in die Welt setzten. Das heißt: Da sie uns nicht kannten, bevor sie uns in die Welt setzten, können sie uns auch nicht aus Liebe zu uns in die Welt gesetzt haben. Doch nicht nur kannten sie uns nicht, bevor sie uns in die Welt setzten, sie haben auch nicht an unsere Ängste und Sorgen, an unseren Kummer, unser Unglück und unseren Tod, an alle tragischen Seiten des Lebens gedacht, die uns das Leben notwendig bringen wird, egal, wie «nett» unsere Eltern sind. Eltern, das ist in ihrer Erzeugerschaft begründet, sind, erst recht, wenn sie uns gewünscht haben, notwendig Egoisten, denn die freiwillige Entscheidung, menschliches Leben in die Welt zu setzen, läßt sich nur mit eigenen Gründen, nicht mit denen des Kindes legitimieren. Setzen sie uns aber unfreiwillig in die Welt, sind wir Eltern notwendig eine Last. Manchmal gewöhnen sie sich dann an uns, aber Liebe kann man das wohl kaum nennen. Bei den Wunschkindern kommt hinzu, daß Eltern, die sich Kinder wünschen, sich entweder ein Bild von einem Traumkind entwerfen, dem das konkrete Kind nie entsprechen kann – zumindest nur sehr selten –, oder daß sie überhaupt einfach «nur ein Kind», ein x-beliebiges, Hauptsache, ein Kind, haben wollten, eins, dessen konkrete Eigenschaften auch diese Eltern nicht lieben, weil
sie ihnen gleichgültig sind, zumindest mehr oder weniger (das sind übrigens die verwöhnenden Eltern, die uns nach der Devise erziehen «Du brauchst nicht zu denken»). Kurz: Eltern, qua biologischer Elternschaft, können uns, «wie wir sind», gar nie lieben, höchstens partiell. Alles, was man von Eltern verlangen kann, ist daher, daß sie wenigstens gerecht sind, denn das kann man sein, auch wenn man jemanden nicht über alles liebt. Es sollte daher Alice Miller lieber gerechte Eltern einklagen, wie Jill Tweedie, statt liebende. Aber warum ist das so wichtig? Erstens verkauft uns Alice Miller, daß es liebende Eltern geben könne – in ihrem Sinne. Das erweckt in Kindern eine Illusion, die sie ans Grundmuster von X = U zurückkettet, aber auch den Eltern schafft es falsche Schuldgefühle. Eben durch diese treibt sie zugleich aktuelle wie potentielle Eltern dazu an, auch berechtigte Schuldgefühle abzuwehren. Schuldgefühle, die durch Elternschaft und deren Belastungen hervorgerufen und dann noch von außen bekräftigt werden, kompensiert man aber nicht nur, indem man behauptet, daß man nur das Beste des Kindes wolle. Man rekurriert verschleierungsstrategisch am einfachsten darauf, daß das Leben selber ein Geschenk sei. Dies tun nicht nur die Baruya, die geschickterweise gleich noch ein Leben nach dem Tode hinzufügen, dies tun insbesondere moderne Menschen, die an das Leben nach dem Tode nicht glauben, daher das irdische Leben um so heftiger als Geschenk postulieren. (Man denke unter anderem an den Schutz des «Lebens» im §-218-Urteil des Bundesverfassungsgerichts.) Und das liegt auch nahe: Da uns unsere Eltern unmöglich rational belegen können, daß sie uns um unseretwillen in die Welt gesetzt haben – wo, an welchem Ort haben sie uns gefragt und haben
wir sie darum gebeten? –, können sie nur behaupten, daß das Leben selber ein Geschenk sei, welches sie uns machen, und daß dies Geschenk ihre Liebe bezeuge. Wenngleich eine derartige Sichtweise logisch gesehen auch nicht überzeugend ist, bleibt sie doch zumeist nicht ohne Wirkung, aufgrund der von Alice Miller selbst beschriebenen Notwendigkeiten des Glaubens, denen Kinder ausgeliefert sind. Es verfestigt sich aber damit unter dem Deckmantel elterlicher Liebe eine grundsätzliche Verleugnung, die für den Erwachsenen genauso schädlich ist wie die Illusion einer «liebenden» Macht, ja, eben diese im Erwachsenen verstärken hilft. Die Verleugnung, die ich meine, ist die Verleugnung des «Bruchs in der Schöpfung». Das Leben, will ich damit sagen, ist kein wunderbares Geschenk, allerhöchstens ein Danaergeschenk. Das Leben hat angenehme Seiten, aber ziemlich viele unangenehme; für wen es mehr angenehme hat, hängt nicht von der elterlichen «Liebe», eher vom elterlichen Vermögen ab. Im Durchschnitt ist die Anzahl der Glückserlebnisse geringer als die Anzahl der Enttäuschungen. Sieht man die Weltgeschichte insgesamt an, kann man nur mit Grauen registrieren, was Menschen im Leben alles erleiden müssen (wovor Eltern sie nicht bewahren können). Liegt das nur an den Menschen? Nein, die Schöpfung, «das Leben» ist, wie Schopenhauer aufrichtig konstatiert, selber ein Moloch. Es leben die einen vom Tod der anderen, der hohe Rangplatz des einen ist der niedrige des anderen. Es mag ein ökologisches Gleichgewicht geben, das Dasein des Individuums, sei es pflanzlicher, tierischer oder menschlicher Art, wird dadurch nicht geschützt. Ja, Schönheit gibt es, Freude gibt es, aber auch Tränen gibt es und vor allem den Tod. Wie kann Alice Miller «Ja» zum Leben sagen, ohne «Ja» zum
Tode zu sagen, da doch das Leben ein ständiger Weg zum Tod ist? Die Phrase von der elterlichen «Liebe zu uns, wie wir sind», zwangsläufig mit der Lüge vom Leben als Geschenk verkoppelt, die Alice Miller mitmacht, wenn sie das Leben so einfach bejaht, versperrt uns nicht nur den Zugang zur Erkenntnis elterlichen Unrechts, sondern vor allem zur philosophischen Welterkenntnis. Die «heile Familie» und die «heile Welt» sind die Träume der säkularisierten Moderne, die sich für aufgeklärt atheistisch hält und nur «als ob» nicht religiös ist. Sie sind beide unter verschleierungsanalytischen Gesichtspunkten gefährlich, der letztere Traum, der von der «heilen Welt», ist für unser Erkenntnisvermögen vielleicht der gefährlichste. Wer den Bruch in der Schöpfung nicht sieht, sondern einfach «Ja zum Leben» sagt, muß akzeptieren, daß die Sonne über «Gute» und «Böse» scheint. Er kann auch nicht unterscheiden zwischen existentiell unausweichlichem Leiden, zwischen menschlich gemachtem und selbstverschuldetem, er ist also auch philosophisch gesehen schlecht geeignet, Verschleierungsstrategien zu identifizieren. Was vermeidbares Leiden, weil fremd- oder selbstverschuldetes Unrecht ist, läßt sich nur mit einem klaren Blick auf die grausamen Gesetze der Schöpfung einerseits und einem ebenso klaren Blick auf das, was prinzipiell gerecht ist, entscheiden, vor allem im klaren Bewußtsein, daß angesichts des Bruchs in der Schöpfung das Gute und Gerechte nur Idee sein kann, konkret nur relativ, nie optimal realisierbar. Es wundern sich daher Eltern, die ihren Kindern «bloß» das irdische Leben zum Geschenk gemacht haben, zu Unrecht, daß die Kinder ihnen Unrecht tun. Wie sollen Kinder ihnen gerecht werden, die nie gelehrt wurden, daß ein Teil ihres Leidens
Bestandteil aller Schöpfung ist, ein anderer vermeidbares Unrecht? Sie wundern sich auch zu Unrecht, daß die Kinder nichts Rechtes werden wollen, da sie ihre Kinder belogen haben, indem sie eine «heile Welt» supponierten, in der man schon «irgendwie» zurechtkommt. Wer ist also schuld, wenn die unmittelbare Welt doch nicht heil ist? Die Eltern! Warum sorgen sie nicht besser für einen? Aber nein – so einfach geht es ja unter verschleierungsstrategischen Verhältnissen auch nicht zu. Ja, «irgendwie» die Eltern, sagt der moderne junge Mensch und zieht den Eltern kräftig Geld aus der Tasche, wenn er kann; wenn nicht, wendet er sich an den sogenannten Staat oder die sogenannte Gesellschaft. Aber «irgendwie» sind es doch nicht die Eltern, denn die lieben einen ja, man muß dafür nicht einmal denken. Man muß überhaupt nicht viel denken, wenn «das Leben» an und für sich in Ordnung ist, es gibt nur leider verstockte Amerikaner und Juden, Reaktionäre, die das noch nicht eingesehen haben und einen am schlichten Leben hindern wollen – ein grobes Mißverständnis von Amerikanern und Juden übrigens (was aber angesichts moderner Denkbequemlichkeit zwangsläufig sich einstellt), denn Amerikaner huldigen ganz besonders der Idee der «heilen Familie» und der «heilen Welt», und Israel huldigt dem «Ja zum Leben» und dem «Nein dem Tode», soweit es seine religiöse Tradition betrifft, ganz fundamental. So züchtet auch die gewaltlose Elternliebe, die «bloß» sanfte Gewalt, die aber den Bruch in der Schöpfung verleugnet, neue «Faschisten», damit meine ich Menschen, die einen menschlichen Feind brauchen, weil sie die Schöpfung vergötzen. Nach solch «bösen» Worten möchte ich dieses Kapitel mit einem Gedicht schließen, um in Schillers «schönen»
Worten den Bruch in der Schöpfung noch einmal vor Augen zu führen. Ich will damit zugleich sagen: Man darf den Bruch in der Schöpfung in schönen Worten beklagen, aber nicht mit Phrasen beschönigen. Es handelt sich im übrigen um mein Lieblingsgedicht, es heißt: «Nänie», womit im Griechischen das «Schicksal» gemeint ist: «Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget, / Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus. / Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher, / Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk. / Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde, / Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt. / Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter, / Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt. / Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus, / Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn. / Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle, / Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt. / Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich, / Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.»
2. Homers Lobgesang der Lüge: Odysseus oder «Die Angst des Helden vor der Heimkehr» Wie angekündigt möchte ich mich zum Abschluß der Lüge widmen, und zwar in Form einer Kolportage der Irrfahrten des Odysseus. Platz und Form meiner Beschäftigung mit der Lüge sind in einer «Sonderstellung» der Lüge begründet, die es zu erläutern gilt: Mit einem gewissen Recht hätte ich alle Verschleierungsstrategien summa summarum auch als Lügen bezeichnen können, denn es wird beim Verschleiern immer kräftig gelogen. Dennoch wäre bei einer solchen Zusammenziehung eine wichtige Unterscheidung verlorengegangen. In den von mir als Verschleierungsstrategien benannten Operationen wird Kleineres gegen Größeres, Unwichtigeres gegen Wichtigeres ausgetauscht oder ausgespielt, und zwar auf der Ebene qualitativer Urteile. Die primäre Struktur der Lüge ist jedoch, daß eine Gegebenheit als Vorgegebenheit oder Tatbestand entweder geleugnet oder eine Gegebenheit oder ein Tatbestand erfunden wird. Um die spezifische Differenz und gleichzeitige Verquickung beider Operationen zu verdeutlichen, wähle ich ein Beispiel: Ich gebe einem Kellner, um meine Rechnung zu begleichen, zwanzig Mark. Am Tisch ist ziemlich viel Betrieb, im Lokal ansonsten auch, der Kellner kassiert bei allen möglichen Leuten und rennt zwischendurch zur Theke, um Wechselgeld zu holen. Er kommt an meinen Tisch, an dem heftig und wild durcheinanderdiskutiert wird, zurück und benützt die Situation, um mich zu belügen. Von mir hat er
noch kein Geld erhalten. Das ist eine schlichte Lüge in der Form der Leugnung eines Tatbestandes. Schon diese kann allerdings unter Umständen sehr wirksam sein. Ich bin verunsichert, da ich ja ins Reden verstrickt war und vielleicht wirklich nur vorhatte zu zahlen, den Zwanziger zwar schon in der Hand hatte, aber dann doch zurückgesteckt habe, weil der Kellner ja schon wieder wegrannte. So gesehen und unter dem Aspekt der Absicht des Kellners, mich reinzulegen, hat er zwar «nur» gelogen, aber in durchaus verschleierungsstrategischer Art, insofern er Verwirrung stiftet und ausnützt. Andererseits kann er mich und andere mögliche Zeugen am Tisch viel besser reinlegen, wenn er nicht abstreitet, von mir Geld erhalten zu haben, sondern etwa behauptet – zum Beispiel für den Fall, ich hätte eine Rechnung von neun Mark fünfzig zu begleichen –, ich hätte ihm nur zehn Mark gegeben. Da nämlich vielleicht irgend jemand am Tisch meine Geste bezeugen kann, weniger wahrscheinlich aber bezeugen kann, was ich in der Hand hatte, bleibt dann jegliche Kontrolle an mir alleine hängen, an meinem ganz sicheren Wissen darum, wieviel Geld in Form welcher Scheine ich just in diesem Moment in diesem Lokal in meinem Portemonnaie hatte, und das ist höchst peinlich. Denn entweder weiß ich es nicht, oder ich weiß es doch, welch letzterer Umstand mich bei den Umsitzenden in den Verdacht bringt, ein Pfennigfuchser zu sein, was alle Sympathien in Richtung des Kellners fließen läßt. Denn wenn ich ein Pfennigfuchser bin, bin ich womöglich auch geizig, und dann bin ich vermutlich diejenige, die nicht zahlen will. Der Kellner, der auf die zuletzt beschriebene Weise operiert, handelt eindeutiger im Sinne der bisher aufgezählten Verschleierungsstrategien, indem er nicht einfach einen Tatbestand leugnet, sondern
eine Bewertungssituation durch Verzerrung zu meinen Ungunsten hinbiegt. Trotzdem ist auch diese, den bisher dargestellten Verschleierungen entsprechende Verschleierung mit einer Lüge gekoppelt, einer fundierenden Lüge sogar: Er lügt, indem er behauptet, zehn Mark von mir bekommen zu haben. Im Kontrast zur vorhergehenden Lüge, der schlichten Ableugnung eines Tatbestandes, hat er dabei aber nicht nur einen Tatbestand geleugnet, sondern zugleich einen anderen, nicht vorhandenen, erfunden. Ähnlich, nur eben sehr viel komplizierter, machen es die Baruya. Da es zu offensichtlich gelogen wäre, wenn sie einfach abstreiten würden, daß Frauen so etwas wie «reale Gebärmacht» haben, verkleinern sie den Beitrag der Frauen an Lebensmacht, indem sie eine wichtigere Lebensmacht als die Gebärmacht, die männliche Spermakraft, erfinden, eine göttliche Kraft, mit der nur sie auf gutem Fuße stehen. Lügen und Verschleierungsstrategien sind also insoweit einerseits different, aber doch andererseits immer miteinander verquickt, es sei denn, es geht um einfache Ableugnung. Das dürfte verständlich machen, weshalb ich der Lüge eine Sonderstellung zumesse und sie daher auch gesondert behandle. Warum aber in der anvisierten Form und weshalb erst am Schluß? Ich will hier nicht über die platten Lügen sprechen, die im Ableugnen von Tatbeständen bestehen. Sie sind zwar höchst gefährlich und in der Praxis schwer aufzudecken. Sie werden auch viel zu sehr unterschätzt, was vermutlich daran liegt, daß wir selber, als wir noch Kinder waren, allzu leicht beim Lügen ertappt worden sind. Dennoch gibt es an solchen Lügen strukturell und psychologisch in prinzipieller Hinsicht nicht viel mehr aufzudecken
als das soeben vorher Gesagte. Die Feststellung, ob man im konkreten Alltag belogen wird, bleibt jedem selbst überlassen. In theoretischer Hinsicht problematischer ist hingegen die Lüge, die mit der Erfindung operiert. Sie ist strukturell und psychologisch brisanter, weil sie selten allein daherkommt. Daß jemand justament, als er über die Düsseldorfer Kö ging, einen Bären einsam spazierengehen sah, wird er mir nicht aufbinden können, wenn er nicht sofort oder später eine erklärende Geschichte dazu liefert. Eine Geschichte, die das Auftauchen des Bären in Verknüpfung mit glaubhaften Fakten – zum Beispiel einem in der Nähe stationierten Zirkus, einer polizeilichen oder journalistischen Auskunft über das Entlaufen eines Bären aus demselben oder ähnlichem – plausibel macht. Das heißt: Die erfindende Lüge überzeugt am geschicktesten im narrativen Gewande, in eine Erzählung gefaßt, die Ursache und Wirkung verknüpft und dabei zugleich Wahres mit Falschem bzw. Erfundenem verbindet. Solche Geschichten nennen wir Mythen, Legenden, Sagen. Wir bringen solchen Mythen, Legenden oder Sagen, wenn sie alt und in der Schule gelehrt worden sind, entweder höchsten Respekt oder tiefstes Unverständnis entgegen und merken nicht, daß wir im konkreten Alltag selber solche Geschichten ständig kolportieren oder ständig auf sie hereinfallen. Rolf Wilhelm Brednich, Professor für Volkskunde in Göttingen, hat derzeit kursierende Legenden dieser Art gesammelt und u.a. in seinem Buch «Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute»1 publiziert. Es lohnt sich, bei ihm über die strukturelle Verwandtschaft der neuen Geschichten zu alten Geschichten und über ihre psychologische Motivation nachzulesen, auch zur «Sonntagnachmittagserheiterung» ist die Lek
türe dieses Buches geeignet. Leider fehlt bei Rolf Wilhelm Brednich eine genauere Analyse der sozialpsychologischen und individualpsychologischen Motivationshintergründe für das Kursieren von Alltagslegenden. Fast beiläufig nur verweist er darauf, daß solche Geschichten besonders glaubwürdig sind, wenn sie nicht nur Erfundenes mit Faktischem verknüpfen, sondern wenn die eingeführten Erfindungen eine psychologische «Wahrheit», eine seelische Situation oder Erfahrung widerspiegeln. Eine Lügengeschichte, in der dies ganz besonders der Fall ist und die sich daher zur Erfassung der strukturellen und psychologischen Problematik des erfinderischen Lügens sehr gut eignet, ist Homers Odyssee, und deshalb werde ich im folgenden über die sogenannten Irrfahrten des Odysseus und deren Lügencharakter sprechen. Ich möchte die Odyssee zunächst kolportieren und anschließend unter dem Gesichtspunkt ihrer Glaubwürdigkeit kurz analysieren, das heißt die Frage klären, was an dieser Geschichte bis heute faszinieren kann, obwohl sie «pure» Erfindung ist und ihr Held sogar ganz eindeutig als bester Lügner aller Zeiten präsentiert wird (von Homer). Um der Analyse willen habe ich mir die Beschäftigung mit der Lüge am Beispiel von Homers Odyssee hier bis zum Schluß aufgehoben, denn die Analyse, vor allem die psychologische, setzt prinzipielle psychologische Einsichten der Art voraus, wie ich sie im letzten Kapitel zu vermitteln versuchte. Noch offen ist die Frage, weshalb und in welchem Sinne ich die Odyssee «kolportierend» behandeln möchte. In meinem einfachen Rechtschreibungsduden steht unter «Kolportage»: «die Verbreitung von Gerüchten; (veralt.: Hausier-Wanderhandel mit Büchern)». Demzufolge
müßte ich präziser fragen: Warum wähle ich die Form der Kolportage einer Kolportage? Denn erstens ist die Odyssee selber schon die Verbreitung eines Gerüchts. Durch Homer bzw. durch die sogenannten «Homeriden»2 werden in der Odyssee Geschichten über einen Mann verbreitet, der dem Verfasser oder den Verfassern nur vom «Hörensagen» bekannt war. Zweitens aber ergänze ich aus eigener Sicht meinen Duden, indem ich behaupte, daß Leute, die Gerüchte verbreiten, es mit der Wahrheit nie sehr genau nehmen, also einen gewissen Unernst an den Tag legen. Einen Unernst möchte ich bei meiner eigenen Weitergabe des Odysseus-Gerüchts auch an den Tag legen, und zwar indem ich das Gerücht, wie alle Gerüchteverbreiter das tun, nach meinem eigenem Geschmack abwandle. In diesem Sinne kolportiere ich also eine Kolportage, allerdings in umgekehrter Richtung wie in der allgemein üblichen. Mein Unernst zielt nicht darauf, die Glaubwürdigkeit des Odysseus-Gerüchts zu verstärken, sondern zu unterhöhlen, indem ich das Gerücht «verwitzele». Ich sehe mich dazu aus zwei Gründen veranlaßt und berechtigt: Es ist Homers Odyssee viel zu lange (jahrhundertelang schließlich) viel zu ernstgenommen worden, und zwar auf höchst bedenkliche Art und Weise. Während sich zwar gerade die antiken griechischen Aufklärer – mit Ausnahme der Sophisten –, von Hesiod über Solon, Xenophanes, Heraklit und Pindar bis hin zu Platon und Aristoteles, von Homer und insbesondere von der Odyssee distanzierten, sich oft wegen Odysseus’ Lügengeschichten, die er selber in der Odyssee erzählt, sogar von der erfindenden Dichtkunst überhaupt distanzierten, erfreute sich Odysseus, vor allem bei römischen Kaisern3 von höchst dubiosem Charakter wie bei modernen Aufklärern seit dem 18. Jahrhundert,
größter Beliebtheit. In kurzen Sätzen faßt der Autor des Vorworts zur dtv-Taschenbuchausgabe von Ilias und Odyssee die Gründe für die positive Rezeptionsgeschichte der Odyssee zusammen. «Die abenteuerlichen Irrfahrten und die glückliche Heimkehr des Königs Odysseus besingt Homer in seinem zweiten Epos, dem ‹Urroman des Abendlandes›, wie Jean Paul die ‹Odyssee› genannt hat. Im Vergleich zum düster-vitalen Achilleus in der ‹Ilias› schildert Homer in der ‹Odyssee› einen Helden neuer Art. Der (erfindungsreiche) Odysseus, der (göttliche Dulder) verkörpert ein Humanitätsideal, das sich in der Folgezeit durch die ganze abendländische Philosophie zieht.»4 Wie und warum (vor allem unter christlichem Einfluß) aus einem «Lügenbold» ein Humanitätsideal werden konnte, kann ich hier nicht ausführen, es erscheint mir aber eben deshalb angebracht, die ernsthafte Überschätzung oder Idealisierung durch Unernst zu unterlaufen. Eine ernsthafte, kritische Interpretation haben übrigens Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in ihrer «Dialektik der Aufklärung» geleistet, der ich mich aber aus verschiedensten Gründen hier nicht anschließen will, vor allem deshalb nicht, weil Horkheimer und Adorno zwar auf die Gefährlichkeit des Odysseus-Mythos aufmerksam machen, dem Lügencharakter der Geschichte aber nicht gerecht werden. Im Unernst möchte ich die Odyssee aber auch deshalb kolportieren, weil es mir ja nicht nur um die Odyssee geht, sondern um das Lügen überhaupt. Das Lügen hat aber eine spezifische Verwandtschaft zu Witz und Wahrheit, der ich
jenseits verschleierungsanalystischer Absichten gerecht werden möchte. Inwiefern? Wenn ich, wie im ersten Kapitel erwähnt, meine Bekannten in ein ernsthaftes Gespräch über verschleierungsstrategische Implikationen ihrer Verhaltensweisen verstricke, reagieren sie zumeist nicht gerade begeistert. Selbst wenn sie mir zugestehen, daß meine Deutung richtig ist, und schwören, ihr Verhalten in Zukunft zu überdenken, kann ich feststellen, daß sie dieselben Denkmuster eine Stunde später munter wieder benützen, um sich dabei köstlich zu amüsieren. Und es ist klar, daß sie mich, würde ich sie dann in den Ernst vorhergegangener Analysen zurückholen wollen, für den größten Spaßverderber aller Zeiten halten würden. Mit einem geradezu todeswunden Hundeblick würden sie mich strafen. Anders ist es, wenn ich einem Bekannten, der mich gerade anlügen will, ebenso hinterlistig in die Parade fahre, das heißt ihn zwar entlarve, aber meine Entlarvung «hintersinnig» anlege. Mein Exliebhaber Heiner (der, der sich immer die Restaurantrechnungen von mir zahlen ließ), einer der größten Lügner in meinem Leben, brachte es fertig, nach unserer Trennung bei mir vorbeizukommen, um mein Herz mit der Mitteilung zu erweichen, daß seine Mutter gestorben sei. Er weinte dabei. «Heiner», sagte ich, im Wissen darum, daß seine Mutter finanziell nicht ganz unvermögend war, «wenn deine Mutter gestorben wäre, dann würdest du nicht hier sitzen und weinen, sondern anderswo sitzen und lachen.» Daraufhin hellte sich seine Miene auf, und er grinste. Er war geradezu stolz darauf, daß sein braves Mädchen ihn mal wieder ausgetrickst hatte. Warum? Nun, ich hatte das Spiel durchschaut und gleichzeitig mitgemacht. Ich hatte dadurch das «böse» Spiel, das er mit mir trieb, in ein
«gutes» Spiel zurückverwandelt. Ich tat ihm nicht weh; ich hatte den Appell begriffen, ihn als «guten» Schurken zu durchschauen, was ich aber in seinen Augen nur konnte, wenn ich selber ein guter Schurke war und deshalb mit ihm «in einem Boot» saß. Sowohl das Verhalten meiner sonstigen Bekannten wie das von Heiner ist aber gar nicht so merkwürdig, wenn man weiß, daß es einen Zusammenhang zwischen Lüge, Witz und Wahrheit gibt. Philosophisch-analytisch will ich mich diesem hier nicht widmen, verweise aber darauf, daß Platon dem Zusammenhang von Lüge und Wahrheit (bzw. Wissen) einen Extradialog gewidmet hat, den Hippias Minor (Hippias II), wo dieser Zusammenhang anhand der Frage diskutiert wird, wer eigentlich der schlimmere Lügner ist, der vorsätzlich Lügende (nämlich Odysseus) oder der unvorsätzlich Lügende (nämlich Achill). Ich selber möchte hier den Zusammenhang von Lüge, Witz und Wahrheit nur kurz anhand eines Beispiels verdeutlichen: Selbst die Bambuti und Buschleute, die ich des öfteren positiv zitiert habe, weil sie keine politisch sanktionierte Ausbeutung kennen, lügen, wenn es darauf ankommt, wie gedruckt und amüsieren sich dabei ganz köstlich. Zwar mögen sie es nicht, wenn sie selber angelogen werden, besonders dann nicht, wenn sie von einem ihrer eigenen Leute angelogen werden, wie – zum Beispiel – die Bambuti es nicht mögen, wenn sie von Cephu, von dem ich erzählt habe, angelogen werden, den sie sofort zu Recht verdächtigen, ein geborener Häuptling zu sein. Dennoch genießt Cephu bei den Bambuti nach Turnbulls Schilderung durchaus Ansehen, und zwar gerade deshalb, weil er ein guter Lügner ist. Als guter Lügner ist er nämlich zugleich ein guter «Entertainer».
Bevor ich zur Illustration dessen aus Colin M. Turnbulls Buch «Molimo» einige Passagen zitiere, schicke ich voraus, daß die Bambuti zwar im Prinzip unabhängig sind, aber im ökonomischen Austausch mit Bantu-Negern leben, zum Beispiel Wildfleisch gegen Bananen mit diesen tauschen oder auch ab und zu Arbeiten bei den Bantu verrichten, für die sie entlohnt werden. Die Bantu-Neger bilden im Gegensatz zu den Bambuti eine patnarchalischhierarchisierte Gesellschaft, benehmen sich den Bambuti gegenüber höchst arrogant und versuchen ständig, sie zu Dienstsklaven zu degradieren, was ihnen aber nicht gelingt. In diesem Kontext ist die folgende Geschichte zu verstehen, die Turnbull erzählt: «Wenn die Jäger heimkehren, legen sie das Fleisch auf den Boden, und das Lager versammelt sich, um sicher zu sein, daß gerecht geteilt wird. Freilich wird niemand anerkennen, daß eine Teilung gerecht sei, aber schließlich ist doch jeder zufrieden. Sofort wird das Fleisch gekocht, und innerhalb einer Stunde essen alle. Wenn die Jagd erfolgreich war und es noch früh ist, tanzen die kräftigsten Männer und Frauen nach der Mahlzeit, und die Kinder folgen ihrem Beispiel. Im Laufe eines solchen Tanzes pflegen sie mit angemessener Übertreibung die Geschehnisse nachzuahmen. War aber die Jagd nicht so erfolgreich oder ein Mann ist müde und nicht zum Tanzen aufgelegt, so setzt er sich, versammelt seine Familie um sich und erzählt, was sich bei der Jagd ereignet hat, irgend etwas Wunderbares und Aufregendes, das natürlich gerade immer dann geschah, als niemand anders zugegen war. Da die Pygmäen mit lebhafter Einbildungskraft begabt
sind, wachsen diese Geschichten an, bis es schwierig wird, den Unterschied zwischen wirklichem Bericht und überlieferter Legende zu erkennen; oft geht beides ineinander über; Tatsachen werden zur Sage, und Sagenhaftes wird durch ständiges Wiedererzählen zur Wirklichkeit. Die Traumwelt der Pygmäen ist sehr wirklich, voller hintergründiger Bedeutsamkeit. Eine solche Geschichte erzählt Cephu immer noch gern, und zwar fast genauso wie vor sechs Jahren, als ich sie zuerst von ihm hörte. Er hatte einen kurzen Besuch in einem Dorf gemacht und war, wie alle wußten, mit leeren Händen dorthin gegangen. Aber als er nach einigen Tagen zurückkam, hatte er eine umfangreiche Last von Bananen und Reis bei sich. Alle fragten ihn, wo er das gestohlen habe. Cephu, auf dessen Gesicht sich ein schelmisches Lächeln ausbreitete, setzte sich und wartete, bis sein Publikum zur Ruhe gekommen war. Seine Frau und seine Kinder saßen dicht bei ihm, seine Freunde rundherum, und er, der alte Spitzbube, lächelte alle scharmant an, sah zu den Bäumen auf, breitete die Arme aus und hob seine ausdrucksvollen Hände. Mit seiner schönen, vollen Stimme begann er zu erzählen; an der Wahrheit des Erzählten konnte man höchstens zweifeln, wenn man auf das Lächeln in seinen glänzenden braunen Augen achtete. ‹Ich bin nur ein armer Bambuti; der Wald ist mein Vater und meine Mutter. Aber mein Neger-Herr hatte mich aufgefordert, ihm ein wenig Fleisch zu bringen.) So begann er, sich selbst herabsetzend, und benutzte die Bezeichnung für seinen Gebieter in einem Sinn, in dem ihn nur die Neger gebrauchen, um ihre Eigentumsrechte zu betonen. Die Pygmäen erkennen diese angemaßte
Überlegenheit äußerlich an, weil sie sich bezahlt macht, – wie die Geschichte gleich zeigen wird. ‹Mein Herr bat mich um Fleisch, und so jagte und jagte ich, und ich fing eine Sondu und eine Lendu und ein Mboloko und ein Sindula, zerteilte sie und trocknete sie sorgfältig. Als sie sauber und trocken waren, wickelte ich das Fleisch in frische Mongongo-Blätter, legte alles in meinen Korb und machte mich auf den Weg ins Dorf. Aber auf dem Wege sah ich einen bösen Geist auf mich zukommen. Ich versuchte zu entkommen, aber er holte mich ein und verlangte das Fleisch. Ich sagte: ,Nein, das ist für meinen Herrn; ich kann es dir nicht geben. Du kannst mein eigenes Essen nehmen, aber nicht dieses Fleisch – das ist für meinen geliebten Herrn.‘ Aber der Geist wollte sich nicht darauf einlassen, und ich mußte mit ihm kämpfen. Endlich gelang es mir zu fliehen; denn ich bin stark und ein großer Jäger. Ich rannte zum Dorf, so rasch ich konnte. Mit Geistern ist sehr schwer kämpfen. Sie würden jeden Dorfbewohner töten; nur wir Pygmäen können mit ihnen umgehen. Aber dann sah ich den Geist wieder, und diesmal war er schlauer als ich. Er verwandelte sich in meine Großmutter: ,A’i, Cephu! Wohin gehst du mit all dem Fleisch?‘ fragte sie mich. Nun ist aber meine Großmutter schon vor vielen Jahren gestorben, und ich mußte höflich zu ihr sein. Darum erzählte ich ihr, daß ich es zu meinem geliebten Herrn brächte. Aber sie wurde ärgerlich und fragte, ob ich es etwa ihr, einer Pygmäenfrau, meiner eigenen Großmutter, verweigern und zu einem Neger bringen wolle? Ich redete mit ihr und erzählte, wie gut mein Herr immer zu mir sei und welchen Hunger er auf Fleisch habe. Doch sie entriß mir den Korb, und weil sie meine Großmutter
war, konnte ich sie nicht schlagen oder festhalten, und sie rannte den Weg hinunter und verschwand. Als sie so rannte, wurde sie wieder zu einem Geist, damit sie schneller fortkam, und nun konnte ich wieder kämpfen, und ich kämpfte, bis der Geist mich fast getötet hätte; zuletzt aber verschwand er nach Geistesart, und ich hatte nichts mehr, nicht einmal meinen Korb. Als ich ins Dorf kam, weinte ich, weil ich meinem Herrn nichts geben konnte, und als er mich fragte, was geschehen sei, erzählte ich ihm die Geschichte. Er war sehr traurig; er weiß, welch ein schreckliches Leben wir Pygmäen führen, die wir von all diesen bösen Geistern umringt sind. Er sagte, wenn es im Walde keine Geister gäbe, würde er selbst gern dort jagen, aber jeder wisse ja, wie gefährlich Geister für Dorfbewohner seien. Ich fragte ihn, ob ich etwas Reis haben könnte, denn ich hätte meine Lebensmittel ebenso verloren wie seine. Er sagte: ,Natürlich, mein armer Pygmäe, du hast versucht, deinem Herrn zu helfen, und du kannst es nicht ändern, daß du gerade ein Pygmäe bist und unter all diesen Geistern leben mußt!‘ Also gab er mir Reis und Bananen, und ich ging glücklich fort. Wie freundlich sind doch diese Dörfler zu den armen Pygmäen!› Jedesmal, wenn Cephu diese Geschichte erzählt, zeigt sich ein wissendes Lächeln auf den Gesichtern aller Zuhörer, weil jeder ‹arme Pygmäe› ähnliche Tricks anwendet wie Cephu, mit denen er seinen Herrn um den kleinen Finger wickelt und gleichzeitig die Furcht der Neger vor dem Walde durch ständig wiederholte Geschichten von Geistern und schrecklichen Gefahren steigert.»5
Die Lüge hat hier, wie wir sehen, einen unwiderstehlichen Charme und ist Anlaß zu großer Erheiterung, weil sie als Lüge denen gegenüber aufgedeckt wird, denen zuliebe man lügt bzw. mit denen verbunden man um des gleichen Prinzips willen lügt. Als Lüge gegen Fremde, gegen andere, ist sie legitim, weil sie sich gegen deren bornierte Gewalt kehrt und weil sie gegen die Vereinnahmung durch diese das eigene Leben, ja, hier nicht nur einfach das eigene Leben, sondern das Leben untereinander in Aufrichtigkeit, das die Bambuti pflegen, schützt. Die Freude resultiert daraus, daß man «gewitzter» ist als die Bantu, die unter anderem die rohe Gewalt repräsentieren, und daß man in dieser Gewitztheit untereinander zur Gemeinschaft verbunden ist. Ob die Geschichte, die Cephu erzählt, als solche wahr ist, spielt dabei nicht einmal so sehr die große Rolle, denn er bestätigt mit ihr (also indirekt über eine Lüge) das gemeinsame Wissen um eine sozialpsychologische Wahrheit. Bambuti müssen gewitzt, ja sogar hinterlistig gegen andere, von denen sie vereinnahmt werden könnten, sein, wenn sie in aufrichtiger Gemeinschaft untereinander leben wollen. Die untereinander erzählte Lüge gegen andere hat in diesem Sinn sogar aufdeckende und gemeinschaftsstiftende Funktion. Da die Bambuti an ihre sogenannten Geister selber nicht glauben, sehe ich in ihren verleugnenden wie erfindenden «Notlügen» sogar den naiven bzw. durchaus aufgeklärten Ursprung des mythischen Denkens überhaupt – der sich unter parasitär verschleierungsstrategischen Handlungsbedingungen dann allerdings in schlechten «Aberglauben» verkehren kann und muß. Halten wir das Gesagte in Erinnerung und wenden uns unter diesem Aspekt der Odyssee zu. Odysseus gehört zu
den großen «Helden», die zehn Jahre lang vergeblich vor Troja gekämpft haben, um die schöne Helena für ihren Gatten Menelaos zurück zu erstreiten, schließlich doch gesiegt, Helena zurückerobert und Troja in Schutt und Asche gelegt haben. Nur einer aus der jüngeren Generation der Trojaner, einer, der sich fortpflanzen kann, nämlich Äneas, überlebt. Er ist derjenige, der, wie ich schon einmal erwähnte, auch den greisen Vater, seine Schultern mit ihm belastend, aus Troja rettet. Ich erwähne diesen Umstand noch einmal, um damit einen Nachtrag zu verknüpfen: Alles, was ich im letzten Kapitel zur psychologischen Verankerung der kindlichen Elternverehrung und ihrer erkenntnisverhindernden Folgen gesagt habe, läßt sich unter dem Gesichtspunkt falscher bzw. induzierter Schuldgefühle und Geborgenheitsverlustängste in literarisch stringenterer Analogie besser als «Äneas-Komplex» denn als Ödipus-Komplex titulieren. Die Last der Eltern oder Elternschaft trübt das klare Denken und die Fähigkeit zur Mündigkeit, vor allem dann, wenn wir uns in Identifikationen mit der illusionären liebenden Macht, die wir Eltern unterstellen, sogar noch – wie Äneas – zu ihren Beschützern aufspielen möchten, wenn wir selber älter werden. Die alten Römer nannten das pietas (Frömmigkeit), und es verwundert daher nicht, daß sie Äneas zu ihrem Stammvater erlogen, denn ihre ausbeuterische Herrschaft ruhte bis zur Kaiserzeit strengstens auf der Elternvergötzung, insbesondere der Vergötzung der Väter durch die Söhne. Ich sage «Vergötzung», denn ich habe nichts gegen Respekt. Aber auch im Dienste der unernsten Betrachtung der Odyssee steht mein Nachtrag. Genau betrachtet legen die Griechen zwar ganz Troja in Schutt und Asche, aber
eines besiegen sie damit nicht: ihren Äneas-Komplex. Es ist daher kein Wunder, daß fast alle Helden vor Troja entweder gar nicht oder erst über beschwerliche Umwege oder mit entsetzlichen Folgen nach Hause kommen – außer dem greisen Nestor, der wegen seines eigenen Alters über den Äneas-Komplex hinaus ist. Achill stirbt auf dem Schlachtfeld, Aias bringt sich selber um (bei Sophokles ist ganz deutlich, daß er sich nicht nach Hause «traut»), Agamemnon kommt zwar relativ schnell nach Hause, aber man sieht sofort, warum er das hätte lieber bleiben lassen sollen: Die Gattin erschlägt ihn. Menelaos muß einen weiten Umweg über Ägypten machen (das damalige Land der Gleichberechtigung von Mann und Frau!), um samt Helena nach Griechenland zurückkommen zu können. Am längsten braucht Odysseus, und das «besingt» Homer bzw. besingen die Homeriden in der «Odyssee». Homer will uns vormachen, daß dem allen ein Ratschluß der Götter, insbesondere des Zeus (veranlaßt durch Poseidon), zugrunde liegt. Er will uns auch weismachen, daß alle Helden, außer Achill (in seinem Fall liegt die Schuld schon bei der göttlichen Mutter Thetis, weil sie ihn mit einem Sterblichen gezeugt hat), je einzeln einen besonderen Verstoß gegen je einzelne Götter begehen, für den sie durch Tod, verzögerte oder unglückliche Heimkehr von den Göttern bestraft werden. Da ist sogar etwas dran, aber nur wenn man – im ernsten Unernst – Götter mit überhöhten Familienmitgliedern gleichsetzt und je individuelle Delikte einzelner Helden in Abhängigkeit von einer für jeden Helden spezifischen und den historischen Umständen entsprechenden Familienkonstellation versteht. Begreift man das göttliche Verhängnis so als auf der Basis unbewußter Probleme mit familiär bedingten Schuldgefühlen selbst
verschuldetes, dann wird die mißlungene oder verzögerte Heimkehr der großen Helden plausibel. Die Familie hatte sie nur höchst ungern in den Krieg ziehen lassen. Insbesondere die besorgten Eltern und die sitzengelassenen Ehefrauen waren ganz und gar nicht begeistert. Es ging ja nicht um die Verteidigung des eigenen Hofs und Hauses, der eigenen politischen Herrschaftsposition. Es ging um ein schnödes Weib, das einem aus dem jugendlichen Männerbunde davongelaufen war, eine an und für sich, wie Euripides Menelaos in den Mund legt, auch friedlicher beilegbare Sache. Aber die Söhne und Ehemänner hatten sich nun alle einmal auf einen männerbündlerischen Schwur geeinigt. Wer Helena als Frau bekommt (sie hatten alle, außer Achill, um sie geworben), dem werden die anderen Gefolgschaft leisten, wenn er sie braucht. Also zogen sie alle in den Krieg, als Menelaos sie brauchte, um die untreue Helena aus Paris’ Fängen zurückzuholen. Na gut, hatten sich die Eltern und Ehefrauen gesagt, das Abenteuer wird ja wohl nicht allzu lange dauern, und hatten die Söhne und Ehemänner ziehen lassen. Es dauerte aber. Es dauerte zehn Jahre. Und während die Söhne und Ehemänner einen abstrusen Krieg im Ausland führten, mußten Eltern und Ehefrauen sich zu Hause mit echten Sorgen plagen, den Wirtschaftsbetrieb organisieren, die Kinder oder Enkel großziehen, vor allem die politische Herrschaftsposition erhalten, was zweifellos die schwierigste Sache war, um die sich bei Homer auch nur die Ehefrauen kümmerten, nicht die Eltern. Da die Söhne und Ehemänner, die weggegangen waren, das Neue Testament nicht kannten, konnten sie nicht hoffen, so ohne weiteres wie der verlorene Sohn bei der Heimkehr in offene Arme zu fallen. Was war es schon,
was sie bei der Rückkehr zu bieten hatten? Weibliche Sklaven, die durchgefüttert werden mußten, Konkubinen, die der Ehefrau ein Dorn im Auge sein mußten – das war ja ihre Beute. Das bißchen Metall, das sie erbeutet hatten, eignete sich nur für Gastgeschenke an Freunde und zum Umschmelzen in Waffen für neue Kriege – da sei Gott vor, würden Eltern und Ehefrauen sagen. Und der Ruhm, den sie auf dem fremden Schlachtfeld erworben hatten, von dem Eltern und Ehefrauen nicht mal in der Zeitung lesen konnten? Lieber hätten die Söhne und Ehemänner mal zwischendurch was von sich hören lassen sollen – zu Hause –, aber das taten sie nicht. Man saß zu Hause ganz im Ungewissen. Wer wußte, was die da draußen trieben? Die Söhne und Ehemänner, wohl wissend, was Eltern und Ehefrauen so denken, hatten ein schlechtes Gewissen. Vor allem dachten sie an den Ärger, den es zu Hause geben würde, die ewigen Vorwürfe. Ach, da geht man doch lieber gar nicht wieder hin, man verdrückt sich oder zögert das Nachhausekommen so lange wie möglich hinaus. Der Totgeglaubte wird vielleicht netter aufgenommen als der aufmüpfig Emanzipierte, dem es woanders so gut gefallen hat. So dachten sie sich’s und blieben, wenn nicht ganz weg, so doch unterwegs, in der Hoffnung, das Problem werde sich «irgendwann mal» von selber lösen. Agamemnon ist eine Ausnahme: Er hatte offensichtlich schon das Neue Testament gelesen, aber falsch, denn er vertraute seiner Ehefrau wie einem Vater – anstatt Nietzsche gelesen zu haben: «Gehst du zum Weibe, vergiß die Peitsche nicht.» Menelaos – der tatsächlich erotisch liebende Gatte ist eine interessante Variante. Er hatte seine Ehefrau auf der Rückreise dabei, aber auch sein Umweg ist plausibel. Was macht man mit einer Frau, wenn die
Kreuzschiffahrt zu Ende ist, zu Hause? Odysseus hatte offenbar den größten Äneas-Komplex und die größte Angst, denn er blieb am längsten weg: Auf die zehn Jahre vor Troja setzte er noch zehn Jahre «Heimreise» drauf. Mein Unernst hat, auf ihn bezogen, besondere Gründe: Die Mutter sieht Odysseus zwar im Hades, beim makabren Intermezzo seiner sogenannten Irrfahrten, aber da kann sie ihm nichts mehr tun, sie ist ja tot und geriert sich seiner Phantasie entsprechend als «liebende Ohnmacht», die aus Kummer über den Verlust des Sohnes gestorben ist. Den Vater dagegen, der noch lebt, informiert Odysseus als allerletzten nach seiner Heimkehr in Ithaka von seinem Dasein – erst als siegreicher Bewahrer des Herrscherthrons, nachdem er seine Konkurrenten, die um Penelope, seine Frau, gebuhlt hatten, niedergemacht hat. Die Vorletzte, der er bei der Heimkehr nach Ithaka seine wahre Identität enthüllt, ist Penelope, seine Frau – er muß zuerst prüfen, ob sie ihn, nach zwanzig Jahren Abwesenheit, noch liebt: sonst müßte er ihr, wie ihren Freiern, die in seiner Abwesenheit um sie geworben haben – so was läßt sich in zwanzig Jahren wohl kaum vermeiden –, und den «ungetreuen» Mägden seines Hauses, die sich mit den Freiern eingelassen haben, den Garaus machen. Der erste dagegen, dem sich Odysseus offenbart, ist der einzige Sohn, Telemach (Telemachos), der ihm treu im ÄneasKomplex verbunden ist (verständlicherweise, denn ohne den Vater würde Telemach den herrscherlichen Thron verlieren); die nächsten, denen sich Odysseus offenbart, sind anhängliche Sauhirten seines Hofes, die er allerdings als Verstellungskünstler auch einem «Liebestest» unterwirft, den er merkwürdigerweise seinem eingeborenen Sohn erspart (da ist unser christlicher Vater im Himmel
schlauer, muß sich der Sohn doch erst kreuzigen lassen, bevor der Vater ihm seine Liebe glaubt). Ein kurzes, etwas ernsthafteres Zwischenstück: Bisher habe ich mich auf die «Rahmenerzählung», die wir in Homers «Odyssee» zu verzeichnen haben, bezogen. Im Himmel sorgen sich die Götter – so beginnt die Odyssee –, vor allem sorgt sich Odysseus’ Leib- und Magengöttin Pallas Athene um sein Wohl. Er müßte endlich nach Hause kommen. Parallel dazu sorgen sich in Ithaka Frau und Kind, das heißt Penelope und Telemach. Der greise Vater hat sich vor Kummer schon ganz zurückgezogen, auf das Land begeben. Athenes Appell an ihren Vater Zeus ist Erfolg beschert, ihr Protegé darf endlich nach Hause. Odysseus wird von der Nymphe Kalypso nach acht Jahren Aufenthalt bei ihr entlassen, weil Hermes der Kalypso das gebietet, und landet, wenngleich nach einem turbulenten Zwischenspiel, das ihm Poseidon, der ihm grollt, verschafft, bei den sogenannten Phaiaken. Dort wird er herzlich aufgenommen, beköstigt und mit einer Begleitmannschaft zur See sicher nach Ithaka geleitet. (Den Phaiaken bekommt das zwar schlecht: das Schiff der Begleitmannschaft wird bei seiner Rückreise nach Phaiakien von Poseidon versteinert, und Alkinoos, der König der Phaiaken, beschließt, «nie wieder» Schiffbrüchigen oder sonstigen Gästen, die von der See zu ihm kommen, zu helfen. Eine merkwürdige Ethik, aber so generalisierend verfahren wir selber ja häufig, wenn wir das Hereinfallen auf Märchenerzähler allzu teuer bezahlen müssen – wie Alkinoos.) Auf Ithaka gelandet kann Odysseus das Glück der Heimkehr jedoch noch immer nicht «subito» genießen. An seinem Hofe lagern sich seit Jahren Freier, die sich um Penelopes Hand bemühen, was heißt: zugleich um die mit Penelopes Hand
offenbar verbundene Thronanwärterschaft in Ithaka. Penelope hat sich zwar bisher standhaft zur Wehr gesetzt – man kennt ihre berühmte Teppichweberei –, aber die Freier haben sie mittlerweile durchschaut und dringen auf ihre Entscheidung. Diese sogenannten Freier müssen also erst beseitigt werden, und das gelingt, indem Penelope einen Bogenwettkampf inszeniert. Der Bogen, der zu spannen ist, ist Odysseus’ eigener alter Bogen. Odysseus nimmt als Bettler verkleidet am Wettkampf teil, hat aber vorher heimlich Verbündete gesammelt und Waffen versteckt. Es gelingt ihm als einzigem, den Bogen zu spannen und zwölf Äxte zu durchschießen. Die Schrecksekunde der Freier wird dazu benützt, sie mit Hilfe Telemachs und anderer Verbündeter niederzumetzeln. Erst nach dem Hinschlachten der Freier offenbart Odysseus seine Identität der Penelope, die er aber, wie vorher erwähnt, zusätzlich auf ihre Liebe testet. Nach einem kurzen Zwischenspiel, einem Aufstand der entrüsteten Väter der Freier, den Athene schlichtet, löst sich die Geschichte in Wohlgefallen auf. In die Rahmenerzählung eingebaut ist die Erzählung all dessen, was Odysseus zwischendurch erlebt hat, aber in der besonderen Form, daß Homer dies von Odysseus selber erzählen läßt. Ein erzähltechnischer Trick, der Beachtung verdient und auf den ich daher auch Rücksicht nehme, allerdings mit dem gebührenden Unernst. Wenn ich das tue, ist zu bedenken, daß Homer seinen Odysseus ganz freimütig als einen Mann darstellt, der nur mit List und Tücke durchs Leben kommt, dessen Fähigkeit zu lügen eben geradezu «sagenhaft» ist. Ich werde daher auf alle möglichen einzelnen Lügen oder «Listen» des Odysseus auch nicht näher eingehen, denn die sind im Durchschnitt weder originell noch eigens zu beweisen. Wichtig ist nur
der Umstand, daß Odysseus nicht nur in der Fremde, während seiner sogenannten Irrfahrten, lügt wie die Bambuti, sondern auch dann noch, als er zu Hause angekommen ist, ganz «strategisch» lügt, nämlich um als Sieger zu triumphieren. Daß das «Zu-Hause-Lügen» eigentlich eine Unsitte ist, bemerkt sogar Athene, die in Verkleidung am Strand von Ithaka Odysseus bei der Heimkehr empfängt, der gerade erwacht und ziemlich verzweifelt darüber ist, wer die Menge seiner mitgebrachten Schätze bewachen soll (sein einziger Gedanke), die Alkinoos ihm mitgegeben hat. Sie wird gleich von Odysseus belogen, verzeiht ihm aber selbstverständlich, da sie sich als Eltern- und Herrschergöttin ja auch ständig verstellt, und sagt daher nur mit einem nicht ernstzunehmend erhobenen Zeigefinger: «Überlistiger Schalk voll unergründlicher Ränke, Also gebrauchst du noch selbst im Vaterlande Verstellung Und erdichtete Worte, die du als Knabe liebtest? Aber laß uns hiervon nicht weiter reden, wir kennen Beide die Kunst; …»6 (Hervorh. H. H.) Ich mache diese Stelle zum Angelpunkt und fahre in meiner Kolportage fort: Was macht ein Mann, der aus verschiedensten Gründen nicht nach Hause möchte? Verschiedenste Gründe sage ich, weil insbesondere Odysseus zum Äneas-Komplex hinzutretende Gründe hatte, einen gewissen «Ärger» zu Hause zu vermeiden. Schon sein Vater Laertes hatte sich nicht getraut, die eigene Frau mit einer gekauften Sklavin, mit Euryklea, die Odysseus’ Amme wurde, zu betrügen. Da Penelopes Freier in einem Zuge sich um ihre Hand wie um den Thron bewerben, hatte das wohl harte politische Gründe. Die offizielle Thronmacht von
Herrschern in Ithaka hing, bei Homer jedenfalls, offensichtlich von der Ehefrau ab. Odysseus war aber seit zehn Jahren an das lockere Liebesleben des Piratenbeutezugs nach Troja gewöhnt. Man hatte da so seine Konkubinen, wie es einem paßte, und wehe, es nahm sie einem einer weg, wie Agamemnon zum Beispiel Achill die Briseis: Das war Grund genug für Achill, aus dem Männerbund auszusteigen, und eben deswegen kämpften die Griechen, ohne Achill, jahrelang vergeblich! Es ist daher kaum anzunehmen, daß Odysseus sein lockeres Liebesleben nur wegen der Heimatliebe einzuschränken dachte, vor allem, wenn man in Rechnung stellt, daß Penelope eine ziemlich langweilige Frau gewesen sein muß. Man bedenke, daß sie jahrelang mit Teppichweben und -auflösen verbrachte – dazu gehört schon ein beträchtliches Maß an Einfalt. Doch Odysseus konnte es nicht wagen, ihr eine Konkubine vorzusetzen, und mußte einen anderen Ausweg finden. Er verschob erst einmal die Heimkehr in die Monogamie. Als Fremder in der Fremde, ohne Herrscherwürden – also arbeitslos – und nur mit einer hungrigen Mannschaft gleich-gesinnter «Freunde» ausgestattet, konnte er sich eine Konkubine indes nicht mehr leisten. Eine Zauberin mußte her; eine Frau, die reich und mächtig genug war, ihm und seinen Freunden einen standesgemäßen Unterhalt zu gewährleisten, und ihm dennoch ergeben war. Er fand sie in Circe (Kirke). Sie wußte zwar sehr wohl, daß Männer, die ihr begegneten, sich sofort in grunzende Schweine verwandelten, das heißt von ihrem Luxus ausbeuterisch profitieren wollten, aber sie «verfiel» Odysseus – für ein Jahr. Es war ihr vom Schicksal «vorherbestimmt». Daß es sich so zugetragen hat, wie ich meine, kann man bei Homer unschwer erkennen, wenn man ihn nur
genau genug liest. Denn während des Aufenthalts bei Circe langen Odysseus und seine sogenannten Gefährten kräftig ins volle. Es wird gefressen, gehurt und gesoffen. Gearbeitet wird nicht: «Und wir saßen ein ganzes Jahr, von Tage zu Tage / an der Fülle des Fleisches und süßen Weines uns labend.»7 Einer der Freunde, Elpenor, fällt sogar eines Tages betrunken vom Dach und beschwert sich später im Hades bei Odysseus, daß dieser und die Gefährten vergessen haben, ihn anstandsgemäß zu begraben, denn auch Trinker haben schließlich ihre Ehre: Es ist ja nicht ihre Schuld, wenn sie vom Dach fallen, sondern die Schuld des Alkohols. Nach einem Jahr fangen die Freunde an zu nörgeln und wollen nach Hause. «Unglückseliger», sagen sie zu Odysseus, «denke nun endlich des Vaterlandes, / Wenn dir das Schicksal bestimmt, lebendig wiederzukehren / In den hohen Palast und deiner Väter Gefilde.»8 Ob es sich wirklich so zugetragen hat und nicht Circe selber langsam der prassenden Männerhorde überdrüssig wurde, sei dahingestellt; es könnte tatsächlich so gewesen sein, daß die Freunde rumnörgelten, sie gönnten vielleicht – wie das so häufig ist – dem Odysseus nicht die bessere Butter auf dem Brot (sie mußten sich mit dem Dienstpersonal begnügen) oder wollten mehr sein als nur Anhängsel an Frauen. Jedenfalls ist Circe verdächtig eilfertig bereit, Odysseus zu entlassen, erklärt ihm sogar den Weg in den Hades (daß sie ihn dahin wünscht, wäre auch ein möglicher Gedanke) und gibt ihm, als er von dort aus noch einmal zu ihr zurückkehrt, die allerbesten Ratschläge, wie er nun endlich nach Hause kommt.
Da aber Männer nicht auf gute Ratschläge von Frauen hören, geht trotzdem alles schief. Statt nach Hause zu kommen, geraten Odysseus und seine Freunde auseinander, mal verhält sich Odysseus idiotisch, mal die Freunde, jedenfalls hat er sie bald darauf alle verloren, man kann sich denken warum: Sie versagen in der Not und sind daher – nach Odysseus’ Ansicht – auch alle selber schuld an ihrem Verschwinden. (Merkwürdigerweise «rettet» Odysseus sie aus den Fängen der friedlichen Lotophagen, wo die Freunde bleiben wollen, nicht aber aus den Fängen des Riesen Polyphem oder des Ungeheuers Skylla, das heißt: Immer dann rettet er sie nicht, wenn ihr Opfer seinem eigenen Überleben dient!) Es bekommt aber Odysseus sehr gut, daß er ohne Freunde dasteht, er findet endlich wieder eine erotische Unterkunft, diesmal zwar etwas weniger komfortabel, aber für ihn alleine reicht es. Die «göttliche» Kalypso nimmt ihn bei sich auf, wie er selber sagt, «die schöngelockte, die hehre melodische Göttin; / Huldreich nahm sie mich auf»9. Bei ihr bleibt er ganze acht Jahre (ein Jahr bei Circe, acht Jahre bei Kalypso – das sollen zehn Jahre Irrfahrten gewesen sein), bis auch sie ihn hinauskomplimentiert. Da er jetzt schon ziemlich alt geworden ist, riskiert er endlich, dem heimatlichen Ärger ins Auge zu sehen. Man muß schließlich irgendwann etwas für die Rente tun, und sei’s drum, daß man hundertacht Freier erschlagen muß. Es sind auch die hundertacht Freier gar nicht mal so sehr das Problem, denn so was schafft ein gestandener Lügner im Handumdrehen. Nur, wie sagt er’s seiner Frau, warum er so lange weggeblieben ist? Sie ist zwar ziemlich einfältig, das weiß er, aber andererseits ist es doch auch unziemlich auffällig, daß er sich während der zehn Jahre, die er nach Beendigung des Trojanischen
Kriegs unterwegs war, ganze neun Jahre bei zwei Luxusfrauen ausgeruht hat. Schlau, wie er ist, erfindet Odysseus eine Geschichte, die ihn an allem ganz unschuldig macht, und probiert ihre Wirkung zunächst einmal in der Fremde aus, an einem Mann und einer Frau, die zugleich Ehepaar sind, und zwar – formal – in einer ähnlichen Konstellation wie er und Penelope, das heißt in einer, in der die Ehefrau ziemlich viel Einfluß hat. Das Paar, um das es sich handelt, sind Arete und Alkinoos, das Herrscherpaar bei den Phaiaken, Odysseus’ letzter Station im Rahmen seiner sogenannten «Irrfahrten». Er wird hier als unbekannter Gestrandeter gastlich aufgenommen, ein Festmahl wird zu seinen Ehren veranstaltet, bei dem, wie im gesamten Verlauf der Odyssee überhaupt, abgesehen von einigen unangenehmen Zwischenfällen, die durch Feinde, Riesen oder Meeresungeheuer verursacht werden, reichlich gegessen und getrunken wird. (Man erkennt an diesem Umstand unschwer das typische Familienleben, ob von Aristokraten oder modernen Familien.) Zum festlichen Anlaß wird auch ein Sänger bestellt, der blinde Sänger Demodokos, der ganz wunderbare Lieder über die Belagerung Trojas singen kann. Während er singt, muß Odysseus weinen (!), verbirgt dies aber schamhaft vor seinen Gastgebern. Daß er das nur pro forma tut, wird klar, wenn wir lesen, daß er beim letzten Festmahl dem Sänger extra schmeichelt, damit dieser wieder von Troja singt, und zwar eigens von Odysseus: «Fahre nun fort und singe des hölzernen Rosses Erfindung, / Welches Epeios baute mit Hilfe der Pallas Athene / Und zum Betrug in die Burg einführte der
edle Odysseus, / Mit bewaffneten Männern gefüllt, die Troja bezwangen.»10 Der Sänger befolgt den Auftrag, und Odysseus kann nun wieder reichlich weinen, in der Hoffnung, daß der Gastgeber, der ihm am nächsten sitzt und schon mehrfach die Betroffenheit des Gastes bemerkt hat, ihn endlich darauf anspricht. Warmherzig, wie Alkinoos ist (das Land der Phaiaken ist ein «Märchenland», wie fast alle Gebiete, die Odysseus kennenlernt), tut er das auch, und Odysseus kann sein Experiment starten: Er gibt sich als Odysseus zu erkennen und findet nun Publikum und Zeit, seine sogenannten Irrfahrten als schrecklichen Leidensweg und sich selber als den «herrlichen Dulder» zu verkaufen, als den ihn noch heutige Literaturwissenschaftler anpreisen. Seinen besten Joker zieht er gleich zu Anfang aus der Tasche (was Trickser sich leisten können): Nur Elend häuften die Götter bis heute über ihn, aber das ist nicht mal das Schlimmste, selbst wenn er nicht im Elend war, so mußte er doch auf die Heimat verzichten: «Ich bin Odysseus, Laertes’ Sohn, durch mancherlei Klugheit / Unter den Menschen bekannt, und mein Ruhm erreichet den Himmel, / Ithakas sonnige Höhn sind meine Heimat; in dieser / Türmet sich Neritons Haupt mit rauschenden Wipfeln, und ringsum, / Dicht aneinander gesät, sind viele bevölkerte Inseln, / Same, Dulichion und die waldbewachsene Zakynthos. / Ithaka liegt in der See am höchsten hinauf an die Feste, /Gegen den Nord; die andern sind östlich und südlich entfernet. / Rauh ist diese, doch nähret sie rüstige Männer, und wahrlich, / Süßer als Vaterland ist nichts auf Erden
zu finden! / Siehe, mich hielt bei sich die hehre Göttin Kalypso / In der gewölbten Grotte und wünschte mich zum Gemahle; / Ebenso hielt mich auch die aiaiische Zauberin Kirke / Trüglich in ihrem Palast und wünschte mich zum Gemahle: / Aber keiner gelang es, mein standhaftes Herz zu bewegen. / Denn nichts ist doch süßer als unsere Heimat und Eltern, / Wenn man auch in der Fern ein Haus voll köstlicher Güter, / Unter fremden Leuten, getrennt von den Seinen, bewohnet!»11 Danach zieht Odysseus seine zweitbesten Karten, das heißt gleich mehrere Asse. Trumpfas ist Polyphem, der Zyklop, der barbarische, einäugige Riese, dem er nach einem mißglückten Piratenüberfall seinerseits auf die sogenannten Kikonen und einem Abstecher zu den Lotophagen «dummerweise» über den Weg gelaufen ist. Die Begegnung mit Polyphem ist sein Verhängnis geworden, ihr allein verdankt er all seine «Leiden» in der Fremde. Ich kann auf die Einzelheiten dieser Begegnung nicht eingehen und erwähne nur den merkwürdigen Umstand, daß Odysseus keinerlei zwingenden Anlaß hatte, dem Riesen zu begegnen. Er hatte sich und seine Freunde längst mit hinreichendem Reiseproviant aus den Beständen des Zyklopen-Landes eingedeckt, als ihm einfiel, des Landes Bewohner kennenzulernen, von denen er sehr wohl, nach den vorhergehenden Erfahrungen in der Fremde, Arges befürchten konnte. Er nimmt denn auch jede Menge Alkohol mit auf die Erkundung, augenscheinlich weil dieser ein Allheilmittel gegen alles ist. Auch am Hofe von Helena und Menelaos in Argos, wohin Telemach zu Beginn der Odyssee gefahren ist und seine Gastgeber zum Weinen bringt, als er seine
Vaterlosigkeit beklagt, tröstet man sich darüber, indem man kräftig dem Alkohol zuspricht. Leider bringt der Alkohol im Falle von Polyphem Odysseus und seinen Gefährten erst sehr verspätet etwas ein. Auf ihrer unnötigen Erkundung sind sie in einer Höhle gelandet. Bevor sie sie verlassen können, ist der unfreiwillige Gastherr, Polyphem, zurückgekommen, hat den Ausgang mit einem Riesenstein vermauert und entdeckt seine ungebetenen Gäste – höchst verärgert. Sein Ärger ist durch das übliche Gerede von allgemeiner Gastfreundschaft, das Odysseus vorbringt, auch nicht zu beschwichtigen, statt dessen frißt er erst mal zwei von Odysseus Gefährten zum Abendbrot. Damit das nicht so weitergeht, denkt sich Odysseus einen Plan aus, der dann auch mit Hilfe des Alkohols – wenngleich arg verzögert, denn inzwischen hat der Riese noch ein paar Gefährten gefressen – gelingt. Odysseus bietet Polyphem vom mitgebrachten Wein an, der trinkt ihn und versinkt in Schlaf. Das gibt Odysseus und den Freunden Gelegenheit, einen aus der Keule des Riesen mittlerweile zurechtgehauenen und erglühten Pfahl ins (einzige) Auge des Riesen zu stoßen, der unter grauenhaftem Geheul aufspringt, wütet, aber nichts ausrichten kann, weil er ja nichts sieht. Die benachbarten Zyklopen eilen zur Hilfe, da er aber selber nach draußen ruft, es habe ihm «niemand» Qualen bereitet (Odysseus hat sich ihm als Niemand vorgestellt), ziehen die Nachbarn wieder ab. Am Morgen muß der Riese seine Ziegen und Böcke nach draußen lassen und daher den Riesenstein vom Eingang entfernen, den Odysseus und seine Gefährten nicht hätten alleine bewegen können. Sie schnallen sich unter dem Bauch der Böcke fest, der Riese tastet seine geliebten Tiere zwar ab, aber
vergeblich. Er entdeckt seine Feinde nicht – sie entkommen. Kaum außer Sichtweite, aber nicht außer Hörweite, kann Odysseus ebensowenig wie die Bambuti, aber am falschen Platze, sein Triumphgefühl unterdrücken. Die rohe Gewalt ist durch Lüge und Trug überlistet worden, jetzt soll der Riese auch wissen, wer ihn geblendet hat. Odysseus schreit ihm seinen richtigen Namen zu. Das kostet beinahe einen Schiffbruch, weil der Riese mit Felsblöcken in die Richtung des Rufers zielt, es kostet aber dann letztlich Schlimmeres: Polyphem, stellt sich heraus, ist ein Sohn Poseidons, des Meeresbeherrschers, der selber wieder ein Bruder (mütterlicherseits) des Zeus ist, des obersten Himmelsbeherrschers. Polyphem verflucht Odysseus im Namen des Vaters, und der Vater Poseidon sorgt dafür, daß Odysseus die Rache zu spüren bekommt. Zehn Jahre wird er brauchen, um – all seiner Gefährten verlustig – endlich die Heimat wiederzusehen. So erzählt es Odysseus der Arete und dem Alkinoos, er erzählt auch von weiteren Schrecknissen fabelhafter Art, sogar vom Besuch im Hades. Alkinoos kann gar nicht genug davon kriegen. Uns soll der geschilderte Ausschnitt, der die «Ursache» aller Leiden des Odysseus – in seinen Worten – benennt, genügen. Arete und Alkinoos sind «gerührt». Als Odysseus den ersten Teil seines Berichts vom Hades beendet hat, ruft Alkinoos aus: «Deine ganze Gestalt, Odysseus, kündet mitnichten / Einen Betrüger uns an, noch losen Schwätzer, wie viele / Sonst die verbreiteten Völker der schwarzen Erde durchstreifen, / Welche Lügen erdichten, woher sie keiner vermutet. / Aber in deinen Worten ist Anmut und edle Gesinnung; / Gleich dem weisesten Sänger erzähl
test du die Geschichte / Von des Argeiischen Heers und deinem traurigen Leiden.»12 Das ist Alkinoos’ Reaktion, nachdem ihm Odysseus gerade einen einäugigen «Riesenbären» aufgebunden und eine Schauergeschichte vom Totenreich untergejubelt hat! Der erfindungsreiche Odysseus erhält – zum gelungenen Experiment hinzu – sogar noch jede Menge Geschenke zur Belohnung. Es sagt Alkinoos – der Satz ist aktuell, und deshalb sei er zitiert: «Laßt uns noch jeden ein groß dreifüßig Geschirr und ein Becken Ihm verehren. / Wir fordern uns dann vom versammelten Volke / Wieder Ersatz; denn einen belästigen solche Geschenke.»13 So segelt Odysseus mit vollen Taschen ins heimatliche Ithaka. Dort muß er zwar noch ein paar banalere Lügen auftischen, bevor er sich ins eheliche Bett legen kann, aber schließlich erzählt sich das wiedervereinte Ehepaar gegenseitig alle vergangenen «Sorgen» und «Leiden» – man hört nichts davon, daß Penelope ihrem Odysseus seine Version seines Leidens nicht geglaubt hätte. Eine kurze, abschließende und etwas ernsthaftere Analyse der Glaubwürdigkeit des ganzen Gerüchts in seiner homerischen Fassung läßt sich nicht vermeiden. Warum glaubt Alkinoos, warum glaubt Penelope Odysseus, obwohl er sich keineswegs scheut, sich als gewitzten Lügner zu präsentieren? In anderen Worten: Warum glauben ihm bis heute alle möglichen Leute – vielleicht nicht ganz, aber immerhin in der Form der Faszination? Welche Sympathien erweckt ein Mann, der nicht nur ständig lügt, sondern
auch gerne Feinde aus dem Hinterhalt erschlägt, wie Homer verbürgt? An welche höhere Wahrheit appelliert er, so daß er sogar zum Humanitätsideal apostrophiert werden kann? Gut – Odysseus und die Homeriden bedienen sich des bewährten Tricks, ihre Geschichte ins Ausland zu verlegen, an Zeiten und Orte, die den Adressaten der Erzählung nicht zugänglich sind. Odysseus stimuliert auch die Sympathie, die Cephu bei seinen eigenen Leuten erweckt, wenn er erzählt, wie er Stammesfremde, das heißt an Stärke überlegene Bantu-Neger, überlistet. Aber schließlich erzählt er seine Ammenmärchen von «Geistern» nicht, um diese selber als Trick zu entlarven und im entlarvenden Lachen die gemeinsame Wahrheit mit dem Publikum zu finden. Er erzählt sie als die zu teilende Wahrheit vor seinem hilfreichen Gastgeber Alkinoos und zu Hause. Was kann man daran gut finden, wenn nicht irgendeine sozialpsychologische Wahrheit dahintersteckt, die der der Bambuti irgendwie ähnelt? Ich lasse die soziale Dimension des aristokratischen Herrenmenschen, die zweifellos auch relevant ist, «unterbelichtet» und konzentriere mich nur auf die individualpsychologische Seite, weil auch Demokraten von der Odyssee fasziniert werden. Ganz offensichtlich ist Odysseus ein prototypischer «Überlebender» im Sinne von Elias Canetti. Das appelliert an archaische Schichten unserer Seele: Im Dienste des Überlebens ist jeder Trick gerechtfertigt. Aber die besten Freunde, die eigene Familie – muß man die auch im Dienste des sogenannten Überlebens belügen? Gewiß, wenn man ein Kind vereinnahmender Eltern ist. Das heißt: Die Odyssee ist zwar eine Erzählung, ein Gerücht für Erwachsene, sie appelliert aber an unbewußt gewordene Kindheitserfahrungen, die psychologisch «wahr» sind. Es
ist das Kind, das mit Riesen kämpft, mit mächtigen Vätern, die einen fressen können, wenn man nicht aufpaßt. Es ist das Kind, das guten Bezugspersonen, wie mütterlichen Circen, mißtrauen muß; sie können sich von «jetzt auf gleich» in Hexen verwandeln. Es ist das Kind, das nicht wissen kann, wann es aus irgendeiner Geborgenheit herausgerissen wird, um irgendwelchen Ungeheuerlichkeiten ausgesetzt zu sein, die es nicht einordnen, nicht begreifen kann. Unter diesem Gesichtspunkt wird auch verständlich, warum Homers Götter zwar «gerecht» sind, denn sie strafen in der Tat nur Vergehen. Alle Vergehen, die sie bestrafen, sind aber Vergehen im Sinne der Mißachtung ihrer Autorität, vor allem wenn es sich darum handelt, daß man ihnen nicht «opfert». Der sonstige Charakter der Menschen, die sie verfolgen oder protegieren, ist relativ gleichgültig. Es hängt ziemlich viel davon ab, wen die Götter «mögen» oder nicht «mögen». Pallas Athene mag Odysseus. Er ist ihr ähnlich, also protegiert sie ihn. Verständlich wird auch, daß Odysseus angeblich das Opfer seines Hochmuts wird: Er maßt sich an, deutlich zu zeigen, daß er den unangenehmen Vater «mit Fug» belügt. Das muß ihm besonders ausgetrieben werden – das «wissen» wir als kindliche Seelen mitfühlend, und daher bekommt er bei seinem «dicksten Fehler» sogar noch unsere unbewußte Sympathie. Als Kinder verstehen wir auch, daß er die Heimat idealisiert, die er in Wahrheit meidet, und daß er das Unheil in die Fremde verlegt, das gereinigte Heil dagegen in die Familie. So spalteten wir die Welt als vereinnahmte Kinder auf, um zu überleben. Das Ideal bzw. Idol der liebenden Macht, die uns das ungespaltene, heile «Zuhause» verheißt, rückt, je erwachsener wir werden, zwar immer weiter in die Ferne – es wird bei
Homer unter anderem durch Pallas Athene repräsentiert. Dennoch bleibt das Idol als unerfüllte Sehnsucht in uns. Alles Glück der Fremde verschmähen wir dafür gegebenenfalls, es kann ja an das Idol nicht heranreichen. Kein Wunder, daß Alkinoos, Arete und Penelope von Mitleid gerührt dahinschmelzen: Sie waren ja auch einmal Kinder. Und der weniger beteiligte Hörer oder Leser? Auch er war Kind und schmilzt dahin. Noch mehr. Sogar seinem «gewitzten» Bewußtsein wird Rechnung getragen. Es wird, wenn Odysseus, zu Hause endlich angelangt, banale Lügen erfindet, der Erinnerung daran Rechnung getragen, daß man zu Hause immer lügen, ganz banal lügen muß; daß das aufrichtige «Zuhause» nur ein Ideal war, das konkrete «Zuhause» List und Tücke und Verstellung abverlangt, wenn man sich durchsetzen will. Bevor wir indes gänzlich dahinschmelzen, sei ins Gedächtnis zurückgerufen, daß Odysseus ein Lügner ist – und Homer nicht minder –, das heißt, daß es vor allem die Lügner sind, die sich auf den Appell an psychologische «Wahrheiten» der Kindheit verstehen. Das gilt auch für Personen, die Elternhäuser kritisieren, um sich als Ersatzillusion liebender Macht anzubieten – ein Verdacht, den ich zum Beispiel gegen Alice Miller hege. Ich höre sie immer im Geiste flüstern: Knuper, knuper kneischen, wer knupert an meinem Häuschen? Ich habe daher darauf verwiesen, daß der Weg zur Erwachsenenrationalität über die Wahrnehmung des Bruchs in der Schöpfung verläuft, nicht über Ersatzillusionen. Ich betone hier, daß es keine Entschuldigung für Erwachsene gibt, diesen Bruch zu ignorieren, um auf Kindheitsphantasien vom Überleben fixiert bleiben zu dürfen. Wer das meint, riskiert de facto sehr wohl das Leben. Er wird entweder zum Opfer
der vermeintlichen Überlebensstrategien anderer, die in Wahrheit Profitinteressen verfolgen, oder er wird zum Täter wie Odysseus. Es ist nämlich Odysseus leider auch ernst zu nehmen, denn er lügt unter Freunden. Er kalkuliert, wie Clausewitz, eiskalt die «Opfer in den eigenen Reihen» im vorhinein ein, wenn er sein eigenes Risiko so klein wie möglich halten will. Daher sei zum Abschluß ein ironischer Satz des Mathematikers und Philosophen Alfred North Whitehead aus seiner Schrift «Die Funktion der Vernunft» (1929) zitiert: «Einige der größten Katastrophen der Menschheit sind durch die Engstirnigkeit ausgezeichneter Methodiker verursacht worden. Odysseus (z. B. meint er, H. H.) hat nie etwas mit Platon anfangen können – und die Gebeine seiner Gefährten sind über so manche Insel und so manches Riff verstreut.»14
Anmerkungen Teil l Kapitel 1 1
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Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a. M. 1979, S. 370 Ebd., S. 200-202
Kapitel 2 1
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Jessica Benjamin, Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Basel/Frankfurt a. M. 1990 Alice Miller, Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt a. M. 1983, S. 366-367 Franz Kafka, Brief an den Vater, Frankfurt a. M. 1991, S. 5-10 Ebd., S. 11-12 Ebd., S. 13-18 Ebd., S. 23-26 Ebd., S. 27-31 Ebd., S. 35-36 Ebd., S. 43-44 Ebd., S. 51 Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt a. M. 1986, S. 35 Vgl. z. B. Ernst Pawel, Das Leben Franz Kafkas. Eine Biographie, München/Wien 1986 S. Fritz Mertens, Ich wollte Liebe und lernte hassen! Ein Bericht, Zürich 1987 S. Teil 2, Kap. 2 Franz Kafka, Briefe 1902-1924, Frankfurt a. M. 1975, S. 161
Kapitel 3 1
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Christiane Schmerl, Frauenfeindliche Werbung. Sexismus als heimlicher Lehrplan, Reinbek b. Hamburg 1983, S. 1415 Zit. nach Renate Feyl, Sein ist das Weib, Denken der Mann, Darmstadt und Neuwied 1984, S. 10 Ebd., S. 16 Ebd., S. 24 Ebd., S. 55 Ebd., S. 71 Ebd. Annegret Stopczyk, Was Philosophen über Frauen denken, München 1980 Christiane Schmerl, a. a. O., S. 22 Ebd., S. 20 Ebd., S. 93 Ebd., S. 95 Ebd., S. 100 Ilse Brehmer (Hrsg.), Sexismus in der Schule, Weinheim und Basel 1982 Cheryl Benard/Edit Schlaffer, Der Mann auf der Straße. Über das merkwürdige Verhalten von Männern in ganz alltäglichen Situationen, Reinbek b. Hamburg 1980, S. 36-47 Ebd., S. 61-63 Ebd., S. 72–75; s. auch: Doris Lessing, Abgehakt, in: Das Doris Lessing Buch, Hamburg 1989 Kurt Weis, Die Vergewaltigung und ihre Opfer. Eine viktimologische Untersuchung zur gesellschaftlichen Bewertung undindividuellen Betroffenheit, Stuttgart 1982 Hans-Dieter Degler (Hrsg.), Vergewaltigt. Frauen berichten, Reinbek b. Hamburg 1981, S. 16
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Zit. nach Hans-Dieter Degler, a. a. O., S. 16 Ebd., S. 17 22 Kurt Weis, a. a. O., S. 79 23 Vgl. Hans-Dieter Degler, a. a. O., S. 14; Andrea Dworkin, Pornographie. Männer beherrschen Frauen, Frankfurt a. M. 1990, S.126 24 Zit. nach Kate Millett, Sexus und Herrschaft. Die Tyrannei des Mannes in unserer Gesellschaft, München 1971, S. 9 25 Andrea Dworkin, a. a. O., S. 126 Kapitel 4 1 Hans Herbert von Arnim, Die Partei, der Abgeordnete und das Geld, Mainz 1991 2 Zum verschleierungsstrategischen Charakter der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts s. Hedda J. Herwig, Da sUrteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 als Ausdruckherrschender Sexualmoral, in: Anja Bagel-Bohlau/Michael Salewski (Hrsg.), Sexualmoral und Zeitgeist im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1990 3 Man lese dazu die bei Ulrich Beck aufgeführten Scheidungsquoten in Westdeutschland nach: Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986, S. 163 4 Inwieweit sich Männer um solche Dreifachbelastung herumdrücken, s. Helge Pross, Die Männer. Eine repräsentative Untersuchung über die Selbstbilder von Männern und ihre Bilder von der Frau, Reinbek b. Hamburg 1984 5 Vgl. Mario Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozeß, Frankfurt a. M. 1982 6 Vgl. Colin M. Turnbull, Molimo. Drei Jahre bei den Pygmäen, Köln/Berlin 1963; Marjorie Shostak, Nisa erzählt. Das Leben einer Nomadenfrau in Afrika, Reinbek b. Hamburg 1982 21
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Maurice Godelier, Die Produktion der Großen Männer, Frankfurt a. M./New York 1987, S. 9 Claude Meillassoux, ‹Die wilden Früchte der Frau›. Über häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft, Frankfurt a. M.1983, S.13-106 Maurice Godelier, a. a. O., S. 51 Ebd., S. 10 Ebd., S. 53 Vgl. Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute, München 1971 Maurice Godelier, a. a. O., S. 57 Ebd., S. 83 Vgl. Claude Meillassoux, Anthropologie der Sklaverei, Frankfurt a. M./New York 1989 Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, München 1963, S. 129
Kapitel 5 1
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Vgl. u. a. Eric Voegelin, Ordnung, Bewußtsein, Geschichte, Stuttgart 1988 Albin Lesky, Die griechische Tragödie, 5. Aufl., Stuttgart 1984,S. 181 Christian Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1989; s. auch ders., Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Stuttgart 1990, S.178-179 Euripides, Iphigenie in Aulis, Stuttgart 1989, S. 13-17 Ebd., S. 20
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Ebd., S. 21 Ebd., S. 21-22 Ebd., S. 38 Ebd., S. 47 Ebd., S. 48; Hervorh. H. H. Ebd., S. 52-53 Ebd., S. 59 Ebd., S. 60 Albin Lesky, a. a. O., S. 181-182 Karl Kerenyi, Die Mythologie der Griechen, Bd. II, München1986, S. 258-259 S. z. B. Klaus Theweleit, Männerphantasien, 1 und 2, Reinbek b.Hamburg 1980 Die Authentizität der letzten Zeilen der «Iphigenie in Aulis» ist in Philologenkreisen umstritten. Aus mehreren Gründen, die ichhier nicht ausfuhren kann, halte ich es dennoch für legitim, diese Zeilen zu zitieren. Dem «Geist» des Dichters widersprechen siejedenfalls nicht.
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Cheryl Benard/Edit Schlaffer, Die ganz gewöhnliche Gewalt inder Ehe. Texte zu einer Soziologie von Macht und Liebe, Reinbek b. Hamburg 1978; Bram van Stolk/Cas Wouters, Frauen im Zwiespalt. Beziehungsprobleme im Wohlfahrtsstaat. Eine Modellstudie, Frankfurt a. M. 1987 Oscar Wilde, «Der Fischer und seine Seele», in: ders., Die Erzählungen und Märchen, Frankfurt a. M. 1972, S. 57–58 Ebd., S. 60-61 Ebd., S. 79-81 Ebd., S. 86-87
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Ebd., S. 90 Ebd., S. 91 Ebd., S. 93 Ebd., S. 94-95 Ebd., S. 96 Ebd., S. 98 Vgl. Michael Salewski, «Julian, begib dich in mein Boudoir›. Weiberherrschaft und Fin de siècle», in: Anja Bagel-Bohlau/Michael Salewski (Hrsg.), Sexualmoral und Zeitgeist im 19. und 20.Jahrhundert, Opladen 1990
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S. Paul Moor, Jürgen Bartsch: Opfer und Täter. Das Selbstbildnis eines Kindermörders in Briefen, Reinbek b. Hamburg 1991 S. Alice Miller, Am Anfang war Erziehung, Frankfurt a. M.1980 Mary Daly, Gyn/Ökologie, München 1981, S. 136 Ebd., S. 137-138 Ebd., S. 138 Ebd. Ebd., S. 139-140 Pierre Clastres, Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie, Frankfurt a. M. 1976, S. 178 Zit. nach Mary Daly, a. a. O., S. 19410 Ebd., S. 195 Jost Herbig, Nahrung für die Götter. Die kulturelle Neuerschaffung der Welt durch den Menschen, München/Wien 1988, S. 12 Hervorh. H. H. Ebd., S. 257
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Ebd. Ebd., S. 258 Ebd., S. 269 Ebd. Ebd., S. 272 Ebd., S. 273 Ebd. Ebd., S. 274 Ebd. Ebd., S. 306 Ebd., S. 307 Ebd., S. 299; Hervorh. H. H. Ebd., S. 286 Ebd., S. 288; Hervorh. H. H. Ebd., S. 300 Ebd. Ebd., S. 302 Eli Sagan, Tyrannei und Herrschaft. Die Wurzeln von Individualismus, Despotismus und modernem Staat. Hawaii – Tahiti –Buganda, Reinbek b. Hamburg 1987, S. 27; Hervorh. H. H. Ebd. Ebd., S. 129 Ebd., S. 142 Ebd., S. 157 Ebd., S. 362; Hervorh. H. H. Ebd., S. 231 f. Ebd., S. 281 Ebd., S. 340 Ebd. Ebd., S. 358 Ebd., S. 426; Hervorh. H. H.
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Colin M. Turnbull, Molimo. Drei Jahre bei den Pygmäen, Köln/Berlin 1963, S. 119
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S. u. a. Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 1984 S. Erich Fromm, Die Kunst des Liebens, Neu übersetzte Ausgabe, Frankfurt a. M./Berlin 1986; Peter Lauster, Die Liebe. Psychologie eines Phänomens, Reinbek b. Hamburg 1982 S. Katharina Rutschky, Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Frankfurt a. M./Berlin 1988; Helga Glantschnig, Liebe als Dressur. Kindererziehung in der Aufklärung, Frankfurt a. M./New York 1987 S. Gunnar Heinsohn und Otto Steiger, Die Vernichtung derweisen Frauen. Beiträge zur Theorie und Geschichte von Bevölkerung und Kindheit, Herbstein 1985 Jacob Sprenger/Heinrich Institoris, Der Hexenhammer (Malleus maleficarum), München 1982, 1. Teil, S. 199 Ebd., S. 100 Vgl. Silvia Bovenschen, Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt a. M. 1979 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, 3. Aufl., Paderborn 1963, S. 429 Helmut Karasek, «Carmen – Traum der absoluten Liebe», in: «Der Spiegel», 12. 3. 1983, S. 186 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, a. a. O., S. 17
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Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze der Staatslehre, Stuttgart 1986, S. 11 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, a. a. O.,S. 115 Ebd., S. 412 Vgl. Tilo Schabert, «Jean-Jacques Rousseau», in: ders. (Hrsg.), Der Mensch als Schöpfer der Welt. Formen und Phasen revolutionären Denkens in Frankreich 1762 bis 1794, München 1971 Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, a. a. O., S.420 Ebd., S. 456 Ebd., S. 457 Dorothy Tennov, Limerenz – Über Liebe und Verliebtsein, München 1981 Gegen die Verallgemeinerungsfähigkeit dieses Satzes, der ursprünglich an «meine» Studenten adressiert war, lassen sichangesichts dessen, was sich im Zuge der deutschen «Wiedervereinigung» derzeit täglich ereignet, allerdings erhebliche Zweifelanmelden. Eine Ausnahme macht, das Thema betreffend, Jill Tweedie, Diesogenannte Liebe. Von den Zwängen der Zweisamkeit, Reinbek b. Hamburg 1982 Vgl. Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, München o. J. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder Über die Erziehung, a. a. O., S. 423 Ebd., S. 430 Ebd., S. 460 Ebd., S. 463 Ebd., S. 466 Ebd., S. 457-458
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Jill Tweedie, a. a. O., S. 85-87 Ebd., S. 89-90 Erich Fromm, a. a. O., S. 47-48 Ebd., S. 33 Ebd., S. 34 Ebd. Ebd., S. 41 Wolfgang Pohrt, Endstation. Über die Wiedergeburt der Nation, Berlin 1982, S. 7 Ebd. Ebd., S. 8-9 Ebd., S. 11 Marjorie Shostak, Nisa erzählt. Aus dem Leben einer Nomadenfrau in Afrika, Reinbek b. Hamburg 1982, S. 213-214 Wolfgang Pohrt, a. a. O., S. 15-16
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Marianne Krüll, Freud und sein Vater. Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung, München 1979 Alice Miller, Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt a. M. 1983 Jeffrey M. Masson, Was hat man dir, du armes Kind, getan? Sigmund Freuds Unterdrückung der Verfuhrungstheorie, Reinbek b. Hamburg 1986 S. ebd., S. 215 S. Carl Gustav Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten, 6. Aufl., Zürich und Stuttgart 1963, S. 37 Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, in:
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ders., Studienausgabe, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1971, S. 97 Ebd., S. 102-104 Ebd., S. 105-106 Ebd., S. 106 S. Thomas Szasz, Die Fabrikation des Wahnsinns, Freiburg i. Br.1974 Zit. nach Jeffrey M. Masson, a. a. O., S. 218 Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, a. a. O.,S. 106 Ebd., S. 166 Ebd., S. 184-185 Ebd., S. 185 Sigmund Freud, Zur Ätiologie der Hystologie, in: ders., Studienausgabe, Bd. VI, Frankfurt a. M. 1971, S. 67 Ebd., S. 68-69 Ebd., S. 74-75 Ebd., S. 65-66 Jeffrey M. Masson, a. a. O., S. 39-10 Ebd., S. 41 Ebd., S. 42-43 Zit. nach Jeffrey M. Masson, a. a. O., S. 25 S. ebd., S. 140 S. ebd., S. 134 S. ebd., S. 145 f. Zit. nach Jeffrey M. Masson, a. a. O., S. 79
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Vgl. Claus-Ekkehard Barsch, Erlösung und Vernichtung. Dr. phil. Joseph Goebbels, München 1987 Rudolf Höß, Kommandant in Auschwitz. Autobiographi
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sche Aufzeichnungen, München 1963 S. Jochen von Lang, Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre, Severin und Siedler o. J. G. M. Gilbert, Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen, Frankfurt a. M. 1962 Niklas Frank, Der Vater. Eine Abrechnung, München o. J. Harry Mulisch, Strafsache 40/61. Eine Reportage über den Eichmann-Prozeß, Berlin 1987 Rudolf Höß, a.a.O., S. 53 Ebd. Ebd., S. 54-55 ° S. Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964 Rudolf Höß, a.a.O., S. 56 Ebd., S. 58 Ebd., S. 57 Ebd., S. 60 Ebd., S. 63 Ebd., S. 92 Ebd., S. 93 Ebd., S. 110 Ebd., S. 109 KL Auschwitz in den Augen der SS. Höss. Broad. Kremer, Katówice 1981, S. 291 Rudolf Höß, a.a.O., S. 134 Ebd., S. 135 Ebd., S. 112 Ebd., S. 114 G. M. Gilbert, a. a. O., S. 252 Rudolf Höß, a.a.O., S. 155
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Ebd. S. Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 1980 Rudolf Höß, a. a. O., S. 139 Ebd., S. 129 Ebd., S. 132 Ebd., S. 111 S. Paul Matussek, Die Konzentrationslagerhaft und ihre Folgen, Berlin/Heidelberg/New York 1971 Rudolf Höß, a.a.O., S. 97 Ebd., S. 180 Ebd., S. 144 Ebd., S. 134 Ebd., S. 98 Rechnet man die Personen, die Höß offiziell unterschlägt, mit ein, kommt man zusammen mit dem parasitären Nazi (dem «Teufel») und dem späteren Retuscheur (einem Judas in Christus-Attitüde) auf mindestens 12 Personen. Die Nähe zur Zahl der Jünger Christi kommt sicher nicht von ungefähr. Rudolf Höß, a. a. O., S. 68 Ebd., S. 69-70 Jochen von Lang, a. a. O., S. 187 Ebd., S. 179 Ebd., S. 138 Ebd., S. 150 KL Auschwitz in den Augen der SS, a. a. O., S. 10 Ebd., S. 213 Ebd. Ebd., S. 213-214 Rudolf Augstein, «Kein Hitler», in: «Der Spiegel», 4. 3. 1991, S. 160 Henryk M. Broder, «Unser Kampf», in: «Der Spiegel», 6.5.1991, S. 258-261
Teil III
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S. Siegward Roth, Die Kriminalität der Braven, München 1991 Alice Miller, Du sollst nicht merken. Variationen über das Paradies-Thema, Frankfurt a. M. 1983; dies., Das verbannte Wissen, Frankfurt a. M. 1990, dies., Der gemiedene Schlüssel, Frankfurt a. M. 1991 2. Mose 20,12 Alice Miller, Das verbannte Wissen, a. a. O., S. 131 Alice Miller, Du sollst nicht merken, a. a. O., S. 124 Ebd., S. 29 Ebd., S. 30 Hiob 42,16 Alice Miller, Der gemiedene Schlüssel, a. a. O., S. 163 Jill Tweedie, Die sogenannte Liebe. Von den Zwängen der Zweisamkeit, Reinbek b. Hamburg 1982, S. 92-95 Alice Miller, Du sollst nicht merken, a. a. O., S. 124
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S. Rolf Wilhelm Brednich, Die Spinne in der Yucca-Palme. Sagenhafte Geschichten von heute, München 1991 S. Moses I. Finley, Die Welt des Odysseus, München 1979, S.36-38 S. Bernard Andreae, Odysseus. Archäologie des europäischen Menschenbildes, Frankfurt 1982 Homer, Ilias. Odyssee, München 1970, Vorwort; ausführli
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cher zum «Humanitätsideal», und zwar unkritisch: Bernard Andreae, a. a. O., S. 9-28 Colin M. Turnbull, Molimo. Drei Jahre bei den Pygmäen, Köln/Berlin 1963, S. 150-153 Homer, Ilias. Odyssee, a. a. O., S. 621; Hervorh. H. H. Ebd., S. 579 Ebd., S. 580 Ebd., S. 613 Ebd., S. 548 Ebd., S. 551-552 Ebd., S. 593 Ebd., S. 613; Hervorh. H. H. Alfred North Whitehead, Die Funktion der Vernunft, Stuttgart 1974, S. 12
Literaturverzeichnis
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Ende eBook: Gerwig, Hedda J. - «Sanft und verschleiert ist die Gewalt …»