Asiye Kaya Mutter-Tochter-Beziehungen in der Migration
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Asiye Kaya Mutter-Tochter-Beziehungen in der Migration
Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung Herausgegeben von Thomas Geisen
Migrationsprozesse sind eng mit den Bedingungen regionaler Kontexte verbunden. Migration und Region bilden daher einen komplexen Zusammenhang, in dem sich Fragen nach Ursachen, Formen und Auswirkungen von Migrationsprozessen mit denjenigen regionaler Mobilitätsbedingungen verschränken. Die Schriftenreihe „Beiträge zur Regional- und Migrationsforschung“ greift diese Verbindung von Migration und Region auf. Die Beiträge untersuchen die Vielschichtigkeit der regionalen Bedingungen der Entstehung von Mobilität, analysieren ihre unterschiedlichen Formen und thematisieren Kontexte und Folgen von Migrationsprozessen. Die Schriftenreihe verfolgt das Ziel, in Monografien und Sammelbänden die wechselseitige Bedeutung und Verbindung von Migrationsprozessen und regionalen Entwicklungen aufzuzeigen.
Die Bände 1 bis 8 sind beim IKO Verlag erschienen. Die Reihe wird ab 2009 im VS Verlag fortgeführt.
Asiye Kaya
Mutter-TochterBeziehungen in der Migration Biographische Erfahrungen im alevitischen und sunnitischen Kontext
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung und des Fonds National de la Recherche Luxembourg
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich | Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz: www.rundumtext.de Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16875-3
Inhaltsverzeichnis
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5
Einleitung ................................................................................................. 9 Der Entstehungsprozess des Forschungsthemas ...................................... 10 Forschungen zur Mutter-Tochter-Beziehung in der Türkei ..................... 13 Türkische Mutter-Tochter-Beziehung in der deutschen Migrationsforschung................................................................................ 15 Fragestellungen der Untersuchung .......................................................... 17 Aufbau der Arbeit .................................................................................... 19
2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4
Sunniten und Aleviten in der Türkei ................................................... 21 Vorbemerkungen ..................................................................................... 21 Das türkische Sunnitentum ...................................................................... 24 Der orthodox-sunnitische Islam nach der Begründung der türkischen Republik ................................................................................................... 25 Die Stellung der Frau in der sunnitisch-islamischen Religion ................ 29 Die Frau im rechtlichen Wandel in der Türkei........................................ 31 Ihre Stellung im sozialen Wandel in der Türkei ...................................... 34 Alevitentum ............................................................................................. 36 Zur Definition des Alevitentums .............................................................. 36 Glauben, Glaubensgemeinschaft und Ritual ........................................... 38 Gesellschaftliche Marginalisierung und Pogrome gegen Aleviten.......... 41 Die Stellung der Frau im Alevitentum ..................................................... 46
3 3.1 3.2 3.2.1 3.3 3.4
Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland ..................................... 51 Migration der Frauen aus der Türkei nach Deutschland .......................... 51 Sunniten in Deutschland .......................................................................... 54 Türkisch- Islamische Institutionen in Deutschland ................................. 56 Aleviten in Deutschland .......................................................................... 59 Bilder über türkische Frauen und Mädchen in Deutschland .................... 63
4 4.1 4.2 4.3
Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign ................................. 71 Allgemeine Vorbemerkungen.................................................................. 71 Biographische Forschung über Migrationsverläufe in Deutschland ........ 72 Anwendung der Methode ........................................................................ 75
2 2.1 2.2 2.2.1
6
Inhaltsverzeichnis
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4
Die Reflexion über den Forschungszugang und die Kontaktaufnahme ... 75 Studienbezogene Entwicklung der Stichprobe ......................................... 82 Datenerhebung ........................................................................................ 84 Datenauswertung: Die biographische Fallrekonstruktion ...................... 88
5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4
Falldarstellungen ................................................................................... 97 Neziha Demiray ....................................................................................... 97 Kontaktaufnahme – Interviewkontext und Interviewverlauf ................... 97 Die von der Interviewten selbst strukturierte Eingangspräsentation ...... 99 Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte...................................... 107 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray) .................................... 125 Interviewkontext .................................................................................... 125 Rekonstruktion der erlebten und erzählten Lebensgeschichte ............... 128 Zukunftsperspektive ............................................................................... 148 Zusammenfassung ................................................................................. 149 Elif Toprak ............................................................................................ 152 Interviewkontext und Interviewverlauf .................................................. 152 Die von der Interviewten selbst strukturierte Einganspräsentation ...... 155 Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte...................................... 161 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak) ................................................ 194 Interviewkontext .................................................................................... 195 Rekonstruktionen der erlebten und erzählten Lebensgeschichte ........... 196 Zukunftsperspektive ............................................................................... 222 Zusammenfassung ................................................................................. 223
Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse ........................ 227 Vorbemerkungen: Bindung und Ablösung in der Adoleszenz .............. 228 Typisierungen ........................................................................................ 232 Erster Typus: Bindung in der Gegenwart mit Hilfe des religiösen Raumes ........................................................... 232 6.2.2 Zweiter Typus: Bindung über Leid und Schuldgefühle .......................... 241 6.3 Zusammenfassung der Ergebnisse: Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern: Alevitinnen und Sunnitinnen .... 245 6 6.1 6.2 6.2.1
7
Fazit ...................................................................................................... 261
Literaturverzeichnis ....................................................................................... 267 Anhang............................................................................................................. 289
Danksagung
Diese Arbeit entstand mit vielfältiger Hilfe und Unterstützung zahlreicher Menschen. Ich danke ihnen allen, auch denen, die ihren Namen hier nicht finden werden. Ich danke den Interviewpartnerinnen, die mir ihre Lebensgeschichten erzählt und sich auf eine langwierige Interviewphase eingelassen haben. Ihre Geschichten bilden das Herzstück der vorliegenden Arbeit. Mein ganz besonderer Dank gilt Prof. Dr. Yvonne Schütze. Als Wissenschaftlerin ermutigte sie mich durch fruchtbare Diskussionen, meine Thesen zu präzisieren, und machte mich auf die Arbeiten von Norbert Elias aufmerksam. Als Mensch schenkte sie mir ihren Glauben an mich trotz zahlreicher bürokratischer Hindernisse, als zum Beispiel mein in der Türkei erworbener Studienabschluss nicht anerkannt werden sollte, wodurch sich die Zulassung zur Promotion um drei Jahre verzögerte. Ohne ihre Unterstützung hätte aus der anfänglichen Idee die vorliegende Arbeit nicht entstehen können. Herzlichen Dank, Frau Schütze! Prof. Dr. Gabriele Rosenthal verdanke ich den biographischen Ansatz, auf dem meine Studie aufbaut. Die methodische Ausbildung bei ihr ermöglichte mir einen scharfen Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Ohne ihre geduldige Betreuung, Unterstützung und die bereichernden Diskussionen mit ihr hätte ich aus meiner Studie nicht so viele unterschiedliche Ergebnisse herausarbeiten können. Ihr gilt mein besonders herzlicher Dank! Mein großer Dank gilt meinen KollegInnen und FreundInnen, die mit ihren Anregungen, konstruktiven Kritiken und vor allem ermutigenden Bemerkungen mir in meinem Arbeitsprozess eine große Stütze waren. Die KollegInnen aus den Forschungskolloquien und Interpretationsgruppen in Berlin, Kassel und Göttingen analysierten mit mir viele Interviewstellen und diskutierten in unterschiedlichen Stadien die Ergebnistexte meiner Untersuchung. Stellvertretend für viele danke ich Hanna Beneker, Ute Engels, Michaela Köttig, Ulrike Loch, Silja Schotte und Heidrun Schulze im Kontext der Kasseler Kolloquiumsgruppe. Besonders die methodischen Diskussionen mit Christine Riegel, Jutta Wergen und Martina Winkelmann aus der im Rahmen der Hans-Böckler-Stiftung gegründeten Arbeitsgruppe „Majuchas“ bereicherten meine Arbeit. Herzlichen Dank für die fruchtbare Zusammenarbeit!
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Danksagung
Matthias Abraham, Lisanne Ackermann, Fikriye Aras, Gesine Aufdermauer, Anne Blezinger, Artur Bogner, Roswitha Breckner, Halil Can, Katharine Derderian, Sevtap Doan, Anke Fessenfeld, Angelika Greis, Astrid AlbrechtHeide, Ilse Schimpf-Herken, Sabine Jeschke, aduman Karaca, Silvija Kavi, Ursula Kling, Georgia Kretsi†, Ingrid Miete, Christine Müller-Botsch, Harald Paul, Gabi Sester, Hee-Young Shim, Anja Stichs, Rüçhan Tolgay, Sevasti Truveta, Birsen Turna, Carla Wesselmann, Czarina Wilpert, Rixta Wundrak und Elif Yeilba trugen mit ihren unterschiedlichen Positionen, mit ihren anregenden Diskussionen, aktivem Zuhören, Beantworten meiner vielen Fragen, gelegentlichen kreativen Ablenkungen von der Arbeit sowie durch Korrekturlesen und Layout zur Vervollständigung meiner Dissertation maßgeblich bei. Aus der Ferne unterstützten mich in jeder Hinsicht meine Freundinnen, Hüsniye Ece und Ayenur Neumann-Matarac. Herzlichen Dank an Euch beide für Euer Vertrauen! Besonders herzlich möchte ich mich bei Alex Michaels für seine fürsorgliche Unterstützung und seinen bereichernden scharfen Blick für feine Unterschiede bedanken. Die Hans-Böckler-Stiftung förderte meine Forschung mit einem Promotionsstipendium. Ihr gilt mein besonderer Dank auch für den Druckkostenzuschuss für diese Publikation. Bedanken möchte ich mich ebenfalls beim Fonds National de la Recherche Luxembourg für den finanziellen Zuschuss. Mit seinem Interesse an dem Forschungsthema wird der Studie einen besonderen Zugang zu Luxemburg ermöglicht. Christel Baltes-Löhr an der Universität Luxemburg danke ich in diesem Zusammenhang herzlich für ihre kollegiale Unterstützung. Mein ganz besonderer Dank gilt dem Herausgeber dieser Buchreihe Thomas Geisen für seine vielfältige Kooperation. Danke an den VS-Verlag für Sozialwissenschaften und vor allem an Jens Ossadnik für seine gründliche Arbeit bei der Fertigstellung der Druckvorlage. Abschließend möchte ich meiner Familie von ganzem Herzen danken. Mein Vater Velian Kaya und meine Mutter Zülfinaz Kaya† vertrauten immer, dass mein Weg auch der richtige sein wird. Meine Geschwister kram, Cevher, Hakk, Hanmah, Hülya, Gülen, Türkan, Güllizar haben mich auf meinem Weg auf vielfältigste Weise unterstützt. Meine Mutter konnte trotz ihres aufgeregten Wartens die Vervollständigung dieser Arbeit nicht mehr erleben. Ich widme diese Arbeit meiner Mutter, auch stellvertretend für alle Frauen und ihre Lebensgeschichten, die in dieser Arbeit zum Ausdruck kommen. Berlin, 2009 Asiye Kaya
1 Einleitung 1 Einleitung
Im Mittelpunkt der vorliegenden Studie stehen Familien- und Lebensgeschichten von alevitischen und sunnitischen Müttern sowie deren Töchter in Deutschland. Die Sunniten machen in der Türkei die Mehrheitsgesellschaft aus, die Aleviten bilden die soziale Minderheitsgruppe. Die Studie untersucht die geschlechtsspezifischen Tradierungsprozesse in der Migration im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- oder Minderheitskultur in der Herkunftsgesellschaft Türkei, daher ist die vorliegende Arbeit eine migrationsbiographische Vergleichsstudie. In der Migrationsforschung in Deutschland herrscht über MigrantInnen1, insbesondere über Frauen aus der Türkei, eine Fokussierung auf die Ankunftsgesellschaft bzw. eine ethnozentristische Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft vor. Dies verursacht eine Wissenslücke innerhalb dieser Forschungen, da Untersuchungen zu den Herkunftskontexten der Frauen ausgeblendet werden. Ihre Lebenserfahrungen werden als Defizit bzw. als Konfliktpotenzial zwischen ihnen und der Mehrheitsgesellschaft stigmatisiert2.3 Diese Tatsache verursacht m.E. eine Diskontinuitätserfahrung bei den Frauen, da sie – entsprechend den Erwartungen der Einwanderungsgesellschaft – ihre Lebenserfahrungen im Herkunftsland als etwas dort Zurückgelassenes betrachten müssen. Dies möchte die vorliegende Arbeit mit ihrem vergleichenden Ansatz, indem der Herkunftskontext und die Lebenserfahrungen der Frauengenerationen mit in die Studie einbezogen werden, ändern.
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In der vorliegenden Arbeit werden an den Stellen, wo beide Geschlechter gemeint sind, die Synonyme mit dem großen „I“ verwendet. Der Begriff Stigma bzw. Stigmatisierung, wie in der vorliegenden Arbeit verwendet, basiert auf der Definition von Erving Goffman (1975). Stigmatisiert werden Personen insofern, wenn sie in unerwünschter Weise anders sind und von den jeweils in Frage stehenden Erwartungen abweichen. Nach Goffmans Definition werden sie nicht ganz menschlich gesehen. „Unter dieser Voraussetzung üben wir eine Vielzahl von Diskriminationen aus, durch die wir ihre Lebenschancen wirksam, wenn auch oft gedankenlos, reduzieren.“ (ebd.: 13f) Seit den 1990er Jahren entwickelt sich eine kritische Haltung zu dieser Mehrheitsperspektive. Dazu siehe beispielsweise die kritischen Arbeiten von Helma Lutz, Ursula Apitzsch, Leonare Herwartz-Emden, Sedef Dümen, Roswitha Breckner, Neval Gültekin.
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1 Einleitung
1.1 Der Entstehungsprozess des Forschungsthemas 1.1 Der Entstehungsprozess des Forschungsthemas Den Zugang zu diesem Forschungsthema fand ich durch meine pädagogische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, von denen mehrere türkischstämmige Eltern hatten. Diese praxisbezogene Arbeit begleitete mein Studium in den Sozial- und Erziehungswissenschaften. Während meiner mehrjährigen pädagogischen Tätigkeit beobachtete ich, dass mit Beginn der Adoleszenz4 vor allem Mädchen begannen, sich intensiv mit sich selbst auseinanderzusetzen. Sie befanden sich in einem Lebensabschnitt, in dem sie mit allen sozialen und psychologischen Bedingungen der Weiblichkeit konfrontiert wurden (Chodorow 1985, Gilligan 1992). Ihr Aussehen, ihre Familiensituation, ihre Beziehungen zu ihren Müttern, zu Peergroups und zu ihren LehrerInnen standen im Mittelpunkt ihrer Auseinandersetzungen. Die Schule erhielt, als eine repräsentative Institution der deutschen Mehrheitsgesellschaft, immer mehr Bedeutung. Die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit wurde zunehmend in den Mittelpunkt gestellt, wobei den Fremdzuschreibungen eine große Bedeutung zukam (G.H. Mead 1934). Diese Konfrontation waren nicht nur ihrer Lebensphase geschuldet, sondern sie wurden durch ihr gesellschaftliches Umfeld, besonders aufgrund ihres Status‘ als ‚ausländische Mädchen‘ – und im Fall der vorliegenden Studie als ‚türkische Mädchen‘ – immer wieder dazu aufgefordert, sich innerhalb der deutschen Gesellschaft zu positionieren. Die Etikettierung ‚türkisches Mädchen‘, die sie als identitätsstiftendes Merkmal in ihrem Alltag begleitete, diente den Institutionen zur Erklärung von Konflikt- oder Problemsituationen zwischen ihnen und den öffentlichen Einrichtungen. Hinzu kam ein aktuelles migrationspolitisches Thema: In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde in der Öffentlichkeit die Bedeutung der Migrantinnen (insbesondere mit türkischer Herkunft), die in ihrer Rolle als Mutter für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich gemacht wurden, stark thematisiert. Die Anpassung der ‚türkischen Mütter‘ an die deutsche Gesellschaft wurde nicht nur als Maßstab für die Anpassungsleistungen ihrer in Deutschland aufwachsenden Kinder betrachtet, sondern vielmehr vorausgesetzt. Zum einen wurden die Mütter aus der Türkei aus der Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft als ‚Fremde‘5 betrachtet und durch die Bezeichnung ‚türkische Mutter‘ homo4
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Aus biographischer Perspektive eignet sich der Begriff „Adoleszenz“ als ein übergreifender Begriff für eine Lebensphase, die sowohl die Pubertät – die Phase der körperlichen Geschlechtsreifung – als auch die Jugend als ein soziales Phänomen einschließt. Für eine interne zeitliche Strukturierung der Jugendphase und deren genauere Abgrenzung durch Statuspassagen siehe Klaus Hurrelmann (1994) und Vera King (2004). Die hier angewandte Terminologie wird ähnlich wie bei Georg Simmel verstanden. Dies bedeutet, dass der Fremde nicht „als der Einwandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern als der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potenziell Wandernde“
1.1 Der Entstehungsprozess des Forschungsthemas
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genisiert und zum anderen wurde ihnen eine vermittelnde Rolle zwischen ihren Kindern und der deutschen Mehrheitsgesellschaft(skultur) zugeschrieben. Es ist mittlerweile allgemein akzeptiert, dass Frauen i.d.R. nicht nur für die biologische und kulturelle Reproduktion einer Gesellschaft, sondern auch für deren Repräsentation zuständig gemacht werden. Wie Yvonne Schütze (1991; 1993a) in ihren Arbeiten deutlich zeigt, repräsentieren Frauen überwiegend generative Ressourcen im Sinne der Fürsorge für Jüngere und Ältere. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft forderte ‚türkische Mütter‘ somit auf, als reproduktive Vermittlerin für beide Gesellschaften zu fungieren. Diese Erwartung hatte jedoch folgende Widersprüche: Zum einen sollten sie für zwei unterschiedliche Gesellschaftsformen die repräsentative Rolle übernehmen und gleichzeitig wurden sie von der Ankunftsgesellschaft als ‚fremd‘ stigmatisiert. Zum anderen sollten sie als (türkische) Mütter die Vermittlerinnenrolle für eine Gesellschaft übernehmen, die sie stigmatisiert. Für diese ihnen zugewiesene Schlüsselrolle waren die deutschen Sprachkenntnisse der Mütter von elementarer Bedeutung, weshalb die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Sprachförderungskursen, insbesondere für ‚türkische Mütter‘ lag. In diesem Zusammenhang entwickelten auch wir den Bereich Elternarbeit und boten in Zusammenarbeit mit einer Volkshochschule Deutschkurse überwiegend für Frauen (Mütter) mit türkischem Hintergrund an. Durch diese stand ich in Kontakt zu diesen meist in der Türkei aufgewachsenen Frauen. In meiner Funktion als Pädagogin bekam ich die Möglichkeit, ihre Erfahrungen sowohl in der Herkunftsgesellschaft als auch in der Ankunftsgesellschaft sowie die Perspektive ihrer heranwachsenden Töchter kennen zu lernen. Während Mütter und Töchter von außen als „Türkin“ stigmatisiert wurden, sprachen sie über ihre Zugehörigkeit zu einer alevitischen, sunnitischen oder kurdischen Gruppe. Zwar versuchten zu dieser Zeit in Deutschland lebende Minderheitsgruppen aus der Türkei, ihre unterschiedlichen Zugehörigkeiten und deren Konsequenzen für ihre Lebensführung in Form von Massendemonstrationen als Reaktion auf politische Ereignisse im Herkunftsland in die Öffentlichkeit und Medien zu tragen, jedoch ignorierte die hiesige Mehrheitsgesellschaft diese Unterschiede sowie deren Relevanz für die MigrantInnengruppe. Aus der Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft waren alle „Türken“ gleich und was diese von sich behaupteten, ignorierten sie. Etwas vereinfacht gesagt, waren diese Unterschiede eine ‚private Sache‘ unter „den Türken“. Aufgrund meiner Beobachtungen und Erfahrungen aus meiner Arbeit im sozialen Bereich beschäftigte mich immer mehr die Frage, wie die in der Türkei (Simmel 1908: 685) zu verstehen ist. Er sei innerhalb eines räumlichen Kreises fixiert, jedoch seine Position in diesem sei von seiner Nicht-Zugehörigkeit bestimmt. Nach Simmels Auffassung werden Fremde nicht als Individuen, sondern „als die Fremden eines bestimmten Typus überhaupt empfunden“ (ebd. 690).
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1 Einleitung
aufgewachsenen Frauen und vor allem die hier in Deutschland heranwachsenden Mädchen ihre Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- oder Minderheitsgruppe erlebten. Meine Teilnahme an einem Seminar zur Mutter-Tochter-Beziehung lenkte meine Aufmerksamkeit auf eine Verknüpfung zwischen diesen beiden Frauengenerationen. Bei kontextunabhängigen, generalisierenden Aussagen aus sozialwissenschaftlicher und psychoanalytischer Sicht wird die Mutter-Tochter Beziehung als eine konfliktreiche, ambivalente erste Liebes- und Hassbeziehung betrachtet. Außerdem wird die Mutter während des Frauwerdens der Tochter als erste und wichtigste Bezugsperson in der Beziehung zwischen der Gesellschaft und der Tochter als zukünftige Frau gesehen (Friday 1972/1989, Chodorow 1985, Eichenbaum/Orbach 1984, Burger/Seidenspinner 1988, Gilligan 1992). Überdies lernen Mädchen bei der Identifikation mit der Mutter und in deren Rolle als wichtigste Bezugsperson, dass Versorgungs- und Betreuungsarbeit eine spezifische und wesentliche Frauenarbeit sei (Debold/Malavé/Wilson 1994: 72). Jede Tochter müsse sich von der Mutter distanzieren, um selbst eine Frau zu werden (De Kanter 1993: 31). Dabei käme es aufgrund der Intimität ihrer Beziehung vor allem in der Phase der Adoleszenz der Tochter zu Entwicklungskämpfen zwischen beiden (Fischer 1991: 41). Allgemein sei die Sorge der Mütter um ihre Töchter (Debold/Malavé/Wilson 1994: 20), „über die Grenzen von Rasse, Herkunft, sexueller Ausrichtungen und Behinderungen hinweg“, das verbindende Element. Ausgehend von diesen Generalisierungen stellte sich für mich die Frage, wie die hier in Deutschland heranwachsenden Töchter mit alevitischem und sunnitischem Hintergrund diese unvermeidbare Beziehung (Friday 1989) zu ihren Müttern erleben. Denn die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern kann nicht unabhängig vom sozialen Kontext betrachtet werden, weil sich diese auch darin formt (De Waal 1993: 35). Bei der ursprünglichen Konzeption meiner Untersuchung legte ich den Schwerpunkt auf die Lebenserfahrungen der Töchter. Informationen über die Mütter und ihre Herkunftsfamilien sollten mir dabei helfen, den Sozialisationsprozess der Töchter (innerhalb der Familie) zu verstehen. Das wechselseitige Beziehungsgeflecht zwischen den Töchtern und den Müttern sowie ihre Anknüpfungspunkte mit den Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften verdeutlichten sich durch die biographische Perspektive während des Forschungsprozesses. Ich nahm eine Perspektive ein, bei der die Biographien als „sozialweltliches Orientierungsmuster“ sowohl als individuelle als auch kollektive Konstruktionen betrachtet werden (Fischer/Kohli 1987, Alheit 1985; 1995, Rosenthal 1995). Durch diesen Ansatz standen die Lebenserfahrungen der Mütter in der Studie gleichberechtigt neben den Erfahrungen der Töchter. Dadurch trat gleichzeitig die Relevanz des Herkunftskontextes für die vorliegende Arbeit hervor. Es war mir vor allem durch die biographische Fallrekonstruktion (Rosenthal 1995) möglich,
1.2 Forschungen zur Mutter-Tochter-Beziehung in der Türkei
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die Verbindung zwischen den Frauengenerationen und den Kontexten der Herkunfts- und Ankunftsgesellschaften im Zusammenhang mit den Zugehörigkeitserfahrungen zu einer Minderheits- oder Mehrheitsgruppe zu verstehen. Diese Zusammenhänge erkläre ich in der vorliegenden Arbeit mit Hilfe der anonymisierten Biographien der Mütter und Töchter. Die Zugehörigkeit zu einer Mehrheits- bzw. Minderheitsgruppe führt zu – das zeigen die Ergebnisse der Fallanalyse – weit reichenden Auswirkungen auf die Lebensgeschichten der Frauen. Die damit verbundenen Erfahrungen der Mütter im Herkunftsland sind in den rekonstruierten Lebensgeschichten von zentraler Bedeutung für ihre Beziehungen zu ihren Töchtern in der deutschen Gesellschaft. Dies erzeugt unterschiedliche Bindungen zwischen ihnen, die als ein charakteristisches Merkmal der Beziehungen zwischen diesen beiden Frauengenerationen zu deuten sind. Dieses zentrale Ergebnis der vorliegenden Arbeit machte es erforderlich, auf den Herkunftskontext der Aleviten und der Sunniten in der Türkei ausführlicher einzugehen. Es war mir beispielsweise an einigen Stellen nicht möglich, die Biographien von Frauengenerationen bzw. die Familiengeschichten zu rekonstruieren, ohne dass ich mich detailliert mit dem gesamtgesellschaftlichen Kontext der Türkei auseinandersetzte oder ohne dass ich unterschiedliche Generationsangehörige interviewte. Indem ich die Genese der Bildung von Mehrheits- und Minderheitskulturen darstelle, möchte ich verdeutlichen, wie sich die Machtbalancen in der Herkunftsgesellschaft als ‚soziale Vererbung‘ (Elias und Scotson 1993) kontinuierlich bis in die Gegenwart aufrechterhalten und sich in den Biographien von Frauen widerspiegeln. Um dem Verhältnis zwischen Mehrheit und Minderheit gerecht zu werden, reflektiere ich dies in der vorliegenden Arbeit als Figuration im Sinne Norbert Elias. Damit sind gesellschaftsspezifische Interdependenzgeflechte von Menschen mit mehr oder weniger labilen Machtbalancen verschiedenster Art gemeint (Elias 1986: 12). Beim Elias’schen Figurationsbegriff wird eine Trennung zwischen Individuum und Gesellschaft vermieden. Stattdessen werden Netzwerke von Gebundenheiten bzw. Abhängigkeiten zwischen beispielsweise Familien, Schulen, Städten, Sozialschichten oder Staaten hervorgehoben, die einem Wandlungsprozess unterliegen, da sie von Menschen gemacht werden. Zum besseren Verständnis der Ergebnisse dieser Studie wird daher bereits bei der Darstellung der Hintergrundinformationen mit dem Eliasschen Begriff von Figuration operiert.
1.2 Forschungen zur Mutter-Tochter-Beziehung in der Türkei 1.2 Forschungen zur Mutter-Tochter-Beziehung in der Türkei In der Türkei wurde bisher der Erforschung der Mutter-Tochter-Beziehung wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Das Thema wurde vorwiegend in frauen-
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1 Einleitung
zentrierten Arbeiten, jedoch meist nur am Rande, erwähnt. Anders als in Deutschland, wo durch die Etablierung der Frauenbewegung seit den siebziger Jahren die Bedeutung der Mutter für die Sozialisation der Tochter innerhalb der Frauenforschung immer wichtiger wurde, erhält dieses Thema in der Türkei erst seit den 1990er Jahren eine explizite Aufmerksamkeit. Die Untersuchungen in der Türkei erwähnen regionale Unterschiede, während alevitische und sunnitische Unterschiede meist ignoriert werden (Delaney 1991). Bei der Thematisierung der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern in ländlichen oder kleinstädtischen Gebieten wird die emotionale Nähe und Solidarität zwischen den beiden Frauengenerationen hervorgehoben (Kray 1985, Delaney 1991). Im sozialen Leben der Großstädte tauchen Begriffe wie „Konflikte in der Beziehung“ und „die Dichotomie der Modernität und Traditionalität“ (Kandiyoti 1979, Önk 2000, Oktay 1999, Bora 2001) auf. Vielen Arbeiten ist die Aussage gemeinsam, dass die Mütter eine vermittelnde und ausgleichende Rolle in der Familieninteraktion übernehmen (Oktay 1999, Kandiyoti 1979, Kray 1985, Delaney 1991, Mhçyazgan 1986). Die Rolle der Mutter als Vermittlerin würde Kray (1985) zufolge immer bedeutender und schwieriger, „da die Mädchen der heutigen Zeit auch mehr von ihr verlangen.“ (Kray 1985: 308). Aus islamischer Sicht wird die Frau in ihrer Rolle als Mutter idealisiert, da sie zusätzlich die Vermittlungsrolle zwischen Religion und Kultur innehabe, wonach sie Tunç (1998: 59) zufolge bereits vor der Geburt das kollektive Gedächtnis und das kulturelle Erbe an das Kind weitergebe. Für die Mutter hat das weibliche soziale Netzwerk (Herwartz-Emden 1995: 69), das als institutionalisierter Bestandteil gesellschaftlicher Verhältnisse unabhängig von Schichten und Regionen für die Frauen einen unterstützenden Raum bietet, eine sehr bedeutende Rolle. Mhçyazgan (1986: 282) spricht in diesem Zusammenhang von Ersatz-Müttern, d.h. von Frauen aus verwandtschaftlichen oder nachbarschaftlichen sozialen Netzwerken, die für einen begrenzten Zeitraum die biologische Mutter in ihrer (mütterlichen) Rolle entlasten. Die Perspektive der heranwachsenden Mädchen auf ihre Mütter sowie die Mutter-Tochter-Beziehung werden in den neueren Studien expliziert. In diesen Forschungen wird der rapide soziale Wandel in der türkischen Gesellschaft (Modernitäts- und Traditionalitätsparadigma), der den Unterschied zwischen den Generationen noch verstärkt, hervorgehoben. Die Ergebnisse von Önk (2000: 156) zeigen beispielsweise, dass die Heranwachsenden ihre Mütter als traditionell, wenig selbstbewusst, dennoch als weise Frauen bezeichnen. Die Untersuchung von Oktay (1999), in der die Autorin nach den Wertvorstellungen der Mütter und Töchter in vier verschiedenen Schulen in Istanbul fragt, die unterschiedliche gesellschaftliche, soziale und ökonomische Schichten repräsentieren (Berufsschule, Religionsschule, Privatschule und Mädchen-
1.3 Türkische Mutter-Tochter-Beziehung in der dt. Migrationsforschung
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schule), zeigen unterschiedliche Ergebnisse. Hervorgehoben werden in der Studie die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Töchtern und Müttern in Themenbereichen wie Berufswahl, Bekleidung, Teilnahme an den politischen Aktivitäten sowie den Freizeitaktivitäten der Töchter, die sich laut der Autorin augenscheinlich seit den siebziger Jahren nicht geändert haben. Die Schichtzugehörigkeit der Familie beeinflusse die beruflichen oder religiösen Erwartungen der Mütter an die Töchter. D.h., je höher der sozio-ökonomische Status ist, desto weniger wird von den Töchtern gewünscht, dass sie Medizin – ein gesellschaftlich hochgeschätzter Beruf – studieren oder sich an der Religion orientieren sollen. Je höher jedoch der Wohlstand, umso mehr Zeit nehmen sich die Mütter und Töchter für gemeinsame Freizeitaktivitäten. Bezüglich der Wertvorstellungen einer Frau würden die Mütter und Töchter unterschiedliche Präferenzen haben. Während bei den Töchtern das Selbstvertrauen an erster Stelle stehe, gefolgt von der Anbindung an die Familie sowie Entschlossenheit und Objektivität, stehe bei den Müttern die Anbindung an die Familie an erster Stelle, danach folgen Selbstvertrauen, Fleiß, Fürsorglichkeit und Entschlossenheit. Ein weiterer Unterschied zeige sich im Zusammenhang mit der Frage nach der primären Bezugsperson in der Familie. Hier bezeichnen die Töchter, der Autorin zufolge, ihre Mütter als wichtigste Bezugsperson in der Familie, während die Mütter an erster Stelle ihren Partner als Bezugsperson nennen. Die Untersuchungen von Delaney (1991) – in einer Dorfgemeinschaft – und Kray (1985) – in einer Kleinstadt – zeigen andere Bindungserfahrungen zwischen Töchtern und Müttern auf. Die beiden Autorinnen kommen zu dem Schluss, dass die Beziehungen zwischen Töchtern und Müttern auf der Tatsache beruhe, dass die Tochter durch eine Eheschließung im Erwachsenenalter die Familie verlassen würde. Diese Kenntnis hindere zwar die Mütter und Töchter nicht daran, eine nahe und intime Beziehung zueinander zu bilden, dennoch würden die Mädchen früh lernen, diesen Gedanken zu akzeptieren. Anders ausgedrückt, stehe demnach die ‚Trennung‘ von der Familie und der Mutter im Zentrum der Beziehung. Im letzten Kapitel gehe ich auf die Frage der Bindung zwischen Müttern und Töchtern im Zusammenhang mit den Ergebnissen meiner Studie noch einmal ein.
1.3 Türkische Mutter-Tochter-Beziehung in der deutschen Migrationsforschung 1.3 Türkische Mutter-Tochter-Beziehung in der dt. Migrationsforschung Im Kontext der deutschen Migrationsforschung wurde das Thema der MutterTochter-Beziehung im Hinblick auf Frauen mit türkischem Hintergrund ebenfalls vernachlässigt. Die wenigen Arbeiten zu diesem Thema sind auf Probleme
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1 Einleitung
fokussiert und betonen besonders migrationsbedingte Konflikte, Belastungen, Defizite in der Problemlösung und mangelnde Ablösung in dieser Beziehung (Kürat-Ahlers 1986, Rosen 1993). So kommt beispielsweise Rita Rosen (1993) in ihrer vergleichenden Studie über Mutter-Tochter-Beziehungen bei deutschen und türkischen Frauen zu dem Ergebnis, dass diese Beziehung bei türkischen Müttern und Töchtern in der Migration viel problematischer als bei Deutschen sei. Die Autorin geht in ihrer Studie von einem homogenen Bild von in der Türkei sozialisierten türkischen Müttern aus, die „ausschließlich im privaten Bereich tätig“ seien (Rosen 1993: 49). Diese seien in der Migration verzweifelt, würden in der Isolation leben und ständen stets in Konflikt mit der deutschen Gesellschaft. Auch seien irgendwann die jungen türkischen Frauen von der Angst vor der Isolation in der Fremde betroffen. Dies führe dazu, dass „sie früh und intensiv danach streben, zu heiraten, in einer Familie zu leben, Kinder zu bekommen“ (ebd. 98). Die türkischen Mütter binden, laut der Autorin, ihre Töchter in der Migration mit Gewalt ans Haus, damit sie mit ihrer Verzweiflung nicht allein bleiben. Die Peergroup und die (Schul)Bildung zerstören diese Bindung. Somit impliziert die Autorin, dass die türkische Mutter versucht, ihre Töchter von den Bildungsmöglichkeiten und von einer Peergroup fernzuhalten, damit sie sie, „wenn möglich für immer“ (ebd. 71), an sich bindet. Zudem geht die Autorin, ähnlich wie Kürat-Ahlers (1986), auch bei türkischen Töchtern von einer homogenen Gruppe aus. Die jungen Frauen entwickelten kein kohärentes, einheitliches „Ich“, das als Ergebnis einer positiven Synthese der beiden Kulturen angesehen werden könne, „sondern ein gespaltenes“ (Rosen 1993: 68). Beide Autorinnen skizzieren das folgende Bild von einem ‚türkischen Mädchen‘: Es sei den Anforderungen von Krisensituationen nicht gewachsen, könne diese nicht bewältigen, sei unfähig, eine Entscheidung zu treffen, stattdessen würde es „zusammenbrechen oder flüchten“ (Rosen 1993: 68). Sie sind der Überzeugung, dass die Beispiele aus der Sozialarbeit ihre allgemeinen Ergebnisse bestätigen würden. Während Rosen (1993) die türkischen Mütter in der Migration als ohnmächtig darstellt, zeigt die ebenfalls vergleichende Studie von Herwartz-Emden (1995) über das Mutterschaftskonzept bei Müttern aus der Türkei, der ehemaligen Sowjetunion und Deutschland andere Ergebnisse: „Einwanderin und Migrantin zeigen sich als Mütter keineswegs ausgeliefert und ohnmächtig (wie es in einem Teil der erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Literatur lautet) – wenn sie sich in ständiger Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem westlichen Mutterbild befinden –, sondern als Personen, die den von ihnen geforderten Fähigkeiten und den Notwendigkeiten des erzieherischen Alltages bewusst gegenübertreten und diese aktiv gestalten.“ (Herwartz-Emden 1995: 284).
1.4 Fragestellungen der Untersuchung
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Die Autorin stellt ferner fest, dass die Mutterrolle in der Migration durch eine Erziehungsdimension erweitert würde, welche auch für sie neu sei. Die Frau als umsorgende und beschützende Erzieherin würde in ihrem Schutzverhalten zur „Bewahrerin von Tradition und Ethnizität“ (Herwartz-Emden 1995: 73). Die Studien von Berrin Özlem Otyakmaz (1995) und Sigrid Nökel (2002) über die Lebensverhältnisse junger Migrantinnen zweiter Generation zeigen auf, wie stark die Töchter von der deutschen Mehrheitsgesellschaft geprägt sind, wenn sie über ihre Mütter sprechen. Otyakmaz (1995) kommt zu dem Ergebnis, dass die Töchter sich insgesamt viel emanzipierter betrachten als ihre Mütter. Nökel stellt (2002: 211) fest, das das Bild der traditionellen Mütter, welches die islamischen Töchter in ihren biographischen Erzählungen entwerfen, ein kulturalistisches sei, dass aus den Bewertungsschemata moderner multikultureller Klassengesellschaften und ihrer Bearbeitung von Partikularismen abgeleitet sei. Ich gehe in dem Kapitel sechs auf dieses Thema am Beispiel der Ergebnisse der vorliegenden Arbeit erneut ein.
1.4 Fragestellungen der Untersuchung 1.4 Fragestellungen der Untersuchung Welche Bedeutung hat die Mutter-Tochter-Beziehung für die Lebensgeschichte junger Frauen und Mädchen? Dieser forschungsleitenden Frage gehe ich am Beispiel der praktizierenden Alevitinnen und Sunnitinnen aus der Türkei nach. Die für die Forschung relevanten Mütter wurden in der Türkei geboren, verbrachten dort ihre Kindheit und haben dadurch ihre Erfahrungen als Töchter mit ihren eigenen Müttern in der Türkei gemacht. Ihre Töchter wurden in Deutschland geboren und befinden sich in der Adoleszenzphase. Beide haben Verbindungen zu einer alevitischen oder sunnitischen Gemeinde und/oder Organisation.6 Bei weiteren Fragestellungen dieser Arbeit werden die Frauen in ihrer Position als Migrantinnen in der deutschen Gesellschaft und in ihrer Rolle als Mütter gesehen. Die jungen Frauen werden als adoleszent und in ihrer Beziehung zu ihren Müttern betrachtetet. Die folgenden Fragen entwickelten sich zum Teil während des Forschungsprozesses (siehe dazu besonders Kapitel 4) und sind damit bereits Ergebnisse der empirischen Analyse. An die Mütter stellte sich die Frage, welche Veränderungen sie durch die Beteiligung an der hiesigen Gesellschaft in ihren persönlichen Einstellungen erleb(t)en und wie sie ihre gewohnte Lebensform 6
Keine der Frauen aus dem Sample der vorliegenden Untersuchung besuchten Gemeindeorganisationen, die einer fundamentalistischen und damit nach der Definition der deutschen Öffentlichkeit einer gewaltbereiten Strömung angehören. Die Aussagen der Studie sind demzufolge auf fundamentalistische Gruppierungen nicht zu übertragen.
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1 Einleitung
unter den neuen gesellschaftlichen Bedingungen führen. Damit wird die Bedeutung der alevitischen oder sunnitischen Zugehörigkeit relevant. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, welche Erfahrungen sie durch ihre Gruppenzugehörigkeit in der Türkei mach(t)en und welchen Einfluss diese auf ihren Umgang mit ihrer neuen Position in der Migration hat(te). Die Mütter stehen in Verbindung zu ihren jeweiligen Gemeinden. Hierbei interessierte mich, wie sie die Kontakte mit den Gemeindeorganisationen aufgenommen haben und welche Erlebnisse damit verbunden sind. Ausgehend von der Annahme, dass die Bewahrung der Tradition eine der gesellschaftlichen Aufgaben der Mütter ist und sie für deren Vermittlung an die nächste Generation zuständig sind, frage ich außerdem: Welche Umgangsformen entwickeln die Mütter, um als Vermittlerin und Erziehungsperson von ihren Töchtern anerkannt zu werden? Inwieweit können sie Vorbilder sein und Orientierungen für ihre hier in Deutschland heranwachsenden Töchter anbieten? Mein Interesse galt ebenfalls ihren gegenseitigen Zuschreibungen als alevitische oder sunnitische Frauen und Mädchen sowie ihrem Einfluss auf die eigene Selbstdefinition. Die Töchter leben im Gegensatz zu ihren Müttern in einer Gesellschaft, in die sie nicht selbst migriert sind. Aufgrund dessen haben sie andere Orientierungsmöglichkeiten. Hierbei stellt sich die Frage, in welcher Weise sich das Leben der Töchter vom Leben ihrer Mütter unterscheidet. Mit welchen Erwartungen der Mütter sind die Töchter konfrontiert und wie gehen sie damit um? Damit verbunden ist auch, ob und welche Konflikte sich zwischen Müttern und Töchtern zeigen. Davon ausgehend, dass Mütter und Töchter unterschiedliche Startbedingungen in der deutschen Gesellschaft hatten und haben, stellt sich folgende Frage: Welchen Einfluss haben soziale Wandlungen auf die gemeinsamen Erfahrungen und Interessen und somit auf die Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern? In welchen Bereichen haben die Mütter eine vorbildliche Rolle oder bieten den Töchtern Orientierungen an? Die Frage nach der Zugehörigkeit stellt sich für die Töchter in unterschiedlichen Zusammenhängen. In Bezug auf ihre Positionierung innerhalb der Migranten aus der Türkei ist zu erläutern, welche Bedeutung für sie die Zugehörigkeit zur Gruppe der Aleviten oder Sunniten hat. Wie gehen sie mit den in der Türkei gemachten Erfahrungen ihrer Mütter um und welche Rolle spielen die alevitischen oder sunnitischen Gemeinden dabei? Die Schule ist für die Töchter ein Ort, an dem die Frage nach Zugehörigkeit gerade im Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft eine besondere Relevanz hat. Wie gehen sie in der Schule mit ihrem Status als Teil der nicht-deutschen Minderheit um? Wie gehen sie mit dem „Zuhause“ (durch die Mutter) und den in der „hiesigen Gesellschaft“ (durch die Schule) erworbenen Lebenseinstellungen um? Welche Rolle spielt bei dieser Auseinandersetzung das Zugehörigkeitsgefühl zur Peergroup, zur Schule und zu der eigenen
1.5 Aufbau der Arbeit
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religiösen Gemeinde? Abschließend ist zu klären, inwieweit diese Netzwerke einen Einfluss auf ihre Positionierung in der deutschen Gesellschaft ausüben.
1.5 Aufbau der Arbeit 1.5 Aufbau der Arbeit Im nachfolgenden zweiten Kapitel gehe ich zunächst detaillierter auf den Herkunftskontext (der Mütter) ein. Hier wird zuerst die Genese des staatlich und gesellschaftlich diskursbestimmenden sunnitischen Islam in der Türkei dargestellt. Diesen Teil über das türkische Sunnitentum schließe ich mit einer Darstellung der Stellung der Frau im sunnitisch-islamischen Verständnis und im rechtlichen und gesellschaftlichen Kontext ab. Hierbei liegt das Interesse nicht zuletzt darin, die Ausblendung von Frauen mit alevitischem Hintergrund in der Forschung der Herkunftsgesellschaft aufzuzeigen. Anschließend behandle ich das Thema Alevitentum. Hierbei werden sowohl die religiöse als auch gesellschaftliche Selbst- und Fremdwahrnehmung der alevitischen Glaubensgemeinschaft und deren Organisation thematisiert. Darauf folgend gehe ich auf die Stellung der alevitischen Frau im religiösen und im sozialen Leben ein. Die Marginalisierung der Aleviten sowie die Gewalt gegen diese und deren Auswirkungen auf die kollektive Geschichte als soziale Vererbung bilden den letzten Abschnitt dieses Kapitels. Im dritten Kapitel stehen die Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland im Vordergrund. Hierbei werden die Migrationsbedingungen der ersten Frauengeneration, die Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlichen und diskursiven Ebenen und deren Einfluss auf die Etablierung der Bilder über die Migrantinnen und deren heranwachsenden Töchtern dargelegt sowie die Genese und die Institutionalisierung des sunnitischen Islam und der alevitischen Glaubensgemeinschaft seit Beginn der Arbeitsmigration bis zur Gegenwart skizziert. Das vierte Kapitel behandelt das methodische Vorgehen sowie das Forschungsdesign dieser Studie. Zuerst wird aufgrund der Besonderheit der Arbeit explizit auf die migrationsbiographische Forschung eingegangen. Daran anschließend wird die Anwendung der Methode vorgestellt. Hierbei nehmen meine eigenen Reflektionen während des Forschungszugangs und der Kontaktaufnahme mit den Müttern und Töchtern einen besonderen Platz ein. Meine anfängliche Erfahrung in der (Feld)Forschung prägte den Verlauf der Studie und führte zur Weiterentwicklung der Fragestellungen. Sie machte mir persönlich deutlich, dass die Interaktion zwischen den Forschenden und Beforschten richtungsweisende Funktion haben kann. Anschließend werden die methodischen Schritte der narrativ-biographischen Interviewführung, die Auswertungsmethode und die biographische Fallrekonstruktion vorgestellt.
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1 Einleitung
Den umfangreichsten Abschnitt der vorliegenden Arbeit bilden die biographischen Fallrekonstruktionen, die im Kapitel fünf dargestellt werden. Als Fall bezeichne ich in meiner Studie sowohl die Einzelbiographien von Müttern und Töchtern als auch die Mutter-Tochter-Paare selbst. Die Fallrekonstruktionen werden i.d.R. ergebnisorientiert dargestellt, lediglich an einigen Stellen werden die Analyseschritte für die LeserInnen sichtbar gemacht. Im sechsten Kapitel wird, aufgrund der oben eingeführten zentralen Ergebnisse der vorliegenden Studie, zuerst eine kurze theoretische Einführung über Bindung und Ablösung in der Adoleszenz vorgenommen. Auf der Grundlage der Resultate diskutiere ich eine spezifische Konstellation der Bindung zwischen Müttern und Töchtern, verschiedene Typen dieser Bindung und ihre jeweilige Entstehungsgeschichte. Anschließend werden übergreifende Ergebnisse der Fallanalysen mit Hilfe des von Elias und Scotson diskutierten Begriffs der „sozialen Vererbung“ unter Berücksichtigung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Lebenspraxis der alevitischen und sunnitischen Töchter vergleichend zusammengefasst. Im abschließenden Kapitel sieben werden die miteinander verflochtenen Aspekte der Untersuchung kondensiert aufgegriffen.
2 Sunniten und Aleviten in der Türkei 2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
2.1 Vorbemerkungen 2.1 Vorbemerkungen Der türkische Begriff Sünnilik („Sunnitentum“7; auch als „Sunnitum“ und „Sunnismus“ übersetzbar) ist abgeleitet vom arabischen Wort Sunna, das die Sammlungen der Traditionen des Propheten Mohammed und seine schriftlich überlieferten Worte und Taten im Koran, im heiligen Buch des Islam, bezeichnet. Unter einem Sünni („Sunnit“, „Sunnitin“, „Sunniten“, „sunnitisch“) (pl. Sünniler) wird in diesem Zusammenhang in der sunnitischen Religionsgemeinschaft eine Person verstanden, die nach der Lehre Mohammeds lebt und handelt. Das im Sunnitentum vorherrschende Glaubensverständnis ist an feste Prinzipien gebunden. Nach ihm werden die vom Propheten aufgestellten Regeln als unveränderlich, unumstößlich und nicht diskutierbar betrachtet. Die Religionsgemeinschaft der Sunniten wird in der Literatur häufig als orthodoxer Islam bezeichnet. Die Sunniten in der Türkei gehören zur islamischen Rechtschule „Hanafi8“ (hanefi). Auf das türkische Sunnitentum gehe ich in dem Unterkapitel 2.2 detaillierter ein. Der türkische Begriff Alevilik („Alevitentum“; auch als „Alevitum“ und „Alevismus“ übersetzbar) bezeichnet eine Glaubensgemeinschaft, deren Angehörige hauptsächlich in der Türkei leben.9 Das Wort Alevitentum wird aus der religiösen Perspektive von Ali, dem Cousin und Schwiegersohn des Propheten Mohammed, abgeleitet, und es symbolisiert die wichtigste Glaubensspaltung im Islam nach dem Tod des Propheten Mohammed, die auf einen Nachfolgestreit im Kalifat zurückgeht. Im engeren Sinne bezeichnet das türkische Wort Alevi (pl. 7
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In der vorliegenden Arbeit werden die türkischen Begriffe „kursiv“ geschrieben. Es werden jedoch i.d.R. für diese und weitere türkische Begriffe die geläufigen deutschen Übersetzungen verwendet, wenn es solche gibt. Ausgeschlossen sind von dieser Regelung die Interviewzitate. Für die Transkriptionsregeln bei den Interviewzitaten siehe Kapitel 4 und den Anhang. Im sunnitischen Islam gibt es hauptsächlich vier Rechtsschulen (die hanafitische, malikitische, schafiitische und die hanbalitische), die jeweils in unterschiedlichen islamischen Ländern vorherrschend sind. Eine geringere Zahl der Aleviten in Albanien, Bulgarien, Griechenland, im Irak, Iran, in Aserbaidschan, Rumänien und Syrien und haben entsprechend dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext unterschiedliche Fremd- und Selbstzuschreibungen sowie religiöse Praxen. Siehe dazu auch Çamurolu (1997) und Kehl-Bodrogi (2002).
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
Aleviler) („Alevit“, „Alevitin“, „Aleviten“, „alevitisch“) die Aliden, d.h. die leiblichen Nachkommen Alis, im weiteren Sinne bedeutet es „Anhänger Alis“. Historisch tauchen die Anhänger von Ali in der Entwicklung des Islam zum ersten Mal im Zuge der Auseinandersetzungen über die Nachfolge des Propheten Mohammed im Kalifat als dem Oberhaupt der islamischen Gemeinde auf. Es entwickelten sich in der folgenden Zeit zwei unterschiedliche Formen der Anhänger Alis: der persische Zweig der Schiiten, der Parteigänger Alis („Schia“), und das türkische Alevitentum in Anatolien (Eyübolu 1993, KehlBodrogi 2002). Das anatolische Alevitentum10 war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch unter dem Namen „Kzlba“ (türkisch: „Rotkopf“) bekannt und bildete historisch eine von den orthodoxen Muslimen bzw. Sunniten als häretisch betrachtete Gruppierung. Mit anderen Worten, Kzlba ist die historische Bezeichnung der alevitischen Glaubensgemeinschaft (Kehl-Bodrogi 1988a, 2002, Mélikoff 1998, Ocak 1999). Folgt man Ahmet Yasar Ocaks (1999: 385398) Darstellung, wäre das Alevitentum (Kzlbalk) nicht wie die anderen islamischen Religionsgemeinschaften (Mezhep) aus theologischen Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen entstanden, sondern als ein Ergebnis von sozioökonomischen und politischen Bedingungen. Das Alevitentum bzw. Kzlbalk sei Ocak zufolge mit seiner heutigen Bedeutung in der Geschichte des Osmanischen Reiches und der Türkei erst ab Ende des 15. bzw. Anfang des 16. Jahrhunderts anzutreffen; man könne daher erst ab dieser Zeit von der Realität einer alevitischen (Religions-) Gemeinschaft sprechen. Bei der Thematisierung des Verhältnisses zwischen Sunniten und Aleviten in der Türkei geht es nicht (nur) um einen abstrakten Vergleich zweier Glaubensgemeinschaften. Es geht hier vielmehr um einen gesellschaftspolitischen Machtunterschied innerhalb der Gesellschaft der (heutigen) Türkei, bei dem eine kleinere Glaubensgemeinschaft – die Aleviten – einer Staatsgewalt gegenübersteht, die von der sunnitisch-türkischen Mehrheit kontrolliert wird und von deren Perspektiven, Interessen und Bewertungsmaßstäben geprägt ist. Da die Aleviten eine soziale und religiöse Minderheit in der Türkei sind und dort immer wieder diskriminiert und verfolgt wurden, soll zunächst der Begriff der Minderheit für die vorliegende Arbeit definiert werden. In diesem Zusammenhang möchte ich mich von den in der Türkei geführten Auseinandersetzungen distanzieren, die darüber geführt werden, ob Aleviten im politisch-historischen Kontext der Türkei eine Minderheit bilden, der als solche eine offizielle oder formelle 10
„Alevi“ steht ferner als ein Hauptnenner für verschiedene Gruppen, wie bspw. Tahtac, Çepni und Türkmen, Abdal, Avar, Kzlba, Bektai (Kehl-Bodrogi 1988a, Sezgin 1991, Vorhoff 1995). Auch wenn zum Teil das Bektailik („Bektaschitentum“) als eine mystische Richtung in Unterscheidung zum Alevitentum gesondert thematisiert wird, führt es im Rahmen der vorliegenden Arbeit zu weit, die Bektai („Bektaschiten“) als eigene Gruppe vorzustellen.
2.1 Vorbemerkungen
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Anerkennung zustehe11. Meine Definition von Aleviten als Minderheit beruht auf soziologischen Überlegungen. Demzufolge beruht der Minderheitenstatus einer Gruppe weder auf ihrer Zahl noch auf ihrer offiziellen Anerkennung in der Gesamtgesellschaft. Ich bestimme den Status der Minderheit über die Beteiligung einer Gruppe an gesellschaftlichen Machtquellen, an sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen, an Entscheidungsprozessen und an der Kontrolle der öffentlichen Diskurse innerhalb der Gesellschaft. Definieren wir Minderheits- und Mehrheitsgruppen nach ihren „Machtverhältnissen“, sind wir gezwungen, die für ihre Existenz notwendigen wechselseitigen Abhängigkeitsbeziehungen in den Blick zu nehmen. Für solche Beziehungsverflechtungen, die ein Machtgefüge zwischen Menschen konstituiert, benutzt Norbert Elias (1986, 1993) den Begriff Figuration. Mit dem von Elias verwendeten Begriff der Figuration „lenkt man die Aufmerksamkeit auf die Interdependenzen der Menschen“ (Elias 1986: 144). Anders ausgedrückt sind die Interdependenzen von Menschen oder Menschengruppen die Voraussetzung dafür, dass sie eine spezifische Figuration miteinander bilden. Hervorzuheben sind zwei Aspekte an dem Eliasschen Begriff der Figuration: dass er erstens die Beziehungsverflechtung als einen Prozess, als ein sich wandelndes Muster (1986: 142) von Beziehungen betrachtet. Das bedeutet: Durch die Organisation und Integration von Menschen entstehen ständig neue Strukturen. Dabei können Figurationen auch Spannungsgefüge bilden. Die Interdependenz der Menschen kann daher sowohl aus einer Beziehung als Verbündete („Wir“) wie auch als Gegner („Wir“ und „Sie“) bestehen. „Im Zentrum der wechselnden Figurationen oder, anders ausgedrückt, des Figurationsprozesses steht ein fluktuierendes Spannungsgleichgewicht, das Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der einen, bald mehr der anderen Seite zuneigt. Fluktuierende Machtbalancen dieser Art gehören zu den Struktureigentümlichkeiten jedes Figurationsstromes.“ (Elias 1986: 143)
Zweitens macht Elias in seinem Begriff von Figuration darauf aufmerksam, dass die sozialen Systeme nicht nur aus Handlungen, sondern auch aus Menschen bestehen, die miteinander in wechselseitigen Abhängigkeiten verbunden sind. Dies heißt, der Begriff der Figuration ist ein anderer Ausdruck für Verflechtungen zwischen Menschen. Es ist die starke Betonung von Verflechtungen zwischen Menschen beim Eliasschen Begriff von Figuration, weshalb ich ihn in 11
Dies wurde vor allem im Oktober und November 2004 im Zusammenhang mit dem Bericht zur EU-Beitrittskandidatur der Türkei in den türkischen Medien stark thematisiert (siehe dazu beispielsweise die türkische Zeitung Hürriyet, Onlineausgaben vom 8.10.2004, 11.10.2004, 02.11.2004, 05.11.2004).
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
der vorliegenden Arbeit benutze. Die gegenwärtige Situation der Aleviten in der Türkei ist – wie im Folgenden gezeigt wird – in diesem Sinne als eine Figuration zwischen der im türkischen Staatssystem etablierten orthodox-sunnitischen Glaubensgemeinschaft und den zu Außenseitern gewordenen Aleviten zu sehen. Dies ist ein sich langfristig reproduzierender, stets wieder beginnender, wechselseitiger Prozess. Das Thema des Alevitentums wird in der Türkei seit mehr als zwanzig Jahren heftig diskutiert. Der Militärputsch im Jahr 1980 wurde ebenso wie für die türkische Geschichte, so auch speziell für die alevitische Geschichte zu einem sozialen und politischen Wendepunkt. Das jahrhundertelang geheim gehaltene Alevitentum wurde in der darauf folgenden Zeit zu einem öffentlich diskutierten Thema in der Türkei. Diese Phase wird mittlerweile als die Phase der „Wiederentdeckung“ des Alevitentums bezeichnet (Çamurolu 1997).
2.2 Das türkische Sunnitentum 2.2 Das türkische Sunnitentum Der sunnitische Islam12 in der heutigen Türkei wurde ab Ende des 13. Jahrhunderts durch das Osmanische Reich als Regierungs- und Rechtssystem (Scharia) etabliert, als Einheit von Staat und Religion, wie sie dem Verständnis des Islam entspricht (vgl. Prätor 1985: 3, Khoury 1988: 19f., Aydn 1994). Die Hierarchie unter den Glaubensgemeinschaften wurde nach dem Prinzip des Millet organisiert, das sowohl für Nationen als auch für ethnische Gruppen sowie Glaubensgemeinschaften galt. Mit der dritten Bedeutung von Millet, nämlich Glaubensgemeinschaft, waren ursprünglich die nichtmuslimischen Gruppen (Juden und Christen) gemeint. Sie standen als Minderheitsgruppen unter dem Schutz des Osmanischen Reiches, solange sie ihre Steuern zahlten und dem Reich gehorchten. Da in ihr jedoch außer der orthodoxen islamischen Gemeinschaft (der Ümmet als Gesamtgemeinde der Muslime) keine andere islamische Gruppe als Millet anerkannt wurde, waren die Aleviten nicht als eine Glaubensgemeinschaft respektiert und hatten daher keine Rechte als konfessionelle Minderheit. Die Aleviten blieben als Folge ihrer Nichtanerkennung und Unterdrückung durch osmanische Herrscher eine geschlossene und isolierte Glaubensgemeinschaft.
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Wenn anders nicht vermerkt, wurde dieses Unterkapitel über das Sunnitentum hauptsächlich in Anlehnung an die folgenden Werke verfasst: Toprak (1985a), Tunçay (1985), Bruinessen (1985, 2002), Prätor (1985), Khoury (1988), Aydn (1994), Radtke (1996), Spuler-Stegemann (1996), Busse (1996), Mardin (1998).
2.2 Das türkische Sunnitentum
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2.2.1 Der orthodox-sunnitische Islam nach der Begründung der türkischen Republik Die Veränderungen in der Ausprägung des sunnitischen Islam in der Türkei im 20. Jahrhundert lässt sich in drei Phasen einteilen: die Phase (1920-1950) der Etablierung institutioneller Struktur der säkularen türkischen Republik, die Phase (1950-1980) der verstärkten Islamisierung und des türkischen Nationalismus durch das Mehrparteiensystem und die Phase der Re-Islamisierung seit den 1980er Jahren. In diesen Phasen wurden drei staatliche Organisationen gegründet bzw. neu organisiert, die den offiziellen Islam fördern: das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet leri Bakanl – „DIB“), das Bildungsministerium (Milli Eitim Bakanl – „MEB“) und die Direktion für das Stiftungswesen (Vakflar Genel Müdürlüü – „VGM“). Die offizielle Organisation des orthodoxen Islam in der heutigen Türkei gründet auf der Verfassung von 1982. Die erste Phase (1920-1950) war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der die desaströse Niederlage des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg dazu führte, die Hauptschuld an allen Niederlagen im Islam als einer hoffnungslos rückständigen Religion zu suchen. Mit der Etablierung der Republik unter der Führung von Mustafa Kemal im Jahre 1923 wurden „gegen den Willen der Mehrheit der [sunnitischen A.K.] Bevölkerung“ (Tunçay 1985: 82) religiöse Aktivitäten eingeschränkt. Die Regierung der neuen Republik operierte mit dem Prinzip des „Populismus“ (Halkçlk), nach dem das Konzept des (türkischen) „Volkes“ zunehmend mit dem der (türkischen) „Nation“ im Sinne eines Nationalstaats gleichgesetzt wurde. Somit setzte die kemalistische Republik den türkischen Nationalismus an die Stelle, die vorher die sunnitische Religion als identitätsstiftende Ideologie innehatte. Als vordringliches Ziel wurde formuliert, den neuen Nationalstaat Türkei als eine säkulare Republik nach europäischem Muster aufzubauen. Diesem Ziel folgend wurden 1924 u.a. die im Osmanischen Reich bedeutenden religiösen Bildungszentren (Medrese) sowie alle anderen Religionsschulen geschlossen. Es folgten die Reformen zur Vereinheitlichung des Bildungs- und Justizwesens. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet leri Reislii) war von nun an für die Überwachung religiöser Literatur und die Verwaltung der geistlichen Ämter zuständig. Im Jahre 1925 folgten die kemalistischen Reformen mit der Schließung der Konvente (tekke) und Mausoleen (türbe) der mächtigen Derwischorden (tarikat). Obwohl gerade auch die Aleviten von der Schließung der Konvente direkt betroffen waren, zeigten sie kaum Widerstand gegen diese Reformen Mustafa Kemals, sondern zeigten eher eine passive Unterstützung. Denn von der Trennung zwischen Religion und Staat erhofften sich viele Aleviten, die seit Jahrhunderten unter dem sunnitisch
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
orientierten osmanischen Staat litten, gesellschaftliche Anerkennung und eine rechtliche Gleichstellung mit der sunnitischen Hauptrichtung des Islam (Laçiner 1985: 239). Nach der Streichung des Satzes „Die Religion des türkischen Staates ist der Islam“ aus der Verfassung im Jahr 1928 (vgl. Tunçay 1985) gab es ab 1929 an türkischen Schulen nur noch einen fakultativen Religionsunterricht, der 1935 völlig verboten wurde. Die meisten Geistlichen wurden pensioniert und viele der religiösen Schulen wegen Mangels an Nachfrage geschlossen. Das arabische Alphabet wurde 1928 durch das lateinische ersetzt. Dies erschwerte der neuen Generation sunnitischer Türken, ein historisches Bewusstsein auf der Basis islamischer Traditionen zu entwickeln. Durch die Beendigung der institutionalisierten Vorherrschaft des Islam – die die islamisch-osmanische Kultur symbolisierte – wurde eines der Hauptziele der kemalistischen Reformen erreicht, nämlich die Errichtung eines säkularen Staates mit ‚westlicher‘ Orientierung. Binnaz Toprak (1985a) vertritt die These, dass durch die kemalistische Variante des Laizismus die Religion nicht vom Staat getrennt, sondern ihm vielmehr untergeordnet wurde, indem die Institutionen des orthodoxen Islam in die staatliche Bürokratie eingebunden und die Geistlichen zu Staatsbediensteten gemacht wurden. Mete Tunçay (1985) zufolge könne die Verwirklichung des Laizismus in der Türkei kaum als eine selbstlos fortschrittliche Politik verstanden werden. „Auch ist es unmöglich, religiösen Protest als bloß reaktionär abzutun. Religion ist während der gesamten neueren Geschichte der Türkei eine Art des politischen Protests gewesen. Sie sollte (auch) so analysiert, interpretiert und bewertet werden.“ (Tunçay 1985: 84) Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von 1950 bis 1980 lässt sich als zweite Phase in der Entwicklung des sunnitischen Islam in der laizistischen Republik Türkei bezeichnen. Diese Phase ist durch die Einführung des Mehrparteiensystems13 ab 1946, durch die sunnitisch-islamische Renaissance, die Industrialisierung und die Binnenmigration ab Mitte der 1950er Jahre, durch zunehmende Konflikte um die regionale Verteilung der staatlichen Ressourcen und nicht zuletzt durch die dreimalige Übernahme der Staatführung durch das an den kemalistischen14 Reformen orientierte Militär (Militärputsch 1960, 1971 und 1980) gekennzeichnet. Als erste Maßnahme wurde im Jahr 1949 der Religionsunterricht als Wahlfach wieder eingeführt, und 1982 wurde er wieder zum Pflichtfach. Mit der 13
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Bis 1946 existierte – trotz einiger Versuche zur Gründung weiterer Parteien – nur die von Mustafa Kemal gegründete Republikanische Volkspartei (CHP) als einzige politische Partei über einen längeren Zeitraum. Dieses Attribut ist abgeleitet von der Strömung „Kemalismus“, die nach Mustafa Kemal benannt ist, dem Führer der türkischen Republikaner. Siehe dazu (Göle 1995: 73).
2.2 Das türkische Sunnitentum
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Begründung „99,2 % der Population der Türkei ist islamisch“ beschränkt sich die Religionsförderung auf den sunnitischen Islam, der somit faktisch wieder in die Rolle einer Staatsreligion hineingewachsen ist (Spuler-Stegemann 1996: 239). Im Jahre 1949 wurde eine theologische Fakultät an der Universität von Ankara errichtet. Nach der Regierungsübernahme durch die Demokratische Partei (DP) im Jahre 1950 begann die Welle der Gründung von mam-HatipOberschulen, d.h. Schulen zur Ausbildung des Moscheepersonals. Die 1960er Jahre waren durch die wirtschaftlichen und sozialen Fragen, insbesondere ökonomische Verteilungsfragen, gekennzeichnet (Sarbay 1985: 255). Durch die Zuwanderung aus den Dörfern in die Städte kamen, ebenso wie Aleviten, auch viele fromme Sunniten in eine Umgebung, in der sie die Werte des Islam als dauernd verletzt empfanden. Deren religiöse Identität gewann eine neue und größere Bedeutung, als ein großer Teil dieser Zugewanderten in das ökonomische und kulturelle Leben der Städte nicht mehr integriert werden konnte. Die Zahl der Moscheen erhöhte sich. Es entwickelte sich ein muslimisches Selbstbewusstsein in den Städten, so dass Religion als politischer Faktor die Grundthemen des Parteisystems bestimmte. Mit der Entwicklung des türkischen Kapitalismus entstanden in derselben Zeit auch eine starke Arbeiterbewegung und eine radikale Linke. Aus Furcht vor den atheistischen Strömungen der Arbeiterbewegung, die zudem vom kommunistischen Ausland und nicht zuletzt von der benachbarten Sowjetunion beeinflusst waren, gewann der Islam vor allem innerhalb der traditionellen Mittelschicht erneut an Bedeutung. Die Parteien15 griffen Ideologien auf, die darauf abzielten, den sunnitischen Islam in die türkische Gesellschaft einzubinden. Vor allem entwickelte sich in dieser Zeit die Idee einer Synthese zwischen Islam und Türkentum in den nationalistischen Kreisen. Die türkische Kultur wurde im Rahmen dieser Synthese als eine Zusammensetzung von nationalen Elementen und einem neu interpretierten sunnitischen Islam gesehen, der in seinem Charakter primär türkisch und nur bedingt arabisch geprägt sei. Gemäß dieser Synthese von Türkentum und Islam solle ein guter Türke auch ein guter sunnitischer Muslim und ein guter sunnitischer Muslim solle ein guter Türke sein. Diese Entwicklung förderte eine wachsende politische Polarisierung sowie eine zunehmende Gleichsetzung der sunnitischen Nationalisten mit Rechtsradikalen und der Aleviten mit linken Gruppierungen. Diese zunehmende Polarisierung von Spannungsachsen und Konfliktlinien in der türkischen Gesellschaft spielte vor allem bei den Pogromen gegen Aleviten Ende der 1970er Jahre eine entscheidende Rolle (siehe Kapitel 15
Zu diesen Parteien gehörte vor allem Milli Selamet Partisi (MSP), welche sich in den 1970er Jahren als Milli Görü (nationale Sicht) in Deutschland niedergelassen hat (Blaschke 1985: 325). Zu der Entwicklung und symbolischen Funktion dieser Partei für die türkische Politik siehe detailliert Sarbay (1985: 255-293). Vgl. auch Bruinessen (1985: 13-51).
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
2.3.3). Hinzu kam die nicht einheitliche, aber dennoch starke kurdische Bewegung, die ebenfalls zu einer politischen Polarisierung in der Gesellschaft beitrug. Die militärische Intervention 1980 zielte darauf ab, diese Polarisierungen und die dadurch entstandenen gesellschaftlichen Unruhen unter Kontrolle zu halten. Nach dem Militärputsch im Jahre 1980 lässt sich eine dritte Phase des sunnitischen Islam in der Türkei identifizieren, die auch als die Zeit der Suche nach einer Identität mit einer Neigung zur Re-Islamisierung bezeichnet werden kann. Vor allem stand die Politik der Regierung ab Mitte der 1980er Jahre stark unter dem Einfluss der Idee einer „Türkisch-Islamischen Synthese“ (Türk-slamSentezi). Viele sunnitisch-religiöse Gruppen wurden zum Zweck der Abwehr linker Gruppierungen durch den Staat unterstützt, welcher u.a. einen deutlichen Bruch mit der kemalistischen Tradition (Bruinessen 2002) symbolisierte. Die Staatspolitik ab 1983 unterstützte vor allem die Gründung von Stiftungen, die zur Verbreitung islamischer Werte beitrugen (Arat 1991: 94). Ferner entwickelte sich der Islam in der Türkei aufgrund einer weitgehenden Förderung durch den Staat zu einem höchst effizienten und intern ausdifferenzierten Staatsunternehmen (Spuler-Stegemann 1996). Geistliche AmtsträgerInnen des sunnitischen Islam in der Türkei sind Staatsbeamten oder Staatsangestellte. Die staatliche Förderung des sunnitischen Islam hat über die Jahrzehnte kontinuierlich zugenommen und so ein enges Bündnis zwischen türkischem Sunnitentum und Staat geknüpft, während anderen Religionsgemeinschaften die staatliche Anerkennung und Förderung vorenthalten blieb. Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet leri Bakanl – „DIB“) und seine Organe wurden sowohl innerhalb der Türkei als auch im Ausland verstärkt. Es wurden viele neue Moscheen gebaut, besonders in alevitischen Dörfern. Zudem wurden Imame bzw. Hodschas dorthin geschickt, um die Aleviten zu sunnitisieren. Erst seit den 1990er Jahren, nachdem die Aleviten anfingen, auf der staatlichen Anerkennung ihrer Existenz zu bestehen, beschwört das DIB die Einheit des Islam in dem Sinne, dass diese Einheit auch die Aleviten einschließe. Dabei spielen neben der Anerkennungspolitik der überwiegend in Europa organisierten alevitischen Organisationen auch die Politik der gegenwärtigen sunnitischreligiös orientierten konservativen Regierung (AKP) eine Rolle. Die AKP startete 2007 unter der Leitung eines alevitischen Ministers eine Politik der „Öffnung gegenüber den Aleviten“ (Alevi açlm). Nach einer Unterbrechung kommen seit 2009 erstmalig in der Geschichte der türkischen Republik Vertreter alevitischer Organisationen und des Staates zusammen, um über eine Anerkennung und Teilhabe der Aleviten an religiösen Institutionen des Staates zu verhandeln. Zu den aktuellen Themen gehören darüber hinaus die finanzielle Unterstützung für alevitische Gebetshäuser (cemevi) vom DIB und die Berück-
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sichtigung der alevitischen Glaubensrichtung im Religionsunterricht. Diese neue politische Öffnung löst nicht nur zwischen Aleviten und Sunniten, sondern auch unter alevitischen Organisationen in der Türkei und in Europa in ihren Debatten zur „Nähe bzw. Distanz zum Islam“ Kontroversen aus.
2.2.2 Die Stellung der Frau in der sunnitisch-islamischen Religion Der Koran und die hadith (hadis), d.h. die Reden und Äußerungen Mohammeds, stellen die Hauptquellen des islamischen Rechts (Scharia) dar. Die Darlegungen und die Kommentare zu diesen Quellen in den Schriften islamischer Denker und Gelehrter stellen eine dritte Rechtsquelle dar (El Sadaawi 1980: 167). Abgesehen von den vom Judentum und Christentum übernommenen Aussagen über die Stellung der Frau sind die Erfahrungen des Propheten Mohammed die entscheidenden Faktoren für die Bestimmung der Stellung der Frau im Islam (Arsel 1997). In Bezug auf diese Äußerungen über das Leben und die besonderen Probleme der Frauen im Islam macht Nawal el Sadaawi (1980: 167) auf zwei Punkte aufmerksam. Erstens haben die Verse des Korans und die Lehren Mohammeds zeitlich keinen gemeinsamen Ursprung, da beide im Laufe vieler Jahre entstanden sind. Jedes Prophetenwort und jeder Vers habe sich auf eine bestimmte Situation oder einen besonderen Fall bezogen. Dadurch, dass ihre Entstehungsbedingungen in Bezug auf Zeit und Ort einmalig sind, seien die Weisungen und Lehren oft widersprüchlich bzw. schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Zweitens macht die Autorin auf die Zusammenarbeit der Körperschaften und Autoritäten des Islam mit dem Staat und der politischen Führung aufmerksam. Ergebnis sei, dass der Islam in verschiedenen islamischen Ländern zum Teil unterschiedlich interpretiert und praktiziert wird. In der politischen Ideologie des Kemalismus in der Türkei im 20. Jahrhundert hatten Themen wie die Emanzipation der Frauen durch die Anerkennung ihrer Bürgerrechte und die Sichtbarkeit der Frau in der Öffentlichkeit einen zentralen Stellenwert. Das islamische Recht sieht das ganze Leben der Muslime unter religiösen Aspekten, nicht zuletzt auch das Rollenverständnis von Frauen und die sie betreffenden Wertvorstellungen. Da die Beziehung zwischen Mann und Frau und die Institution der Familie, die von einem männlichen Oberhaupt beherrscht wird, nach islamischer Ansicht eine sehr wichtige Rolle beim Aufbau und bei der Weiterentwicklung einer islamischen Gesellschaft spielen, haben Themen wie die Rolle und Stellung der Frau in der Gesellschaft sowie ihre Rechte und Aufgaben eine besondere Bedeutung (Acar 1991). Der Islam macht es der Frau zur Aufgabe, ihrer „natürlichen Bestimmung“ als Mutter und Ehefrau
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nachzukommen, und versucht auf diese Weise, sie vor Situationen zu beschützen, die ihrer „eigenen Natur“ widersprechen (Toprak 1985b: 253f). Zu den Pflichten der Frau gehört es, dem Mann zu gehorchen und sich für seinen Haushalt und die dazugehörenden Mitglieder verantwortlich zu fühlen (Walther 1997: 47). Dabei wird die Funktion der Frau in ihrer Rolle als Mutter im Zusammenhang mit dem Schutz der Familie und der Erziehung der Kinder nach den islamischen Regeln besonders hervorgehoben. Da eine Begegnung zwischen einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verwandt sind, in einem von Männern dominierten öffentlichen Leben nicht erlaubt ist, gibt es auch wenige feste Vorschriften bzw. Verhaltensformen, die bei einer solchen Begegnung Anwendung finden (Mernissi 1989: 153f). Jede unvermeidliche oder außergewöhnliche öffentliche Interaktion zwischen Männern und Frauen, die nicht miteinander verwandt sind, ist durch die Verschleierung der Frau bzw. ihre Kopfbedeckung Beschränkungen unterworfen. Im orthodox-sunnitischen Denken ist die gesellschaftliche Harmonie nur durch die Kontrolle der Sexualität der Frau und ihre Verschleierung zu erhalten (Göle 1995, Mernissi 1989). Der minderwertige Status der Frau im Islam beziehe sich Mernissi (1989) zufolge daher nicht auf den Glauben an ihre Unterlegenheit, sondern auf eine Vorstellung von der destruktiven Qualität weiblicher Sexualität16. Somit werde die Frau auch für die Moral und Ordnung in der religiösen Gemeinde verantwortlich gemacht (Göle 1995: 43, 56). Die Ungleichheit zwischen Mann und Frau im Islam wird auf die natürlichen Gegebenheiten zurückgeführt (Delaney 1991), die sich auch auf die rechtliche Situation der Frau auswirken. Demgemäß habe der Mann nicht nur eine biologische und spirituelle, sondern auch eine ökonomische Überlegenheit gegenüber der Frau (Walther 1997: 47). Die Überlegenheit des Mannes manifestiert sich nach Toprak (1985b) auch dadurch, dass der Mann für die Frau darüber entscheidet, wie die religiösen Pflichten zu erfüllen sind. Das heißt, wenn der Mann es erlaubt, darf/muss die Ehefrau kein Kopftuch tragen und würde dabei keine Sünde begehen, da der Mann die Verantwortung für ihr Verhalten trägt.
16
Auch Fetna Ayt Sabah (1995) vertritt die Meinung, dass im orthodoxen Islam die Frau niemals als minderwertiger als der Mann betrachtet worden sei. Die Auseinandersetzungen um die Stellung und Rolle der Frau seien nach Sabah vielmehr stets auf der Basis von Moral und Sitte geführt worden: „wenn wir die Frauen loslassen, wird die Unmoral herrschen“ (ebd. 26).
2.2 Das türkische Sunnitentum
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2.2.3 Die Frau im rechtlichen Wandel in der Türkei Die politischen Entwicklungen vor und seit der Gründung der Republik haben kontinuierlich die Situation der türkischen Frau in der Gesellschaft stark beeinflusst. Aufgrund der Entstehungsgeschichte der türkischen Republik befinden sich der Islam und der kemalistische Laizismus besonders in Bezug auf Frauenfragen immer noch in einer Konfliktsituation (Acar 1991: 74). Ausschlaggebend dafür sind die an westlichen Vorbildern orientierten Veränderungen im rechtlichen Status der Frau17, die im Zuge der kemalistischen Reformen nach der Proklamation der Republik Türkei (1923) umgesetzt wurden. In diesem Paradigmenwechsel waren Begriffe wie „westlich“, „zivilisiert“ und „kultiviert“ zentral, und die Frauenfrage bezeichnete die äußerste Grenze bei der „Modernisierung“ der ideologischen Strömungen in der Türkei (Göle 1995: 50). Deniz Kandiyoti (1991a: 39) weist vor diesem Hintergrund darauf hin, dass Mustafa Kemals emanzipatorische Reformen nur vordergründig mit dem Konzept von ‚Zivilisation‘ und mit republikanischen Ideen von Bürgerschaft zu tun hatten und von diesen Reformen nicht die Frauen, sondern vielmehr die kemalistische Politik profitiert habe. Während dieses Paradigmenwechsels wurden die Frau und ihre Stellung in der Gesellschaft instrumentalisiert, um die Gegensätze Islam – Westen, Tradition – Moderne, mahrem – namahrem (d.h. die Privatsphäre oder der ‚Tabubereich’ im Gegensatz zu dem, was außerhalb der Privatsphäre liegt), hervorzuheben. Nach Nilüfer Göle (1995) wurde die „Frauen-Problematik“ nicht nur im Hinblick auf die Lebenssituation der Frau, sondern auch als eine „kulturelle Problematik“ definiert. „Denn die Beziehungen zwischen Mann und Frau, das Aufzeigen der privaten, inneren und der öffentlichen, äußeren Welten sowie deren Organisationsformen sind die Grundkoordinaten der kulturellen Identität“ (Göle 1995: 17
Durch die Übernahme des Schweizer Zivilrechtes im Jahre 1926, das Nermin Abadan-Unat (1985: 31) in Bezug auf die Gleichstellung der Frau im familialen Bereich „als Vertreter eines traditionellen Gedankengutes“ bezeichnet, wurde die Polygamie verboten und beiden Geschlechtern das Recht auf Scheidung zugestanden bzw. wurde die Scheidung für Frauen erleichtert, wodurch es Frauen formell Freiheit und Gleichberechtigung verlieh. Die Zivilehe wurde zwar zur Pflicht gemacht, konnte aber bisher die religiöse Eheschließung (imam nikah) nicht gänzlich verdrängen. Das Sorgerecht für die Kinder wurde beiden Eltern zugesprochen, gleiches Erbrecht wurde eingeführt, die Eheschließung war nur dann gültig, wenn die Braut anwesend war. Die Einführung der Gleichheit von Mann und Frau bei der eidesstattlichen Erklärung und eine Festlegung des Mindestheiratsalters (Männer 18 und Frauen 17 Jahre) machten die weiteren rechtlichen Veränderungen aus. Im Jahre 1930 folgte das aktive Wahlrecht der Frauen und ab 1934 durften sie in die Große Nationalversammlung gewählt werden. Die Zahl der Frauen im Parlament erreichte bis zu 4,5 %, einen Anteil, den die Türkei, vor allem nach der Realisierung des Mehrparteiensystems ab 1946, nie wieder erreicht hat (vgl. Kandiyoti 1991a).
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49). Die kemalistischen Reformen zielten dabei auf das in der Gesellschaft tonangebende Bild der „neuen Frau“ (Kandiyoti 1991a: 41) bzw. der „idealen Frau“ (Göle 1995: 85). Nilüfer Göle (1995) beschreibt die Eigenschaften dieser vorbildlichen Frau folgendermaßen: Sie ist sowohl den Werten des Westens als auch den nationalen Werten verbunden, gleichzeitig gebildet und frei, jedoch streng, was Moral und Sitten betrifft. Sie ist ein nützliches, fleißiges Mitglied der Gesellschaft, Mutter und Kameradin. Die damit geforderte Sichtbarkeit der Frau im öffentlichen Leben konnte von der Gesellschaft jedoch nur in eingeschränkter Form, lediglich als Fortsetzung und Erweiterung der Mutterrolle akzeptiert werden. Es waren die kemalistischen Väter oder Ehemänner, die ihre Töchter oder Ehefrauen bei deren Mitwirkung am öffentlichen Leben unterstützt haben, um eine Generation von „Mustertöchtern“ der Republik heranzuziehen. Diese Frauen, die von den besseren Bildungs- und Berufschancen infolge der kemalistischen Reformen profitierten und denen die Besetzung relativ elitärer Positionen ermöglicht wurde, bildeten die Gruppe der „Elitefrauen“ in den Städten, und sie verstanden sich als „frei“ im Vergleich zu den „Landfrauen“ (Tekeli 1991: 41). irin Tekeli (1991) zufolge zeigten sie ihre Dankbarkeit für die kemalistischen Reformen, indem sie die Kritik sowohl an den patriarchalischen Inhalten der Gesetze, die Frauen diskriminierten oder benachteiligten, als auch an den herrschenden patriarchalischen Verhältnissen in ihrem eigenen privaten Leben vernachlässigten. Diese Auffassung unterstützten auch die Ergebnisse einer Studie von Aksu Bora (2001) über die Beziehungen derjenigen Generation von Müttern (Geburtsjahrgänge 1930–1940), der die gesellschaftlichen Veränderungen der republikanischen Ära am meisten nützten, zu ihren erwachsenen Töchtern (Jahrgänge 1950–1960). Die Frauen aus beiden Generationen leben für gewöhnlich in der Stadt und gehören zu der gebildeten Mittelschicht, die der Autorin zufolge für die Türkei gesellschaftlich normgebend ist. Die Autorin stellt fest, dass der Modernisierungsprozess bei diesen Frauen fast ausschließlich zu einer Verwandlung der Selbstwahrnehmung der Frauen und wenig zur Veränderung der Rollenunterschiede zwischen Mann und Frau beigetragen habe. Wenn auch mit unterschiedlichen Bedeutungen, gelte die herkömmliche geschlechtsspezifische Arbeitsteilung auch für diese beiden Frauengenerationen. Während die Generation der von 1930 bis 1940 geborenen Mütter die Veränderung ihrer Lage gegenüber den Männern unter dem Motto „gleich aber anders“ deutet, redet die Generation ihrer inzwischen erwachsenen Töchter nicht von Gleichberechtigung, sondern von ihrem Anspruch auf eine „eigene Lebenssphäre“ außerhalb des Familienlebens. Dabei nehmen sie aber die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung nicht als ein Problem wahr. Vielmehr versuchen sie, sich eine „eigene Lebenssphäre“ mit Hilfe der Unterstützung ihrer Mütter (Hilfe beim Haushalt und bei der Kinderbetreuung) bzw. durch deren
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solidarische Haltung zu schaffen, und nicht durch Veränderungen in den Beziehungen zu ihren Ehemännern. Mit anderen Worten: Die Frauen können am öffentlichen Leben teilnehmen und für sich einen autonomen Bereich der Selbstverwirklichung finden, aber auf Kosten von anderen Frauen. Parallel zum oben erwähnten kemalistischen Frauenbild der fortschrittlichen städtischen Elitefrau existierte ein Bild der ländlichen „anatolischen Frau“, die sowohl die Entstehung eines auf die westliche Zivilisation ausgerichteten nationalen Bewusstseins als auch ein Gegenbild zu der der Zivilisation fern stehenden Muslimin verkörperte. Von der „anatolischen Frau“ wurde die Entwicklung eines Nationalbewusstseins und ihrer Mentalität in Richtung auf die Standards der (westlichen) „Zivilisation“ erwartet, die sie von der Unterdrückung durch die islamische Religion befreien würde. In dieser Position, zu der sie durch den öffentlichen Diskurs gedrängt wurde, wird die anatolische Frau, Göle (1995: 82) zufolge, sowohl zu der „Geretteten“ als auch zu der „Rettenden“. Zusammengefasst handelte es sich in der Periode der Etablierung des Nationalstaates um drei unterschiedliche Frauenbilder, die im öffentlichen Diskurs dominierten: die vorbildliche moderne kemalistische Tochter, die traditionelle patriotische Bäuerin und die zurückgebliebene Muslimin. Anders als in Bezug auf ihre Rolle im öffentlichen Leben blieb die Situation der Frau im häuslichen Privatbereich außerhalb des Interessenfeldes der kemalistischen Reformen. Dies führt Nermin Abadan-Unat (1985: 13) auf die Vorstellungen von Atatürk zurück, nach denen sich die Emanzipation der Frau mit Hilfe der egalitären Gesetze von selbst verwirklichen würde. Nach einer Bilanz in den 1980er Jahren stellt die Autorin jedoch fest, dass die Reformen durch ihre legislativen Eingriffe den Status und die Rolle der Frau in der türkischen Gesellschaft nur teilweise verändert haben und sie im nationalen Maßstab die Ungleichheit zwischen Mann und Frau nicht wesentlich verändern konnten. Trotz der neuesten gesetzlichen Veränderungen im Jahre 2001, durch die die Frauen gleiche Rechte in der Familie erhielten, kann nur ein geringer Einfluss dieser Veränderungen auf die gesellschaftliche Situation beobachtet werden. Abgesehen davon, dass die frauenrechtlichen Veränderungen sehr langsam im gesellschaftlichen Leben umgesetzt werden, führt die Inanspruchnahme ihrer sozialen und gesetzlichen Rechte in Bezug auf das Familiensystem durch eine Frau zum Teil zu ihrem Ausschluss aus ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Der damit verbundene gesellschaftliche Druck hindert die Frauen ebenfalls daran, sich der Veränderungen ihrer (familien)rechtlichen Lage bewusst zu werden.
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2.2.4 Ihre Stellung im sozialen Wandel in der Türkei Im Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte der westlich orientierten Republik der Türkei sind bei der Definition der Stellung der Frau im sozialen Leben immer noch die als Gegensätze aufgefassten Begriffe „modern“ und „traditionell“ vorherrschend. Nach dieser Auffassung werden die Frauen, die in den Städten leben und berufstätig sind, als moderne und die übrigen als traditionelle Frauen betrachtet (Kongar 1989). Die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen ab den 1950er Jahren und die damit im Zusammenhang stehende Binnenmigration wirkten sich ebenfalls auf den Wandel der Familienstrukturen und somit auf die Situation der Frau im gesellschaftlichen Leben aus. Ohne die unterschiedlichen kulturellen Gruppierungen und Grenzziehungen in der Gesellschaft zu berücksichtigen, werden in der wissenschaftlichen Literatur folgende Kategorien benutzt: (klein)städtische Frauen, ländliche Frauen (Bäuerinnen), städtische Neubürgerinnen.18 Die Lebensbedingungen der ländlichen Frau unterscheiden sich je nach geografischen und ökonomischen Bedingungen sowie der zur Verfügung stehenden Technologie oder Form der Mechanisierung der Agrarproduktion. Die Mechanisierung der Landwirtschaft reduziert überall die Nachfrage nach manueller Arbeit und setzt beispielsweise die Frauen frei für Aktivitäten außerhalb der landwirtschaftlichen Produktion (Kandiyoti 1977). Dies beeinflusst ebenfalls die Familienstrukturen, so dass ein Übergang von arrangierten Ehen zur freien Partnerwahl der Frauen und ein für sie eigenständiges Konsumverhalten, selbstständige Investitionen sowie Bildungs- und Weiterbildungsangebote vermehrt möglich werden. Oft nehmen sie an der Produktion des Familienbetriebes teil und üben gleichzeitig auch ein Handwerk aus. Ihr Status wird vor allem von ihrer Gebärfähigkeit und ihrem Alter bestimmt. Nükhet Sirman (1991) stellte aufgrund ihrer Studie in einem sunnitischen Dorf fest, dass die Arbeitsteilung im Dorf auf geschlechtsspezifischen Identitäten beruht. Vor allem die Organisation verwandtschaftlicher Beziehungen und der Beziehungsnetzwerke mit den Frauen in der Nachbarschaft hat bei der Stärkung der Position der Frau in der Ehe und Familie eine bedeutende Rolle gespielt. Dabei betont die Autorin, dass das diesbezügliche Verhalten der Frauen an die gegebenen Umstände gebunden sei. Im Umgang mit diesen Beziehungen, die einer Hierarchie unterliegen, sind bestimmte Strategien nützlich, die es der Frau ermöglichen, Macht in ihrem sozialen Umfeld zu erlangen. Demnach habe eine Frau sich zuerst um ihre eigenen Kinder, ihren Haushalt und ihren Ehemann zu kümmern. An zweiter 18
Für die ausführliche Darstellung dieser Kategorien siehe Kandiyoti (1977), Abadan-Unat (1985) und Tekeli (1991).
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Stelle müsse sie ihre Position in der Schwiegerfamilie, vor allem in ihrer Beziehung zur Schwiegermutter sichern. Zu den Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie, vor allem zu ihrer eigenen Mutter, habe sie i.d.R. eine distanzierte Beziehung, damit diese sich nicht zu viel in ihre Familienangelegenheiten einmischen. An dritter Stelle folgten die nachbarschaftlichen Beziehungen, die sich auf Solidarität und Unterstützung aufbauen und einer Frau Anerkennung bringen und ihren Beziehungsraum vergrößern sowie die Möglichkeiten verbessern, an mehr Informationen zu gelangen. Dadurch gewinnt sie an Selbstvertrauen. Denn diese Kontakte stehen als Symbol dafür, dass sie in der Lage ist, nicht nur für ihren Haushalt und ihre Familie, sondern auch für ihr soziales Umfeld zu sorgen. Die städtischen Neubürgerinnen sind die Landbewohnerinnen, die infolge der Mechanisierung der Landwirtschaft und im Zuge der Industrialisierung ab den 1950er Jahren meist aus den Dörfern, aber teilweise auch aus den Kleinstädten in die Großstädte ausgewandert sind. Abgesehen von den ökonomischen Migrationsmotiven fand ab Mitte der 1980er Jahre aus politischen Gründen (durch die kurdische Bewegung) eine Zwangsauswanderung von vielen kurdischen Familien in die Städte statt. Da sie sich meistens in den Siedlungen niederlassen, in denen überwiegend ihre Landsleute wohnen, stehen die Frauen hier unter sozialer Kontrolle ähnlich wie in ihren kleineren Herkunftsorten. In patrilinear orientierten Gemeinden, in denen eine Kernfamilienstruktur vorherrscht, kümmern sich die Söhne um ihre Eltern. Die Beteiligung der Frauen am Arbeitsleben hängt meistens von familienspezifischen Wertvorstellungen ab. Das Leben der Frau wird Kandiyoti (1977) zufolge immer mehr durch die unmittelbare Nachbarschaft bestimmt, die zum Teil wie ein erweitertes Familiensystem wirkt. Bedeutend seien hierbei vor allem die weiblichen Netzwerke, die beispielsweise bei den allgemein schlechten Arbeitsbedingungen Unterstützung und Hilfe bieten. Sie stehen nicht zuletzt unter dem Druck von dominanten familialen und gesellschaftlichen Wertevorstellungen. Tekeli (1991) zufolge erreichen in dieser Gruppe die Auseinandersetzungen um Wertvorstellungen dramatische Ausmaße. Die staatliche Unterstützung der islamischen Radikalen ab den 1980er Jahren führte zu einer neuen gesellschaftlichen Entwicklung, nämlich zu der islamischen Bewegung und zur Entstehung einer neuen Gruppe der Musliminnen. In dieser Bewegung fanden viele Frauen städtischer oder ländlicher Herkunft für sich einen Platz, so dass sich die Zahl der Frauen, die sich nach den sunnitischen Geboten kleideten, enorm erhöhte. In der Öffentlichkeit verkörpern studentische islamische Frauen seit den 1980er Jahren durch ihren Kampf um das Tragen eines Kopftuchs in den Bildungsinstitutionen eine wirkungsvolle politische Macht in der Gesellschaft. Die Ergebnisse zweier Studien über drei
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islamische Frauenzeitschriften19 zeigen, dass Frauen in diesen Frauenzeitschriften ermahnt werden, in ihren Rollen als Partnerin, Mutter und Hausfrau den Islam zu praktizieren und vor allem als Mutter ihre Kinder nach islamischen Regeln zu erziehen. Sie seien nicht gegen die Bildung der Frau, da ein Grundsatz des Islams besage, dass Wissen sowohl für Männer als auch für Frauen eine Verpflichtung sei. Frauen sollten jedoch die Angebote der öffentlichen Bildungsinstitutionen „bedeckt“ (mit Kopftuch) wahrnehmen. Anders als die schulische und berufliche Bildung werde, so Acar (1991: 77), in allen drei Frauenzeitschriften die außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen weniger geschätzt und meist nur dann akzeptiert, wenn eine Frau in materieller Not sei. Bei der Berufsarbeit habe die Frau jedoch „islamische Regeln“ einzuhalten, d.h. keine Kontakte mit Männern zu haben. Die Geschlechter seien vor Gott gleichberechtigt und für die weltliche Gleichberechtigung bedeute dies, dass die Geschlechter sich gegenseitig ergänzten. Männer und Frauen seien physisch und psychisch unterschiedlich, daher sei im Islam nicht die Gleichberechtigung, sondern die Gerechtigkeit das Wichtigste.
2.3 Alevitentum 2.3 Alevitentum 2.3.1 Zur Definition des Alevitentums Das anatolische Alevitentum20 (Kzlba-Alevilik) kann als eine Glaubensgemeinschaft definiert werden, die sich, Krisztina Kehl-Bodrogi (2002: 12) zufolge, durch eine spezifische, gegen die orthodoxe Lehre (des Sunnitentums) entwickelte, heterodoxe Islaminterpretation und aufgrund ihrer gesellschaftshistorischen und politischen Ausgrenzungserfahrungen durch eine exklusive kollektive Identität auszeichnet. Zu dem letzteren Merkmal sei betont, dass die alevitische Zugehörigkeit infolge eines Endogamiegebots „vererbt“ wird.21
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Es handelt sich um die Studien von Feride Acar (1991) über die islamischen Frauenzeitschriften Kadn ve aile (Frau und Familie), Mektup (Der Brief) und Bizim Aile (unsere Familie) im Zeitraum von 1985–1988 sowie von Necla Arat (1991) über Kadn ve Aile im Zeitraum von 1985–1989. Wenn nicht anders vermerkt, bauen diese Ausführungen über die Aleviten auf folgenden Arbeiten auf: Noyan (1987), Kehl-Bodrogi (1988a, 1988b, 2002), Bozkurt (1990), Väth (1993), Vorhoff (1995, 1998), Bruinessen (1997), Çamurolu (1997). Der Vorschlag von Reha Çamurolu, dass die freie Auswahl einer alevitischen Zugehörigkeit wie bei den Bektaschis, bei denen der Erwerb der Zugehörigkeit zu dem mystisch orientierten Orden nicht durch Geburt, sondern durch eine langjährige Lern- und Erfahrungsphase möglich ist, auch für das Alevitentum gelten sollte, fand unter sehr wenigen Aleviten eine Zustimmung. (vgl. Reha Çamurolu in einem Interview mit ener 1995).
2.3 Alevitentum
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Ferner führten ihr Status als unterdrückte Minderheit (vor allem während des osmanischen Reichs), ihre eigene Rechtsprechung und diverse soziokulturelle Regelungen dazu, dass die Aleviten sich zu einer ‚geschlossenen Gesellschaft‘ entwickelten. Die alevitische Kollektividentität ist in der Türkei offiziell nicht anerkannt, daher können sich die Aleviten in ihrer Geburtsurkunde nicht als „Alevi“ (Alevit bzw. Alevitin) eintragen lassen. Wie bei den Sunniten steht auch bei den Aleviten in der Geburtsurkunde als Glaubensrichtung die Angabe „slam“ – eine Bezeichnung, mit der in der Türkei offiziell das Sunnitentum impliziert ist.22 Daher gibt es keine offiziellen Angaben über den Prozentsatz der Aleviten an der Gesamtbevölkerung. Obwohl die Selbsteinschätzungen teilweise bis zu 40% reichen, sind die Aleviten schätzungsweise mit etwa 20–25% der Bevölkerung die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in der Türkei. Die alevitische Glaubensgemeinschaft setzt sich größtenteils aus türkischen und zu etwa 20–30% aus kurdischen und zazaki23 MuttersprachlerInnen zusammen (Kehl-Bodrogi 2002). Ganz unabhängig von unterschiedlichen sprachlichen Zugehörigkeiten leben die Aleviten über die gesamte Türkei verteilt, wobei ihre primären Siedlungsgebiete sich in den zentralen Regionen des von der industriellen Entwicklung vernachlässigten Ostanatoliens befinden. Nicht zuletzt aus diesem Grund waren die Aleviten in den 1960er und 1970er Jahren unter den in Deutschland wohnenden Gastarbeitern aus der Türkei proportional stärker vertreten als in der Gesamtbevölkerung der Türkei. (Vorhoff 1995: 57f, Sökefeld 2008) Die Aleviten selbst begreifen sich als eine „Wir-Gruppe“ (Elwert 1989, 1997), unabhängig von sprachlicher Zugehörigkeit. Die Selbstzuschreibung als „Wir-Gruppe“ baut auf einer subjektiven Grenzziehung zu den Anderen – den Sunniten – auf (Barth 1969). Weitere Aspekte der Identität sind die gemeinsamen historischen und sozialen Erinnerungen, soziokulturellen und religiösen Traditionen sowie das gemeinsame Symbolsystem. Da die Aleviten sich als 22
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Der Versuch eines Aleviten im Jahr 2004, den Eintrag „Islam“ als Religionsangabe in seinem Ausweis in „Alevit“ ändern zu lassen, endete mit einem Misserfolg. Auch beim Europäischen Gerichtshof hatte er keinen Erfolg mit seinem Anliegen. Anders als ihre Selbstzuschreibung werden die Zaza („Zazakisprecher und -sprecherinnen“; für die einfache Verwendung dieser Gruppenbezeichnung werde ich im Folgenden das türkische Wort Zaza nehmen) meistens nicht als eine separate Gruppe betrachtet, sondern den Kurden zugeordnet. Demnach wird ihre Sprache Zazaki als ein kurdischer Dialekt betrachtet (mehr dazu siehe Vorhoff 1995, Bruinessen 1997, Akta 1999). Die Zaza sind nicht nur dem Alevitentum zuzuordnen, sondern auch dem Sunnitentum. Bei den Gesprächen mit einigen alevitischen Zaza aus den Provinzen Erzincan, Tunceli und Varto habe ich erfahren, dass die Generation der Großeltern bzw. Eltern ihre Sprache nicht „Zazaki“, sondern „auf Zazaki“ „zoné ma“ („unsere Sprache“) genannt haben. Es wäre interessant zu erforschen, ob und inwiefern diese Bezeichnung für die Zazaki – „unsere Sprache“ – im Vergleich zur Konzeptualisierung der Aleviten als einer Wir-Gruppe eine andere Form der Zusammengehörigkeit impliziert.
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
„Wir-Gruppe“ begreifen, werden sie in der vorliegenden Arbeit in ihrer Gesamtheit als eine sozial-religiöse Gruppe behandelt.
2.3.2 Glauben, Glaubensgemeinschaft und Ritual Die alevitische Religiosität ist, so Kehl-Bodrogi (1988a: 121), weitgehend auf die „Erfordernisse der sozialen Wirklichkeit“ ausgerichtet.24 Demnach legen Aleviten mehr Gewicht auf die Bewältigung des Alltags als auf theologische Spekulationen und die Einhaltung formaler religiöser Vorschriften.25 Zu den wichtigsten Charakteristika des Alevitentums gehört die Nichtbeachtung der islamischen Pflichtenlehre bzw. Scharia, da sie den Aleviten zufolge nur die Äußerlichkeit des Glaubens beinhalte.26 Die meisten Aleviten glauben, dass sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Alevitentum den Gehorsam gegenüber den religiösen Gesetzen, d.h. der Scharia, überwunden haben und von der formalen Glaubenspflichtenlehre der Sunniten entbunden sind (vgl. Vorhoff 1995: 65). Dies vor allem wird als Grund dafür angegeben, warum die alevitische Frau nicht dazu verpflichtet sei, sich zu verhüllen. Der Koran hat nach der Lehre der Aleviten einen inneren, verborgenen Sinn, daher erkennen sie ihn – anders als die Sunniten – nicht als unmittelbares Wort Gottes an. Nach alevitischer Auffassung stellen das Glaubensbekenntnis, das fünfmalige Gebet (namaz), die rituelle Waschung (abdest), die Almosensteuer (zekat), die Wallfahrt nach Mekka (hac) sowie das Fasten im Monat Ramadan Äußerlichkeiten dar. Im Mittelpunkt ihres Glaubenssystems steht die Beziehung der Menschen zu24 25
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Für eine detaillierte Darstellung siehe Kehl-Bodrogi (1988a: 167-179), Noyan (1987: 63ff), Pfluger-Schindlbeck (1989), Bozkurt (1990), Vorhof (1995). Eine der zentralen Eigenschaften des Alevitentums ist, dass es den Kosmos und den Glauben nach der Geheimlehre der Batiniya (batniye) interpretiert. Das Wort „Batiniya“ stammt vom arabischen „batîn“ ab und bedeutet: „Inneres, Verborgenes, Geheimes“. Die Entstehung der damit bezeichneten politisch-religiösen Richtung im Islam geht bis zum Ende des neunten Jahrhunderts zurück (vgl. Korkmaz 1994: 54ff) Hierbei geht es um einen Wahrnehmungsunterschied zwischen dem zahir, dem der Allgemeinheit zugänglichen Äußeren – Exoterischen –, und dem batîn, dem der Allgemeinheit verschlossenen Inneren – Esoterischen – (Kehl-Bodrogi 1988a: 151). Dies wird begründet mit dem Glauben an die so genannten Vier Tore (dört Kap), die bei den Aleviten mit moralischen und sozialen Implikationen verbunden sind. Die Tore repräsentieren für das Individuum die aufeinander folgenden Stufen oder Stationen seines Weges zur Göttlichkeit. Kehl-Bodrogi (1988a: 152) definiert diese Vier Tore folgenderweise: das erste Tor „eriat“ deutet auf das äußere Gesicht des Glaubens und beruht auf der orthodoxen Pflichtenlehre, das zweite Tor „tarikat“ auf den geheimen Lehren der Glaubensgemeinschaft bzw. des „Ordens“, das dritte Tor „marifet“ auf dem inneren Gesicht des Glaubens und schließlich das vierte Tor „hakikat“ auf der Fähigkeit der Erfahrung des Göttlichen, die die erste und die letzte Station miteinander verbindet. Ausführlich dazu Kehl-Bodrogi (1988a: 151-156).
2.3 Alevitentum
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einander sowie zu den „heiligen Männern“ (Kehl-Bodrogi 1988a: 122) und den geistigen Führern der Gemeinschaft, als Manifestationen von Gott. Der Akzent ihrer Werte liegt auf der gelebten Welt, und Jenseitsvorstellungen spielen eine untergeordnete Rolle. Nach alevitischer Auffassung hat der Mensch eine zentrale Rolle: In ihm manifestiere sich Gott (Yörükolu 1990), daher sei der wahre Dienst an Gott der Dienst am Menschen. Unabdingbar dafür ist jedoch, dass das Individuum sich um moralische Integrität und Vervollkommnung als soziales Wesen bemüht. Die ethischen Grundprinzipien dieser Lehre werden oft in den folgenden Worten zusammengefasst: „Eline, diline, beline sahip olmak“, wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt es: „seine Hand, seine Zunge und seine Lende beherrschen“.27 Die mit dieser Forderung verbundenen Kriterien für vorbildliches Verhalten sind ebenfalls ein Ausdruck der religiösen und sozialen Identität der Aleviten. Dieses Prinzip fordert im Einzelnen: nicht stehlen, über andere nicht schlecht reden, die Geheimnisse des ‚Weges’ (des Alevitentums) Außenstehenden nicht verraten (Geheimhaltung; türkisch: takiye dient dazu, das Überleben der Gemeinschaft zu sichern), keinen Ehebruch begehen und keinen Geschlechtsverkehr mit Sunniten haben. Letzteres gilt gleichermaßen für Frauen und Männer. Die alevitische Gemeinschaft gliedert sich in zwei streng voneinander getrennte Gruppen, in die Gruppe der talip (Strebender, Schüler, Laiengemeinde) und der ocakzade (Söhne des ocak, der heiligen Familie). Die ocak sind nach der Auffassung der Aleviten Abstammungsgruppen, die als heilig gelten. Es gibt ein System der formalen Zuordnung der talip zu einem Mitglied eines ocak und der Zuordnung der einzelnen ocak untereinander; diese werden auf beiden Seiten in der väterlichen Linie vererbt. Zwischen diesen beiden Gruppen besteht ein Heiratsverbot, denn ihr Verhältnis zueinander wird als eines von Eltern zu ihren Kindern angesehen. Der dede (wörtlich: „Großvater“) ist von einer OcakAbstammung und wird als „Vater des Ordens“ bezeichnet. Eine Frau, die aus einer Ocak-Linie abstammt, oder die Ehefrau eines dede wird als ana („Mutter“) bezeichnet und wird von der Gemeinde ebenfalls in besonderer Weise respektiert. Zu den Aufgaben des dede gehört die mündliche Tradierung des Wissens, Leitung der religiösen Versammlung (cem), die Aufnahme des talip in die Glaubensgemeinschaft, die Rechtsprechung sowie die Sanktion einer Wahlbruderschaftsbeziehung (musahiplik)28. Es gibt weder ein verbindliches Dogma 27 28
Für eine ausführliche Darstellung vgl. Kehl-Bodrogi (1988a: 162-167). Die Wahlbruderschaft wird zunächst und primär unter zwei Männern geschlossen und schließt nach einer Verheiratung auch die Ehefrauen ein. Obwohl eine Musahiplik ohne die Zustimmung der Ehefrauen nicht gültig ist, ist zunächst festzustellen, dass die Männer im Fall einer Musahip-Beziehung im Vordergrund stehen. Die Frauen dürfen sich also unabhängig von den Männern keine Musahippartner (bzw. -partnerinnen) auswählen. Dies scheint mit dem An-
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
noch eine schriftliche Fixierung der alevitischen Lehre.29 Der dede wird in der Regel für seine Leistung von talips mit Geld oder Naturalabgaben belohnt. Einer idealen Vorstellung nach darf ein dede dabei lediglich nur soviel behalten, dass seine Bedürfnisse gedeckt sind, den Rest muss er an einen bedürftigen talip weitergeben. Somit schließt sich ein Kreis der Solidarität und sozialen Sicherung sowie des materiellen Nehmens und Gebens innerhalb der Gemeinde. Das zentrale Element des gesellschaftlich-religiösen Lebens der alevitischen Gemeinschaft stellt das Ritual Ayin-i cem (Kurzform: cem) dar. Ein cem ist eine Zusammenkunft der Gläubigen bzw. der Gemeindeangehörigen, sozusagen ein Moment des stärksten Zusammengehörigkeitsgefühls, in der über die Sorgen und Probleme der Gemeindemitglieder beraten wird, zwischenmenschliche Konflikte innerhalb der Gemeinde gelöst werden, und in der über das in der Vergangenheit erlittene Leid und die Verfolgung der religiösen Vorfahren seit der Entstehung des Alevitentums bis heute gesprochen wird. Dabei werden gemeinsam von der saz (einer türkischen Langhalslaute) begleitete religiöse Hymnen (nefes/deyi) gesungen sowie ein ritueller Tanz30 (semah) von Männern und Frauen gemeinsam getanzt und ein ritueller Umtrunk (dem) vollzogen (für diesen Zweck werden zum Teil auch alkoholische Getränke gereicht). Auf diese Weise wird das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeinde auf einer sehr emotionalen Ebene vertieft. Dieses Ritual, das Cem, findet mindestens einmal jährlich in einem Privathaus oder einem eigens dafür vorgesehenen Versammlungshaus (cemevi) und nur unter der Anleitung eines Dede statt. Wer aus der Gemeinschaft ausgeschlossen ist (gegen wen ein dükün31 ausgesprochen worden ist), kann nicht mehr an einem cem teilnehmen. Das Ritual cem dient darüber hinaus auch als eine Art „Volksgericht“, und der dede hat die Funktion des Rechtsprechers. Diese Tradition stammt noch aus einer Zeit, in der Aleviten als Selbstschutz ihre Zugehörigkeit geheim hielten und daher in solchen Angelegenheiten die Institutionen der Mehrheitsgesellschaft nicht in Anspruch nehmen wollten. Weil das cem infolge des geschlossenen und meist geheimen Charakters
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spruch des Alevitentums, Männer und Frauen seien – vor allem im religiösen Leben – gleichberechtigt, im Widerspruch zu stehen. Die einzige vorhandene Schrift über das Alevitentum heißt „Buyruk“. Sie ist meistens im Besitz von heilig gesprochenen Familien (Dedefamilien) und daher nicht jedem zugänglich. Anke Otter-Beaujean (1997) zufolge sind zum Teil diese heiligen Familien nicht in der Lage, die Sprache dieser Schrift zu verstehen und an die Gemeinde weiterzugeben. Die wenigen zugänglichen Auflagen sind aber auch nicht für die sprachliche Überlieferung des Alevitentums gedacht. Für eine ausführliche Darstellung siehe Erseven (1990). Dükünlük („gefallen sein“) gilt als die schwerwiegendste Strafe und bedeutet einen sozialen Abstieg. Je nach der Schwere der begangenen Taten kann dükünlük einen einige Jahre währenden bis lebenslang dauernden Ausschluss aus der Gemeinde bedeuten.
2.3 Alevitentum
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der alevitischen Gemeinden traditionellerweise zu nächtlicher Zeit und unter strenger Geheimhaltung sowie unter Teilnahme beider Geschlechter stattfand, konnte es von Außenstehenden als ein Ort der wahllosen geschlechtlichen Vereinigung umgedeutet werden. Die Aleviten haben noch heute gegen diese Stigmatisierung und Verleumdung des cem anzukämpfen, das in der Mehrheitsgesellschaft mit der Bezeichnung „Kerze verlöscht“ (mum söndü) verspottet wird. Seit dem letzten Jahrzehnt dienen solche Versammlungen (sowohl in der Türkei als auch in den Migrantengemeinden in Westeuropa) auch als Erziehungsmaßnahme für die jüngeren Gemeindeangehörigen. Diesen soll dadurch zu einer zu engeren Bindung an ihre Herkunft(sfamilien) verholfen werden. Darauf komme ich in den Kapiteln 5.4 und 6.3 zurück.
2.3.3 Gesellschaftliche Marginalisierung und Pogrome gegen Aleviten Aleviten32, als von den Autoritäten des Osmanischen Reiches nicht anerkannte geschlossene Glaubensgemeinschaften, lebten in den von Sunniten isolierten, strikt getrennten oder abseits gelegenen Dörfern. Es bestanden kaum soziale Kontakte zwischen diesen beiden Glaubensgemeinschaften. Die Verfolgung und gewaltsame Repression durch die Herrscher des Osmanischen Reiches im Zusammenhang mit den Kzlba-Aufständen im 15. und 16. Jahrhundert waren der Grund für ihre Isolation, da zu dieser Zeit die Tötung von Aleviten durch Fetwa (islamische Rechtsgutachten) als eine religiös verdienstvolle Tat dargestellt wurde. Aleviten verstanden sich sowohl aufgrund ihrer Glaubensunterschiede und religiösen Geschichte als auch wegen ihrer eng mit sozialen, ökonomischen und politischen Machtverhältnissen zusammenhängenden Aufständen33 von den herrschenden Eliten des orthodox-sunnitischen Osmanischen Reichs als unerwünscht und bedroht. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches und der Gründung der laizistischen Republik der Türkei setzten die Aleviten daher ihre Hoffnungen auf Mustafa Kemal und betrachteten ihn, Markus Dreßler (1999) zufolge, als „Befreier“ aus der religiös legitimierten Unterdrückung und 32
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Wenn nicht anders vermerkt, beruht dieses Unterkapitel auf den Arbeiten von Laçiner (1985), Çamurolu (1998), Bruinessen (2002), Kehl-Bodrogi (2002), Jongerden (2003), Bozarslan (2003). Hier wird nicht näher auf diese Aufstände eingegangen, weil dies einerseits den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und weil andererseits diese Aufstände für die alevitische Geschichtsschreibung unterschiedlich bewertet werden. Es ist jedoch im Kontext der vorliegenden Arbeit wichtig zu erwähnen, dass die Aleviten in ihrer eigenen Geschichtsbeschreibung auf einige dieser Aufstände zurückgreifen, die für sie Anhaltspunkte für den Umgang der Herrscher des Osmanischen Reiches mit ihrer Existenz als Religionsgemeinschaft sind. Für eine ausführliche Darstellung siehe Ocak (1991a, 1991b), Çamurolu (1992) und Vorhoff (1995).
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
Isolation (ebd.: 114). Ob die Aleviten sich tatsächlich schon seit den Anfängen der Republik als Verbündete von Mustafa Kemal bzw. der Kemalisten im Kampf gegen antisäkulare, islamistische Kräfte betrachteten oder ob sich diese Sichtweise erst in den 1960er und 1970er Jahren durch die neo-kemalistische Bewegung entwickelt hat, wird noch immer in alevitischen Kreisen kontrovers diskutiert (Kehl-Bodrogi 2003). Hamit Bozarslan (2003: 9) argumentiert, es habe weder bis in die sechziger Jahre hinein eine Verbindung zwischen Aleviten und Kemalismus gegeben, noch seien bis zu dieser Zeit die Kemalisten an den Aleviten besonders interessiert gewesen. Denn im Gegensatz dazu habe der Kemalismus die Aleviten als Feinde des Staates angesehen. Sein Argument untermauert der Autor in Anlehnung an Beikçi (1990) und Bruinnessen (2000) mit der kemalistischen Politik der Türkisierung gegenüber dem von alevitischen Zaza bewohnten Dersim (im Osten der Türkei) in den 1930er und 1940er Jahren. Dabei handelt es sich um zwei verschiedene Gesetzgebungen. Mit einem Gesetz aus dem Jahre 1932 bezweckte die Regierung die effektive Kontrolle der Einwohner in der Umgebung von Dersim (Jongerden 2003: 77f). Dieses Gesetz versuchte die Assimilierung bzw. Türkisierung der Kurden aus dieser Region dadurch zu erreichen, dass viele Bewohner aus der Umgebung Dersims in westliche Städte der Türkei deportiert werden sollten. Bei ihrer Ansiedlung in den westlichen Städten durfte, Jongerden (2003) zufolge, die kurdische Bevölkerung nicht mehr als 10% der jeweiligen örtlichen Gesamtbevölkerung ausmachen. Im Rahmen dieses Gesetzes wurden zum Teil die Mitglieder einer Familie in unterschiedliche Teile der Westtürkei deportiert, um den Kontakt unter ihnen zu erschweren. Um den Assimilations- und Türkisierungsprozess zu beschleunigen, setzte der kemalistische Staat u.a. auf eine forcierte Industrialisierung und auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in der Umgebung Dersims. Ferner wurden Schulen sowie Internate gegründet, auf denen nur türkisch gesprochen und die Kinder zu einer türkischen Nationalidentität erzogen werden konnten. Mit einem zweiten Gesetz wurde im Jahre 1935 der Name Dersim im Zuge dieser Türkisierungspolitik in „Tunceli“ umgeändert. Als Folge der militärischen Durchdringung sowie der Türkisierungs- und „Zivilisierungspolitik“ an den alevitischen Zaza oder Kurden fanden in den Jahren 1937–1938 Aufstände in Dersim statt (Bruinessen 1988, Beikçi 1990, Akta 1999, Kieser 2000, Strohmeier/Yalçn-Heckmann 2003). Martin van Bruinessen (1988: 148) bezeichnet die Maßnahmen des türkischen Militärs gegen diese Aufstände als „[...] ethnocide, the destruction of kurdish ethnic identity“. Bei diesen Aufständen wurden mehrere Zehntausende von alevitischen Zaza oder Kurden umgebracht und noch mehr zu einer Umsiedlung aus dem Gebiet Dersim in weiter westlich liegende Gebiete der Türkei gezwungen. Die Zwangsumsiedlungen dauerten bis 1948 an und waren unter dem Namen „Tunceli-Gesetz“
2.3 Alevitentum
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bekannt. Dieser Aufstand gilt bis heute unter den kurdischen und türkischen Aleviten als Grund für eine Pro- und Contra-Haltung gegenüber Mustafa Kemal Atatürk. Mit der Auswanderung aus den von Sunniten isolierten Dörfern in die von der sunnitischen Mehrheit bewohnten Städte ab Mitte der 1950er Jahre wurde ein engeres Zusammenleben zwischen Aleviten und Sunniten unvermeidlich. Sie wurden für viele Sunniten, die ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen in die Städte auswanderten, infolge der begrenzten ökonomischen Ressourcen zu Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt. Die Dominanz der sunnitischen Politik und die Entwicklung einer bestimmten politischen Agenda, umschrieben durch die Theorie der türkisch-islamischen Synthese, verhinderte weiterhin die Anerkennung der Aleviten durch die sunnitische Mehrheitsgesellschaft. Nicht selten verheimlichten Aleviten bei der Arbeitssuche auf dem privatwirtschaftlichen Arbeitsmarkt oder bei der Bewerbung um öffentliche Stellen ihre alevitische Identität, um ihre Beschäftigungschancen nicht zu gefährden. Die Idee einer Synthese zwischen Islam und Türkentum gewann die Oberhand auch in den Diskussionen rechtsextremer Kreise. Die sozialistischen Strömungen fanden dagegen erhebliche Unterstützung vor allem unter Aleviten der jüngeren Generation. In Abgrenzung zum religiösen Konzept des Alevitentums verschrieben sie sich der linken Bewegung. Hierbei entwickelten sie eine kämpferische Haltung und übten Solidarität mit den Unterdrückten weltweit. Sie identifizierten sich dabei auch mit Symbolfiguren der weltlichen Geschichtsschreibung der Aleviten.34 Ausgehend von ihrer eigenen Geschichte verstanden sie sich in dieser neuen politischen Heimat als Vorkämpfer für Gleichberechtigung und Solidarität gegenüber Schwächeren. Sie lehnten die dedes ab, die die alevitische Lehre in der Glaubensgemeinschaft tradierten und dafür Abgaben oder Geschenke erhielten, und erklärten sie zu Ausbeutern der alevitischen Gläubigen. Dies führte innerhalb alevitischer Familien zu Konflikten zwischen den Generationen. Die kontinuierliche Tradierung der alevitischen Kultur wurde zu dieser Zeit einerseits durch die Angst vor der als bedrohlich empfundenen sunnitischen Mehrheitsgesellschaft unterbrochen, andererseits aber durch den Protest der jungen linken alevitischen Generation gegenüber den älteren Generationen. Durch die Unterstützung neo-kemalistischer linker Gruppierungen wurden Aleviten von islamisch-nationalistischen Türken als natürliche Verbündete der „Kommunisten“ betrachtet. Die Aleviten wurden somit im Diskurs des Nationalismus zu den „Anderen“, zu den 34
Zu den wichtigsten gehörte der alevitische Dichter Pir Sultan Abdal, der im 16. Jahrhundert in der ostanatolischen Provinz Sivas lebte und durch seinen Kampf gegen die Unterdrückung durch die osmanische Herrschaft zu einer Symbolfigur wurde. Sein Name erhielt 1993 durch das Massaker in Sivas eine weitere symbolische Bedeutung.
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
„Fremden“, und auf diese Weise zu „Feinden“ des Türkentums erklärt. Damit entwickelte sich zwischen den islamistischen Nationalisten, die vom Staat durch die türkisch-islamistische Nationalstaatsideologie unterstützt wurden, und den Aleviten, die keinen Anteil an der islamisch-türkischen Geschichte hatten, aber sich an den staatlichen ökonomischen Ressourcen und Machtressourcen beteiligen wollten, eine ähnliche Machtstruktur wie zwischen Etablierten und Außenseitern im Elias’schen Sinne, was zu einer gegenseitigen Abhängigkeit zwischen ihren Handlungen führte (Elias und Scotson 1993). In den 1970er Jahren wurde der Konflikt zwischen Aleviten und Sunniten infolge einer zunehmenden Konkurrenz um die Teilhabe an den bestehenden ökonomischen, politischen oder kulturellen Ressourcen durch Schlagworte wie dem vom Kampf zwischen „kommunistischen“ Aleviten und „faschistischen“ Sunniten verstärkt. Durch rechtsextreme Gruppierungen fanden in den Jahren 1978 und 1980 in verschiedenen, überwiegend von Aleviten bewohnten Stadtteilen35 Pogrome statt. Diese Ausschreitungen machten den linken Aleviten deutlich, dass in diesem Konflikt nicht die (politische) Identität, sondern die Religion im Vordergrund steht (Bruinessen 1997: 15). So begann die Mehrheit der Aleviten, vor allem diejenigen, die durch ihre Beteiligung an sozialistischen Organisationen erhebliche Erfahrungen mit politischen Aktivitäten gesammelt hatten, sich ab den 1980er Jahren öffentlich als „Alevi“ zu bezeichnen. Diese fanden im Alevitentum ein Ideengebäude, das ihrer Meinung nach noch gerechter und noch mehr an Gleichberechtigung und Freiheit orientiert war als der Sozialismus, und entdeckten auf diese Weise die Religionszugehörigkeit für sich wieder. Einen weiteren politischen Faktor in diesem Prozess bildete die Kurdenproblematik (Çamurolu 1998, Jongerden 2003). Als sich unter den Aleviten das Bewusstsein verbreitete, dass die Einheit ihrer Glaubensgemeinschaft durch die Aleviten mit kurdischem Hintergrund bzw. durch die nationalistischen Bestrebungen in dieser Teilgruppe beeinträchtigt wird, führte dies zu zwei unterschiedlichen Selbstdefinitionen gegenüber der herrschenden Politik: Der Laizismus stand im Gegensatz zum Islamismus und
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Bei diesen vor allem von Mitgliedern der rechtsradikalen MHP (Nationalen Bewegungspartei) initiierten Pogromen wurden zuerst in Sivas 11 Menschen am 4. September 1978 getötet (die verbreitete Rechtfertigung für dieses Progrom war die unzutreffende Behauptung, Aleviten hätten eine Moschee bombardiert und dabei 300 Menschen umgebracht), und am 19. Dezember 1978 wurde in Kahramanmara ein Anschlag auf das CHP-Gebäude verübt (CHP – Republikanische Volkspartei), den die „Ülkücü Gençlik“ (Idealistische Jugend – Graue Wölfe) der MHP organisiert hatte. Innerhalb weniger Tage wurden 111 Personen mit überwiegend alevitischer Religionszugehörigkeit umgebracht, es gab 1000 Verletzte und Hunderte von zerstörten Häusern und Geschäften. Im Juli 1980 wurden in Çorum über 50 Menschen umgebracht und 200 wurden verletzt (vgl. Jongerden 2003 und Laçiner 1985).
2.3 Alevitentum
45
die Betonung von Gemeinsamkeiten aufgrund der alevitischen Zugehörigkeit stand im Gegensatz zum kurdischen Nationalismus. Eine dritte Welle von Gewalttaten gegen Aleviten in den 1990er Jahren zeigt, dass sie in der Türkei Objekte staatlicher Diskriminierung und aus unterschiedlichen Gründen Opfer von Gewalt sind, die zum Teil von Staatsorganen toleriert oder organisiert wird. Ferner zeigen diese Gewalttätigkeiten, dass das Herausstellen einer alevitischen Identität zwar innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses manchmal gestattet ist, aber dennoch in der öffentlichen Sphäre nicht geduldet wird. Die vorhandenen schriftlichen und audio-visuellen Dokumente machen deutlich, dass lokale Autoritäten an den Massakern 1993 in Sivas36 und 1995 in Istanbul37 sowohl innerhalb der Administration als auch unter den Sicherheitskräften maßgeblich beteiligt waren. Wie Jongerden (2003: 86) feststellt: „The violent events in Sivas and Gazi made it once again clear that part of the state apparatus is siding with the extreme right and is clearly anti-Alevi, as it is also anti-Kurd.“ Diese Bedrohung wird stets neu aufgefrischt, damit sich die Aleviten, wie viele andere unterdrückte Minderheitsgruppen, permanent kontrolliert fühlen. Jedes Jahr werden in der Umgebung dieser Orte von früheren Anschlägen „Sicherheitsmaßnahmen“ seitens der Sicherheitskräfte getroffen, wobei viele der in diesen Stadtteilen wohnenden Aleviten bei Straßenkontrollen oder Hausdurchsuchungen inhaftiert werden. Zusammenfassend können die Anschläge und Pogrome an den Aleviten seit den 1970er Jahren als ein Ausdruck der Etablierung von Mitgliedern der sunnitischen Gemeinschaft im Staatsapparat erklärt werden. (vgl. Çakr 1998, Bozarslan 2003, Jongerden 2003) Im Zuge der Wiederentdeckung der alevitischen Zugehörigkeit begann der Versuch einer kollektiven Neudefinition des Alevitentums. Dabei sind unterschiedliche Auffassungen38 erkennbar. Diejenigen, die sich als dem Islam zugehörig, aber nicht als Muslime definieren39, sehen das Alevitentum als den „wahren“ Islam an. Eine dazu konträre Auffassung beruft sich auf eine religionssoziologische Begriffsunterscheidung und betrachtet das Alevitentum als
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Am 2. Juli 1993 wurden auf dem Pir-Sultan-Abdal-Kulturfestival (ein zur Symbolfigur gewordener alevitischer Dichter) in Sivas 37 Menschen durch einen Brandanschlag in einem Hotel ermordet. Das Massaker am 12. März 1995 fand im überwiegend von Aleviten bewohnten Istanbuler Stadtteil Gazi statt. Videoaufnahmen der einige Tage andauernden Eskalationen zeigen, dass Polizisten gezielt in die Menschenmenge schossen und den Tod von Demonstranten damit billigend in Kauf nahmen. Für eine detaillierte Darstellung dieser unterschiedlichen Auffassungen siehe Vorhoff (1995: 93-105), Kehl-Bodrogi (1996: 58ff), Çamurolu (1997), Dressler (2002). In diesem Verständnis steht der Begriff ‚Islam’ für die Zeit vor der Spaltung der islamischen Glaubensgemeinschaft und der Ausdruck ‚Muslime’ für die Sunniten als Glaubensrichtung.
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2 Sunniten und Aleviten in der Türkei
einen heterodoxen Glauben40 und als „universalistisch“ orientiert. Nach einer anderen, dem Nationalismus nahe stehenden Haltung wird das Alevitentum als eine türkische Religion oder als der türkische Islam41 betrachtet. Einer weiteren Auffassung gemäß, die oft mit einer soziologischen Betrachtungsweise verknüpft ist, gilt das Alevitentum als eine besondere Lebensform mit einer eigenen Gesellschaftsordnung und charakteristischen kulturellen und künstlerischen Formen, der auch eine charakteristische Weltsicht zugrunde liegt. Demnach sei das Alevitentum eine humanistisch-revolutionäre Ideologie42. Karin Vorhoff (1995: 105) stellt für diese unterschiedlichen Ansichten zusammenfassend fest, dass eine an ihrem Anfang zunächst religiöse Opposition mit einer spezifischen sozialen Trägerschaft zu einer „Lebensphilosophie“ wurde, die eine „politischoppositionelle Aktivität“ fordert. Martin Sökefeld (2008) zufolge stützt sich die alevitische Selbstidentität hauptsächlich auf den Unterschied gegenüber den Sunniten und betrachtet vor dem Hintergrund der eigenen Identität die o.g. unterschiedlichen Standpunkte als überkreuzende Identitäten bzw. Unterschiede.
2.3.4 Die Stellung der Frau im Alevitentum Nach dem Ideal von Gleichheit, Gerechtigkeit und der Achtung vor dem Menschen beim Alevitentum können sowohl Männer als auch Frauen ihre volle Teilnahme an religiösen Handlungen als Gläubige nur dann erreichen, wenn sie zusammen mit einer Frau bzw. einem Mann, also mit einem Ehepartner anderen Geschlechts, die Regeln des Zusammenlebens und die Verhaltensforderungen nach der alevitischen Lehre befolgen. Die alevitische Glaubensgemeinschaft wird besonders in Bezug auf den Umgang mit ihren Frauen auf vorislamische, alttürkische Traditionen („Schamanismus“) zurückgeführt (Noyan 1987, Zelyut 1990, Kehl-Bodrogi 1988a, 1988b, Bozkurt 1990, Bal 1997). So wird vor allem durch die gemeinsame Teilnahme beider Geschlechter an den Cem-Versammlungen, also durch das Fehlen einer strengen Geschlechtertrennung, ein Unterschied zu den orthodoxen Sunniten sichtbar. Nach Kehl-Bodrogis Ansicht (1988a: 225) ist die Frau im soziokulturellen Leben der Aleviten im Vergleich zu
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Besonders Çamurolu (1992) wird zu den Vertretern dieser Auffassung gezählt. Diese türkisch-nationalistische Auffassung des Alevilik wurde besonders seit der Gründung der türkischen Republik bei den Kemalisten prominent vertreten. Das Alevilik stammt nach dieser Auffassung von „früheren Türken“ ab, die dem Schamanismus der vorislamischen Zeit zuzurechnen sind. Besonders Autoren wie Sezgin (1991: 115), Noyan (1987), Türkdoan (1995) und Bal (1997) sind Vertreter dieser Auffassung. Für eine detaillierte Darstellung dieser Auffassung siehe Eyüpolu (1989), ener (1989), Zelyut (1990), Yörükolu (1990).
2.3 Alevitentum
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den Sunniten oder auch zu vergleichbaren esoterischen Glaubensgemeinschaften des vorderasiatischen Raumes mit dem Mann gleichberechtigt (mit einer Ausnahme, nämlich der Vererbung der religiösen Ämter nur in der männlichen Abstammungslinie). Die Autorin weist darauf hin, dass dies durchaus keine Selbstverständlichkeit sei, wenn man die diesbezüglichen Traditionen anderer – moslemischer, christlicher oder auch heterodoxer – Glaubensgemeinschaften in Betracht ziehe. Als Unterscheidungsmerkmal zum orthodoxen Islam wird vor allem das fehlende Schleiergebot in der alevitischen „Kultgemeinschaft“ hervorgehoben.43 Analog zum religiösen Leben wird auch in der sozialen Praxis der Status der alevitischen Frau stets in Abgrenzung zur (orthodox-)sunnitischen Frau definiert und wahrgenommen. Wenn auch nicht in dem starken Maße wie im urbanen Raum, stehen auch die alevitischen Frauen in ländlichen Gebieten hinsichtlich ihrer Position in der Glaubensgemeinschaft in einer Art Gegenposition zu ‚den’ sunnitischen Frauen. Dabei spielt auch hier die Binnenmigration seit den 1950er Jahren aus den (alevitischen) Dörfern in die von der sunnitischen Mehrheit dominierten Städte eine bedeutsame Rolle. Durch die Binnenmigration und die Konfrontation der alevitischen Minderheitsgruppe mit der dominierenden sunnitischen Mehrheitsgruppe im urbanen Raum erhielten die Frauen eine herausragende symbolische Rolle für die sozial-religiöse Grenzziehung zwischen beiden Gruppen. Zum Teil führte dies zu einer verstärkten familialen Kontrolle und Selbstkontrolle der alevitischen Frau in der Öffentlichkeit, um als Alevitin nicht aufzufallen bzw. nicht stigmatisiert zu werden. Kehl-Bodrogi (1988a: 226, 1988b: 34) weist allerdings darauf hin, dass die alevitische Gesellschaft weit davon entfernt sei, eine Gesellschaft der egalitären Geschlechterbeziehung zu sein. Wenn auch die alevitischen Frauen im Vergleich zu ihren sunnitischen Geschlechtsgenossinnen im täglichen Leben weitaus größere Freiheiten haben, was man rein äußerlich z.B. am Fehlen des Verschleierungsgebots ablesen könne, weist die alevitische Gesellschaft, der Autorin zufolge, die gleichen patriarchalen Strukturen auf wie die sie umgebende sunnitisch geprägte Umwelt (Pfluger-Schindlbeck 1989, Vorhoff 1999). Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass die Stellung der alevitischen Frau im sozialen 43
Die Unverschleiertheit der alevitischen Frau wurde von christlichen Reisenden und Missionaren schon im 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts aus Anatolien berichtet. Das Alevitentum (oder Kzlba) wurde daher als „a religion different from Islam“ (Rensselaer Trowbridge 1909: 340) betrachtet, unter deren Anhängern „(t)he women are allowed much more freedom than amongst Sunni Moslems, and, except in presence of a Sunni, do not veil.“ (Sir Charles Wilson in einer Diskussion mit Crowfoot 1900: 319). Zugleich und parallel wurden neben den Unterschieden zwischen dem orthodoxen Islam und den Aleviten die Ähnlichkeiten zwischen dem Christentum und Alevitentum hervorgehoben. (vgl. White 1918, Kieser 2000)
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Leben einerseits im Kontext des türkischen Staates gesehen werden sollte und andererseits im Kontext einer weit über die türkische Gesellschaft hinaus reichenden patriarchalen Gesellschaftsordnung betrachtet werden muss. In Bezug auf urbanes und ländliches soziales Leben zeigen wissenschaftliche Untersuchungen beträchtliche Unterschiede für die alevitischen Frauen auf. So stellte Ingrid Pfluger-Schindlbeck (1989) bei ihrer Studie in einem alevitischen Dorf fest, dass die Dorfbewohner die Gleichheit von Mann und Frau immer durch Argumente bekräftigen, die dem aus der Religion entnommenen Gleichheitsideal entsprechen, wenn sie sich vor allem von den Sunniten abgrenzen wollen. Die Erziehung zur Eigenverantwortung macht einen wichtigen Teil des Erziehungskonzeptes der alevitischen Glaubensgemeinschaft aus. Demnach bestehe die übergeordnete Aufgabe von Erziehung darin, die Eigenverantwortung beider Geschlechter ihren geschlechtsspezifischen Rollen gemäß zu fördern. Hauptsächlich erwarte man von der Frau in ihrer mütterlichen Rolle, dass sie besonders ihrer Tochter die grundlegenden Muster der Frauenrolle und die gemeinschaftlichen Wertvorstellungen beibringe. Während sich mit zunehmendem Alter die Aufgaben der Mutter gegenüber dem Sohn auf die körperliche Fürsorge beschränken, bleibe die mütterliche Erziehungskompetenz bei der Tochter uneingeschränkt. „Vorrangiges Ziel ist eine immer größer werdende Arbeitsbereitschaft des Mädchens sowie perfekte Körperbeherrschung und -kontrolle“ (ebd.: 174). In Bezug auf die Geschlechterbeziehung stellt Ayse Güne-Ayata (o.J.) nach den Ergebnissen ihrer Studie unter Angehörigen der alevitischen und sunnitischen Arbeiterklasse Ende der neunziger Jahre in Ankara fest, dass die demokratische und egalitäre Familienideologie innerhalb der Aleviten eine erhebliche Wirkung auf die Familienstruktur habe. „Even though there is no egalitarian sharing of the household chores and sex role segregation is very strict, Alevi women have a slightly better position in terms of involvement in public life. While in Sunni families almost all decisions, from consumption to women working, are taken predominantly by the husband. Alevi women have more say in family decisions, such as those regarding their children’s schooling, marriage and so on—in some cases, even, fathers admit that it is their wives who take the decisions.“ (Güne-Ayata o.J.: 12)
Wie zwischen den Ehepaaren stellt die Autorin auch zwischen Eltern und Kindern eine relativ gleichberechtigte Beziehung fest, durch die die Kinder in ihren sozialen Kontakten emanzipierter seien, Mädchen mehr Wertschätzung
2.3 Alevitentum
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und Jungen weniger Privilegien genössen.44 Anders als diese beiden Studien, nach denen die alevitischen Frauen durch eine etwas freiere und gleichberechtigtere Stellung sowohl in der eigenen Familie als auch in ihrer Gesellschaft eine relativ bessere Position im Vergleich zu sunnitischen Frauen zu haben scheinen, macht Karin Vorhoff (1999) kritisch darauf aufmerksam, dass die Perspektive der alevitischen Frau bei der Darstellung ihrer gesellschaftlichen Situation nicht berücksichtigt wurde und weist zu Recht auf die Defizite der betreffenden empirischen Arbeiten hin. Die Aussagen stammten meistens von Männern und drücken nicht die Empfindungen und Deutungen der Frauen aus. Die Frauen würden nicht nur durch Bezeichnungen wie „Schwester“ und „Mutter“ durch die Männersprache definiert, sondern auch ihre Mitwirkung an den zwölf Diensten45 in den cem sei nicht, wie behauptet, gleichberechtigt, sondern geschlechtsspezifisch organisiert. Dabei stehe die Frau nicht oder nicht in einer ähnlichen Weise im Vordergrund wie der Mann. Die Stellung der Frau werde stets in einer Verkoppelung mit einem moralischen Konzept thematisiert, das sich gleichsam den „Anderen“ gegenüber verteidigen, wenn nicht sogar durchsetzen muss. So werde „Kultur“ vorwiegend als ein System von Religionsoder Glaubenssymbolen verstanden (Berktay 1995, Vorhoff 1999). Anders ausgedrückt, hänge die Repräsentation der alevitischen Frau anhand eines moralischen Konzepts und ihre Anerkennung in ihrer eigenen Gesellschaft von der Existenz der sunnitischen Frau ab, da diese als ein Gegenbild für sie dient, mit dem sie verglichen wird. Sie bilden miteinander eine Beziehungsverflechtung (eine Figuration im Elias’schen Sinne), die m.E. beide Gruppen von Frauen daran hindert, sich von der männlichen Definition der Geschlechterbeziehung zu distanzieren, einen anderen Blickwinkel für ihre gesellschaftliche Positionierung zu entwickeln und sich mit ihrer durch das städtische Leben verändernden Stellung in ihrer Glaubensgemeinschaft konkreter auseinanderzusetzen.
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Prozentual sehe es so aus, dass bei den Alevi 38,7 %, bei den kurdischen Alevi 46,7 % und bei den türkischen Sunni 66 % die Söhne im Vergleich zu ihren Töchtern bevorzugten (GüneAyata o.J.: 11). Auf dem cem gibt es zwölf Dienste, die unter zwölf Personen aufgeteilt werden. Diese Dienste symbolisieren die Aufgaben der Imame, die durch Ali zu seiner Zeit verteilt worden seien. Den Frauen werden in der Regel die Dienste der„Köchin“, „Dienerin“ oder „Fegerin“ zugewiesen.
3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland 3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
3.1 Migration der Frauen aus der Türkei nach Deutschland 3.1 Migration der Frauen aus der Türkei nach Deutschland Die türkische Arbeitsmigration nach Deutschland46 begann nach dem Abkommen beider Länder im Jahre 1961. Zu Beginn kamen überwiegend Männer ohne ihre Familien. Viele Frauen standen dabei jedoch oft als treibende Kraft hinter der Auswanderung oder kamen auch selber, schon zu Beginn der Arbeitsmigration, als Pionierinnen innerhalb ihrer Familien nach Deutschland. Allerdings wurden sie in der Migrationsforschung bis Ende der Achtzigerjahre kaum in dieser Rolle wahrgenommen. (Nauck 1988) Auch die Herkunftsbedingungen der Frauen, die „zugleich einen direkten Einfluss auf den individuellen Zeitpunkt der Migration, die Form der familiären Wanderungssukzession und auf die späteren Eingliederungsprozesse nehmen“ (Nauck 1988: 511), wurden erst zu dieser Zeit in der Migrationsforschung berücksichtigt. So zeigt die Untersuchung von Özel und Nauck (1987), dass die Pionierinnen unter den Migrantinnen über eine autonome Entscheidungsmacht verfügen und stark zur Strukturflexibilität im Familienleben beitragen. Dies sei jedoch mit einer hohen Konfliktanfälligkeit in der ehelichen Beziehung verbunden. Einige Untersuchungen belegen auch, dass sich die familiären Interaktionsstrukturen schon zum Teil vor der Einwanderung verändern (Wilpert 1987). Die Neuorganisation von sozialen Netzwerken, von Familien- und Verwandtschaftssystemen wurde entsprechend in den späten Achtzigerjahren zunehmend zum Gegenstand 46
Der Fokus dieser Ausführung ist aufgrund der Besonderheit der vorliegenden Studie auf die Frauen aus der Türkei gerichtet. Seit Beginn der Nachkriegs-Arbeitsmigration nach Deutschland sind fast 50 Jahre vergangen und mittlerweile gibt es zahlreiche Literatur zu den Themen Migration und MigrantInnen. Anders als die entstandenen Arbeiten sind die konzeptionellen Ansätze ziemlich übersichtlich. Hier möchte ich besonders auf folgende Arbeiten hinweisen: Hoffmann-Nowothny (1973), Esser (1980), Hoffmann-Nowothny/Hondrich (1982), Esser/ Friedrichs (1990), Wilpert (1980) Blaschke (1985), Morokvasic (1987), Heckmann (1987;1992) Nauck (1988), Hettlage (1988), Bukow/ Llaoryora (1988), Dittrich/ Radtke (1990) Bukow (1996) Schiffauer (1991), Lutz (1991), Apitzsch (1990; 1993; 1994), Bade (1992; 1993; 1996) Inowlocki (1993; 1995) Sassen (1995; 2001), Pries (1996; 1999), Faist (1999; 2000), Breckner (2005). Für eine ausführliche Darstellung der Migrationsforschung siehe Treibel (1990) Breckner (2001) und Oswald (2007). Für die Migrationsforschung mit biographischem Ansatz siehe Kapitel 4.2 der vorliegenden Untersuchung.
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3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
empirischer Forschung (Nauck 1988: 505). Darüber hinaus beeinflussten auch die türkischen und deutschen Gesetze die Form der (Arbeits-)Migration sowie die strukturelle Wandlung der Familien bzw. das Leben der Frauen, und zwar bereits schon im Herkunftsland mit der Entscheidung der Migration (Nauck 1988) (Zuzug der Kinder, Kettenmigration, Arbeitserlaubnis des Ehepaares). Der Frauenanteil bei den ArbeitsmigrantInnen aus der Türkei lag im Jahre 1965 in der Bundesrepublik Deutschland bei 12%. Bis zum Anwerbestopp im Jahre 1973 waren ca. 26% der insgesamt weit über 800.000 legal zur Arbeitsaufnahme aus der Türkei Eingereisten Frauen (Erylmaz 1998, Jamin 1998). Der Frauenanteil lag zu dieser Zeit in Berlin, wo der Bedarf nach Arbeiterinnen groß war, bei über 40% unter den aus der Türkei stammenden Menschen (Gitmez/Wilpert 1987). Frauen aus der Türkei arbeiteten in Bayern und BadenWürttemberg überwiegend in der Elektro-, Bekleidungs- und Textilindustrie sowie im Dienstleistungssektor, dort insbesondere als Krankenschwestern. Sie konnten im Vergleich zu Männern meist ohne längere Wartezeiten nach Deutschland einreisen, da die Nachfrage nach weiblichen Arbeitkräften sehr groß war. Diese Begünstigung und die Zulassung vom türkischen Arbeitsamt reichten allein jedoch nicht aus, um eine sichere Arbeitsstelle zu finden. Sie mussten – wie die Männer auch – in Istanbul eine von deutschen Ärzten durchgeführte gesundheitliche Untersuchung erfolgreich durchlaufen.47 Etwa die Hälfte der Frauen, die einen Antrag auf einen Arbeitsplatz in Deutschland stellten, kam aus städtischen Gegenden. In der Regel mussten ledige Frauen das 18. Lebensjahr vollendet haben, um sich bewerben zu können. Wenn sie jünger waren, mussten sie eine notariell beglaubigte Einverständniserklärung der Eltern vorweisen. Demgegenüber hatten verheiratete Frauen, so Erylmaz (1998), mehr Hindernisse zu überwinden: Sie mussten sich (möglicherweise) gegen Ehemann und Verwandtschaft durchsetzen und eine Bescheinigung über das Einverständnis des Ehemannes48 beim türkischen Arbeitsamt vorlegen. Zur Beseitigung dieses Problems wurden 1965 beim türkischen Arbeitsamt einige Maßnahmen getroffen. Nun musste der Ehemann, falls er gegen die Arbeitsbeschäftigung seiner Frau Einwände hatte, seinen Einspruch gegen die Migration seiner Ehefrau nach Deutschland dem türkischen Arbeitsamt schriftlich mitteilen. Selbst im letzteren 47
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Diese ärztlichen Untersuchungen wurden nicht nur hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit der BewerberInnen, sondern auch zum Schutz der deutschen Bevölkerung aus seuchenhygienischen Gründen vorgenommen (vgl. Jamin 1998: 73). Erylmaz (2002) zufolge sind nicht wenige BewerberInnen bei diesen Untersuchungen durchgefallen. Sie mussten ihre Hoffnung aufgeben und wieder nach Hause zurückkehren bzw. versuchten zum Teil durch Menschenhändler nach Deutschland zu gelangen. Bis zu der Gesetzesänderung im Jahre 2001 mussten verheiratete Frauen in der Türkei nach dem aus der Schweiz übernommenen Familienrecht das Einverständnis ihrer Ehemänner haben, um berufstätig werden zu können.
3.1 Migration der Frauen aus der Türkei nach Deutschland
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Fall konnte eine verheiratete Frau dennoch nach Deutschland kommen, wenn sie durch eine gerichtliche Verfügung die Dringlichkeit ihrer Erwerbstätigkeit nachweisen konnte. Durch diese Maßnahmen änderte sich die Proportionalität von ledigen und verheirateten Frauen, die nach Deutschland einwanderten. Während 1964 unter den türkischen Arbeitsmigrantinnen rund 45% verheiratet und ungefähr 40% ledig waren, betrug 1972 der Anteil der ledigen Frauen nur noch 22% und der Anteil der verheirateten stieg auf 78% an. Gründe dafür liegen neben der Familienzusammenführung auch darin, dass einige Frauen die Arbeitsmigration als Möglichkeit sahen, um aus unglücklichen Ehen – in legitimer Weise – ausbrechen zu können.49 Anders als die allein nach Deutschland einreisenden Arbeitsmigranten befanden sich die Frauen jedoch immer unter Beobachtung ihrer Landsleute sowie der türkischen und deutschen Öffentlichkeit. „Mit Verhaltensweisen als Anlage zum Arbeitsvertrag und strengen disziplinarischen Auflagen in den Hausordnungen der Wohnheime wurden sie stets hinsichtlich des Verhaltens gegenüber den Männern ermahnt […] Freundschaften mit Männern, insbesondere mit deutschen und amerikanischen Männern, wurden als Frage der nationalen Ehre der Türkei betrachtet: von Landsleuten und Verwandten, die sich als Hüter der Ehre verstanden, wurden diese Frauen ständig bedroht.“ (Erylmaz 1998: 136)
Nach dem Anwerbestopp kamen Frauen hauptsächlich über die Familienzusammenführung nach Deutschland.50 Seitdem kann eine stetig fließende Heiratsmigration aus der Türkei nach Deutschland beobachtet werden. Nauck (1988) spricht im Zusammenhang mit dem Heiratsverhalten der zweiten Generation von sozialen Netzwerken innerhalb der Migrantengruppen, welche für die Stabilität eines minoritätenspezifischen Heiratsmarktes in der Aufnahmegesellschaft sorgen.51 Bis in die 1990er Jahre erhielten die nachgezogenen EhepartnerInnen der hier niedergelassenen MigrantInnen eine bis zu vier Jahre dauernde Arbeitssperre. Dies hat vor allem deren Familienstrukturen beeinflusst, wie dies auch bei den Falldarstellungen der vorliegenden Arbeit zu sehen ist. Die Lebensbedingungen der Frauen aus der Türkei in Deutschland waren in den folgenden
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Morokvasic (1987) stellt ein ähnliches Phänomen bei der Migration der Frauen aus Jugoslawien nach Deutschland fest. Da für die vorliegende Untersuchung nicht relevant, werden Frauen, die aus politischen Gründen oder zum Zwecke des Studiums selbstständig nach Deutschland kommen, nicht berücksichtigt. Nach Angaben des TBB (Türkischer Bund Berlin-Brandenburg) (2005) wurden im Jahre 2002 bei ca. 60% der Eheschließungen unter den türkischen MigrantInnen die Frauen aus der Türkei nach Deutschland gebracht.
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3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
Jahren nicht nur durch gesetzliche Regelungen geprägt, sondern auch durch gesellschaftliche und soziale Diskurse.
3.2 Sunniten in Deutschland 3.2 Sunniten in Deutschland Der türkisch-sunnitische Islam52 hat sich in den sechziger Jahren weitgehend als Kultur- und Solidaritätsverein, entsprechend der Lebenssituation der ArbeitsmigrantInnen, organisiert. Die Institutionalisierung des türkischen Islams53, Anfang der siebziger Jahre, führt Blaschke (1985: 298) auf die Niederlassung der ArbeitsmigrantInnen und damit zusammenhängend auf die Familienzusammenführung zurück. Durch die Institutionalisierung würden die ArbeitsmigrantInnen selbst ihren religiösen Pflichten Genüge tun, so der Autor, und die religiöse Erziehung ihrer Kinder in der fremden Umgebung sichern. Diese Phase sei, Blaschke (1985: 338) zufolge, durch die Transposition religiöser und politischer Verbände aus der Türkei und durch den Ausbau von islamischen Organisationen in der Migration geprägt. Der Autor ist der Auffassung, dass das Ende der siebziger Jahre den Übergang von Arbeitsmigration zur Etablierung der MigrantInnengruppen aus der Türkei, damit auch die Etablierung der islamischen Organisationen – besonders in Berlin – ausmache. Der türkische Islam habe sich in diesen verschiedenen Stufen des Migrationsprozesses sehr verändert. Dies sieht der Autor im Zusammenhang mit den Erkenntnissen aus der Migrationsforschung in den USA, d.h. im Zuge der Migrationsbewegung würden sich auch die Handlungsfelder der Betroffenen verändern. Dieser soziale Wandel bestimme auch Veränderungen religiöser Praktiken und Vorstellungen sowie des Netzwerks religiöser Organisationen. „Tradierungen, Revitalisierungen und Neubildungen kennzeichnen den Islam türkischer Arbeitsimmigranten in der Bundesrepublik Deutschland. Für diesen sozialen Wandel waren sowohl die Entwicklungen im Herkunftsland als auch Veränderungen im Zuwanderungsmilieu von Bedeutung.“ (Blaschke 1985: 357)
Die sunnitisch-türkischen islamischen Vereinigungen in Deutschland wurden seit Beginn ihrer Existenz von den türkischen Parteien oder direkt vom türkischen 52
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In der Literatur werden unterschiedliche Bezeichnungen verwendet, um den sunnitischen Islam, der von den aus der Türkei stammenden MigrantInnen praktiziert wird, zu benennen: der türkisch-sunnitische Islam, der sunnitische Islam, türkischer Islam, türkische Muslime. Es wird hier als Kontextinformation nur ein kurzer Überblick gegeben. Die Institutionalisierung des türkischen Islams an sich ist ein eigenständiger Arbeitsschwerpunk. Für die detaillierte Ausführung siehe beispielsweise Blaschke (1985), Gür (1993), (Spuler-Stegemann 1998), Lemmen (2000), Schiffauer (2000).
3.2 Sunniten in Deutschland
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Staat unterstützt. Vor diesem Hintergrund wirkte sich jede politische Veränderung in der Türkei auch in Deutschland aus (Spuler-Stegemann 1998). Es wurden viele islamische Gruppierungen unter den unterschiedlichen islamischen Strömungen gegründet. Islamische Gruppen unterscheiden sich in Bezug auf die Frage nach der Auffassung des islamischen Dogmas. Mit ihren jeweils unterschiedlichen Auffassungen versuchen sie, die sunnitischen ArbeitsmigrantInnen anzusprechen, sie für sich zu gewinnen und von ihnen als Sprecher anerkannt zu werden (Schiffauer 2000: 321). Neben der Einflussnahme der offiziellen türkischen Politik in die Entwicklung der islamischen Organisationen in Deutschland spielten Anfang der 1980er Jahre die Konfrontation zwischen links und rechts und die so genannte Kopftuchdebatte eine entscheidende Rolle (Blaschke 1985: 333). Es lässt sich in diesem Zusammenhang betonen, dass die Kopftuchdebatte unter den MigrantInnen aus der Türkei ein politisches Thema war, bevor die deutsche Öffentlichkeit begann, sich damit auseinanderzusetzen. Besonders ist hierbei jedoch hervorzuheben, dass diese Debatte in beiden Kontexten mit unterschiedlichen Inhalten geführt wurde/wird und damit jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Probleme symbolisiert(e). Mit dem Zerfall des sozialistischen Ostblocks und vor allem nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde Religion zu einem transnational bedeutenden Thema. Anders ausgedrückt: MigrantInnen aus der Türkei waren zwar bereits seit den sechziger Jahren durch ihre religiösen Unterschiede als nicht integrierbare MigrantInnengruppe etikettiert, die erwähnte globale Veränderung jedoch verschärfte diese Position. Die rassistischen Angriffe auf die nicht-deutschen bzw. nicht-christlichen Minderheiten in Deutschland, welche sich besonders nach der Wende verstärkten, trugen zu einem stärkeren nationalen und religiösen Bewusstsein der MigrantInnen und deren Kinder bei. Die Entwicklung der sogenannten Hinterhof-Moscheen kann in diesem Zusammenhang auch als eine Auswirkung dieser gesellschaftlichen Veränderungen in der Einwanderungsgesellschaft betrachtet werden. Im Zuge dieser Veränderungen gerieten Kinder und Enkel der so genannten Gastarbeiter zunehmend in den Blick der Öffentlichkeit. Ethnisierung und Kriminalisierung dieser Folgegenerationen dominieren in der Presse der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Der von Huntington (1996) geprägte Begriff „Kampf der Kulturen“ stellte die Konfrontation zwischen dem freien Westen und dem Islam gegenüber. Demzufolge würde diese Konfrontation in der westlichen Welt als das Thema in den nächsten Jahrzehnten bestimmend. Eine Studie, die sich dieser Sicht anschließt, trägt den Titel „Verlockender Fundamentalismus“ (Heitmeyer et al. 1997) und beschreibt die Islamisierungstendenzen unter Jugendlichen türkischer Herkunft. Ebenfalls wird in den Mediendiskursen deutlich, „wie sehr die internationale und die nationale Debatte übereinstimmt“ (Rommelspacher 1999: 21). Beispielsweise
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3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
startete der Spiegel (der Spiegel 1997/16) mit dem Slogan „Gefährlich Fremd“ eine Schriftenreihe, die vor Ausländern im Allgemeinen und vor den Gefährlichen im Besonderen warnt. Ebenso prägt diese Debatte oder diese Stigmatisierung die Vorstellung über die in der Schule versagenden türkischislamischen Jugendlichen wie auch das Bild der im Kindesalter Kopftuch tragenden, Koran lesenden, unterdrückten Mädchen in Berlin-Kreuzberg. Somit werden nicht nur der Islam als Religion, sondern auch islamisch orientierte Lebensweisen zum gesellschaftlichen Feindbild erklärt. Die Ereignisse vom 11. September 2001 stellen sowohl für die muslimischen MigrantInnengruppen als auch für den Umgang der Einwanderungsgesellschaft mit diesen einen Wendepunkt dar. Die praktizierenden (männlichen) Muslime wurden aus der Sicht der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft immer mehr als potenzielle Kriminelle betrachtet. Das Kopftuch wurde zunehmend im öffentlichen Dienst verboten. Die islamischen Organisationen reagieren auf dieses wachsende Misstrauen ihnen gegenüber mit Veranstaltungen, wie zum Beispiel dem „Tag der Offenen Tür“, um der Mehrheitsgesellschaft ihre Offenheit und Integrationsfähigkeit sowie Nicht-Gefährlichkeit zu demonstrieren. Jedoch glauben sie nicht daran, von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. Folgende These formulierte Bekir Alboa (2005), der interreligiöse Dialogbeauftragte von DITIB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. / Diyanet Ileri TürkIslam Birlii), auf der mit „Islam einbürgern“ betitelten Fachtagung der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (2005): „Weder durch eine bloße warnende Rede von sog. ,Parallelgesellschaften‘ oder einer sog. ,Leitkultur‘, noch durch eine Beschwörungsformel vom Scheitern der ,multikulturellen Gesellschaft‘ kann man den Islam einbürgern.“ (Alboa 2005:104)
3.2.1 Türkisch- Islamische Institutionen in Deutschland Metin Gür (1993) zufolge gab es 1969 bundesweit insgesamt nicht mehr als drei islamische Gemeinden. 1990 gab es bundesweit über 1.500 von Gemeinden getragene türkisch-sunnitische islamische Vereinigungen. Die Kategorisierungen in Einrichtungen, Vereine und Ortsgemeinschaften machen es schwierig, eine gegenwärtige Zahl dieser Vereinigungen festzulegen. Diese Vereinigungen gehören zu den Dachverbänden, die in ihren organisatorischen Zusammensetzungen zentralistische, dezentralistische und föderative Strukturelemente integriert haben. Zu den wichtigsten – und für die in dieser Studie interviewten Mütter und Töchter bedeutenden – gehören die bereits erwähnte DITIB und
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Islamische Gemeinschaft Milli Görü e.V. (IGMG).54 Diese Organisationen stehen in Konkurrenz zueinander, da beide den Anspruch erheben, die türkischislamischen MigrantInnen in Deutschland zu repräsentieren (Schiffauer 2002). Gerade die Diskussion über die Zuständigkeit für den seit 2000 in den Schulen stattfindenden Islamunterrichtet wird somit immer wieder aufgenommen. Im Folgenden stelle ich diese beiden größten türkisch-islamischen Organisationen vor. Die mit Abstand größte türkisch-islamische Organisation ist die im Jahre 1984 in Köln gegründete DITIB. Der Dachverband DITIB repräsentiert 776 Vereine (Lemmen 2000) und vertritt über 70% der organisierten türkischen Muslime und damit mehr als die Hälfte der organisierten türkischen Sunniten in Deutschland (Alboa 2005). Die DITIB fungiert als ausländische Vertretung des DIB. Dabei handelt es sich um eine direkt dem türkischen Ministerpräsidenten unterstellte Behörde zur Verwaltung aller Angelegenheiten der islamischen Religion und ihrer Ausübung. Das DIB bietet für die sunnitischen Staatsbürger im Ausland diverse Dienste an, wie z.B. die Organisation von Moscheen, Bildungs- und Sozialdiensten, religiöse Veröffentlichungen sowie die Vorbereitung von Pilgerfahrten nach Mekka. Es stellt für die DITIB hunderte von MitarbeiterInnen (Imame und Religionsbeauftragte) zur Verfügung, die vom türkischen Staat finanziert werden (Spuler-Stegemann 1998). Wie die anderen Verbände bietet die DITIB darüber hinaus zahlreiche weitere Angebote im religiösen und sozialen Bereich an, wie z.B. die Organisation oder die Durchführung von Kursen und Fortbildungsangeboten für Frauen und Jugendliche. Im Gegensatz zu dem weit verbreiteten Wissen über die organische und religionspolitische Verbindung zum türkischen Staat bezeichnet die DITIB dies als „ein falsches Image in der Öffentlichkeit“ (Alboa 2005: 103). Demnach sei die DITIB ein nach dem deutschen Gesetz gegründeter Dachverband und werde von einem in Deutschland gewählten Vorstand aus Köln regiert. Alboa (2005) zufolge hole die DITIB sich jedoch aus zwei Gründen Imame und Religionsbeauftragte aus der Türkei nach Deutschland. Zum einen wüssten sie, wie diese ausgebildet seien und mit welchen Inhalten sie ihre Predigten halten würden. Zum anderen habe die DITIB davon einen erheblichen finanziellen Vorteil, da diese Imame als Angestellte des DIB ihr Gehalt vom türkischen Staat bekämen. 54
Weiterhin zu nennen sind: Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ), Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (ADÜTDF – die Grauen Wölfe), Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (ATIB), Föderation der Weltordnung in Europa (ANF) Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (ICCB – die Kaplan-Gruppe) (Lemmen 2000). Letzterer wurde nach der internen Auseinandersetzung als erste radikale Abspaltung der Nationalen Sicht 1983 von Cemalettin Kaplan gegründet. Werner Schiffauer (2000) hat zu der Entstehung und Entwicklung dieser Organisationen eine umfangreiche Studie durchgeführt.
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3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
In seiner folgenden Aussage impliziert Alboa eine Verantwortungsverschiebung an die deutsche Staatspolitik. „Wenn eines Tages in Deutschland genug, d.h. flächendeckend und ausreichend, Imame ausgebildet werden, die unser Verständnis von Islam vertreten und vermitteln, dann werden wir diese Imame in unseren Moscheegemeinden und Einrichtungen anstellen. Selbstverständlich müsste auch die Frage der Finanzierung dieser Imame und des Lehrpersonals gelöst bzw. geregelt werden.“ (Alboa 2005: 105)
Die zweitgrößte türkisch-islamische Organisation, die zu dem politisierten Islam gezählt wird und den Ruf hat, die radikalste unter den islamischen Gemeinden türkischer ArbeitsmigrantInnen in Deutschland zu sein, ist unter der Bezeichnung Milli Görü (Nationale Sicht) bekannt. Diese Organisation hat eine längere und „komplizierte Entstehungsgeschichte“ (Lemmen 2000: 27, Schiffauer 2000). Nach häufiger Umbenennung tritt sie seit 1995 als bestehende „Islamische Gemeinschaft Milli Görü e.V.“ (IGMG) in der Bundesrepublik Deutschland auf. Die Vorläufer-Organisation(en) fungiert(en) als europäischer Zweig der islamischen Nationalen Heilspartei (MSP) und ihrer Nachfolgeorganisation, der Wohlfahrtspartei (RP) des Necmettin Erbakan in der Türkei. Diese Partei verfolgte das Projekt einer Islamisierung der Gesellschaft durch parlamentarische Arbeit. Die organische Verbindung zwischen Milli Görü und der damaligen Wohlfahrtspartei wurde/wird von den Vertretern des Verbandes bestritten bzw. verschleiert. Lemmen (2000) zufolge zeigen sich die Beziehungen zwischen beiden Organisationen von anderer Art, als sie etwa beim DIB und der DITIB festzustellen sind. „Sie beruhen nicht auf direkten organisatorischen Verbindungen, sondern vielmehr auf inhaltlichen und personellen Bezügen. Auf der inhaltlichen Ebene ist zunächst festzustellen, daß Milli Görü die politischen Anschauungen der Bewegung um Necmettin Erbakan nicht nur teilt, sondern auch unterstützt. In den Ortsvereinen und Moscheen der IGMG sind Videokassetten mit Ansprachen des Politikers genauso verbreitet wie die seiner Bewegung nahe stehende Tageszeitung Milli Gazete, die in Europa nur im Abonnement zu beziehen ist.“ (Lemmen 2000: 32)
Nach den eigenen Angaben auf ihrer Homepage (2005/2009) umfasst Milli Görü auf lokaler Ebene 514 Moscheegemeinden (davon 323 in Deutschland) in Europa. Hinzu kommt eine wachsende Anzahl von Frauen-, Jugend-, Sport- und Bildungsvereinen. Insgesamt verfügt die Milli Görü über 1833 lokale Einrichtungen und zählt zurzeit ca. 87.000 Mitglieder. Die Gemeindegröße liegt bei ca. 300.000 Personen („Freitagsgemeinde“). Die Frauenabteilung der IGMG bietet – abgesehen von religiösen Themen für Frauen, junge Musliminnen und
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Studentinnen – eine breite Palette von Aktivitäten oder Wochenendseminaren an. Die Angebote reichen beispielsweise von Seelsorge und Familienberatung bis über Sprachkurse, Nachhilfekurse, Studienberatungen, Seminare zu Themen wie „Schulsysteme in europäischen Ländern“, „Interkulturelles Lernen“, „Erziehung zur Toleranz“, Vergabe von Stipendien u.s.w. Die Milli Görü motiviert besonders Mädchen und junge Frauen am öffentlichen Leben aktiv teilzunehmen.
3.3 Aleviten in Deutschland 3.3 Aleviten in Deutschland Die Zahl der Aleviten in Deutschland55 ist nicht genau festzulegen, da in Deutschland die MigrantInnen aus der Türkei nicht nach deren ethnischreligiösen Zugehörigkeiten registriert werden. Es wird jedoch vermutet, dass bereits seit Beginn der Aufnahme von Gastarbeitern aus der Türkei, im Vergleich zu den sunnitischen Menschen, entsprechend ihrer ökonomischen Lage und gesellschaftlichen Situation, mehr Aleviten nach Deutschland kamen. Nach der Selbsteinschätzung der Föderation der alevitischen Gemeinden leben gegenwärtig um 700.000 Aleviten in Deutschland. Somit wird ihr Anteil an der Gesamtzahl der aus der Türkei stammenden MigrantInnen auf 30% geschätzt. Obwohl sie jahrzehntelang in Deutschland als eine MigrantInnengruppe existierten, war bis zu Beginn der 1990er Jahre weder die religiöse, gesellschaftliche noch politische Existenz der Aleviten in der deutschen Öffentlichkeit bekannt. Dieser Umstand ist zurückzuführen auf die Geheimhaltung, die Auflösung der alevitischen Gemeinschaft durch die Binnenmigration in der Türkei und auch auf die pauschalisierende Umgangsform der deutschen Mehrheitsgesellschaft mit den aus der Türkei kommenden MigrantInnen als ‚Türken mit (sunnitisch-) islamischem Glauben‘. Große Teile der Aleviten hielten ihre Abstammung lange nicht nur vor der Einwanderungsgesellschaft geheim, sondern auch innerhalb der MigrantInnen aus der Türkei, wodurch sie, wie Kehl-Bodrogi (2002) feststellte, teilweise voreinander verborgen blieben. Die bereits oben angeführten Gewaltanwendungen an Aleviten in den 1970er und 1990er Jahren sowie der Militärputsch im Jahre 1980 in der Türkei zeigten ihre Wirkungen auch auf in Deutschland lebende Aleviten. Die ersten alevitischen Vereine in den Städten Westdeutschlands entstanden Ende der 1970er bzw. Anfang der 1980er Jahre unter dem Namen „Einheiten der Patrioten aus der Türkei“ (Türkiyeli Yurtseverler Birlikleri=YTB), die als Treffpunkte für Landsmannschaften
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Für eine detaillierte Darstellung über das Thema Aleviten in Deutschland siehe Kaya (2000), die Homepage der Alevitischen Gemeinde Deutschland e.V (AABF) www.alevi.com, KehlBodrogi (2002), Rigoni (2003), Sökefeld (2008).
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3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
fungierten.56 Insgesamt waren diese Organisationen politisch als Teil der linken türkischen Sozialdemokratie zu betrachten. Vor allem nach dem Militärputsch 1980 suchten viele (politisch aktive) Aleviten Sicherheit im europäischen Ausland, so auch in Deutschland. Infolge ihrer politischen Tradition suchten sie vorwiegend politische Bindungen in links-orientierten sowie kurdischen Organisationen. Bis in die 1990er Jahre wuchs die Zahl alevitischer Organisationen. Dies reflektiert den Prozess der Wiederentdeckung einer eigenen Identität und ist als Wechselwirkung von mehreren Aspekten zu begreifen. Ein bedeutender Faktor ist dabei die von der türkischen Regierung und den dortigen Parteien unterstützte Politisierung der sunnitisch-türkischen MigrantInnen seit den 1980er Jahren. Dies war eine Wiederholung der auf Machtstrukturen aufgebauten Ungleichheiten zwischen Aleviten als marginalisierte Glaubensgemeinschaft und Sunniten als Mehrheitsgemeinschaft in der Migration. In der hiesigen Gesellschaft symbolisierten sunnitische Türken ebenfalls als türkische MigrantInnengruppe die Mehrheit. Vor allem die fundamentalistischen Tendenzen innerhalb der sunnitisch-türkischen MigrantInnen wurden für die Aleviten zu einer Bedrohung, welche die unter den Aleviten durch erlebte Verfolgung und Ausgrenzung verinnerlichten Ängste verstärkte. Ein weiterer Aspekt ist der allgemeine Auftrieb ethnischer, religiöser und kultureller Identitätspolitiken. Nicht zuletzt führte die „Politik der Kulturalisierung“ von Minderheiten in Deutschland für die Aleviten zur Wiederentdeckung ihrer Kultur. Es dauerte jedoch bis 198957, bis die Aleviten das Wort „Aleviten“ bzw. „alevitisch“ für die Benennung ihrer Organisationen benutzten. Durch diesen Wechsel von einer Geheimhaltung der eigenen Zugehörigkeit zum öffentlichen Bekenntnis58 begann ein Wahrnehmungsprozess der Aleviten in der deutschen Öffentlichkeit. Ismail Kaplan (2003) zufolge liegt die Besonderheit der alevitischen Organisationen seit den 1989er Jahren in Deutschland darin, dass diese nicht als Zweigorganisationen in der Türkei etablierter Verbände oder Parteien gegründet worden sind. Im Gegenteil, sie übten unmittelbar von Deutschland aus Einfluss auf die Entwicklung der alevitischen Organisationen in der Türkei. Die Aleviten zogen die Aufmerksamkeit der deutschen Öffentlichkeit vor allem nach dem 56 57
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Zu der detaillierten Darstellungen der Entwicklung der alevitischen Organisation in Deutschland siehe Kehl-Bodrogi (2002: 38-42) Rigoni (2003: 163-167) und Sökefeld (2008). Dies wurde in Hamburg durch eine als „Alevitische Kulturwoche“ benannte Großveranstaltung eingeleitet. Auf dieser Großveranstaltung wurde das „alevitische Manifest“ verabschiedet, das darauf zielte, die Probleme der Aleviten öffentlich zu machen und auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Das „alevitische Manifest“ wurde in der türkischen Zeitschrift Cumhuriyet veröffentlicht und leitete somit die alevitische Identitätsbewegung in der Türkei ein (vgl. dazu Kehl-Bodrogi 2002: 39-42, Sökefeld 2008). Siehe dazu Avrupa Alevi Birlikleri Federasyonu Proram (1998: 12) [Das Programmheft der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Europa e.V. (AABF)].
3.3 Aleviten in Deutschland
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Massaker in Sivas 1993 auf sich, da es zu einer breiten gemeinschaftlichen Solidarisierung unter den Aleviten führte. Durch die Massendemonstrationen gegen die Unterdrückung und das Vorgehen der türkischen Staatskräfte gegenüber Aleviten gilt das Massaker in Sivas, sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, als ein Wendepunkt in der alevitischen Bewegung. Die Aleviten führten dieses Massaker auf ihre Unorganisiertheit und ihren Mangel an politischer Macht zurück. Aleviten in der Türkei, in Deutschland und in Europa sollten mobilisiert werden, um durch politischen Aktivismus zu erreichen, dass sie keine Verfolgung mehr aufgrund ihrer Religion oder Gruppenzugehörigkeit zu befürchten hätten. Die Zahl der alevitischen Vereine in Deutschland verdoppelte sich im Jahre 1994 und erreichte die Zahl 100. Heute gibt es neben der „Föderation der Aleviten-Gemeinden in Deutschland“ (Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu = AABF) auch in vielen anderen europäischen Ländern eine alevitische Föderation, die seit 1998 unter dem Dach der „Föderation der AlevitenGemeinden in Europa e.V.“ (AABF) zusammenarbeiten. Mit der Entwicklung von föderativen und konföderativen Arbeitsstrukturen erreichten die Aleviten eine neue Dynamik, welche Isabelle Rigoni (2003: 170) als „transterritorial visibility“ bezeichnet. Martin Sökefeld (2008) zufolge bilden Aleviten in Europa durch ihre Teilnahme am jeweiligen gesellschaftlichen Kontext eine nicht homogene Diaspora. Auch die jugendlichen Aleviten wurden in ihrem Zugehörigkeitsbewusstsein durch die gesellschaftlichen Ereignisse beeinflusst. Ayhan Kaya (2000) stellt in seiner Studie in Berlin fest, dass viele Jugendliche aus alevitischen Familien nach den rassistischen Anschlägen in Mölln und Solingen Anfang der 1990er Jahre ihre türkische Zugehörigkeit demonstrativ hervorhoben. Sie trugen zum Teil Symbole, die ihre türkische Nationalzugehörigkeit manifestierten. Nach den anschließenden Repressalien an den Aleviten in den 1990er Jahren jedoch betonten sie vielmehr ihre alevitische Zugehörigkeit, indem sie Symbole wie das Schwert ‚Zülfikar’59 oder die Symbolfiguren aus der alevitischen Tradition als Schmuckstücke (Ketten oder Armbände) trugen oder auf ihre Körper tätowieren ließen. Diese symbolisierten auch ihren Protest gegen die Unterdrückung. Die Gewaltanwendungen gegen Aleviten in der Türkei bedeuteten vor allem für die junge Generation einen gravierenden Einschnitt, den Kaya (2000: 101) aus der Perspektive der Jugend als „Verlust einer Heimat“ bezeichnet. Sowohl die Generationen der Erwachsenen als auch der Heranwachsenden orientierten sich in ihren Zukunftsperspektiven um und distanzierten sich mehr von der Türkei. Den neuen Diskurs einer Gemeinschaft unter Aleviten erlebten die Jugendlichen teilweise in sehr radikaler Form. Sie demonstrierten durch 59
Dies ist das Symbol des Schwerts, mit dem Ali gegen seine Feinde gekämpft haben soll.
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3 Alevitinnen und Sunnitinnen in Deutschland
Graffitis ihren Widerstand gegen Sunniten, der wiederum die Stärkung des „WirGefühls“ als alevitische MirgrantInnen zur Folge hatte. Aleviten definierten ihre Zugehörigkeit bis Mitte der 1990er Jahre über ihren Lebensweg. In den letzten Jahren jedoch, entsprechend der globalen Bedeutungszunahme des Religiösen, begreifen sie sich zunehmend als Gemeinde in Abgrenzung zu islamisch religiösen Organisationen. Mit dieser Abgrenzung weckten sie das Interesse bei vorwiegend liberalen Politikern in Deutschland. Im Gegensatz zu konservativen Politikern, die die Kopftuchdebatte dafür nutzten, die „Nicht-Integrierbarkeit“ aller Türken in die deutsche Gesellschaft zu betonen, sprachen die linksorientierten Liberalen den Unterschied zwischen Sunniten und Aleviten an. Dabei wurden letztere als Beispiel für „erfolgreich integrierte“ (Mandel 1996: 156, Mandel 2008) Türken präsentiert. Aleviten selbst waren bestrebt zu zeigen, dass sie die deutsche Sprache beherrschten, Ehen mit Deutschen eingingen und den Besuch christlicher Kirchen nicht tabuisierten (Klç 1998: 8). Gleichzeitig waren sie bemüht, in der deutschen Öffentlichkeit ihren Glaubensunterschied gegenüber den orthodoxen Sunniten aus der Türkei und den Schiiten hervorzuheben. Seit 2000 existieren in Deutschland sowohl für Jugendliche als auch für Frauen jeweils separate und unabhängige Gemeinden, und seit 2002 wird der alevitische Glaube an einigen Schulen unterrichtet. Mittlerweile gibt es zahlreiche alevitische Zeitschriften, die in der Türkei und in Europa herausgegeben werden. Auch dem Internet kommt eine bedeutende Rolle bei der weltweiten Verbreitung von Informationen über Aleviten zu. Die sozialpolitischen und historischen Wandlungen haben jedoch kaum etwas daran geändert, dass Aleviten sowohl in der Türkei als auch in Deutschland in einer Figuration mit den Sunniten stehen, indem sie immer noch in ihren Handlungsstrukturen eine Abhängigkeitsbeziehung zu der (jeweiligen) Mehrheitsgesellschaft bilden. Dies drückt am deutlichsten eine alevitische Ana aus, die ich im Rahmen meiner Studie interviewt habe (siehe Kapitel 4.3.1), indem sie sagt: „…überall gibt es Moscheen der Sunniten. Und was ist mit uns? Was ist mit uns? Niemand weiß, was Alevitentum ist.“60 Auf das Thema gegenseitiger Wahrnehmung der beiden Glaubensgemeinschaften wird in den Kapiteln 4.3.1 und 6.3 eingegangen.
60
Für die Transkriptionsregeln der Interviews siehe Kapitel 4, Kapitel 5 und den Anhang. Es werden ferner an den betreffenden Stellen der jeweiligen Zitate die erforderlichen Informationen hinzugefügt.
3.4 Bilder über türkische Frauen und Mädchen in Deutschland
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3.4 Bilder über türkische Frauen und Mädchen in Deutschland 3.4 Bilder über türkische Frauen und Mädchen in Deutschland In den wissenschaftlichen Publikationen herrscht seit den 1970er Jahren ein durch Vorurteile und Stereotype geprägtes, ethnisiertes Bild der Frau aus der Türkei. Dieses Bild wird dem – ebenso unreflektierten – monokulturellen Selbstbild eines modernen, fortschrittlichen und freien „Wir“ der deutschen Mehrheitsgesellschaft bzw. von Europa gegenübergestellt. Dabei wird von der Höherwertigkeit der eigenen (deutschen bzw. westlichen) Kultur (Nestvogel 1991, Lutz 1992) ausgegangen und demgegenüber die „Ausländerin“, v.a. „die Türkin“ als defizitäre und ‚fremde‘ Frau, konzeptionalisiert (vgl. Gümen 1996, Rodríguez 2003). Die hierbei stattfindende Ethnisierung bzw. konstruierte Ethnizität ist im Sinne von Bukow und Lloryora (1988) nicht als Merkmal der Gruppenzugehörigkeit aus der Sicht des Mitgliedes einer ethnischen Gruppe, sondern als Folge eines Zuschreibungsprozesses durch die Einheimischen zu verstehen. Den Autoren zufolge gehe es bei diesem Ethnizitätsbegriff um eine innerhalb fortgeschrittener Industriegesellschaften praktizierte Argumentationslinie, um bestehende Probleme, Konflikte sowie Unverträglichkeiten auf das Ethnische zu reduzieren. Hierbei würde die Kernproblematik auf die Differenzen zwischen MigrantInnen – speziell „Türken“ – und der deutschen Mehrheitsgesellschaft zurückgeführt. Aus Sicht der Autoren wird diese Differenzhypothese auf Kultur- und Modernitätsdifferenzen sowie auf Defizite der MigrantInnen zurückgeführt (vgl. Apitzsch 1990, Lutz 1991, Boss-Nünning 1999). Durch die starre Dichotomisierung von Tradition und Moderne werden „türkische Frauen“ pauschal der „Tradition“ zugerechnet (vgl. Auernheimer 1994; 1995, Lutz 1992, Lutz/Huth-Hildebrand 1998) und die deutsche Gesellschaft hingegen als „moderne, entwickelte, demokratische“ bezeichnet. Bereits seit Beginn der Arbeitsmigration wurden „Türken“ gegenüber christlichen ArbeitsmigrantInnen aufgrund ihrer dem Islam zugeordneten kulturell-religösen Zugehörigkeit und damit verbundenen Unterschieden als Problemgruppe betrachtet (Nauck 1988). In der Öffentlichkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft hieß es daher in den 1980er Jahren, in denen auch der Rassismus zunahm: „There is no foreigners’ problem, but only a turkish problem“ (Thränhardt 1996: 211). Damit lehnte die Mehrheitsgesellschaft nicht nur die eigene politische Verantwortung für die Eingliederung von MigrantInnen in die deutsche Gesellschaft ab, sondern homogenisierte alle aus der Türkei stammenden Menschen als Problemgruppe und ignorierte gleichzeitig die restlichen MigrantInnengruppen. Die Fokussierung auf die kulturalistischen Argumente in Deutschland hat mit der gesellschaftshistorischen Schwierigkeit der Verwendung des Begriffs „Rassismus“ zu tun. Der Terminus Rassismus wird in Deutschland aufgrund der Verfolgungsgeschichte der Juden mit dem Genozid in Zusammen-
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hang gebracht. Vor diesem Hintergrund ist die öffentliche Anwendung dieses Begriffes im Zusammenhang mit MigrantInnen immer noch tabuisiert (vgl. Wilpert 1993: 69, Thränhardt 1996). Dementsprechend werden rassistische Argumente durch kulturalistische Argumente abgelöst. So wird offiziell nicht von Rassismus, sondern von „Ausländer- bzw. Fremdenfeindlichkeit“ gesprochen. Bukow (1996: 55) vertritt die Position, dass die Ethnizität heute in die Fußstapfen des klassischen Rassismus getreten sei, dass Rassismus kulturell modernisiert würde, so dass man vom kulturellen Rassismus sprechen könne. Die Tendenz der negativen Konnotationen mit den MigrantInnengruppen und deren Etikettierung ist sicherlich nicht nur ein Phänomen der Migrationspolitik Deutschlands, sondern allgemein in Einwanderungsländern zu finden. „What is particular, however, is the stressing of the foreign status of important immigrant groups. When the labelling processes are characterized as racialisation in Britain, and minorization in the Netherlands, in Germany we might speak of foreignerization – even for families who live in the country for generations.“ (Thränhardt 1996: 200 – Hervorhebungen im Original)
Dieser, ImmigrantInnen zu Fremden machende Prozess zeigt sich am deutlichsten im Diskurs über die fremde türkische Frau, in dem die Kategorie Kultur durch die Kategorie Geschlecht in additiver Weise modifiziert wird (Gümen 1996: 82). Mit anderen Worten: Die Differenz zwischen einheimischen deutschen Frauen und (vor allem) Türkinnen werden auf das Geschlecht und die Ethnizität zurückgeführt. Martina Weber (1999) weist zu Recht darauf hin, dass über keine andere Gruppe von ethnischen Minderheiten im deutschen Sprachraum bisher ein annährend intensiver Diskurs geführt worden ist, wie der über die Frauen und Mädchen mit türkischer Herkunft. Bereits in den Achtzigerjahren stellt Nauck (1988) die gleiche Tendenz in der Familienforschung fest. Er konstatiert, dass „ … keines der zahlreichen Textbücher über die sozialen Folgen von Migrationsprozessen und zur Ausländerpädagogik auf ein Kapitel über ,die‘ türkische (= traditionale, patriarchalische, islamische, rurale) Familie verzichtet und sie von ,der‘ deutschen Familie abhebt und zugleich die disruptiven Veränderungen in den Migrantenfamilien in den buntesten Farben schildert.“ (ebd. 504)
Aus der „Kulturdefizitperspektive“ werden die Frauen (sowie die Familien) aus der Türkei sozusagen als Problemfeld entdeckt, „[…] nicht nur, weil sie die Mehrheit unter den Einwanderinnen bilden, sondern auch wegen der Annahme ihrer scheinbar ,anderen‘ oder ,fremdartigen‘ Kultur, was möglicherweise als
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herausfordernd auf die forschenden Personen61 wirkte.“ (Gümen 1996: 82) Demnach ergibt sich ein Bild der „unterdrückten Türkin“, die charakterisiert wird als traditionell, rückständig, auf Haus, Familie und Religion beschränkt, eingesperrt und hilflos der Gewalt ihres Ehemannes, Vaters oder älteren Bruders ausgesetzt und damit als nicht handlungsfähig und desintegriert.62 Das Weiblichkeitskonstrukt entspricht der Formel „Islam plus türkischer Mann gleich Gewalt“ (Gümen 1996: 83, vgl. Nauck 1994). Kritisch wird von einigen Wissenschaftlerinnen vermerkt (z.B. Akkent/Franger 1985, Çaglar 1990, Gümen 1996, Rommelspacher 2002), dass das Kopftuch in einigen Arbeiten schlechthin als „das Symbol der türkischen Frau“ dargestellt werde, was wiederum die Unterdrückung der „Türkin“ bestätige und diese Unterdrückung durch den Verweis auf den Koran sozusagen noch „wissenschaftlich“ zu belegen versucht wird. Überdies stehe das Kopftuch als Symbol eines offensiven Angriffs auf den (scheinbaren) Werte- und Normenkonsens der (christlich) westlichen Gesellschaft (Karakaolu-Aydn 1998, Mushaben 2008), wie Berghahn und Rostock (2007: 3) feststellen: „In the context of growing anti-Islamism, religious fundamentalism and continued violence against women, this position ignores the complex intersections of racism and sexism.“ Seit dem „Kopftuchstreit“ 63 1997 steht der sich in den 1980er Jahren etablierte Begriff der „Kopftuch-Türkin“ im Trend und wird sogar von „differenzierten Türkenkennern“ verwendet (vgl. Akkent/Franger 1985: 177). Damit wird der Gesamtheit der Frauen aus der Türkei nicht nur Religiosität unterstellt, sondern sie alle werden pauschal der sunnitischen Glaubensrichtung zugeordnet. Die unterschiedlichen ethnisch-religiösen Gruppen und Zugehörigkeiten dazu wurden kaum thematisiert – als Ausnahme können hier die Untersuchungen von Yalçn-Heckmann (1997) und Karakaolu-Aydn (1998; 2001) gelten.
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Hierzu siehe auch das kritische Plädoyer von Nestvogel (1991: 87) an die deutschen und europäischen WissenschaftlerInnen, ihre eigene monokulturell-ethnozentristische Perspektive genauer zu betrachten. Als Beispiele dieser Literatur sind zu nennen: Karasan-Dirks (1980), BaumgartnerKarabak/Landesberger (1980), Stüwe (1982), König (1989), Rosen (1993). Für die kritische Betrachtung und Ausführung über einige dieser Publikationen siehe Gümen (1996: 82-87), Schepker/Eberding (1996: 111ff), Boos-Nünning (1999), Weber (1999: 47ff) und Gültekin (2003: 34ff). Bei diesem auch als „Ludin-Fall“ bekannten, symbolträchtigen Rechtstreit geht es um das Verbot des Tragens eines Kopftuches im öffentlichen Dienst, vor allem in christlich geprägten deutschen Schulen. Der Fall hatte begonnen, nachdem das Oberschulamt Stuttgart im Frühjahr 1997 den Einstieg der in Afghanistan geborenen Deutschen, Fereshta Ludin, in das Referendariat abgelehnt hatte, solange diese das Kopftuch trüge. Für eine ausführliche Darstellung dieses „Kopftuchstreits“ siehe Oestreich (2004). Siehe auch Haug/Reimer (2005)
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Birgit Rommelspacher (2002) zufolge wird die Diskussion um das Kopftuch deswegen so affektiv geführt, weil sie auf Themen wie die Geschlechtertrennung, Ehrbarkeit und den Ehrenkodex verweist, welche auch für die westliche Gesellschaft relevant, aber tabuisiert sind. Die Umgangsformen mit diesem Thema machen die Widersprüche im westlichen Emanzipationskonzept64 Deutlich. Darüber hinaus zeigen die Reaktionen auf das Kopftuch, dass die muslimische Kopfbedeckung als „Projektionsfläche“ für die Widersprüche dient, die mit dem Zusammenleben in Deutschland einhergehen können (Berghahn 2008). Das Kopftuch wird dabei zum Symbol der Integrationsbereitschaft der muslimischen BürgerInnen in die deutsche Gesellschaft gemacht und taucht symptomatisch v.a. im Zusammenhang mit Diskussionen um eine „deutsche Leitkultur“65 oder um (islamischen) „Parallelgesellschaften“ (Jaschke 1998) innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft auf. Die aktuellen Debatten über Themen wie Zwangsehe und Ehrenmord zeigen, dass diese homogenisierenden Klischees über die Migrantinnen aus der Türkei und ihre Nachfolgegenerationen in der Öffentlichkeit nicht nur jederzeit aktiviert werden können, sondern durchaus auch von den betroffenen Gruppen selbst übernommen und verinnerlicht werden.66 So tragen auch Zeitungen und Zeitschriften zur Reproduktion und Festigung der von der deutschen Mehrheitsgesellschaft entworfenen Bilder „der türkischen Frau“ maßgeblich bei (Boos-Nünning 1999). Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass die Stimme einer Migrantin v.a. dann gehört wird, wenn sie die vorherrschende Meinung der Mehrheitsgesellschaft bestätigt: „Ich bin traurig das so sagen zu müssen, aber wir haben in Deutschland eine Türkenproblematik.“ (Lau, in „Die Zeit“ 2005, Nr. 9, S. 63) Seit den 1990er Jahren zeigt sich in der deutschen Migrationsforschung zunehmend eine gegenüber diesen Diskursen kritische Forschung, die die 64 65
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Alice Schwarzer (2002) macht beispielsweise auf eine „falsche Toleranz“ für die Islamisten aufmerksam und erklärt sich mit kopftuchtragenden Frauen nicht solidarisch. Der Fraktionsvorsitzende der Christdemokratischen Union (CDU), Friedrich Merz (2000), eröffnete in Anlehnung an die von Bassam Tibi (2000) gestellte Forderung, dass Europa und gerade heterogene Einwanderungsgesellschaften wie Deutschland eine „Leitkultur“ brauchen, an der sich MigrantInnen zu orientieren haben, die Debatte über die „deutsche Leitkultur“ in der politischen Öffentlichkeit. Im Jahre 2004 nahm das Thema „Zwangsehe“ in den Medien einen gewichtigen Platz ein (bspw. RTL-Spiegel TV 05.12.2004 und NDR 16.11.2004). Im Jahre 2005 beschäftigte dann die Öffentlichkeit nach dem Mord an Hatun Sürücü das Thema „Ehrenmord“ unter türkischmuslimischen MigrantInnen sehr stark. Zum Teil wurden die beiden Themen, Zwangsehe und Ehrenmord, wie ein und derselbe Sachverhalt undifferenziert gemeinsam verhandelt, um „das Zusammenprallen der Kulturen“ hervorzuheben (Siehe dazu Lau in Die Zeit 2005, Nr. 9, Bullion in Süddeutscher Zeitung 26.02.2005). Das Buch von Nejla Kelek (2005) mit dem Titel „Die fremde Braut“ stößt vor diesem Hintergrund auf besonderes Interesse in der deutschen Öffentlichkeit.
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Perspektive der Migrantinnen, die „Innenperspektive“ (Lutz 1991), verstärkt berücksichtigt. Im Zuge dessen bildete sich auch der Bereich interkultureller Geschlechterforschung (Schlehe 2001) heraus. Dieser Perspektivenwechsel impliziert, dass die Herkunftskultur der Frauen nicht mehr als Defizit oder als Quelle von Problemen in der deutschen Gesellschaft gedeutet wird, sondern als Ressource für die Transformation zu sehen ist (Apitzsch 1994, Rommelspacher 2002). Die in diesem Kontext entstandenen Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Migrantinnen nicht nur um ihren Platz in der deutschen Gesellschaft kämpfen, sondern zum Teil die Funktion der „Mittlerinnen“ (Lutz 1991) zwischen Einwanderergemeinschaft67 und Einwanderungsgesellschaft einnehmen. In diesen Studien wird sowohl auf das aktive Gestaltungs- und Handlungspotential von Frauen mit Migrationshintergrund verwiesen als auch auf die sozialen und sozialpolitischen Ungleichheiten und die Bedeutung des gesellschaftlichen Kontextes für das jeweilige Weiblichkeitskonzept.68 Das homogenisierte und ethnisierte Bild der „Türkin“, das sie zur Fremden und Außenseiterin in der deutschen Gesellschaft macht (und sowohl von der Migrationsforschung als auch den Medien und der Öffentlichkeit der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbreitet wird), trifft ebenfalls die zweite und dritte Generation der Mädchen mit türkischem Hintergrund (Weber 1999, BoosNünning 1999, Riegel 2004). Die türkischen Mädchen werden, wie die erwachsenen Frauen auch, als eine Problemgruppe in der deutschen Mehrheitsgesellschaft gesehen, wobei die Ursachen der Probleme nicht „in den gesellschaftlichen Beeinträchtigungen, sondern in den familiären Orientierungen gesucht“ werden (Boos-Nünning 1999: 25). Die Relevanz einer solchen „Defizitthese“ zeigt sich beispielsweise in den Beiträgen von Bründel/Hurrelmann (1995), die eingewanderten Jugendlichen unterstellen, an Sitten und Werten der Heimatkultur ihrer Eltern festzuhalten, die zum Teil bereits im Herkunftsland überholt seien. Eine kontrovers diskutierte Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung (2009 – siehe besonders S. 82) ist mit ihren Ergebnissen ein Beleg dafür, dass die oben zitierten Bilder über Jugendliche aus türkischstämmigen Familien zum Symbol der Nicht-Integration gemacht werden. 67
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Bei diesem von Friedrich Heckmann (1981) geprägten Begriff der „Einwanderergesellschaft“ geht es um die Orientierung der Einwanderer. Damit meint der Autor, dass die Ethnizität und kulturelle Orientierungen nichts Statisches sind und sich in der Migration nicht auf die Herkunftsgesellschaft richten, sondern in der Aufnahmegesellschaft eine neue strukturelle Form entwickeln. Demzufolge handelt es sich bei dieser Terminologie der Einwanderergesellschaft nicht um eine sich von der Mehrheitsgesellschaft abwendende MigrantInnengruppe, sondern um die Entstehung von aus der Geschichte klassischer Einwanderungsländer bekannten ethnischen Kolonien. Siehe dazu die empirischen Arbeiten von Herwartz-Emden 1995, Gümen 1996, Nökel 2002, Klinkhammar 1999, Süzen 2003, Riegel 2004, Gültekin 2003.
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Die Ergebnisse von Schramkowski (2007) zeigen, dass diese kontinuierliche Darstellung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund problematisch ist und zum Teil dazu führt, dass die Jugendlichen davon ausgehen, zukünftig weiter als ,fremd‘ definiert zu werden und insofern Integration als gleichberechtigte Gesellschaftsmitglieder nicht erreichen können. „Solange rassistische Strukturen, Denk- und Handlungsmuster der aufnehmenden Gesellschaft sowie ihr Mitwirken an der Benachteiligung, Ausgrenzung und Negativ-Stereotypisierung von Eingewanderten nicht auch Bestandteile öffentlicher Diskurse über Integration bilden und die scheinbar ,selbstverständliche‘, ethnisch differenzierte Gesellschaftsordnung unangetastet bleibt, bleiben zentrale Facetten 69 des ,Integrationsthemas‘ unberücksichtigt.“ (ebd. 165)
Die Etikettierung der Jugendlichen aus Migrantenfamilien als Sondergruppe und Problemgruppe verweist, wie Herwartz-Emden (1997: 896) zu Recht feststellt, auf einen blinden Fleck im bundesdeutschen Diskurs um Einwanderung und Migration. Anders als die lange vorherrschende Meinung, dass die Mädchen aus den Migrantenfamilien „kulturspezifische Berufe“ ausüben (Boos-Nünning 1993), selten zu einem erfolgreichen Schulabschluss kommen und auf ihrem Bildungsweg durch ihre Eltern gehindert würden, weisen die Untersuchungen von Wilpert (1980) oder dem Forschungsprojekt FAFRA (Herwartz-Emden 1997) darauf hin, dass eine gute Bildung für die Töchter sowohl von den Vätern als auch von den Müttern gewünscht wird (vgl. auch Nauck 1988). Auch hinsichtlich der Beruftätigkeit besteht kein Unterschied in der Förderung der Töchter und der Söhne. Überdies sind unter den Migranten jugendliche Mädchen an Realschulen und Gymnasien viel stärker vertreten als Jungen. Auch neuere Studien betonen nicht nur die Bildungs- und Berufsorientierung der Töchtergeneration (Reinders/Emmerich 2009), sondern weisen auf deren Bildungserfolge hin (Hummrich 2002). Diese Bildungserfolge zeigen sich trotz ihrer Erfahrung einer fehlenden Förderung im deutschen Bildungssystem (Granato 1997, Weber 1999). Hinzu kommt ihre Stigmatisierung als „Ausländerinnen“. Sabine Mannitz und Werner Schiffauer (2002: 88) stellen in diesem Zusammenhang in ihrer vergleichenden Studie fest, dass die Konstruktion des deutschen Migrationsgeschehens ein Ungleichgewicht der Reziprozität enthalte, indem vermittelt wird, dass nicht die Deutschen, sondern nur die AusländerInnen von ihrer Einwanderung nach Deutschland profitieren würden. In Erdkundebüchern würde die Türkei mit „Unterentwicklung“ und „Rückständigkeit“ in Zusammenhang gebracht. „Diese 69
Für die neueren Beiträge zum Thema Jugend und Migration siehe die Sammelbände Geisen/Riegel 2007 und Riegel/Geisen 2007.
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Thematisierung impliziert, dass die Mitschüler türkischer Herkunft als Repräsentanten einer vormodernen, rückständigen und daher nicht wirklich nach Deutschland passenden Bevölkerung erscheinen.“ (ebd. 91) Nicht zuletzt wird in diesen Schulbüchern die Einwanderung hauptsächlich als Ursache von Problemen dargestellt (vgl. auch Engin 2003: 162 und Ohliger 2003). Auf diesen Themenkomplex, nämlich Diskriminierungsformen in der Schule, gehe ich im Kapitel 6.3 anhand der Ergebnisse der vorliegenden Studie erneut ein.
4 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign 4 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
4.1 Allgemeine Vorbemerkungen 4.1 Allgemeine Vorbemerkungen Die vorliegenden Fallstudien orientieren sich an der Methode biographischer Fallrekonstruktion, die im Kontext soziologischer Biographieforschung von Gabriele Rosenthal entwickelt wurde. Die meisten Ansätze in der deutschen Biographieforschung sind verortet in der interpretativen Sozialforschung (bzw. dem interpretativen Paradigma), in der Forschungstradition verstehender Soziologie70. Im Zentrum der grundlagentheoretisch fundierten interpretativen Sozialforschung stehen die Perspektive des Handelnden und sein soziales Handeln in der sozialen Wirklichkeit. Die Bedeutungsstrukturierung sozialen Handelns wird zum theoretischen Ausgangspunkt wie auch zum methodologischen Leitfaden für die Sozialforschung erklärt (vgl. Hoffmann-Riem 1980). Die Grundannahme interpretativer Sozialforschung ist, dass die soziale Welt so konstruiert ist, dass wir sie verstehen können und uns in dieser vor- und ausgedeuteten Welt deutend bewegen (vgl. Soeffner 1999: 43). Verstehende Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft zielt auf das Verstehen71 und Erklären aller gesellschaftlichen Konstruktionen.72
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Über den Grundriss der Verstehenden Soziologie siehe Weber 1956/1980. Soeffner (2003) betont, dass Verstehen nicht eine Erfindung der Geistes- und Sozialwissenschaften sei, denn Verstehen ist für Menschen ständig praktizierte Alltagsroutine. Verstehen definiert er als einen Vorgang, der einer Erfahrung Sinn verleiht. In diesem Zusammenhang ist Fremdverstehen also ein Vorgang, bei dem wir einer bereits gedeuteten Erfahrung, die sich auf ein Ereignis in der Welt bezieht, den Sinn verleihen. „Zum wissenschaftlichen ‚Verstehen von etwas‘ zählt also zwingend die Beschreibung und Explikation der impliziten Prozeduren und Perspektiven des Verstehens – das Verstehen des Verstehen selbst“ (Soeffner 1999: 44). Alfred Schütz (1971) unterscheidet zwischen Konstruktionen ersten und zweiten Grades. Konstruktionen zweiten Grades „sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft zu erklären versucht.“ (Schütz 1971: 7) Wissenschaftliche Konstruktionen bauen sich dabei auf den Konstruktionen des Alltags auf: „Dabei müssen die gedanklichen Gegenstände der Sozialwissenschaftler mit jenen vereinbar bleiben, die von Menschen im Alltag gebildet werden, um mit der sozialen Wirklichkeit ins reine zu kommen.“ (ebd.) In diesem Zusammenhang zielen die wissenschaftlichen Konstruktionen 2. Ordnung, die historisch-genetischen Idealtypen, „auf eben dieses historische
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In der Soziologie wird meistens die Migrationsstudie von William Isaac Thomas und Florian Znaniecki (1918-1920/1958), „The Polish Peasent in Europe and America“, als Ausgangspunkt von „Biographie73 als Forschungsmittel“ (Fischer-Rosenthal 1991: 253) betrachtet. Diese erste große empirische Studie zu interkultureller Migration, an der allgemeine Regeln des sozialen Wandels formuliert wurden, wurde im Kontext des Department of Sociology in Chicago durchgeführt, das später in den 30er Jahren als Chicago-School in die Geschichte einging. In dem sozialwissenschaftlichen Raum der Bundesrepublik gibt es seit den 70er Jahren eine Entwicklung und systematische Reflexion der Gewinnung biographischen Materials sowie der fallbezogenen Analyse biographischer Daten als Grundlage soziologischer Forschung.75 Da die vorliegende Arbeit eine migrationsbiographische Arbeit ist, wird im Folgenden kurz auf die Biographieforschung über Migrationsverläufe in Deutschland eingegangen. Darauf folgend wird die Anwendung der Methode im Rahmen dieser Studie erörtert. Hierbei wird die Ausführung der vorliegenden Studie, die Methode der Erhebung und der Auswertung vorgestellt.
4.2 Biographische Forschung über Migrationsverläufe in Deutschland 4.2 Biographische Forschung über Migrationverläufe in Deutschland Die biographische Forschung über Migrationsverläufe gewinnt in der BRD in den 1990er Jahren besonders durch die Arbeiten von Ursula Apitzsch, Helma Lutz und Roswita Breckner eine zunehmende Aufmerksamkeit.76 Bedeutend ist hierbei der Vorschlag von Apitzsch (1990: 55), dass die „Binnensicht“ der Migration als eine Korrektur und Alternative zu pädagogischen Handlungsmustern verstanden und erforscht werden sollte. Helma Lutz (1997a: 68f) spricht besonders in Bezug auf intergenerationale Migrantinnenbiographien anders als Martin Kohli (1986) nicht von „Normalbiographien“, sondern in Anlehnung an Beck (1986: 206) von Risikogeschichten, Wahlbiographien oder von Zick-Zack-
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Verstehen des Einzelfalls und auf das Verstehen der Historie gleichermaßen.“ (Soeffner 1999: 48). Biographie ist eine „individuelle Lebensgeschichte“, „die den äußeren Lebenslauf, seine historischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Ereignisse einerseits und die innere psychische Entwicklung des Subjekts andererseits in ihrer wechselseitigen Verwobenheit darstellt“ (Alheit 1990: 404). Dabei soll betont werden, dass es eine mit der ‚Chicagoer Schule‘ vergleichbare konsistente Tradition der sozialbiographischen Forschung in Deutschland nicht gegeben hat (Alheit 1985: 108). Für eine ausführliche Darstellung der Entwicklung biographischer Forschung in Deutschland siehe Sieberts (1996) und Kaya (2006). Siehe besonders Apitzsch (1990; 1994; 2003b), Lutz (1991; 1997a; 1997b), Breckner (1994; 2005).
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Biographien. Lutz (1997a) zufolge sind die Menschen in der Zick-ZackBiographie ständig damit beschäftigt, auf heteronome Einflüsse zu reagieren, ohne dass ihnen das notwendige Rezeptwissen zur Bewältigung ihrer Fragen zur Verfügung stehe (ebenda: 327). In Anlehnung an den oben eingeführten Begriff der biographischen Arbeit entwickelt die Autorin in der biographischen Migrationsforschung den Begriff der Integrationsarbeit. „Integrationsarbeit ist die (völlig unspektakuläre und großenteils unsichtbare) Anstrengung, unter veränderten Alltagsbedingungen eine alltägliche Ordnung aufrechtzuerhalten, neu zu strukturieren oder zu reorganisieren, zu deren Realisierung die selbstreflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Handlungsmaximen, dem biographischen Aktionsschema und der möglicherweise dazu konträr erfahrenen Lebenswelt notwendig ist. Im Gegensatz zu den häufig in der Migrationssoziologie und -pädagogik benutzten Begriffen Integration oder Integrierung, die Migranten als Objekte sozialer Programme betrachten, bezeichnet der Terminus Integrationsarbeit die subjektive Handlungskompetenz von Migrantinnen.“ (Lutz 2000: 45)
Integrationsarbeit beinhaltet nach Helma Lutz (2000) vor allem auch die Geschlechterkomponente. Ausgehend von der Feststellung von Bettina Dausien (1996), dass Frauenleben ein „brüchiges Leben“ ist, das sich durch eine Normalität von Diskontinuitäten auszeichnet, betont Lutz in diesem Zusammenhang, dass Diskontinuität und Bruchhaftigkeit sicherlich erst recht bei Migrantinnen festgestellt werden könne. In besonderer Weise seien die Biographien von Migrantinnen gestaltete Biographien, so Lutz (2000: 46), das Resultat individueller Identitätsarbeit. Neben dem Begriff „Integration“ wird auch der Begriff „Identität“ als ein zentraler Begriff benutzt, um Migrationsverläufe zu diskutieren. Im allgemeinen Kontext biographischer Forschung plädiert Fischer-Rosenthal (1995) dafür, auf die Verwendung des Identitätskonzepts zu verzichten und stattdessen von einem „Biographiekonzept“ zu sprechen. Nach diesem, in Anlehnung an die biographietheoretische Perspektive und die Konzepte Georg Herbert Meads, entwickelten Konzept wird das Identitätskonzept einer fixen Identitätsbetrachtung, nach dem man ein für allemal ein „So-Jemand“ ist, durch das flexiblere Prozesskonzept der „Biographie“ ersetzt. Nach dem Biographiekonzept präsentiert man sich als jemand, der sich in einem Prozess ‚entwickelt‘, und ‚verändert‘ hat (vgl. ebenda: 51), und daher steht nicht das So-Sein, sondern das Gewordensein im Zentrum der Forschung.77
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Ein ähnliches Plädoyer kommt auch von Floya Anthias (1998; 2003). Sie vertritt die Meinung, dass es besonders im Bereich ethnischer Zugehörigkeit und Migration nützlicher ist, auf die Verwendung des Begriffs der Identität als ein heuristisches Instrument vollkommen zu ver-
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In der gegenwärtigen Diskussion der migrationsbiographischen Forschung entwickelt Ursula Apitzsch (2003b) in Anlehnung an Pries (1996) und Faist (2000) den Begriff des „transnationalen“ bzw. „transstaatlichen Raumes“78. In diesem Zusammenhang formuliert Apitzsch (2003b: 65) die Hypothese, dass die Migrationsbiographien mit ihren aufgeschichteten Erfahrungsspuren von Grenzüberschreitungen die „Orte transnationaler Räume“ veranschaulichen. Die hier gemeinten transnationalen Räume sind der Autorin zufolge keine geographischen Orte oder Verkehrsverbindungen, sondern unsichtbare Strukturen vielfach vernetzter staatlicher, rechtlicher und kulturelle Übergänge, „an denen die Individuen sich biographisch orientieren und in die sie zugleich als Erfahrungskollektiv verstrickt sind“ (Apitzsch 2003b: 69). Der transnationale Raum konkretisiere sich in der Struktur der Migrationsbiographie, welche durch die biographische Arbeit von den Migrationssubjekten zugleich hergestellt und immer wieder neu rekonstruiert werde. Diese Struktur sei zwar nicht unmittelbar zu sehen, dennoch sei sie nicht weniger real als ein geographischer Ort. Dieser Annahme entsprechend werden durch die sozialen und politischen Grenzziehungserfahrungen der MigrantInnen neue transnationale Räume erzeugt. Ferner betont Apitzsch in Anlehnung an den von der Chicagoer Schule entwickelten Begriff der „ethnischen Kolonie“ (Park) die Tatsache, dass Individuen sich für die biographischen Übergänge in den Migrationsprozessen Institutionen schaffen, zum Teil als ethnische erfinden, die sich ihnen möglicherweise selbst nach einer Weile als ein Teil der objektiven Kultur des Aufnahmelandes entgegensetzen. Betont wird dabei dennoch, dass die ethnischen Räume als soziale Räume zum Teil auch von den Individuen der Einwanderungsgesellschaft benutzt und als die „kulturindustriell vermarktete Projektionsfläche einer imaginierten Community“ (Apitzsch 2003b: 72) betrachtet werden. Ausgehend von der Betrachtung der Biographie im Migrationsprozess als ein Ort transnationaler und transkultureller Räume, als ein Schnittpunkt von kollektiver Konstitution und individueller Konstruktion, macht Apitzsch (2003b) auf biographische Erzählungen aufmerksam, die Verlaufskurven79 freilegen – langfristige biographische Prozesse, in denen das Erleben und die intentionale Tätigkeit des Individuums überwiegend von der Reaktion auf Institutionen bestimmt ist. Dieser Überlegung folgend erscheinen MigrantInnenfamilien als „Orte kollektiver Verlaufskurven“ (Apitzsch 2003b: 72). Trotz unterschiedlicher Erlebnisse der einzelnen Familienmitglieder – je nach Alter, Geschlecht, eigener
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zichten und stattdessen einerseits den Begriff der „Erzählung von Zugehörigkeit“ und andererseits die Vorstellung von „Positionalität“ zu entfalten (vgl. Anthias 2003: 21). Die erste Verwendung dieses Konzepts geht jedoch auf Clifford 1992 zurück. Zum Begriff der Verlaufskurve („trajectory“) siehe Schütze (1987) und Riemann/Schütze (1991).
4.3 Anwendung der Methode
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Stellung in der Geschwisterreihe – gebe es migrationsspezifische typische Verläufe, die viel über „die – unsichtbaren, aber sehr realen – Strukturen der Einwanderungs- wie der Einwanderergesellschaft verraten“ (ebd.: 73) Vor allem die Eckpunkte des thematischen Dreiecks „Ethnizität, Biographie und Geschlechterverhältnisse“80 rücken mit der Einbeziehung der Herkunftsländer von MigrantInnengruppen und der Einwanderungsgesellschaft in der Migrations(feld)forschung immer mehr zusammen. In diesem Sinne bringt auch die vorliegende Arbeit durch ihre intergenerationale Perspektive (Mütter und Töchter) die Perspektive des Herkunftslandes, primär repräsentiert durch die Biographien der Mütter, und die der Einwanderungsgesellschaft, eher repräsentiert durch die Biographien der Töchter, in einen Zusammenhang. In der vorliegenden Arbeit treffen am Beispiel der Biographien von Frauen die Strukturen der Herkunftsgesellschaft und der deutschen Gesellschaft zusammen.
4.3 Anwendung der Methode 4.3 Anwendung der Methode 4.3.1 Die Reflexion über den Forschungszugang und die Kontaktaufnahme Wie bereits in der Einleitung ausgeführt, galt meine Aufmerksamkeit Frauen mit einer bestimmten praktizierten Glaubenszugehörigkeit. Daher trat ich zuerst mit Frauengruppen sunnitischer Organisationen81 in Kontakt. Ich besuchte deren Einrichtungen und nahm an den Aktivitäten der Frauengruppen teil. Danach machte ich in den Versammlungsorten verschiedener Organisationen (auch in einer Bibliothek und in Treffpunkten von Jugendorganisationen) einen Aushang, in dem ich mein Forschungsvorhaben kurz in deutscher und türkischer Sprache erläuterte und nach interessierten Interviewpartnerinnen fragte. Mit einem alevitischen Verein hatte ich bereits zuvor Kontakt aufgenommen. Ich berichtete auch dort über mein Vorhaben und machte es publik. Parallel zu diesen Anzeigen versuchte ich über bestehende Bekanntschaften mit Personen, die selber zu diesen Organisationen Kontakte hatten oder eventuell meinen Kriterien entsprechende Frauen kennen könnten, potentielle Interviewpartnerinnen zu finden. Es kamen zwar einige Kontakte zustande, dennoch waren nur eine Mutter und anschließend dank ihrer Vermittlung ihre Tochter bereit, mit mir Interviews durchzuführen. 80 81
Siehe dazu vor allem die Beiträge in dem Sammelband von Apitzsch/Jansen (2003). Da nicht die Organisationen, sondern die Frauen im Mittelpunkt meiner Forschung stehen, werden in der vorliegenden Arbeit keine sunnitschen und alevitischen Organisationen mit Namen vorgestellt, sondern anonym gehalten. Für einen Überblick über die sunnitischen Organisationen siehe Kapitel 3.2.1 und Kapitel 3.3.
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Innerhalb sunnitischer Organisationen wurde ich auf der einen Seite als eine Frau türkischer Herkunft, also auf der Nationalitätsebene als ein Mitglied der eigenen Gesellschaft klassifiziert, auf der anderen Seite wurde mein Vorhaben mit spürbarer Distanz betrachtet. Am auffälligsten war hierbei die Reaktion einer Hodscha (ausgebildete, geistige Gelehrte), die ich als Expertin interviewt82 habe. Sie kritisierte mich stark – aus zwei Gründen: Erstens würde ich ihrer Meinung nach versuchen, dem Islam zusätzliche Attribute (wie Sunnitentum bzw. Alevitentum) hinzuzufügen, zweitens eine „Sekte“, die keine bedeutende Stellung im Islam habe (sie meinte damit das Alevitentum), mit dem Sunnitentum, das sie mit dem Islam gleichsetzte, vergleichen. Da ich durch die Reaktion dieser Hodscha die Fragestellung der Untersuchung erweiterte, möchte ich einen kurzen Teil dieses interviewähnlichen Gesprächs83 vorstellen: (Aus dem Gedächtnisprotokoll:) Die ganze Rederei von Alevitentum habe mit Nichtwissen zu tun. Sie [diejenigen, die behaupten, alevitisch zu seien] seien verwirrte Menschen und sollten daher umerzogen werden, damit sie begreifen, was Islam ist. Wenn sie über den Islam gut informiert wären, würden sie sehen, dass es nur noch einen Islam, der sehr perfekt ist, gibt. Den Frieden im Islam könne man überall spüren, ob man mitten im Ozean, im Himmel oder woanders sei. [Die folgenden drei Sätze sind wortwörtliche Übersetzungen aus dem Türkischen:] Es gibt keine Religion, die Alevitentum heißt. Man muss diese Angelegenheit mit Skalpell behandeln. Diese Diskriminierung müsste man ausschneiden und wegwerfen.84
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Bei Experteninterviews steht weniger die Person oder die Biographie des/r Befragten als sein oder ihr Wissen über das untersuchte Thema im Zentrum des Interesses. Zur Methodik des Experteninterviews siehe Meuser und Nagel (1991), Bogner/Littig/Menz (2002). Der Anfang der kurz dargestellten Stelle soll hier angeführt werden, um den Gesprächskontext zu verdeutlichen. (Aus meinem Gedächtnisprotokoll:) Im Zusammenhang mit der Reaktion der Hodscha auf die Formulierung meines Forschungsvorhabens fragte ich sie, was sie über die Menschen – vor allem in der BRD – sagen würde, die sich ausdrücklich als Aleviten bezeichnen, Vereine bzw. Gemeinden gründen, um ihren Glauben auszuleben. Die Hodscha sagte daraufhin, es gäbe keinen Unterschied zwischen Alevitentum und Sunnitentum, denn es gäbe nur einen Islam (Islam ist Islam). Sie wies auf die Menschen hin, die ihren Glauben als eine Religion bezeichnen, ihr Verehrter Ali sei, den Sunniten sowieso mehr verehrten als Aleviten. Die fundamentalistischen Aleviten redeten ihrer Meinung nach von einem Unrecht, das dadurch geschehen sein soll, dass Ali nicht zum Kalifen gewählt wurde. Das sei eine demokratische Entscheidung gewesen, dass nicht Ali – er war Schwager des Propheten Mohammed –, sondern Ebu-bakr zum Kalifen gewählt wurde. Umgekehrt wäre es eine feudale Entscheidung gewesen, was im islamischen Glauben keinen Platz habe. „Alevilik diye bir din yok. Bu meseleye neter vurmak lazm. Bu ayrmcl kesip atmak lazm“. Der idiomatische Ausdruck „bir meseleye neter vurmak (lazm)“ = „ein Phänomen bzw. eine Angelegenheit muss man mit dem Skalpell behandeln“ wird benutzt, wenn mit einem Problem entschlossen umzugehen ist, d.h. wenn die Handlung „lösungsorientiert“ zu
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Hier sollen die Nichtanerkennung, die Distanzierung und die abwertenden Zuschreibungen hervorgehoben werden, die die vorherrschende Meinung in der türkischen Dominanzkultur prägen, wie sie durch die Hodscha vertreten wird. Wie ich schon erwähnt habe, ist die Hodscha eine durch die türkische Regierung offiziell beauftragte Gemeindeführerin, und durch ihre führende Position hat sie als Repräsentantin des dominanten Diskurses eine nicht zu unterschätzende Macht in ihrer Gemeinde. Ihre Meinung gilt für die Frauen und heranwachsenden Mädchen in der Moschee als die einer Autoritätsperson. Diese Zuschreibungen tragen dazu bei, dass der Diskurs der Nichtanerkennung bzw. des Ignorierens von Menschen mit alevitischem Hintergrund bzw. von nicht sunnitisch orientierten Menschen auch in der BRD weiter reproduziert wird.85 Die gegenwärtige Tradierung dieses Diskurses von Ausgrenzung und korrespondierenden Zuschreibungen an die praktizierende Tochtergeneration (dessen Muster sie wegen ihrer eigenen „Minderheitsposition“ in der hiesigen Gesellschaft schon kennen) bedeutet für eine im ,türkischen Kontext‘ lebende Minderheitsgruppe automatisch eine implizite Kontinuität mit der Vergangenheit86. Hervorzuheben ist beim eben beschriebenen Diskurs in der Türkei, dass dieser nicht nur für die Frauen, sondern auch für meine Begegnungen im Verlauf des Forschungsprozesses ausschlaggebend war. Vor diesem Hintergrund führte mein Gespräch mit der Hodscha dazu, dass ich die in der Einleitung eingeführten sekundären Forschungsfragen um eine zusätzliche erweitert habe, nämlich die nach den „gegenseitigen (erst durch die Migration hergestellte und/oder verfestigte) Zuschreibungen der alevitischen und sunnitischen Frauen und ihrem Einfluss auf die eigene Selbstdefinition“.87 Ein vergleichbares Interview führte
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sein hat. Wie ihr folgender Satz klarstellt, ist eine radikale Entscheidung bei der „Lösung“ nicht ausgeschlossen. Die Ergebnisse der Studie von Yasemin Karakaolu-Aydn (2001) zeigen, wie die Repräsentation von Aleviten als nichtauthentische Muslime funktioniert und reproduziert wird. (Zum Beispiel wird dieser Diskurs bei einer praktizierenden Studentin folgendermaßen verbalisiert: „Das sind auch Gläubige, zwar im falschen Glauben [Bemerkung: lachen]“ (ebd.: 317). Siehe dazu detailliert Karakaolu-Aydn (2001). Die Untersuchung von Lale Yalçn-Heckmann (1997) belegt aus der methodischen Perspektive der „Oral History“ die Vergleichbarkeit meiner Erfahrung während des Zugangs zum Forschungsfeld. Bei ihrer Studie geht es um die Verknüpfung zwischen individuellen Erinnerungen und kollektiven Vorstellungen in der eigenen – kollektiven – Migrationsgeschichte. Schatzmann und Strauss (1979) stellten während ihrer Feldforschung in einer Organisation fest, dass die Begegnungen in dem Forschungsfeld den Forschungsprozess sehr beeinflussen: „[...] er [der Forscher] wird sich verändern, wenn er mehr über die Leute und ihre Arbeit erfährt. Seine Untersuchung wird ihn zu unvorgesehenen Perspektiven und unvorgesehenen Orten führen; deshalb werden seine Aktionen [...] sich ebenfalls verändern und ihn wahrscheinlich häufig zu erneuter Vorstellung seiner Person und seiner Ziele nötigen.“ (ebd.: 82).
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ich mit einer „Ana“88 durch. Dieses Interview sollte auch die zusätzliche Funktion als Informationsquelle für die Stellung der Frau bei den Aleviten haben, da es zu diesem Thema nur sehr wenig Literatur gibt (siehe Kapitel 2.2.4). Während die Hodscha den Diskurs einer dominierenden Gruppe vertrat, wurde bei meinem Gespräch mit der Ana im Rahmen einer alevitischen Organisation ein anderer Diskurs repräsentiert. Es handelte sich um ein auf Türkisch geführtes und auf Tonband aufgezeichnetes Interview89. Nachdem sie die frühere Nicht-Organisiertheit der Aleviten in Europa kritisiert hatte, sagte die Ana:90 „Die Sunniten kann man nur loben. Wir [die Aleviten] sagen über sie [die Sunniten], dass sie zurückgeblieben (fortschrittsfeindlich) und unzivilisiert sind. Wir sehen alle Menschen als gleich an, und unsere Philosophie ist sehr schön. Wir haben weder fünfmal Beten am Tag noch haben wir 30 Tage Fasten, also wir haben keinen Zwang, wir haben keine (Kopf-)Bedeckung, unsere Mädchen – Frauen können sich so kleiden wie sie es wünschen, natürlich ohne die Grenze zu überschreiten. Sie [die Sunniten] haben sobald sie nach Deutschland kamen, haben sie=((hier schiebt sie einen Nebensatz ein)) ich gratuliere ihnen wirklich, ((ihren Satz fortführend)) gleich (zu) ihrer Kultur gestanden (ausgelebt, praktiziert), wir haben weder Fasten noch Beten und unsere Kultur gab (es) schon vor fünftausend Jahren. ((Hier folgt eine Belegerzählung))(…) bei uns gibt es Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ((es folgen Beispiele)) (…) hier haben die Sunniten überall ihre Moschee, und was ist mit uns? Ich praktiziere meine Kultur als Individuum, bei uns gibt es Menschen, die sogar noch nicht einmal wissen, dass sie Aleviten sind, warum, weil es keine Einheit, keinen Zusammenhalt gibt…“
In diesem aus einer kollektiven „Wir“-Perspektive gesprochenen kleinen Interviewabschnitt sind die folgenden Elemente vertreten: (a) Aleviten sind modern, 88
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Eine Ana hat zwar nicht die gleiche Position wie eine Hodscha für ihre Gemeinde, aber bedingt durch ihre „heilige“ Abstammung nimmt auch sie gewöhnlich eine angesehene und wichtige Stellung in ihrer Gemeinde ein. (siehe dazu Kapitel 2.3.2 und 2.3.4) Alle Interviewzitate und Telefonate werden unabhängig von der Interviewsprache „in Kursiv“ geschrieben. Wenn die Interviewpartnerin die Sprache wechselt, wird es „in Normal“ hervorgehoben. Bei der Übersetzung der auf türkisch geführten Interviews wurde versucht, die Interviews entsprechend der Transkriptionsregeln so authentisch wie möglich in deutscher Sprache wiederzugeben. Hier soll ebenfalls zuerst das vorangegangene Gespräch kurz angeführt werden: „vor dem Todesfall von Mohammed gabs keine Trennung (zwischen Aleviten und Sunniten). Diese hat sich nach seinem Tod, wegen des Anspruchs auf das Kalifat ergeben (...) Ali war kein Mensch, der karierre- oder geldgierig war. Er wollte der Menschheit Gutes tun. Menschenliebe stand im Vordergrund, auch deswegen hat doch Hüseyin [sein Sohn] sein Leben geopfert, hat sich doch die gesamte Hausgemeinde geopfert, wurde doch blutdürstig ermordet. Wir sind mit diesen Erzählungen groß geworden. Selbstverständlich sind einige (Erzählungen) in Erinnerung geblieben.“
4.3 Anwendung der Methode
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fortschrittlich und zivilisiert91: Besonders durch die Migration nach Europa wird diese Beschreibung mit der Unterstützung der Einwanderungsgesellschaften in der Form eines Gegensatzpaars von „zivilisierten Aleviten“ und „zurückgebliebenen, unzivilisierten Sunniten“ reproduziert.92 (b) Die Freiheit der Frau wird an der Bekleidungsordnung festgemacht, und sie sieht die praktizierenden Sunnitinnen durch ihre (Kopf-)Bedeckung als freiwillig Unterdrückte. Ich bezeichne diese Haltung als ‚Mystifizierung der freiheitlichen Stellung der Frau bei den Aleviten‘. (c) Fehlender Zusammenhalt unter den Aleviten: In der Migration bedeutet dies, dass die sunnitischen MigrantInnen aufgrund ihres Grads der Organisiertheit von den Aleviten, einer mit der Minderheitenrolle vertrauten MigrantInnengruppe, als eine konkurrierende Gruppe wahrgenommen werden. Diese Konkurrenzsituation hat, anders als in der Situation einer erlernten Geheimhaltung, in der Türkei die implizite Wirkung, den sichtbaren Zusammenhalt der eigenen alevitischen Gemeinde zu motivieren und zu stärken. Während des Forschungsprozesses wurde in diesen unterschiedlichen (diskursiven) ethnisch-religiösen Kontexten ebenfalls meine Herkunft zum Thema. Wo war meine eigene Position oder wie wurde ich als Forscherin von meinen Gesprächspartnerinnen wahrgenommen?93 Ich wurde bei den Organisationen sowie nachher bei den Interviews mit Müttern immer wieder danach gefragt, „wo ich herkomme“. Diese Frage meinte implizit: „Deine territoriale und/oder soziale sowie religiöse Herkunft gibt mir eine Orientierung, worüber und wie ich mit dir sprechen kann/soll.“94 Da die Stadt, in der ich lebte, in Bezug auf meine Herkunft95 beide Möglichkeiten (Sunniten und türkischsprachige Aleviten) offen
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Dieser Zivilisationsanspruch ist im Zusammenhang mit dem kemalistischen Diskurs zu lesen. Vor allem sich als kemalistisch bezeichnende Aleviten vertreten diesen Diskurs. (detaillierter in Kapitel 2.3.3) Die Ergebnisse der Studie von Yasemin Karakaolu-Aydn (2000) stimmen mit meinen Forschungen überein, dass die alevitischen Frauen in der dominanten deutschen Gesellschaft durch ihr Aussehen als der „Moderne“ zugehörig betrachtet werden, während die kopftuchtragenden Frauen zum Symbol der „Traditionalität“ gemacht werden. Über die Rolle der ForscherInnen in der qualitativen Forschung siehe auch Kiegelmann – (2002), darin besonders die Beiträge von Maxwell (ebd.: 11-30) und Riegel/Kaya (ebd.: 149158). Es geht hier um eine gemeinsame lokale oder regionale Herkunft (Türkisch: „Hemerilik“). Dieser mit „landsmannschaftlicher Herkunft“ nur unzureichend übersetzbare Begriff kann neben einer gemeinsamen Heimatregion oder -stadt auch eine günstige Wahlverwandtschaft signalisieren. Vgl. auch Schiffauer (1983), Unbehaun (1997), Çelik (2003). In der Türkei gibt es Städte, die man ganz deutlich einer ethnischen und religiösen Gruppe zuordnet. Um einige Beispiele zu benennen: Tunceli gilt als eine Stadt, die gänzlich alevitisch und verbunden mit Ethnizität kurdisch zaza ist. Demgegenüber gilt eine Stadt wie Konya als türkisch-sunnitisch. Obwohl auch andere ethnische Minderheitsgruppen wie die Armenier in dieser Stadt leben, werden sie bei diesen Vermutungen meistens gänzlich ignoriert. Da Städte
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lässt, wurde ich von meinen Gesprächspartnerinnen überwiegend als eine Angehörige der jeweils eigenen Gruppe betrachtet.96 Solange ich nicht explizit danach gefragt wurde, habe ich selbst meine Herkunft nicht thematisiert, wie ich auch die Herkunft der interviewten Mütter und Töchter jeweils erst dann thematisiert habe, wenn sie diesen Aspekt selber eingeführt haben. Anders als ihre Mütter waren ihre Töchter primär daran interessiert, mit mir in beiden Sprachen (türkisch und deutsch) sprechen zu können, je nachdem, in welcher Sprache sie sich situationsbezogen am besten ausdrücken konnten. Auf meine Anfrage, sie im Rahmen einer Studie zu interviewen, reagierten die Frauen der Müttergeneration unterschiedlich. Einige der Frauen behaupteten, ihr Leben sei nicht interessant (genug) für eine Forschung.97 Andere beschrieben sich als „Unwissende“ bzw. als „Nichtausgebildete“ aufgrund ihrer geringen (schulischen) Bildung und behaupteten daher, dass sie zu einer „wissenschaftlichen Forschung“ nichts beitragen können. Manche haben ihr Desinteresse für ein Interview damit begründet, dass sie nur über ein „normales“ Leben und kein Problem zu berichten hätten. Angedeutet wurde dabei, dass sie über kein Problem mit ihrer Tochter zu berichten hätten. Abgesehen von meiner Annahme, dass diese Mütter ihre Mutterrolle auf dem Prüfstand sahen98, war für mich eine andere mögliche Bedeutung dieser Rückmeldung nicht weniger wichtig, nämlich die darin zum Ausdruck kommenden verinnerlichten Fremdzuschreibungen – zum Beispiel die Annahme, sie seien für eine Studie nicht interessant, solange sie für die Gesellschaft nicht zu einem Problem werden. Manchmal habe ich während der Erstinterviews festgestellt, dass meine universitäre Ausbildung bei einigen Müttern Hoffnungen weckte und sie zu einem Interview motivierte, da ich als ‚studierende Migrantin‘ eventuell ihre Töchter für ein Studium motivieren könnte. (Schatzmann/Strauss 1979) Als auffällig empfand ich das ambivalente Verhalten einiger alevitischer Mütter, die mir über Bekannte vermittelt wurden. Sie lehnten ein Interview zwar nie direkt ab, vermittelten jedoch durch eine praktisch unrealisierbare Zeitbestimmung der Gesprächstermine die Botschaft,
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wie Istanbul, Ankara und Izmir als Binnenwanderungsstädte gelten, würde man meistens in diesem Zusammenhang nach dem „ursprünglichen“ Herkunftsort fragen. Ich wurde selten explizit nach einer alevitischen oder sunnitischen Gruppenzugehörigkeit gefragt, meistens wurde meine Gruppenzugehörigkeit im Sinne eines impliziten Wissens (siehe dazu Polanyi 1985) vorausgesetzt, besonders bei den Müttern alevitischer Herkunft. Zu der Interaktion während der Interviews siehe weiter unten die Reflexion der Erfahrungen während der Untersuchung. Zur Reaktion der Frauen, dass das, was sie erlebt haben, und ihr „Wissen“ für eine Forschung nicht interessant seien, m.a.W. dass sie „nichts Wertvolles“ zu erzählen hätten, siehe auch Scheyvens/Leslie (2000). Aksu Bora (2001) machte ähnliche Erfahrungen mit Müttern und ihren erwachsenen (selbst schon zu Müttern gewordenen) Töchtern in der Türkei.
4.3 Anwendung der Methode
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sie seien nicht bereit, über ihre Lebensgeschichten zu sprechen. Diese Ambivalenz bzw. Zurückhaltung lässt sich als Ausdruck einer durch ihre Minderheitserfahrung bedingten Verschlossenheit, als eine Selbstschutzfunktion betrachten, die seit Generationen eingeübt ist. In der Phase der Kontaktaufnahme hat ein Phänomen sich besonders herauskristallisiert: Wenn ich eine Zusage für ein Interview zuerst von der Mutter erhielt, konnte ich auch die Töchter interviewen. Demgegenüber war es viel seltener der Fall, dass die Mütter ein Interview gaben, wenn der Kontakt zu ihnen durch die Tochter hergestellt wurde.99 Manchmal sagte die Mutter ab, nachdem ich mit der Tochter schon ein Interview durchgeführt und für ein eventuelles Folgeinterview deren Zusage erhalten hatte. Diese Absagen wurden meistens mit Krankheit, manchmal mit einem fehlenden Interesse an der „Öffentlichkeit“ oder damit begründet, dass sie „kein Problem haben wollen“. Insgesamt zeigte sich hier eine besondere Vorsicht, die auf ihrem Status als Migrantin begründet war. Viele der angesprochenen Töchter wollten das Interview, anders als ihre Mütter, an einem öffentlichen Ort (in einem Café, in einem Raum der jeweiligen Organisation) machen. Dies betrachtete ich als einen Ausdruck des altersbedingten Distanzwunsches zur Familie bzw. der Mutter gegenüber. Zusammen zeigten praktizierende Heranwachsende mit sunnitischem Hintergrund mehr Resonanz auf mein Anliegen, ein Interview mit ihnen zu führen. Auffällig fand ich jedoch bei einigen eine ähnlich ambivalente Haltung gegenüber ihrer bereits gemachten Zusage, wie ich sie bei den praktizierenden alevitischen Müttern bemerkt habe. Eine mögliche Erklärung für diese Ähnlichkeit zwischen unterschiedlichen Generationen in verschiedenen Gruppen, alevitischen Müttern und praktizierenden sunnitischen Töchtern, waren für mich die ähnlichen stigmatisierenden Erfahrungen in unterschiedlichen Gesellschaftskontexten. Mit anderen Worten: So wie die alevitische Müttergeneration in der Türkei verinnerlicht hat, ein Mitglied einer von der Mehrheitsgesellschaft unerwünschten Minderheitsgruppe zu sein, fanden sich die praktizierenden sunnitischen Töchter nicht nur von der deutschen Mehrheitskultur, sondern auch durch viele Nichtreligiöse stigmatisiert – eine Erfahrung, die vor allem durch das „Kopftuchproblem“ symbolisiert wurde. Möglicherweise vor diesem Hintergrund antworteten viele (sinngemäß) auf meine Frage nach einem Interview mit der Gegenfrage: „Über mein Kopftuch, oder?“
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Werner Fuchs-Heinritz (2000: 244ff) weist aus eigener Erfahrung ebenfalls auf dieses Problem im Umgang mit jüngeren und älteren Generationen bei der Familienforschung in unterschiedlichen Milieus hin.
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4.3.2 Studienbezogene Entwicklung der Stichprobe Die Entwicklung der Stichprobe orientierte sich an dem von Glaser/Strauss (1998) entwickelten Verfahren des „theoretischen Sampling“. Anders als die sonst übliche Festlegung der Stichprobe in der Entstehungsphase der Untersuchung zielt dieses Verfahren darauf, das Sample unter den für die Theoriebildung wichtig gewordenen Aspekten kontinuierlich zu erweitern. (Vgl. Hoffmann-Riem 1980: 346) Ganz entscheidend bei diesem auf die Generierung von Theorie zielenden Prozess der Datenerhebung ist, dass es keine getrennten Phasen der Datenerhebung und der Datenanalyse gibt. Das heißt, dass „der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert“ (Glaser/Strauss 1998: 53). Die gesamten Interviews der vorliegenden Studie wurden von 2000 bis 2003 durchgeführt. Es wurden Frauen in sieben Familien sowie drei einzelne Töchter interviewt. Hier folgt eine Auflistung der Interviews (Gesamtsample): Praktizierende Sunnitinnen 1. 2. 3. 4. 5.
Familie Demiray: Mutter und Tochter, vier Interviews (Neziha und Meral) Familie Kalan: Mutter und Tochter, zwei Interviews (Cennet und Arzu) Familie Bakan: Mutter und drei Töchter, vier Interviews (Sabriye und Güler) Familie Akdere: Mutter und Tochter, zwei Interviews (Interview mit der Mutter protokolliert) Selma: Tochter, ein Interview
Praktizierende Alevitinnen 1. 2. 3. 4. 5.
Familie Beycanlar: Mutter und Tochter, drei Interviews (Marifet und Gül) Familie Toprak: Mutter und drei Töchter und Großmutter, neun Interviews (Elif und Ayla) Familie Algül: Mutter und Tochter, zwei Interviews Berrin: Tochter, ein Interview Hasret: Tochter, ein Interview
Das erste Sample setzt sich aus insgesamt sieben Mutter-Tochter-Paaren und drei Töchtern zusammen (ihre Mütter wollten – so die Töchter – kein Interview geben). In einer sunnitischen Familie wurden neben der Mutter auch ihre drei Töchter interviewt. Die Interviews wurden – bis auf ein Interview mit einer
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Mutter – auf Tonband aufgezeichnet. Im Anschluss daran wurden über den Kontext, den Verlauf und über den Gesprächsinhalt Memos entsprechend den vermuteten theoretischen Aspekten in der Form einer ersten globalen Auswertung angefertigt sowie die ersten Annahmen zu dem jeweiligen Fall formuliert. Nach den ersten Interviews wurde entsprechend den Kriterien der Untersuchung mit biographisch-narrativen Interviews das zweite Sample ausgewählt (Rosenthal 1995, Hildenbrand 1999). Die Grundlage für die Auswahl von (neuen) Personen/Fällen für diese zweite theoretische Stichprobe waren so genannte Globalanalysen. Das bedeutet eine erste vorläufige Auswertung, die anhand der – vor und nach den Interviews – angefertigten (Feld- bzw. Gesprächs)Notizen bzw. Memos über die Kontaktaufnahme und damit zusammenhängenden Ereignisse sowie über das Interview gewonnen wird. Diese Memos geben (gemäß den Grundsätzen der biographischen Fallrekonstruktion) getrennt Auskunft über die Gestalt der biographischen Daten (erlebte Lebensgeschichte) und über die sequenzielle Struktur der Eingangserzählung im Interview (erzählte Lebensgeschichte). Die gesamten Interviews mit den Frauen aus dem zweiten Sample wurden transkribiert.100 Wegen der Aufwendigkeit der Auswertungsmethode wurden für die vorliegende Arbeit vergleichend zwei Mutter-TochterPaare für ausführliche biographische Fallrekonstruktionen (siehe Kapitel 4.3.4) ausgewählt und dementsprechend ausführlich dargestellt (siehe Kapitel 5). Bedeutend waren für die Auswahl der beiden Fälle einige Ähnlichkeiten bei unterschiedlichen Lebensbedingungen. Beide Mütter kommen aus Familien, die ein ausgeprägtes alevitisches oder sunnitisches Zugehörigkeitsbewusstsein zeigen und eine Binnenmigrationserfahrung in der Türkei aufweisen. Sie sind ungefähr im selben Alter ohne ihre eigenen Mütter nach Deutschland gekommen und haben in der BRD angefangen, ihre alevitische und sunnitische Gruppenzugehörigkeit sichtbar zu praktizieren bzw. durch eine entsprechende Organisationszugehörigkeit zum Ausdruck zu bringen. Beide Fälle zeigen eine von den Migrationsbedingungen geprägte Veränderung im Familienleben. Die Entscheidung über die Auswahl eines Falles (Mutter-Tochter-Paar) für die Rekonstruktion und Darstellung erfolgte zusätzlich zu theoretischen Kriterien (ihre besondere theoretische Reichhaltigkeit) nach der Teilnahmebereitschaft und Offenheit des Mutter-Tochter-Paares für eine weitere Datenerhebung. 100 Eine Transkription ist die verschriftlichte Form eines Interviews in seiner auf einer Tonbandaufnahme hörbaren Gestalt. Beim Transkribieren werden grammatikalische Satzzeichen und Regeln ausgesetzt, stattdessen die festgelegten Transkriptionsregeln angewendet. Für das methodische Vorgehen der vorliegenden Studie heißt das, es wird mit Hilfe eines aus der Linguistik und Kommunikationsforschung übernommenen Zeichensystems alles Hörbare wiedergegeben. Dazu gehören auch Intonation (laut, leise, betont), Abbrüche bzw. Unterbrechungen (jemand klopft an der Tür / das Telefon klingelt usw.), Nebengeräusche, parasprachliche Äußerungen (lacht, weint, hustet usw.).
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Wenn es sich für die Auswertung als wichtig erwies, wurden außer den Mutter-Töchter-Paaren auch weitere Familienangehörige interviewt. Aus der entwicklungspsychologischen Perspektive zeigten sich bei den adoleszenten Töchtern während der langen Erhebungsphase Veränderungen; auch diese wurden in den Auswertungsprozess einbezogen. Die Ergebnisse der Auswertungen der anderen Interviews fließen auf der Ebene der theoretischen Verallgemeinerung mit in die Arbeit ein. Die im Sampling der Untersuchung angelegte komparative Struktur entspricht auch dem von Glaser und Strauss (1998) beschriebenen kontrastierenden Forschungsverfahren. Ein und dasselbe Sample kann in diesem Zusammenhang, je nach Fragestellung, sowohl für einen minimalen als auch für einen maximalen Vergleich benutzt werden. Anders als in der Grounded Theory ist das Ziel der vorliegenden Arbeit nicht eine theoretische Sättigung, sondern eine theoretische Verallgemeinerung.101
4.3.3 Datenerhebung Für die Untersuchung wurde die Methode des biographisch-narrativen Interviews gewählt. Dieses Erhebungsinstrument wurde im deutschen Wissenschaftskontext in der Form des narrativen Interviews102 zuerst Mitte der 1970er Jahre von Fritz Schütze (1976; 1977) im Zusammenhang mit einer Studie über kommunale Machtstrukturen entwickelt. In der Folgezeit wurde dieses Erhebungsverfahren außer von Fritz Schütze (1983; 1987) u.a. auch von Gabriele Rosenthal (1995) durch eine Erweiterung der Techniken der Gesprächsführung weiterentwickelt. Zentrales Anliegen eines narrativen Interviews – mit einer offenen (relativ allgemein gehaltenen) Eingangsfrage und zunächst ohne weitere Interventionen von Seiten der InterviewerInnen – ist es, die interviewte Person zu einer längeren Darstellung von eigenerlebten Ereignissen zu motivieren und dazu, diese in eine Erinnerungs- und Erzählform zu bringen, sie also zur Produktion von selbst101 Als Begründung für dieses methodische Vorgehen schließe ich mich folgender Aussage von Roswitha Breckner (2001; 11) an: „Aufgrund der Weite und Komplexität des sozialen und historischen Feldes, als dessen Bestandteil die Biographien gesehen werden, kann […] nicht angestrebt werden, diesbezüglich zu einer empirischen Sättigung in dieser Arbeit zu gelangen. Die empirischen Analysen gewinnen daher eher den Status von ‚Sonden‘, mit denen das Feld ausgelotet, bei weitem jedoch nicht ‚erfasst‘ werden konnte“. 102 Da der Begriff „narratives Interview“ in der sozialwissenschaftlichen Diskussion inflationär verwendet wird, verweise ich zur Technik des narrativen Interviews im hier gemeinten Sinn auf folgende Literatur: Schütze (1976; 1977; 1983; 1987), Hermanns (1981; 1991), Rosenthal (1987; 1995).
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strukturierten Stegreifgeschichten103 anzuregen. Im Folgenden werden im Zusammenhang mit den konkreten Erfahrungen während der vorliegenden Studie die Phasen eines biographisch-narrativen Interviews nach Wolfram FischerRosenthal und Gabriele Rosenthal (1997: 140; zuerst Rosenthal 1995) dargestellt. Die Erzählaufforderung: Grundsätzlich wurde für die vorliegende Studie die offenste Form der erzählgenerierenden Eingangsfrage ohne Themeneinschränkung gewählt, die für eine biographisch-interpretative Analyse als die konsequenteste Form gilt. Diese Erzählaufforderung zur Lebensgeschichte lautete: „Wir/Ich möchte Sie/dich bitten, mir Ihre/deine Familien- und Lebensgeschichte zu erzählen, alle Erlebnisse, die Ihnen/dir einfallen. (Gefolgt von der Regieanweisung:) Sie können sich/Du kannst dir dazu so viel Zeit nehmen, wie Sie möchten/du möchtest. Ich werde Sie/dich auch erst mal nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen machen und später noch drauf zurückkommen.“
Diese offene Eingangsfrage hat vor allem die Funktion, die Interviewpartnerinnen nicht auf ihren Status als praktizierende alevitische bzw. sunnitische Mütter oder Töchter mit Migrationshintergrund zu reduzieren, sondern mein Interesse für ihre gesamte Lebensgeschichte hervorzuheben. Diese Herangehensweise verfolgte – abgesehen von der Vermeidung der erwähnten thematischen Reduktion – die Absicht, es den Interviewpartnerinnen zu überlassen, ob und in welchem Zusammenhang sie ihre Herkunft und ihre Beziehung zu ihren Töchtern bzw. Müttern thematisieren.104 Bei einigen Interviews – vor allem mit den Töchtern – wurde, anders als oben beschrieben, eine zum Interview überleitende Frage als Eingangfrage gestellt, denn die zuvor hergestellte Interaktionsform ermöglichte einen solchen Übergang: „Wie gesagt, ich interessiere mich für die Lebensgeschichte heranwachsender Mädchen/ junger Frauen, erzähl einfach über dein Leben, und deine Familie, halt über deine Lebenserfahrung.“ (Danach folgt die erwähnte Regieanweisung.)
103 Stegreifgeschichten bzw. Stegreiferzählungen sind „spontane Erzählungen, die nicht durch Vorbereitungen oder standardisierte Versionen einer wiederholt erzählten Geschichte vorgeprägt oder vorgeplant sind, sondern aufgrund eines besonderen Anlasses aus dem Stand heraus erzählt werden“ (Hermanns 1991: 183). 104 Über die Besonderheiten des Umgangs bei Interviews mit traumatisierten Menschen und Personen, die im Zusammenhang mit einer Stigmatisierung traumatisiert wurden, siehe Loch/Rosenthal (2002), Loch (2006).
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Die biographische Selbstpräsentation: Die selbstgestaltete Eingangserzählung, die auf die Erzählaufforderung erfolgt und mit einer von der Autobiographin formulierten Coda – einem ausdrücklichen Erzählschluss (vgl. Schütze 1976: 164) – endet („Ich weiß nicht mehr, was ich erzählen soll/Mir fällt nichts mehr ein.“ o..ä.), wird als biographische Selbstpräsentation bezeichnet (Rosenthal 1995). Entsprechend dem methodischen Vorgehen wurde in dieser von den Interviewpartnerinnen selbst gestalteten Phase nicht interveniert und die Regie bei der Gestaltung der biographischen Selbstpräsentation den Interviewpartnerinnen überlassen. Während der Eingangserzählung wurden in Stichworten Notizen über die angesprochenen Themen, über die Stellen der Erzählungen, die nicht plausibel oder detailliert genug sind, gemacht. Diese stichwortartigen Notizen dienten bei den späteren erzählungsinternen Nachfragen als roter Faden. Die Eingangserzählungen waren unterschiedlich lang, sie variierten zwischen 10 bis 45 Minuten. Vor allem die Interviews mit Töchtern in der Adoleszenz (16-17 Jahre alt) waren die kürzesten. Abgesehen von individuellen Gründen, wie z.B. Unerfahrenheit in der Produktion von Lebenserzählungen, kann dies möglicherweise damit erklärt werden, dass die Interviewten dieser Altersgruppe die Notwendigkeit von biographischen Thematisierungen in ihrem alltäglichen Leben weniger spüren oder seltener erfahren haben als ihre Mütter. Insgesamt war es für die von mir befragten Mütter und ihre Töchter schwierig, nach der offenen Eingangsfrage mit dem Sprechen zu beginnen, ohne die Interviewerin um die Mitteilung einer konkreten Fragestellung zu bitten. An solchen Stellen wurde den Interviewpartnerinnen eine bereits von ihnen erwähnte Lebensphase als Anschlusspunkt angeboten. Ein Interview basiert grundsätzlich auf der Interaktion zwischen den interviewenden und interviewten Personen. Durch „aktive[s] Zuhören“ (Rogers 1951, Gordon 1977) und die Bekundung von Aufmerksamkeit mittels parasprachlicher Äußerungen („hm“, „Aha“, „wie ging’s weiter?“), die in unterschiedlichen Phasen des Interviews unterschiedlich angewendet wurden, sowie durch Paraphrasieren, d.h. das knappe Wiedergeben des Inhalts des Erzählten in eigenen Worten, wie z.B. „Du meinst, Du hast Dich ausgeschlossen gefühlt“, wurden Interviewpartnerinnen zum Weitererzählen motiviert. Die Nachfragen: Auf die biographische Selbstpräsentation folgen die Nachfragen, welche entsprechend der Methode des biographisch-narrativen Interviews als erzählungsinterne und erzählungsexterne Nachfragen in zwei getrennten Phasen gestellt werden. Interne Nachfragen basierten, wie bereits angeführt, auf den stichpunktartigen Notizen während der selbststrukturierten Eingangspräsentation. Sie waren daher von Fall zu Fall unterschiedlich und dienten als ein am Einzelfall
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entworfener Interview-Leitfaden (Rosenthal 1995: 202). Die an den Relevanzen der befragten Person orientierten erzählungsinternen Nachfragen haben den Vorteil, dass „wir nach der Haupterzählung die Bedeutung bestimmter Fragen besser ermessen können und nicht unüberlegt in traumatische oder peinliche Lebensbereiche eingreifen.“ (ebd.: 203) Die erzählungsinternen Nachfragen dienen weiterhin zur Aufklärung der von der Interviewpartnerin erwähnten, aber nicht ausgeführten Einzelheiten, zu ihrer Detaillierung und Verdeutlichung. Die internen Nachfragen werden wie die Erzählaufforderung offen gehalten und nach der Reihenfolge der Notizen – also entsprechend der Abfolge in der Eingangserzählung – erzählgenerierend gestellt. Damit werden der Erinnerungsprozess und der Erzählfluss der Interviewpartnerin unterstützt.105 Dieser und der anschließende Teil der externen Nachfragen sind für die Auswertung der Interviews von hoher Relevanz, denn sie haben auch die Funktion eines „Abtestens“ von Annahmen, die sich bei der Eingangserzählung aufdrängen, sich jedoch durch diese nicht allein klären lassen.106 Es wurde bei allen Müttern und Töchtern an die selbststrukturierte Eingangspräsentation anschließend bereits beim ersten Interviewtermin mit den internen Nachfragen begonnen. Bei manchen Interviews führte die erste interne Nachfrage dazu, dass die Befragten, oft nach einer Erläuterung dieser Nachfrage, damit fortfuhren, mit ihren Erzählungen das Interview selbst zu strukturieren. Dies war besonders bei den etwas unsicheren Interviewpartnerinnen auffällig. Bemerkenswert war bei den Interviews mit den Töchtern, dass ein manchmal lang anhaltendes Schweigen bzw. die kurzen Antworten107 zu einem konversationsähnlichen Charakter führten. Je nach Dauer des Interviews wurden nach den internen Fragen auch die externen Fragen im ersten Interview angesprochen. Die forschungsspezifischen erzählungsexternen Nachfragen beinhalteten die Untersuchung spezifischer Fragen, die von Interviewpartnerinnen nicht angesprochenen wurden. Auch diese externen Fragen wurden möglichst offen gehalten. So werden einerseits dem Erinnerungsrahmen entsprechend Erlebnisse aus dem Gedächtnis vorstellig, die den Interviewpartnerinnen bei einem gezielten Abrufen vermutlich nicht einfallen würden, andererseits erübrigten sich damit viele weitere, vorab strukturierte, externe Nachfragen. In dieser Phase wurde mit den Interviewpartnerinnen auch ein Familiengenogramm erstellt. Im Forschungsbereich der biographischen Fallrekonstruktion hat zuerst Bruno
105 Für die Technik der Formulierung von sensiblen und erzählgenerierenden Nachfragen siehe Rosenthal (1995) und Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997) 106 Detailliert dazu siehe Rosenthal (1987: 119-142; 1995 besonders S. 201-207), Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997: 144-147). 107 Vor allem, wenn es um die Familie, die Mutter oder ihr Verständnis des eigenen Glaubens ging.
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Hildebrand (1991; 1999) die Verwendung von Familiengenogrammen eingeführt. „Das Genogramm ist ein graphisches Hilfsmittel, um zentrale lebens- und familiengeschichtliche Daten über mehrere Generationen hinweg zu rekonstruieren und so zu einer Fallstrukturhypothese zu gelangen, die beschreibt, wie die jeweilige Familie in der Dialektik von Autonomie und Heteronomie immer wieder Entscheidungen als geordnete (= strukturierte) und zukunftsoffene zugleich hervorbringt.“ (Hildenbrand 1999: 32)
Meistens löste die Erstellung eines Genogramms viele (weitere) Erinnerungen über die eigene Lebensphase oder über Familienmitglieder aus und ermöglichte die Generierung neuer Erzählungen. Interviews wurden damit beendet, dass die Mütter und Töchter danach befragt wurden, ob sie über ein in den Interviews (noch) nicht erwähntes Thema sprechen möchten bzw. was sie abschließend noch sagen möchten. Ergänzend zu dieser Interviewabschlussform wurden die Interviews mit den Töchtern in der Regel mit zwei Fragen beendet; zuerst wurden sie danach gefragt, wie sie ein Buch über ihre Mutter benennen würden. Damit sollte bezweckt werden, dass die Gesamtgestalt in der Betrachtung der eigenen Mutter bzw. deren innere Konsistenz von Seiten der Tochter anhand eines von ihr selbst formulierten Satzes oder Stichwortes zum Ausdruck gebracht bzw. benannt wurde. Zweitens wurden die Töchter nach ihrer zukunftsorientierten Lebensvorstellung (Wie wird dein Leben in den nächsten 10 Jahren aussehen?) befragt. Abgesehen davon, dass die Antwort auf diese Frage ein Bild von den Zukunftsperspektiven der Töchter geben sollte, war damit auch beabsichtigt, Aufschluss über den Einfluss der Mutter bzw. ihre Beziehung zur Mutter auf ihre Lebensplanung zu erhalten.
4.3.4 Datenauswertung: Die biographische Fallrekonstruktion Die Interviews wurden mit dem von Gabriele Rosenthal (1987; 1995; 2002, 2005) vorgestellten und methodologisch begründeten Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion ausgewertet. Dieses Verfahren verknüpft die objektive Hermeneutik Ulrich Oevermanns mit der Erzählanalyse Fritz Schützes und (in Anlehnung an Aron Gurwitsch) mit der thematischen Feldanalyse Wolfram Fischers. Im Wesentlichen geht dieses Analyseverfahren von einer strukturierten Sequenzialität und Gestalthaftigkeit im Verhältnis von erlebter und erzählter Lebensgeschichte aus. Das heißt, es wird zwischen den Handlungen der Biographinnen und Biographen und deren Präsentation bzw. Deutungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit ein Unterschied gemacht. Rosenthal (1995:
4.3 Anwendung der Methode
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20)108 zufolge stehen erlebte und erzählte Lebensgeschichte in einem sich wechselseitig konstituierenden Verhältnis. In Bezug auf die dialektische Beziehung zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen erörtert die Autorin diese Grundannahme auf der Basis der phänomenologischen Diskussionen über die Gestalttheorie von Aron Gurwitsch. Als Ausgangspunkt für die Konzeption des Erinnerns lehnt sich Rosenthal (1995) bei ihrem Vorgehen an Husserls Konzept an, in dem Erinnern nicht auf dem Abrufen ehemals Gespeicherten, sondern auf einem Vorgang der Reproduktion beruht. Dabei wird davon ausgegangen, dass das erinnerte Vergangene entsprechend der Gegenwart der Erinnerungssituation und der antizipierten Zukunft einer ständigen Modifikation unterliegt. Das jeweilige Zurückerinnern wirkt auf die frühere Erinnerung, wobei bei jedem Erinnerungsvorgang eine Selektion stattfindet. Nach der Gestalttheorie sind die Gedächtniseinheiten „einheitlich gestaltete Gebilde“ und nicht atomisierte Assoziationsketten (Rosenthal 1995: 72f.). Aus gestalttheoretischen Prinzipien erklärt sich Rosenthal (1995: 74) zufolge das Phänomen, „daß wir uns zunächst weniger an die Elemente einzelner Ursprungssituationen als vielmehr an ihre Muster erinnern und, erst darauf beruhend, deren funktionale Bestandteile rekonstruieren.“ Voraussetzung für die Erinnerung an eine Situation in der Vergangenheit ist, dass ein Bestandteil der gegenwärtigen Situation bereits die Spuren der Gesamtheit in sich trägt. Rosenthal (1995) ist der Überzeugung, dass der empirische Befund, dass man sich leichter an Erlebnisse erinnert, die mit der momentanen Stimmung übereinstimmen, gestalttheoretisch mit der wechselseitigen „Kommunikation“ zwischen gegenwärtigen und vergangenen Gestalten erklärt werden kann. „Man erinnert sich ja nicht an alle Situationen des Lebens, die mit den Gefühlen in der Gegenwart korrespondieren, sondern eben nur an diejenigen, die in ihrer Bedeutung eine thematische Verknüpfung mit der gegenwärtigen Situation aufweisen bzw. mit ihr in einem thematischen Feld stehen. Der Erinnernde erinnert sich dann auch an jene Bestandteile des vergangenen Erlebnisses, die funktionale Bedeutung für sein Thema haben.“ (ebd.: 75)
Mit anderen Worten: „Die gegenwärtige Lebenssituation bestimmt den Rückblick auf die Vergangenheit bzw. schafft eine jeweils spezifische Vergangenheit“ (Rosenthal 2002a: 136). Diese Annahme beruht darauf, dass die Bedeutung des Erlebten wie jede Bedeutung von einem Kontext oder Kontexten und nicht zuletzt vom eigenen biographischen Gesamtkontext abhängig ist. Das bedeutet, dass die Vergangenheit je nach gegenwärtigen Interpretationspunkten immer 108 Zur Diskussion über das von Gabriele Rosenthal methodologisch begründete Vorgehen vgl. Jureit (1999) und Apitzsch (2003a).
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4 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
wieder neu konstruiert wird, welches jedoch nicht losgelöst von der erlebten Vergangenheit geschieht. Wie bestimmte Teile einer Geschichte ausgelassen werden, können auch einige Bestandteile in die Erzählung mit einbezogen werden, die nicht zur Erinnerung des Erlebnisses gehören (Einfügungen und Ausfühlungen). Diese dienen zur Plausibilisierung einer Geschichte und sind meistens dem Erzähler bewusst. Bei den „Ausfühlungen“ jedoch können Rosenthal zufolge schon Fremderzählungen eine Geschichte – genauso wie Kindheitserinnerungen – gestalten, ohne dass es dem Erzähler selbst bewusst ist. Mit Hilfe von solchen (in diesem Fall bewussten) Ausfühlungen können auch die Erlebnisse anderer Menschen unter Übernahme ihrer Perspektive erzählt werden.110 Die unten skizzierten Analyseschritte der biographischen Fallrekonstruktion sind als Handlungsorientierungen und nicht als (methodisches) Rezeptwissen zu betrachten. Es kann bei der Ausarbeitung der Fälle zu Differenzierungen und Variationen kommen, die sich aus der Erschließung des spezifischen Materials ergeben. Diese Differenzierungen orientieren sich jedoch an den allgemeinen, von Rosenthal (2002a: 142) formulierten Erfordernissen von hermeneutischen Auswertungsverfahren, die, wie bereits erwähnt, von einer generellen Differenz von Erleben, Erinnern und Erzählen ausgehen. Diese Grundannahmen verlangen in voneinander getrennten Auswertungsschritten nach: (a) dem Verstehen der Genese und sequentiellen Gestalt einer Lebensgeschichte, (b) der Annäherung an die Handlungsabläufe, an das Erlebte und nicht nur an dessen Deutungen in der Gegenwart sowie (c) der Rekonstruktion der Gegenwartsperspektive und ihrer Differenz zu den in der Vergangenheit eingenommenen Perspektiven. Den Sinn des von ihr geforderten, nach verschiedenen Auswertungsphasen getrennten, Vorgehens bei der Umsetzung dieser drei Ziele beschreibt Rosenthal (2002a: 144f) wie folgt: „Ziel der Rekonstruktion ist sowohl die biographische Bedeutung des in der Vergangenheit Erlebten als auch die Bedeutung der Selbstpräsentation in der Gegenwart. Wird bei der Rekonstruktion der Fallgeschichte nach der biographischen Bedeutung einer Erfahrung zur damaligen Zeit gefragt, so stellt sich bei der Rekonstruktion der Lebenserzählung, bei der so genannten Text- und thematischen Feldanalyse, die Frage nach der Funktion der Darstellung des Erlebens für die interviewte Person in ihrem gegenwärtigen sozialen Kontext.“
110 Detailliert dazu siehe Schütze (1984; 1987).
4.3 Anwendung der Methode
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Analyseschritte bei der biographischen Fallrekonstruktion Im Folgenden sollen die einzelnen Schritte dieses Analyseinstruments dargestellt werden, wie sie in der Durchführung nacheinander ablaufen: (1) Analyse der biographischen Daten (2) Text- und thematische Feldanalyse (3) Rekonstruktion der Fallgeschichte (4) Feinanalyse einzelner Textstellen (5) Kontrastierung der erzählten mit der erlebten Lebensgeschichte (6) Theoretische Verallgemeinerung bzw. Typenbildung. Im ersten Analyseschritt nach Oevermann u.a. (1980) werden unabhängig von der Deutung der Autobiographin Hypothesen über die einzelnen biographischen Daten (Geburt, Anzahl der Geschwister, Einschulung, räumliche Mobilität, Heirat, Eintritt in die ethnisch-religiöse Organisation, Entbindung etc.) in der zeitlichen Abfolge von biographisch relevanten Ereignissen der Lebensgeschichte in ihren historischen, ethnisch bzw. religions- und milieuspezifischen, familialen, entwicklungspsychologischen und weiteren theoretisch relevanten Kontexten gebildet. Anders ausgedrückt: Hier wird danach gefragt, wie die Biographin die soziale Welt vermutlich erlebt (hat). Dieser Analyseschritt erfordert vielfältiges Kontextwissen über die in Frage stehende Gesellschaft bzw. das jeweilige Milieu und führt zu einer erweiterten Bedeutungsrekonstruktion, die als Ausgangspunkt für eine weitergehende Rekonstruktion des Fallcharakters der Falldaten dient.111 Die einzelnen Daten werden im Sinne der Sequenzanalyse in der zeitlichen Abfolge der Ereignisse im Lebenslauf analysiert. Zu jedem einzelnen biographischen Datum werden – entsprechend dem abduktiven Schlussverfahren, (Peirce 1933/1980) beginnend mit dem zeitlich am weitesten zurückliegenden und unabhängig vom Wissen über den weiteren biographischen Verlauf und ohne Wissen über die Deutung und die Darstellung der Autobiographin – Hypothesen über die biographische Bedeutung dieses Datums zum Zeitpunkt des Erlebens gebildet. Die Hypothesenbildung orientiert sich an der Frage, welche möglichen biographischen Bedeutungen ein spezifisches Erlebnis in einem bestimmten Lebensalter in der jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Rahmung gehabt haben könnte.112 Mit den Worten von Oevermann (1980: 23) 111 Die biographischen Daten zu den hier vorgestellten vier Falldarstellungen finden sich im Anhang. 112 Es steht hier die Verbindung mit Mannheimscher Erlebnisschichtung im Zusammenhang mit Generationslagerung, wie er differenziert definiert: „Von einer verwandten Lagerung einer zur gleichen Zeit einsetzenden Generation kann also nur insofern gesprochen werden, als und insofern es sich um eine potentielle Partizipation an gemeinsam verbindenden Ereignissen und Erlebnisgehalten handelt. Nur ein gemeinsamer historischer Lebensraum ermöglicht, daß die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit zu einer soziologisch-relevanten werde.“ (Mannheim 1964: 536) Der Mannheimsche Begriff der „Erlebnisschichtung“ geht davon aus, dass die Lebenszeit der Erlebnisse für die Formierung des Bewusstseins entscheidend ist. Diese
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4 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
wird also gefragt, was ein Subjekt „in einem spezifizierten Kontext bei Konfrontationen mit einem spezifizierten Handlungsproblem tun könnte oder tun sollte“. Bei der Hypothesenbildung werden gedankenexperimentell verschiedene Möglichkeiten zu den konkreten Daten und den weiteren Verläufen entworfen. Es wird jeweils gefragt, „wie es weitergegangen ist“ bzw. „wie es unter den bestehenden Bedingungen „weitergehen könnte“. Ein derartiges Vorgehen beugt der Gefahr einer vorzeitigen Beeinflussung durch die Handlungen des Subjekts vor. Im Verlauf der Analyse wird deutlich, welche Hypothesen ausgeschlossen werden können und welche sinnvoll weiterzuverfolgen sind. Mit Abschluss der Analyse bleiben nur bestimmte Strukturhypothesen als wahrscheinlich übrig, die dann für die weitere Sinndeutung des Einzelfalls fallspezifische Fragen präsentieren. Die Analyse der biographischen Daten ermöglicht ebenfalls die „jeweils besonderen, individuellen Verwirklichungen objektiver Möglichkeiten, d. h. die Nutzung von Chancen, Umgebung oder Vermeidung von Konditionierungen, bzw. die Erduldung von Restriktionen zu verstehen“ (Brose/Wohlrab-Sahr/ Corsten 1993: 72). Entsprechend der Verfügbarkeit der familiengeschichtlichen Daten (einschließlich von solchen Daten, die durch die Interviews mit anderen Familienmitgliedern oder aus Archivdokumenten usw. gewonnen werden) kann dieser Analyseschritt mit der Genogrammanalyse113 beginnen. Bei der Familienanalyse wird davon ausgegangen, dass „Familien strukturiert handeln, daß sie aber auch Strukturen transformieren können – dies allerdings geschieht wiederum nicht beliebig, sondern strukturiert“ (Hildenbrand 1999: 33). Außerdem eignet sich ein Genogramm gut dazu, „komplexe Familienstrukturen sowie historische Entwicklungen und damit verbundene Problemfelder innerhalb der Familien zu erkennen“ (Rosenthal 1997a: 15). Die Analyse wird bei diesem Arbeitsschritt gemäß der chronologischen Abfolge von den Daten der ältesten Generation bis hin zu denen der jüngsten Generation durchgeführt. Bei diesem Schritt der Auswertung steht im Vordergrund, was diese Familienkonstellation bzw. dieser Familienhintergrund und die Handlungsmöglichkeiten der Familie für die einzelnen Familienmitglieder bedeuten. Bei der sequenziellen Genogrammanalyse entwickeln wir Hypothesen über die mit den Daten bezeichneten Situationen der Entwicklungsgeschichte der Familie sowie über die nach Maßgabe der fraglichen Zeit, des fraglichen regionalen Milieus, der Familienkonstellation etc. Erlebnisse bilden in ihrem Zusammenhang mit dem Lebensalter eine Schicht. Die Erlebnisse im Jugendalter betrachtet er als „erste Eindrücke“; in der weiteren Zeit kommen eine zweite und eine dritte Schicht hinzu, die „Späterlebnisse“, welche jedoch für das Individuum für die Formierung des Bewusstseins weniger bedeutend sind. 113 Siehe dazu Hildenbrand (1999) und McGoldrick/Gerson (2000).
4.3 Anwendung der Methode
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objektiv gegebenen Entscheidungsspielräume. Hierbei können (immer auf der Ebene der Hypothesen bleibend) erste wiederkehrende Familienmuster deutlich werden, die sowohl auf der intergenerationalen als auch auf der intragenerationalen Ebene wirksam sein können.114 Der zweite Analyseschritt, die Text- und thematische Feldanalyse, deren Methode auf den Arbeiten von Aron Gurwitsch (1974), Wolfram Fischer (1982) und Fritz Schütze (1983) gründet, dient dazu, die gegenwärtigen Relevanzstrukturen der Interviewpartnerin zu rekonstruieren. Mit anderen Worten, es geht hier um die von der Biographin erzählte Lebensgeschichte, also um die Selbstpräsentation der Biographin. „Interpretationsbedürftig sind bei diesem Analyseschritt die Art und Funktion der Darstellung im Interview, und nicht die biographische Erfahrung an sich (Rosenthal 1987: 180; sowie 1995: 218). Das Ziel dieses Analyseschritts ist es herauszufinden, welche Mechanismen die Auswahl und Gestaltung sowie die temporale und thematische Verknüpfung der Textsequenzen steuern. Bei der Text- und thematischen Feldanalyse wird davon ausgegangen, dass die Interviewpartnerin ihre Wissens- und Relevanzsysteme, ihre Deutungen des Lebens, ihre Erlebnisse in thematische Felder einordnet. Was ein Thema und ein thematisches Feld ist, beschreibt Rosenthal (1995: 50) in Anlehnung an Gurwitsch (1974) folgendermaßen: „Das Thema ist das, womit wir uns in einem gegebenen Augenblick beschäftigen, das, was im Zentrum unserer Aufmerksamkeit steht und jeweils in ein thematisches Feld eingebettet ist. [...] Das thematische Feld fällt nicht mit der dem Thema mitgegebenen Gesamtheit zusammen. Nur die mit dem Thema kopräsenten Gegebenheiten, ,die als sachlich mit dem Thema zusammenhängend erfahren werden‘, sind Bestände des thematischen Feldes.“ Das thematische Feld und das Thema stehen in einem Zusammenhang, der auf einer Einheit durch Relevanz115 beruht. Ihre Verbindung ist eine Gestaltverbindung.“ (ebd.: 51) Im Zusammenhang mit dieser Gestaltverbindung weisen alle Komponenten eine durchgehende Wechselbeziehung zwischen Thema und Feld auf. Dieser Analyseschritt beginnt mit der Sequenzierung des vollständig transkribierten Interviews nach Sprecherwechsel, Textsorten (Argumentation, Beschreibung, oder Erzählung und deren Unterkategorien)116 und nach den thematischen Modifikationen, die auf einer ersten Einschätzung der Themen 114 Siehe dazu die Familiengenogramme in den Kapiteln 5.1 und 5.3. 115 Der Begriff „Relevanz“ bei Gurwitsch bezieht sich auf das Thema und nicht wie bei der Konzeption der thematischen Relevanz bei Alfred Schütz auf das Subjekt (vgl. Rosenthal 1995: 52). 116 Zu Erzählung, Argumentation, Beschreibung und Bericht und den jeweiligen Unterkategorien siehe detailliert Kallmeyer/Schütze (1977).
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4 Methodisches Vorgehen und Forschungsdesign
beruhen. Die Sequenzen werden dem Aufbau des Textes entsprechend in Form eines stichwortartigen Überblicks nacheinander aufgelistet und anschließend „Schritt für Schritt“ interpretiert. Das heißt also, wie beim ersten Analyseschritt (Analyse der biographischen Daten) werden auch bei diesem Schritt die aufgelisteten einzelnen Sequenzen dem Aufbau des Textes entsprechend, also ohne Kenntnis über die folgende Sequenz, auf ihre unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten hin ausgelegt. Die Hypothesenentwicklungen orientierten sich dabei an den von Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997: 153) herausgearbeiteten und zuletzt von Rosenthal (2005: 187) weiter entwickelten Fragen: Weshalb wird dieses Thema an dieser Stelle eingeführt? Weshalb wird dieses Thema an dieser Textsorte präsentiert? Weshalb wird dieses Thema in dieser Ausführlichkeit bzw. Kürze dargestellt? Was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt? Welche Lebensbereiche oder Lebensphasen werden angesprochen und welche nicht? Über welche Lebensbereiche und Lebensphasen erfahren wir erst im Nachfrageteil und weshalb wurden diese nicht während der Haupterzählung eingeführt? Aufgrund der oben eingeführten Ergebnisse der Reflexion der (Feld-)Forschung (Kapitel 4.3.1) ergänzte ich diese Fragen im Kontext der Migrationsforschung um eine weitere: „Warum wird dieses Thema in dieser Sprache eingeführt?“ Bei Beginn der Analyse ist zu klären, warum z.B. eine Biographin ihre Lebenserzählung mit einer ausführlichen Schilderung über den Todesfall ihres neugeborenen Geschwisters und dadurch verursachte langfristige Krankenhausbesuche im Alter von sieben Jahren beginnt. Im Unterschied zu den biographischen Daten wird hier nicht danach gefragt, welche Bedeutung es damals für die Biographin hatte, dass sie tagelang mit ihrer Mutter zum Krankenhaus gehen und ihre Zeit dort verbringen musste. Von Interesse ist vielmehr, welche Funktion diese Präsentation heute für sie als sechzehnjährige junge Frau hat und warum sie diese Erfahrung unter Verwendung einer bestimmten Textsorte thematisiert. Weiterhin wird gefragt, warum die jeweilige Textsequenz so ausführlich oder so kurz ist, und welches Thema sie in welchem thematischen Feld repräsentiert. Im weiteren Verlauf der Analyse einzelner Sequenzen kann dann deutlich werden, welche Themen nicht angesprochen werden, obwohl sie auf der Erlebnisebene koexistent sind, und in welchen thematischen Feldern diese erinnerten Erlebnisse eingebettet und von anderen abgegrenzt werden. Sowohl die bei diesem Arbeitsschritt entwickelten Hypothesen als auch die Hypothesen der biographischen Datenanalyse sowie der sequenziellen Genogrammanalyse dienen als Vorbereitung für die Rekonstruktion der Fallgeschichte. Im Analyseschritt der Rekonstruktion der Fallgeschichte wird in Verbindung mit den biographischen Daten die Gestalt der erlebten Lebensgeschichte
4.3 Anwendung der Methode
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weiter entschlüsselt. „Hier geht es um die Rekonstruktion der funktionalen Bedeutsamkeit eines biographischen Erlebnisses für die Gesamtgestalt der erlebten Lebensgeschichte und um die konsequente Vermeidung einer Atomisierung einzelner biographischer Erlebnisse.“ (Rosenthal 1995: 220) Dabei werden die Ergebnisse der Analyse der einzelnen biographischen Daten – unter Einbeziehung der Ergebnisse der Genogrammanalyse – mit den Aussagen der Biographin in der Chronologie der Lebensgeschichte verglichen. Dabei geht es darum, die Perspektive in der Vergangenheit, die biographische Bedeutung, die die Erlebnisse damals für die Biographin hatten, zu rekonstruieren. Die vorausgegangene Text- und thematische Feldanalyse gibt uns bei diesem Auswertungsschritt wichtige Aufschlüsse über die Gegenwartsperspektive der Biographin und über die funktionale Bedeutung ihrer Erzählungen für die heutige Präsentation ihrer Lebensgeschichte. „Wir versuchen also, den Gestaltungsprozess sowohl der erzählten als auch der erlebten Lebensgeschichte nachzuzeichnen, ohne dabei deren wechselseitige Durchdringung aus den Augen zu verlieren. In getrennten Auswertungsschritten wird lediglich die eine oder andere Seite stärker fokussiert.“ (Fischer-Rosental/Rosenthal 1997: 155) Die Feinanalyse einzelner Textstellen orientiert sich am Vorgehen der objektiven Hermeneutik (Oevermann 1979) und dient der Überprüfung bisheriger Hypothesen sowohl zur erlebten als auch zur erzählten Lebensgeschichte. Ferner ermöglicht dieser Analyseschritt die „Aufdeckung“ verborgener Handlungszusammenhänge bzw. die ,Entdeckung‘ bisher unerklärter Mechanismen und Regeln der Fallstruktur“ (Rosenthal 1995: 221). Die Auswahl der feinanalytisch zu bearbeitenden Textstellen kann in jeder Phase der gesamten Analyse getroffen werden. Da es hier um die Feinstruktur des von der Biographin produzierten Textes geht, ist die Beziehung der Biographin zu der im Interview gesprochenen Sprache bei der Analyse zu beachten. Das gilt besonders bei der biographischen Erforschung von Migration. Bei der Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Lebensgeschichte wird abschließend gezeigt, welche Funktion diese Präsentation für die Biographin hat und umgekehrt, welche biographischen Erfahrungen zu dieser Präsentation führen. „Durch die Kontrastierung erhalten wir Aufschluß über die Mechanismen des Vorstelligwerdens und der Auswahl von Erlebnissen aus dem Gedächtnis und über deren jeweilige Darbietung, über die Unterschiede zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive und über die damit verbundene Differenz in der Temporalität von erzählter und erlebter Lebensgeschichte“ (Rosenthal 1995: 225). Dieser Auswertungsschritt ermöglicht abschließend, die Differenzen zwischen der erzählten und der erlebten Lebensgeschichte biographisch und gesellschaftlich zu erklären.
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Theoretische Verallgemeinerung und Typenbildung. Die rekonstruktive Analyse entwickelt Generalisierungen ausschließlich aufgrund der von der Einzelfallkonstruktion ausgehenden „Typenbildung bzw. Strukturgeneralisierungen“ (Oevermann 1988: 280) und nicht entlang der Frage der Häufigkeit, d.h. nicht im numerischen Sinne als statistische Repräsentativität. Die Verallgemeinerung zielt darauf ab, eine typische Konstellation im Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und Realisierungsbedingungen herauszuarbeiten. Kurt Lewin zufolge sind das Unterworfensein unter ein bestimmtes Gesetz und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typus gleichbedeutend. In diesem Zusammenhang ist für die Bestimmung des typischen Falles die Häufigkeit seines Auftretens in keiner Weise von Bedeutung, denn: „Es ist nicht mehr möglich‚ Ausnahmen leicht zu nehmen. Sie ‚bestätigen‘ keineswegs mehr die ‚Regel‘, sondern sind als vollgültige Gegenbeweise anzusehen und zwar auch dann, wenn sie selten vorkommen, ja wenn nur eine einzige Ausnahme nachweisbar ist.“ (Lewin 1930/31: 448) Im Sinne eines grundlagentheoretischen Vorgehens steckt das Allgemeine bereits in den Einzelfällen: „Uns interessiert nicht eine soziographische Beschreibung von Verteilungen der verschiedenen Einzelphänomene im ‚Ganzen‘, sondern uns interessiert – um im Bild zu bleiben – das Ganze im Einzelnen, nämlich der Prozeß, durch den einzelne Handlungen die Struktur des Ganzen im Einzelfall reproduzieren und gegebenenfalls auch transformieren.“ (Hermanns 1981: 23) Die Zuordnung eines Falles zu einem Typus ist grundsätzlich erst nach einer rekonstruktiven Fallanalyse möglich, denn die Struktur eines Falles ist weder von gleichen Elementen noch von gleichen äußeren Gegebenheiten abzuleiten. Die Frage nach der Genese des Typus, also aufgrund welcher Bedingungen ein Individuum dazu kommt, eine typische Lebenskonstruktion für sich aufzunehmen und individuell zu variieren, kann erst sinnvollerweise gestellt werden, wenn der Typus rekonstruiert ist. Dies geschieht anhand einer exakt zu formulierenden Fragestellung, die an die rekonstruierten biographischen Fälle gestellt wird und aus deren Perspektive die strukturellen Merkmale als Typus formuliert werden.117
117 Für eine ausführliche Darstellung siehe dazu Wohlrab-Sahr (1994), Rosenthal (1995; 2005).
5 Falldarstellungen 5 Falldarstellungen
5.1 Neziha Demiray 5.1 Neziha Demiray Einige Daten aus ihrer Biographie: Zum Zeitpunkt des ersten Interviews ist Neziha Demiray ca. 42 Jahre alt und lebt seit 25 Jahren in Deutschland. Sie wuchs als jüngstes Kind in einer sunnitisch-türkischen Familie auf, in der das Glauben nicht in Institutionen – wie Moscheen – ausgeübt, sondern im alltäglichen Lebensverständnis eingebettet erlebt wurde. In ihrer Großfamilie lebten vier Generationen zusammen. Durch die klare geschlechtsspezifische Rollentrennung in ihrer Familie haben die Themen der weiblichen Reproduktionsfähigkeit und der zentralen Rolle der Frau im Familienleben für die Biographin eine überaus hohe Bedeutung. Sie kam ungefähr mit 16–17 Jahren durch ihre Eheschließung mit einem in Köln lebenden Verwandten 1974 nach Deutschland. Nach ihrem ersten Kind erlebt sie mehrere Fehl- und Totgeburten. In dieser Phase nimmt sie zu einer religiösen Moscheeorganisation Kontakt auf und praktiziert zunehmend ihre sunnitische Religiosität. Ihre Tochter Meral kommt neun Jahre nach ihrem ersten Kind auf die Welt. Neziha ist Hausfrau, hat insgesamt drei Kinder und verbringt ihre Zeit überwiegend in einer muslimischen Ortsgemeinde. Ihr Ehemann ist zum Zeitpunkt des Interviews ein (ehemaliger) Lohnarbeiter, der wegen der Schließung seiner Firma arbeitslos ist. Sie gehören zur Arbeiterklasse mit derzeit geringem Einkommen. Neziha ist die einzige Frau aus ihrer Herkunftsfamilie, die in Deutschland lebt. Neziha Demiray gehörte zu meinen ersten Interviewpartnerinnen. Ich habe mit ihr im Zeitraum vom Jahr 2000 bis 2002 zwei Interviews geführt. Zwischen diesen beiden führte ich zwei Interviews mit ihrer Tochter Meral. Unsere Kommunikation fand ausschließlich auf Türkisch statt.
5.1.1
Kontaktaufnahme – Interviewkontext und Interviewverlauf
Der Kontakt zu Neziha Demiray kam über die Mutter einer Bekannten zu Stande. Sie war davon überzeugt, dass mir Neziha ohne zu zögern ein Interview geben würde, da Neziha, mit ihren Worten „trotz ihres Kopftuches eine offene und moderne Frau“ sei. Beim ersten Gespräch am Telefon machte Neziha ins-
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5 Falldarstellungen
gesamt den Eindruck, offen und sozial aktiv zu sein. Sie hätte nichts gegen ein Interview, aber sie habe eigentlich „kein Problem“, sie habe eine ganz normale Familie. Falls ich also Frauen suchte, die Probleme hätten, wäre ich bei ihr an der falschen Adresse. So wurde schon zu diesem Zeitpunkt deutlich, dass Neziha nicht als eine Frau betrachtet werden wollte, die ein problematisches Leben führt bzw. eine problematische Lebensgeschichte hat und mir daher keine Probleme, geschweige dramatische Erfahrungen, mitteilen könnte oder würde. Hierbei stellt sich die Frage, warum es ihre Intention ist, als eine solche Frau gesehen zu werden. Am Tag des ersten Interviews war Neziha Demiray allein in ihrer Wohnung und hatte schon Kuchen für mich gebacken, nahm mich also als Gast auf. Dies zeigt, dass Neziha sich für das Interview Zeit genommen hatte und es nicht als einen kurzen offiziellen Besuch auffasste, sondern ihr das Interview wichtig war. Sie trug einen langen Rock, ein T-Shirt mit langen Ärmeln und ein Kopftuch. Sie hat mir keine Frage über meine Forschung gestellt. Durch die Art und Weise, wie sie auftrat, gab sie mir das Gefühl, eine selbstbewusste Frau zu sein, die Erfahrung mit ähnlichen (Gesprächs-)Situationen hat. Sie trug während der ganzen Zeit ihr Kopftuch, obwohl wir zwei Frauen ganz allein waren. Dies verstand ich erstens so, dass das Kopftuch „zu ihrer Person gehört“, zweitens möglicherweise als Ausdruck einer Verinnerlichung religiöser Vorschriften – in dem Maß, dass sie nicht nur in der Gegenwart von Männern, sondern auch in Anwesenheit von fremden Frauen ein Kopftuch trägt. Ich begann das Interview mit einer biographisch orientierten Einstiegsfrage. Während der Eingangsaufforderung unterbrach Neziha mich mehrmals und bat lachend und etwas unsicher, um eine nicht offen, sondern direkt formulierte Frage, mit der Begründung, es wäre für sie schwierig, einfach von sich aus einen Anfang zu finden. Auch wenn diese Reaktion nicht für Neziha spezifisch ist118, möchte ich diese nicht uninterpretiert lassen. Neziha wollte anscheinend ein Interview in der Form eines klaren Wechsels zwischen Fragen und Antworten durchführen, aber kein freies Gespräch, weil sie einerseits verhindern wollte, unkontrolliert über sich zu sprechen, andererseits mich – obwohl unser Kontakt über eine Bekannte vermittelt wurde – als eine Fremde einstufte. Ich war zwar eine Frau aus der Türkei, aber eine Frau, die kein Kopftuch trug (und die, meiner allgemeinen Erscheinung zufolge, auch nicht dazu neigte). Daher ist zu vermuten, dass sie am Anfang nicht genügend Vertrauen zu mir hatte, um mit mir ein – auch in der Konversationsform – offenes Gespräch zu führen. Ich schlug
118 Ich habe mit fast allen befragten Müttern und mehreren der interviewten Töchter ähnliche Erfahrungen gemacht, daher scheint mir ihr Verhalten an dieser Stelle mittlerweile ein „normales“ Phänomen zu sein.
5.1 Neziha Demiray
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ihr vor, dass sie mir über ihr Leben, beginnend mit ihrer Kindheit bis in die Gegenwart, erzählen könnte.
5.1.2 Die von der Interviewten selbst strukturierte Eingangspräsentation Dieses Unterkapitel ist in verschiedene Themen aufgeteilt, die den von Neziha Demiray während der Eingangspräsentation ausgewählten entsprechen. Die Zwischenüberschriften dienen dazu, sowohl die übergreifenden thematischen Felder als auch die entsprechenden lebensgeschichtlichen Prozesse (in der Gegenwart), die die Konstruktion ihrer heute erzählten Geschichte bestimmen, in der Darstellung hervorzuheben. 119
„In einer großen Familie und mit erheblichen Problemen bin ich groß geworden“ Neziha Demiray beginnt das Interview mit ihrer Geburt. Sie führt sich mit ihrer Mutter zusammen ein, die sie mit 45 Jahren „in einer älteren Phase“ in einem ungewöhnlichen Gebäralter geboren hat. Damit möchte sie latent zwei Punkte ansprechen, nämlich die Gebärfähigkeit ihrer Mutter und damit zusammenhängend deren Sexualleben trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Mit dem ersten Satz ihrer Selbstdarstellung „Ich: äh bin das siebte Kind meiner Mutter“ sagt sie ausdrücklich: ,Ich bin das Kind meiner Mutter‘. Diese Aussage ist offenbar mit den Themen ‚Kinder gehören zur Mutter‘ und ‚Ich gehöre zu meiner Mutter‘ verbunden. „In einer großen Familie bin ich groß geworden. Meine zwei Schwägerinnen waren da, ihre Kinder waren da. //hmhm// In einer großen Familie und mit erheblichen Problemen bin ich groß geworden, weil ich ein Kind der Schwiegermutter war.” (I/1/21-23) 120
Ihre Familie stellt sie als eine große Familie mit Schwägerinnen und deren Kindern vor. Auffallend ist hierbei, dass sie in ihrer Darstellung auch diese 119 In der Analyse wird die grammatikalische Gegenwart gewählt, damit ein einfacheres Hineinversetzen in die Situation sowohl für die Analysierenden als auch für die Leser ermöglicht wird. In der Beobachtung über das Interview wird die grammatikalische Vergangenheit gewählt. 120 Bei längeren Zitaten aus transkribierten Interviews steht im Anschluss die Quellenangabe. Dies bedeutet in dieser abgekürzten Form: „I.“ Interview, Seite „1“, Zeile „21 bis 23“.
100
5 Falldarstellungen
anderen Kinder wieder über ihre Mütter einführt und gleichsam keine direkte Verwandtschaftsbeziehung zwischen sich und den Kindern ihrer Schwägerinnen – wie durch die Bezeichnungen ‚Neffen‘ und ‚Nichten‘ – herstellt. Bei der Präsentation ihrer Kindheit geht es besonders um ihre problematische Großfamilie, die aus Müttern und Kindern besteht. Sie begründet anscheinend schon hier ihre problematische Kindheit oder problematische Entwicklung damit, dass sie „das Kind der Schwiegermutter“ ist, m.a.W. sie deutet an, ihr sei das Leben wegen des Status ihrer Mutter in der Familie von ihren Schwägerinnen schwer gemacht geworden. Somit präsentiert sie ihre Großfamilie als gespalten. Auf der einen Seite sind ihre Schwägerinnen mit deren Kindern und auf der anderen Seite ist sie mit ihrer Mutter. Den Status der Mutter präsentiert sie als wichtig für die Stellung eines Kindes in der Familie, indem sie ihre eigene, offenbar nachteilige Position als „ein Kind der Schwiegermutter“ aus der Perspektive der Schwägerinnen darstellt. Neziha präsentiert sich also als ein Kind, das wegen seiner Mutter bzw. wegen deren Status in seiner Mehrgenerationenfamilie eine schwierige Kindheit haben musste. Nach der kurzen Darstellung ihrer problematischen Herkunftsfamilie in einer Berichtsform und mit einem Abschluss dieser Sequenz in der Form einer Argumentation geht sie zu ihrem neuen Lebensabschnitt mit 17 Jahren über, in dem sie heiratet und nach Deutschland kommt. Mit dem zeitlichen Abschluss „... und seit meinem siebzehnten Lebensalter bin ich hier.“ teilt sie ihr Leben in zwei Abschnitte ein: die Zeit vor ihrem 17. Lebensjahr, die problematische Kindheit in ihrer Herkunftsfamilie in der Türkei und die Zeit danach als verheiratete Frau hier in Deutschland.
„äh: haben wir ein schönes glückliches Leben, also es gab nie Probleme mit meinem Mann“ Neziha setzt ihre Präsentation mit einem Bericht darüber fort, wie sie mit 18 ihr erstes Kind bekommt. Sie zählt ihre weiteren Geburten mit ihrem jeweiligen Alter zu dem betreffenden Zeitpunkt auf (das letzte Kind mit 30 Jahren) und danach zählt sie das jeweilige Geschlecht ihrer Kinder der Reihe nach auf (Sohn, Tochter, Sohn). Der Präsentationsrahmen ihrer Erzählung ist zwar immer noch durch die Kinder und die gebärende Frau, in diesem Fall sie selbst als in einer aktiven Rolle, nämlich als die Gebärende geprägt. Sie stellt sich selbst mit Bezug auf die Zahl und das Geschlecht ihrer Kinder als eine gleichsam optimale gebärfähige Frau bzw. Mutter dar. Nachdem sie sich als eine in dieser Beziehung erfolgreiche Frau präsentiert hat, fährt sie mit dem Thema ‚Mein Leben mit meinem Mann‘ fort.
5.1 Neziha Demiray
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„Hier hat mein Mann gearbeitet ((lächelnd)) mein Schwiegervater war da. Wir haben zusammen gewohnt eine Zeit. //Ja// Äh mit ihm hatten wir einige Probleme, von seiner Seite und nicht von meiner Seite eigentlich. Äh von ihm haben wir uns getrennt mit meinem Mann zusammen (2) äh: haben wir ein schönes glückliches Leben also es gab nie Probleme mit meinem Mann (1) //hmhm// in EheAngelegenheiten und so >gab es kein einziges Problem<.“ (I/1/27-32)
Neziha führt ihren Mann über die Arbeit ein. Somit legt sie bereits an dieser Stelle die Rollenverteilung klar dar. Sie ist die reproduktive Ehefrau und ihr Mann ist durch seine Erwerbsarbeit der Ernährer. Der Schwiegervater, der anfängliche Mitbewohner, wird mit einem Problem eingeführt. Anscheinend in einer ähnlichen Weise, wie in ihrer Kindheit die Schwägerinnen ein Problem innerhalb ihrer Herkunftsfamilie darstellten, ist in ihrer Ehe der Schwiegervater ein Problem. Um welche Schwierigkeiten es sich gehandelt hat, verrät sie der Interviewerin an dieser Stelle nicht. Bei der (räumlichen) Trennung vom Schwiegervater präsentiert sie sich als mit ihrem Mann solidarisch, da sie „zusammen mit ihrem Mann“ ausgezogen sei. An dieser Stelle führt sie ihr Leben mit ihrem Mann als „ein schönes glückliches Leben“ ein. Ihr gemeinsames „glückliches Leben“ ohne Probleme beginnt also erst nach der Trennung vom Schwiegervater. Neziha vergleicht ihre Kinder mit denen in ihrer Umgebung und bewertet in diesem Zusammenhang die eigenen Kinder als „sehr sehr, gut“. Sie stellt sich also in Verbindung mit ihrer eigenen sozialen Welt dar, und diese scheint sowohl als Kontrollinstanz als auch als Maßstab wichtig zu sein. Als Nächstes führt sie in Berichtform das Thema ‚Die Erziehung meiner Kinder‘ ein. Die Form der Erziehung konnte sie, wie sie sagt, selbstständig festlegen: „Äh: nach eigenem Wunsch und nach eigener Religion habe ich meine Kinder erzogen.“ Sie präsentiert sich somit gleichsam als die einzige Erziehungs- und Bezugsperson für ihre Kinder. Zwei Aspekte stellt sie bei ihrer Erziehung als wichtig heraus: ihre eigene Religion und ihren eigenen Wunsch. Das Thema Religion wird hier zum ersten Mal im Zusammenhang mit der Erziehung der Kinder angesprochen. Bei der Betonung der „eigenen“ Religion kann man sich fragen, ob sie damit hervorheben will, dass ihr Mann eine andere Religion habe als sie oder dass sie eine ungewöhnliche, vielleicht sogar betont individualistische Auffassung von Religion habe. Sie möchte sich möglicherweise damit von der christlichen Mehrheit der hiesigen Gesellschaft distanzieren, in der ihre Kinder aufwachsen. Neziha stellt sich auch als eine autonome Frau dar, die die Freiheit hat, ihre Kinder nach eigenen Vorstellungen zu erziehen. Der „eigene Wunsch“ scheint in dieser Konstellation mit der „eigenen Religion“ übereinzustimmen. Da sie das Thema Religion gerade an dieser Stelle einführt, können wir zunächst vermuten, dass ihre Kinder aus Nezihas Sicht und in Bezug auf ‚ihre‘
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Religion eine Rolle gespielt haben bzw. spielen. Ferner soll dieser Punkt markiert bleiben, um später noch einmal darauf zurückzukommen. Neziha wechselt die Form ihrer Erzählung von ,Ich als Mutter‘ zu ‚Ich als gläubige Hausfrau‘. Ihre Lebensgeschichte präsentiert sie weiter im Zusammenhang mit dem bisherigen Schlüsselwort, nämlich mit dem „Problem (haben)“: „Na ja, ich hatte gar keine Probleme habe nicht gearbeitet ich bin zu Hause. Ich bin eine Hausfrau (1) dauernd bin ich zu Hause.“ (I/1/35-36) Die Themen ‚Probleme haben‘ und ‚Nicht arbeiten‘ führt sie zusammen ein. Vor dem Hintergrund, dass sie „Probleme“ bisher immer als von anderen stammend dargestellt hat, will sie möglicherweise sagen, dass sie keine Probleme gehabt hat, weil sie nicht gearbeitet hat, weil sie nicht mit anderen bzw. mit der Welt der nicht „eigenen“, der fremden Religion, die nicht mit dem „eigenen Wunsch“ übereinstimmt, tagtäglich konfrontiert war. Sie definiert sich als Hausfrau, die ständig zu Hause ist und den privaten Kontext autonom gestalten kann. Der öffentliche Raum erscheint im Verhältnis dazu als unwesentlich. Dadurch grenzt sie sich auch von den berufstätigen (Arbeits)Migrantinnen ab. An dieser Stelle wechselt sie von der Ich-Form zur Wir-Form und versucht, ihre Religiosität durch Vergleiche zu beschreiben. Sie erzählt, dass sie und ihre Familienangehörigen zu Hause Andachtsübungen machen. Wie durch das folgende Zitat deutlich wird, fällt es Neziha in ihrer Darstellung schwer, die Art oder das Maß ihrer Religiosität zu bestimmen: „In meinem Rahmen auch wenn es nicht zu viel ist, bin ich mit meinen Gebeten beschäftigt. //hmhm// Weder zu wenig noch zu extrem //hmhm// ich: soviel wir machen können (2) äh so (ist es) (3) Weder gegen der offenen Seite ein: äh: wie soll ich sagen (3) wie soll ich es dir erzählen also ich habe keine gemeine Denkweise weder bin ich ein viel zu bedeckter Mensch. Jede kann nach seiner Wunschreligion=wie er möchte leben. //hmhm// Das ist meine Ansicht. Ich bin also tolerant ((lächelnd)) in jeder Hinsicht >bemühe ich mich< tolerant zu sein.“ (I/1/36-43)
Die bisher von Neziha vorsichtig angerissenen Themen werden von ihr an diesem Punkt nicht weiter ausgeführt, ihre Betonung liegt auf dem Mittelmaß ihrer Religiosität. Das Attribut „bedeckt“ wird im türkischen Kontext für Frauen bzw. Familien benutzt, die gläubig sind und sich nach den religiösen Vorschriften kleiden. Das Antonym für „bedeckt“ lautet in diesem Zusammenhang „offen“. Warum ist es ihr wichtig, ihre eigene religiöse Positionierung an dieser Stelle zu verdeutlichen? Will sie sich damit von den Extremisten bzw. Fundamentalisten abgrenzen, unter die muslimische Gläubige in Deutschland in der Regel schnell eingeordnet werden? Religion wird an dieser Stelle vor allem als ein Handeln eingeführt, das im alltäglichen privaten Leben der Familie eingebettet ist. Indem sie ihre Kinder zur Moschee schickt, wird eine institutionelle
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Verbindung zu diesem öffentlichen Raum geschaffen, weil auch dieser zur Religion gehört und dies offenbar, ohne dass damit andere Absichten verknüpft wären. Ihre Bemühungen, ihre eigene religiöse Positionierung zu verdeutlichen, evaluiert sie mit den Worten: „Ich bin also tolerant“. Ihre Botschaft lautet: „Ich bin also tolerant in jeder Hinsicht, das heißt nicht nur im Bezug auf die Religion, sondern ich bin im Allgemeinen ein toleranter Mensch“. Neziha ist es wichtig, gleich zu Beginn die eigene Toleranz verbal zum Ausdruck zu bringen. Dies auch gegenüber der Interviewerin, die nicht religiös bekleidet, also „offen“ ist. Implizit könnte dies auch bedeuten, dass sie der Interviewerin als einem Mitglied der nichtreligiösen bzw. nicht „bedeckten“ Welt, die durch die Universität eine institutionelle Verbindung zur deutschen Mehrheitsgesellschaft hat bzw. als eine Botschafterin dieser Welt betrachtet werden könnte, Folgendes mitteilen möchte: Wir werden zwar wegen unserer eigenen Religion nicht toleriert, aber trotzdem haben wir keine gefährlichen Absichten und sind keine Bedrohung für die hiesige Gesellschaft, und wir tolerieren sogar deren Intoleranz. Auch bei der zweiten Erwähnung ihre Tochter passiert dies im Kontext religiöser Erziehung, aber diesmal als eine, die noch eine Lernende ist. Bisher stellte Neziha ihre Mutterrolle und „ihre“ Religion in einer konstanten Verbindung dar. An dieser Stelle beendet sie die von ihr selbst strukturierte kurze Eingangspräsentation (insgesamt 25 Zeilen). Das bisherige thematische Feld verbindet die in zwei Abschnitte geteilten Lebensphasen von Neziha unter einem gemeinsamen Thema, aus der Perspektive von Neziha formuliert: Obwohl ich eine problematische Herkunftsfamilie hatte, in der meine Mutter mich weder umsorgen noch vor meinen Schwägerinnen beschützen konnte, habe ich seit dem Zusammenleben mit meinem Ehemann ein besseres Leben, habe alles gut bzw. besser gemacht und bin eine gute Mutter.
„ich bin wie ein Freund zu meinen Kindern“ Nachdem die Interviewerin Neziha mit dem Kommentar „es läuft doch gut“ unterstützt, fährt sie fort und berichtet über die Probleme ihrer Tochter Meral in der Schule aufgrund ihrer „Bedecktheit“. Sie kann sich wegen der Probleme in der Schule nicht konzentrieren, bekommt immer schlechtere Noten und wird vom Gymnasium auf die Realschule wechseln müssen. Außerdem hat sie keine zu ihr passenden Freunde in der Schule. An dieser Stelle erwähnt Neziha erstmals eine Lehrerin, um die Richtigkeit dieser Information zu unterstreichen. Ansonsten hat ihre Tochter Meral keine Probleme. Neziha betont diese Aussage auch mit dem Satz: „(2) Anderen Schwierigkeiten bin ich nicht begegnet bisher ich weiß es nicht ((lacht kurz))“. Sie präsentiert also die Probleme weder im
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Zusammenhang mit ihrem Glauben noch mit ihrer Kleinfamilie, Probleme kommen immer von außen. Ihre Tochter stellt sie als konsequente, aktive Muslimin, aber zugleich als Opfer ihrer Umgebung dar. Im Zusammenhang mit ihrer früheren Aussage, mit der sie sich selber als tolerante Muslimin dargestellt hat, präsentiert sie das Umfeld als Ursache für die (schulischen) Probleme ihrer Tochter sowie als einschränkend für ihre Religionsausübung. Solange Religion im privaten häuslichen Rahmen (also öffentlich nicht sichtbar) praktiziert wird, gibt es kein Problem. Sie selbst lebt im privaten Raum, hat mit der Außenwelt wenig zu tun und gerät daher in keine Konflikte. Die Tochter dient als Beispiel für die feindlichen, diskriminierenden Momente der Außenwelt. Neziha fährt fort: „Ich bin wie ein Freund zu meinen Kindern (2) ich bin so, ich möchte nicht, dass sie ihre Sorgen draußen mit anderen teilen ich möchte also, dass sie ihre Freude, alles, mit mir teilen können: dafür bin ich offen. Für meinen Sohn und auch für meine Tochter. Aus diesem Grund >verstehen wir uns gut mit meinen Kindern< //hmhm// (2) Wie sie durch die Tür kommen, verstehe ich schon, dass sie etwas bedrückt. //ja// Daher also will ich sie verstehen=aber erzähl auch das=sofort im gleichen Moment kann ich sie nicht erzählen lassen. //hmhm// Ich muss ihnen den Weg vorbereiten, damit sie (1) erzählen wenn sie zu erzählen bereit sind. [...] Dann wird dein Kind wenigstens nicht außenfixiert. Es [das Kind] geht nicht raus, weil es zu Hause seine Sorgen und Probleme erzählen kann //hmhm// so öffnet sich das Kind nicht nach außen. Dann kann das Kind im Haus behaglich erzählen, >seine Sorgen und seine Probleme< //hmhm// (2)“ (I/2/10-23)
Explizit sagt Neziha, sie habe keine Probleme, und wenn, bespreche sie diese mit ihren Kindern. An dieser Stelle können wir erneut danach fragen, worin das Problem liegt. Liegt es möglicherweise darin, dass sie doch viele Schwierigkeiten in der Kernfamilie haben, welche nicht nach außen getragen werden dürfen, da sie keine Umgebung haben, zu der sie Vertrauen haben können? Oder möchte Neziha ihre Familie und sich nach außen als eine harmonische, ‚perfekte‘ Familie und sich selber als eine dementsprechende Mutter darstellen? Neziha präsentiert ihre Außenwelt als gefährlich und bedrohlich. Sie ist die Vertraute ihrer Kinder und macht keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Neziha präsentiert sich als reflektierte und gute Pädagogin. Ihre Hoffnung bzw. der Zweck der bewussten Kindererziehung ist, dass ihre Kinder sich nicht nach „außen“, sondern nach „innen“ wenden, also im privaten Bereich bleiben. Neziha kritisiert an dieser Stelle die erste Generation der Migratinnen, die ihre Kinder „an die Vergangenheit lehnend, an ihre überlieferten Werte stützend“ eingeengt haben und mit denen sie nicht in Dialog getreten sind, so dass die Kinder sich nach außen orientiert haben.
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„Wir sind im Gegensatz zu ihnen mitten zwischen der alten und der neuen Generation. //hmhm// Aus diesem Grund vielleicht sind wir etwas toleranter=Mit den Kindern in einen Dialog zu kommen (2) sich noch besser zu verstehen: das schaffen wir // hmhm// (1) und das ist für die Kinder sehr wichtig (2) //ja// sehr wichtig.“ (I/2/23-32)
Neziha als Frau der zweiten Generation gehört ihrer Selbstpräsentation zufolge zu denen, die sowohl die Problematik der ersten Generation begreifen als auch mit ihren Kindern kommunizieren können. Was die Werte anbelangt, ist sie bestimmt, aber nicht autoritär. In diesem Zusammenhang ist zu vermuten, dass auch ihr Ehemann unter ihrer Kontrolle steht. Gemeinsam mit ihrer Generation oder mit ihrem Mann präsentiert sie sich als „Mittlerin“ zwischen der älteren, d.h. der ersten Generation der MigrantInnen aus der Türkei, und der jüngeren, d.h. aus ihrer Perspektive der dritten Generation, der ihrer Kinder. Wen oder was sie mit „wir“ meint, erfahren wir in einer weiteren Sequenz: „Sowohl mein Mann als auch ich sind so, so eine übertriebene Gewalt setzen wir an unseren Kindern NICHT EIN, MAN MACHT DAS MAL WENN ES NÖTIG IST, ((sehr laut)) //hmhm// man sagt es, aber wir wenden nicht für jede Sache Gewalt an. //hmhm// Wir sitzen und erzählen, erzählen, erzählen und reden (2) zu einer Lösung gelangen wir letztlich doch (2) vor allem mit meiner Tochter hatte ich deshalb kein einziges Problem, (mit dem älteren) Sohn etwas (2) hm: mit 14-15 Jahren etwas, also kann man trotzdem nicht sagen (1) aber etwas, bei meiner Tochter gab es keine //hmhm// (2) Das Mädchen (die Tochter) ist etwas ruhiger121, damit hängt das zusammen ((lachend)) (2) So ist es: (2) mehr weiß ich nicht, was soll ich erzählen ((fragend und lächelnd)) (2)“ (I/2/32-39)
Neziha führt ihren Mann im Zusammenhang mit (erzieherischer) Gewalt ein. Sie wird angewendet, wenn ein Dialog nicht mehr möglich scheint. Dann vermutlich mischt sich ihr Mann in das Thema „Erziehung der Kinder“ ein. Neziha präsentiert die Ansicht, gute Pädagogik bestehe darin, keine Probleme zu haben, das heißt: Wenn Kinder keine Probleme machen, ist die Erziehung erfolgreich gewesen. Ihre Tochter scheint, nach diesem Maßstab (durch ihr Ruhig- bzw. Bravsein), die besser Erzogene unter ihren Kindern zu sein. Dabei ignoriert sie jedoch ihre schulische Entwicklung. Die gute Erziehung ihrer Tochter stellt sie als ihr eigenes Werk dar. Ihren Sohn präsentiert sie zwar im Vergleich zu ihrer Tochter als „relativ“ problematisch, aber bagatellisiert dies schnell, um über ihn nicht schlecht zu reden. Genau wie beim ersten Mal bricht Neziha auch an einer 121 Hier benutzt sie das türkische Wort „sakin“, das mit „ruhig, still, regungslos, friedlich, unbewegt“ übersetzt werden kann (Steuerwald 1988: 791). Mit geschlechtsspezifischer Verwendung von „Ruhigsein“ wird das Bravsein eines Mädchens gemeint.
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Stelle ab, an der sie ansonsten mehr über den angedeuteten Punkt sprechen müsste. Sie möchte (hier) also nicht in Details gehen.
Zusammenfassung Neziha Demiray präsentiert sich als eine Frau, die eine gelungene Entwicklung als erwachsene gläubige Frau, als eine gute Mutter vorweisen kann und ein glückliches Leben führt. Ihre Vorstellung davon, was eine gute Mutter ist, unterscheidet sich von dem ihrer eigenen Mutter und der ersten Generation der Migrantinnen in Deutschland. Sie macht in der Präsentation ihrer Lebensgeschichte eine erkennbare Trennung zwischen ihrem Leben vor ihrer Eheschließung und dem Leben danach. Ihr thematisches Feld ist die Mutterschaft. Mit ihrem latenten thematischen Feld, ‚ich bin im Gegensatz zu meiner Mutter eine starke Frau und bessere Mutter‘, wird offenkundig, dass das in der Interaktion verleugnete Problem der Biographin das Muttersein bzw. das Tochtersein ist. Sie definiert sich sowohl in ihrer Mutterrolle als auch in Bezug auf ihre Religionsausübung als eine autonome Frau. Das Thema der autonomen Erziehung der eigenen Kinder und eines eigenen, von ihr selbst bestimmten, Erziehungskonzepts nimmt sowohl im von ihr selbst strukturierten Teil als auch im Nachfrageteil des Interviews den größten Raum ein. Bei ihrem Erziehungskonzept stellt sie den „inneren“, privaten und den „äußeren“, öffentlichen Lebensraum als stark voneinander getrennt und letzteren als fremd und gefährlich dar. Ihrer Auffassung nach soll eine Mutter die Familie verbinden, und der Dialog zwischen Mutter und Kind bildet den Kernpunkt ihres Erziehungskonzepts. Thematisch ist damit eine Idealisierung ihres Mutterseins verbunden. In diesem Zusammenhang stellt sie die Religion als eines der wichtigen Elemente ihres Erziehungskonzepts dar, das sie aber, so Neziha, nicht in extremer Form, sondern maßvoll in ihr Leben integriert. Der nächste Abschnitt – Rekonstruktion ihres erlebten Lebens – versucht auf die folgenden Fragen Antworten zu finden: Welche Erlebnisse motivieren sie, ihr Muttersein zu idealisieren? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen ihrer Religiosität und Mutterschaft? Dabei wird zuerst auf ihre Herkunftsfamilie eingegangen.
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5.1.3 Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte Die Herkunftsfamilie und das Leben in der Türkei Neziha wird 1958 als letztes Kind einer großen, traditionell lebenden Bauernfamilie mit sunnitischem Hintergrund in einem Dorf im Nordwesten der Türkei geboren. Zur Zeit ihrer Geburt arbeitet ihr Vater in Ankara. Ihre Mutter ist 45 Jahre alt, somit in einem Alter, in dem ein zusätzliches Kind nach vier Töchtern, zwei verheirateten Söhnen und mehreren Enkelkindern in der Regel als ungeplant betrachtet werden kann. Gerade Ende der 50er Jahre – im Kontext ihres dörflichen Lebens – ist es moralisch nicht erwartbar, dass eine Frau noch in diesem Alter, als Großmutter, parallel zu ihren Schwiegertöchtern noch selbst ein Kind zur Welt bringt. Es bedeutet jedoch gleichzeitig, dass ihre Mutter trotz ihres Alters ihre Gebärfähigkeit noch unter Beweis stellen kann, welche einen besonderen Status ermöglicht. In diesem Fall wird Neziha ziemlich früh gelernt haben, dass es zwischen der Gebärfähigkeit und der Stellung einer Frau eine entscheidende Verbindung gibt. Ihre verheirateten Brüder leben mit ihren Familien im selben Haushalt wie die Eltern und haben stellvertretend für den Vater die Rolle des Familienoberhauptes für die gesamte Großfamilie. Ihr Zuhause wird von Frauen und Kindern dominiert. Das jüngste Kind zur Zeit ihrer Geburt ist ihre ein Jahr ältere Nichte. Als sie ein sechsmonatiger Säugling ist, kommt ihr Neffe als erster Enkelsohn auf die Welt. Somit hat Neziha kaum die Möglichkeit, als Kleinkind besondere Aufmerksamkeit der Erwachsenen zu genießen. Ihr kranker alter Großvater väterlicherseits ist der einzige Mann, der stets auch tagsüber zu Hause präsent ist. Sie wächst in einer Familienstruktur auf, in der vier Generationen zusammenleben. Frauen übernehmen zu Hause die zentrale Rolle sowohl für die Kinder als auch für die Versorgung der Familie bzw. der pflegebedürftigen Familienmitglieder und Männer draußen. Zu berücksichtigen ist bei Nezihas Kindheit, dass ihre Mutter in dieser traditionellen Familienstruktur durch ihren Status als Schwiegermutter zwar eine Machtposition hat, jedoch durch die Abwesenheit ihres Ehemannes ihre Autorität mit ihren Söhnen teilt. Dies führte neben Solidarität auch zu Konflikten zwischen ihr und ihren beiden Schwiegertöchtern. Vor diesem Hintergrund wird Neziha vermutlich recht früh gelernt haben, dass sie sich in ihrer mehrgenerationellen Großfamilie sowohl als Kind als auch in ihrer Rolle als Schwägerin und Tante einen eigenen Platz erobern muss. Nichtsdestotrotz hat Neziha als Kind der Schwiegermutter, das heißt hier: als Kind der führenden weiblichen Autoritätsperson in der Familie, eine besondere Stellung.
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1964, als Neziha sechs Jahre alt ist, findet ihr Vater eine Anstellung in Istanbul. Sie geht zunächst als einziges Kind mit ihrer Mutter in diese Stadt. Sie selbst meint heute dazu: „N: Als er (der Vater) sich in Istanbul niederließ, hat er also meine Mutter und mich mitgenommen, die zuerst gingen waren also meine Mutter und ich //ach ja// hm hm die zuerst nach Istanbul kam=meine älteren Schwestern sind schon älter als ich die alle sind älter als ich die Jüngste bin ich (2) äh mich hatte er mitgenommen danach hat er meine Schwester gebracht. (II/5/ 31-34)
Nezihas erste Erinnerung an ihren Vater ist dieses Ereignis. Sie fühlt sich von ihrem Vater unter vielen Kindern ausgewählt, weil sie zunächst als einziges und jüngstes Kind mit ihrer Mutter nach Istanbul mitgehen durfte. Dieses Gefühl, bestätigt sich – so Neziha – dadurch, dass ihr Vater ihrer Mutter gesagt haben soll, Nezihas Geburt habe ihm in seinem Berufsleben Glück gebracht. Dieses erste Zusammenleben mit dem Vater bedeutet für Neziha eine zuvor nicht erlebte Zuwendung. Ebenfalls erfährt sie in dieser Zeit zum ersten Mal das Lebensgefühl einer Kernfamilie und ist als einziges Kind das Zentrum der Aufmerksamkeit. Dies kann für Neziha als Sechsjährige bedeuten, dass ihre Familie klein bleiben muss, wenn sie darin Zuwendung, Aufmerksamkeit und Glück erleben will. In dem zweiten Interview erinnert sie sich an die damalige Bedeutung ihres Mitgehens nach Istanbul als „eine Befreiung“. Diese erste Trennung von anderen Familienmitgliedern ist mit mehr Nähe zu ihrer Mutter und ihrem Vater verbunden und bedeutet für sie eine Privilegierung innerhalb der Familie. Dadurch hat die (Binnen)Migration für sie eine positive Bedeutung; sie ist sowohl ein neuer Anfang als auch sozialer Aufstieg. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte wird nun auch deutlich, dass das Weggehen bzw. die Migration von ihr durchaus positiv wahrgenommen wird. Im Vergleich zu den älteren Geschwistern besteht für sie in der Großstadt Istanbul die Möglichkeit, eine andere Zukunftsperspektive zu entwickeln. Sie geht z.B., anders als ihre fünf Jahre ältere Schwester, ihrem Alter gemäß zur Schule bzw. sie werden gemeinsam in dieselbe Klasse eingeschult. Die Wahrnehmung der Schule als Verpflichtung kann als ein Zeichen der Anpassung ihrer Eltern gegenüber dem sozialen Leben der Stadt und als Offenheit betrachtet werden. Dies bedeutet für Neziha als letztes/jüngstes Kind eventuell auch bessere Bildungsmöglichkeiten. Vor dem Hintergrund, dass die restlichen Familienangehörigen sich relativ bald in Istanbul wieder zusammenfinden und sich erneut eine ähnliche Familienstruktur wie zuvor im Dorf bildet, kann die Schule Neziha die Möglichkeit bieten, durch schulischen Erfolg ihre erneut benachteiligte Position in ihrer kinderreichen Großfamilie zu kompensieren. Heute spricht sie vor allem darüber, dass sie die
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Schule mit ihrer älteren Schwester angefangen und mit ihrem Neffen beendet hat. „Also jetzt mein Neffe ist sechs Monate jünger als ich. Wir haben angefangen in die erste Klasse mit meiner älteren Schwerster zu gehen //hm// wir sind bis in die zweite Klassen mit meiner älteren Schwester gegangen, nach der zweiten Klasse: aus einem Grund von der Schule haben sie uns getrennt, zu unterschiedlichen Schulen ich bin ein Jahr sitzen geblieben. Als ich dann sitzen blieb hat der Sohn meines Bruders mich eingeholt. //hm// Nach dieser Zeit bin ich mit dem Sohn unseres Bruders zusammen (zur Schule) gegangen somit ging meine Schwester getrennt, ein Jahr früher (abgeschlossen). Äh: dann habe ich mit ihm die Schule zu Ende geführt.“ (II/8/33-38)
Mit neun Jahren wird sie wegen „zu geringer Schülerzahlen“ an eine andere Schule geschickt. In der neuen Schule findet der Unterricht unregelmäßig statt, es fehlen LehrerInnen, sie bleibt sitzen und kommt diesmal mit ihrem sechs Monate jüngeren Neffen in die gleiche Klasse. Nach der fünften Klasse im Jahr 1972 schließt sie mit 14 Jahren die Grundschule ab. Sie erinnert sich: „da ich die Schule nicht mochte, wollte ich nicht gehen“. Wir können uns fragen, ob sie kein Interesse an der Schule hat oder die zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlichen familialen Konstellationen ihren Wunsch, zur Schule zu gehen, beeinflusst haben. Welche Rolle ihre Eltern bzw. ihre Großfamilie beim Beenden ihrer Schullaufbahn gespielt haben, bleibt offen. In den siebziger Jahren besteht in Istanbul außerhalb der allgemein bildenden Schule für Mädchen die Möglichkeit, entweder Handarbeitskurse zu besuchen (d.h. eine Anlerntätigkeit anzunehmen) oder einen Beruf als Näherin oder Friseurin zu erlernen oder in Heimarbeit Geld zu verdienen. Neziha bleibt zu Hause. Die Familienmitglieder haben im Dorf einen höheren Status, weil sie in Istanbul leben, eine deutliche Besonderheit in den 1960er- und 1970er Jahren, und nicht mehr zu den gewöhnlichen DorfbewohnerInnen gezählt werden. Dies bedeutet für Nezihas Familie neben einer erhöhten Aufmerksamkeit gleichzeitig soziale Kontrolle sowohl während der Dorfbesuche als auch durch die Nachbarschaft in der Stadt. Besonders die Mädchen und Frauen erleben diese verstärkte Kontrolle, da sie die Sittlichkeit und Keuschheit der Familie repräsentieren. Dies prägt die Umgangsform der Eltern und anderer Autoritätspersonen gegenüber den jungen Frauen. Neziha spricht heute über die damalige Kommunikation innerhalb ihres Elternhauses wie folgt: „Äh: also in den früheren Familien war es ohnehin nicht möglich (mit den Eltern, Älteren) einen Kontakt zu haben. Noch dazu wenn es eine große Familie ist gibt es nicht solche=ich wurde zwar von meiner Mutter von meinem Vater nicht so viel
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5 Falldarstellungen unterdrückt aber von meinem Bruder wurde ich sehr unter Druck gesetzt ((lächelnd, dann lacht)) //((lacht))// niemals hat er frei gelassen, er war sehr streng.“ (I/5/4751)
Da Neziha heute andere Einsichten hat, betrachtet sie mit ihrem heutigen kritischen Blick vieles negativ, was sie damals wahrscheinlich als „normal“ betrachtet hat. Die Fallrekonstruktion deutet darauf hin, dass Nezihas Familie sich sowohl darauf konzentriert, in ihrem Leben in der Stadt ihre mitgebrachten Traditionen zu bewahren, als auch sich darum bemüht, weder im Dorf noch in der Stadt negativ aufzufallen. Aufgrund ihres familialen und gesellschaftlichen Lebenskontextes, mit seinen spezifischen Wertvorstellungen, wird Neziha, wie die anderen jungen Frauen in der Familie, von ihrem Bruder streng kontrolliert. Sie fühlt sich zu Hause eingeengt und betrachtet, wie viele junge Frauen in dieser Situation, die Heirat als eine Befreiung bzw. Erleichterung sowie als eine Chance, ihren sozialen Status zu verbessern. Sie bereitet sich auf ihre zukünftige Rolle als Ehefrau vor. 1973, als sie ungefähr 15 Jahre alt ist, geht einer ihrer Brüder alleine als Gastarbeiter nach Deutschland. Seine Kinder bleiben mit der Familie in Istanbul. Gerade die Arbeitsmigration des Bruders nach Deutschland eröffnet auch für die Mädchen die Perspektive, z.B. durch eine Ehe, ebenfalls nach Deutschland migrieren zu können. Nach sechs Monaten heiratet ihre ältere Schwester und anschließend ihre ein Jahr ältere Nichte. Ziemlich deutlich wird in dieser Zeit, dass in ihrem Familienkontext die Mädchen aufgrund von Heirat und die Männer der Arbeitsplätze wegen den gemeinsamen Haushalt der Großfamilie verlassen. Die Mädchen werden der Reihe nach, gemäß ihrem Alter, verheiratet. Anders als ihre ältere Schwester, die durch ihre chronische Krankheit von kleinerer Statur ist und daher im Alter von 22 Jahren heiratet, wird Neziha mit ungefähr 16-17 Jahren verheiratet. Aus ihrer heutigen Perspektive bedeutet ihre Verheiratung, genau wie zuvor die Migration in die Stadt, eine Befreiung von der bestehenden Unterdrückung, vor allem durch ihre Brüder. Sie selbst sagt darüber: „Es war viel zu früh (um zu heiraten) da man öfters um unsere Hand bat, mussten sie sozusagen uns gezwungenermaßen verheiraten=ich hatte auch meine Ruhe nachdem ich heiratete ((lächelnd)). Weil es wurde in die Enge getrieben wurde von allen Seiten unter Druck gesetzt, wurde immer wieder um meine Hand gebeten. Deswegen äh: (2) ich (wollte) auch nach meiner Meinung die Heirat (2) um mich von dieser Unterdrückung zu befreien= auch in diesem Sinne war mit der Unterdrückung etwas zu Ende. //hmhm// Also sie lassen dich nicht frei rausgehen, aus der Angst, dass jemand dir etwas tun könnte: es gab noch dazu so ein Gerücht. Um meine Hand hat man angefangen zu bieten als ich noch viel zu jung war, das ist auch etwas sehr Schlechtes, du wirst nicht frei drinnen draußen stehst du im jeden Fall unter Beobachtung und dies bedrückt dich.“ (I/6/20-29)
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Ihre Familie scheint, durch das Leben in der Stadt, in der Frauen im Vergleich zu den Dorfbewohnerinnen unabhängiger leben können, überfordert zu sein. Heiraten wird von allen Beteiligten als der beste Ausweg aus dieser unangenehmen Lebenssituation betrachtet. Wie ihre erste Migration mit ihrer Mutter zum Vater für Neziha eine Befreiung war, ist auch ihre Eheschließung eine „Befreiung“ aus diesem engen Lebensraum. Neziha wirkt körperlich reifer, als es ihrem tatsächlichen Alter entspricht. Sie lernt, dass ihre „körperliche Reife“, also ihre Entwicklung zur heranwachsenden Frau, welche Sexualität bzw. mögliche sexuelle Kontakte zu oder sexuelle Belästigung durch Personen außerhalb der Familie impliziert, in ihrem familialen und sozialen Kontext eine Gefahr bedeutet. „Sich schützen“ vor denen, die außerhalb der Familie stehen, steht im Mittelpunkt dieser Entwicklung: „... klar hat das älter bzw. körperlich reifer Aussehen – das Leben doch beeinträchtigt du musstest dich schützen, niemand von außen weiß, dass du ein Kind bist, sie werden denken du wärest erwachsen du wirst geschützt, //ja// dann hast du dich geschützt also“ (II/18/24-27)
Sie ist zwar in der Pubertät, hat aber kaum eine Möglichkeit, zu pubertieren, weil sie sich stets von überall beobachtet fühlt. Ihre frühe körperliche Entwicklung erlebt sie als einen Nachteil, weil sie dadurch als schutzbedürftig und früh als heiratsfähig betrachtet wird. Eine Verheiratung gewinnt die Funktion von Selbstschutz bzw. von Geschütztwerden. Gleichzeitig wird damit die Verantwortung für den Schutz und die Keuschheit der Frau als Trägerin der Familienehre (vgl. Kandioti 1991b: 326) von einer Familie zur anderen verschoben, wobei diese Kontrolle niemals ganz verschwindet.
Das Leben in Köln „an einem Sonntag war meine Hochzeit und am nächsten Sonntag war ich hier“ Neziha wird mit einem entfernten Verwandten verheiratet, der 18 Jahre alt ist und seit zwei Jahren mit seinem Vater in Deutschland lebt. Er ist das älteste Kind in seiner Herkunftsfamilie. Sein Vater lebt seit seiner Arbeitsmigration in den 1960er Jahren nach Deutschland in Köln. Seine Mutter kümmert sich in der Türkei um die weiteren vier Kinder der Familie, pflegt seine alte Großmutter väterlicherseits und kommt erst 1981 nach Köln, nachdem ihre einzige Tochter geheiratet hat und zwei Söhne berufstätig geworden sind. Als Nezihas späterer Mann sich in einer politisch heiklen Zeit in der Türkei an politischen Aktionen
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5 Falldarstellungen
beteiligt und sich wenig für die Schule (Gymnasium) interessiert, bringt sein Vater ihn nach Köln, um ihn von der Politik fernzuhalten. Die Altersobergrenze von 16 Jahren der gesetzlichen Regelung der Familienzusammenführung in Deutschland dürfte hier ebenfalls bedeutsam gewesen sein. Sobald er nach Köln kommt, beginnt er eine Lehre, und ein Jahr später arbeitet er in einem Betrieb. Die frühe Heirat mit 18 Jahren und die Partnerwahl unter Einmischung der Eltern lassen die Hypothese zu, dass auch er in einer ähnlichen Familienstruktur wie Neziha lebt und ein beträchtliches Abhängigkeitsverhältnis zu seinem Vater besteht. Seine Loyalität gegenüber seiner Familie und seinem Vater verschafft ihm einen besonderen Status, da sie in dieser Familienstruktur sehr geschätzt wird. Die Eheschließung findet in der Türkei statt. Ganz lapidar meint Neziha heute dazu: „Nach einer Woche. Mein Mann war nun für den Urlaub gekommen, an einem Sonntag war meine Hochzeit und am nächsten Sonntag war ich hier (2)“ (I/7/18-19). Für Neziha kommt die Eheschließung sehr plötzlich. Da die Zusammenführung mit ihrem Ehemann innerhalb einer Woche nach der Heirat geschieht, hat sie wenig Möglichkeit, sich innerlich auf die neue Lebensweise in Deutschland einzustellen. Sie kommt nicht nur in eine neue Umgebung, sondern auch in einen neuen Staat ohne Landes- und Sprachkenntnisse. Ihr Mann ist zwar ein Verwandter, aber sie kennt ihn nur flüchtig und – wie sie heute sagt – sie kannten sich „nicht gut genug zum Heiraten“. Dennoch fühlt sie sich geehrt und gegenüber ihrer älteren Schwester und ihrer Nichte privilegiert, da sie als Einzige in der Familie ausgewählt wird, jemanden zu heiraten, der in Europa lebt. Als Ehefrau nach Deutschland zu kommen, wird in den siebziger Jahren in der Türkei als ein deutlicher sozialer Aufstieg bewertet. Sie wird, wie in ihrer Kindheit durch ihren Vater nach Istanbul, jetzt durch ihren Mann nach Köln gebracht, somit von der schwierigen und beengenden Lebenssituation in ihrer Herkunftsfamilie erneut durch einen Mann befreit. Im Unterschied zu ihrem Lebenskontext in der Türkei hat sie trotz der positiven Bedeutung ihres Weggehens nach Deutschland während der Anfangszeit in Köln keine Vertrauensperson. Das Gefühl der Fremdheit besteht noch heute als ihre erste Erinnerung an diese Zeit. Heute erinnert sie sich vor allem daran, dass sie anfänglich einige unangenehme Begegnungen stark befremdeten. „Also jetzt die damalige Zeit meine anfängliche Zeit vor 27 Jahren (2) Köln war nicht wie jetzt das Leben war nicht wie jetzt es war sehr langweilig. Ich: kam ((überlegend)) und mein Schwiegervater war hier (2) er hatte eine deutsche Geliebte. Das habe ich gleich am ersten Tag sehr fremd empfunden. Ich wusste zwar, aber noch dazu es live zu sehen war=ungewohnt für mich sehr ungewöhnlich also solche Verhalten. Das was ich bei meiner Ankunft in Deutschland gesehen habe, hat mich sehr (2) sehr befremdet.“ (I/7/22-27)
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Neziha wird mit einigen unerwarteten bzw. ungewöhnlichen Erfahrungen konfrontiert. Im Gegensatz zu dem regen Leben in ihrer Großfamilie erlebt sie hier die Langeweile. Sie ist sehr jung, kommt aus einer Familie mit anderen Gewohnheiten. Im Gegensatz zu ihrem Elternhaus, in dem die Männer zu Hause wenig präsent sind, teilt sie hier von einem Tag auf den anderen ihre Zweizimmerwohnung mit zwei „fremden“ Männern. Ihr fehlt anfänglich eine vertraute weibliche Bezugsperson. Sie macht in vielen Bereichen ihres Lebens neue Erfahrungen. Vor allem das Thema Sexualität, das im Kreise ihrer Familie nicht explizit thematisiert wurde, aber einer der Gründe ihrer Verheiratung war, wird in einem anderen Zusammenhang ein zentrales. Schon am ersten Tag begegnet sie der deutschen Geliebten (dost)122 ihres Schwiegervaters. Obwohl es ein offenes Familiengeheimnis ist und Neziha schon davon unterrichtet, dass er hier eine „deutsche Geliebte“ hat, wird sie durch die erste Konfrontation mit dieser Tatsache in ihrem Moralverständnis überfordert. An diese für sie unangenehme Erfahrung erinnert sie sich heute noch genau: „Sie [die deutsche Geliebte] kam uns willkommen zu heißen, als ich sie [ihr Schwiegervater und seine Geliebte] beim Reinkommen in die Wohnung küssen sah kam es mir verkehrt vor (habe ich es absurd gefunden) am helllichten Tag ((lächelnd)) ohne zu zögern. Das kam mir sehr absurd vor. Und noch dazu an meinem ersten Ankunftstag (2) wenn ich etwas die Straße gesehen (2) wenn ich so was gesehen hätte, hätte es mich nicht befremdet ‚ach so leben sie hätte ich gesagt dann. Aber an meinem Ankunftstag als ich meinen Schwiegervater und diese Frau sah >es kam mir sehr absurd vor. Ich habe das sehr fremd gefunden als ich erst kam< (3)“ (I/8/34-40)
Was sieht Neziha genau, dass sie es so absurd findet? Macht sie eher ihr eigenes Fremdheitsgefühl an einer visuellen Erfahrung fest, oder nimmt niemand auf ihre Fremdheit Rücksicht? Wir wissen nicht, welche Kussform, die genauer zu benennen sie peinlich findet, Neziha bei dieser Begegnung so absurd vorkommt. Wahrscheinlich war Neziha in ihrem Elternhaus nie mit solchen oder ähnlichen Bildern konfrontiert. Sie ist erst seit einer Woche verheiratet und hat nach der Fallrekonstruktion zum ersten Mal eine intime Beziehung mit einem Mann. Vor diesem Hintergrund liegt besonders in Bezug auf den vorletzten Interviewauszug die Lesart nahe, dass diese „ungewöhnliche Live-Begegnung“ (oder Konfrontation) mit dem Thema Sexualität, sowohl mit ihrer eigenen als auch mit der unehelichen Beziehung zwischen ihrem Schwiegervater und seiner Geliebten, ihr 122 Das türkische Wort „Dost“ bedeutet in diesem Zusammenhang eine Beziehungsform zwischen einer Frau und einem Mann, die lediglich auf einer unehelichen sexuellen Beziehung beruht. Abgesehen davon, dass diese Beziehungsform in der türkischen Gesellschaft als unmoralisch empfunden wird, werden besonders Frauen in solchen Beziehungen geschmäht und verachtet.
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Bild über das Leben in Deutschland negativ beeinflusst. Möglicherweise ist sie (auch) mit den ersten Erfahrungen ihrer eigenen Sexualität überfordert. Die Fallrekonstruktion unterstützt die Hypothese, dass Neziha hier am Beispiel der Beziehung ihres Schwiegervaters und seiner Geliebten ihre eigenen Gefühle thematisiert. Das „Befremdet“-Fühlen beruht auf ihrer eigenen ersten Erfahrung mit der Sexualität. Der Schwiegervater antizipiert etwas, das mit ihr noch in Deutschland passieren könnte (eine Veränderung ihrer Moralvorstellungen). In diesem Zusammenhang empfindet sie die deutsche Geliebte als eine Bedrohung für ihre moralischen Werte, für die eigene Familie bzw. den Ehemann, da auch er eine deutsche Geliebte haben könnte. Diese Lesart ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Beziehung des Schwiegervaters mit einer anderen Frau in Deutschland als offenes Geheimnis eine Umgangform mit der Sexualität, eine Sonderstellung impliziert, bei der er als Mann – anders als die Frauen – keine moralische Verantwortung tragen muss bzw. für „moralische Fehltritte“ nicht verantwortlich gemacht wird. Möglich ist auch, dass sie dieses Verhältnis als eine Erleichterung wahrnimmt, da er seine sexuellen Bedürfnisse befriedigen kann und für sie keine Bedrohung darstellt. Heute, nach 27 Jahren, beklagt sich Neziha mit Hilfe dieser Geschichte (bzw. entwickelt diese zu einer Klagegeschichte) darüber, dass man in Deutschland kein Verständnis für sie hatte, keine Rücksicht auf ihr Nicht-vorbereitet-Sein (ihr Anderssein) genommen hatte und ihr gegenüber ignorant war.
„Du kommst nach Deutschland (1) mit ganz anderen Träumen, Hoffnungen“ Zu der oben diskutierten ersten befremdlichen Begegnung mit der Sexualität kommt die Enttäuschung hinzu, die mit anderen ersten Eindrücken vom Leben in Deutschland und „Europa“ verbunden ist. Sie erinnert sich an ihre damalige Enttäuschung folgenderweise: „Na ja wir sind gekommen äh (2) jetzt wenn du aus der Türkei kommst, du kommst nach Deutschland (1) mit ganz anderen Träumen, Hoffnungen, als wir kamen, sahen wir, dass die Wohnung nicht im Zustand ist, darin zu leben (2) alte Hauswaren (2) hatte keine Toilette kein Badezimmer die Zeit als ich kam war so meine Wohnung war so sie hatte eine Toilette wir sind durch diesen Durchgang ((den Durchgang ihrer gegenwärtigen Wohnung meinend)) zu zweit gegangen (2) Und drinnen [in derselben Wohnung] wohnte auch eine andere Familie. Wir haben beide dieselbe Toilette benutzt. Äh diese haben mich sehr befremdet also in einem Land wie Europa äh ich bin aus der Türkei gekommen. Ich kam aus Istanbul.“ (I/7/30-37)
5.1 Neziha Demiray
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Neziha, als junge Frau, erhofft sich ein besseres Leben in Deutschland, aber sie erlebt einen sozialen Abstieg. Ihre Erwartung, hier von ihren bisherigen engen Wohnverhältnissen befreit zu werden und ein besseres Leben zu führen, wurde zunächst enttäuscht. Besonders in den siebziger Jahren herrscht in der Türkei ein Bild über Europa, nach dem alles in bestem Zustand ist und dem höchsten Standard entspricht. Tatsächlich lebte sie in der Türkei in besseren Verhältnissen, als das in ihrer jetzigen Realität, in Deutschland, der Fall ist. Zu der damaligen Zeit erzählen auch die MigrantInnen in der Türkei nicht, wie ihr Leben bzw. Lebensstandard in Deutschland in Wirklichkeit ist, ganz im Gegenteil erzählen sie häufig von einer sehr hohen Lebensqualität in Deutschland. Zu der Zeit leben viele (Arbeits)MigrantInnen in der Bundesrepublik in der Hoffnung, nach einer bestimmten Zeit wieder in ihr Herkunftsland zurückzugehen. Abgesehen von dem schwierigen Wohnungsmarkt investieren auch viele (Arbeits)MigrantInnen wenig in gute Wohnmöglichkeiten. Zunächst konzentriert sich Neziha auf die Umgestaltung ihres Lebensraumes, sie versucht, einen für sie vertrauten Alltag zu gestalten. Sie findet Kontakte zu anderen Frauen, die auch durch eine Eheschließung aus der Türkei nach Köln gekommen sind. Besonders die Frauen, die aus ihrer Herkunftsregion stammen, erlebt sie als emotionale Unterstützung in ihrer anfänglichen Einsamkeit. Sie wird bald schwanger und bekommt mit 17 bzw. 18 Jahren einen Sohn, der mit acht Monaten auf die Welt kommt. Vor dem Hintergrund ihrer Familienstruktur bedeutet das Kind für sie einerseits die Erfüllung ihrer Rolle als Ehefrau und Schwiegertochter, andererseits – und wohl besonders dadurch, dass das Kind ein Sohn und das erste Enkelkind in der Herkunftsfamilie ihres Mannes ist – einen Statusgewinn. Ihre Erinnerungen an die damalige Zeit sind heute folgende: „((seufzend)) Da ich selber aus einer Großfamilie komme, kam mir ein Kind großzuziehen allein in einer Wohnung zu wohnen sehr schwierig vor (1) weil ich wurde mit meinen zwei Schwägerinnen, mit meiner älteren Schwester, Schwestern also sind wir zusammen groß geworden von einer 15- köpfigen Familie kam ich hier ganz allein. Zuerst war ich überfordert. Wenn ich sagen sollte, dass ich nicht überfordert worden war wäre es eine Lüge ((atmet tief)) äh jetzt ich habe zwar dort [in der Türkei] mich um die Kinder meiner Schwägerin=um meine Neffen gekümmert aber, äh als hier für jeden Kram zuständig wurde. und noch dazu kam mein erstes Kind mit acht Monaten in die Welt war (so) winzig (2) Aus diesem Grund wurde ich ziemlich überfordert. Aber >letztendlich haben wir geschafft< (2) doch deswegen wegen der Einsamkeit: war ich ziemlich überfordert (2) also ich habe das Kind vom Krankenhaus gebracht, wir werden (ihn) baden, können wir aber nicht ((lächelnd)) da ist niemand (3) ein winziges Kind in meiner Hand (2) dann haben wir ihm mit meinem Mann in das Badezimmer genommen und ‚komm‘ sagte ich ‚wir werden nicht töten‘ ((lacht)) halb trocken halb mit Seife halb dingst kam er aus dem Wasser, weil du kannst nicht (2) so waren wir also.“ (II/2/7-19)
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Mit der Geburt ihres Sohnes verstärkt sich Nezihas schwierige Lebenssituation. Sie kommt aus einer Familie, in der wahrscheinlich drei erwachsene Frauen (Mutter und zwei Schwägerinnen) die gesamte häusliche Verantwortung trugen, alles unter sich teilten; hier ist sie allein und hat keinen Menschen an ihrer Seite, der sie auf diesem neuen Lebensweg begleitet. Sie muss mit jedem Detail des neuen Lebens allein zurechtkommen. Jede Erfahrung ist von großen Belastungen begleitet. Ihr Mann ist immer noch der einzige Mensch, der sie unterstützt, tagsüber aber wegen seiner Berufstätigkeit ihre Einsamkeit wenig mindern kann. Ihr Mann und sie kommen sich näher und wachsen in dieser neuen Lebenserfahrung zusammen. Das Kind stellt eine Verbindung zwischen dem jungen Paar her. In demselben Jahr geht sie in die Türkei und wird dort beneidet, weil sie in Deutschland lebt und gleich einen Sohn geboren hat. Neziha hat die Möglichkeit, sich von den Frauen der Familie beraten zu lassen, sich von ihren befremdlichen Erfahrungen zu erholen, und kehrt ermutigt mit einer neuen Motivation und mit einer positiven Einstellung zu ihrem Leben in Köln zurück. 1977–78, zwei bis drei Jahre nach ihrer Eheschließung, zieht das Ehepaar – wie Neziha es begründet – wegen der deutschen Geliebten des Schwiegervaters aus der gemeinsamen Wohnung aus. Neziha hat sich in den Jahren ein Mitspracherecht erworben und setzt sich in ihrer Ehe mehr und mehr durch. Ein Arbeitsplatzwechsel ihres Ehemannes lässt vermuten, dass u.a. die finanzielle Absicherung dabei eine Rolle gespielt hat, dass sie sich vom Schwiegervater erst jetzt räumlich trennen. Diesen Zeitpunkt können wir aufgrund ihrer bisherigen Lebensgeschichte in Nezihas Leben als einen Wendepunkt betrachten, da sie hier zum ersten Mal, seitdem sie von zu Hause weg ist, eine von der Einmischung und dem direkten Einfluss älterer Verwandter befreite Familie, ihre eigene Kleinfamilie123, hat.
„Ich hatte zwar nach neun Jahren (ein zweites Kind) aber: …“ 1978–1984 gibt es viele Veränderungen bzw. starke Belastungen in ihrem Leben. Die Veränderungen kommen in drei Bereichen deutlich zum Ausdruck; erstens versucht sie mehrmals, ein zweites Kind zu bekommen. Diese Schwangerschaften enden jedoch tragisch. Zweitens entwickelt sie in dieser Zeit eine gewisse Neigung zur Religion. Als Letztes findet in demselben Zeitraum die Familienzusammenführung mit der Familie ihres Mannes statt.
123 Zu dem Thema „Kleinfamilie als emanzipierte Lebensform“ in der Türkei vgl. Kandiyoti (1991b: 324).
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Zwischen Nezihas erstem und zweitem Kind liegen neun Jahre. Im ersten Interview wird dieses Thema von Neziha nicht explizit angesprochen. Sie geht erst darauf ein, als sie in dem zweiten Interview ausdrücklich danach gefragt wird. Auf die Frage, wie es dazu kam bzw. ob es ihre „Entscheidung“ gewesen sei, dass ein so langer Zeitabschnitt zwischen dem ersten und zweiten Kind lag, zumal sie die ganze Zeit nicht erwerbstätig war, mit eigenen Worten „immer zu Hause“ war, antwortet sie: „Ich hatte zwar nach neun Jahren (ein zweites Kind) aber: eine Totgeburt hatte ich ((wie ein Geheimnis verratend)) //ach ja// Nach vier Jahren, vier Jahren nach meinem älteren Kind, hatte ich ein achtmonatiges Totkin(d)=geboren (2) danach hatte ich eine Fehlgeburt (2) erneut, als einige Zeit verging, dass ich mich wieder gut fühle (dass es mir wieder gut geht), äh hatte ich noch mal in der Zwischenzeit eine Fehlgeburt eine war mit zwei Monaten andere war mit drei Monaten. Äh da es jedes Mal äh (2) die Gebärmutter abschwächt, also=du wartest auf deren Besserung, so vergingen neun Jahre.“ (II/2/41-45)
Neziha macht neun Jahre lang Erfahrungen mit Fehl- und Totgeburten, auf die im Weiteren noch genauer eingegangen wird. Der nächste Schritt meiner Untersuchung konzentriert sich vor allem darauf, was die Tot- und Fehlgeburten für ihre Lebensgeschichte und für das nächste überlebende Kind bzw. für ihre Beziehung zu dem Kind bedeuten und hat nicht die Absicht, die Gründe dieser Totund Fehlgeburten herauszufinden. Die erste Schwangerschaft vier Jahre nach ihrem ersten Kind endet mit einer Totgeburt. Sie erinnert sich heute noch genau, wie es dazu kam: „N.: Es war acht Monate alt, war nicht genug entwickelt, ich sollte wegen der Behandlung in dem Krankenhaus liegen. Als ich zum Krankenhaus ging: (2) also war ein Wochenende, sie haben gesagt ‚komm Anfang der Woche‘. Als ich dann ging war das Kind schon tot also >haben sie in der Zwischenzeit nicht gemerkt< (2) als ich zum Krankenhaus ging war es schon tot. Es lebte noch als ich zur letzten Untersuchung ging. Am Montag wäre ich ins Krankenhaus gegangen, (um dort zu bleiben) sagte=das Kind: da (es) zu klein war, sollte ich behandelt werden, so dass das Kind sich entwickelt (2) Äh an dem Wochenende war ich zu Hause (2) Ich habe auch gespürt, dass das Kind starb (3) I.: Wie haben Sie es gemerkt? N.: Erst=als ich mich hinlegte rührte das Kind sich in meinem Bauch wie ein Ball nach links und nach rechts ein normales Kind wird nicht so ((atmet tief)) (2) Ich habe meinen Mann gesagt ‚das Kind ist gestorben‘. ‚Nö‘ und so sagte er aber ich sagte „es fühlt sich wie tot an“. Als ich am Montagmorgen ins Krankenhaus ging haben sie seine Herzschläge nicht gefunden (2) >ich bin doch (zu) spät gegangen< ((traurige leise Stimme)).“ (II/3/3-16)
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Wenn wir Nezihas Auffassung paraphrasieren, sagt sie: ‚Wenn ich von den Ärzten ins Krankenhaus aufgenommen worden wäre, hätte mein Kind überlebt‘ („Es lebte noch, als ich zur letzten Untersuchung ging“). Mit anderen Worten begründet sie ihre Totgeburt mit dem Fehlverhalten der Ärzte. Sie wurde nicht nur von den Ärzten vernachlässigt, sogar ihr Mann hat ihre eigene Empfindung nicht ernst genommen. Sie gebärt erneut ein achtmonatiges Kind, aber nicht lebend, weil das Kind nicht genug entwickelt ist. Neziha betrachtet den Verlust des Kindes als eigenes Versagen und zweifelt an ihrer Gebärfähigkeit. Die Fallrekonstruktion verdeutlichte, dass diese Verlusterfahrung die Bindung zwischen dem Ehepaar verstärkt. Ferner gewinnt Neziha eine stärkere Stellung in der Ehe, weil ihr Ehemann ihre Empfindungen nicht ernst genommen und sie nicht früh genug ins Krankenhaus gebracht hat. Sie macht eine traumatische Erfahrung, empfindet vermutlich trotz ihrer Schuldzuweisung an die Ärzte Schuldgefühle („ich bin doch (zu) spät gegangen“), Verzweiflung und Angst. Insgesamt spricht Neziha in beiden Interviews, die zusammen ca. fünf Stunden dauerten, nur ca. zehn Minuten über dieses für ihre Lebensgeschichte sehr bedeutende Thema. Auch nach vielen Jahren kann und möchte Neziha über dieses sie damals emotional und körperlich überfordernde Thema eigentlich nicht reden. Nezihas erstes Kind, ein Junge, wurde bereits erwähnt. Dass sie schon einen Sohn hat, gibt ihr in Bezug auf ihre Gebärfähigkeit einen gewissen Trost. Sie versucht in dieser Zeit, in ihrem bereits erwähnten weiblich dominierten sozialen Umfeld Beistand zu finden. In derselben Zeit fängt sie an, regelmäßig ein Kopftuch zu tragen. Bis zu diesem Zeitpunkt war sie mit eigenen Worten „halb offen und halb bedeckt“. Neziha Demiray geht ab und zu zur Moschee, sucht Kontakte in einer örtlichen sunnitischen Gemeinde. Sie macht das aus eigenem Antrieb. In Bezug auf ihr religiöses Leben sagt sie: „[...] weder von meiner Mutter, noch von meinem Vater, noch von meinem Mann, wurde ich wirklich gezwungen, mich zu bedecken“. Denn in Nezihas Herkunftsfamilie hat Religion keine institutionelle (d.h. keine regelmäßigen Moscheegänge), sondern lediglich eine traditionelle Bedeutung; Religion ist in das alltägliche Leben – vor allem durch die gewohnten Sitten und Gebräuche – integriert. Die Fallrekonstruktion verdeutlichte, dass ihre religiöse Neigung mit ihren schweren Enttäuschungen als Mutter/Frau bzw. mit den Verlusterfahrungen ihrer Fehl- und Totgeburten zu tun hat. Sie sucht Trost in der Religion. Diese Haltung hilft ihr, sich zurückzuziehen, sich unkenntlich zu machen. Je mehr schlechte Erfahrungen Neziha macht, desto religiöser wird sie und desto mehr ‚bedeckt‘ sie sich. Ungefähr ein Jahr nach ihrer Totgeburt hat Neziha ihre erste Fehlgeburt. Ihr geht es in dieser Zeit sehr schlecht. Was die Fehlgeburt betrifft, können keine körperlichen Ursachen festgestellt werden. Möglicherweise leidet sie unter
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psychosomatischen Belastungen124 und vermutlich erhöht jede Fehlgeburt diese zusätzlich. Sie gibt dennoch nicht auf, sie versucht, immer wieder schwanger zu werden. Das Thema Mutterschaft und besonders das ihrer Gebärfähigkeit wird immer mehr zu einem zentralen Punkt für sie. Durch den nicht erfüllten Kinderwunsch hängt sie immer mehr an ihrem Sohn. Sie und ihr Mann fühlen sich durch diese schmerzvollen Erfahrungen immer mehr miteinander verbunden/aneinander gebunden125 und unterstützen sich gegenseitig. Rückblickend fasst sie ihre damalige Beziehung zu ihrem Mann wie folgt zusammen: „... alleine, wir haben unsere einzelnen Angelegenheiten alleine erledigt. Zu niemandem äh mein Schwiegervater sogar er hatte nichts mitgekriegt. Alleine, nicht mit Außenstehenden. Ich möchte nichts mit Außenstehenden teilen.“ (II/13/3-5)
Neziha und ihr Mann haben wenig Möglichkeiten, außerhalb der eigenen vier Wände ihre Trauer zu verarbeiten. Die in der Herkunftsfamilie gelernte Trennung zwischen dem „Privaten“ und dem „Öffentlichen“ gewinnt durch ihre Verlusterfahrungen immer mehr an Bedeutung. Ihr Umgang mit der Verlusterfahrung ist die Isolation sowie ein Eintauchen in eine religiöse Welt. „…danach habe ich nach den Jahren achtundsiebzig neunundsiebzig vor allem nach achtziger (Jahren) habe ich komplett (2) >habe ich dann selbst mich bedeckt< (1) wo ich öffnen dürfte habe ich gemacht wo ich nicht habe ich so belassen ((lächelnd)) und auch den (langen) Mantel ziehe ich seit achtziger Jahr(en) regelmäßig. Ohne den Mantel gehe ich jetzt kaum raus, ich kann also nicht (so) raus da ich mich daran gewöhnt habe“ (II/27/32-36)
Der lange Mantel symbolisiert ihren gesteigerten Grad an Religiosität. Mit dem langen Mantel, mit dem sie sich in ihrer Situation schützt, erreicht sie den Höhepunkt ihrer nach außen hin sichtbaren Religiosität. Die Religion wird für sie zu einem Mittel der Kompensation und Bewältigung von Verlusterfahrungen. Wenn sie den langen, weiten Mantel trägt, fällt nicht auf, ob sie schwanger ist oder ein Kind verloren hat. Sie bedeckt mit ihrem Mantel sowohl die Tot- und Fehlgeburten als auch ihre Weiblichkeit sowie ihre Sexualität. Die Metapher „Bedecktheit“ (>habe ich dann selbst mich bedeckt<) erhält damit in diesem Kontext für Neziha eine besondere, persönliche Bedeutung – sie verweist auf 124 Vgl. Borg/Lasker (1987: 35). Hannah Lothrop (1991: 27) spricht sogar von einer Abwehr des Körpers gegen ein zweites Kind. „Bei wiederholten Fehlgeburten, zudem bei fortschreitendem Alter, wächst oft die Angst, vielleicht nie mehr Kinder bekommen zu können.“ (ebd.: 44) 125 Auch Hannah Lothrop (1991) bestätigt in ihrem Buch „Gute Hoffnung – jähes Ende“ anhand der Auszüge von Briefen und Gesprächen ihrer Patientinnen, dass der Verlust eines Kindes für die Partnerschaft der Eltern eine wichtige Beziehungsprobe ist.
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den Schutz, den ihr der lange Mantel (und das, wofür er steht) in unterschiedlicher Hinsicht bietet. Seitdem sie den langen Mantel trägt, geht sie regelmäßig zur Moschee, wohin auch ihr Mann sie begleitet. Dort findet sie auch feste soziale Bindungen. Es werden für Frauen religiöse Veranstaltungen organisiert, Fragen in der Anwesenheit eines Hodschas beantwortet. Damit alle Frauen ohne Scheu ihre Fragen über alle möglichen Themen einem männlichen Hodscha stellen und dabei anonym bleiben können, werden die Fragen schriftlich und ohne Namen an ihn gestellt. Auf diese Weise kann auch Neziha Antworten auf ihre Fragen bzw. Lösungen für ihre Probleme suchen, ohne dabei in ihrer Gemeinde aufzufallen. Auf der anderen Seite übernimmt sie die Aufgabe der Familienzusammenführung innerhalb der Familie ihres Mannes. Sie bringt 1980 ihren 13-jährigen Schwager aus der Türkei mit, und 1981 kommt ihre Schwiegermutter mit einem anderen Schwager. Sie hat wieder eine Familie, fühlt sich nicht ganz allein und baut eine solidarische Beziehung zu ihrer Schwiegermutter auf. 1982, als Neziha 24 Jahr alt ist, stirbt ihr Vater in der Türkei, zu dem sie ein distanziertes Verhältnis hatte, aber von dem sie sich immer geliebt und in besonderer Weise behandelt fühlte. Der Tod des Vaters bedeutet einen tiefen Einschnitt und eine erneute Verlusterfahrung in ihrem Leben. Die Trauer verstärkt ihre Hinwendung zur Religion. In demselben Jahr beginnt sie, an jedem Wochenende mit ihrem Ehemann zu Versammlungen in der Moschee zu gehen. Sie schickt auch ihren Sohn, der mittlerweile in der Grundschule ist, zu den Korankursen in der Moschee. Die Moschee wird zu dem zentralen Ort ihrer sozialen Welt. 1984 erlebt Neziha mit 26 Jahren erneut eine schwierige Schwangerschaft und muss die letzten vier Monate im Bett verbringen. Nach neun Monaten bekommt sie ihre Tochter Meral. Da es in der Familie ihres Mannes wenige Mädchen gibt, freuen sich alle ganz besonders. Sie bekommt von der ganzen Familie Aufmerksamkeit und Zuwendung. Die Geburt ihrer Tochter ist wiederum ein Wendepunkt in ihrem Leben. Neziha hat nach jahrelangen Versuchen ein Kind geboren, hat wieder eine Familie um sich, und ihr Mann hat einen neuen sicheren Arbeitsplatz, den er noch vierzehn Jahre behalten wird. Sie wird mit ihrem Mann in diesem Jahr Mitglied der Moschee, die zu einer bestimmten politischen Richtung gehört. Wie ich später – auch bei der Fallrekonstruktion ihrer Tochter Meral – ausführen werde, wird deutlich, dass mit ihrer Tochter Meral das Thema Religion eng verbunden ist, da Neziha nach mehreren Jahren der belastenden Erfahrungen mit Schwangerschaften bzw. Geburten, nach einer strikten Bindung an die Moschee, ein lebendes, gesundes Kind zur Welt bringt. Die Tochter steht symbolisch als eine Belohnung für ihre in den vorangehenden Jahren gelebte Religiosität. Um diese positive Veränderung in
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ihrem Leben nicht zu zerstören, halten sie und ihr Ehemann weiterhin ihre enge Bindung an die Moschee bzw. an den Glauben aufrecht. Zudem hat sie in der Beziehung zu ihrer Tochter die Möglichkeit, das in ihrer eigenen Kindheit unbefriedigte Bedürfnis nach mehr Nähe zu ihrer Mutter gleichsam nachholend zu erfüllen. 1988 bringt sie mit 30 Jahren ihren zweiten Sohn auf die Welt. Ziemlich sicher ist, dass ihr Leben sich normalisiert und stabilisiert hat. In demselben Jahr schickt sie ihre Tochter zur Vorschule, damit sie bereits vor der Einschulung Deutsch lernt. Sie sorgt stets dafür, dass sie im „privaten“ Leben viel zu tun hat. Den religiösen Weg, den sie für sich gefunden hat, versucht sie auch auf ihre Kinder zu übertragen; vermutlich kann sie außerhäusliche Berührungspunkte zu den anderen Mitgliedern ihrer Kernfamilie nur über die Religionsausübung finden. Die Religion wird für sie auch deshalb immer wichtiger, weil sie dadurch die Beziehung zu ihren Kindern aufrechterhält bzw. Kontrolle über sie haben kann, da diese durch ihr Älterwerden immer mehr Kontakte (Kindergarten, Schule, Peergroup) zur Außenwelt bekommen. Eine bedeutende Rolle bekommt dabei auch ihre Moscheegemeinde, vor allem, als ihr älterer Sohn Hakan mit vierzehn Jahren zu rauchen beginnt und seine Zeit in Spielhallen verbringt. Um ihn von „dem gefährlichen Freundeskreis außerhalb der Moscheegemeinde“ und ihn von „durch diesen Freundeskreis erworbenen gefährlichen Gewohnheiten“ abzubringen, bekommt sie große Unterstützung von Mitgliedern ihrer Moscheegemeinde. Sie schaffen es gemeinsam, dass ihr Sohn eine Bindung an die Gemeinde entwickelt und in den folgenden Jahren aktives Mitglied der Jugendkommission wird. Je mehr sich die Kinder in die deutsche Gesellschaft bzw. nicht sunnitisch-religiöse Außenwelt „integrieren“, desto mehr stellt Neziha die Religiosität in den Vordergrund ihres Familienlebens. Religion dient somit auch zum Schutz vor Verlusten. 1993 schickt sie ihre Tochter mit neun Jahren zur Moschee. Die Kinder sollen sowohl die in der deutschen Gesellschaft erwartete Ausbildung erhalten als auch religiös gut erzogen und ausgebildet werden. Neziha erzieht ihre Tochter Meral nach den Vorschriften ihrer Religion. Wie Neziha dies erreicht, erzählt sie wie folgt: „BEISPIELSWEISE IN BEZUG AUF MEIN LEBEN (1) Ich bin eine bedeckte Familie. Da ich bedeckt bin bevorzugte ich, wollte ich, dass sie [ihre Tochter] sich auch bedeckt. Und auch als der Punkt kam und ich ‚meine Tochter du muss dich bedecken‘ sagte, sagte sie zu mir ‚Mutter ich werde mich nach der sechsten Klasse bedecken‘ //hm// (1) So habe ich nachdem sie die sechste Klasse beendete und an dem ersten Tag der siebenten Klasse (1) sie ging zur Schule sie ging bedeckt und mit einem (langen) Mantel und seitdem geht sie so=jetzt bedeckt sie sich optimaler und beschwert sie (sogar) manchmal über meine Bedeckung (2)“ (II/4/35-40)
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Nezihas Tochter beginnt in der siebten Klasse, einen Mantel zu tragen, mit dem sie wie Neziha ihre Weiblichkeit und Sexualität bedeckt. So delegiert Neziha an ihre Tochter ihre ‚Bedecktheit‘, d.h. auch das Überdecken ihrer Sexualität. 1998 unterstützt Neziha ihre Tochter bei allen sozialen und religiösen Bindungen an die Moschee. Da sie ihre Tochter auch immer zu Frauenversammlungen mitnimmt und Neziha bei den Veranstaltungen für die Mädchen ihre Tochter begleitet, hat sie durch die Religion eine engere Beziehung zu ihrer Tochter. Neziha selbst erhält besonders aufgrund der Aktivitäten ihrer Tochter und ihres älteren Sohnes in der muslimischen Gemeinde Anerkennung. Nachdem ihr Mann in demselben Jahr erwerbslos wird, verbringt die gesamte Familie immer mehr Zeit in der Moschee. Im Jahr 2000, im Alter von 42 Jahren, fängt Neziha an, sich weiterzubilden, und nimmt an Seminaren in der Moschee teil. Es gibt in Bezug auf die religiösen Aktivitäten eine Übereinstimmung zwischen Mutter und Tochter. Neziha beginnt 27 Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland, in einem Projekt einen Deutschkurs zu besuchen. Sie begründet diese Entscheidung wie folgt: „Der Sprachkurs als klein=als die Kinder klein waren brauchte ich es nicht jetzt brauche ich die deutsche Sprache. Wenn ich irgendwohin gehe wenn ich etwas nicht erklären kann werde ich sehr traurig, es belastet äh: ‚ich bin seit 27 Jahren hier habe eben nicht eine Sprache gelernt sage ich‘. Äh manchmal (2) äh wenn irgendwo ein Deutscher mir etwas sagt und wenn ich nicht antworten kann im gut oder schlecht gemeint macht dies (mich) sehr traurig. Deswegen, dass es etwas nützen kann ((lacht kurz)) gehe ich also nach diesem Alter //hmhm//(2)“ (I/15/23-29)
Ihre Tochter ist zu dieser Zeit 16 Jahre alt, also in dem Alter, als sie selbst nach Köln kam. Neziha ist dank der Mitteilungen ihrer Tochter über die Schule und über die hiesige Gesellschaft informiert. So hat sie jetzt die Möglichkeit, sich zusammen mit ihr der deutschen Mehrheitsgesellschaft noch einmal neu zuzuwenden. Den Deutschkurs bricht sie bald wieder ab, weil sie sich mit den männlichen Kursteilnehmern in derselben Klasse nicht wohlfühlt. Sie wechselt ihren Kurs und geht zu einem Deutschkurs ausschließlich für Frauen. Sie fängt langsam an, sich Wege zu suchen, um sich in der hiesigen Gesellschaft frei bewegen zu können. 2001 verlobt sich ihr Sohn, der mittlerweile 24 Jahre alt ist und in einer Bank arbeitet. Seine Verlobte hat er selbst in der Moschee kennengelernt. Erst nach Nezihas Zustimmung kann die Verlobung stattfinden. Mit Unterstützung der Verlobten ihres Sohnes fängt sie an, durch Heimarbeit etwas Geld zu verdienen. Zum ersten Mal in ihrem Leben beginnt sie, zum Zweck des Erwerbs zu arbeiten. Dazu meint sie selbst: „wegen ihr [der zukünftigen Schwiegertochter] machen wir auch außerdem haben wir keine geregelte Beschäftigung, machen
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auch wir es halt als Hobby ((lächelnd))“. Diese Heimarbeit, die sie gerade in der Zeit der Arbeitslosigkeit ihres Mannes beginnt und die Neziha als „Hobby“ bezeichnet, hat nach ihrer Aussage zweierlei Bedeutung: Erstens ist es einer Anregung der zukünftigen Schwiegertochter zu verdanken, dass sie überhaupt arbeitet, zweitens ist sie (noch) nicht in der Lage, diese Arbeit zur Grundlage ihrer ökonomischen Existenz zu machen. Nichtsdestotrotz fühlt sich Neziha durch die junge Frauengeneration (ihre Tochter und die künftige Schwiegertochter) motiviert, sich immer mehr am öffentlichen Leben – auch in ihrer muslimischen Ortsgemeinde – zu beteiligen.
Zusammenfassung Neziha Demiray wächst in einer Familienstruktur auf, in der mehrere Generationen zusammenleben und es eine traditionelle geschlechtsspezifische Rollenverteilung bzw. eine deutliche Grenze zwischen der Lebenswelt der Frauen als einer ‚inneren Domäne‘ und der der Männer als einem ‚äußeren Raum‘ gibt. Durch die Rolle ihrer Brüder als faktische Familienoberhäupter aufgrund der arbeitsbedingten Abwesenheit des Vaters gewinnen auch deren Frauen zu Hause einen verhältnismäßig hohen Status, so dass das Familienleben durch die Konflikte und die Konkurrenz zwischen den Frauen gekennzeichnet ist. Ihre Mutter erlebt sie als Kind nicht in starker Position. Neziha Demiray lernte ziemlich früh, dass die Position und die Rolle einer Frau innerhalb der Familie für ihren sozialen Status, ihr Ansehen, als Person eine entscheidende Bedeutung hat. In Neziha Demirays Lebensgeschichte ist die Migration seit ihrem sechsten Lebensjahr präsent und hat eine positive Bedeutung: Migration bedeutet für sie Entwicklungsschritte, eine Verbesserung des Lebensstandards, eine Befreiung von belastenden Lebenssituationen, und sie ist nicht zuletzt ein Privileg. Ihre Ankunft in Deutschland ist jedoch mit dem Erleben von Enttäuschung und Einsamkeit sowie Fremdheitsgefühlen verbunden. Die Fallrekonstruktion hat gezeigt, dass zwei Erfahrungen nach der Eheschließung für ihre Lebensgestaltung in der Migration zentral sind. Die erste Erfahrung ist die Konfrontation mit dem Thema Sexualität in einer engen Wohnsituation. Ihre zweite Erfahrung sind ihre mehrmaligen Verluste durch die Tot- und Fehlgeburten nach ihrem ersten Kind. Diese Erfahrungen kränken sie in ihrem Selbstbild als gebärfähige Frau. Sie sucht soziale Kontakte zu Frauen, und außerhalb der Nachbarschaft findet sie diese sie stabilisierenden Sozialbeziehungen in der Moscheegemeinde. Die Fallrekonstruktion macht deutlich, dass in ihrer Großfamilie sunnitischer Herkunft der Glauben keine besonders hervorgehobene, sondern lediglich eine traditionelle Bedeutung hat. Die Kinder erhalten keine formale religiöse Erziehung in
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der Moschee. Ihre Religiosität ist bedingt durch ihre Erfahrungen in Deutschland. Die Religion bzw. die religiösen Bindungen ermöglichen ihr, für sich in ihrer neuen Umgebung ein eigenes soziales Umfeld zu schaffen und mit ihren Verlusterfahrungen fertig zu werden. Ihre Religiosität bringt sie durch ihre zunehmende religiöse „Bedecktheit“ zum Ausdruck, die ihr auch eine Anonymität als Frau ermöglicht. Mit ihrer religiösen „Bedecktheit“ kann sie auch ihre persönlichen Probleme (ihre Fehl- und Totgeburten) vor der Öffentlichkeit verdecken. Nicht zuletzt hat ihre Religiosität auch Aspekte von Moral und Macht. Religion ist für Neziha der Ausdruck ihrer Moral, als einer ihr Orientierung und Halt gebenden Instanz in schwierigen Situationen. Neziha Demirays Religiosität, d.h. die Moscheegemeinde als eine Art großer ‚Familie‘, ermöglicht ihr, ihrem Mann gegenüber eine Machtposition zu erlangen. Außerdem dienen die islamische Religion und Nezihas religiöse Bindungen später zur Erhaltung und Stärkung der Bindung ihrer Kinder an sie. Neziha Demiray ermöglicht ihren Kindern durch die Integration in das staatliche Bildungssystem und die muslimische Religionsgemeinschaft, einerseits türkisch und islamisch zu bleiben, andererseits sich aber trotzdem in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Die Moschee ist in diesem Zusammenhang als ein öffentlich organisierter Raum eine Art von Beratungsstelle, ein Medium der Kommunikation, eine grundlegende Form der Integration oder der Einbindung in die gesellschaftliche Umwelt, und gibt Neziha in vielerlei Hinsicht einen wichtigen Halt. Anders als Neziha Demiray es in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hat, entwickelt sie ein Erziehungskonzept, das auf einen guten Kontakt bzw. intensiven Dialog mit ihren Kindern baut und in dessen Zentrum sie als Mutter, als die integrierende Bezugsperson, steht. Bei diesem Konzept stellt sie den ‚inneren Lebensraum‘ und den ,äußeren Lebensraum‘ als stark voneinander getrennt und den zweiten als fremd und gefährlich dar. Besonders bei der Erziehung ihrer Tochter spielt Religion eine wichtige und vielfältige Rolle. Einerseits erlebt sie ihre Tochter als eine Belohnung für ihre Religiosität, anderseits aber auch als ihren ‚Stolz‘ in der Moschee, als Unterpfand ihres eigenen Selbstbewusstseins. Neziha Demiray präsentiert sich selber über ihre Position als Mutter. In der Darstellung ihrer Lebensgeschichte macht sie eine erkennbare Trennung zwischen ihrem Leben vor und nach der Eheschließung und stellt diese beiden Phasen im Hinblick auf ihre gelungene Entwicklung als erwachsene Frau bzw. ihre Entwicklung zu einer guten Mutter anhand ihrer eigenen Mutter gegenüber. Neziha Demiray fühlte sich von ihrer eigenen Mutter nicht genügend umsorgt und erlebt eine Kränkung ihres Selbstbildes durch die Tot- und Fehlgeburten, aber diese Kränkung kommt auf der Ebene der von ihr präsentierten Lebensgeschichte zunächst nicht zum Ausdruck. Sie versucht, mit diesen Problemen dadurch fertig zu werden, dass sie sich als eine erfolgreiche, perfekte Mutter
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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darstellt. Ihre Selbstpräsentation soll ihr offenbar helfen, ihre Erfahrungen von Leid und Schmerzen im Zusammenhang mit ihrer Mutterschaft zu bewältigen. In ihrer (Kern)Familie, in der sie auf unterschiedlichen Ebenen mit vielen Problemen zurechtkommen musste, stellt sie sich auf der Präsentationsebene als eine wunschlos glückliche Familie dar. Die Fallanalyse hat uns eine Antwort auf die am Anfang dieser Fallgeschichte aufgeworfene Frage gegeben, die lautete: Was ist der Grund dafür, dass Neziha nicht als eine Frau mit Problemen definiert werden möchte? Die Antwort findet sich in dem Themenfeld Mutter-Werden und dem damit zusammenhängenden Selbstverständnis.
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray) 5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray) „Meine Mutter, ging früher sogar nicht zum Deutschkurs, es ist nicht lange also ein=seit ein zwei Jahren geht sie also (3) Ich weiß nicht ihr=ihr Leben ist anders gekommen, meins kam anders jetzt. Ich kann mich mit ihr nicht vergleichen, das Leben meiner Mutter und meines //hm// (2) äh ((schluckt)) meine Mutter hat keinen Beruf in der Hand. In der Türkei hat sie wohl nach fünfter Klasse oder so (die Schule) verlassen weiß nicht also sie hat nichts in der Hand (3) Ich, kann mir nicht vorstellen also dass ich von morgens bis abends zu Hause sitze so: ein Leben kann ich mir nicht vorstellen (2) ich würde mich auf jeden Fall irgendwo betätigen, wenn nicht eine Arbeit was weiß ich würde ich in die Frauengruppe der Organisation eintreten werde etwas tun. Wenn ich auch nicht arbeiten sollte (2) Meine Mutter tut auch nicht das, zurzeit (2) jetzt geht sie zwar zum Deutschkurs aber trotzdem“. Meral, 16 Jahre alt, 2000
5.2.1 Interviewkontext Meral Demiray ist zur Zeit des ersten Interviews 16 Jahre alt und geht auf ein Gymnasium. Sie ist in eine Moscheeorganisation eingebunden und hat dort eine aktive Stellung inne. Den Kontakt zu Meral bekam ich über ihre Mutter, welche sie auch über meine Anliegen und über das Ziel der Interviews informiert hatte. Meral wirkt sowohl während der ersten Kontaktaufnahme als auch zu Beginn des ersten Gesprächs sehr distanziert. Doch sie wurde nach etwa einer halben Stunde locker und auch vertrauensvoller, als auch der Aushandlungsprozess zwischen ihr und mir beendet war. Das erste Gespräch fand bei ihr zuhause statt und dauerte ungefähr vier Stunden, d.h. viel länger als sie mir am Anfang signalisiert hatte. Im Eingangsdialog des Interviews deutet Meral darauf hin, dass ihr Leben vielseitig
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5 Falldarstellungen
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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sei. Auf die Frage, wodurch sich dies bemerkbar macht, wird in der Fallanalyse eingegangen. Besonders die Thematisierung ihrer Freundschaft in der Nachbarschaft ermöglichten ihr eine zunehmende Offenheit in der Interviewsituation. Sie trug ein Kopftuch, das sie während des gesamten Interviews, wie ihre Mutter, nicht abnahm. Am Ende des Interviews teilte sie mir ihre Bereitschaft für ein weiteres Interview mit. Nach einigen Monaten und mehreren vergeblichen Anläufen war sie zu einem zweiten Gespräch mit mir bereit, doch wurde darin wenig von der vorherigen Vertrautheit erkennbar. Während sie die Fragen über sich und ihre Familie sehr knapp beantwortete, hat sie über ihre Moscheegemeinde bzw. über nicht-familiale Themen etwas ausführlicher gesprochen. Für mich stellte sich nach diesem Interview die Frage, worin diese Veränderung in ihrem Verhalten begründet war. Abgesehen davon, dass dieses Gespräch nicht zu Hause, sondern auf ihren Wunsch in ihrer religiösen Institution stattfand, war die starke Distanzierung auffällig, die in ihrem Verhalten zum Ausdruck kam. Sie hatte wahrscheinlich Schuldgefühle, da sie mir etliche – in ihren Augen – familiäre Interna verraten hatte. Wie bereits bei der Fallrekonstruktion ihrer Mutter angeführt, ist es ein wichtiger Grundsatz ihrer Erziehung, innerfamiliale Angelegenheiten nicht nach außen zu tragen. In beiden Interviews hat Meral ausschließlich türkisch gesprochen. Auffallend war dabei, dass sie selten deutsche Worte126 in ihre Redebeiträge mischte und sehr viele alte türkische Worte benutzte. Das empfand ich für eine Jugendliche aus der dritten Generation einer Migrantenfamilie als sehr ungewöhnlich. Vermutlich verbrachte Meral ihre Zeit überwiegend mit Erwachsenen, die einen traditionsverbundenen Diskurs über die religiöse Erziehung repräsentieren – ein Umstand, der sich in ihrer Sprechweise ausdrückt. Überdies benutzte Meral sehr häufig das türkische Wort ‚ey‘127, das übersetzt ins Deutsche ‚Dings‘ bedeutet. Dieses Füllwort wird u.a. bei nicht namentlicher Benennung benutzt, besonders wenn der Inhalt tabu- bzw. schambesetzt ist oder wenn man sich nicht traut, dem jeweiligen – unangenehmen – Ereignis einen Namen zu geben. Trotz der auch 126 Gerade die Auswahl der von ihr benutzten deutschen Worte hing viel – wie ich unten bei der Falldarstellung zeigen werde – mit den für sie zentralen Themen, darunter insbesondere ihren sozialen Beziehungen außerhalb ihrer Moscheegemeinde, zusammen – z.B. „Distanz“, „Außenseiter“, „Ausländerfeindlichkeit“ usw. 127 Nurdan Özbek (2000: 396-397) bezeichnet das türkische Wort „ey“ generell als „discourse marker“. Die Autorin nennt anhand von Beispielen unterschiedliche Anwendungsmöglichkeiten für dieses Füllwort; „used temporarily until the speaker finds the right word“ als „discourse marker“, das ein allgemein geteiltes Wissen in der gleichen Welt voraussetzt, als „planning marker“ sowie in der Funktion als „topic-introducing/topic-raising“. Siehe über die Bedeutung der (Mutter-)Sprache für die Interaktion zwischen der Biographin und der Interviewerin außerdem Riegel/Kaya (2002).
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5 Falldarstellungen
sonst häufigen Nutzung dieses Wortes im Türkischen haben gerade jene Stellen, an denen Meral dieses Wort benutzt, für das gesamte Interview eine besondere Bedeutung. Deshalb wird es in der Fallanalyse an den betreffenden Stellen in der Originalsprache wiedergegeben und unterstrichen.
5.2.2 Rekonstruktion der erlebten und erzählten Lebensgeschichte Zur Familiengeschichte Meral wurde in eine Familie sunnitischer Herkunft hineingeboren. In keinem der beiden Interviews geht Meral darauf ein, wie, wann und aus welcher Region der Türkei ihr Vater nach Deutschland gekommen ist. Anders ausgedrückt, die Vergangenheit und das Migrantendasein ihrer Eltern gehören nicht zu Merals Themen. Sie erwähnt lediglich, dass ihr Vater kurz nach seiner Ankunft einen drei- bis viermonatigen Deutschkurs besucht hat und in dem Zeitraum unserer Interviews arbeitslos ist. Ihre Mutter präsentiert sie mit den bereits bekannten Eckdaten, Heirat, erste Geburt, Leben als Hausfrau und Mutter. Dabei hebt sie hervor, dass ihre Mutter nur einen Abschluss der fünfjährigen Grundschule in der Türkei hat. Nach der Ankunft in Deutschland hat ihre Mutter keine weitere Ausbildung erhalten, erst in den letzten beiden Jahren hat sie – wenn auch mit Unterbrechungen – einen Deutschkurs besucht. Sie besitzt daher nur mangelhafte Deutschkenntnisse. Somit markiert Meral eine Bildungsdifferenz zwischen ihr und ihrer Mutter als einen bedeutenden Aspekt. Anders als ihre Mutter, die sich als eine sozial aktive Frau präsentiert, sagt Meral, dass ihre Mutter Hausfrau ist und ihre meiste Zeit zu Hause verbringt. Über das Familienleben vor ihrer eigenen Geburt spricht Meral nicht. Sie schließt somit auch das Thema der Fehlund Totgeburten ihrer Mutter gänzlich aus. Dies kann damit zu tun haben, dass sie über dieses Thema nichts weiß, oder auch damit, dass dies ein intimes Thema für ihre Mutter – und auch für sie – ist, über das man mit Fremden nicht spricht.128
Kindheit Meral Demiray wird 1984 als zweites Kind und einzige Tochter in eine sunnitisch-türkisch religiöse Arbeiterfamilie hineingeboren, die nun in zweiter Generation in Köln, in einem von Menschen türkischer Herkunft geprägten 128 Zu dem Familienhintergrund siehe die Falldarstellung von Neziha Demiray.
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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Stadtteil, leben. Zu der ebenfalls in dieser Großstadt lebenden Verwandtschaft väterlicherseits bestehen enge Beziehungen. Merals Geburt war für ihre Familie – und, wie bereits erwähnt, vor allem für ihre Mutter – ein ganz besonderes Ereignis, da sie nach mehreren Fehl- und Totgeburten als erstes lebendes Kind zur Welt kam. Ihre Geburt verhalf dem Familienleben zu einer neuen Stabilität. Wie aus der Fallrekonstruktion von Merals Mutter bekannt, ist der ältere Bruder Merals zur Zeit ihrer Geburt neun Jahre alt. Sie wächst in einem großen Familienkreis auf, in dem mit ihrem älteren Bruder und mehreren Cousins die Jungen überwiegen. Durch diese Familienkonstellation in Verbindung mit einem geschlechtsspezifischen Erziehungsstil lernt Meral schon in der Kindheit, männliche Personen und Sichtweisen als dominierend zu betrachten. Hinzu kommt, dass der große Altersabstand zwischen ihr und ihrem älteren Bruder dessen hervorgehobene Stellung begünstigt. Wenn ihre Mutter abwesend ist, wird sie von ihrem älteren Bruder betreut und erlebt ihn dadurch auch als fürsorgliche Person. Der Vater steht in einer distanzierten Beziehung zu seinen Kindern. Meral erzählt von keiner Begebenheit mit ihm. Die Mutter steht im Zentrum der innerfamilialen Beziehungen, und alle Kommunikationen zwischen den Kindern und dem Vater laufen über sie. Sie ist m. a. W. die Vermittlerin zwischen ihren Kindern und ihrem Ehemann. In diesem Zusammenhang bedeutet für Meral die Bindung zur Mutter gleichzeitig eine an ihren Vater. Meral wächst durch die engen Bindungen der Familie zur übrigen Verwandtschaft und zu den Nachbarn türkischer Herkunft in einem von der deutschen Umwelt distanzierten Milieu auf. Zu Hause ist die sunnitische Religion ein stets präsentes Thema. Meral wird 1989, ein halbes Jahr nach der Geburt ihres jüngeren Bruders, mit fünf Jahren zur Vorschule geschickt. Sie spricht über diese Zeit ausschließlich im Zusammenhang mit ihrer Bildung. Zu vermuten ist jedoch, dass ihr Status zu Hause – durch den Altersunterschied zwischen ihr und ihrem älteren Bruder fast wie ein Einzelkind – sich ändert und sie die Aufmerksamkeit von Seiten der Erwachsenen nun mit einem jüngeren Geschwister teilen muss. Merals Gefühle an ihre Kindheit sind geprägt von einem Alleinsein unter den Erwachsenen. Die einzigen Mädchen, zu denen sie engen Kontakt hat, sind die drei Schwestern aus der Nachbarschaft, um deren Zusammenhalt sie diese beneidet: „sie sind ohnehin drei: Schwestern also ((lächelt)) (6) … hm wenn es also auch keine Freunde geben sollte, sind sie zusammen.“ (I/10/41-43) Meral fühlt sich in der Welt der erwachsenen Frauen (ihrer Mutter und der angeheirateten Tanten) allein. Abgesehen von dem Altersunterschied mit den anderen innerhalb ihrer Familie wächst sie in einer Familie auf, in der Kinder schon früh lernen, zu dem anderen Geschlecht auf Distanz zu gehen, selbst wenn es sich um die Verwandtschaft handelt.
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5 Falldarstellungen
Schuljahre – Grundschule 1991 wird Meral gleichzeitig mit dem Nachbarmädchen in derselben Schule eingeschult. Sie sagt: „Meine Eltern wollten nicht, dass ich in die ganz türkisch Klasse gehe, deswegen haben sie mich zur gemischten Klasse geschickt.“ Sie erlebt ihre Einschulung so, dass ihre Eltern auf ihre Ausbildung Wert legen und beabsichtigen, sie auf Distanz zu anderen türkischen Kindern zu halten. Für die Familie steht „deutsch“ für bessere Bildung. Sie lernt als Kind, dass sie, um eine bessere Ausbildung zu bekommen, in der Schule in die Gruppen kommen muss, in denen das ‚Deutsche‘ überwiegt. Die Grundschule ist sozusagen ein Ort, eine Institution, die sie mit dem konfrontiert, was in der Familie als „deutsch“ betrachtet wird. Wie die Fallrekonstruktion verdeutlichte, hindert diese Wahrnehmung sie in den weiteren Jahren daran, das Verhalten ihrer Eltern diesbezüglich in Frage zu stellen. Sie entwickelt ihren Eltern gegenüber starke Loyalitätsgefühle und verinnerlicht deren Perspektive. Mit dem Schulbeginn nimmt Meral auch am Türkischunterricht129 als Muttersprache in der Schule teil. Ihre Eltern achten darauf, dass sie die jeweiligen Inhalte in den dazu passenden Gruppen erlernt. Ebenfalls in dieser Zeit wird sie auch in den am nächsten gelegenen Hort in ihrem Wohnviertel geschickt, in dem ausschließlich türkische ErzieherInnen und Kinder überwiegend mit türkischem Hintergrund sind. Sie erhält dort Nachhilfe.
Die Moschee und der erste Schulwechsel Ab der dritten Klasse (1993) wird Meral durch ihre Mutter regelmäßig zusammen mit ihren Freundinnen zur Moschee geschickt. Nach dem religiösen Verständnis ihrer Eltern sollen Mädchen schon im frühen Alter den Koran lernen und ein Kopftuch tragen. Meral geht zwar zur Moschee, trägt jedoch zuerst nur dort ein Kopftuch. Es ist ihre Mutter, die sich um ihre religiöse Erziehung bemüht, während der Vater sich mehr um die schulische Bildung kümmert. Ungefähr nach einem Jahr wechselt Meral die Moschee – laut der Begründung ihrer Mutter, weil diese näher an ihrer Wohnung ist. Diese Moschee, die sie bis heute besucht, verfolgt im Vergleich zu der vorherigen eine andere politische Richtung. Dieser Wechsel ist ebenfalls der Beginn einer Distanzierung von den Nachbarmädchen, die nicht mehr zur Moschee gehen. Meral findet dort neue 129 Ab den 1980er Jahren wird in Städten mit einem überdurchschnittlichen Anteil an Menschen aus der Türkei in einigen Schulen türkischer muttersprachlicher Unterricht angeboten. Dieses Thema wird bis in die Gegenwart hinein von türkischen und deutschen Pädagogen kontrovers diskutiert. Siehe dazu mehr Engin (2003).
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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Freundinnen. Auch wenn sie nach kurzer Zeit feststellt, dass der Koranunterricht in der ersten Moschee viel besser war, möchte Meral nicht wieder zurückgehen. Dies begründet sie damit, dass sie im gleichen Zeitraum die Schule gewechselt hat und dass sie sich nicht „noch mal“ von ihrem Freundeskreis trennen wollte. Die Fallrekonstruktion zeigt, dass dieser aufeinander folgende Wechsel der Schule und der Moschee in Merals Lebensgeschichte einen bedeutenden Wendepunkt darstellt. Der Schulwechsel ist das Ereignis in ihrer Bildungskarriere, mit dem Meral die selbst strukturierte Präsentation ihrer Lebensgeschichte beginnt. Auf der Präsentationsebene gibt sie als Grund für diesen Wechsel die Unterrichtsqualität in der Schule an, die nach ihrer Darstellung durch die Mehrzahl der SchülerInnen mit türkischem Hintergrund nicht gut sei. Sie spricht darüber mit folgendem Präsentationsinteresse: Ich bin besser als die anderen Türken. Diesen Schulwechsel bringt sie bei ihrer Eingangsdarstellung nicht im Zusammenhang mit der Moschee, sondern mit der Thematisierung der anfänglichen sprachlichen Schwierigkeiten bzw. der Kommunikation mit ihren MitschülerInnen. Ihre sozialen Kontakte stellt sie also durch die Notwendigkeit, deutsch zu sprechen, als besonders schwierig dar. Sie spricht nach dem Motto: ‚Durch den Schulwechsel habe ich zwar meine schulische Leistung verbessert, aber soziale Kontakte waren für mich schwierig und ich habe um Anerkennung gekämpft‘. Aufgrund ihrer erlebten Lebensgeschichte deutet Meral mit ihrer Themenwahl ‚Sprachschwierigkeiten‘ nicht nur auf Sprache im Sinne von verbaler Kommunikation, sondern auch auf die Interaktion mit anderen Welt(sicht)en in der Schule hin. Sie befreundet sich entsprechend ihrer Selbstpräsentation als handlungsfähige und kluge Schülerin schnell mit „Klassenbesten“ („wenn gute Leute bei dir sind wirst du auch gut“), so ihre Darstellung, um ihren Leistungsstand hoch zu halten. Freunde werden sowohl als Instrument zur Verbesserung der eigenen sozialen Position im Klassenverband als auch der schulischen Leistung in ihre Darstellung eingeführt. Ihr thematisches Feld ‚Leistung, soziale Bindung und Anerkennung außerhalb der Familie‘ zieht sich durch das gesamte Interview hindurch. Auf der erlebten Ebene wird durch diesen gezielten Wechsel ihrer institutionellen Anbindungen deutlich, dass Meral bewusst für beide Lebenszusammenhänge, den der MigrantInnen mit sunnitisch-türkischer Herkunft und den der Mehrheitsgesellschaft des Immigrationslandes, erzogen wird und ihr Leben durch Religion (mehr im Interesse ihrer Mutter) und Ausbildung (Delegation des Vaters) geprägt ist. Religion steht in diesem Zusammenhang auch für eine starke Bindung an ihre Moscheegemeinde und den Verlust von Autonomie in ihrer weiteren Entwicklung. Die schulische Ausbildung ist stark mit der deutschen Gesellschaft verbunden und bedeutet für Meral Entwicklungs-
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5 Falldarstellungen
chancen, aber auch eine erhöhte Gefahr der Isolierung im Verhältnis zu der religiösen Gemeinschaft, der ihre Eltern angehören. Mit dem Wechsel zur neuen Moschee beginnt Meral, außer in der Schule, überall ein Kopftuch zu tragen. Somit bekommt die Schule die Bedeutung des einzigen nicht religiösen Bereiches in ihrem Leben. Die neue Moschee symbolisiert den Anfangspunkt einer zunehmenden Trennung ihrer zwei Lebensbereiche: auf der einen Seite ist die Schule, auf der anderen Seite sind die Familie und die Moschee. Das Tragen eines Kopftuches außerhalb der Moschee beeinflusst ihre Freundschaften in der Nachbarschaft. Sie selbst sagt darüber: „Als ich angefangen habe ein Kopftuch zu tragen, es hat sich bei denen [die drei Schwestern in der Nachbarschaft] irgendwas getan //mh// (2) also, als ob sie auf das Kopftuch herabgesehen hätten haben //mh// (2) ich meine nicht ganz, nicht unbedingt ‚geh weg du bist mit Kopftuch‘, so was gabs nicht aber (2) sowieso (2)“ (I/10/5-8)
Dies steht symbolisch für die erste Ablehnungs- bzw. Diskriminierungserfahrung aufgrund ihres Kopftuches innerhalb der türkischen Nachbarschaft. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft macht sie eine erste solche Erfahrung, nachdem sie auch hier ein Kopftuch trägt. Das Kopftuch markiert das Auseinanderleben Merals und ihrer Kindheitsfreundinnen. Auch die Mütter kommen aufgrund der sich verändernden Erziehungsstile miteinander in Konflikt. Ihre Freundinnen geben Meral das Gefühl, mit dem Kopftuch inakzeptabel zu sein. Meral entwickelt ein Bewusstsein darüber, dass ihre – Merals – „Lebensweise anders“ ist. Über diese unterschiedlichen Lebensweisen sagt sie: „Bei uns zu Hause wird mehr auf islamische Regeln geachtet bei denen gibt es so was nicht also //mhm// Was weiß ich ihr Mutter (2) achtet nicht so sehr auf ihren Schleier, ich meine sie hat ihn auf aber, lauft halbärmig rum > so was< ((etwas kritisierend)) was weiß ich es gibt kein Beten und so, ihr Vater (2) hat früher Alkohol getrunken //hm// (2) bei uns gibt es niemals so was //hm// (4) Was weiß ich auch die Mädchen (3) haben kein Wissen über das=über das Thema (2) über islamische Themen (2)“ (I/10/14-20)
Meral stellt zwei unterschiedliche Formen von Religiosität einander gegenüber. Ihre Familie lebt nach einem Islam, dessen Regeln durch die religiösen Institutionen (wie die Moschee) vorgegeben werden, während die Nachbarsfamilie auf eine traditionelle Weise ihre Religiosität praktiziert. Meral hebt ihre Familie mit ihrer Form des religiösen Lebens im Vergleich zu den Nachbarn als korrekt und positiv hervor. Sie bewältigt die Trennung bzw. Abgrenzung von den Freundinnen durch die Hervorhebung der eigenen Person bzw. dadurch, dass
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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sie sich über die Freundinnen stellt: „ich kann nicht mit denen zusammen sein also die sich mir nicht anpassen also“. Hinzu kommt, dass sie das durch die Institutionen erlernte Wissen über die islamischen Themen höher bewertet, und sie fühlt sich als „Wissende“ überlegen. Das „Wissen“ über den Islam macht ihre Überlegenheit aus. Das Thema „Wissen über Islamische Themen“ bedeutet für Meral eine Stärke, die, wie weiter unten gezeigt wird, sie in späteren Jahren auch gegenüber ihrer Mutter verwendet. In diesen jüngeren Jahren identifiziert sie sich jedoch stärker nicht nur mit dem, was ihre Mutter sagt, sondern auch mit dem, was diese tut. Durch diese Abgrenzung erlebt Meral auch eine Abgrenzung zum kindlichen Leben. ,Sie sagt „während sie (2) im Garten spielten, ging ich zur Moschee“. Damit versteht sie ihre Kindheitsphase als endgültig abgeschlossen und ihren direkten Kontakt mit den Jungen in der Nachbarschaft als beendet. In der Schule muss Meral sich jedoch in ihren Sozialbeziehungen alleine zurechtfinden. Auch ist der Kontakt mit nichtreligiösen Kindern sowie Jungen dort „unvermeidlich“. Die Fallrekonstruktion verdeutlichte, dass Meral ziemlich früh lernt, dass es nicht nur „deutsche“ oder „unterschiedlich praktizierende sunnitische-türkische“, sondern auch unter Türken unterschiedliche sozial-religiöse Zugehörigkeiten gibt, die teilweise so stigmatisierend sind, dass manche diese sogar verstecken müssen. Als Beispiel nennt sie zwei alevitische Mädchen in ihrer Klasse. Sie sagt: „Sie waren Alevitinnen aber konnten nicht derart sagen ‚ich bin Alevitin‘ also, hier zum Beispiel ((meint ihren Hals)) hat sie ein Schwert [Zülfikar] getragen aber hat es innen (unter ihrem Pullover) versteckt. Es gab doch damals bei ihr eine Zurückhaltung, ich meine sie konnte nicht sagen ‚ich bin Alevitin‘ also (2) ((macht Geräusche auf dem Tisch)) Weiß nicht, damals wurde es kritisiert, wir haben auch doch ey geta(n)= wir waren Kinder damals also machst du ey‚ du bist leider Alevitin‘ ((mit Mitleid)) (2) warum bist du Alevitin‘ und so, solche Sachen hat man gemacht=sie haben ey gemacht aber (2) jetzt gibt es auf keinen Fall so was also (2) Es ist doch ihr Glauben, ob sie Alevitin ist (4)“ (I/12/24-31)
Die Zugehörigkeit zu den Aleviten bedeutet hierbei einen Makel. Die damals zehnjährige Meral versteht sich als Nicht-Aleviten und damit als Angehörige einer von der Mehrheit der (türkischen) Muslime sozial akzeptierten Gruppe, so dass sie aus dieser überlegenen Position heraus teilweise Mitleid mit diesen alevitischen Mädchen hat. Ihre abwiegelnde Bemerkung „wir waren Kinder damals“ deutet darauf hin, dass sie sich für etwas rechtfertigen möchte, das sie heute nicht mehr so machen würde. Auch hier geht es um ein unangenehmes Thema für sie und erneut wendet sie das Wort „ey“ häufiger an. An dieser Interviewstelle wird das Füllwort „ey“ für „sich über jemanden lustig machen,
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jemanden verachten, oder auf ihn herabschauen“ benutzt. Was ist oder was bedeutet Aleviten für Meral? Meral antwortet auf diese Frage folgendermaßen: „Was es für mich bedeutet (4) ((macht weiter Geräusche)) Ich weiß es nicht sonst, 130 nur sie glauben an Hazreti Ali und so, so habe ich gehört (4) Aleviten kamen mir damals noch also ey vor (2) Ja also Aleviten solche (3) es ist doch so, wie die manche sagen also ‚Jude‘ und so weiß ich nicht. Nicht so schlecht, nicht wie die Juden habe ich sie wahrgenommen aber (3) dennoch so Aleviten also tat ich ey doch kam es mir etwas so vor. Weil (2) dort haben meistens die Jungs doch ey gemacht also ‚du bist Alevitin‘ und so hat das Mädchen manchmal geärgert. //mhmh// Es gab zwar auch manche (alevitischen) Jungs aber es war nicht schlimm, Aleviten zu sein. Nur (2) damals war es nicht gut angesehen ich weiß aber nicht warum also ((lächelt)) Ihr [dem Mädchen] wurde denn anders, wenn man Alevitin sagte also (3) Das Mädchen hatte Hemmung wirk(lich)=zu sagen ich bin Alevitin (2) dann sagte sie manchmal ‚ich bin Alevitin‘ aber dennoch hatte sie also sehr viel ey gemacht also sehr, konnte also nicht direkt sagen //mhm// (3) Ich habe mit Aleviten, weiß ich nicht ganz=ich wusste also nicht was Aleviten daher (3)“ (I/12/37-49)
Meral pendelt in ihrer Wahrnehmung zwischen der Zeit von damals, als sie mit 10 Jahren noch ein Kind war, und heute mit 16 Jahren als Heranwachsende; sie drückt sich sehr vorsichtig aus. Meral fällt es trotz ihrer Aufgeklärtheit und ihres Wissens über die islamische Religion schwer, über dieses Thema zu sprechen. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass die Interviewerin aus der Türkei kommt und daher eventuell auch eine Alevitin sein könnte. Sie zitiert, was sie von anderen gehört hat. Dazu gehört auch die Gleichsetzung mit den Juden. Als in Deutschland aufwachsende Schülerin führt sie diesen Vergleich aufgrund ihrer in der Schule erworbenen historischen Kenntnisse sehr bewusst an. Abgesehen davon, dass Juden und Aleviten wegen der bis heute bestehenden Diskriminierung bzw. wegen ihrer Verfolgungsgeschichte bis hin zu Massakern als einander ähnlich betrachtet werden, wird das Glaubensverständnis der beiden Gruppen in unterschiedlichen Kontexten abwertend beurteilt. Ebenso wie viele Juden ihre Identität aufgrund von Verfolgungen immer verheimlichen mussten und müssen, verschweigen in der Türkei auch viele Aleviten bis heute aufgrund ihrer kollektiven historischen Erfahrungen für gewöhnlich ihre alevitische Zugehörigkeit. Es geht, wie bei der vorletzten Interviewstelle, immer noch um die Themen Ausgrenzung und Stigmatisierung, von denen aber die Jungen weniger betroffen scheinen als die Mädchen. Hier stellt sich die Frage, ob Mädchen aufgrund ihres Geschlechts die alevitische Zugehörigkeit als besonders belastend erleben oder ob Jungen mit der Minderheitenposition besser umgehen können, 130 „Hazret“ ist ein Ehrentitel vor dem Namen von Personen, die nach islamischer Auffassung als heilig gelten (Steuerwald 1988: 380).
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weil sie sich zuerst als Männer und erst dann als Aleviten fühlen. Der von Meral angesprochene unterschiedliche Umgang der Jungen mit ihrer alevitischen Zugehörigkeit ist auf Moralvorstellungen zurückzuführen, die in erster Linie für Mädchen stigmatisierend sind. Auf Mädchen bezogen beinhaltet die Bezeichnung „Alevitin“ neben der religiösen Einordnung zugleich auch eine sexuelle Erniedrigung und Abwertung. (vgl. Kapitel) War das Thema ‚Menschen unterschiedlichen Glaubens‘ oder ‚verschiedene Zugehörigkeiten im Islam‘ in Merals Familie ein Gesprächsthema? Auf diese Frage antwortet Meral verneinend und sagt dazu abschließend: „Nä, nein (3) es gibt nie so was=gab nicht also //hmhm// (9) Was soll ich noch erzählen? ((fragt lächelnd))“ (I/13/1-2). Meral möchte über ihr Elternhaus in diesem Zusammenhang nicht sprechen. Die Art der Verneinung und die darauf folgende lange Pause lässt die Vermutung zu, dass ihre Eltern dieses Thema zu Hause möglicherweise doch in einer andere Menschen kritisierenden oder abwertenden Form angesprochen haben, aber dass Meral dies der Interviewerin nicht verraten möchte. Die „unvermeidlichen“ Begegnungen mit alevitischen Mädchen erlebt sie ausschließlich im Rahmen der Schule, worauf ihre Eltern keine Einflussmöglichkeiten haben. Die Schule bietet ihr eine Möglichkeit, ihren Eltern nicht genehme Kontakte und Freundschaften heimlich zu pflegen. Meral erfährt eine nach Geschlechtszugehörigkeit verteilte Aufmerksamkeit ihrer Eltern in Bezug auf ihre unterschiedlichen Lebensbereiche. Obwohl ihre Mutter vorwiegend diejenige ist, die ihre religiöse Erziehung unterstützt, befürwortet sie jedoch gleichzeitig, in der deutschen Mehrheitsgesellschaft Fuß zu fassen. Ihre Eltern handeln pragmatisch, ermöglichen Meral die volle Beteiligung an den schulischen Aktivitäten wie Klassenfahrten, Basketballturnieren und einer Klassenparty. Meral sagt dazu: „Also meine Eltern haben mir erlaubt, also aber die Eltern von manchen erlauben sie nicht, glaube ich weiß nicht//hm// (4) Weil meine Eltern möchten nicht also dass ich- dass ihre Tochter von etwas ausgeschlossen bleibt also (2) ich meine möchten nicht, dass sie [Meral selbst als Tochter] etwas unerreichbar neidisch betrachtet. //hm// Vor allem meiner Mutter achtet sehr auf dieses Thema ((lächelnd)) (2)“ (I/14/20-24)
Meral fühlt sich im Vergleich zu anderen Mädchen von ihren Eltern darin unterstützt, sich in der deutschen Gesellschaft zu positionieren bzw. sich an dem schulischen Leben zu beteiligen. Merals Aussage, dass ihre Eltern nicht möchten, „dass ihre Tochter von etwas ausgeschlossen bleibt“, zeigt die Übernahme der elterlichen Perspektive durch Meral. Die teilweise unterschiedlichen Erwartungen ihrer Eltern, nämlich einerseits in der Schule erfolgreich zu sein sowie in der deutschen Gesellschaft eine gute Position zu erlangen und anderer-
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seits ihrer Familie gegenüber loyal, treu und gehorsam zu bleiben, konkretisiert sich in der sechsten Klasse in der Aufforderung ihrer Mutter, dass sie gemäß der Familientradition ab jetzt überall ein Kopftuch tragen soll. Da Meral nach der sechsten Klasse wegen der guten Noten aufs Gymnasium wechseln konnte, wird dieser Zeitpunkt als der Beginn des Kopftuchtragens im schulischen Raum festgelegt.
Wechsel zum Gymnasium und Tragen des Kopftuches in der Schule Den zweiten wichtigen Einschnitt erlebt Meral 1997 nach dem Wechsel zur 7. Klasse zum Gymnasium. Mit diesem Schulwechsel beginnt sie außerdem, auch in der Schule ein Kopftuch zu tragen. Der Zeitpunkt des Eintritts in die neue Klasse wurde bewusst ausgewählt. Dadurch braucht sie sich für diese Entscheidung ihren KlassenkameradInnen gegenüber nicht zu rechtfertigen. „Äh (2) eigentlich äh wäre es wahrscheinlich auch okay gewesen, wenn ich in der fünften Klasse Kopftuch getragen hätte dann hätten alle mich auf einmal so gesehen. //mhm// Aber, ich habe es nicht aufgenommen also. Ich wo=wollte wahrscheinlich damals nicht. Danach mit meiner eigenen Entscheidung meine Eltern haben auch gesagt also ‚du wirst sowieso nachher Kopftuch tragen, wenn du mit du mit Beginn der siebten Klasse das Kopftuch aufnimmst‘ sie meinten also ‚zeigt dich so, dass du nachher keine Schwierigkeit hast‘ (2) So habe die siebte Klasse mit Kopftuch angefangen (2) dann habe ich mich ganz bedeckt (auch lange Mantel angezogen) ich meine ich kann nicht zur Schule mit Kopftuch gehen und draußen, frei rumlaufen (2) So habe ich mich in dieser Weise bedeckt. Ich meine bevor ich mich ganz bedeckt habe, habe ich immer als ich zur Moschee oder irgendwohin ging Kopftuch getragen aber als ich zur Schule ging war ich offen (2) So also ich war halb offen halb verschleiert. Jetzt, also ich habe mich damals bedeckt als ich mit siebter Klasse anfing. Bezüglich dieses Themas also, hatte ich nichts hatte ich keine Schwierigkeit.“ (I/6/35-49)
Das Tragen des Kopftuches in der Schule findet sehr durchdacht statt. Um einem möglichen Konflikt zwischen den Eltern und der Tochter vorzubeugen, muss Meral diesen Entschluss freiwillig treffen. Dieser Prozess, der für alle Beteiligten schwierig ist, wird als ein geplanter und schrittweise durchgesetzter Imagewechsel in der außerfamilialen Welt vollzogen. Alle Vorbereitungsphasen beziehen sich auf die Schule. Nach der Eingewöhnungszeit in der Moschee und in der nachbarschaftlichen Nachbarschaft ist die Schule der schwierigste, jedoch entscheidende Schritt, danach kann sie dann überall ein Kopftuch tragen. Meral lebt zwar in einer festen Familienstruktur, die auf einem religiösen Verständnis
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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aufgebaut ist, dennoch erlebt sie ihre Eltern bezüglich der Religiosität ihr gegenüber als sehr liberal. Meral hat diese Familienwerte bzw. die Perspektive ihrer Mutter internalisiert und fühlt sich in der Entscheidung, überall das Kopftuch zu tragen, die ursprünglich ihre Mutter getroffen hat, frei. Das zeigt sich zum Beispiel daran, wie der Zeitpunkt für das Tragen des Kopftuches bestimmt wurde. Wie bei der Fallrekonstruktion ihrer Mutter erwähnt, stellte Merals Mutter im Interview die Festlegung dieses Zeitpunkts, im Unterschied zu Merals oben dargestellter Aussage, als Merals eigene Entscheidung dar. Es ist an dieser Stelle nicht entscheidend, durch wen die Entscheidung verbalisiert wurde. Denn die beiden Fallrekonstruktionen verdeutlichten, dass Merals Eltern sie nicht unter Druck setzten, sie jedoch strategisch dazu brachten, die Werte ihrer Erziehung zu akzeptieren bzw. zu verinnerlichen und selbst umzusetzen. Die folgende Interviewstelle verdeutlicht es: „Weiß nicht ich habe sowieso (2) seit meiner Kindheit habe ich das also ich selber, weiß es also ich mach was mir passend ist wenn etwas mir nicht passend ist mache ich es nicht also (2) Daher mischen sich meine Eltern kaum ob ich irgend=irgendwohin gehe oder nicht also du=sowieso (Eltern sagen ihr du weißt es sowieso) (2) so ich brauche es nicht (Eltern nach der Erlaubnis zu fragen) also es bedarf sich nicht mehr (4)“ (I/23/4-8)
Die Formulierungen „was mir passend ist“ und „was mir nicht passend ist“ stehen für die Rahmenbedingungen, unter denen Meral sich bewegen kann bzw. darf. Es steht fest, dass sie ein Kopftuch tragen wird, den Zeitpunkt darf sie jedoch mitbestimmen. Somit empfindet sich Meral in ihrem Familienzusammenhang als eine selbständige Person, die ihre Entscheidungen selbst trifft. Durch ihre Teilnahme an den schulischen Aktivitäten lernt sie ebenfalls die Lebensformen außerhalb der islamisch-traditionellen Lebensform kennen. Irgendwann sollte sie diese unterschiedlichen Lebensweisen sowohl implizit als auch explizit miteinander konfrontieren, um zu sehen, was ihr zusagt. Der Umgang ihrer Eltern hiermit ist sowohl strategisch als auch Konflikt vermeidend. Sie nimmt ihre Eltern in Schutz, verteidigt sie, um ihre Entscheidung zu legitimieren, indem sie sagt: „Also mit meinem Wunsch weil mit Zwang, ich von ich zur Schule=bis ich durch die Tür gehe werde ich das Kopftuch tragen dann kann ich es wieder abnehmen also. Man selber, muss es wollen dass man also es schätzt (6) Also in jedem Thema ist meine Familie so (lassen mich frei)“ (I/7/9-12)
Ihr Wunsch steht im Zentrum. Meral sieht den Übergang zum Kopftuchtragen als einen Vorgang an, auf den sie sich aus freiem Willen eingelassen hat, denn
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5 Falldarstellungen
die Schule als außerfamilialer Raum bietet ihr auch andere Handlungsmöglichkeiten.131 In diesem Zusammenhang ist die Schule ein von Eltern und familialen Zwängen freies Territorium, auf dem die Mädchen sich anders verhalten können bzw. dürfen. Nichtsdestotrotz scheint ihre Freiwilligkeit die Folge einer internalisierten Perspektivenübernahme zu sein. Merals Aussage lässt sich auch in die folgende paradoxe Form bringen: „Meine von meinen Eltern erwünschten Wünsche werden von meinen Eltern akzeptiert“. Der zweite Schulwechsel ist also durch den Beginn des Kopftuchtragens gekennzeichnet. Dies ist verbunden mit der eindeutigen Zuordnung zur türkischen islamischen Moscheegemeinde sowie der Akzeptanz der traditionellen Familienstruktur und Religiosität. Die Fallrekonstruktion zeigt – vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte ihrer Mutter –, dass es dabei ebenfalls um die Tradierung der (sexuellen) Erfahrungen ihrer Mutter an die Tochter Meral geht – eine Tradierung, die auf der latenten Ebene stattfindet. Diese transgenerationelle Weitergabe von Erfahrungen geschieht vor allem im Rahmen der Religiosität, denn die sexualisierten Begegnungen oder Situationen, auf die sich diese Erfahrungen beziehen, symbolisieren für die Mutter die Gefahr des Moralverlustes in Deutschland. Ab dieser Zeit wird Merals sunnitische Zugehörigkeit in der Klasse visuell auffällig. Die Fallrekonstruktion zeigte, dass Merals Eltern ihr einen schwer zu realisierenden Auftrag geben: Einerseits soll sie durch die Schulbildung im deutschen Schulsystem zu etwas Besonderen werden, andererseits soll sie sich aber nicht entsprechend dem Wertesystem der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft entwickeln, sondern ein Kopftuch tragen, zur Moschee gehen und sich an die Normen anpassen, die dem Islam entsprechen und die insbesondere durch die Mutter repräsentiert werden. Ab der siebten Klasse gewinnen die Bindungen innerhalb des Lebensraums Religion, der mit dem familialen Lebensraum zusammenhängt, immer mehr an Bedeutung. Die zwei bereits in dem Eingangsdialog angedeuteten unterschiedlichen Perspektiven auf ihr Leben gewinnen immer mehr an Konturen. Durch das Kopftuch steht hier die traditionell-islamische Familienstruktur der außerfamilialen Umwelt gegenüber – repräsentiert durch die Schule. Während Meral in ihrer Moscheegemeinde als die weibliche Repräsentantin ihrer Familie für ihre Lebensweise Anerkennung bekommt, empfindet sie sich in der Klasse mit ihrer Position als einzige Kopftuchträgerin als eine Einzelkämpferin, die sich mit ihrem Anderssein durchsetzen muss. Die Welt der Schule kommt einem gefähr131 Das Phänomen, dass viele Mädchen die Unterdrückung durch ihre Eltern mit einer Täuschung beantworten, indem sie in der Schule das Kopftuch abnehmen und nach Hause mit dem Kopftuch zurückkehren, wird von allen von mir interviewten Müttern/Töchtern in der Form von ‚andere tun das angedeutet.
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lichen Ort gleich, wo ihre Konsequenz täglich auf die Probe gestellt wird. Denn einige Mädchen in der Schule tragen zeitweise ein Kopftuch und setzen es dann wieder ab: „Also ich möchte auch nicht in einen solchen Zustand geraten, also was weiß ich jede sagt ‚warum hat sie sich verschleiert=du hast dich verschleiert warum nimmst du es jetzt ab‘ (4) so ist das Thema mit dem Kopftuch, (so) war meins (6)“ (I/7/1-3).
Meral fühlt sich in der Schule wegen ihres Aussehens vor allem von den Lehrern verachtet. In dem folgenden langen Zitat erzählt sie über die unterschiedlichen Erfahrungen, die sie mit manchen Lehrern gemacht hat und diskriminierend erlebte: „Äh manche Lehrer haben hm also na: haben na ey=haben ey ((schluckt)) Fremdheit (2) wenn sie es auch nicht ganz, direkt zeigen es gibt Ausländerfeindlichkeit, man merkt das also an ihrem Verhalten. Bei ihren Worten gibt es natürlich nichts (2) Aber: hm, ich habe den Geschichtsunterricht sowieso nie gemocht (2) wenn dazu noch dieser Lehrer kam, dann bleibt also nichts (2) Weiß nicht mein mündliches Deutsch ist nicht so gut. Deswegen tue ich auch nicht oft (mich melden) mit (2) etwas: bleibe ich zurück also ich melde mich nicht bei allem weil ich denke ich kann was Falsches sagen //hmhm// (2) Hm, etwas hat mich sehr genervt, ich habe mich lange Zeit am Unterricht nicht beteiligt also überhaupt nicht kann ich sagen. Ich dachte ich melde mich mal. Habe mich gemeldet. Dann hat der Lehrer gesagt: äh ‚ja‘ sagt er von ey‚ bist du vom na Urlaub zurückgekommen‘ und so ‚du hast dich gut ausgeruht‘ also hast ein gutes, Dings ey gemacht, und ich, er hat mich also offensichtlich runtergemacht (erniedrigt). Wenn es eine Deutsche oder sag ich mal jemand ohne Kopftuch gewesen wäre würde er ihm sagen ‚du fängst an dich zu bewegen‘ und so ‚mach weiter‘ und so aber, ich habe mich gemeldet (2) er hat mich gleich so na ey gemacht, runtergemacht (erniedrigt) also (2) nach dem Motto du machst seit ein paar Monaten nichts (2) weiß nicht er kommt in die Klasse schon durch seine Blicke weißt du was er sagen will, er guckt mich an und dann auch ich gucke dorthin also ((lächelt)) gegenseitig ((lachend)) (2) einmal kommt er in die Klasse (2) äh, guckt mein Kopftuch an, das war in einer auffälligen Farbe (...) dann guckt er so nach dem Motto ‚hast du ein neues Kopftuch gekauft‘ so. Also ich saß hinten hab nichts gehört vorne saß eben die bosnische Freundin, die ich vorhin meinte, er hat mit ihr gesprochen, ‚ja‘ ‚hat er gesagt äh ‚sie trägt immer dasselbe Kopftuch‘ das stimmt überhaupt nicht (...) so schlecht redet er immer (3) so ist es also wie ich sagte dieser Lehrer hat mehr, hat gegen Ausländer etwas ey (3) das lässt er merken also (3) weil sowieso jeder merkt es wie er mit mir umgeht, deswegen wenn ich seinen Unterricht, wenn ich auch versuchen sollte mich in Geschichte zu verbessern (3) egal was ich mache er wird mir eine Fünf geben. Also ich habe bei dem Lehrer keine Chance (2) es gibt nichts was ich tun kann.“ (I/89/28-9)
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Besonders schlechte Erfahrungen macht sie mit den Lehrern der Fächer Deutsch und Geschichte, also den Gesinnungsfächern, die von vielen Kindern mit Migrationhintergrund als problematisch betrachtet werden, weil den Kindern in diesen Fächern auch nationale Ideologie vermittelt wird. Daher ist es auch kein Zufall, dass diese Fächer für Meral schwierig sind. Sie wirft ihren Lehrern Ausländerfeindlichkeit vor, die sich zwar nicht offen, aber implizit äußert. Bei den Kindern kommt die unterschwellige Botschaft des Lehrers an, dass ‚ausländische Kinder‘, vor allem die mit Kopftuch, in der Klasse misstrauisch zu betrachten sind. Ihr wird von beiden Lehrern zu verstehen gegeben, dass sie nicht ‚dazu‘gehört. Diese Erfahrung empfindet sie als so unangenehm, beleidigend und belastend, dass sie wiederholt das Füllwort „ey“ benutzt. Meral fühlt sich durch die Lehrer in zweifacher Hinsicht diskriminiert: als Nichtdeutsche und als praktizierende Muslimin mit Kopftuch. Nach Merals Auffassung werden ihre KlassenkameradInnen ermutigt, sie hingegen beleidigt und demoralisiert. Sie empfindet sich in diesen Situationen als ohnmächtig und verliert nicht nur bei diesen beiden Lehrern, sondern in der Schule überhaupt, die Hoffnung. Zu dieser Zeit ist sie ungefähr 14 Jahre alt und ist durch die Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrung überfordert. Sie beginnt im Unterricht „aufzugeben“, entsprechend verschlechtern sich ihre schulischen Leistungen. Das Nachlassen der schulischen Erfolge wird mit einem verstärkten Engagement in der Moschee kompensiert. Sie fühlt sich durch ihre Familie und ihre Gemeinde in der Welt der Religion ermutigt, von der Schule als Reaktion auf ihr Kopftuch und frommes Aussehen hingegen abgelehnt, diskriminiert. Sie versucht, ihre Mutter für einen Schulwechsel zu gewinnen, doch leider vergeblich. Anders als in der Schule erlebt Meral in der Moscheegemeinde eine positive Bindung an ihre soziale Umwelt. Zu ihrem Engagement tragen ihre dortigen Freundschaften viel bei. In der achten Klasse freundet sich Meral dort eng mit einem etwas älteren Mädchen an, das eine Vorbildfunktion für sie hat. Diese Freundschaft – in einer Phase der extremen Einsamkeit in der Schule – verstärkt ihre Bindung an die Moscheegemeinde. Das Thema der sich intensivierenden Freundschaften in der Moschee führt Meral in ihrer selbst strukturierten Eingangspräsentation am Beispiel einer Umrefahrt132 mit der Mädchengruppe aus der Moschee ein. Ihre Präsentationsform wechselt an dieser Stelle im Zusammenhang mit der Umrefahrt, die als ein kollektives Erleben dargestellt wird, vom „ich“ zum „wir“.
132 Eine fakultative Pilgerfahrt nach Mekka, die außerhalb der vorgeschriebenen Zeit für Pilgerreisen stattfinden kann. Derartige Fahrten dienen hauptsächlich zur Besichtigung religiöser Symbole – vor allem in den letzten Jahren werden solche Reisen häufiger organisiert, um die religiöse Überzeugung besonders der Jugendlichen zu festigen.
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„Wenn wir irgendwohin gehen, sind wir alle zusammen, weil, die Menschen in der Moschee sind von meinem, Leben die Alle also sind von meiner Kultur was weiß ich auch in Bezug auf die Religion, deswegen kann ich mit denen alles machen aber mit denen in der Schule geht es nicht.“ (I/1/38-41)
Auffallend an Merals argumentativer Darstellung ist, dass sie ihre selbst strukturierte Lebensgeschichte chronologisch anhand ihrer sozialen Beziehungen weiterführt. Deutlich präsentiert sie an dieser Stelle, dass die Mädchen aus der Moschee ein Kontrastbild zu denen in der Schule liefern und sie sich als denen in der Moschee zugehörig betrachtet. Im Anschluss daran führt sie in Zusammenhang mit dem Thema Religion und Freundschaften ein bosnisches (muslimisches) Mädchen in der Schule an, um auszudrücken, dass die Art der muslimischen Religiosität dieses bosnischen Mädchens für eine zu ihr passende Freundschaft nicht genügt. Mit diesem kontrastiven Vergleich hebt sie in ihrer selbst strukturierten Darstellung ihre Aussage „mein Leben in der Schule und mein Leben in der Moschee“ hervor. In dieser Selbstdarstellung tauchen die Eltern bzw. die Familie nicht auf. Die Fallrekonstruktion zeigte, dass diese Umrefahrt, zusammen mit der Sichtbarkeit ihrer Religiosität mittels Kopftuch und den damit zusammenhängenden Erfahrungen in der Schule, den Anfang eines Bedeutungsverlustes der Schule markiert. Gerade in der Pubertät, in der die Peergroups wichtiger werden, findet Meral die für sie emotional bedeutsamen Bindungen in der Moschee. Sie und drei bis vier ihrer Freundinnen haben die Schlüssel zu Räumen in der Moschee, in denen sie nach dem Unterricht einige Zeit alleine verbringen können und haben dort einen geschützten Raum. Meral schafft es, in dieser Organisation gleichsam eine soziale Familie zu finden, in der ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse erfüllt werden: „Wir sind auch jeden Tag, mit Mädchen zusammen (2) ich meine wenn ich sie ein Tag nicht sehe vermissen wir uns ((lächelt))“ (I/2/23-24). Vermittelt durch die Peergroup in der Moschee wird Meral mit zunehmendem Alter immer frommer. Je stärker sie sich der Moschee zuwendet, desto unwichtiger wird die Schule. Dazu tragen die durch ihr diskriminierendes Verhalten negativ besetzten Lehrer, die als Autoritätspersonen respektierten Hodschas sowie die in ihrer Funktion als Peergroup für Meral wichtigen Freundinnen in der Moscheegemeinde entscheidend bei. Die Mädchengruppe wird in dieser Moschee von einer weiblichen Hodscha geleitet. In der Moschee kommt sie in die Gruppe der Elite, sie wird eine Vertrauensperson der Hodscha: „hm, ich kann sagen, dass wir die rechte Hand von Hodschas sind //hmhm// 6-7 Mädchen (3)“ (I/2/10-11) Sie selber bekommt eine Vorbildfunktion für andere Mädchen, welche sie zum Perfektionismus in ihrer Religiosität bzw. religiösem Erscheinen führt. Meral beginnt, in ihrer Moscheegemeinde Karriere zu machen.
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Ihre neue Umgebung und der neue Freundeskreis werden von ihrer Familie anerkannt: „haben sich auch unsere Familien kennen gelernt weiß nicht, wir sind ziemlich intim also“ (I/2/12-13). Dies ist die Stelle in dem ersten Interview, an der Meral ihr Elternhaus zum ersten Mal erwähnt. Im Gegensatz zu den Freundinnen in der Schule und in der Nachbarschaft kann Meral mit diesen Freundinnen ihre Zeit ohne Schuldgefühle verbringen. Mit Hilfe dieser Freundinnen hat sie die Möglichkeit, ihre Eltern in ihr öffentliches soziales Leben einzubeziehen. Besonders die Mütter entwickeln untereinander eine Vertrauensbeziehung, so dass sie die Begleitung ihrer Töchter bei den Programmen der Moscheegemeinde, die außerhalb stattfinden, abwechselnd übernehmen.133 Da Meral durch ihr Engagement in der Moscheegemeinde ihrer Mutter einen besonderen Zugang zur Außenwelt jenseits der Familie ermöglicht, wird sie von dieser bei ihren Aktivitäten unterstützt. Sie verbringt die Zeit außerhalb der Schule auch an den Wochenenden immer mehr in der Moschee. In ihrer Sichtweise bilden sich Grenzen nicht nur zwischen dem „Deutschen“ und dem „Türkischen“, sondern auch zwischen praktizierenden und nicht praktizierenden Musliminnen. Sie sagt: „Weil (4) man wird bei den Guten auch gut und bei den schlechten schlecht also zum Beispiel, wenn ich zur Zeit keine Freundinnen von der Moschee hätte (2) weiß ich nicht ich hätte auch wie die Mädchen in der Schule sein können weiß nicht also //hm// ((spielt mit der Untertasse)) Nach ihren (2) Verhalten, zum Beispiel ich passe nicht zu ihrem Verhalten also weiß nicht (6)“ (I/10/21-25)
In dem Prozess der Herausbildung eines Zugehörigkeitsgefühls zu Gruppen der außerfamilialen Welt während der Adoleszenz stellen die Mädchen in der Moschee und die in der Schule zwei entgegengesetzte Modelle für sie dar. Sie wertet ihre Freundinnen in der Moschee auf und fühlt sich durch ihr Erleben dort und in der Schule explizit darin unterstützt, sich in einem Feld von polarisierten Werten zu positionieren. Je mehr sie diese Bezugsgruppe aufwertet, desto negativer beurteilt sie die Nicht-Gruppenzugehörigen. Ihre Distanz zu und ihre Abgrenzung von anderen setzt sie in diesem Zusammenhang als einen Bewältigungsmechanismus ein. Denn sie geht davon aus, dass ihre KlassenkameradInnen sagen: „Also da ich eine mit Kopftuch bin, (sie denken) sozusagen mit diesem zurückgebliebenen Mädchen kann man nicht über solche Sachen reden, kann man keine Witze machen.“ (I/29/28-29) Seit ihrer Kindheit lernte Meral, dass sie sich als anständiges Mädchen von Jungen distanzieren soll. Mit diesem Moralverständnis lernt sie, die männliche Perspektive als den grundlegenden Maßstab zu nehmen/sehen. Sie wertet ihre 133 Zu den Themen Mitmütter und dem Kreis von Müttern siehe Debold/Malave/Wilson (1994).
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Position in der Schule damit auf, dass die Jungs sich ihr gegenüber respektvoller verhalten als gegenüber anderen Mädchen. Als ein Mädchen in der Adoleszenz ist für sie die Moschee der einzige Ort, an dem sie über ein, ihrem Islamverständnis nach, verbotenes Thema, nämlich über die „Jungs“ und Sexualität mit ihren Freundinnen offen sprechen kann: „Natürlich auch wir also (2) machen Witze also über die Jungs“. (I/25/44-45) Die Freundinnen leben innerhalb ihrer engen Peergroup eine von der Kontrolle und Schuldgefühlen freie Beziehungsform. Diese Mädchengruppe erlebt sie wie eine Schicksalsgemeinschaft, durch die sie gemeinsam mit anderen eine gewisse Freiheit – wenn auch innerhalb enger Grenzen – gewinnt. Sie sind in einem geschützten Raum und können sich dort über ihre negativen Erfahrungen austauschen. Diesen Freundinnenkreis betrachtet Meral als für jedes Mädchen in der Gruppe sehr wichtig, denn er gibt ihnen die Kraft, an ihrem Lebensstil und ihrer Lebensweise festzuhalten. Die Bindungen in der Moschee nehmen für Meral immer mehr die Bedeutung einer Großfamilie an. Sie ermöglichen ihr, Distanz zu ihrer eigenen Familie – und vor allem zu ihrer Mutter – zu gewinnen. Die Übernahme des Wunsches der Mutter, religiös zu werden, gibt Meral ihr gegenüber Macht: „>Ich kann meine Mutter< (3) ehm (2) ich kann also meine Mutter auf meine Seite gewinnen ((lacht leise)) ich kann sie also überreden //hmhm// (4)“. (I/22/5-8) Je mehr Meral sich in die religiösen Bindungen begibt, desto mehr wird sie von ihrer Mutter unterstützt. Beide verbünden sich durch ihr gemeinsames Engagement in der Moscheegemeinde. Sie eröffnen sich gegenseitig Handlungsspielräume oder sehen ihre Freiheit durch die Verbindung zu dieser neuen sozialen Welt, in der sie zu jeder Zeit im Rahmen der Frauengemeinde unterwegs sein können. Durch die Teilnahme an den Kursen der Moschee (Nähen etc.) entwickelt Meral Fähigkeiten, die ihr in Zukunft einen Vorteil auf dem Heiratsmarkt der Moscheegemeinde verschaffen werden. Meral erlangt die Rolle einer Expertin in der außerfamilialen religiösen Welt. Andererseits empfindet sie ihre Beziehung zur Mutter auch als eine freundschaftliche, wenn ihre Mutter sie bspw. danach fragt „[…]‚was soll ich anziehen, wäre das passend‘ und so sie kommt und zeigt so“. Da die Mutter die Vermittlerrolle zwischen Meral und ihrem Vater hat, kann Meral ihre Wünsche über ihre Mutter durchsetzen, ohne dass sie sich mit dem Vater direkt konfrontieren muss. Anders als der Vater – denn wie sie sagt: „Mein Vater achtet mehr auf das Thema Schule“ – kann die Mutter mit den nachlassenden Leistungen Merals in der Schule besser umgehen. Sie duldet es beispielsweise, wenn Meral nach ihren Übernachtungen bei den Freundinnen den nächsten Tag zu Hause verbringt, statt zur Schule zu gehen. Meral distanziert sich mit der Unterstützung ihrer Mutter immer mehr von der Bildungsdelegation ihres Vaters, der mit sechzehn Jahren den Besuch des Gymnasiums abgebrochen hat und nach Deutschland ging.
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Welche Beziehung aber hat die adoleszente Meral generell zu ihrem Vater? Diesbezügliche Fragen beantwortet sie folgenderweise: „Mit meinem Vater (4) ((nimmt einen Schluck Tee)) Mein Kontakt mit meinem Vater (2) ((hustet)) (2) Also mein Vater (3) Meine Mutter ist mit uns noch enger verbunden als mein Vater. (2) Mutter und Vater sind unterschiedlich //hmhm// (2) zum Beispiel meine Mutter ist auch mit meinem Bruder mehr (2) mein Bruder ist 24 Jahre alt weiß nicht da er einen geringen Altersabstand zu meiner Mutter hat also sie haben noch=haben sie eine andere Verbindung und mit mir hat meine Mutter eine andere Verbindung (3) ((stöhnt)) Hm: mit meinem Vater (8) mein Verhältnis mit meinem Vater, >ich weiß nicht es ist also normal< (2) Natürlich nicht wie ich mit meiner Mutter bin //hmhm// (8) Um uns kümmert sich mehr=meine Mutter kümmert sich mehr darum also=auch über das Thema also (2) mehr etwas mehr Diszip(lin) ((schluckt))=natürlich kümmert sich auch mein Vater aber. Also wie soll ich erzählen (6) Also wenn es etwas, gibt gehen wir zu meiner Mutter also nicht zu meinem Vater in dem Maß ((lachend)) //((lacht))// Also wenn etwas gekauft werden soll und so (2) weil: (2) also meine Mutter kann besser solche Sachen machen (3) Wie ich gesagt habe also macht meine Mutter nicht ey also zum Beispiel, so bleiben=also zwar nicht so zurückbleiben aber also. Es ist doch so da meine Mutter doch nicht möchte dass ich etwas neidisch betrachte macht meine Mutter solche Sachen noch mehr ey. Nun mein Kontakt mit meinem Vater weiß ich nicht also (2) wie ich sagte, es ist nicht wie mit meiner Mutter, kann es doch auch nicht so sein mit meinem Vater weiß nicht so (nah) (8) >also< sonst mit meinem Vater (10)“ (I/15/28-44)
Meral ist es nur möglich, über ihren Vater im Zusammenhang mit ihrer Beziehung zu ihrer Mutter zu sprechen. Dies ist in dem ganzen Interview die einzige Stelle, an der Meral über ihre Beziehung zu ihrem Vater spricht. Die Art und Weise, in der sie über diese Beziehung zu sprechen versucht, deutet auf eine schwierige, fast sogar erheblich distanzierte Beziehung hin. Abgesehen von ihrer Behauptung, dass die Vater-Tochter-Beziehung immer die am wenigsten intensive Beziehung sei, zeigt die Fallrekonstruktion, dass es ein Teil ihrer Familienstruktur ist, zu den männlichen Personen – d.h. auch zu ihrem Vater – Distanz zu halten. Sie versucht, diese Familienstruktur durch Beispiele zu legitimieren. Sie braucht ihre Mutter als Kontrastbild, um über ihren Vater zu sprechen. In dieser Passage kommt eine Familienstruktur zum Ausdruck, in der eine strikte Geschlechter- und Rollentrennung sowie eine traditionelle Orientierung vorherrschen, wie aus der Fallrekonstruktion von ihrer Mutter bekannt. Sie möchte das Bild ‚Meine Eltern sind normal‘ vermitteln. Die enge Bindung zwischen der Mutter und dem älteren Bruder rechtfertigt sie mit dem geringeren Altersabstand; dabei kommt bei Meral ein latentes Gefühl von Benachteiligung zum Ausdruck, das sie jedoch ebenfalls mit ihrer eigenen Verbindung zur Mutter
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relativiert. Ihre Mutter erfüllt die Bedürfnisse ihrer Kinder, versorgt und erzieht sie. Sie regelt die inneren Angelegenheiten der Familie. Die Mutter steht zu Hause im Zentrum aller Beziehungen, als einziges Familienmitglied, dem es erspart bleibt, in seinen Beziehungen zu anderen Familienmitgliedern streng auf Geschlechtsunterschiede achten zu müssen. Hier lässt sich eine latente Konkurrenz Merals mit ihrem älteren Bruder um die Aufmerksamkeit der Mutter vermuten. Es ist eigentlich nur Meral, die sich genau nach den Vorstellungen ihrer Mutter entwickelt. Meral erlebt Aufmerksamkeit durch die Erfüllung ihrer materiellen Bedürfnisse, während der Bruder zusätzlich sehr viel mehr emotionale Zuwendung bekommt. Der Vater, um den es eigentlich in diesem Teil des Interviews gehen sollte, bleibt außerhalb dieser Beziehungen. Ihre Beziehung zur Mutter ändert sich durch die immer enger werdenden Bindungen zu ihren Freundinnen in der Moschee, die sich gegenseitig bei der Ablösung von ihren Müttern unterstützen. Meral sagt über den Ablösungsprozess von ihrer Mutter: „Früher also (3) diese pufff als ich begann so (mit den Freundinnen aus der Moschee) auszugehen sagte sie ‚du fragst überhaupt nicht, machst was dir passt‘ aber, sie wusste auch, dass ich nicht fragen würde, aber hat trotzdem gesagt sie (2) habe ich dann Zeitlang gefragt also ab und zu mal dies mal frage ich nach jeder Kleinigkeit, dass sie davon satt hat also von meinen Fragen.“ (I/22/16-19)
Die implizite Sicherheit, die Meral durch ihre von der Mutter anerkannten Freundschaften aus der Moschee erwirbt, ermöglicht Meral, dieser gegenüber selbstbewusst aufzutreten. Meral gewinnt durch die (religiöse) Bindung an die Gemeinde ihrer Eltern nicht nur deren Vertrauen und Ansehen der Eltern, sondern auch an Handlungsspielräumen innerhalb eines geschützten Raums. Im Zusammenhang mit den negativen Erfahrungen in der Schule bekommt dieser Zuwachs an Freiheit eine immer größere Bedeutung, so dass sich Meral infolge der in der Schule erfahrenen Diskriminierungen immer fester an die Moschee bindet, was wiederum ihre Situation in der Schule verschlechtert. Das Stichwort „Erlaubnis“ spielt bei der Wahrnehmung ihrer Eltern eine bedeutende Rolle. Meral betrachtet ihre Eltern als Personen, die liberal sind sowie zeitgemäß leben bzw. sich den Bedingungen der jeweiligen Gesellschaft anpassen. So wie sie ihre Eltern wegen ihrer Großzügigkeit in Bezug auf ihre Teilnahme an den Aktivitäten in der Grundschule – im Gegensatz zu anderen türkischen Eltern – idealisiert hat, idealisiert sie sie heute im Vergleich zu den Eltern ihrer Freundinnen in der Moschee. In den Beziehungskonstellationen innerhalb ihrer Gemeinde sind die Mütter die zentralen Personen, auf deren Lebensweise oder Lebensstil sich die Töchter beziehen.
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Ein Aspekt, bei dem sich Meral deutlich von ihrer Mutter abgrenzt, sind ihre Vorstellungen über ihre künftige Rolle als Frau in der außerfamilialen Welt. Hier distanziert sie sich auch von der Lebensgeschichte ihrer Mutter und spricht ‚etwas uninteressiert‘ von ,Vermutungen‘. Sie vermittelt den Eindruck, als ob ihre Mutter aus einer anderen Kultur käme, die sie weder kennt noch kennenlernen möchte: „Meine Mutter, ging früher sogar nicht zum Deutschkurs, es ist nicht lange also ein=seit ein zwei Jahren geht sie also (benennt die Kurse) (3) Ich weiß nicht ihr=ihr Leben ist anders gekommen, meins kam anders jetzt. Ich kann mich mit ihr nicht vergleichen, das Leben meiner Mutter und meines //hm// (2) äh ((schluckt)) meine Mutter hat keinen Beruf in der Hand, In der Türkei hat sie wohl nach fünfter Klasse oder so (die Schule) verlassen weiß nicht also sie hat nichts in der Hand (3) Ich, kann mir nicht vorstellen also dass ich von morgens bis abends zu Hause sitze so: ein Leben kann ich mir nicht vorstellen (2) ich würde mich auf jeden Fall irgendwo betätigen, wenn nicht eine Arbeit was weiß ich würde ich in die Frauengruppe der Organisation eintreten werde etwas tun. Wenn ich auch nicht arbeiten sollte (2) Meine Mutter tut auch nicht das, zurzeit (2) jetzt geht sie zwar zum Deutschkurs aber trotzdem“ (I/18-19/47-7)
In Merals Vorstellung von sich als erwachsener Frau ist sie gut ausgebildet, berufstätig und sozial aktiv. Das deutet darauf hin, dass das in der deutschen Mehrheitsgesellschaft vorherrschende Frauenbild auch in der Moschee akzeptiert wird. Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass Meral von ihrer Mutter als einer ‚unfähigen‘ Frau spricht, die nichts ‚leistet‘, den ganzen Tag zu Hause sitzt und daher Merals Frauenbild nicht entspricht. So wie Meral sich von den Freundinnen in der Schule abgegrenzt hat, weil sie eine andere Lebensweise bzw. andere Moralvorstellungen haben, grenzt sie sich hier stark von ihrer Mutter als Frau ab. Sie stellt sich für sich als erwachsene Frau einen anderen Lebensinhalt vor als den ihrer Mutter. Gleichzeitig ist Meral aber durch ihre sich immer weiter verschlechternden Schulnoten auf dem Weg, sich selbst dem Bild anzunähern, das sie von ihrer Mutter hat. Ihre Mutter ist in diesem Zusammenhang eine Frau, die sowohl in ihren Kontakten zur Außenwelt als auch finanziell von ihrem Mann abhängig ist. Meral ignoriert die Lebensbedingungen ihrer Mutter als einer Migrantin – wie sie auch die ganze Zeit ihre gesellschaftliche Situation als Kind aus einer Migrantenfamilie ignoriert und alles an ihrem Kopftuch festmacht. Sie erlebt ihre Begegnungen nicht als „Migrantenkind“, sondern als ‚Kopftuchmädchen‘. Das ist eine andere Form, in der Meral ihr Konkurrenzverhältnis zu ihrer Mutter ausdrückt: ‚Ich schaffte im deutschen Kontext, was Mutter nicht geschafft hat‘.
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Obwohl sie ihre religiöse Bildung der Initiative ihrer Mutter verdankt, beschreibt Meral als Heranwachsende nicht das Elternhaus, sondern die Moschee als den Ort religiöser Bildung. Durch diesen religiösen Bildungsprozess weiß sie über die Religion nicht nur, wie bereits gezeigt, mehr als ihre ehemaligen Kindheitsfreundinnen aus der Nachbarschaft, sondern auch mehr als ihre Mutter. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang ihre Antwort auf die Frage, was eine muslimische Frau für sie bedeute: „Eine muslimische Frau (3) für mich (3) wie ich sagte also ich, selbst achte mehr auf die religiösen Sachen. Vielleicht in manchen Themen kann ich sogar noch mehr als meine Mutter machen. //hm// Weil ich es auch etwas normal (2) finde sie ist nicht wie ich zur Moschee gegangen also (3) Deswegen besitzt meine Mutter weniger Wissen als ich also in manchem Thema //hm// Ich habe für meine Mutter auch Verständnis ich meine ich mache ihr auch keinen Vorwurf. Natürlich hätte ich mich darauf gefreut, dass meine Mutter zur Moschee geht, wenn meine Mutter sich eigentlich dies gewünscht hätte (3) äh unter der Woche zum Beispiel machen sie für Frauen Unterricht.“ (I/29/35-41)
Religiöses Wissen ermöglicht es Meral, mit ihrer Mutter zu konkurrieren und vor allem sich als die bessere und besser ausgebildete Muslimin über ihre Mutter zu stellen. Die damit vollzogene Selbstaufwertung mildert sie mit ihrem „Verständnis“134 für die Mutter ab, um diese damit in Schutz zu nehmen. Mit zunehmendem Alter wird Merals Wahrnehmung der Eltern ambivalent. Als Beispiel können ihre Vorstellungen von einer ehelichen Partnerschaft dienen. Dies mit einer Fremden – nämlich mit mir als der Interviewerin – zu thematisieren, ist für Meral offenkundig sehr schwierig, denn dies bedeutet eine Illoyalität ihren Eltern gegenüber. Daher versucht sie an dieser Stelle, einerseits eine Differenz ihres Standpunkts zu dem ihrer Eltern zum Ausdruck zu bringen, aber andererseits deren Begründung zu relativieren: „(4) ich meine ganz=offen gesagt kann ich nicht ganz als ein Vorbild nehmen //hm// (4) Weil natürlich hat jeder seine Fehler weiß nicht (4)“ (I/1/13-14). Sie versucht zu kaschieren, was sie an der Ehebeziehung ihrer Eltern als problematisch empfindet. Hier zeigt sich ebenfalls der Versuch, die Eltern vor dem negativen Bild, das sie von ihnen hat, in Schutz zu nehmen. Die Fallrekonstruktion zeigte, dass die ambivalente Form, in der Meral über die Eltern und vor allem über die Mutter spricht, ihre starke familiale Bindung ausdrückt – auch wenn sie sich im Vergleich zur Mutter als
134 Der Umgang von Meral in ihrer Tochterrolle gegenüber ihrer Mutter lässt sich mit dem in der (deutschen) Mehrheitsgesellschaft gängigen „Toleranzmodell“ vergleichen, denn es „tolerieren“ nur diejenigen andere, die sich innerhalb der Struktur einer Gesellschaft mächtig fühlen.
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selbstbewusst empfindet und sich mit ihrem Bild von ihrer Mutter als einer ,einfachen Frau nicht identifizieren kann.
5.2.3 Zukunftsperspektive Meral ist auf der Suche nach Alternativen, um die Schule verlassen zu können. Ihre beste Freundin aus der Moschee hat die Schule gewechselt und geht derzeit auf eine Realschule. Da ihre Freundin von dieser Entscheidung bzw. dem Wechsel immer positiv berichtete, plante Meral in der ersten Erhebungsphase, auf eine Realschule zu gehen und nach der mittleren Reife eine Ausbildung zur Erzieherin zu machen. Sie hat eine Vorstellung von ihrer beruflichen Zukunft, die sowohl ihre religiöse Lebenseinstellung als auch eine Berufstätigkeit der Frau einschließt. Sie sagt: „Also ich weiß jetzt zwar noch nicht ganz genau was ich machen werde (2) aber nächste Woche fange ich mit meinem Praktikum in einem Kindergarten an (2) hm Kindergarten, wenn es mir als Erzieherin gefällt, möchte ich nach der 10. Klasse zur diesbezüglichen Schule gehen //hmhm// (2) Hoffentlich doch gefällt es mir, ich stelle mir einen Beruf so vor (3) es muss in der Zukunft zu meinem Leben (2) äh (3) in Bezug auf mein Leben also (2) muss also ein Beruf sein, den ich ausüben kann. Sowohl soll ich mein Kopftuch tragen können, als auch äh so offen gesagt ich möchte nicht mit Männern zu tun haben //hmhm// (2) eh in einem Kindergarten gibt es so was nicht du bist immer mit den Kindern zusammen was weiß ich die sind alle in der Regel Erzieherin //hmhm// (3) Da ich so was möchte, passt es mir besser (2)“ (I/19/8-18)
Sie blieb in der neunten Klasse sitzen. Obwohl unser zweites Interview nach diesem Ereignis stattfand, verriet sie mir dies nicht, vermutlich aus dem Grund, weil diese Veränderung zu ihrem Selbstpräsentationsinteresse als leistungsfähige und erfolgreiche Person nicht passte. Diese Information erhielt ich von der Mutter während unseres letzten Interviews. In der Endphase der Datenerhebung befindet sich Meral im 17. Lebensjahr, und sie vermittelt eine inzwischen veränderte Berufsvorstellung. Sie geht derzeit zur theologischen Ausbildungsstätte ihrer religiösen Organisation. Die Ausbildung dort dauert drei Jahre und verläuft parallel zu ihrer derzeitigen schulischen Ausbildung. Sie kann dort einen Abschluss in Theologie machen. Sie beginnt diese Ausbildung gemeinsam mit ihren nahen Freundinnen. Da alle bereits in der Moschee eine vorbereitende Ausbildung erhalten haben, können sie direkt in die zweite Klasse einsteigen. Nach dem dreijährigen Besuch des Seminars möchten sie Arabisch lernen und islamische Theologie an einer Fernuniversität studieren. Meral plant, dieses
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Studium durchzuführen, um danach selbst in dieser Institution als Lehrerin zu arbeiten. Auf die Frage, wie ihr Leben in den nächsten zehn Jahren voraussichtlich aussehen wird, sagt sie abschließend: „Zuerst möchte ich bis dahin mit der Schule fertig sein ((erleichtert und lacht)) // ((lacht mit)) // danach ich denke ich wäre verheiratet bis dahin ich glaube es wäre nicht schlecht wenn ich auch Kinder habe, da ich doch 26 Jahre alt bin ((lächelnd)) danach (2) ich weiß nicht was für einen Beruf ich haben werde also egal wie aber wenn ich einen schönen Beruf habe möchte ich arbeiten, also wenn ich ein schöner Beruf sage (2) wenn er den Bedingungen entsprechend ist wenn ich arbeiten soll würde ich arbeiten also (2) hm außerdem wird auch bis dahin die islamische Ausbildung fertig sein ((ebenfalls erleichtert/lächelnd)) ich kann vielleicht auch hier unterrichten es kann sein. Ich weiß es nicht (3) darüber kann ich nichts sagen also, ich werde es sehen ((lächelnd)).“ (I/4/8-15)
5.2.4 Zusammenfassung Als ein von ihrer Mutter sehr erwünschtes Kind wächst Meral in einer Familienstruktur auf, in der ihre Mutter durch das von ihr inszenierte religiös orientierte Familienleben eine zentrale Rolle hat. Durch die Religiosität konstruiert sich die Familie ein neues Familienleben bzw. eine neue Familiengeschichte, die bezweckt, die Kinder eng an die Familie zu binden. In diesem neuen Familienleben dient die Religiosität besonders dem Verhüllen von Problemen innerhalb der Familie. Zu der Familienstruktur gehört ebenfalls das Gebot, außerhalb des familialen Kontexts nicht über die Familienangelegenheiten zu sprechen. Dementsprechend thematisiert Meral in beiden Interviews die Besonderheit ihrer Geburt für ihre Familie bzw. für ihre Mutter nicht und spricht nur über die familiale Religiosität aus der Perspektive einer institutionalisierten Religion. Merals Selbstpräsentation ist sehr stark durch die Gegenwartsperspektive geprägt, die durch eine Spannung zwischen Moschee und Schule bestimmt ist und ihre Familie ausschließt. Ihre überwiegend in der Textsorte der Argumentation gehaltene Darstellung beschreibt zwei bedeutende Lebensphasen, deren jeweilige Anfänge durch den zweimaligen Schulwechsel markiert werden und jeweils zu einer wachsenden Bindung an den Lebensbereich der Religion führen. Meral vermeidet aber, dies in ihrer Präsentation zusammenhängend darzustellen. Damit spricht sie nicht über ihre gleichzeitig abnehmenden schulischen Leistungen seit dem zweiten Schulwechsel. Beim ersten Schulwechsel stellt sie ihre Leistungsfähigkeit und die Anerkennung in der Schule in den Vordergrund. Mit dem Wechsel zum Gymnasium macht sie eine deutliche Trennung zwischen dem Alltag in der Schule und in der Moschee und stellt diese beiden Welten im
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Hinblick auf die aus ihnen hervorgegangenen Freundschaften in einen Kontrast zueinander bzw. benutzt diese als Folien für bestimmte Aussagen. Die im Eingangsdialog von Meral angedeutete ‚Vielseitigkeit ihres Lebens manifestiert sich hier als die beiden thematischen Felder ‚Mein Leben in der Schule und ‚Mein Leben in der Moschee. Die Fallrekonstruktion zeigt, dass sie mittels ihrer Freundinnen in der Moscheegemeinde die Möglichkeit hat, über ihre Familie zu sprechen und sie in ihr öffentliches soziales Leben einzubinden. Meral erhält zwar schon früh eine religiöse Erziehung, die manifesten Spannungen fangen jedoch erst an, nachdem sie in der Moschee in eine geschlechtsspezifische Peergroup kommt und dadurch immer mehr Zeit in der Moschee verbringt. Die Moscheegemeinde bietet ihr dabei ein funktionales Äquivalent zu einer Peergroup und einen geschützten Raum. Sie schafft es, in dieser Organisation mit den anderen Mädchen eine Art von Ersatzfamilie zu bilden, in der ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse erfüllt werden und sie eine Vorbildfunktion für andere Mädchen in der Gemeinde einnimmt. Insgesamt sind es die Themen Leistung und soziale Bindung sowie außerfamiliale Anerkennung, die sie gegenwärtig beschäftigen. Indem sie in der von ihr selbst strukturierten Präsentation ihre Familiengeschichte ausspart, stellt sie ihre ‚Besonderheit‘ nicht im Zusammenhang mit ihrer Familie, sondern mit ihrer religiösen Orientierung und der Schule dar. Die Fallrekonstruktion zeigt, dass sie ihre (Familien)Geschichte vom Thema Migration entkoppelt und ihre besonders in der Schule gemachten Erfahrungen ausschließlich im Rahmen ihrer Religiosität bzw. ihres Kopftuchtragens betrachtet. Durch das Kopftuch stehen hier die traditionell-religiöse Struktur der Familien und der von ihnen gebildeten Gemeinde einerseits und die nichtfamiliale Außenwelt bzw. Schule gegenüber. Obwohl sie zu der Gruppe der sunnitischen Mehrheit unter den Menschen türkischer Herkunft gehört, macht sie als praktizierende Muslimin ihre erste Ablehnungserfahrung mit dem Tragen eines Kopftuches innerhalb ihrer nicht praktizierenden sunnitisch-türkischen Nachbarschaft. Die Idealisierung ihrer Eltern als ,verantwortliche, liberale, anpassungsfähige und zeitgemäße Menschen‘ bringt Meral, gerade in der Adoleszenz, dazu, die Perspektive ihrer Eltern, vor allem ihrer Mutter, zu übernehmen und ihren Eltern gegenüber loyal und gehorsam zu bleiben. Allerdings geben ihre Eltern ihr einen schwer zu realisierenden Auftrag: Einerseits soll sie sich durch eine gute säkulare Schulausbildung zu etwas Besonderem entwickeln, andererseits soll sie sich aber nicht gemäß den Forderungen der christlich geprägten deutschen Mehrheitsgesellschaft entwickeln, sondern eine feste Einbindung in die religiöse Gemeinde halten. Das Erziehungskonzept ihrer Eltern, dass sie in beiden Lebensbereichen erfolgreich sein soll, funktioniert – bis zu dem Zeitpunkt unseres Interviews – nicht. Das Nachlassen der schulischen Erfolge wird mit verstärktem Engagement in der Moscheegemeinde kompen-
5.2 Meral Demiray (Tochter von Neziha Demiray)
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siert. Sie erlebt ihre Familie und die Gemeinde in ihrer religiösen Karriere als ermutigend, die Schule jedoch wegen ihrer Religiosität als ablehnend, diskriminierend und demütigend. Sie findet Sicherheit und Anerkennung in der Moscheegemeinde und nicht in der staatlichen Schule. Es verfestigen sich bei Meral dichotomische Denkweisen und sie zieht nicht nur zwischen dem ‚Deutschen‘ und dem ‚Türkischen‘ eine scharfe Grenze, sondern auch zwischen praktizierenden und nicht praktizierenden Musliminnen. In ihrer Beziehung zu ihrer Mutter spielen religiöse Bindungen eine entscheidende Rolle. Indem ihre Mutter sich primär um ihre religiöse Anbindung sorgt, wird sie bei Misserfolgen in der Schule von ihr entschuldigt, so dass sie diese ihrem Vater gegenüber kaschieren können. Meral instrumentalisiert zum Teil ihre freundschaftlichen Bindungen und ihr Engagement in der Moschee, um sich in der Adoleszenz von der Mutter zu distanzieren. Durch ihre perfektionierte Umsetzung der von ihrer Mutter gewünschten Religiosität und durch das über Institutionen erworbene religiöse Wissen erlebt sie eine Art Überlegenheit ihrer Mutter gegenüber. Anders als ihre Mutter, die sie als ihren Stolz in der Moscheegemeinde erlebt, distanziert sich Meral von ihrer Mutter aufgrund ihres Daseins als Hausfrau, ihrer geringen Bildung und islamischer Wissensform, die sie auf traditionelle Weise erworben hat. Sie betrachtet ihre Religiosität als eigene Leistung, entkoppelt von der Geschichte ihrer Mutter, und somit entkoppelt sie sich selber von der Geschichte ihrer Mutter. In diesem Zusammenhang profitierte die Mutter von der hohen Position ihrer Tochter in der Moscheegemeinde. Die Orientierung an ihrer religiösen Gemeinde zeigt sich auch in Merals Zukunftsperspektive. Sie geht parallel zur staatlichen Schule in eine islamische Schule, deren Abschluss ihr ermöglichen könnte, in der Moschee zu lehren. Anders als die Erziehertätigkeit (als eine von ihr angedachte mögliche Berufsausbildung), die eine Zukunftsperspektive in beiden öffentlichen Räumen (der Moschee und dem deutschen Arbeitsmarkt) eröffnen würde, deutet eine Ausbildung in der islamischen Schule auf eine Orientierung auf die so genannte ‚Religionsgemeinschaft‘, also auf die organisierte (institutionelle) Religion bzw. Religiosität hin. Trotz ihrer Kritik an ihrer Mutter schließt sie diese Option, auch vor dem Hintergrund ihrer religiösen Lebensorientierung, zukunftsperspektivisch für sich nicht aus.
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5 Falldarstellungen
5.3 Elif Toprak 5.3 Elif Toprak Einige Daten aus ihrer Biographie: Elif Toprak ist Alevitin und kommt aus einer von der alevitischen Glaubensgemeinschaft heilig gehaltenen Dedefamilie. Zu dem Zeitpunkt des ersten Interviews im Jahr 2000 ist sie laut ihrer Geburtsurkunde 50 Jahre alt, ihr biologisches Alter beträgt allerdings 47 Jahre. Der Altersunterschied liegt daran, dass ihre vor ihrer Geburt verstorbene Schwester im Melderegister nicht abgemeldet und dieses Datum für die nächste Tochter Elif übernommen wurde. Der Altersunterschied von drei Jahren zeigt sich als ein bedeutender Aspekt im Erleben und Erzählen ihres Lebens. Ihre Zugehörigkeit zur alevitischen Minderheitsgruppe spielt sowohl bei ihren Familienbeziehungen (besonders mit ihrer Mutter) als auch in ihren kindlichen Erfahrungen außerhalb der Familie eine beträchtliche Rolle. Der Umgang der Biographin mit den Auswirkungen der familialen Verfolgungserfahrungen aufgrund des Minderheitendaseins in der Türkei reguliert ihre Nähe und Distanz zur eigenen Familie(ngeschichte). Elif Toprak folgte 1968 im Alter von 15 bzw. 18 Jahren (laut ihrem Pass) ihren zwei älteren Schwestern nach Deutschland als Arbeitsmigrantin. Ihre erste Ehe schloss sie 1972. Kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter (1974) trennte sie sich von ihrem Ehemann, erzog in den folgenden Jahren ihre Tochter allein und heiratete um 1980 ein zweites Mal. Aus dieser Ehe hat sie zwei weitere Töchter. In dem gleichen Jahr, als ihre Tochter Ayla geboren wurde (1984), erkrankte sie. Diese Erkrankung führte zu einer Frührente in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre. Anfang 1990 unternahm sie mit ihren drei Töchtern einen Rückkehrversuch in die Türkei. Aufgrund der Stigmatisierungserfahrungen ihrer Töchter in der Schule kehrten sie nach Deutschland im gleichen Jahr zurück. 1993 fand sie einen Zugang zu einer alevitischen Organisation und begann sich dort zu engagieren. Ihr Ehemann ist selbstständig und sie gehören zur Mittelschicht.
5.3.1 Interviewkontext und Interviewverlauf Elif Toprak lernte ich Anfang 2000 bei einer Frauenveranstaltung in einer alevitischen Organisation kennen. Ich erzählte ihr kurz von meinem Forschungsprojekt an der Universität. Das könnte sie bei ihrer Zusage für ein Interview beeinflusst haben, da sie, wie sich später herausstellte, ihre jüngste Tochter zum Studieren motivieren wollte. Das Stichwort ,Universität‘ stellte eine Verbindung zwischen ihrem und meinem Interesse her.
5.3 Elif Toprak
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Das erste Interview fand in ihrer Wohnung, in einer wohlhabenden Umgebung, statt. Im Wohnzimmer der Familie hing ein Bild von Ali und über diesem ein Symbol des für die Aleviten bedeutsamen heiligen Schwertes Zülfikar, mit dem Ali gegen seine Feinde gekämpft haben soll. Durch diese Symbole bekundete sie ihre Zugehörigkeit zu dieser Glaubensgemeinschaft. Zu Beginn des ersten Interviews waren ihre jüngste Tochter Ayla und ihr Ehemann zu Hause, die uns dann allein ließen. Als das Interview formal beginnen sollte, kam es zu einer kleinen Auseinandersetzung über den Ablauf des Interviews. Obwohl ich mehrmals ankündigt hatte, dass es beim Interview um ihre gesamte Lebensgeschichte gehe, hatte Elif sich auf ein Interview nach dem FrageAntwort-Schema vorbereitet. Sie zeigte sich überrascht über das Interesse an ihrer Person und ihrem gesamten Leben und fand die Form des Interviews für ihre Tochter Ayla zu aufwendig, da diese faul sei. Ich habe diese Bemerkung in der Situation nicht verstanden, später wurde jedoch deutlich, dass sie mir damit sagen wollte, ihre Tochter sei ‚gesprächsfaul, also nicht gesprächig. Als ich Elif Toprak nach einigen Monaten wegen eines zweiten Interviews anrief, zeigte sie sich wiederholt überrascht von dem anhaltenden Interesse an ihrer Person. Sie verwies mich darauf, ob ich nicht ihre Tochter (Ayla) interviewen wolle. Diese habe sich, so sagt sie, gegen ein Unistudium und für eine Berufsausbildung entschieden: „sie war unsere einzige Hoffnung, auch diese ist geplatzt“ waren ihre Worte. Ich besprach mit ihr meine Absicht, mit ihr ein Familiengenogramm zu erstellen, und bat sie, sich über eventuelle Daten (wie bspw. die Herkunft der Familie, Geburtsdaten der Eltern und der Geschwister) Gedanken zu machen. Sie reagierte darauf mit dem Hinweis, dass ihre Eltern ihr nichts erzählt hätten und sie selbst auch nicht wisse, wann diese geboren sind. Das zweite Interview fand auf Elif Topraks Wunsch in den Räumlichkeiten der alevitischen Organisation statt. Währenddessen erstellten wir das angekündigte Familiengenogramm. In diesem Interview wirkte sie auf mich, anders als beim ersten Interview, sehr bedrückt. Nachdem beim Erstellen des Genogramms deutlich wurde, dass viele relevante Daten fehlten und andere widersprüchlich waren, trat ich erneut mit Elif Toprak in Kontakt, um auch durch die von ihr in den Interviews oft erwähnte ältere, in Deutschland lebende Schwester (Gülhan) die erhobenen Familiendaten zu ergänzen. Sie wehrte dies mit dem Hinweis ab, dass sie eine distanzierte Beziehung zu ihr habe, und die zweitälteste (Makbule) lebe in der Türkei. Über Gülhan: „sie ähnelt etwas meiner Mutter. Sie sagt gleich was sie will. Sie ist direkt. Sie ist hart135.“ Nach dieser Bemerkung schlug sie mir vor, mit ihrer in der Türkei lebenden Mutter zu telefonieren. Nach ihrer Auffassung habe ihre 135 Das Wort „hart“ sagt sie auf Deutsch.
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5 Falldarstellungen
Mutter im Vergleich zu ihr ein gutes Gedächtnis: „ich sage (also) Vergangenheit ist Vergangenheit, (und) lösche ich (diese) von meinem Gehirn. Meine Mutter hat ein sehr gutes Gedächtnis. Sie kann sich an alles als wäre es heute erinnern“. Sowohl die Familiengeschichte, als auch die eigene Lebensgeschichte erscheinen der Biographin „kompliziert“ und schwer erzählbar. „Aus dem Gehirn löschen“, wie sie selbst sagt, im Sinne des aktiven Vergessenwollens, kann als eine Bewältigungsstrategie verstanden werden. Bei den Gesprächen mit unterschiedlichen Familienmitgliedern tauchten immer mehr Fragen auf, und meine Verwirrung bezüglich der familiengeschichtlichen Daten verstärkte sich. In dem Maße, wie ich mich in die Familiengeschichte vertiefte, zeigte sich, dass schließlich auch ich als Interviewerin in die familiale Verwirrung verwickelt wurde. Dies könnte man als ein Übertragungsphänomen deuten und auf die dialogische Herstellung einer Familienstruktur verweisen, in der die Familiengeschichte als eine „komplizierte Familiengeschichte“ an die nächste Generation weitergegeben wird. Während ich mit Elif Topraks Mutter Fatma Düzgün telefonierte und den Grund meines Anrufes schilderte, fragte sie gleich, ob ich ihre Enkelkinder kenne (wie ich nachher in der Falldarstellung erläutere, sind hier die Kinder ihres verstorbenen Sohnes gemeint). Auf meine Antwort, ich kenne nur die Kinder ihrer Tochter Elif, kamen keine Nachfragen. Sie sprach über die gesellschaftshistorischen und politischen Ereignisse, über die Aleviten und ihre damit zusammenhängenden familialen Ereignisse sehr dynamisch und detailliert. Demgegenüber zeigte sie wenig Begeisterung, über innerfamiliale Daten zu sprechen. Mit anderen Worten, sie konnte über ihre Geschichte als kollektive Geschichte sprechen, aber anders als in Bezug auf kollektivgeschichtliche Umstände und Ereignisse zeigte sie in Bezug auf ihre familialen Verhältnisse eine deutlich lückenhafte oder selektive Erinnerung. Als ich gerade dabei war, über ihren verstorbenen Ehemann Hasan Düzgün und über Elif Toprak zu sprechen, bedankte sie sich für meinen Anruf und beendete das Telefongespräch. Dies habe ich einerseits als Folge der Anstrengung betrachtet, die ein Telefonat von einer guten halbe Stunde Dauer für sie vermutlich bedeutete, andererseits interpretierte ich es auch als mögliches Desinteresse an ihrer Tochter Elif und deren Familie. In einem dritten Interview mit Elif Toprak sollten die biographischen Daten vervollständigt werden. Als ich sie wegen dieses Interviews anrief, fragte sie mich zuerst, ob und was ich mit ihrer Mutter besprochen hätte. Deutlich wurde, wie neugierig sie auf die Reaktion ihrer Mutter war. Die Lücken in den biographischen Daten stellen sich in diesem dritten Interview als eine Erkrankungsund Behandlungsphase in einer psychiatrischen Klinik heraus. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das Thema Krankheit in den Interviews dominant
5.3 Elif Toprak
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war, dass aber im dritten Interview der Hinweis erfolgt, dass „die Seele“ krank sei.
5.3.2 Die von der Interviewten selbst strukturierte Einganspräsentation „wir ham nicht gelitten wir hatten keinen Zwang wurden nicht unterdrückt ich bin sehr wohlbehütet aufgewachsen ich mein ich hab keine Hausarbeit gemacht“ Auf die Ermunterung, ihre Familien- und Lebensgeschichte zu erzählen, reagiert die Biographin überfordert und sagt: „Aber welche, es gibt viele Leben, zum Beispiel Arbeitsleben, Eheleben, Entbindungsleben? //alles// kompliziert, Kindheitsleben? //alles// seit der Türkei?“ Nach diesen Rückfragen stellt sie ihr Leben in vielen Fragmenten dar. Für die Biographin scheinen viele Punkte meiner Aufforderung „kompliziert“. Ist es die Frage nach der gesamten Lebensgeschichte? Sind es die Fragmente, die nicht integrierbar erscheinen? Oder ist das Erzählen an sich kompliziert? Nach einer Rücksprache beginnt sie mit der Kindheit: „(3) hm (3) Wie verlief meine Kindheit? (5) Wie von wo fang ich an, so was hab ich ja noch nie gemacht (4) //hm, äh// Meine Kindheit zum Beispiel, ich mein ich erinnere mich an die ganz jungen Jahre so sechs-sieben Jahre überhaupt nicht. Die danach kann ich sagen. //Ja// äh (2) ich kann von der Schule sprechen (3)“ (I/1/4549)
Auf der Darstellungsebene zeigt sich die Schwierigkeit, über den Verlauf ihrer Kindheit vor allem vor dem Schulbeginn zu sprechen. Wir können uns fragen, woran diese Erzählschwierigkeit über die Kindheit liegt, ob etwa die Gegenwart im Vordergrund steht. Ferner lässt ihre Präsentation, über die Kindheit „noch nie“ gesprochen zu haben, uns fragen, ob sie darüber nicht viel weiß bzw. nichts zum Erzählen hat, oder ob sie alles vergessen hat, weil es nicht angenehm war. Mit ihrer Äußerung, sie könne sich an die Jahre „sechs-sieben“ „überhaupt nicht“ erinnern, signalisiert sie, dass die Zeit vor dem Schulbeginn nicht zu ihrem Präsentationsthema gehört. Nach der unterstützenden Erläuterung der Interviewerin, sie könne mit jeder Zeitphase anfangen, beginnt sie mit der folgenden Darstellung: „In dieser Zeit zum Bespiel, in einem Haus, wir hatten ein Haus mit Garten (2) äh wir sieben-acht Geschwister, später haben wir ein(en) verloren, wir acht Geschwister soweit ich mich erinner, viele haben wohl geheiratet und sind ausgezogen […]meine große Schwester noch eine ältere Schwester ein Bruder ein verheirateter
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5 Falldarstellungen Bruder, vier Geschwister, dann noch einen jünger also fünf Geschwister […] wir sind fünf Geschwister im selben Haus, wir sind im selben Haus mit meinem großen Bruder, der verheiratet ist und seinen fünf Kindern, die zur Welt gekommen sind, sind wir im selben Haus. So bin ich also aufgewachsen. //ja// Mein Haus, nun unser Haus mit Garten, es hat einen sehr großen Garten, in dem gibt’s jede Art von Früchten, die du suchst. Eben diese Bäume diese Früchte warn unser Spielzeug. Na ja und dann hatte ich eine wohlbehütete (bequeme) Kindheit, ich mein ich war das jüngste Mädchen zu Hause. Meine große Schwester hat die Hausarbeiten gemacht, mir blieb gar keine Arbeit übrig. Ich kann mich nicht mal daran erinnern dass ich in meiner Kindheit so was in die Küche gebracht habe. ((bewegt ein Glas auf den Tisch)) Bis zu der Zeit als ich nach Deutschland gekommen bin, ich bin mit 18 Jahren gekommen. Ich bin so wohlbehütet (bequem) aufgewachsen (2)“ (I/2/5-17)
In sechzehn Zeilen stellt sie ihre Kindheit, welche die gesamte Zeit bis zu ihrer Ankunft in Deutschland mit 18 Jahren ausmacht – wie später beim erlebten Leben gezeigt wird, präsentiert sie sich hier mit ihrem offiziellen Alter –, statisch wie ein Bild dar. In dieser Abbildung schildert sie keine Eltern, keine Beziehung, nur ein Aufgewachsensein in demselben Haus mit einer großen Anzahl von Personen, die sie als ihre Familie darstellt. Sie hat lediglich Vermutungen über die Zahl ihrer Geschwister und stellt für die geschwisterliche Bindung das Zusammenleben im selben Haus als bedeutend heraus. Ihr Leben präsentiert sie, als ob es außerhalb des Familienhauses im Garten stattfand und märchenhaft, paradiesisch und wohlbehütet war. Durch die natürliche Umgebung wird auch die Kindheit verschönt. Sich selbst stellt sie in dieser gleichsam nichtmateriellen Welt, in der keine Erwachsenen erwähnt werden, als sorglos dar. Ihr wohlbehütetes Leben ist mit ihrem Status als „das jüngste Mädchen zu Hause“ mit „keiner Arbeit“ bzw. „keiner Verantwortung“ verbunden. Sie springt dann in ihrer Präsentation zu ihrem 18. Lebensjahr, das mit der Ankunft hier in Deutschland einen Wendepunkt ihres Lebens bzw. das Ende ihres paradiesischen Lebens zu Hause auszumachen scheint. In diesem Zusammenhang rahmt sie ihre Ankunft in Deutschland mit einer behüteten Kindheit ein. Bei diesem zeitlichen Sprung fällt die biographische Phase Jugend aus. Im Weiteren pendelt sie in der Eingangspräsentation zwischen der wohlbehüteten Kindheit und ihrer Ankunft in Deutschland und stellt diese beiden Phasen einander gegenüber. Das zeitliche Pendeln dient implizit zur Erläuterung dessen, wie schlimm das nächste Erleben, also die Ankunft in Deutschland, für sie war/ist. Nachdem sie ihre wohlbehütete und traumhaft schöne Kindheit deutlich dargelegt hat, führt sie zwei Problembereiche in ihrer Kindheit ein, die einen Einbruch in dieses wunschlos schöne Leben andeuten. Den ersten verbindet sie mit ihrer älteren Schwester Makbule. Sie sagt dazu:
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„Also danach ham wir auf einmal gehört dass meine Schwester, eine verheiratete ältere Schwester zurück gekommen ist weil sie kein Kind bekommen hat, hat sie sich von ihrem Mann getrennt, ist zu uns zum Vaterhaus136 [Elternhaus] zurück gekommen. Die ist schon in achtundsechzig nach Deutschland gekommen, ich war damals 17 Jahre alt. Also meine Kindheit ist das was ich erzählt habe, eben so viel, ich mein iss dein Essen spiel im Garten geh zur Schule keine weiteren Träume wir ham nicht gelitten wir hatten keinen Zwang wurden nicht unterdrückt ich bin sehr wohlbehütet aufgewachsen ich mein ich hab keine Hausarbeit gemacht ich mein überhaupt nicht.“ (I/2/21-26)
Dieses Ereignis markiert das Ende ihrer „wohlbehüteten Kindheit vor der Ankunft in Deutschland mit 18“. Indem sie zwischen diesem Problembereich, der eine Veränderung in ihrem Leben bedeutet, und der wohlbehüteten Kindheit pendelt, hebt sie die Stärke dieser Veränderung hervor. Ihr wohlbehütetes Aufwachsen bringt sie mit Themen zusammen wie etwa, dass sie „nicht gelitten“ habe und „nicht gezwungen“ sowie „nicht unterdrückt“ worden sei. Ihre Schwester Makbule, die nicht in der Lage war, ihrem Ehemann ein Kind zu schenken und von der das Migrationsprojekt ausging, bildet implizit den roten Faden in ihrer Präsentation der zweiten Lebensphase. Elif führt das ,Kindhaben‘ und das ,Mannhaben‘ am Beispiel Makbule zusammenhängend ein. Das Kinderkriegen bzw. Kinder haben wird als eine entscheidende Funktion für den Bestand einer Ehe und die Migration ihrer Schwester nach Deutschland als die Folge von deren Unfruchtbarkeit eingeführt. Implizit steht damit auch ihre eigene Migration im Kontext der beiden Themen des Habens (oder Nichthabens) von Ehemann und Kindern – Themen, die sie bereits zu Beginn des Interviews thematisch als „Eheleben, Entbindungsleben“ eingeführt hat. Als Zweites führt sie ihren nicht verwirklichten Wunsch an, weiter auf die Mittelschule zu gehen. „Mein Vater hat mich nicht gelassen wir haben darauf verzichtet. Nun so viel also das wars.“ Ihren Vater führt sie als denjenigen ein, der die Erfüllung dieses Wunsches verhinderte, womit sie aber – ihrer Präsentation nach – keine Probleme hatte. Damit stellt sie implizit einen Vergleich zwischen ihr und ihrer Schwester an, und sie präsentiert sich dabei, im Gegen136 Das aus dem türkischen direkt übersetzte Wort „baba evi“ steht zwar für „Elternhaus“, dennoch ist hier im Kontext einer traditionellen Familie der Vater bzw. der männliche Repräsentant der Familie gemeint, dem das Haus sowie die Familie gehört. Bei dieser Vorstellung wird der Lebensort der Frau vor der Ehe und nach der Ehe immer im Zusammenhang mit einem Mann benannt. Das Elternhaus wird als das Haus des Vaters „baba evi“ und nach der Ehe das Haus des Mannes „koca evi“ bzw. je nach Bekanntschafts- oder Verwandtschaftsgrad der Schwiegerfamilie „el evi“ (Haus der Fremde) benannt. Das heißt, die Frage nach der Familienherkunft „Wessen Tochter bist du?“ ändert sich nach der Eheschließung in die Frage „Wessen Braut bzw. wessen Ehefrau bist du?“. In diesem Zusammenhang wird die Frau nicht mehr als ihrer Herkunftsfamilie, sondern als der angeheirateten Familie zugehörig betrachtet.
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satz zu ihrer Schwester Makbule, als die gehorsame, dadurch bessere Tochter. Anschließend kommt Elif Toprak wieder auf die Migration ihrer älteren Schwester Makbule nach Deutschland zu sprechen. Makbule kehrt bald wieder zurück, ungefähr 1968, um sie und ihre mittlere Schwester Gülhan nach Deutschland zu holen. An dieser Stelle geht sie auf die Reaktionen der Autoritätspersonen auf Makbules Vorhaben ein. Ihre Mutter und die Nachbarschaft führt sie zusammen mit Einwänden, ihren Vater im Zusammenhang mit Zustimmung und den älteren Bruder mit Zurückhaltung an. Abschließend sagt sie: „aber wir sind trotzdem gegangen na los wir drei Schwestern nach Düsseldorf“. Den Aufbruch der Schwestern nach Deutschland – trotz der Gegenmeinung ihrer Mutter – stellt sie als abenteuerlich und rebellisch dar. Insgesamt präsentiert sich Elif Toprak selbst in dieser Phase als ein kleines Mädchen, von ihren Schwestern geführt und getragen, an keiner der Entscheidungen beteiligt und daher für nichts mitverantwortlich. Sie erzählt weiter: „Danach, natürlich sind wir zuerst einmal nach Istanbul gekommen, dort wirst du vier Wochen oder so untersucht von Kopf bis Fuß. Das, jetzt kommen einem diese Untersuchungen wie in einem Roman vor, in Afrika, in Amerika wie da die Schwarzen untersucht werden, wie diese offenen Versteigerungen, von den Zähnen, von den Ohren, vom Urin, vom Blut, sie schauen sich alle Stellen an sogar in unsere Hände zum Beispiel auf unsere Fingernägel haben sie geguckt. Als ob sie kaufen würden, das kommt mir jetzt ich mein dieser Teil in diesem Moment sehr interessant vor. Damals war ich ein Kind, ich konnte das auch nicht richtig wissen aber jetzt als ob sagen wir du kaufst ein Möbelstück dann guckst du ja an allen Stellen ob etwas abgebrochen abgefallen ist. So haben sie untersucht angeschaut gekauft, das kommt mir jetzt echt sehr merkwürdig vor. Ich kann das wirklich nicht verstehen was das so war.“ (I/2/41-50)
Elif Toprak nimmt heute ihre damaligen Erlebnisse anders wahr. Sie deutet diese Erlebnisse reflexiv um, nach dem Motto „ich war damals ein Kind, und erst als Erwachsene versuche ich zu verstehen, was man mit mir gemacht hat“. Indem sie heute diese Erlebnisse „wie in einem Roman“ betrachtet mit einem Sklavenhandel vergleicht, betont sie auch eine Entfremdung zu der eigenen Lebensgeschichte, die nach ihrer Darstellung durch den unmenschlichen, instrumentalisierenden Umgang mit ihr während der ärztlichen Untersuchungen verursacht worden ist. Sie fällt bei den Untersuchungen wegen eines von ihr als extrem unbedeutend dargestellten Grundes durch: „da war wohl auf der Spitze von einem meiner Zähne so leicht so groß wie eine Nadelspitze was Schwarzes da“. Ihre älteren Schwestern lassen Elif Toprak bei den für sie sehr fremden Menschen und reisen ab. Sie sagt dazu: „In dem Haus gabs wohl überhaupt keine Kinder oder so, die wollten dann mich haben (adoptieren). Bleib hier und
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sei unsre Tochter ((lächelt)) (3) Auf jeden Fall bin ich natürlich nicht geblieben (2) Können wir so anfangen?“ (I/3/6-7) In ihrer Präsentation ist die Art und Weise der ärztlichen Untersuchungen erzählerisch dramatischer ausgestaltet als das Zurückgelassenwerden bei den Fremden. Durch dieses Zurückgelassenwerden stellt Elif Toprak sich in dieser Situation wie ein Waisenkind dar, das adoptiert werden soll. Mit dem Bruch an dieser Stelle („Können wir so anfangen?“) und ihrer folgenden Frage, ob das Tonband laufe, kehrt sie wieder zur Gegenwart zurück. Damit hebt sie die bereits eingeführte zeitliche Trennung (wohlbehütete Kindheit und die mit Arbeit verbundene Ankunft in Deutschland) ihrer Lebensgeschichte hervor und weckt die Aufmerksamkeit für den Übergang (absolutes Ende der Kindheit). Daran anschließend benennt sie drei Ereignisse in einem Atemzug: die bestandene Untersuchung, das Einsteigen in den Zug und ihre Ankunft in Düsseldorf. Indem sie vor allem die tagelange Zugfahrt als in einem Augenblick geschehen präsentiert, verleiht sie ihrem Erlebnis eine Leichtigkeit, eine Geschwindigkeit. Indem sie sagt: „Im Zug heulende, jammernde, andere Frauen also trennen sich von ihren Kindern nun was weiß ich trennen sich von ihrem Ehemann, oder von ihrer Mutter, ich hab so ein Gefühl überhaupt nicht gehabt“, stellt sie sich auch als von diesem schmerzhaften Moment nicht betroffen, regungslos dar. Die Zeit ist kurz, und alles erscheint in ihrer Darstellung wie ein Spiel; sie hat ihre Augen geschlossen, sie wieder aufgemacht, und alles war vorbei: „Sie haben gesagt okay wir sind in Düsseldorf angekommen, kommt es wird ausgestiegen wir sind ausgestiegen“. Damit wird ihre Ankunft in Deutschland markiert. Elif Toprak führt ihre selbststrukturierte Eingangspräsentation mit ihrem Empfang durch den Chef an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz weiter. Während sie über ihre Gefühle bei den unangenehmen oder schmerzhaften Erlebnissen nicht spricht, betont sie hier ihre Freude darüber, mit einem besonders großen Auto abgeholt worden zu sein. Er bringt sie zu ihrer Schwester (vermutlich Makbule) und reicht bei der Übergabe ihrer Schwerter auch Geld in einem Umschlag. Mit dieser Szene der Geldübergabe vervollständigt sie ihre Beschreibung der Untersuchungen, bei denen sie wie ein Möbelstück bzw. wie eine Sklavin beim Kauf geprüft wurde. Implizit macht sie ihre ältere Schwester Makbule für all diese Erlebnisse verantwortlich, deutet aber explizit auf keine Aggression ihr gegenüber hin. Das Zusammenkommen mit ihrer älteren Schwester Gülhan, mit der sie bei einer älteren, mütterlich-fürsorglichen deutschen Hauswirtin wohnt, stellt sie als ein Zurückkehren in die Geborgenheit dar. Elif Toprak stellt insgesamt in ihrer selbst strukturierten Eingangspräsentation ihr Leben bis 1974 dar. Ergänzend erwähnt sie anschließend ihre erste Ehe im Alter von 22 Jahren, die nur ein Jahr dauerte und aus der sie eine
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Tochter hat, sowie ihre jahrelange Arbeit (15 Jahre), die sie nach ihrer Deutung krank machte und sie schließlich die Frührente erhielt. So führt sie die Daten ihrer Lebensgeschichte bis 1984 ein.
Zusammenfassung Elif Toprak stellt ihre Lebensgeschichte anhand von zwei kontrastierten Lebensphasen dar: die Phase der Kindheit und die Phase des Erwachsenseins. Ihr thematisches Feld kann in diesem Zusammenhang mit Hilfe eines Interviewzitats wie folgt formuliert werden: „Ich hatte eine sehr bequeme Kindheit, bis zu meiner Ankunft in Deutschland mit 18 Jahren. Ich bin also wohlbehütet aufgewachsen, habe überhaupt nicht gearbeitet, bis ich als Kind nach Deutschland kam und plötzlich mich am Fließband fand“. Hierzu führt sie ihre ältere Schwester Makbule an, von der das Migrationsprojekt ausging, als Verantwortliche für das Ende ihrer wohlbehüteten Kindheit und den Beginn einer sklavenartigen Zeit. Elif Toprak orientiert sich bei der Darstellung ihres Lebens an ihrem offiziellen Alter, das heißt an dem fiktiven Alter der vor ihrer Geburt verstorbenen Schwester. Dies zeigt, dass sie dieses Alterskonstrukt verinnerlicht hat. Elif Toprak liefert ein statisches Bild von einer Kindheit, die sie überwiegend allein oder mit anderen Kindern in einer gleichsam außerfamilialen Umgebung verbrachte und traumartig schön erlebte. In diesem Sinne idealisiert sie ihre Kindheit. Ihre Schwestern sind diejenigen, die ihr Leben (zu Hause) entbzw. belasten. Ihre Eltern tauchen lediglich in Zusammenhängen auf, in denen es um eine besondere Erlaubnis geht. Manifest stellt sie ihren Vater als Verbündeten dar. Auf der latenten Ebene jedoch trägt auch er zur Beendigung ihrer wohlbehüteten Kindheit bei, in dem er nicht ihren Bildungswunsch, sondern das Migrationsprojekt ihrer Schwester befürwortet. Darin, dass sie immer wieder auf das Thema „meine Kindheit“ zurückkommt, zeigt sich jedoch ein Erklärungsbedürfnis. Ihre Lebensgeschichte präsentiert sie insgesamt in Verbindung zur Herkunftsfamilie, jedoch ohne die alevitische Zugehörigkeit und die damit zusammenhängenden (familialen) Erfahrungen zu thematisieren. Durch die Konzentration auf das kindliche Dasein in Anbindung an die Herkunftsfamilie thematisiert sie die Biographien ihrer eigenen Mutterschaft kaum, und ihre zweite Ehe sowie die damit verbundenen Töchter verschweigt sie gänzlich. Trotz der Erwähnung der Frührente und ihrer Krankheit, die durch die Art ihrer jahrelangen Erwerbstätigkeit in Deutschland verursacht sei, bleiben diese Lebensphasen außerhalb ihres Präsentationsinteresses.
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Der nächste Abschnitt – Rekonstruktion ihres erlebten Lebens – versucht auf die folgenden Fragen Antworten zu finden: Was hat Elif Toprak in der Kindheit (und Jugend) vor der Emigration nach Deutschland erlebt, dass sie aus der Gegenwartsperspektive diese Zeit verklärt? Gibt es Erlebnisse in der Kindheit (und Jugend), die einen Bedarf nach Verklärung begründen? Was hat sie nach 1984 erlebt, dass sie diese Zeit ihres Lebens überhaupt nicht thematisiert? Dabei wird zuerst auf ihre Familiengeschichte eingegangen.
5.3.3 Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte Zur Familiengeschichte Beim Erstellen des Familiengenogramms tauchen bezüglich der Familiendaten von Elif Toprak viele Fragezeichen auf. Teilweise liegen die Daten zeitlich so weit auseinander, dass mit all diesen unterschiedlichen Informationen – zugespitzt formuliert – zwei unterschiedliche Familiengenogramme erstellt werden könnten. Vor diesem Hintergrund war es notwendig, Informationen kontrastierend zu vergleichen und zu interpretieren, um eine schlüssige Familiengeschichte darzustellen. Wesentlicher ist die Analyse der Funktion dieser Widersprüchlichkeiten, die ein bedeutender Bestandteil des Familiendialogs sind. Elif Topraks Mutter und Vater sind alevitischer Herkunft und gehören beide zu einer heiligen Abstammungsgruppe – der Dedefamilien (Ocakzade) bei den Aleviten in der Türkei. Die beiden Eltern sind nach der Aussage von Elif Topraks Mutter, Fatma Düzgün, miteinander verwandt: Sie sind Cousin und Cousine. Elif Toprak selbst spricht jedoch von einer entfernten Verwandtschaft und nennt unterschiedliche Herkunftsorte für den jeweiligen Elternteil. Die unterschiedlichen Angaben deuten darauf hin, dass besonders die Familiendaten mütterlicherseits aus der Perspektive von Elif Toprak unklar sind. Elif Topraks Eltern kommen aus einem Dorf in Sivas (eine Provinz im Osten der Türkei), welches auch traditionellerweise als der Niederlassungsort ihrer Heiligenfamilie bekannt ist. Das heißt: schon die Nennung dieses Dorfnamens als Geburtsort oder Herkunftsort gilt als Bekenntnis zum Alevitentum. Im Unterschied zur Familie des Vaters ist die Familie der Mutter – so die Darstellung von Elif – sehr wohlhabend gewesen und hatte zudem viel stärkere (heilige) Kraft (Macht) besessen. Durch den stets wertenden Vergleich der Großelterngenerationen wird Konkurrenz zu einem Teil der Familienstruktur. Die Geburtsdaten der Eltern der Biographin Elif sind nicht bekannt. Sie werden (auch meinerseits) nur unter Bezug auf parallel abgelaufene historische Ereignisse geschätzt. Obgleich die entsprechenden offenen Fragen im Hinblick
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5 Falldarstellungen
auf die Geburtsjahre sozialhistorisch begründet sind137, zeigt die Fallrekonstruktion, dass diese Unklarheiten auch mit den erwähnten zeitlichen Lücken/Geheimnissen in der Familiengeschichte zu tun haben. Zwischen ihren Eltern gibt es einen Altersunterschied von 20 Jahren. Ausgehend von dem geschätzten Alter von Elif Topraks Mutter, auf das ich weiter unten eingehe, wurde ihr Vater Hasan Düzgün vermutlich zwischen 1898-1900 als jüngster Sohn seiner Dedefamilie geboren. Die Ostprovinzen der Türkei sind in diesen und in den folgenden Jahrzehnten bis Mitte der 1940er Jahre durch den Krieg138, gesellschaftliche Konflikte und damit zusammenhängende politische Veränderungen gekennzeichnet. In den folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen wurde er dreimal zum Militärdienst eingezogen, ein Grund für seine späte Heirat mit über dreißig Jahren. In der Familiengeschichte wird er immer im Zusammenhang mit seinen Militärdiensten erwähnt. Er erlebt als Mitglied einer verfolgten Minderheitsgruppe durch seinen jahrelangen Militärdienst die Einschüchterung bzw. die Verfolgung seiner und anderer religiöser Minderheitsgruppen und wird durch die Staatsmacht entmutigt. Damit zusammenhängend gehören die Verfolgungs- und Armutserfahrung zu den entscheidenden Familienerfahrungen. Elif Topraks Mutter Fatma Düzgün kam als letztes Kind während eines bekannten historischen Ereignisses, der Ankunft eines in den Ostregionen kommandierenden Generals (Kazm Paa139 benannt auch als Kazm aa), ungefähr 1919/1920 zur Welt140. Die Präsenz der Militär- bzw. Staatsgewalt als Be137 Abgesehen davon, dass noch heute im Kontext des Dorflebens auf die Genauigkeit der Geburtsdaten wenig Wert gelegt wird, gab es Anfang des 20. Jahrhunderts keine unmittelbare Meldepflicht für Neugeborene. In diesem Kontext werden bei der Schätzung des Alters in der Regel sozialhistorische bzw. politische Ereignisse oder Naturereignisse als Orientierungspunkte genommen. 138 Der Krieg mit Russland um die Wende zum 20. Jahrhundert und anschließende Pogrome der revolutionären Armenier 1914–15 führten zur Deportation der Armenier. Der militärischen Machtübernahme der Jungtürken 1908 folgten 1911–13 die Balkankriege, 1914–1918 der Erste Weltkrieg und 1920–1923 das Ende des Osmanischen Reiches und die Gründungsjahre der neuen türkischen Republik unter der Führung von Mustafa Kemal. 1925 und 1938 kam es zu kurdisch-sunnitischen und kurdisch-alevitischen Aufständen. Besonders über die Lebensverhältnisse und den Umgang mit den unterschiedlichen ethnischen Minderheiten in den Ostprovinzen der Türkei in diesem Zeitraum siehe Hans-Lukas Kieser (2000). 139 Zum chronologischen Vergleich s. Kazm Karabekir (http://www.kimkimdir.gen.tr). 140 Fatma Düzgün: „Ich bin nach der Mobilmachung geboren. Wegen dem Getue um Kazm Aa [als Kazm Aa zum ersten Mal dort ankam] ist meine Mutter aus dem Bett zur Tür gesprungen, das heißt sie war frischentbunden (lag noch im Wochenbett), ich war gerade geboren“. (aus dem Telefonat) Die Ankunft dieses Generals, der in die türkische Geschichte als der Eroberer vieler durch Armenier und Russen besetzter Ostprovinzen (1918–1920) einging, hing mit der einschüchternden Präsenz des Militärs – besonders gegenüber den Minderheitsgruppen – zusammen.
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drohung für die Minderheitsgruppen ist somit in ihrer Lebensgeschichte ein Anhaltspunkt für ihr vermutliches Geburtsdatum. Fatma Düzgün wurde nach eigener Aussage wegen des Todes ihres Vaters in ihrer frühen Kindheit von ihrer Mutter aufgezogen. Fatma Düzgün erlebte ihre eigene Mutter (Elifs Großmutter) in ihrer Kindheit als eine Frau, die nicht nur ihre eigenen Kinder allein aufzieht, sondern auch die bei ihr Schutz suchenden Armenier versorgt. Fatma Düzgün selbst sagte beim Telefongespräch dazu: „Ich kann mich (selbst) an die Armenier nicht erinnern. Es gibt Gräber [im Dorf] von ihren Toten, aber, meine Mutter hat ihnen [Armeniern] sehr na sehr viel Essen gegeben/ernährt. Die sind (wohl) als Einwanderer gekommen. Meine Mutter hat sich sehr um die gekümmert das weiß ich noch ich war wohl (doch) klein guck mal das fällt mir jetzt ein. Mobilmachung. //hm// Aber ich war damals sehr jung. Was andres weiß ich auch nicht (mehr).“
Die Familie erlebt die in der türkischen Geschichte als „armenische Frage“ oder „armenische Ereignisse“ (Ermeni meselesi) bezeichnete Ära141 unmittelbar. In dieser türkischen staatspolitischen Ära – ein umstrittenes und Akçam (2000) zufolge tabuisiertes Thema – waren „die Armenier“ 1915–1923 auf der Flucht bzw. wurden von Erzincan, Erzurum, Sivas, Elaz aus in Richtung Süden der Türkei deportiert. Zum Islam zu konvertieren war in dieser Zeit eine der Rettungsmöglichkeiten.142 Besonders Frauen waren während dieser Verfolgungszeit in Gefahr und begaben sich teilweise in die Obhut von türkischen oder kurdischen (sowie zazaischen) Familien in der Nachbarschaft (als Ehefrau, Dienerin usw.), um ihr Leben zu retten. Fatma Düzgüns Kindheit bzw. Jugend ist von der Verfolgungserfahrung der armenischen Minderheit sowie von der Ver-
141 Zu den unterschiedlichen Perspektiven auf diese historische Ära siehe Institut für Außenpolitik (1982); Akçam (1996; 2000); Karacakaya (2001); Kieser (2000); Strohmeier und YalçnHeckmann (2003). Vgl. die Webseiten: http://www.tcberlinbe.de/de/aussenpolitik/armenien. 142 Hans-Lukas Kieser (2000) zufolge haben viele Armenier 1915 während ihrer Deportation von Erzincan, Erzurum, Sivas, Elaz in Richtung Süden der Türkei, auch nach Diyarbakr, besonders bei Aleviten Asyl gesucht. Denn die Alevi, selbst eine Minderheitsgruppe, wurden von den Armeniern, teilweise durch ihre nicht orthodox-islamische Lebensführung, ähnlich wie die protestantischen Christen betrachtet. Kieser (2000: 531) vertritt die These, dass es eine „Sympathiebeziehung zwischen Aleviten und Protestanten“ schon seit 1850, seit der Entdeckung des anatolischen Alevismus durch amerikanische Missionare gebe, was bei der Schutzsuche der Armenier eine bedeutende Rolle gespielt habe. Dem Autor zufolge befürchtete der Staat seinerseits, dass die Missionen die bereits bestehende Affinität der Alevi zu den christlichen Armeniern verstärken und das politische Bewusstsein der bis zu dieser Zeit völlig abgeschotteten heterodoxen Gemeinschaft fördern würden. Vgl. dazu auch Andrews (1989) und Strohmeier und Yalçn-Heckmann (2003).
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5 Falldarstellungen
folgungserfahrung der eigenen Minderheitsgruppe gekennzeichnet.143 Nach der Ehe, Mitte der 1930er Jahre, zieht das Paar aus dem Dorf in die Stadt Sivas. Fatma Düzgün bekommt nach eigener Aussage mit 15 Jahren ihr erstes Kind (Elifs älteste Schwester Zahide). Sie stellt ihren Kindern, so Elif, diese Verheiratung mit dem viel älteren (ca. 20 Jahre) und armen Cousin Hasan Düzgün als sozialen Abstieg dar. 1937–1938 finden im Gebiet Dersim als Folge der militärischen Durchdringung und Türkisierung Dersims die zaza/kurdisch-alevitischen Aufstände statt (siehe 2.3.3).144 Diese Ereignisse erlebt Elif Topraks Familie, besonders die Frauen, durch ihre heilige alevitische Abstammung als unmittelbare Bedrohung. Fatma Düzgün konnte am Telefon über dieses Ereignis viele Details erzählen, während sie sich zum Beispiel nicht daran erinnerte, ob sie damals verheiratet war (nach den vorhandenen Daten hatte sie zu dieser Zeit mindestens ein Kind). Das heißt, die Verfolgungsdaten der sozialen und religiösen Minderheitsgruppe(n) sind für die Familie viel präsenter als rein familiale Daten. Um die Finanzierung der Familie zu sichern, findet, so Fatma Düzgün, vermutlich Ende der vierziger Jahre auf Initiative des ältesten Sohnes Selim eine zweite Auswanderung zu einer anderen Provinz in Ostanatolien (Bingöl) statt. Dort kommt Hüsniye (1950), das letzte Kind vor der Geburt Elifs, auf die Welt. Wegen eines ungewöhnlichen körperlichen Merkmals betrachtet sie ihre neugeborene Tochter im Kontext ihrer alevitischen Zugehörigkeit als etwas Besonderes. Hüsniye stirbt mit ungefähr anderthalb Jahren an einer Krankheit.
143 Laut Kieser (2000) teilten Aleviten, Kurden und Armenier in den Ostprovinzen Sivas und Harput ein gemeinsames Siedlungsgebiet, alle mit einem Anspruch auf autonomen Raum. Aleviten und Armenier taten das seit den Tanzimat (Reformzeiten des Osmanischen Reiches) unter Berufung auf das Gleichberechtigungspostulat. In den Jahren 1915-1938 wurden Konflikte in den Ostprovinzen mit Gewalt unterdrückt. An den „Aufständen von Koçgiri“ nahmen hauptsächlich alevitische Kurden und teilweise Armenier teil. Weder von türkischen noch von kurdischen Sunniten gab es eine Beteiligung. Die Kemalisten gewannen für die Gründung einer neuen Republik vier bedeutende Personen aus Dersim (Meco Aa, Diyap Aa, Offizier Hasan Hayri und Ahmed Rafizi) als Deputierte der Ankaraer Versammlung. Die militärische Unterdrückung der kurdisch-alevitischen Autonomiebewegung 1921 führte zu systematischen Zerstörungen von Dörfern und vielen zivilen Opfern. Vgl. auch Strohmeier/ Yalçn-Heckmann (2003). 144 Kieser (2000: 410) zufolge schreibt Seyit Rza, der Führer der Dersim-Aufstände, 1937 an die Außenminister Englands, Frankreichs und der USA, dass das kurdische Volk seit Jahren von der türkischen Regierung unterdrückt und assimiliert werde. Als staatliche Reaktion auf den Aufstand in Dersim werden ihre Dörfer bombardiert, in Brand gesetzt sowie Frauen und Kinder getötet. Die Intellektuellen werden zum Exil gezwungen oder erhängt (ebd.: 410). Seyit Rza wurde gemeinsam mit weiteren 10 Aufständischen im November 1937 hingerichtet. Siehe dazu auch Strohmeier/Yalçn-Heckmann (2003: 101f). Fatma Düzgün zufolge stammt ihre Familie aus derselben heiligen Dedelinie wie Seyit Rza.
5.3 Elif Toprak
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Elif Topraks Erzählung über die Auswanderungsgeschichte ihrer Familie unterscheidet sich von der Version, die ich von ihrer Mutter Fatma erhalten habe. Elif Toprak zufolge lebt die Familie vor ihrer Geburt in der Zwischenphase der Auswanderung von Sivas nach Bingöl (Mitte bis Ende der vierziger Jahre) eine Zeitlang in einer anderen Provinz. Dort hatte ihr Vater eine Anstellung bei den Armeniern und war von seinem Arbeitgeber wegen seiner Aufrichtigkeit sehr beliebt. Sie sagt: „Guck zu Hause sind die Kinder hungrig, können vor Hunger nicht schlafen, von da haben sie gesagt nimm dir was immer du für zu Hause brauchst, er hat nichts mitgenommen. Da hat er eben so ne ziemlich lange Zeit diese Sache von den Armeniern gemacht, Wache schieben.“ Hier kamen Elif zufolge auch ein bis zwei ihrer Geschwister auf die Welt. Elif begründet den weiteren Umzug ihrer Familie aufbauend auf Vermutungen damit, dass einerseits ihr älterer Bruder in Bingöl eine Arbeit findet, andererseits ihr Vater keine Anstellung mehr bei den Armeniern hat. Sie sagt: „was auch immer passiert zerstreun sich die Armenier=haben sie sich eben zerstreut also. Vermutlich, (gabs) ein Massaker oder so. ((leiser)) Meine Mutter erzählt davon immer, von diesen Ereignissen von Armenier.“ (II/24/45-48) Da ihre Mutter, wie sie selbst sagt, diesbezüglich keine Selbsterlebnisse hat, scheint die thematische Bedeutung der Ereignisse die chronologische und historische Familiengeschichte zu überlagern. Biographisch relevante Themen werden an jene Personen gebunden, die aus der Perspektive der Biographin Elif – wie die Fallrekonstruktion verdeutlichte – symbolisch mit diesen verflochten sind. Damit komponiert sie an dieser Stelle explizit ein legendenhaftes Bild eines vertrauenswürdigen, aber sich außerhalb der Familie bewährenden Vaters und implizit das einer mit ihren hungrigen Kindern von ihrem Mann allein gelassenen Mutter. Wie weit diese Erzählung ursprünglich von einem Teil der überlieferten Erzählungen selbsterlebter Familienbiographie handelt, kann aufgrund der fehlenden Daten nicht beantwortet werden. Wie die Fallrekonstruktion verdeutlichte, war möglicherweise das Leiden an den ärmlichen Lebensverhältnissen und an den Ehemännern, die in der Rolle des Familienvaters ausfielen, für Elifs Mutter Fatma eine Parallele und ein verbindender Punkt zwischen ihrer eigenen Mutter und ihr, so dass Fatma sich an dieser Stelle mit ihrer Mutter identifizierte. Mit der Einführung des folgenden Erlebnisses ihrer Mutter kommt das Thema „Schutz der Frauen in der Verfolgungssituation“ in der Familiengeschichte hinzu: „I.: Hat sie [Elifs Mutter Fatma Düzgün] diese [„die Ereignisse von Armenier“] selbst erlebt? E.: Jaa, also sie sagt, ‚wi=wir=sie waren sehr gute Menschen sagt sie. Manchmal sagt sie, ‚keine haben sie eben übrig gelassen, alle haben sie umgebracht, auch ein mal sagt sie, ein Mädchen=(ein) heranwachsendes Mädchen, sie haben es geprügelt geprügelt, dann ließen sie es weil sie dachten dass das Mädchen sei tot,
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5 Falldarstellungen meine Mutter sagt, ‚auf ein mal klopfte es mitten der Nacht an der Tür, wir öffneten die Türe ein Armenier=armenisches Mädchen, sehr jung, 17-18 Jahre alt. Es hatte überall blaue Flecken, hat geblutet, sie sagt ‚wie nahmen das Mädchen in die Scheune, wo die Fichten waren sagt sie, ,haben wir eine Zeitlang uns um es gekümmert, es kam etwas zu sich, hatte etwas Kraft bekommen, wurde stark. Wir haben also seine Wunde geheilt soweit wir machen konnten, es hat sich etwas erholt sagt sie, ‚dann sagt sie ‚dann als es dunkel wurde mussten wir sagen, geh nun auch unsere Leben ist in Gefahr, also es ist verboten sich um (es) zu kümmern. ‚Geh nun, wo immer du hin gehst. Wir haben es weggeschickt sagt sie, ‚aber wir haben nachher gehört dass sie dieses Mädchen umgebracht haben sagt sie. Ich meine, meine Mutter hat all dies erlebt. Sie weiß das also.“ (II/24-25/49-8)
Der Zustand des armenischen Mädchens wird so beschrieben, dass es beim Lesen das Bild einer misshandelten Frau hervorruft.145 Neben der offensichtlichen körperlichen Misshandlung deutet diese Textstelle auch das Vorliegen einer sexuellen Misshandlung an. Auch unabhängig davon könnte diese Passage durch die Assoziationen, die Elifs Beschreibung weckt, auf das Thema sexueller Gewalt gegen Frauen verweisen. Ob oder wie weit dies mit den Erfahrungen der Frauen in ihrer eigenen Familie als Angehörige einer verfolgten Minderheitsgruppe zu tun hat, können wir anhand des vorhandenen Textmaterials nicht beantworten. Die Aussagen der Biographin geben darüber hinaus Anlass sich zu fragen, welche Rolle die entsprechende historische Generation in der Verfolgungsgeschichte der Armenier hatte und wie diese Rolle in der Familiengeschichte interpretiert wird. Es ist hier von namenlosen Tätern die Rede. In dieser Passage ist sowohl die weibliche Mittäterschaft wie die Verfolgung durch den Staat als auch die Achtung vor einer anderen verfolgten Minderheit, durch den Vater repräsentiert, enthalten. Die Fallrekonstruktion erwies die Hypothese als sehr plausibel, dass das Leiden und die Verfolgung bzw. Vernichtung der Armenier hier stellvertretend für die Verfolgung der eigenen Familie stehen. Mit anderen Worten, es handelt sich um eine Art Deckgeschichte zu den eigenen Verfolgungserfahrungen. Die Geschichte über das armenische Mädchen fungiert möglicherweise als Mittel zur Thematisierung der eigenen Beziehungserfahrungen zur Mutter. Die Fallrekonstruktion verdeutlichte, dass in Elif Topraks Phantasien die jungen Frauen ihrer (verfolgten) Familie durch die (allein gelassene) Mutter in dem bestehenden historisch-gesellschaftlichen Kontext nicht wirksam geschützt werden und zu einer Gefahr für die Familie werden können. Durch die schweren Lebensbedingungen steht die Versorgung der Kinder und das familiale Überleben im Zentrum des Familienlebens. Die alevitische 145 Karacakaya (2001: 130ff) benennt Dokumente, die die Vergewaltigung von Frauen und Mädchen während dieser Ära – besonders 1916 – thematisieren. Der Autor interpretiert diese Dokumente jedoch so, dass es sich bei den Tätern um Armenier und Russen handelt.
5.3 Elif Toprak
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Abstammung wird zu einem Familiengeheimnis, als die Familie das geschützte alevitische Dorf verlässt und in die überwiegend von der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft bewohnten Städte zieht. Mit der Geheimhaltung geht auch eine lückenhafte bzw. fragmentierte Übertragung der Familiengeschichte Hand in Hand. Wie sich sowohl in der Aussage der Biographin als auch im Weiteren bei den Töchtern der Biographin zeigt, muss die Folgegeneration jeweils selbst die Familiengeschichte (re)konstruieren.
Vernachlässigung in früher Kindheit und die Kindheit zwischen zwei Autoritäten „Sehr unter Druck sind wir aufgewachsen wir sind unglaublich unter Druck aufgewachsen“ Dieses Zitat steht im Gegensatz zu der bereits zitierten Aussage am Anfang des Interviews: „wir ham nicht gelitten wir hatten keinen Zwang wurden nicht unterdrückt ich bin sehr wohlbehütet aufgewachsen“. Sehen wir, welche Bedeutung diese scheinbar gegensätzlichen Aussagen für die gesamte Lebensgeschichte und deren Darstellung haben. Zunächst zur Lebensgeschichte. Elif Toprak wurde 1953 in Bingöl geboren. Vermutlich kommt sie als siebtes oder achtes Kind ihrer Eltern auf die Welt. Ihre Geburt ist von dem Tod ihrer 1950 geborenen und vor ihrer Geburt verstorbenen älteren Schwester Hüsniye überschattet. Da die verstorbene Tochter Hüsniye – wie bereits erwähnt – aus dem Melderegister nicht abgemeldet wurde, existiert Elif offiziell als Hüsniye. Obwohl dies im ländlichen Kontext ein verbreitetes Vorgehen war, wirkt das auf die Gestaltung der Biographie von Elif Toprak ein. Zum einen hat die Verschiebung des Geburtsdatums um drei Jahre aus der entwicklungspsychologischen Perspektive für bestimmte Lebenserfahrungen von Elif Toprak in den weiteren Jahren große Bedeutung. Zum anderen können sich hier Hinweise für die Beziehung zur Mutter finden lassen, denn vor ihr stirbt ein von der Mutter besonders gehaltenes Mädchen. Gleich nach ihrer Geburt erhält Elif allerdings innerhalb der Familie, anders als im offiziellen Kontext, einen anderen Namen. Zu Hause ist sie die neugeborene Elif, offiziell ist sie die dreijährige Hüsniye. Elif sagt, dass sie erst mit über 30 Jahren (ungefähr 1984) über die Verschiebung ihres Geburtsdatums und die Geschichte sowie die Besonderheit ihrer verstorbenen Schwester erfuhr. Es bleibt zu fragen, weshalb und wie diese Tatsache vor Elif Toprak verborgen blieb, bzw. es bleibt anzunehmen, dass sie zu Hause überhaupt nicht thematisiert wurde. Da sich die Rekonstruktion ihrer Lebensgeschichte an ihrem biologischen Geburtsjahr orientiert, sehen wir nun im
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5 Falldarstellungen
Weiteren, welche Spuren die Umstände ihrer Geburt sowie der Unterschied zwischen ihrem biologischen und ihrem offiziellen Alter in ihrer Lebensgeschichte hinterlassen haben. Ferner wird zu sehen sein, welche lebensgeschichtlichen Konstellationen ihr dabei helfen, dieses Thema insgesamt biographisch zu verarbeiten. Die Betreuung der neugeborenen Elif wird, wie in dieser Familie üblich, von verschiedenen weiblichen Familienangehörigen bzw. von ihren älteren Schwestern übernommen. Als sie ungefähr zwei Jahre alt ist, heiratet ihr ältester Bruder Selim. Das Paar bekommt in den ersten Jahren kein eigenes Kind. Wie viele Kinder Elif Topraks Mutter nach Elifs Geburt auf die Welt bringt, ist umstritten. Als Elif ungefähr drei Jahre alt ist, kommt ihr Bruder zur Welt. Elifs Mutter Fatma Düzgün zufolge gibt es zwischen den beiden wieder ein Mädchen, das jedoch nicht überlebt. Elif Toprak selbst erwähnt davon nichts. Festzuhalten bleibt jedoch, dass Elif sich selbst in ihrer frühen Kindheit im Kontext, gleichsam in der Gesellschaft von zwei verstorbenen Schwestern, erlebt hat. Durch die Geburt(en) der Mutter wird die Betreuung bzw. die Mutterrolle für Elif gänzlich der Schwägerin überlassen. Elif Toprak selbst erinnert sich heute folgenderweise zurück: „diese Schwägerin von mir kenne ich wie eine Mutter. Ich habe kaum erlebt, dass meine Mutter sich um uns gekümmert hat also, auch meine ganz ältere Schwester erzählen das, unser Vater hat sich wohl sehr um uns gekümmert“ (II/23/45-47). Elif Toprak erfährt ihre eigene Mutter als eine ihr gegenüber distanzierte Frau. Alle Schwestern teilen ein kollektives Gefühl, dass sie von der eigenen Mutter nicht umsorgt wurden, und betonen die abweisende Haltung der Mutter ihnen gegenüber. Während – laut Elif – ihr Vater sich mehr für seine Töchter interessiert, behandelt ihre Mutter ihre Söhne mit besonderer Aufmerksamkeit. Sie verfügt über eine fremderzählte Kindheitserfahrung. Dieser Erzählung zufolge ist Elif zu Hause ein stilles und unauffälliges Kind, das nicht in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse auszudrücken. Sie sagt darüber: „Also manchmal bin ich sogar wohl tagelang hungrig geblieben. Also in der Türkei ähh: (gibst) nicht=waren wir nicht im Wohlstand. Jeder ist wohl zum Essen gekommen als der Tisch gedeckt wurde, ich komme da ganz leiser leiser langsam langsam bis ich komm=ich bin wohl gekommen war nichts mehr auf dem Tisch (zum Essen übrig), danach bin ich wohl tagelang stundenlang in der Ecke gestanden so hungrig und durstig ((sehr schnell gesprochen)) //hm// also ich habe wohl sogar nichts gesagt wo ist Essen für mich, ich bin auch hungrig. Ich meine, meine Mutter erzählt es so ich kann mich nicht dran erinnern.“ (II/20/8-13)
Wir können uns fragen, was diese dramatische und ausgerechnet von der Mutter überlieferte Erzählung eines innerhalb der eigenen Familie hungernden Kindes
5.3 Elif Toprak
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für Elifs Stellung als ein kleines Mädchen in der Familie bedeutet. Insgesamt weist dieses sich wiederholende dramatische Erlebnis auf eine starke Vernachlässigung der kleinen Elif durch die Erwachsenen in der Familie hin. Auffallend ist an dieser Interviewstelle, die symbolisch für das emotionale Aushungern steht, dass sie mit einer Gefühlsdistanz und emotionslos mitgeteilt wird. Dieser Erzählung nach zu urteilen, ist, etwas überspitzt formuliert, Elif den Erwachsenen gleichgültig. Die Analyse der vorhandenen Daten deutet darauf hin, dass die Metapher „Hungern“ vor allem in der Bedeutungsvariante von ,emotionalem Aushungern‘ eine entscheidende Bedeutung für ihre Lebensgeschichte hat. Die tradierten traumatischen Verfolgungserfahrungen der Familie und die Erfahrung von Vernachlässigung, fehlender Zuwendung und Aufmerksamkeit sowie vor allem der Abwendung der Mutter in ihrer Kindheit begründen die Signifikanz dieser Metapher für ihre Lebensgeschichte. Elif Toprak entwickelt durch diese schmerzlichen Erlebnisse als Kind die Fähigkeit, nichts zu spüren bzw. eigene Emotionen nicht auszudrücken. Sie weint nicht, zeigt keine Gefühle. „Nichts spüren dürfen“ hindert sie noch heute daran, fragen zu können: „Wie konntet ihr mich stundenlang, tagelang hungern, dursten lassen?“ Stattdessen wird die Aufmerksamkeit auf ihr „Stillsein“ gelegt, das von ihr offenbar als eine erstrebenswerte Haltung definiert wird. Sie entwickelt sich weiterhin im Familienleben zu einem unauffälligen Mädchen. In ihrer Familienstruktur stellt ihre Mutter die dominante Person der Familie dar, die sich in erster Linie um die Bedürfnisse ihrer Söhne kümmert. Als erwachsene Frau sagt Elif heute: „meine Mutter benachteiligt die Mädchen den Jungs gegenüber sehr, die Jungs sollen essen, was übrig bleibt können die Mädchen (erst) bekommen“. Wie bereits erwähnt, betrachtet Elifs Mutter ihren Ehemann als Versager und investiert ihre Zuwendung mit der Hoffnung auf eine langfristige Sicherheit in ihre Söhne. Der Vater verliert auch seine finanzielle Bedeutung, nachdem er durch sein fortgeschrittenes Alter in Rente geht. Die gleichzeitige Selbständigkeit von Elif Topraks ältestem Bruder bringen ihn in die Rolle des Familienoberhauptes. Indem ihr Vater zu Hause Saz spielt und alevitische Lieder singt, wird er für die Durchführung alevitischer Rituale und deren Überlieferung an seine älteren Töchter zuständig. Elif bleibt als Kind außerhalb dieses sich im alevitischen Kontext – aus der Sicht eines Kindes – auf die spielerische Aktion (Sazspielen und Semah-Tanzen) aufbauenden Vater-Töchter-Bundes. In späteren Jahren idealisiert sie sowohl ihren Vater als auch das durch das Saz symbolisierte ideelle Alevitentum. Elifs Mutter übernimmt durch ihren heiligen Status als „ana“ die Rolle der „weisen Mutter“, die der Gemeinde mit Rat und Tat zur Seite steht, während sie zu Hause ihren Töchtern – vor allem den heranwachsenden Töchtern – gegenüber als moralische Instanz und Kontrollinstanz auftritt, emotional jedoch distanziert ist.
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5 Falldarstellungen
1960, als Elif Toprak ihrem biologischen Alter nach ungefähr sieben Jahre alt ist, bekommt ihre Schwägerin ihr erstes Kind und in kurzen Abständen weitere Kinder; demzufolge kann sie sich um Elif nicht mehr viel kümmern. Vermutlich beginnt Elif die Grundschule später als ihrem biologischen Alter gemäß. Wie sie auf ihren offiziellen Namen Hüsniye reagiert, von dem sie durch die Einschulung unvermeidlich erfährt, wissen wir nicht. Durch die Schule orientiert sie sich immer mehr an den Kindern in der Nachbarschaft und verbringt mehr Zeit in der außerfamilialen Umgebung. Anscheinend (und damit übereinstimmend) wird sie innerhalb ihrer Familie immer mehr ein unauffälliges Kind. Durch den Kontakt mit den nachbarschaftlichen Spielgruppen erfährt das kleine Mädchen Elif in diesem Kontext, dass ihrer alevitischen Abstammung, deren Bedeutung sie selbst nicht kennt bzw. begreifen kann, ein Makel anhaftet. Unter ihren Gleichaltrigen kann sie sich nicht behaupten, weil sie schnell wegen ihres „Makels“ stigmatisiert, beleidigt und unter Druck gesetzt wird. Sie sagt dazu: „Bei den Spielen mit den Kindern vor der Tür wurden wir sehr unter Druck gestellt. Als wir mit Kindern gespielt haben wenn jemand sich über etwas geärgert hat von Kindern fing an uns zu zählen Kzlba, Ketzer, was weiß ich was sehr viel zählen, wir verstehen nicht was sie sagen. Aber ich spüre dass es Schimpfwort etwas Schlechtes ist also“ (II/25/14-17)
Besonders im sunnitischen Fastenmonat Ramadan wird die alevitische Zugehörigkeit für die Familie zu einer Bedrohung. Ihre diesbezüglichen Erinnerungen in der Kindheit sind: „Als ich klein war wegen dieser Sache na zwischen Aleviten und Sunniten ham wir sehr=in der Gegend waren wir die einzigen Aleviten, (...) Sehr unter Druck sind wir aufgewachsen wir sind unglaublich unter Druck aufgewachsen, wir haben im Ramadan immer gelogen, ham gesagt wir würden fasten. Und dann sind diese Trommler146 gekommen, ich weiß nicht ob sie das erlebt haben, unser Haus war ja niedrig, einstöckig, diese Trommler haben uns morgens um fünf zum Sahur aufgeweckt, die sind direkt bis ans Fenster gekommen bis das Licht gebrannt hat tam tam bis wir aufgestanden sind= na wir fasten doch nicht. Wir haben uns als Kinder im Schlaf zu Tode erschreckt. In der Schule haben die Lehrer immer ihr werdet fasten wenn ihr das eben nicht macht wird dieses jenes sein also fastest du, du fastest also einer nach dem andern. Wir fasten ja nicht. Ich mein ich hab das ja
146 Im sunnitischen Fastenmonat Ramadan werden die Menschen einen Monat lang jede Nacht im jeweiligen Ortsteil durch einen besonderen Trommler zur letzten nächtlichen Mahlzeit vor dem Fasten während der Tageslichtstunden geweckt. Das nennt man „Aufstehen für Sahur“.
5.3 Elif Toprak
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immer erlebt, dann haben unsre Nachbarn immer eben die Kzlba, und dann=solche wirklich ekelhaften Sachen hab ich erlebt.“ (I/18/29-40)
Auf die diskursive Bedeutung von ‚Kzlba und die damit zusammenhängenden möglichen Erlebnisse werde ich weiter unten eingehen. Zuerst soll auf den Aspekt von „fehlendem Schutz“ eingegangen werden. Die Geheimhaltung der alevitischen Abstammung erlebte die Familie an besonderen religiösen (Feier-) Tagen der Sunniten als belastender, da diese Tage kontrollierbare Konsequenzen wie z.B. das Fasten hatten. Die erlebte, unter diesen Umständen unvermeidbare Verfolgung wegen der religiösen Herkunft in der Kindheit verursacht bei ihr ein verinnerlichtes Angstgefühl, ein Erschrecken. In diesem Zusammenhang symbolisiert das „niedrige, einstöckige“ Haus eine Erreichbarkeit durch jedermann, somit eine Schutzlosigkeit gegen eine beängstigende Bedrohung. Selbst ihren Vater, für Kinder gewöhnlich eine Schutzfigur, erlebt sie in dieser durch den Trommler verursachten, schrecklich beängstigenden Situation als hilflos. Auf seine Mahnung, er müsse nicht zwangsweise geweckt werden, was im damaligen sozialen Kontext indirekt seine Nichtzugehörigkeit zum Sunnitentum ausdrückt, reagiert der Trommler mit einem härteren Konfrontationskurs, indem er noch länger und lauter trommelt. Die gleiche Angst und den Schrecken erlebt sie auch in ihrem Lebensbereich Schule, wo sie sich als eines der wenigen nichtsunnitischen Kinder in ihrer Klasse durch die Kontrolle und die Drohungen der Lehrer verfolgt fühlt. Sie muss als Grundschulkind ständig besondere Verhaltensstrategien entwickeln, um sich schützen zu können. Sie spricht über diese Erlebnisse und ihre Strategien folgenderweise: „Wir sind zur Schule gegangen ähh während des Ramadans, der Klassenlehrer hat immer am ersten Tag angefangen hat gefragt, FASTEN ALLE ((eine sehr laute, autoritäre Stimme)) wir haben dann alle gesagt, JA! In Wirklichkeit fasten wir nicht ((lacht)) wir hatten Durst Durst könnten sterben an Durst ((lachend, schlägt ihre Hände)) von zu Hause kannst du kein Wasser bringen es ist doch im Ramadan nicht möglich wir haben sowieso auch kein Behälter zum Mitnehmen wir sind immer in die Toiletten gegangen da haben wir unsere Hand unter den Hahn gehalten und tranken Wasser ((alles schnell gesprochen)). Wir starben am Durst aber konnten nicht trinken weil wir Angst hatten dass ein Kind uns sieht und petzt ((weiter sehr schnell gesprochen)) Wir haben am Durst gebrannt bis wir nach Hause gingen oder wir haben in den Pausen den Lehrer belogen wir haben dies jenes Papier=oder Stift zu Hause vergessen, oder unser Buch vergessen, das Haus war doch in der Nähe wir haben den Lehrern belogen, gleich die nicht fasten wir kennen uns doch (…) lass uns gehen Wasser trinken Brot essen ((Geheimnis verratend, aufgeregte Kinderstimme)). So sind wir also nach Hause gegangen ((abschließend)) haben Wasser und so getrunken. Nicht jedes Mal gibt es diese Möglichkeit, du kannst nicht
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5 Falldarstellungen jeden Tag was vergessen in einem Monat. Solche Sachen haben wir erlebt.“ (II/25/18-33)
Was heute als lustige Anekdote erzählt wird, erlebt das Grundschulkind Elif Toprak damals als eine sie emotional überfordernde Erfahrung: Um sich vor der Gewalt der Autoritätspersonen schützen zu können, muss sie lügen, unter Hunger und Durst leiden, ihren SchulkameradInnen misstrauen und immer neue Strategien der Geheimhaltung entwickeln, um diese Situation bewältigen zu können. Vertrauen empfindet sie nur den wenigen gegenüber, die selber das gleiche Geheimnis teilen. Abgesehen von der Stigmatisierung und den Angstgefühlen, die mittlerweile zu ihrem Alltag gehören, bedeutet der Monat Ramadan sowohl für das Schulkind Elif als auch für ihre alevitischen KlassenkameradInnen einen Monat des kollektiven Leidens. Ziemlich sicher scheint, dass durch die traumatischen Erlebnisse der Familie als Angehörige einer verfolgten Minderheitsgruppe und durch die Angst vor der durch den Staat vertretenen sunnitischen Mehrheitsgesellschaft die Kinder lernen, sich im städtischen Leben dem üblichen Verhaltenskodex, den vorherrschenden Umgangsformen „anzupassen“ und „nicht auffällig“ zu werden sowie „zu ihrem Schutz“ ihre alevitische Abstammung geheim zu halten. „Vielleicht warn ja zig hunderte alevitische Kinder so, ich mein auf dieser Schule“. Die Schule erlebt das Kind Elif als einen Ort der Schutzlosigkeit und der Verheimlichung seiner alevitischen Abstammung. Elif lernt zu Hause, dass sie es geheim halten soll, dass sie während des Ramadans nicht fastet, und außerhalb der Familie lernt sie, dass sie einen Makel besitzt, aber das Schulmädchen ist nicht in der Lage zu verstehen, was dies alles bedeutet. Die damalige Situation des Schulkindes Elif – so wie die ihrer Familie – ist von der Suche nach mehr existenzieller Sicherheit und im Zusammenhang damit von dem Bestreben geprägt, möglichst unauffällig zu erscheinen. Die Eltern können ihre Kinder vor Stigmatisierung und Verfolgung in öffentlichen Räumen – wie in der Schule – nicht beschützen. Ihre Kindheitserlebnisse in Bezug auf ihre alevitische Herkunft, die auch ihre Beziehung zu ihrer Mutter – wie ich später noch ausführen werde – sehr prägte, können mit ihren eigenen Worten am einfachsten damit zusammengefasst werden, dass sie „unglaublich unter Druck aufgewachsen“ ist. Elif Toprak hatte als Kind und heranwachsendes Mädchen in der Nachbarschaft einige Erlebnisse, die sie nicht in Worte fassen kann, die sie jedoch insgesamt als „ekelhaft“ bezeichnet und die mit der Bezeichnung ‚Kzlba‘ zusammenhängen. Diese Bezeichnung benutzte man in der Zeit vor der türkischen Republik (Osmanisches Reich), in den 1950er, 1960er Jahren und auch noch heute, wenn es um die Beschimpfung der Aleviten geht. Dabei werden Aleviten
5.3 Elif Toprak
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als Menschen betrachtet, die nicht nur Ketzer sind, sondern auch zu inzestuösen Beziehungen neigen. (siehe das Kapitel 2.3)147 Vor diesem Hintergrund ist vermutlich Elif Topraks Mutter sowohl in ihrer Rolle als Mutter als auch innerhalb der eigenen Gemeinde als „ana“ in zweifacher Weise belastet. Ihre Töchter sollen mit ihrer Erziehung als Mitglieder einer Dedefamilie durch ihre vorbildliche Haltung auffallen, in der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft jedoch unauffällig sein. In der Mehrheitsgesellschaft fühlt sie sich stets beobachtet, sieht daher vermutlich ihre Töchter als eine potenzielle Gefahr, zumal diese möglicherweise aufgrund ihres selbstbewussten Verhaltens in der Nachbarschaft auffallen und eine Verstärkung der bestehenden Stigmatisierung verursachen können. Elif Toprak wächst also zwischen zwei Autoritätspersonen auf, die Angstgefühle zum festen Bestandteil des Alltags ihrer Kindheit machen. Innerhalb der Familie wird die Autorität durch die Mutter repräsentiert. Elif sagt rückblickend über die diesbezüglichen Kindheitserinnerungen an ihre Mutter: „Disziplin, wo du es fragst, kann ich mich daran erinnern ,meine Mutter war eine sehr schlimme Frau, mein Vater war ganz im Gegenteil ein guter Mensch ein netter, ich meine wenn es ihr möglich wäre, hätte sie uns mit Ketten gebunden, diese Frau.“ Das Wort „Disziplin“ symbolisiert die Kontrolle und Gewalt ihrer Mutter in ihrer Kindheit, die ihr gegenüber so distanziert ist, dass sie von ihr als „diese Frau“ spricht. Wir können uns fragen, was Elif Topraks Mutter, die selber zu Hause das Bild einer sehr starken dominanten Frau präsentiert, dazu führt, ihre Töchter mit ihrer Disziplin zu schwächen und einzuschüchtern. Mit anderen Worten: Wieso soll das selbstbewusste Auftreten ihrer Töchter in der Öffentlichkeit verhindert, mit Gewalt unterdrückt werden? Nach der Fallrekonstruktion wird plausibel, dass unter den damaligen sozialen Verhältnissen, abgesehen von der diskriminierenden und abwertenden Haltung der Mutter gegenüber der Geschlechtszugehörigkeit ihrer Töchter, auch die verbreiteten gesellschaftlichen Vorurteile oder Zuschreibungen gegenüber Frauen mit alevitischer Herkunft hierbei eine bedeutende Rolle spielen. Elif verinnerlicht ihre eigene Mutter unter den bestehenden sozialen Verhältnissen als eine Angstfigur. Außerhalb der Familie wird die Autorität von den Lehrern in der Schule in der Form der staatlichen Gewalt vertreten. Der Alltag von Elif Toprak als Schulkind bzw. heranwachsendes Mädchen ist durch die ständige Unterdrückung von diesen beiden Autoritäten, d.h. ihrer Mutter zu Hause und ihren Lehrern in der Schule, gekennzeichnet. Anders formuliert gehören für Elif Toprak die Begriffe Mutter, Kontrolle, Gewalt, Gesellschaft, Druck und Angst zusammen.
147 In dem verbreiteten türkisch-deutschen Wörterbuch von Karl Steuerwald (1984: 312 und 1988: 534) wird „Inzest“ mit „Kzlba“ gleichgesetzt bzw. als „Kzlbalk“ (Alevitentum) übersetzt.
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5 Falldarstellungen
Der zweite Lebensraum, die Schule, in dem Elif wegen ihrer alevitischen Zugehörigkeit ebenfalls Unterdrückungserfahrungen macht, gewinnt nach der Grundschule möglicherweise im Zusammenhang mit den beengten familiären Lebensverhältnissen für Elif eine andere Bedeutung. Sie sagt resümierend dazu: „So ist es, an meine Kindheit erinnere ich mich (eben) so, die Schule bin ich fünf, bis zur fünften Klasse bin ich (zur Schule) gegangen. Danach viel lernen=Schule war diese Leidenschaft da (danach war eine starke Leidenschaft für die Schule da) Ich träume immer noch hin und wieder davon ich bin in der Schule in der Klasse kann meine Hausaufgaben nicht machen oder der Lehrer ruft mich an die Tafel was weiß ich träume mich immer in der Schule ((alles schnell ausgesprochen)). Ich habe mich an mittlerer Schule anmelden lassen. Also nun da hat mein Vater einen Fehler gemacht, er hat (mich) nicht gehen lassen (2) ich habe die Grundschule beendet, zur Mittelschule bin ich allein hin gegangen hab mich anmelden lassen, danach äh:, >als mein Vater davon erfuhr geh nicht sagte er, also es wird kosten wir können uns das nicht leisten, nach ein zwei Jahren bin ich dann nach Deutschland gekommen<<((immer mehr leiser werdende Stimme)) //ja// (2)“ (II/24/1-6)
Vermutlich bedeutet die Beendigung der Grundschule für die adoleszente Elif den Abschied von der Hoffnung, sich auf dem Weg einer erfolgreichen Schulkarriere von den mittlerweile durch die Rückkehr ihrer verheirateten Schwester noch stärker beengten Lebensverhältnissen der Familie distanzieren zu können. Die Schule gewinnt somit immens an Bedeutung und wird zu einer Leidenschaft. Die folgende Hypothese erwies sich nach der Fallrekonstruktion als sehr plausibel; Elif bevorzugte die Schule, in der sie durch ‚Anpassung und ‚Verheimlichung der möglichen Unterdrückung wegen ihrer alevitischen Abstammung entgehen konnte, vor ihrem Zuhause, in dem sie sowohl wegen ihrer alevitischen Herkunft als auch wegen ihrer Geschlechtszugehörigkeit leiden musste, nicht nur in der Gegenwart, sondern auch an einer entmutigenden Zukunftsperspektive. Diese ambivalente Stellung zur Schule – als Symbol oder Bestandteil eines nicht verwirklichten Traums – zeigt sich auch in ihren gegenwärtigen Träumen, die mit ihrem symbolischen Gehalt eigentlich einem Alptraum ähneln: „ich bin in der Schule in der Klasse kann meine Hausaufgaben nicht machen oder der Lehrer ruft mich an die Tafel“. Gewöhnlich wird man im Schulsystem der Türkei „an die Tafel“ gerufen, wenn es um die Lösung einer Aufgabe geht oder wenn man mündlich geprüft wird. Dieser Akt ist also symbolisch mit Leistungsangst verbunden. Sie träumt immer wieder von dieser Angstsituation. Dass es ihr versagt war und weiterhin ist, zu einer weiterführenden höheren Schule zu gehen, verbindet ihre Kindheit mit ihrem gegenwärtigen Leben. Dass die Erfüllung ihres Schulwunsches gerade durch den Vater verhindert wurde, der sich sonst nicht in Familienangelegenheiten einmischte,
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bedeutet für Elif Toprak möglicherweise eine besondere Enttäuschung – einen Vater, den sie einerseits infolge ihrer distanzierten Beziehung zu ihm idealisiert und mit dem sie sich andererseits wegen seiner Schwäche gegenüber der dominierenden Mutter identifiziert. Wenn Elif Toprak heute von diesem Erlebnis spricht, kann sie diese Entscheidung zwar als „einen Fehler des Vaters“ bezeichnen, aber wie es ihr damals damit ergangen ist, können wir nur durch ihre immer leiser werdende Stimme als eine traurige Erfahrung erahnen, die sie wider Willen akzeptieren musste. Reden kann oder will sie darüber nicht – vielleicht aus Loyalität gegenüber ihrem Vater.
Die Reise nach Deutschland „ich bin einfach hinter meinen Schwestern her gekommen, weil ich dachte, mal schauen wo sie hingehen“ Wie bereits anlässlich der selbststrukturierten Eingangspräsentation von Elif Toprak dargestellt, kommt Elifs geschiedene ältere Schwester Makbule 1968 zuerst allein nach Deutschland. Das Migrationsprojekt von Makbule nach Deutschland hat unterschiedliche Gründe. Abgesehen von den ökonomischen Motiven, die u.a. mit ihrem Status als geschiedene und alleinstehende Frau verknüpft sind, ist es insbesondere als ein Versuch der Befreiung von belastenden Lebensbedingungen zu sehen, die vor allem in der Beziehung zur Mutter kristallisiert und sichtbar sind. Nachdem sie sich mit den Arbeitsbedingungen und den Möglichkeiten vertraut macht, geht Makbule im selben Jahr zurück in die Türkei, um ihre Schwestern Gülhan und Elif ebenfalls nach Deutschland zu holen. Makbules Entscheidung, nicht die Brüder, sondern die Schwestern zu bevorzugen, kann in diesem Zusammenhang einerseits als Wiedergutmachung für ihre nachteiligen Wirkungen auf die Zukunft ihrer Schwestern gedeutet werden, andererseits jedoch als eine solidarische Gegenreaktion zur Mutter, von der sie sich, gleich ihren Schwestern, im Vergleich zu den Brüdern stets diskriminierend behandelt fühlte. Obwohl ihre Mutter beim ersten Mal ihre geschiedene Tochter Makbule gehen lässt, stellt sie sich zuerst gegen die Arbeitsmigration ihrer zwei ledigen Töchter, denn „damals sprach man sehr schlecht (über Deutschland) also dass die Menschen nach Deutschland gehen schlecht148 werden und so vor allem Mädchen149 wir waren doch ledig“. Ohne den Schutz 148 Das türkische Wort „kötü“ (schlecht) wird hier im Sinne von unmoralisch, also sexuell verdorben, benutzt. 149 Das Wort „Mädchen“ wird hier nicht als Bezeichnung einer Altersgruppe, sondern als eine Bezeichnung für die Jungfräulichkeit benutzt.
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einer Ehe sieht die Mutter ihre jungfräulichen Töchter moralisch gefährdet, wie sie es aus ihrer eigenen Lebensgeschichte (durch ihre frühe Verheiratung) kennt. Dass Elifs Mutter ihre ältere Schwester Makbule ohne Probleme gehen lässt, deutet möglicherweise auf einen ‚Verzicht bzw. ein „Loswerden“ dieser Tochter hin, die in dem gegebenen sozialen Kontext als „geschiedene junge Frau“ nicht nur als moralisch ‚unwürdig, sondern zu Hause auch als eine ‚Gefahr für die ganze Familie gilt. Bei dieser Sichtweise und Bewertung wird vor allem die Männerperspektive übernommen. Trotz dieser moralischen Bedenken werden alle drei Töchter mit der Unterstützung ihres Vaters aufgrund der schlechten finanziellen Lage und ihrer in der Türkei begrenzten Zukunftsperspektiven nach Deutschland geschickt. Elif Toprak ist nach ihrem Ausweis 18 Jahre alt und volljährig; somit kann sie als „Gastarbeiterin“ in Deutschland Geld verdienen. Nachdem ihr Wunsch nach einer besseren Schulbildung enttäuscht wurde, bedeutet die Reise nach Deutschland für Elif eine Möglichkeit, aus dem bisherigen Lebenskontext auszubrechen. Im Rückblick erinnert sie sich an dieses Erlebnis als einen Akt eines neugierigen Kindes: „ich bin einfach hinter meinen Schwestern her gekommen, weil ich dachte, mal schauen wo sie hingehen“. Diese Einstellung prägt ihre Erlebnisse während des gesamten Migrationsprozesses. Das erste Erlebnis ist das Durchfallen durch die ärztlichen Untersuchungen in Istanbul. Ihre älteren Schwestern, die die ganze Zeit die Arbeit und die Verantwortung für sie übernommen haben, lassen sie wegen der Wiederholung der Untersuchungen in Istanbul bei Bekannten zurück und gehen nach Deutschland. Nach der Fallrekonstruktion bedeutet diese Erfahrung, von den älteren Schwestern plötzlich verlassen und bei Fremden zurückgelassen zu werden, eine emotionale Überforderung. Durch diese Erfahrung des Verlassenseins kommen bei der 15-jährigen heranwachsenden Elif Erinnerungen an ihre Kindheitssituation als „verlassenes Kind“ wieder hoch; auf der Gefühlsebene wiederholt sich für sie das Erleben der Vernachlässigung durch die Mutter in ihrer Kindheit. Diese Erfahrungen und die mit ihnen verbundenen Gefühle bleiben durch wiederholte ähnliche Erlebnisse in dem gesellschaftlichen Kontext der Familie immer aktuell. Die Erlebnisse in Istanbul bringen die adoleszente Elif aufgrund der Überforderung, an einem für sie fremden Ort (Istanbul) allein gelassen zu werden, in eine ihr so ausweglos erscheinende Situation, dass sie daran denkt, wieder nach Hause zurückzugehen („dort dachte ich mal zurückzukehren“). Doch es bleibt bei einer Überlegung, die sie nicht umsetzt. Die Art, wie sie über die mehrtägige Zugfahrt von Istanbul nach Düsseldorf berichtet, zeigt erneut ihre Fähigkeit, sich aus schwierigen bzw. schwer zu bewältigenden Situationen emotional zurückzuziehen. Während sie auf der Präsentationsebene die Ausdrücke wie im „Schlafen“ oder „wie in einem Traum
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sein“ für die Unberührtheit und Leichtigkeit dieses Moments benutzt, stehen diese Wörter auf der erlebten Ebene vor dem Hintergrund ihrer Biographie für schmerzhaft erlebte Momente bzw. für ihre emotionale Gelähmtheit. Die Derealisation ermöglicht ihr, diese Momente zu überstehen. Die Zugfahrt mit den weinenden mitreisenden Frauen wird als eine so starke Erfahrung von Trennung und Trauer und demzufolge als Überforderung erlebt, dass Elif Toprak diese Gefühle zu vermeiden versucht, indem sie die ganze Zeit schläft. Das ist auch eine Form von Rückzug. Das Bild der leidenden Frauen ruft den Eindruck einer unfreiwilligen, unerwünschten Reise hervor. Heute, da sie angefangen hat, sich vorsichtig diesen Lebenserfahrungen zu stellen, kann sie sich diesen Erlebnissen annähern, indem sie sich mit ihrer Erinnerungslosigkeit aus dieser Zeit auseinandersetzt: „jetzt denke ich daran und sage alle können sich buchstäblich dran erinnern, ich kann mich an gar nichts erinnern wie ich in den Zug eingestiegen bin.“ (II/6/39-40) Zwei Tage nach ihrer Ankunft in Düsseldorf beginnt sie mit ihrer älteren Schwester Gülhan, in einer Fabrik zu arbeiten. Makbule, von der das Migrationsprojekt ausging, lebt und arbeitet woanders. Nach ihrer emotional überfordernden Erfahrung des Verlassenseins in Istanbul verfällt Elif Toprak nach ihrer Ankunft in Deutschland erneut in die Rolle eines kleinen und stillen Mädchens. Gülhan übernimmt die Rolle der Alltagsmanagerin, und Elif Toprak entwickelt eine starke Bindung an sie. „ich war wie ein kleines Kind sehr schüchtern und zögernd und ängstlich“. Ihre Alltagsrealität als erwerbstätige Erwachsene und das eigene Empfinden, „wie ein kleines Kind“ zu sein, stehen einander gegenüber. Als ledige junge Frauen fühlen sich die beiden Schwestern durch die ihnen überlieferten beängstigenden Geschichten von Männern moralisch bedroht. Der unerwartete Tod ihres ältesten Bruders Selim 1970, der in seiner Rolle als Ersatzvater für die Versorgung der ganzen Familie zuständig war, symbolisiert einen Wendepunkt für das gesamte Familienleben. Als Ernährer der Familie hinterlässt er bei seinem Tod fünf kleine Kinder. Das letzte ist ein Neugeborenes. Die verwitwete Schwägerin wird bald durch Makbule nach Deutschland geholt. Auch die Neffen und Nichten werden in späteren Jahren nach Deutschland geholt. Das Neugeborene bleibt jedoch bis 1974 bei Elif Topraks Mutter. Erneut wird im Familienkontext die Mutterrolle an eine andere Frau übergeben. Die Frauen, einschließlich der mittlerweile ungefähr 16- bis 17jährigen Elif Toprak, übernehmen durch diese Ereignisse die finanzielle Versorgung der ganzen Familie. Diesen unerwarteten Rollenwechsel durch ihre Arbeitsmigration erlebt sie als unvorbereitet und belastend. Ferner werden sie als Frauen zu Retterinnen der Männer ihrer Familie, indem sie diese in den folgenden Jahren nach Deutschland holen. Durch die Familienzusammenführung sammeln sich alle in Hamburg und leben dort erneut in derselben Wohnung. Die
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Migration bedeutet nach all den Erlebnissen für Elif Toprak lediglich einen Ortswechsel und Erwerbsarbeit, führt somit zum Verlust ihres Status als kleines Mädchen ohne Pflichten – „ehrlich gesagt, das Leben ist gleich meiner Meinung nach wir haben ga(r)=nur das Fabrikleben ist anders, unser Familie war genau das selber“. Da die finanzielle Not und die belastenden Erlebnisse der Frauen (Verwitwung) die Gründe der Migration sind, wird der soziale Status zunehmend über die „materielle Lage“ definiert. Das Thema der Zugehörigkeit zur alevitischen Minderheit verliert durch die neue Situation seine Brisanz.
Zwei Ehen, Mutterschaft und Krankheit „also du verlierst die Freude am Leben, langsam langsam an alles, also so fängt es an“ Mit 19 bzw. 20 Jahren heiratet Elif Toprak gegen den Willen ihrer Mutter einen Mann aus der Nachbarschaft in der Türkei, ohne ihn kennengelernt zu haben. Sie sagt, sie habe nur seinen Namen gehört und habe sich in seinen Namen verliebt. Die Fallrekonstruktion erwies die Hypothese als sehr plausibel, dass es ihre finanzielle Unabhängigkeit ist, die es Elif Toprak ermöglicht, sich gegen ihre Mutter durchzusetzen, die sie stattdessen mit dem Sohn ihres Bruders (Elifs Cousin) verheiraten möchte. Vermutlich ist diese Entscheidung Elifs ein Versuch, sich von der von ihr erlebten Dominanz ihrer Mutter und allgemein ihrer Familie mütterlicherseits zu distanzieren und sich mehr Selbstständigkeit durch eine Eheschließung zu verschaffen. In Elifs Abwesenheit, während sie in Deutschland ist, findet – arrangiert von ihrem zweitältesten Bruder – die standesamtliche Heirat in der Türkei statt. Sie bringt ihren Ehemann nach Hamburg und nach einer einmaligen Begegnung, einem Smalltalk, findet die Hochzeit statt. Ihre Zusammenfassung der ersten Begegnung als Smalltalk („also er sagte hallo, ich sagte hallo, sie sind willkommen, danach gingen wir jeder nach Hause zurück, die Hochzeit fand nach einer Woche statt:“) steht symbolisch für die zwischen den Partnern bestehende Fremdheit, auf der diese Ehe aufgebaut wird. Elif Toprak erlebt ihr eheliches Leben in jeder Beziehung als eine Enttäuschung und fühlt sich auf diese neue Lebensform nicht vorbereitet. Dazu gehören auch die ersten sexuellen Erfahrungen mit ihrem Ehemann, auf die sie nach den in diesem Lebensbereich erlebten Gefühlen von Bedrohung ebenfalls „nicht vorbereitet“ gewesen sei. Die Bedingungen für die Realisierung ihrer neuen Lebensform verschlechtern sich durch die schwere Kaiserschnittgeburt ihrer ersten Tochter. Rückblickend äußert sie:
5.3 Elif Toprak
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„… In einem andern Krankenhaus haben sie mich gebracht doch im selben Krankenhaus aber zu anderen Abteilungen, das Kind ist wieder beim Entbindungsabteil geblieben, äh jetzt bringen sie drei vier Mal am Tag zum Stillen, es hat sowieso keine der drei Kinder hat meine Brust genommen. Äh das Kind nimmt meine Brust nicht, ich bin auch dem Kind genauso wie meine Ehe wie Eisstück (eiskalt), gar nichts unwissend genau so kommt mir auch das Kind wie ein Eisstück. Ich meine ich soll Mutterwärme geben, es braucht das, oder ich brauche das, so ein Gefühl kannte ich überhaupt nicht beim ersten Kind. Ich habe sowieso erst nach drei vier Tagen das Kind anschauen können. Ob früher die Operationen noch schwerer waren weiß nicht, drei tagelang bist du ohnmächtig. Ich konnte erst nach drei vier Tagen das Kind sehen. Sie versuchen an meine Brust pressen hier tut es dann weh dort habe ich Schmerzen mein Bauch wird geschwollen ich stehe auf, fall wieder in Ohnmacht, ich war selbst am eigenen Leib besorgt ((schnell sprechend)) Danach bin ich also vermutlich noch einen Monat dort geblieben, ob ich noch einen Monat blieb oder noch länger, dann sagten sie das Kind muss nach Hause gebracht werden, in der gleichen Zeit an dem selben Abend als ich ins Krankenhaus kam, kam meine Schwiegermutter aus der Türkei, also eh da war doch auch die Schwiegermutter, also wahrscheinlich haben sie in Krankenhaus gesagt oder so, okay haben sie gesagt dann soll sich die Schwiegermutter zu Hause darum kümmern, wenn der Vater zum Arbeiten geht, soll die Schwiegermutter sich darum kümmern. Bis die Mutter gesund wird, das Kind (blieb) zu Hause, ich blieb im Krankenhaus (2)“ (II/13/9-24)
Elif Toprak erlebt ihre Mutterrolle ebenso wie die Rolle der Ehefrau als eine Belastung. Die Entbindung und deren Folgen bedeuten für sie einen Kampf ums eigene Leben, sie kann daher ihren Säugling als Mutter nicht annehmen. Sie empfindet zwischen sich und ihrem Neugeborenen eine Art gegenseitiger Ablehnung, eine Fremdheit. Das Muttersein erlebt sie am eigenen Körper als einen Gewaltakt, als schmerzhaft und krankmachend. Das Verhalten der Krankenschwester symbolisiert die erzwungene Übernahme der Mutterrolle durch Elif. Dabei hat sie das Gefühl, dass ihre eigenen Bedürfnisse von anderen völlig ignoriert werden. Ihre schwere Geburt begünstigt, dass sie sich von dem Neugeborenen distanziert, das ihr „eiskalt“ vorkommt. Aufgrund der räumlichen Distanz zum Kind im Krankhaus und dann aufgrund dessen Übergabe an die Schwiegermutter kann sie sich in der ersten Zeit weiterhin von ihrem Säugling ‚ent-binden. Da sie es aus der Familienstruktur ihrer Herkunftsfamilie kennt, die eigenen Kinder in schwierigen Lebensbedingungen anderen Frauen zur Versorgung zu übergeben, überlässt sie die Betreuung ihrer neugeborenen Tochter ihrer Schwiegermutter. Ihre Tochter nennt sie Miriam auf Empfehlung einer Krankenschwester. Elif Topraks Kindheitsgefühl, von der Mutter nicht angenommen zu werden (mit anderen Worten ihr Mutter-Tochter-Beziehungstrauma), wird durch die Geburt ihrer ersten Tochter wieder lebendig. Sie kann
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für ihre Tochter keine Wärme empfinden, keine emotionale Bindung zu ihr herstellen. Zwei Monate nach ihrer Entbindung kommt ihre Mutter aus der Türkei, um die Kinder ihres verstorbenen Sohnes zu betreuen. Durch die erneute Anwesenheit ihrer Mutter in ihrem Alltag gerät sie wieder in die Rolle der kleinen Tochter und fühlt sich in ihrem eigenen Leben durch die dominante Präsenz ihrer Mutter eingeengt. „Jetzt damals war ich in einer untergemieteten Wohnung, es war dringend eine Wohnung nötig, ein Zimmer haben sie mir gegeben, eine türkische Familie, äh zwei oder zweieinhalb Zimmer hatte sie, die Küche war gemeinschaftlich, ein Zimmer haben sie mir gegeben ein Parterre, die Fenster schauen nach der Straße, zur Hauptstraße, ich meine wenn du deine Hand ausstreckst, kannst du gleich das Fenster anfassen. Meine Mutter hat uns kaum in Ruhe gelassen immer wieder mal kommt zur Tür klopft sie an der Tür oder sie klopft am Fenster, sie hat jede Kleinigkeit Anlass gemacht also nichts (2)(…) Also ich kann nicht sagen dass ich mit ihm eine Ehe gelebt habe, immer so, will etwas andeuten, um uns zu trennen.“ (II/13/4451)
Die detaillierten Erinnerungen an die Räumlichkeiten sind einprägsamer als die Äußerungen über das eigene Empfinden. Es zeigen sich bei der Beschreibung der Räumlichkeit Parallelen mit den Unterdrückungserfahrungen in ihrer Kindheit. Wie Elif Toprak sich damals durch die Wohnbedingungen vor dem Trommler während des Ramadans nicht geschützt gefühlt hat, symbolisieren auch hier die Wohnbedingungen – „parterre … ich meine wenn du dein Hand ausstreckst kannst du gleich das Fenster anfassen” – ihre Schutzlosigkeit, und zwar diesmal vor der Belästigung durch ihre eigene Mutter. Ihre Mutter hat in ihrem Leben erneut die Bedeutung einer kontrollierenden, mächtigen Person, von der sich Elif nicht distanzieren kann. Sie, die selbst ihre Ehe und Mutterschaft als belastend erlebt, nimmt die Einmischung ihrer Mutter in ihr Eheleben hin. Deren ständige Kritik an ihren Mann („aus ihm wird kein Mann, er wird dir kein Ehemann“) ermutigt Elif, sich von ihm zu trennen. Auch wenn sie heute über ihre Trennung spricht, ohne diese mit ihrer damaligen Unzufriedenheit und Überforderung in den beiden Rollen der Mutter und Ehefrau in Verbindung zu bringen, erwies sich nach der Fallrekonstruktion die Hypothese als sehr plausibel, dass sie ihr damaliges Empfinden kaschiert und ihre Mutter für die Trennung verantwortlich macht. Anders als sie gehofft hat, bringt ihre Trennung keine Erleichterung, denn die Betreuung ihrer Tochter, zu der sie immer noch keine Wärme verspürt, wird wegen ihrer Erwerbstätigkeit zu einem Problem. Alle Frauen aus ihrer Herkunftsfamilie arbeiten, und ihre Mutter Fatma Düzgün, die nach der Trennung mit ihrem jüngsten Sohn und Elif zusammenwohnt, betreut lediglich die Kinder
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ihres verstorbenen Sohnes. Elif gibt ihren sechsmonatigen Säugling zur Betreuung bei einer Tagesmutter. Sie erinnert sich heute daran folgenderweise: „Also wir haben damals [in ihrer Kindheit] immer gehört dass die Menschen aus 150 Kayseri [eine Stadt in Mittelanatolien der Türkei] sehr schlimme Menschen sind . Und ich habe das Kind den Menschen aus Kayseri gegeben aber meine Gedanken sind immer da geblieben damals. Ich bin zwar nicht rein aber ich habe das Kind rein gegeben. Ich hatte Angst da rein zu gehen. Erst nach vier oder fünf Monaten konnte ich mich an diese Familie gewöhnen. Ich hab mal geschaut die sind doch Menschen wie wir. Jetzt wie sie über Aleviten so sehr schlechte Sachen sagen. Man darf nicht essen was sie anfassen, was weiß ich sie machen Geschlechtsverkehr was weiß ich diese jene Verleumdung. Wir haben damals ((schluckt)) also die aus Kayseri sind so schlechte Menschen also die Menschen von dort sind äh Mörder. Wir wussten diese Ort als sehr schlecht also. Äh so eine Familie damals gabs auch nicht so viele Tagesmutter es gab auch nicht so viel Krippen eine Familie hat mir das Rathaus empfohlen ich habe gezwungenermaßen das Kind dort abgegeben. Ich dachte immer wenn ich zu Hause bleibe als ob wir alle hungern werden.“ (III/9/2535)
Was bedeutet ihre Entscheidung für ihre damalige Lebenssituation? Es ist eine Situation, in der die von der alevitischen Familie erlebten und durch die Elterngeneration weitergegebenen Existenzängste und die fehlende Sicherheit des eigenen Lebens und das der Kinder reproduziert werden. Ferner wird durch die sozialen Verhältnisse, in denen sie lebt, die Stellung der Kinder als Personen reproduziert, die die bestehenden schwierigen Lebensverhältnisse für die Frauen ihrer Familie noch verschlimmern. Elif Toprak fühlt sich in dem sozialen Kontext in Deutschland trotz ihrer hier anwesenden Großfamilie mit ihrem Kind allein gelassen. Sie muss für ihre Existenz allein kämpfen, obwohl sie selbst durch die Einmischung und Kontrolle ihrer Mutter wie ein Kind behandelt wird. Sie kann sich nur um ihre eigene Existenz kümmern. Sie fühlt sich gezwungen, ihr Kind bei den Menschen abzugeben, die sie aus ihrer Kindheit als potenzielle „Mörder“ kennt. Die Familiensituation ihrer Kindheit wiederholt sich wieder, sie fühlt sich aus dem Familienbund ausgeschlossen. Dieses Empfinden ist so stark, dass sie den Tod ihres Vaters 1977 als eine Tatsache erlebt, die vor ihr verborgen bleibt. Sie sagt, noch heute weiß sie nicht, wann und wie ihr Vater gestorben ist. Es ist erst ihre Mutterrolle als Alleinerziehende, die ihr am Erleben der Vaterlosigkeit ihrer Tochter ermöglicht, über ihr eigenes Leiden zu sprechen. Ange150 Dazu erzählt sie an einer anderen Stelle eine Geschichte, die sie in ihrer Kindheit gehört habe. Nach dieser Erzählung wurde ein linksorientierter alevitischer Schullehrer, der nach Kayseri verbannt wurde, von den Faschisten überfallen, kastriert und als weitere Strafe ins Gefängnis gebracht.
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sichts des Leids ihrer Tochter und ihres beengten Alltags nimmt sie Angebote von ihrem getrennten Ehemann, wieder mit ihm zusammenzukommen, willig wahr. Aus der Verwandtschaft traut sich jedoch niemand, die dafür benötigte Vermittlerrolle zu übernehmen, denn „alle haben vor meiner Mutter sehr Angst gehabt“. Die Möglichkeit einer zweiten Ehe 1980 mit 27 Jahren – wie Elif selbst sagt – mit einem „Halbaleviten“ aus der Nachbarschaft in der Türkei bedeutet für sie eine Rettung, denn „dieses Leben hat dann mich sehr beengt“. Diesmal schließt sie jedoch ihre Ehe mit der Zustimmung aller ihrer Familienangehörigen. Ende der 1970er Jahre finden mehrere Massaker an den Aleviten in der südöstlichen Türkei statt (Kapitel 2.3.3). Besonders an den Universitäten werden Aleviten von Rechtsradikalen attackiert, weil die Aleviten als potenzielle Linke bzw. als Kommunisten betrachtet werden. Viele politisch Verfolgte nutzen jede Möglichkeit, die Türkei zu verlassen. Elif Topraks zweiter Ehemann war einer dieser Studenten und befand sich in einer politischen Verfolgungssituation. Die Ehe hat vor diesem Hintergrund eine Rettungsfunktion für beide. Außerdem bedeutet die Ehe mit einem ledigen, wohlhabenden Studenten für Elif Toprak als geschiedene Frau mit einem Kind einen sozialen Aufstieg. Bald nach der Eheschließung stellt ihr Ehemann fest, dass das Leben in Deutschland ihm nicht gefällt. Er will weder in Deutschland bleiben noch arbeiten, sondern zurück in die Türkei gehen und sein Studium beenden. Trotz seiner Enttäuschung über die Lebensbedingungen in Deutschland bleibt er nach dem Militärputsch in der Türkei Ende 1980 und vor allem nach der Geburt ihrer ersten gemeinsamen Tochter 1982 in Deutschland. Ihre zweite Ehe erlebt Elif Toprak in ihrer Erwachsenenrolle als Hausfrau, Mutter und erwerbstätige Frau als noch belastender als ihre erste Ehe, denn ihr Ehemann kann durch seine Unvertrautheit mit der für ihn völlig fremden Gesellschaft in Deutschland seine üblichen partnerschaftlichen Rollenfunktionen nicht übernehmen. Dabei spielen die deutschen Gesetze bzgl. des Arbeitsverbots für den/die EhepartnerIn der MigrantInnen in den ersten Jahren eine bedeutende Rolle. Ihr Mann spricht im Gegensatz zu Elif kein Deutsch, daher muss sie auch die Erledigung der behördlichen Angelegenheiten für die ganze Familie übernehmen. Elif Toprak erlebt die ersten Jahre ihrer zweiten Ehe wie eine alleinstehende Frau mit zwei Kindern. Über ihre Überforderung durch all diese Rollen spricht sie heute noch mit sichtlicher Aufregung: „Eine Tasche auf der einen Schulter eine Tasche auf der anderen Schulter die Taschen der Kinder aus der Kita ((zählt alles betont und einzeln)) noch dazu meine eigene Tasche. Ein Kind auf meine Armen das andere in der Hand ich meine du kannst mich überhaupt nicht sehen ((lacht plötzlich)) ich bin dann oben gegangen er [der Ehemann] kam dann nach fünf Minuten nach mir nach Hause, zu Hause
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Arbeit:= überall ist voll mit der Arbeit. Von wo sollst du jetzt anfangen (ich) war hilflos ((schluckt)) (2)“ (III/6/36-40)
Über ihre Überforderung und die Vernachlässigung der familiären Aufgaben durch ihren Mann kann sie mit niemandem aus ihrer Herkunftsfamilie sprechen. Sie hat Angst, nach ihrer zweiten Eheschließung als eine Frau etikettiert zu werden, die zur Führung einer Ehe unfähig ist. Sie erzählt weiterhin: „Jeden Tag kam ich so //hm// ich kam also die Kinder kommen aus der Kita sie haben Hunger. Alle weinen von einer Seite. Jetzt überlege ich soll ich denen was geben oder ich komme auch aus der Arbeit soll ich selbst was essen. Ich habe überlegt der Ofen ist kalt die Wohnung ist kalt soll ich den Ofen wärmen ich meine wo soll ich anfangen 10 Minuten überlegte ich mir dann habe ich angefangen zu arbeiten ((lacht auf den Schoß schlagend)) zuerst saß ich hin, welche Arbeit soll ich machen welche soll ich zuerst machen. Auch ein- zweimal während ich überlegte floss aus meiner Nase Blut (2) so (2)“ (III/6/43-48)
Elif Toprak fühlt sich zwischen ihren eigenen Bedürfnissen und denen ihrer Kinder zerrissen, kann durch ihre Überforderung kaum eines dieser Bedürfnisse erfüllen. Ihre Wohnbedingungen, eine Zweizimmerwohnung ohne Bad und Heizung, machen ihr das Leben zusätzlich schwer. Sie erlebt körperliche Anzeichen dieser Überlastung, wie das Nasenbluten. Ihre Erwerbstätigkeit überfordert sie unter ihren schwierigen Lebensbedingungen immer mehr – „meistens als ich an der Maschine gearbeitet habe wirklich meine Augen sind offen ich tue ich arbeite aber ich hatte das Gefühl mein Herz schläft”. Elif Toprak fühlt sich durch ihren Alltag, der sie überfordert, wieder von ihrem eigenen Leben entfremdet. Sie funktioniert zwar körperlich, aber spürt das Leben nicht. Ihr „Herz“, das offenbar ihre Gefühle bzw. ihr emotionales Erleben symbolisiert, spürt Elif Toprak nicht. Auf ihre dritte Schwangerschaft reagiert sie unter diesen schwierigen alltäglichen Lebensbedingungen mit Krankheit und Rückzug: „also du verlierst die Freude am Leben, langsam langsam an alles, also so fängt es an“. Ihre Krankheit fängt mit unerträglichen Kopfschmerzen an. Nach der Geburt ihrer dritten Tochter Ayla 1984, einer erneuten Kaiserschnittgeburt, verschlechtert sich ihr Gesundheitszustand. Sie bekommt zusätzlich Herzbeschwerden, Rückenschmerzen, kann nachts wegen ihres Säuglings nicht schlafen, kann keinen Ton ertragen, möchte mit keinem Menschen in Kontakt kommen, fällt immer wieder in Ohnmacht und verliert, mit ihren Worten, „die Freude am Leben“. Vor dem Hintergrund ihrer Lebensbedingungen ist ihre Krankheit für Elif Toprak als erwerbstätige Frau und Mutter von drei Töchtern ein Ausweg aus den belastenden Erwachsenenrollen. Hinzu kommt, dass Elif Toprak zu dieser Zeit
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unter ihren Schwestern die einzige ist, die noch in der Fabrik arbeitet. Ihre ältere Schwester Makbule kehrt als wohlhabende Frau in die Türkei zurück. Ihre zweite ältere Schwester Gülhan macht sich mit der Unterstützung von Makbule selbstständig. Erst nachdem Elif Toprak krank wird, übernimmt ihr Ehemann die Rolle des Ernährers, und sie erhält insbesondere von ihrer damals zehn Jahre alten Tochter Miriam Unterstützung in ihrer Mutterrolle und im Haushalt. Während ihres langen Krankenhausaufenthalts, bei dem keine organische Erkrankung diagnostiziert wird, erfährt sie von der Möglichkeit einer psychiatrischen Tagesklinik. Sie geht auf eigenen Wunsch ungefähr zwei Jahre lang regelmäßig in diese Tagesklinik. Über diese Erfahrung sagt sie: „Als ob ich zur Arbeit gehe, habe ich die Kinder bei der Kita abgegeben, du wirst um neun dort [Tagesklinik] bis drei Uhr, äh das Programm ist voll also du hast sogar keine Zeit sogar Kopfschmerzen zu bekommen“ (III/3/17-19). Diesen Aufenthalt erlebt sie als ihren Alltag organisierend und von einigen Erwachsenenrollen entlastend. Sie erlebt eine Stabilisierung nicht nur durch die Einzeltherapie, sondern vor allem durch die Bindung an die Patientengruppe. Der soziale Kontext und die Struktur des Tagesablaufs, die so geschaffen werden, wirken heilsam auf sie, weil sie zu Hause kein ausgeglichenes Familienleben hat. Von ihrer Herkunftsfamilie fühlt sie sich zwar aufgrund ihrer „seelischen“ Krankheit nicht anerkannt, sondern ignoriert, jedoch unterstützt diese Elif Toprak, indem sie ihren Ehemann in den inzwischen bestehenden Familienbetrieb aufnimmt. Ihr Ehemann arbeitet nachts und schläft tagsüber. Er distanziert sich von ihrer Krankheit, vor allem weigert er sich, sie durch die Teilnahme an einem Paargespräch in ihrem Heilungsprozess zu begleiten und sagt: „bin ich doch nicht verrückt dass ich dorthin gehe“. Durch ihre psychische Instabilität und durch seine nächtliche Arbeitszeit entsteht ein Abstand zwischen dem Ehepaar. Elif Topraks Töchter sind weitgehend die einzigen Familienmitglieder, die auf ihre Krankheit bzw. auf ihre Instabilität Rücksicht nehmen, indem sie sich mit ihren Bedürfnissen zurücknehmen. Elif Toprak selbst wird für ihre Kinder jedoch durch ihre medikamentöse Behandlung während der Therapie geheimnisvoll, denn zu Hause wird über ihre Klinikbesuche nicht gesprochen. Während der Erhebungsphase ist Elif Toprak unter allen interviewten Familienmitgliedern die Einzige, die über ihre „seelische“ Krankheit spricht. Elif Toprak erlebt in dieser Zeit eine erneute Schwangerschaft. Da sie schon drei Kaiserschnittgeburten hinter sich hat, meinen die Ärzte, eine vierte Kaiserschnittgeburt sei für sie „tödlich“. Sowohl durch diese Schwangerschaft als auch durch die Gruppengespräche in der Tagesklinik151 151 Es ging darum, dass sie in Ohnmacht fällt, als einer der Gruppenteilnehmer im Zusammenhang mit der Rückkehr in seine Arbeitssituation von Selbsttötung gesprochen hat. Sie fühlt sich durch diesen Gedanken bedroht und nimmt für sich das Thema Tod wahr.
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wird sie sehr stark mit dem Thema Tod bzw. Selbsttötung konfrontiert. Die Medikamente ermöglichen ihr einen gleichgültigen Zustand. Sie sagt: „wenn du diese Tabletten nimmst dann ist dir alles auf der Welt egal, ob du Kinder hast oder nicht, ob es dich gibt (ob du existierst) oder nicht also du bist wie ein Schlafwandler, wenn du irgendwo fällst schläfst du fünfzehn Stunden.“ (III/8/2831) Elif Toprak schwebt durch ihre medikamentöse Behandlung zwischen (auch geistiger) Abwesenheit und Anwesenheit. Ihr Mann ist durch seine Arbeit von diesen Erfahrungen ausgeschlossen. Er ist ebenfalls von den Bindungsmöglichkeiten ausgeschlossen, die durch dieses gemeinsame Leiden entstehen. Die Medikamenteneinnahme, die damit zusammenhängende Vernachlässigung der Töchter und vor allem die Klinikbesuche bleiben im Familiendialog in den späteren Jahren Tabuthemen. Über die Dauer dieser familialen Situation und ihrer Medikamenteneinnahme gibt es unterschiedliche Aussagen. Während Elif Topraks Töchter Miriam und Nuray von einer jahrelangen Medikamentenabhängigkeit sprechen und davon, dass sie Elif Toprak nach Jahren helfen mussten, sich von diesen Mitteln zu entwöhnen, erinnert sich Elif Toprak an eine kurze Dauer. Danach habe sie hauptsächlich aus mütterlichem Pflichtgefühl mit der Einnahme der Medikamente aufgehört. Ferner stellt sie bald fest, dass ihre Krankheit offenbar nicht mit Medikamenten zu heilen ist: „weil du hast keine Entzündung oder Wunde an deinem Körper, dass du etwas trinkst, oder drauf tust und es heilt sich, dein Gespür Gefühle sind erkrankt also also die Seele ist erkrankt“. (III/8/41-42) Elif Topraks Gefühle, die sie in der Kindheit nicht zu spüren gelernt hat, sind „erkrankt“ und machen auch sie krank. Auf die Frage, was ihrer Meinung nach damals die Krankheit hätte heilen können, sagt sie heute lapidar: „Ich meine anstatt Medikamente hätten sie mir eine Wohnung geben sollen. Eine Helferin geben sollen, die meinen Haushalt macht. ((fängt an zu lachen)) Einen anderen Mann geben sollen. ((lacht)) Würde beenden also die Hei(lung)=Behandlung der Krankheit wäre es (3)“ (III/8/47-49) Während der Therapie gehört auch eine mögliche Scheidung zu ihren Themen, sie traut sich jedoch wegen ihrer sozialen Umwelt nicht, diese Möglichkeit zu verwirklichen. Sie macht implizit ihre Töchter dafür verantwortlich, dass sie ihre unglückliche Ehe weiter aushält, um ihnen nicht zu schaden. Nachdem sie die Rolle des Familienoberhauptes ihrem Ehemann überlässt und von ihrer ältesten Tochter Miriam bei der Hausarbeit Unterstützung bekommt, bleiben die Wohnbedingungen und ihr Ehemann weiterhin als Probleme bestehen. Wann genau Elif Toprak in Frührente geht, ist nach den vorhandenen Daten nicht zu klären. Elif Toprak kann kein Datum angeben, denn die Zeit, zu der sie mit der Erwerbsarbeit aufhört (1984–1985), und der Beginn der Renten-
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zahlung (1987–1988) liegen auseinander. Sie leidet fünf Jahre lang jeden Morgen unter Angstgefühlen, dass sie doch noch wieder zur Arbeit gehen muss. 1990 macht Elif Toprak mit ihren drei Töchtern einen Rückkehrversuch in die Türkei. Sie geht in eine südliche Stadt der Türkei, wo sich mittlerweile ihre ältere Schwester Makbule niedergelassen hat. Während sie erneut die Nähe ihrer älteren Schwester sucht, bleibt ihr Mann in Deutschland und ist für die Ernährung der Familie verantwortlich. Da sich die Ehe noch nicht stabilisiert hat, kann Elif Topraks Rückkehrentscheidung nach ihrer Absicherung durch die Rente möglicherweise als ein impliziter Trennungsversuch gedeutet werden. Ihr Rückkehrversuch scheitert an zwei Punkten. Der erste ist ihre Mutterrolle, die zum ersten Mal wegen der fehlenden Türkischkenntnisse und der nichtsunnitischen religiösen Erziehung ihrer Töchter in Frage gestellt wird. Da sie die Erziehung ihrer Kinder seit ihrer Geburt den Institutionen in Deutschland bzw. den Tagesmüttern überließ, erfährt sie in der Türkei zum ersten Mal, dass sie ihre Mutterrolle nicht den Erwartungen des türkischen Schulsystems entsprechend erfüllt hat. Der zweite Punkt ist die Wiederholung ihrer traumatischen Diskriminierungs- und Unterdrückungserfahrung in ihrer Kindheit aufgrund ihrer alevitischen Abstammung, die durch die Stigmatisierung ihrer beiden Töchter Miriam und Nuray in der Schule reaktiviert werden. Nuray wird in der Schule vor allem wegen ihrer schlechten Türkischkenntnisse und Miriam wegen ihres nichttürkischen bzw. nichtislamischen Namens sowie wegen fehlender Kenntnisse des Islam gedemütigt. Elif Toprak muss wieder ihre alevitische Abstammung verheimlichen und verleugnen und fühlt sich von den Lehrern eingeschüchtert. Sie kann ihre Kinder vor diesen stigmatisierenden Erfahrungen und der Demütigung in der Schule nicht schützen. Die Angstgefühle und die Schutzlosigkeit in der staatlichen Organisation Schule, die sie aus eigenen Kindheitserfahrungen mit ihrer alevitischen Gruppenzugehörigkeit kennt, wiederholen sich hier erneut. Im Unterschied zu damals erlebt sie diese jetzt in der elterlichen Rolle. Nicht den Erwartungen der durch die Schule repräsentierten Mehrheitsgesellschaft zu entsprechen und nicht zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, werden zu einer Bedrohung in der gegenwärtigen Alltagswirklichkeit. Nach dem Wunsch ihrer beiden Töchter, die es in der Schule nicht mehr aushalten können, fühlt sich Elif nach einem Schuljahr gezwungen, ihre Töchter wieder nach Deutschland zurückzubringen. Ungefähr 1992 macht sich ihr Mann selbstständig, und die Familie kommt in sichere finanzielle Verhältnisse. Ihr Mann konzentriert sich ausschließlich auf das Arbeitsleben, lernt aber nur relativ wenig Deutsch, so dass Elif Toprak ihn noch heute bei den Arztbesuchen begleitet. Sie entscheidet sich nach der Verbesserung ihrer finanziellen Lage für einen endgültigen Verbleib in Deutschland, kauft sich ein Haus, und in weiteren Jahren delegiert sie zunehmend ihr nicht
5.3 Elif Toprak
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gelebtes Leben an ihre Töchter: Sie sollen als Frauen das Leben genießen, sozial und materiell einen guten Lebensstandard haben, Karriere machen, sich vor allem von Männern nicht unterdrücken lassen. Da sie ihr Unvorbereitetsein auf das Erwachsenwerden auf ihren verhinderten Bildungswunsch zurückführt, gewinnt die Schule eine besondere Bedeutung bei der Wahl ihrer Wünsche an die Töchter. Ihr innerer Widerspruch, einerseits das Leben zu genießen und sich von keinem Menschen unterdrücken zu lassen und eigene Lebensentscheidungen mit freiem Willen zu treffen, andererseits jedoch ihren Wünschen zu entsprechen und in der Schule gut abzuschneiden bzw. zur Universität zu gehen, verursacht in weiteren Jahren stets Konflikte zwischen ihr und ihren Töchtern. Wahrscheinlich im Jahr 1993 lernt sie auf einer Feier eine alevitische Gemeinde kennen. Über diese Begegnung, die bei ihr die mit ihrem Vater zusammenhängenden positiven Erlebnisse ihrer Kindheit wieder ins Leben rufen, sagt sie: „Die Türken hatten halt eine Feierlichkeit, sie wurden [ihr Ehemann und ihr Schwager] als Arbeitgeber eingeladen. Mein Gott auf einmal haben wir gehört dass unsere alevitischen Lieder [Deyi] gespielt werden ((aufgeregt)), außerdem gibt es mehrere Saz. Ich fühlte mich so als ob ich meine Kindheit erlebt hab, also als ob ich=mein Vater hat öfters Saz gespielt, hat immer für sich duvazi imam [alevitische Gebete] gesungen, so sind wir groß geworden. Ich sagte was ist das Ekrem [Name ihres Ehemanns] als ob ich plötzlich meine Kindheit erlebt habe was ist hier Ekrem, lass uns mal fragen wo diese Kinder das gelernt haben ((sehr aufgeregt))“ (III/16/33-38)
Ihre positiven Erinnerungen an ihre Kindheit bezüglich ihrer alevitischen Abstammung beruhen anscheinend auf dem Erleben der Musik (deyi) und des Tanzens (semah). Nach dem Erreichen finanzieller Sicherheit und der Überwindung der Armutsängste ermöglicht ihr die alevitische Zugehörigkeit ein neues Feld, in dem sie besonders durch ihre in der alevitischen Glaubensgemeinschaft privilegierte ‚heilige Abstammung soziale Anerkennung genießen kann. Die ‚Wiederentdeckung ihrer Abstammung ermöglicht Elif Toprak, eine neue Beziehung zu ihren Töchtern herzustellen. Ihr neues Engagement im öffentlichen Raum bringt ihr zunehmend mehr Stabilität. Durch ihre Tätigkeit in der alevitischen Gemeinde erlangt die ganze Familie in der Gemeinde eine besondere Stellung. Parallel zu ihren Aktivitäten in der Gemeinde, die ihr persönlich eine gewisse Stabilität geben, eskalieren die Konflikte zwischen Elif und ihren beiden Töchtern Nuray und Miriam. Während sie in der Gemeinde an Ansehen gewinnt, stellt sie immer mehr Regeln für ihre Töchter auf, damit diese in ihrer Glaubensgemeinschaft nicht als „zu freiheitlich lebend“ auffallen. Auch wenn sich die
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Positionen der eigenen Glaubensgemeinschaft und der ‚Mehrheitsgesellschaft als Kontrollinstanzen durch die Migration im Vergleich zu ihrer Kindheit und Jugend verändert haben, wiederholt sich hier ein Beziehungsmuster zwischen Mutter und Töchtern, das Elif selbst in der Tochterrolle erfahren hat. Jetzt ist es Elif Toprak, die in ihrer Rolle als Mutter mit ‚heiliger Abstammung besonders darauf achtet, das Verhalten und die Lebensführung ihrer Töchter zu kontrollieren, die sie bis zu ihrem Eintritt in die alevitische Organisation ziemlich frei erzogen hat. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre heiratet ihre älteste Tochter Miriam. Der plötzliche Todesfall von Miriams Ehemann und das damit zusammenhängende Leiden ermöglicht es Elif Toprak und ihrer Tochter – mindestens während der dreijährigen Datenerhebung –, einen Weg zueinander zu suchen. Die Fallrekonstruktion zeigte, dass die drei Frauengenerationen dieser Familie ihre Ehemänner und ihre Kinder als problematisch bzw. als verletzend erleben. Sie sind mit Leiden verbunden. Im Vergleich mit ihren anderen zwei Töchtern hat Elif Toprak zwar ein etwas entspannteres Verhältnis, jedoch kann sie auch in den Beziehungen mit ihnen keine Offenheit erleben. Elif Toprak identifiziert sich stark mit ihrer jüngsten Tochter Ayla, die – wie sie selbst in ihrer Kindheit – ruhig und zurückhaltend ist. Insgesamt gibt es eine Parallele zwischen Elifs Beziehungen zu ihren zwei älteren Schwestern und der Position von Ayla als jüngster Schwester in ihrer Schwesternreihe. Elif Toprak delegiert ebenfalls ihre Rolle, als die Jüngste auf die Bemutterung oder Unterstützung durch die älteren Schwestern zu hoffen, an ihre jüngste Tochter Ayla. Obwohl sie die Delegation ihrer Wünsche in Bezug auf ein Universitätsstudium am stärksten an Ayla richtet, distanziert sich Ayla immer mehr von diesen Ambitionen. Der Fallrekonstruktion zufolge hat Elif Toprak, anders als bei ihrer Entwicklung im Zusammenhang mit ihren Erfahrungen in der alevitischen Gemeinde, noch keine Sprache entwickelt, um überhaupt über die Beziehungen und Beziehungsprobleme in ihrer Herkunfts- und Kernfamilie zu sprechen. Sie signalisiert auch den anderen Familienmitgliedern, dass sie über diese Probleme nicht reden will. „Ich meine ich kann meine Probleme weder mit meinem Kind noch mit meinem Mann teilen, ich will dass es immer geschlossen bleibt, ich will nicht dass es thematisiert wird.“ (II/10/23-24) Ein einmaliger Versuch, mit ihrer älteren Schwester Gülhan über ihre gemeinsamen Probleme zu reden, endet mit einem Beziehungsabbruch. Vermutlich spielen bei ihrem Widerwillen gegen deren Thematisierung auch ihre Verlustängste eine Rolle.
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Anfang 2000 stirbt Elif Topraks älteste Schwester Zahide in Deutschland. Diesen Todesfall halten Elif Toprak zufolge152 alle Schwestern vor der Mutter Fatma Düzgün geheim, um sie aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters vor diesem Leid zu schützen. Dem Tod ihrer Schwester folgt eine Zeit, in der Elif ihre aktive Rolle in der alevitischen Gemeinde ruduziert und sich im Verhältnis zu dieser Organisation immer mehr distanziert. Durch all diese Erlebnisse gerät sie zunehmend in eine instabile Verfassung. Eigene negative Erfahrungen bringen sie dazu, ihre Erwartungen an das Leben immer mehr auf die Töchter zu richten.
Zusammenfassung der Fallrekonstruktion Wie die Fallrekonstruktion zeigt, spielt in dieser Familie die Familiengeschichte einschließlich der Verfolgungsgeschichte der Minderheitsgruppe(n) eine wesentliche Rolle im familialen Dialog. Deshalb wurden mehrere Interviews mit unterschiedlichen Familienmitgliedern geführt. Im Folgenden soll diesen Fragen nachgegangen werden: Welche Bedeutung hat die Familiengeschichte für die Angehörigen der folgenden Generationen und deren Beziehungen zueinander? Zur besseren Lesbarkeit werden die Familienbeziehungen aus der Perspektive der Tochter Ayla Toprak benannt.
Zur Geschichte der Herkunftsfamilie Die Familiengeschichte ist durch die gesellschaftliche und politische Verfolgung aufgrund der alevitischen Abstammung sowie durch Angst, Bedrohung und Armut geprägt. Die Familie war in der Türkei gezwungen, ihre alevitische Glaubenszugehörigkeit nach außen hin geheim zu halten. Verstärkend kommt hinzu, dass sich die Familie auf eine für die alevitische Glaubensgemeinschaft „heilige Abstammung“, nämlich die Dedefamilie, beruft. Für die Familienmitglieder wurde somit Angst zur umfassenden Alltagserfahrung, welche an die jeweils nächste Kindergeneration atmosphärisch weitergegeben wurde. Die historische Realität der Verfolgung und Tötung der Armenier und der Aleviten in der Türkei werden als familienrelevante Themen im Dialog aus unter152 Auffällig war ihr panischer Anruf, nachdem sie mir die Telefonnummer ihrer Mutter gegeben hatte. Sie hat mich in den darauf folgenden Minuten angerufen und mit einer sehr aufgeregten Stimme gesagt: „Es ist gerade mir eingefallen, du darfst meine Mutter nicht sagen, dass meine allerälteste Schwester gestorben ist. Sie weiß das nicht. Ich hatte Panik, dass du nicht zu Hause wärest und ich dich nicht warnen kann. Mein Herz ist fast stehen geblieben!“
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schiedlichen Perspektiven angesprochen und wirken, wie die Fallrekonstruktion zeigt, auf die gegenwärtige Lebenspraxis der nachfolgenden Generationen der Familie. Die Bezugnahme auf die eigene familiale Verfolgungsgeschichte wird im Zusammenhang mit der Geschichte der Armenier thematisiert, d.h. der Staat bildet eine ständig präsente Bedrohungsinstanz für die Familie. Die Themen wie Tod, Verhungern und Gewalt sowie die fehlende Sicherheit der Frauen und Kinder in der Familie und in der Mehrheitsgesellschaft deuten die Gemeinsamkeiten der beiden Minderheitsgruppen an. Die Männer der Familie werden im Dialog der Frauen in Kontexten des Nichterfüllens der traditionellen „Beschützerrollen“ eingeführt. Diese Depotenzierung findet sich in den nachfolgenden Generationen im Umgang der Frauen mit den Männern wieder. Dies führt zur Veränderung in der Rollenverteilung, die sowohl mit einer Potenzierung als auch mit Überforderungsphänomenen der Frauen einhergeht. Zu fragen ist, ob es sich hierbei um einen kollektiven und familialen Wechselprozess handelt, bei dem Männer in schwierigen gesellschaftlichen Konstellationen schwächer und Frauen mächtiger werden.153 Im vorliegenden Fall wird deutlich, dass das Verlassen der Familie durch die Männer die Position der Frauen stärkt. Welche Auswirkungen hat dies auf die Mutter-Tochter-Beziehung?
Zusammenfassung ihrer Lebensgeschichte Elif Topraks Lebensgeschichte ist durch die Folgen der belastenden und nicht bearbeiteten Familiengeschichte gekennzeichnet. Dies zeigt sich in ihrer schwierigen (emotionalen) Bindung zur Familie, vor allem zu ihrer Mutter (Aylas Großmutter). In ihrer Kindheit in der Türkei spielte die Stigmatisierungserfahrung als Alevitin eine wichtige Rolle. Nach der Fallrekonstruktion kristallisiert sich heraus, dass die schwer zu versprachlichende Geschichte der armenischen Verfolgung für Elif Toprak eine Möglichkeit darstellt, die familiale Verfolgungsgeschichte über die Verfolgung einer anderen Minderheit in der Türkei zu thematisieren. D.h. anders als die Großmutter, die von der eigenen Verfolgung als Alevitin spricht, greift die Mutter Elif Toprak in Hinblick auf die Verfolgungsgeschichte auf die Geschichte einer anderen Minderheit, die der 153 Dieses Phänomen ist auch in der afroamerikanischen Gemeinschaft in den USA zu beobachten, in der das Konzept des „starken schwarzen Mannes“ durch die Rassismuserfahrungen in den USA im Widerspruch zur Alltagserfahrung steht. Dies drückt sich z.B. in der Sprache der Mütter ihren Töchtern gegenüber so aus, dass sie bezüglich der Sicherheit nicht auf einen Mann hoffen sollen, denn „wie sollen schwarze Männer schwarze Frauen retten, wenn sie sich selbst nicht helfen können“ (Debold/Malavé/Wilson 1994: 125).
5.3 Elif Toprak
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Armenier, zurück. Dabei steigert Elif Toprak gleichzeitig die Bedeutung der Verfolgung für die Lebensgeschichte dahingehend, dass sie sich in ihrer Erinnerung an ihre Kindheit als ein ‚allein verfolgtes Kind darstellt. Allein und ungeschützt zu sein ist ein bestimmendes Lebensgefühl bei der Biographin. Für sie ist die physische und emotionale Vernachlässigung durch die Mutter ein manifestes Thema. Ihr Erleben der Mutter als autoritäre und stets kontrollierende Angst- und Gewaltfigur hindert Elif Toprak, ihre Geschichte im Kontext ihrer Familiengeschichte einzubetten. Hinzu kommt, dass ihre Mutter in ihrer Familie auch diejenige ist, die über ein besonders gutes Gedächtnis in Bezug auf die politische(n) Verfolgungsgeschichte(n) verfügt, also für die Tradierung der Kollektivgeschichte zuständig ist. Den Vater erlebt sie, im von der Mutter dominierten Familienalltag, als depotenziert. So drückt sich die Tradierung der familialen Verfolgungserfahrung bei Elif Toprak in ihrer Konstruktion eines „Fremdkörpers“ in der eigenen Herkunftsfamilie aus. In der Schule repräsentiert der Lehrer die mehrheitsgesellschaftliche Angstfigur. Es zeigt die Brisanz des Themas „Schutz und Sicherheit“ für ihre Lebensgeschichte. So phantasiert sie in der Kindheit eine heile geschützte Welt (im Symbol des Gartens), aus der sie Gewaltinstanzen bewusst herausdefiniert (wie bereits zu Beginn der Datenerhebung angedeutet wurde: Vergessen als Bewältigungsstrategie). Sie konstruiert für sich das Bild eines geschützten, wohlbehüteten und nicht zur Verantwortung gezogenen Kindes. Dieses Bild wird bis zum 15. Lebensjahr konserviert. Der abrupte Übergang zum Erwachsenenleben in Form von der Schicht- und Fließbandarbeit mit 15 Jahren in der Bundesrepublik kann Hinweise dafür geben, dass die Jugend und Verselbstständigungsphase für sie problematisch war. Während des Überganges nach Deutschland wird die Altersdiskrepanz von drei Jahren zwischen ihrem offiziellen und biologischen Alter besonders bedeutsam. Ab diesem Zeitpunkt interpretiert die Biographin ihr Leben in der Spannung zwischen Außenanforderungen, wie bspw. der Arbeit bzw. der Erwachsenenrolle und ihrem Selbstgefühl, „noch Kind“ zu sein. Ebenfalls zeigen die Ergebnisse, dass das Gefühl des Alleingelassenseins im Migrationsprozess mit der Vernachlässigung in der Herkunftsfamilie zusammentrifft. Das Entfremdungsgefühl gegenüber der eigenen Familie und der eigenen Lebensgeschichte spiegelt sich in der Schwierigkeit wider, ihre eigene Lebensgeschichte nicht zusammenhängend darstellen zu können. Dies erschwert der Biographin, familien- und lebensgeschichtliche Themen als Gesamtbild in ihr eigenes Leben zu integrieren bzw. sich diese anzueignen. Die Kindheit und Jugendphase werden von der Biographin in einer Verkettung dramatischer Ereignisse präsentiert. Dabei erweckt sie den Eindruck einer stets verfolgten Frau. Durch die Migration nach Deutschland verliert die alevitische Abstammung ihre Gefährlichkeit, jedoch reproduziert sich das Gefühl der Verheimlichung der
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eigenen Abstammung und der damit verbundenen weiblichen Schutzlosigkeit. Mit der Geburt ihres ersten Kindes wird die Beziehungsproblematik mit der eigenen Mutter reaktiviert; sie weigert sich, die mütterliche Rolle für ihre neugeborene Tochter zu übernehmen. In Verbindung mit der kurz nach der Geburt erfolgenden Scheidung und dem wiederholten Zusammenleben mit ihrer Mutter erlebt sie sich erneut in der Rolle des „kleinen Mädchens“ und der „leidenden Mutter/Erwachsenen“. Sie reinszeniert damit ihre Beziehungserfahrung mit der Mutter auch für ihre Tochter. Eine zweite Ehe und weitere zwei Kinder steigern die Verantwortung und Alltagsbelastung als Berufstätige dahingehend, dass sie erkrankt. In diesem Zusammenhang kann ihre Krankheit auch als eine Leistung verstanden werden, sich in legitimierter Weise von den belastenden Rollenerwartungen zu distanzieren und Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse zu erhalten. Während ihrer Krankheit stellen die Töchter ihre Bedürfnisse zurück. Erst im Zuge der auftretenden Krankheit scheint sie einen sicheren, weil partiell anerkannten Ort zu finden. Die selbstgeleistete finanzielle Absicherung ermöglicht ihr, die familial tradierten, aber individuell erlittenen Existenzängste zu überwinden. Nachdem für die Biographin das familiale Thema der Armut bearbeitet zu sein scheint, setzt sie sich mit Hilfe der alevitischen Organisation mit der Frage der Zugehörigkeit und ihrer Mutterschaft auseinander. Ihre Tätigkeit in der alevitischen Gemeinde ermöglicht ihr, sich der Verfolgungserfahrung biographisch zu stellen. Sie bekommt hier die bisher fehlende Anerkennung für ihre heilige Abstammung. Im Zusammenhang mit der Geschichte der Herkunftsfamilie kann ihr dortiges Engagement als eine Verarbeitungsmöglichkeit ihrer Beziehung zu ihren Eltern gedeutet werden. Sie versucht, eine neue Beziehung zu ihren Töchtern und ihrem Ehemann zu entwickeln und befindet sich eine Zeitlang im Gleichgewicht. Nachdem sie sich psychisch wieder zu stabilisieren begonnen hatte, entwickelte sich eine Annäherung zwischen ihr und den Töchtern. Im Zuge dessen kommt es zu den Interaktionskonflikten zwischen ihren beiden Töchtern Miriam und Nuray, u.a. da sie von ihren Töchtern die Übernahme sowohl von ihren eigenen Lebensvorstellungen als auch von Verhaltensformen erwartet, die auf ihrer Stellung in ihrer Gemeinde basieren. Ayla ist diejenige die ihr gegenüber loyal ist und Konflikte vermeidet, bis sie sich von ihrem Wunsch, zu studieren, distanziert.
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak) 5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak) „Naa was für ne Beziehung ich weiß nicht ((zurückhaltend lächelnd)) also Mutter. sehr wichtig (2) immer halt, immer man weiß dass für ein immer da ist dass sie sich um dich Gedanken macht. Aber wie gesagt dass ich mit ihr über die Probleme bespreche und (2) so war ich noch nie gewesen deswegen würde man von außen sagen wir haben gar kein Verhältnis also, obwohl wir uns lieben und so und alles okay ist (2) Aber ich finde es so, gut wie es ist yani [also] das ist nicht so dass ich was vermisse oder so (3) finde ich unser Verhältnis wenn ich höre was die andere so mit ihren Müttern durchleben, ist okay also.“ Ayla. 19 Jahre alt, 2003
Während der Erhebungsphase von 2000 bis 2003 habe ich mit Ayla drei Interviews geführt, die zusammen ungefähr fünf Stunden dauerten. Sie ist die jüngste von drei Töchtern in ihrer Familie. Ayla ist am Ende der Erhebungsphase 19 Jahre alt, macht nach mehreren Schulwechseln eine Berufsausbildung und wohnt bei ihren Eltern. Parallel zu ihrer Ausbildung jobbt sie, um die Kosten für ihr Auto zu decken. Ihr Ziel ist die Erlangung der Hochschulreife. Vor einigen Monaten trat bei ihr stressbedingt ein starker Haarausfall auf. Nachdem sich die haarlosen Flächen stark vermehrten, ließ sie ihren Kopf rasieren und ist zurzeit noch in Behandlung. Die Interviews wurden, bis auf das letzte, in dem Ayla abwechselnd deutsch und türkisch redete, auf Wunsch Aylas in deutscher Sprache geführt.
5.4.1 Interviewkontext Wie bereits bei der Falldarstellung ihrer Mutter Elif Toprak angeführt, lernte ich Ayla bei dem ersten Interview mit ihrer Mutter kennen. Meine Frage an sie, ob sie Interesse an einem Interview hätte, bejahte sie, zeigte sich jedoch nicht begeistert. Ich gewann den Eindruck, dass sie meiner Bitte hauptsächlich ihrer Mutter wegen zustimmte. In der darauf folgenden Zeit erhielt ich erst nach mehreren Versuchen eine Zusage für einen Interviewtermin von ihr. Das erste Interview fand an dem Versammlungsort der alevitischen Gemeinde statt, wo ihre Mutter engagiert ist. Vor unserem Treffen wäre ihr Musikkurs gewesen, der aber nicht stattfand. Sie kam gemeinsam mit ihrer Mutter, und beide haben trotz des ausgefallenen Kurses bis zu unserem verabredeten Termin gewartet. Dies zeigte ihr Interesse an einem Interview, auch wenn dabei vermutlich der Wille der Mutter ausschlaggebend war. Ayla war sehr elegant angezogen und geschminkt. Sie machte einen zurückhaltenden und ruhigen Eindruck. Während des Interviews hat Ayla meistens einen direkten Augenkontakt vermieden. Nur in den Momenten, in welchen sie argumentierte, nahm sie häufiger
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den Augenkontakt zu mir auf. Als sie über ihre Familie sprach, war ihre Stimme besonders gedämpft. Dies war für sie vermutlich ein unbehagliches Gesprächsthema. Das Interview beendeten wir früher als geplant, da es ihre Mutter und Schwester mit der Begründung unterbrachen, dass sie zu einer Verabredung gehen müssten. Das zweite Interview fand ein paar Tage später bei Ayla zu Hause statt, da war sie dann doch viel offener. Das dritte und letzte Interview mit Ayla fand ungefähr zweieinhalb Jahre später, nach meinem letzten Interview mit ihrer Mutter, statt. Wir trafen uns erneut bei ihr zu Hause. Sie war vor kurzer Zeit aus einem Urlaub in der Türkei zurückgekommen und trug ein Zandanna (hinten gebundenes, kleines, graues „Piratenkopftuch“) als Kopfbedeckung. Sie nahm auch bei diesem Interview wenig Augenkontakt auf. Sie wurde allerdings während dieses Gesprächs immer entspannter. So nahm sie in den letzten verbleibenden zwei Stunden ihr Zandanna ab. Diese Handlung habe ich als einen Ausdruck des zwischen uns entstandenen Vertrauens gedeutet. Sie sprach diesmal viel offener über ihre Kindheit und über ihre Konflikte mit ihrer familialen sowie außerfamilialen Umgebung. Besonders zur Rekonstruktion der Kindheit werden die von Aylas Mutter und Schwestern erfahrenen Daten berücksichtigt, da Ayla zu dieser Lebensphase eine sehr lückenhafte Erinnerung hat.
5.4.2 Rekonstruktionen der erlebten und erzählten Lebensgeschichte Zur Familiengeschichte Die Fallrekonstruktion zeigt, dass Ayla Toprak aufgrund lückenhafter Informationen über die Geschichte ihrer Eltern (in erster Linie die der Mutter) eine Familien- und Lebensgeschichte der Eltern rekonstruiert, die weitgehend auf eigenen Vermutungen beruht. Trotz erheblicher Lücken kennt sie die Familiengeschichte ihrer Mutter besser als die ihres Vaters. Ayla sagt, ihr Opa mütterlicherseits habe „im Blut hellseherische Kräfte“ – und durch ihn auch seine Frau, also Aylas Großmutter (Fatma Düzgün). Durch diese Fähigkeit könne die Großmutter sogar das vorhersehen, was hier in Deutschland innerhalb der Familie geschehe, „obwohl sie so weit weg ist, deswegen bekommt man von ihr Angst und so ((ängstlich lachend))“. In der ganzen Großfamilie ist die Großmutter Fatma Düzgün auch aufgrund dieser Macht eine Respektsperson. Somit gibt Ayla die Abstammung mütterlicherseits von einer Großmutter, die eine ‚Heilige‘ ist, ein Gefühl von Besonderheit. Ihre alevitische (‚heilige‘, ‚mystische‘) Wesensart liegt ihr im Blut, und sie identifiziert sich mit dieser Ab-
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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stammung und nicht mit der ihres Vaters. Dessen Herkunft ist ihr ziemlich unklar. Sie meinte, er stamme aus einem sunnitisch-kurdischen Dorf und habe anders als ihre Mutter „nichts mit Religion zu tun“. Er halte sich von diesem Thema und der alevitischen Organisation fern und habe sogar seine kurdische Sprache verlernt, weil er hier ausschließlich türkisch rede.154 Sprache und Sprachkenntnisse spielen bei der Bindung an die Vergangenheit bzw. deren Vermittlung und dem Austausch zwischen den Generationen eine wichtige Rolle. Für die alevitische Zugehörigkeitsdefinition im Familienkreis zu Hause ist die Mutter die einzige Bezugsperson, der Vater mit seinem familiären Hintergrund ist nicht präsent. Ayla kann mit ihrer Großmutter über die Familienvergangenheit oder ihre Abstammung nicht sprechen. Sie begründet dies damit, dass sie erstens keine guten Türkischkenntnisse hat und zweitens ihr die Sprache der Großmutter auch noch in besonderer Weise unverständlich ist: „Sie (war) ja froh dass wir da [in der Türkei] waren und so alles happy aber dass wir in Themen eingegangen sind nie ihr Türkisch ist ja anders sie redet ja anders (lachend) ich verstehe sie dann nicht sitze ich dann da hm hm hm. ((lachend))“ (III/10/2-4) Die Begegnung mit der Großmutter ist ein wortloses Erlebnis. Diese Sprachlosigkeit verdeutlicht, dass die mittlere Generation – die Generation ihrer Eltern – als Vermittler ausfällt. Die Abstammung bedeutet hier eine Verfolgung. Nur von ihrer Mutter weiß sie, dass deren Familie ihre Herkunft leugnen musste; vor allem während des Fastenmonats Ramadan mussten sie lügen und waren gezwungen, heimlich zu essen. Auf die Frage, was sie ihre Großmutter fragen würde, wenn sie beide eine gemeinsame Sprache sprechen würden, antwortet sie: „Also erstens würde ich wissen, wie sie mit der Situation klar gekommen ist dass sie versteckt, leben mussten (2) Eigentlich würde ich sie fragen ob sie stolz auf ihre Kinder ist. Also ob sie zufrieden=auch zufrieden mit ihrem Leben ist (2) Mehr so. dass es schwer war und so kann ich mir vorstellen Kinder das werde ich gar nicht fragen. Mit so vielen Kindern und so und Türkei und so (3) Aber ob sie, also zufrieden ist würde ich eher fragen (2) Aber ich glaube sie kann eher zufrieden sein (14)“ (III/23/29-34)
Die Fallrekonstruktion zeigt, dass die Themen, von denen Ayla sich wünscht, darüber mit ihrer Großmutter sprechen zu können, nämlich ‚als Aleviten versteckt leben zu müssen‘, ‚stolz auf die eigenen Kinder zu sein‘ und schließlich ‚mit dem eigenem Leben zufrieden zu sein‘ auch jene Themen sind, die Ayla noch heute mit ihrer eigenen Mutter besprechen möchte. Daher ist zu vermuten, 154 „Papas Familie spricht auch Kurdisch aber er verlernt es schon langsam (2) er redet ja nur Türkisch hier“ (III/11/5-6).
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dass die 14 Sekunden Pause am Schluss des Zitats für ihre Phantasien in Bezug auf beide Frauen (ihre Mutter und die Großmutter) stehen, die sie nicht aussprechen kann oder will. Ayla sagt, ihre Mutter und ihre Großmutter stünden sich nicht nahe: Ihre Mutter Elif besuche ihre Großmutter Fatma Düzgün nur, weil sie als Tochter pflichtbewusst sei. Der Kontakt zu den Großeltern väterlicherseits ist abgebrochen, seit die Großmutter gestorben ist. Die Kontinuität der Familienbindung wird über die Frauen vermittelt bzw. gesichert. Ayla kennt die Geschwister ihres Vaters nicht. Wenn auch die Bindung an die Verwandtschaft mütterlicherseits existiert, so wird sie immer lockerer; Ayla selbst kann weder die Zahl noch die Namen ihrer Onkel und Tanten angeben. Die Lebensgeschichte ihrer Mutter Elif Toprak kann Ayla aufgrund der lückenhaften und manchmal widersprüchlichen Informationen, die sie besitzt oder an welche sie sich erinnert, nur mit eigenen Vermutungen in unterschiedlichen Versionen entwerfen. Sie erzählte die folgende Version im ersten und eine andere im letzten Interview: Einmal sei ihre Mutter mit 18 Jahren – in einem sehr jungen Alter – mit ihren älteren Schwestern nach Deutschland gekommen. Die Großmutter Fatma Düzgün habe das Vorhaben ihrer Tochter unterstützt, weil ihre Tochter in Deutschland ein besseres Leben hätte. Aufgrund der erlittenen Verfolgung, Lebensbedrohung und Armut wird die Trennung als deren ‚unvermeidbare Folge und ‚das Verlassen der bestehenden Lebensbedingungen als eine Rettung tradiert. Dennoch sei die Trennung ihrer Mutter von deren Familie mit Angst und Unsicherheit verbunden gewesen. Aus Geldmangel habe ihre Mutter in den ersten Jahren mit deren beiden Schwestern zusammen (vermutlich in Hamburg) gewohnt und unter ungünstigen materiellen Lebensbedingungen gelebt. Armut wird als Familienverhältnisse zerstörendes Element tradiert. Ihr Vater Ekrem Toprak kam später nach Deutschland und „sobald er ankam, fing er an im Imbiss (zu arbeiten)“. Mit der Aufnahme dieser Arbeit habe der Vater der Familie ein gesichertes Leben ermöglicht und die Rolle des (Mit)-Ernährers übernommen. Neben dieser Version, die um das Thema der Verbesserung des Lebens der Familie durch wirtschaftlichen Aufstieg zentriert ist, gibt es eine andere Version, welche die zweimalige Eheschließung der Mutter in den Mittelpunkt rückt. Über die Zeit vor der zweiten Eheschließung wird in der Familie kaum gesprochen, daher kann Ayla sich diese Zeit kaum erschließen. In dieser Version war die Mutter vermutlich schon mit dem ersten Ehemann verlobt, bevor sie nach Deutschland kam. Ungefähr zwei oder drei Jahre nach der Eheschließung ließ sie sich scheiden und holte Aylas Vater Ekrem Toprak als zweiten Ehemann aus dem Dorf nach Deutschland. Über das Arbeitsleben ihrer Mutter hat Ayla nur lückenhaftes Wissen; Ayla selbst hat keine eigene Erinnerung daran. Ihren Vater erwähnt sie auch in dieser Version
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immer nur im Zusammenhang mit seiner Arbeit und seiner Abwesenheit von zu Hause. Er bleibt, aus der Darstellungsperspektive von Ayla, in der Rolle als einer der ArbeitsmigrantInnen der ersten Generation, die aus dem Dorf kamen, hier nur arbeitete, sich daher nicht um die Kinder kümmerte und aus dem Familienleben (mit der Mutter und den drei Töchtern) ausgeschlossen blieb.
Rekonstruktion der Lebensgeschichte von Ayla Kindheit und Krankheit der Mutter Ayla kommt 1984 in einer gesundheitlich kritischen Phase ihrer Mutter durch eine Kaiserschnittgeburt auf die Welt. Wie ihre ältere Schwester Nuray wird auch Ayla durch ihren Vater benannt. Infolge des sich zunehmend verschlechternden Gesundheitszustands der Mutter steht im Mittelpunkt des Familienlebens nicht der Säugling Ayla, sondern die Mutter selbst. Aylas erste Jahre sind von der Krankheit der Mutter und Problemen in der Familie gekennzeichnet. Sie erhält aufgrund der Rahmenbedingungen ihrer Geburt schon als Säugling die Botschaft ihrer Mutter, ein ‚stilles und ruhiges Mädchen‘ zu sein sowie ‚keinen Raum für ihre Bedürfnisse‘ zu fordern. Da die Krankheit der Mutter in den weiteren Jahren zu einer Frühverrentung führt, ist Aylas Geburt ein Wendepunkt in der Familiengeschichte. Die Ergebnisse der Fallrekonstruktion zeigen, dass Ayla durch die Begleitumstände ihrer Geburt schon in dieser Zeit das Gefühl entwickelt, durch ihr Dasein als Kind für die Mutter eine Belastung zu sein. Statt ihre eigenen Bedürfnisse auszudrücken, nimmt sie Rücksicht auf die Mutter und achtet darauf, ihr nicht zur Last zu fallen. Die Mutter verursacht durch mehrmalige Nervenzusammenbrüche bei allen Töchtern Schuldgefühle; ihnen wird das Gefühl vermittelt, sie und die Arbeit seien es, die die Mutter krank machten. Aufgrund der seit ihrer Geburt erlebten Distanz und impliziten Ablehnung durch die Mutter idealisiert Ayla diese. In ihrer Kindheit sind es eher die Schwestern, zu denen sie überhaupt eine Nähe entwickeln darf. Dadurch entsteht eine besondere Geschwisterbeziehung; die älteste Schwester übernimmt die Rolle der Ersatzmutter, obwohl sie selbst noch ein Kind ist, und die zweitälteste Schwester wird eher zu einer Konkurrentin um die Aufmerksamkeit der Mutter. Vermutlich ist Ayla noch nicht einmal ein Jahr alt, als ihre Mutter mit dem Besuch der psychiatrischen Tagesklinik beginnt. Die Frage, wer Ayla während der Krankenhausaufenthalte und in Abwesenheit ihrer Mutter betreute, kann aufgrund des fehlenden Wissens über diese Zeit kaum beantwortet werden. Den vorhandenen Informationen zufolge wird Ayla zur Betreuung abgegeben. Un-
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gefähr mit drei Jahren geht sie mit ihrer zwei Jahre älteren Schwester in denselben Kindergarten. Heute sind Aylas Erinnerungen an diese Zeit die folgenden: „Ich wurde ziemlich früh weil meine Mama hatte ja damals auch noch gearbeitet und so und sie kam nicht klar. Papa war auch mal nur am Arbeiten dann, denk’ ich mal das also (2) also wie gesagt so ungefähr vier, denke ich mal. So, ob das stimmt weiß ich auch nich müssen Sie meine Mutter fragen die weiß das. (2)“ (III/7/29-32)
Wenn Ayla heute über diese Zeit spricht, stehen ihre damals erlebten Gefühle („wurde ziemlich früh“) zu ihrem Wissen im Widerspruch. Was ziemlich früh mit Ayla geschieht und ob diesbezügliche Informationen stimmen, weiß nur die Mutter. Da Ayla die deutsche Sprache als ihre Erstsprache spricht, kann hier das Auslassen des diesbezüglichen Verbs nicht auf Sprachdefizite, sondern auf das fehlende Wissen über das, was passiert ist, oder auf die familiale Delegation zurückgeführt werden, dass nur ihre Mutter über deren Krankheit sprechen soll – Letzteres liegt durch den Verweis auf die Mutter nahe. Für die beiden Elternteile stehen im Familienleben stets die Arbeit und nicht die Kinder im Vordergrund. Ayla thematisiert nicht ihre erlebte Trennung von der Mutter. Sie sagt lediglich, dass sie, wie viele andere Kinder auch, in den Kindergarten ging. Dies zeigt ihre Normalisierungstendenz. Das heißt, die Daten, die mit Problemen zusammenhängen, werden weder von ihr benannt noch wird darüber in der Familie gesprochen. Die Mutter ist die einzige Person, die darüber sprechen darf. Auch heute noch bleibt es ein Geheimnis, was damals geschah. Die Krankheit der Mutter gehört zu den tabuisierten Themen des Familiendialogs, dadurch bleibt auch die frühe Kindheit für Ayla ungeklärt. Als Ayla ungefähr drei oder vier Jahre alt ist, geht die Mutter in Frührente. Durch diese Frühverrentung ändert sich im Familienleben nichts, da die Kinder weiterhin ihre Zeit im Kindergarten, in der Schule oder im Hort verbringen. Während des Interviews findet bei Ayla bzgl. ihrer Kindheit ein Erinnerungsprozess statt. Je öfter Ayla wiederholt, sich an nichts erinnern zu können, desto mehr Bilder aus der Vergangenheit fallen ihr ein. In diesen Bildern vermischt sich, was ihre eigene Erinnerung ist und was ihr erzählt wurde. Über die Einzelheiten wie „wir=sie=also dass wir sehr schwere Zeit hatten weil die Wohnung an sich war sehr schlimm“, „wahrscheinlich (war) nicht so dramatisch so deswegen vielleicht erst so aufgefallen als wir nach Wilhelmsburg umgezogen“, „unsere Maus gestorben es ist alles traurig“ erzählt sie im sequenziellen Ablauf zuerst aus der Perspektive eines Kindes und fügt danach die Rechtfertigung aus der Perspektive einer Heranwachsenden hinzu: Es war „nicht so schlimm“. Ihre Erinnerungen über die Kindheitserlebnisse sind ebenfalls sehr ambivalent.
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Aus der Falldarstellung ihrer Mutter Elif Toprak wissen wir bereits, dass das Thema Tod bzw. Sterben der Kinder schon in deren Kindheit ein zentrales Thema war und durch viele Todesfälle in der Familie ein aktuelles Familienthema geblieben ist. Die Frage an dieser Stelle ist, für wen „unsere Maus“155 steht. Geht es dabei um den Tod von etwas/jemand Kleinem (wie ein Kind) oder um den Verlust von etwas/jemand Geliebtem? Ihr sehr kontrolliertes Sprechen ist ein Hinweis auf eine selektive Erinnerung. Wobei ihr Erinnerungen an Erlebnisse außerhalb der Familie in oder mit ihrer Peergroup sehr wohl zugänglich sind. Sie und ihre Schwestern dürfen sich zu Hause nicht oft und lange aufhalten, weil ihre Mutter keine Geräusche ertragen kann, wie wir aus der Rekonstruktion der Lebensgeschichte Elif Topraks wissen. Daher gehen die Kinder oft nach draußen, um zu spielen. Das heißt, die Spielzeiten mit ihren Gleichaltrigen bedeutet für das kleine Mädchen Ayla mehr eine Pflichterfüllung als eine freudige Zeit („das war so Standard so jeden Nachmittag raus und spielen so ((Befehlston – prustend lachend))“). Ihr fehlt bei dem Versuch, eine autobiographische Erzählung hervorzubringen, eine sichere Basis, um über ihre Kindheit und über sich selbst zu sprechen. Als loyale Tochter ihrer Mutter muss sie sich an ihren Auftrag halten, ihre Mutter in Schutz zu nehmen, und sie darf die Zeit ihrer Kindheit nicht in Frage stellen. Wir kehren wieder zurück zur Interviewstelle und lesen weiter, wie sich anschließend ein Dialog zwischen der Interviewerin und Ayla entwickelt: „I.: Kannst du dich an eine Situation erinnern, wo ihr alle so traurig wart? A.: ich weiß noch wo ich ganz traurig war da kam Thema Tod ich weiß auch nicht warum so, vielleicht ist jemand gestorben an dem Tag oder, und ich hab dann angefangen zu weinen weil ich Angst davor hatte zu sterben, daran kann ich mich erinnern (3) Aber sonst, hm (leiser) (3) I.: Wer gestorben sein könnte...? A.: ob überhaupt jemand gestorben = vielleicht kam am Fernsehen das weiß ich auch nicht also ich dann achhh iich will nicht steeerben ((spricht wie ein weinendes Kind)) so“ (III/6/41-48)
Sie ist in dieser erinnerten Situation die Einzige, die mit den durch das „Thema Tod“ verursachten traurigen Gefühlen konfrontiert wird. Der Tod ist eine Bedrohung, und so erlebt sie diese Zeit auch. Diese Erinnerungen sind in dem Wohnzimmer der Familie lokalisiert; d.h. in dem Raum, in dem das gemeinsame
155 „Vor dem 6. Lebensjahr wird der Tod noch nicht eindeutig dem Menschen zugeordnet. Zwischen dem 6. und 9. Lebensjahr wird das Faktum klar akzeptiert: Menschen sterben.“ (Bürgin 1978: 57).
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5 Falldarstellungen
Leben der Familie – mehr das der Töchter und der Mutter, denn der Vater ist nicht präsent – stattfindet. Das Erlebnis, das sie aus einer ambivalenten Position zu rekonstruieren versucht, fand – nach der Falldarstellung ihrer Mutter zu urteilen – wahrscheinlich in der Zeit ihrer medikamentösen Behandlung statt. Die Einnahme von Medikamenten bedeutet für die Kinder, dass die Mutter oft einfach stundenlang bewegungslos auf dem Sofa liegt.156 Ayla erlebt diesen bedrohlichen Moment – ohne einen schützenden Elternteil – als emotionale Überforderung. Im Zusammenhang mit den Ergebnissen der Fallrekonstruktion der Biographie von Aylas Mutter Elif Toprak lässt sich ziemlich sicher sagen, dass ihre diffusen Erinnerungen und das Empfinden des Todes zusätzlich auch von tradierten Erinnerungen und Erlebnissen handeln können. Wie wir wissen, gehören die Themen Krankheit, Tod und Sterben (der Kinder) zu den Familienthemen. Kinder können nicht geschützt werden. Durch die Identifikation mit ihrer Mutter Elif Toprak wird das kleine Mädchen Ayla von diesem lebensbedrohlichen Moment so überfordert, dass sie ihr Erleben in dieser Situation dissoziiert und ihre Aufmerksamkeit auf die Wohnung richtet. Da ist „irgendwas abgelaufen“, woran Ayla sich nicht erinnern kann und will. Da sie in einer Familie aufwächst, in der die schmerzhaften Erinnerungen der Vergangenheit nicht thematisiert werden, lernt sie schon als Kind Vergessen bzw. Verdrängen als eine Bewältigungsstrategie. Diese Bewältigungsstrategie ermöglicht es ihr, sich auf die positiven Erlebnisse zu konzentrieren und in den weiteren Jahren ihre traurigen Erinnerungen als „abgeschlossen“ zu betrachten. Als Aylas Mutter das Migrationsprojekt zeitweise aufgibt und mit ihren Töchtern in die Türkei geht, ist Ayla sechs Jahre alt. Keines der Kinder weiß jedoch von dieser Rückkehrabsicht. Ayla kommt in eine Vorschule. Ihre erste Erinnerung fasst sie folgendermaßen zusammen: „[...] das [Türkische] war eigentlich das einzige Problem, fühle ich mich eigentlich überall wohl. Ich kann mich einleben sage ich mal so (4)“.
156 Bedeutend ist hier, auf das Konzept vom Piaget (1955/1974) über das Leben hinzuweisen. Dieter Bürgin fasst das erste Stadium dieses aus vier Stadien bestehenden Konzepts wie folgt zusammen: „etwa 3.-6. Lebensjahr: alles ist ,lebend‘, was eine Aktivität oder Funktion irgendeiner Art besitzt, die für den Menschen nützlich ist (z.B.: eine Kerze lebt, wenn sie brennt; sie lebt nicht, wenn sie nicht brennt). Dieses klar anthropozentrische Konzept beschreibt die Bedeutung von ,leben‘ als: etwas tun oder sich bewegen können“ (Bürgin 1978: 54). An einer anderen Stelle sagt er: „Das dreijährige Kind versteht den Tod noch nicht.“ Es interessiere sich aber schon sehr für „die Ursprünge des Lebens. Auch das vierjährige gibt dem Tod nur eine limitierte und vage Bedeutung. Manchmal besteht eine aufkeimende Verbindung von Tod mit Sorge und Traurigkeit. Für das fünfjährige Kind heißt Tod Fehlen von Lebensattributen. Tod/Bewegungslosigkeit/Alter und Leben/Bewegung/Jugend sind miteinander verbunden.“ (Bürgin 1978:59).
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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Anders als ihr sonstiges allgemeines Selbstempfinden ist der Familienalltag geprägt von tagtäglicher Unruhe. Über diese Zeit sagt sie: „Also sehr viel reden wir darüber nicht (2) Aber Nuray hat sich immer darüber beschwert gehabt. Von Miri habe ich wenig gehört. Nuray hat jeden Tag da praktisch Terror gemacht, äh zu Hause‚ das halte ich hier nicht ausss‘. Sie war eher frei denkend und das musste alles diszipliniert sein, und damit kam sie glaub ich nicht klar. Jeden Morgen Chor singen157. Jeden Tag (haben die Lehrer) Mama gerufen, Mama war dann aufgeregt also ‚erziehen Sie sie oder ich. Ich mach schon meinen Job, machen sie ihren also. War dann hin und her dann meinten sie denn ach zurück.“ (III/9/44-49)
Während Ayla hier die Rolle einer anpassungsfähigen Tochter übernimmt, die der Mutter keine Probleme bereitet bzw. loyal ist, bleibt ihre Schwester Nuray in der Familienerinnerung bis heute durch ihr auflehnendes Verhalten verantwortlich für das Scheitern des Rückkehrprojektes. Ayla erlebt hier, dass Kinder zu Sündenböcken innerhalb der Familie gemacht werden, wenn sie sich nicht anpassen. Ferner erlebt sie am Beispiel ihrer Schwester, dass auch ihre Mutter in ihrer Rolle in Frage gestellt wird, wenn z.B. in der Schule Konflikte existieren oder wenn ihre Kinder nicht gehorchen. Das Zurückkehren nach Deutschland in die alte Wohnung bedeutet neben einem gemeinsamen Leben mit ihrem Vater auch, dass Ayla sich erneut trennen und anpassen muss. Die vielen Beziehungsabbrüche führen bei Ayla zu einer erheblichen sozialen Kompetenz und erzeugen auch soziale Kompetenz.
Schule und Familie Nach ihrer Einschulung sucht Ayla dort nach einem Familienersatz. Als Ayla in die zweite Klasse kommt, zieht die Familie – nach dem beruflichen Selbständigwerden des Vaters – in eine bessere Wohnung um. Ärmliche Wohnverhältnisse werden ein Synonym für die engen und problematischen Familienverhältnisse, die sie wie die Wohnung und die dazugehörigen Erinnerungen hinter sich lassen. Der Umzug bedeutet im Familienkontext den Anfang eines sozialen Aufstiegs. Für Ayla bedeutet dies den Beginn einer erfolgreichen Schulkarriere und sicherer Bindungsmöglichkeiten. Ayla beginnt ihre selbst strukturierte Eingangsdarstellung beim ersten Interview mit diesem Wechsel; geboren in enger Räumlichkeit und aufgewachsen in Wilhelmsburg. Darin führt sie ihre Familie 157 In der Türkei fängt der Unterricht in den staatlichen Grundschulen damit an, dass die Kinder die Nationalhymne singen.
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5 Falldarstellungen
als „fünf Leute“ in einem engen Raum ein und anschließend ihre Schulerfahrung „Lehrer waren zufrieden mit mir, war immer also ruhig und anständig und so //hm// Und: (2) hm beste Freundin hab ich da auch gleich gefunden (2) hm (2) die Klasse insgesamt war ganz eng verbunden“. Die Schule stellt sie im Kontrast zu den engen Lebensbedingungen als positiv erlebte enge Bindung dar. Die Schule wird in den folgenden Jahren durch ihre soziale Bindung und den Erfolg zu einem sicheren Ort, was sich in ihrer Sprachwahl (deutsch) äußert. Mit neun Jahren erfährt Ayla zum ersten Mal von ihrer Schwester Nuray, dass ihre Mutter schon einmal verheiratet gewesen war. Ihre Erinnerungen an diesen Tag sind: „Ich weiß dass wir draußen waren und meine, mittlere Schwester (Nuray) zu mir kam und sie meinte weißt du was ich hab gehört (2) hm halb halb ((kurzes Lachen)) was ist und dann hat sie erzählt Mama war schon mal verheiratet und so ((sehr leise)) (2) und ich war und also so von wegen ist doch mir egal meine Schwester. Und weil ich so klein war und gehe ich nicht zur Mama und steche sie mit Fragen und so (2) das war meine Schwester und Schwester das reicht ((prustendes Lachen)) (2)“ (III//15/23-28)
Ayla erfährt hier über eine vor ihr geheim gehaltene Lebensphase der Mutter und der ältesten Schwester. Diese Information erzeugt bei ihr Unsicherheit und Verlustangst. Die Möglichkeit des Fragens schließt sie aufgrund ihres machtlosen kindlichen Daseins („weil ich so klein war“) aus. Das Fragen verbindet sie bereits in diesem Alter mit Schmerzen und eigener Unsicherheit und vor allem damit, dass sie dadurch ihrer Mutter Leid zufügen kann. Der bildliche Ausdruck ‚Mama mit Fragen zu stechen zeigt, wie sehr das Fragen nach der Vergangenheit im Familiendialog ausgeschlossen ist. Nicht zuletzt ist es auch eine Verbildlichung der impliziten Wut auf die Mutter („steche sie mit Fragen“), weil diese ständig das Leben durcheinanderbringt und dem kleinen Mädchen kein sicheres Lebensgefühl bietet. Das Thema Schule verdeutlicht unterschiedliche Beziehungsformen zwischen Ayla und ihren Eltern. Zuerst zur Einstellung ihrer Mutter: Da eine erfolgreiche Schulkarriere für die Mutter ein nicht verwirklichter Kindheitstraum war, delegiert sie diesen Wunsch besonders an Ayla, die einzige unter ihren Töchtern, die ihr gegenüber loyal ist, die in der Schule gut abschneiden und anschließend studieren soll. Wie wir aus der Fallrekonstruktion der Biographie der Mutter wissen, macht sie die Schulangelegenheiten von Ayla (und auch der anderen Töchter) zu ihrer Hauptbeschäftigung, so als ob sie selbst in die Schule ginge und als ob Ayla für sie den nicht ausgelebten Traum verwirklichen kann. Ayla sagt dazu: „Sie hat ja nicht die Möglichkeit zu – in die Schule zu gehen und sie war nur bis Grundschule in der Schule (2) Denn hofft sie um so mehr dass ich
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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was aus meinem Leben denn mache, und, aber, ich bin da eher also (3) muss nicht so gezwungen kommen (2)“. (I/14/12-14) An Ayla wird nicht nur der unerfüllte Bildungswunsch ihrer Mutter delegiert, sondern auch ihr nicht erfolgreich gelebtes Leben. Ayla erlebt die Aufmerksamkeit ihrer Mutter in Bezug auf die Schule in der Form von Leistungsdruck bzw. als eine aufgezwungene Zukunftsperspektive. Sie kommt zwar als einzige Tochter auf das Gymnasium und weckt damit bei der Mutter die Hoffnung auf eine Bildungskarriere, dennoch wird dieses Thema in den folgenden Jahren immer mehr zu einem Konflikt zwischen ihr und ihrer Mutter. Aylas Vater hat schon vor der Ehe sein Universitätsstudium abgebrochen. Auffällig ist in Aylas Familie, dass trotz seiner Bildungsvergangenheit keine der Töchter von ihm eine Delegation in diese Richtung erhält. Ayla thematisiert die bildungsbezogene Vergangenheit ihres Vaters nicht. Das ist auch ein Ergebnis der Fallrekonstruktion; der Vater steht auch bei diesem Thema zu Ayla in Distanz. Er hat in der Familie eindeutig und ausschließlich die Rolle des Geldverdieners. Er lernt nach seiner Ankunft in Deutschland nur wenig Deutsch. Vermutlich wird durch seine mangelnden Deutschkenntnisse ein Bild des ‚bildungsfremden Dörflers in der Familie reproduziert und so sein Studium unsichtbar gemacht. Besonders durch die Loyalität zu ihrer Mutter, wie bisher an der Falldarstellung gezeigt wurde, und die besondere Beziehungskonstellation zwischen ihr und Ayla, bleibt Ayla von ihrem Vater auf der manifesten Ebene distanziert. Diese Distanz normalisiert sie auf der Präsentationsebene mit einer geschlechtsbezogenen Einstellung, indem sie sagt: „der war dann eher sonn altmodischer Typ was soll der mit Mädchen=also wenn er Sohn wäre okay aber vav derleselim [lass uns mal über die Sorgen sprechen] und sonst nä war nie ((kurz lächeln)) (2) ich glaube als Mädchen vermisst man das auch nicht.“ (III/15/39-41) Anders als das Leben mit ihrer ‚Ersatzfamilie‘ in der Schule, mit der Ayla eine sichere Beziehungsbasis erlebt, sind das Familienleben und besonders die Beziehungen zwischen ihrer Mutter und ihren älteren Schwestern, vor allem Miriam, in dieser Phase von starken Konflikten geprägt. Ayla selbst lässt in den Interviews diese konkrete Phase ganz weg. Die Nicht-Thematisierung ihrer Schwester Miriam und die Inschutznahme ihrer Mutter führt dazu, dass Ayla in späteren Jahren ihre Erinnerungen an ihre Schwester Miriam als fürsorgliche Person in ihrer Kindheit vergisst. Sie malt in allen Interviews von ihrer Mutter das Bild einer verständnisvollen, liebevollen Frau, die immer für ihre Töchter da ist. Sie kritisiert ihre Schwestern – vor allem Nuray – deshalb, weil diese sich gegenüber den Eltern (insbesondere der Mutter) nicht wie sie ,akzeptierend‘, sondern ,konfrontativ‘ benehmen.
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5 Falldarstellungen „Hm, also bei mir ist ja, ich habe ja gesagt, dass ich eher ruhig bin, meine mittlere (Schwester) [Nuray] eher so, sie sagt immer was sie denkt immer gleich alles raus. Und dadurch kommt sie mehr zur Konflikte als, wenn ihr [der Mutter], nur zu hören und okay und das auch dann machen oder so. Dann merke ich, dass sie sich mehr streiten als ebbend mit mir also, und sie fasst=meine Schwester fasst das ebbend so auf, dass sie eher sich nur also um mich kümmern und bloß nicht meckern und so, aber (1) also ich sehe das eigentlich nicht so (3) Aber ich kann sie auch verstehen, dass sie das so sieht also (2) ist nicht so, dass sie ganz falsch liegt.“ (I/5/25-32)
Durch ihre Ruhe und Zurückhaltung gelingt es ihr, in ihrem Verhalten das erwünschte Tochterbild zu repräsentieren. Je mehr sie mit ihrer Mutter ein stilles Bündnis schließt, desto mehr kommt sie mit ihren Schwestern in eine Konkurrenzsituation. Ihre schulischen Leistungen ermöglichen ihr, sich von ihrer Schwester Nuray abzuheben. Vor diesem Hintergrund ist ebenfalls die NichtThematisierung der Erkrankung ihrer Schwester Nuray zu sehen, die mit Beginn der Pubertätsphase, im Alter von ca. 14 Jahren, eine Hautkrankheit bekommt. Um diese Erkrankung anzusprechen, müsste sie auf die besagte Situation in der Familie eingehen. Abgesehen von den Konflikten zwischen ihrer Mutter und den Schwestern gibt es eine andere Veränderung in der Familie, als Ayla ungefähr 11–12 Jahre alt ist. Durch den Kontakt zu einer alevitischen Gemeinde werden ‚Abstammung und Zugehörigkeit zum Hauptthema. Ayla weiß zwar schon seit ihrer Kindheit, dass sie alevitischer Abstammung sind, aber was dies im Vergleich zu anderen türkischen Kindern bedeutet, weiß sie nicht („aber was es ist wusste ich nicht“). Wie bereits dargelegt, erlebt Ayla während des Rückkehrversuches ihrer Mutter in die Türkei, dass ihre Familie nicht einem Bild der Normalität in der Türkei entspricht. Möglicherweise hat damals das sechsjährige Mädchen – wie auch ihre Schwester – diese Schwierigkeiten mehr mit ihrem ‚Deutschländersein (Almanc) verbunden als mit ihrer alevitischen Abstammung. Da sich die Familie nach der Rückkehr nach Deutschland auf den finanziellen Aufstieg konzentriert, bleibt die Abstammung zunächst außerhalb der expliziten Familienthemen.
Alevitische Organisation und Schule Ihre Mutter gewinnt nach dem Eintritt in die alevitische Organisation hauptsächlich durch ihre heilige Abstammung als ‚Dedetochter (dede kz) eine besondere Bedeutung. Die Wiederentdeckung der eigenen Wurzeln und die Euphorie ihrer Mutter ermöglicht es Ayla, zu ihr eine neue Beziehung herzustellen: „Sie war sehr beliebt da und sie war fast jeden Tag da. Dadurch interessiert man sich
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auch was ist dann los da warum geht sie da.“ (III/18/18-19) Erneut steht die Mutter mit dieser Entwicklung im Zentrum des Familienlebens. Aber anders als in den Zeiten ihrer Erkrankung erlebt Ayla diese Entwicklung als Anerkennung in einer neuen Umgebung. Ayla entwickelt Empathie für ihre Mutter, weil sie durch die Anerkennung in der alevitischen Gemeinde beginnt, über ihr Leiden und die Verfolgungserfahrung in der Türkei zu sprechen. Durch die Mutter gewinnt auch die ganze Familie eine besondere Stellung, was Ayla Freude macht: „Also tragende Rolle gespielt sie war da Chef so da ((lacht kurz)) alles geregelt.“ (III/18/16-17) Wenn auch Ayla insgesamt durch die fehlende Aufklärung über die Abstammung den Grund dieser unerwarteten sozialen Anerkennung nicht versteht, übernimmt sie hier auch weiterhin den Auftrag ihrer Mutter, ihr gegenüber loyal zu bleiben, und geht in die alevitische Organisation. Sie drückt noch heute ihren Stolz auf die damalige Position der Mutter mit einem kurzen Lachen aus. Wenn sie heute an diese Zeit zurückdenkt, findet sie ihre Teilnahme an einer Cem-Versammlung für ihr zunehmendes Interesse an der alevitischen Gemeinde entscheidend. Sie sagt darüber: „Mama hat uns immer mitgebracht cem und so dann bisschen zugehört dann fing das Interesse an da haben angefangen türkisch zu reden habe ich dann verstanden wenn sie türkisch geredet haben dann gings Interesse los, dann fing türkische Musik an, und Saz [Langhalslaute] hat mich schon immer so fand ich immer schön dachte ich versuche ich mal.“ (III/16/23-27)
Wie bereits in Kapitel 2.3.2 eingeführt, ist Cem eine Zusammenkunft der Gemeindeangehörigen und der Moment des stärksten Zusammengehörigkeitsgefühls. Besonders Aylas Liebe zum Saz ist als Tradierung der emotionalen Bindung an die nicht verbalisierbare Abstammung zu verstehen. Wie die bisherigen Ergebnisse der Fallrekonstruktion zeigen, hängt Aylas ,Nichtverstehen‘ der türkischen Sprache mit ihrer Distanzierung von den problematischen Familienverhältnissen zu Hause zusammen. Dies kommt beim ersten Interview besonders auf der Präsentationsebene zum Ausdruck, da sie sich zu Beginn des Interviews absichern möchte, dass das Gespräch auf Deutsch geführt wird und bald darauf erklärt, dass sie immer Deutsch spricht und deutschsprechende Freunde hat. Die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die die religiöse Organisation der Aleviten ihr bietet, einer Gemeinschaft, die gleichsam die Form einer großen Familie hat, ermöglicht ihr eine neue Perspektive auf die eigene Familiengeschichte einzunehmen. Daher fängt sie an, Türkisch zu verstehen. In der Schule ist das Thema Zugehörigkeit bzw. Herkunft unter den Kindern und Heranwachsenden ebenfalls ein zentrales Thema. Ayla hat immer mehr Konflikte mit SchülerInnen türkischer Herkunft; sie sei kaum mit
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5 Falldarstellungen
türkischen SchülerInnen befreundet, hebt sie hervor. Sie spricht über diese Zeit in der Schule folgenderweise: „(…)Dann kamen die Kommentare glaube ich seid ihr müsliman [Muslim] ich, ein türkisches Mädchen kam es also dann dachte ich ja alle sind gleich ((lächelnd)) erst ab Wilhelmsburg, dann ging die Organisation los dann fing es na ich wusste dass es da unterschiede sind. Aber sehr viel interessier hat es mich nicht WEIL FÜR MICH MENSCH WAR MENSCH FÜR MICH ((Hände klatschend)) UND ICH WAR SOWIESO MEISTENS MIT DEUTSCHEN ZUSAMMEN UND DIE HABEN NIE FRAGEN GESTELLT DIE MEINTEN DU BIST EINFACH TÜRKIN DAS WAR’S DENN ((alles sehr laut schnell ausgesprochen)) und (2) Dann bin ich trotzdem zu alevitischen Organisation, hat weiter zugehört (2) aber erst ab der Oberschule ging es los langsam los ((langsam betonend)) Unterschiede und Kommentare und so (2)“ (III/17/3-12)
Zu erinnern ist hier, dass ihre Familie sich nach einer finanziellen Absicherung dem Thema der alevitischen Abstammung zuwendet. Da die Abstammung mit Unsicherheit und Angst verbunden ist, wird den Kindern deren Bedeutung verschwiegen. Als Eigendefinition orientiert sich Ayla an der Fremdzuschreibung ihrer deutschen Umwelt, der zufolge die Familie aus der Türkei kommt und Türkisch spricht, also Türken sind. Ihre hauptsächlichen Bezugspersonen sind SchülerInnen aus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sie mit „du bist einfach Türkin“ bezeichnen. Vor diesem Hintergrund reagiert Ayla in der Schule auf die differenzierteren Zugehörigkeitszuschreibungen unter den Kindern mit türkischem Hintergrund zunächst mit einer egalitären Einstellung. Das heißt Ayla hat gelernt, jeder Mensch mit türkischem Hintergrund sei ein ‚Muslim, d.h. hier ein Anhänger oder eine Anhängerin der sunnitischen Glaubensrichtung im Islam. Obwohl sie bereits während des mehrmonatigen Türkeiaufenthaltes erfahren hat, dass ihre Familie dort nicht als „einfache“ Türken wahrgenommen werden und ihr Anderssein in der türkischen Umgebung nicht anerkannt wurde, will sie durch dieses Anderssein, das auch eine verleugnete Familieneigenschaft darstellt, nicht erneut negativ auffallen. Ihre Begründung für ihr damaliges Verhalten aus heutiger Sicht („alle sind gleich“ bzw. „weil für mich Mensch war Mensch“) ist eine Form der Kompensierung der Konflikte, die einen ‚akzeptierenden‘ und nicht ,konfrontativen‘ Umgang kennzeichnet. Die erlernte Verdrängung der eigenen Abstammung ermöglicht es ihr, sich vor allem als ein angepasstes Mädchen von Mitgliedern der herrschenden Gesellschaft (nämlich den deutschen Freunden und Lehrern) anerkannt zu fühlen. Durch den Kontakt zur alevitischen Organisation betrachtet sie sich selber als „anders“, anders als ihre als sunnitisch orientierten türkischen Mitschülerinnen. An dieser Stelle soll an einen gesellschaftspolitischen Aspekt – die Zunahme der Repressalien des tür-
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kisches Staates und Militärs gegenüber den Aleviten in den 1990er Jahren – erinnert werden (siehe Kapitel 2.3.3), der wahrscheinlich auch bei Aylas Bekenntnis zu ihrer Abstammung eine bedeutende Rolle gespielt hat. Nach Aylas Bekenntnis fangen ihre deutschen FreundInnen an, ihr häufiger Fragen über ihr Leben als Alevitin zu stellen. Ayla ist zur Zeit dieser Ereignisse in Europa ungefähr 13–14 Jahre alt und wird – wahrscheinlich durch diese Ereignisse verstärkt – von ihren MitschülerInnen zur Expertin der Türkei bzw. der türkischen Geschichte gemacht. Um die Dynamik dieser Auseinandersetzungen und der daraus entstandenen Orientierung von Ayla verstehen zu können, wird im Folgenden eine lange Interviewpassage angeführt. Um den Sinngehalt der Passage wiedergeben zu können, gebe ich sie ungekürzt wieder. „I.: Du hast gesagt, dass du viel mit deinen Freunden redest und sie dich fragen, ob du dich diskriminiert fühlst usw. Kannst du etwas detaillierter darüber erzählen? A.: Also sie fragen mich wie ist in der Türkei und so was ist und ich sag ebbend dass, dass wir dort eher niedergedrückt werden und so, und dann erzähle ich ihn ebbend auch von Erzählung, was meine Mutter früher hatte und so was also wie sie gelebt hat in der Türkei. Und, hm, sie fragen mich auch so überhaupt Unterschiede zwischen, bisschen Sunniten und Aleviten und so. Und, hm, was, praktisch das Motto von Aleviten ist und worauf die Sunniten oder so eher achten. Und (2) und, auch manchmal fragen sie mich auch, ob meine Eltern auch so erzogen worden sind wie ich ebbend auch bisschen freier oder ob, sie mit der Generation bisschen lockerer geworden sind (2) Also sonne Fragen stellen sie mir denn, so weit ich kann also beantworte ich es ebbend. Also mit meinem Wissen, was ich ungefähr hab (2) I.: Hmhm. Und was sagst du da? A..: (2) Also: (3) ebbend zum Unterschied zwischen Sunniten und so, sag ich ebbend toleranter sind, und deswegen nicht gleich alles nein, und das DARF MAN NICHT, und alles was dagegen ist falsch, und du kommst in die Hölle oder so also. So in dem Sinne und so, und, überhaupt, wie, meine Mutter früher, also (3) Angst hatte zu sagen, dass sie Alevi ist und wenn die Leute das herausgefunden haben, dass sie auch so angespuckt wurde und so, also, dass sie richtig niedergemacht wurde und so. Aber, dass sie: also schon bisschen strenger erzogen ist, als wir, ist ja klar also, meine Oma ist bestimmt bisschen strenger als meine Mutter also, denke ich schon (2) Und dass sie ebbend nach der Generation bisschen lockerer wird aber ebbend die Tradition noch also aufrechterhalten wird, denke ich (2) hm (3) Und dass es in der Türkei, eigentlich fast nur Streit zwischen, hm Sunniten und Aleviten auch in den Schulen und sowas gibt und (2) die: auch sogar lügen also, sagen ich, ich mache jetzt jetzt oruç [Fasten während des Ramadans], aber machen das gar nicht, damit die nicht merken, dass die Alevi sind. Und auch dass die Lehrer, Schüler erziehen, du darfs keine Alevi sein, also immer so zu Gott und immer so, wie im Koran und so was steht (2) Und. dass hm: (4) Also mir kommt so vor, wenn ich so manchmal Haberler [Nachrichten] und so gucke, dass auch die Polizisten da irgendwie angestellt sind, wenn die Demonstrationen von Sunnis [Sunniten] sind, wird es
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5 Falldarstellungen normal in Hand gehabt, wenn es Alevi sind gleich raufhauen und in dem Dreh. Also ich erzähle es von meiner Sicht her also, ich weiß ja nicht, ob es wirklich so ist. Ja, also, das wars ungefähr (3) Das sind immer verschiedene Fragen, oder manchmal dieselben, oder was überhaupt das Schwert zu bedeuten hat, vor allem so kleine Fragen so. Oder auch ob meine Eltern Kopftuch tragen oder so also, also so kleine Fragen kommen dann auch (8)“ (I./12/4-40)
Auf diese Weise erhält die Schule, als ein öffentlicher Raum, die Funktion, sich mit den Fragen zu beschäftigen, die sie ihrer Mutter nicht explizit stellen darf. Zu Hause ist – besonders durch die Verbindung zur alevitischen Organisation – die Betroffenheit über die Ereignisse in der Türkei groß. Durch die dargestellte besondere Beziehung zu ihrer Mutter ist Aylas Identifikation mit ihr in Bezug auf ihre alevitische Zugehörigkeit so stark, dass sie, als eine in Deutschland Geborene und Heranwachsende, von einem in der Türkei unterdrückten kollektiven „Wir“ spricht. In ihrer Adoleszenz lernt Ayla ihre Abstammung durch ihre Teilnahme an den Aktivitäten der alevitischen Gemeinde in Deutschland auf ideale Weise mit ‚Toleranz, Offenheit und Herzlichkeit zu verbinden. In der Türkei jedoch steht die Abstammung, insbesondere für ihre Mutter, für Angst, Ablehnung, Erniedrigung und Unterdrückung, so dass Verleugnen oder Lügen die Mittel des gesellschaftlichen Überlebens waren. Im Prozess des Bewusstwerdens der eigenen Abstammung wird die Schule in der Türkei durch die Tradierung der Schulerfahrungen ihrer Mutter und Schwestern als ein Ort der Zwangserziehung zur sunnitischen Kultur erlebt. Durch die Repressalien der staatlichen Organe und der fundamentalistischen SunnitInnen gegen die AlevitInnen in der Türkei wird für Ayla die Wirklichkeit der erzählten Erfahrungen ihrer Mutter bestätigt. Die Türkei bedeutet in diesem Erfahrungszusammenhang einen Lebensort, an dem die Aleviten zur Unterwerfung, Demütigung, Stigmatisierung und Verfolgung verurteilt werden. Da sie durch die Teilnahme an den Veranstaltungen der alevitischen Organisation zu der Gruppe der Praktizierenden gehören, wird das Alevitentum immer ‚einem vor allem auf Verboten beruhenden orthodox-sunnitischen Islam‘ gegenübergestellt. Diese, auch für Ayla, ‚neu entdeckte‘ Zugehörigkeit bringt sie in der Schule gegenüber den türkischen SchülerInnen, die für sie durch die Kopftuch tragenden und orthodox-islamischen Muslimen repräsentiert werden, in eine besondere Position. Sie fühlt sich mehr zu ihren christlich-deutschen und nicht praktizierenden sunnitischen-türkischen Freunden hingezogen. So wird sie in der Schule aus der Perspektive ihrer deutschen KlassenkameradInnen zu einer Exotin. Im Zusammenhang mit ihrer Abstammung und in Anbetracht dessen, was die Angehörigen ihrer Elterngeneration in der alevitischen Organisation erzählen, sowie durch das, was sie in den Medien erfährt, wird Deutschland auch für die Jugendgeneration praktizierender Aleviten gewissermaßen zu einem sicheren
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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Ort. Vor diesem Hintergrund ist ihre absolute Anpassung bzw. ihre Forderung nach absoluter Anpassung der Nichtdeutschen an die Mehrheitsgesellschaft der BRD im folgenden Zitat zu sehen: „Ich denke mal auch, äh hm Türken, die: =also überhaupt Ausländer, die hier geboren sind, dass sie sich hm, anpassen müssen ebbend. Auch die deutsche, Tradition: Ich war sogar in der Schule=aber nur so also, ich war interessiert, hatt ich sogar Religion und evangelisch, hab mir zugehört, wie die da=also wie sie das so machen. Ich fand das also, ganz interessant, also da merkt man also ich lern auch die Kultur bisschen mit was sie da machen, warum es so bei den ist oder so (2) Und also auch, in der Schu=in der Klasse, Grundschule waren wir alle international, und hatte deutsche Freundin, denn hat man ebbend deutsche Familienverhältnisse gehört. In Gegensatz zu türkischen oder so, also man merkt dann praktisch immer, von Jahr zu Jahr immer, mehr von der deutschen Tradition auch mit (6) Und ich werde mich glaube ich auch gar nicht in der Türkei zurechtfinden, auch wenn ich Türkin bin, also mit den ganzen Regeln da und so (4) Ich werd mich da wahrscheinlich unwohl fühlen. Also ich werd lieber in Deutschland bleiben (6)“ (II/4/2-14)
Sie identifiziert sich durch ihre sozialen Bindungen in der Schule und durch die Erzählungen über die Türkei bzw. die dort gemachten Erfahrungen immer mehr mit der „deutschen Sprache und Kultur“. Ihre Mutter unterstützt ihre Orientierung, indem sie Ayla z. B. schon vor ihrem Eintritt in die alevitische Organisation erlaubt, am christlichen Religionsunterricht teilzunehmen, statt sie zum Türkischunterricht zu schicken. Die weitreichende Anpassung an die deutsche Mehrheitsgesellschaft und die damit verbundene Anerkennung ihrer deutschen Umwelt steht der Ablehnung durch die sunnitisch geprägte türkische Umwelt gegenüber. Sie wird von ihren KlassenkameradInnen türkischer Herkunft wegen ihres „Eingedeutschtseins“ kritisiert. Sie sagt darüber: „das ist ja nicht so, dass sie nicht versch=Deutsch verstehen deswegen, sage ich ich red’ lieber Deutsch, und sie, wollen immer, dass ich Türkisch rede, ich rede denn nicht aus Trotz so weiß du ((lacht)) Und dann denken sie kannst du kein Türkisch ((nachahmend)), wenn ich noch sage ich esse Schweinefleisch, ja du bist ja richtig Deutsch so in dem Dreh du redest kein Türkisch, du isst Schweinefleisch, du gehts abends öfters mal aus (2) hm: wer weiß ob du überhaupt mit deiner Eltern auf Türkisch redest. Dabei sage ich ihnen; ich kann Türkisch reden.“ (II/5/30-48)
Die Ergebnisse der Fallrekonstruktion zeigen, dass ihr zentrales Thema „Verwendung der deutschen oder türkischen Sprache“ in ihrer selbst strukturierten Selbstpräsentation mit ihren Erfahrungen in der Kindheit und der problematischen Familiengeschichte verbunden ist. Aylas Umgang mit der Sprache hat je
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5 Falldarstellungen
nach ihrem Erleben unterschiedliche Bedeutung: Die deutsche Sprache ermöglicht es ihr, sich auf Distanz zur Mehrheit der Türken zu begeben, ihren Protest zu zeigen sowie von den Autoritätspersonen ihres Umfelds und der Mehrheitsgesellschaft Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen. In diesem Zusammenhang kann ihr Insistieren auf dem Nichtsprechen der türkischen Sprache („aus Trotz“) im schulischen Kontext als ein impliziter Protest gegen das, was mit ‚sunnitisch-türkisch zusammenhängt, sowie als Ausdruck ihrer Solidarität mit ihrer Mutter gedeutet werden. Die deutsche Sprache hat in diesem Sinne für sie als Alevitin auch eine Schutzfunktion. Die Schule ist für sie einerseits ein Ort, wo sie sich von den zu Hause erlebten Konflikten und Problemen distanzieren kann. Andererseits kann sie sich dort mittels Anerkennung durch ihre LehrerInnen und durch die Bindungen an (überwiegend deutsche) Freunde behaupten. Daher versucht sie in vielerlei Hinsicht, die Erwartungen der Autoritätspersonen zu erfüllen, und passt sich an die Mehrheitsgesellschaft an. Die Strategie der Verleugnung der eigenen Abstammung verliert in den weiteren Jahren immer mehr an Stellenwert für ihre Familie; die alevitische Organisation ermöglicht sowohl ihr als auch ihrer Familie eine neue Form der Anerkennung und der gesellschaftlichen Achtung. Daher wird die Konfrontation mit den türkischen MitschülerInnen auch schärfer. Ayla wird von ihnen des Verrats ihrer türkischen Herkunft beschuldigt („du bist ja richtig Deutsch“), während sie von ihren deutschen MitschülerInnen als eine ‚nicht dazu Gehörende („du bist einfach Türkin“) definiert wird. Ihre deutschen Freunde, die sie schon Türkisch reden gehört haben, sind jedoch Aylas Alibi gegen den Vorwurf ihrer türkischen MitschülerInnen, dass sie „richtig Deutsch“ sei. Während sie in der Kommunikation mit ihren KlassenkameradInnen deutscher Herkunft detailliert über die Diskriminierungserfahrungen ihrer Mutter berichtet, wird sie in ähnlichen Auseinandersetzungen mit ihren KlassenkameradInnen türkischer Herkunft vorsichtiger. Wir verlassen nun den Schulalltag und betrachten zwei andere Aspekte: Aylas Bindung an die alevitische Organisation und den Familienalltag in der Familie Toprak. Beginnen wir mit der alevitischen Organisation: Als Ayla ungefähr 15 Jahre alt ist, nimmt sie an einem mehrtägigen Seminar der alevitischen Organisation zur alevitischen Lehre teil, das dem Einbinden der jungen Generation dienen soll. „Ab da bin ich ebbend öfters gekommen. Dann habe ich gehört, dass es Semah [alevitische Tanzrituale] gibt, da wollte ich auch Semah machen. Aber das hat dann irgendwie nicht geklappt, weil die = also die könnten nicht organisieren, das merke jetzt so bisschen. Die: hat öfters ausgefallen, das wurde mir nie Bescheid gesagt und so, das hat mich dann selber genervt, dann, dann wollte ich nicht mehr kommen, also war es mir bisschen=sagen wa’ mal beleidigt ((lacht)) Und dann gab’s wieder
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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eine Zeit, wo ich fast gar nicht gekommen bin glaube ich, also vereinzelt mal so, wenn so Veranstaltung, Cem oder so was gab’s. Jetzt komme ich wieder hin“ (I/10/5-15)
Die Fallrekonstruktion zeigt, dass Ayla einer Bindung an und Identifikation mit der alevitischen Organisation ambivalent gegenübersteht. Ayla hat andere Möglichkeiten, zu einer Peergroup Zugang zu finden. Sie ist auf die sozialen Bindungen in der alevitischen Organisation nicht angewiesen. Die abgeschwächte Beziehung wird durch ihre Mutter hergestellt, solange die Organisation auch dieser etwas bedeutet. Abgesehen von der Loyalität zur Mutter nutzt Ayla die alevitische Organisation zunächst als einen Ort für alternative Freizeitaktivitäten, der aber dafür nicht so gut funktioniert und auch nicht ihren Erwartungen entspricht. Durch den intoleranten Umgang der älteren gegenüber der jüngeren Generation widerspricht die Alltagsrealität den idealisierten Zuschreibungen des Alevitentums. Ayla distanziert sich nicht zuletzt wegen dieser intergenerationalen Konflikte von der alevitischen Organisation. Das Familienleben ist zu dieser Zeit durch den Tod des Ehemannes ihrer ältesten Schwester Miriam wieder von Themen wie Krankheit, Tod und Trauer gekennzeichnet. Ayla sagt zusammenfassend über diese Zeit: „Alle haben geweint auch mein Papa (hat) angefangen zu weinen, daher wusste ich dass es schlimm war“. Alle Aufmerksamkeit der Familie richtet sich zuerst auf Miriam, und ihre Eltern leiden mit ihr mit. Ayla distanziert sich nach diesem Todesfall erneut von ihrer Familie. „Sie finden alle schade aber sprechen sie nicht drauf an damit sie [Miriam] nicht traurig wird.“ Die dadurch entstandene Traueratmosphäre ist noch bis heute von Sprachlosigkeit und Nichtthematisierung gekennzeichnet. Neben diesem Trauerfall ist in Aylas Familienalltag die Beziehung ihrer Schwester Nuray zu einem rechts-nationalistisch orientierten sunnitischen Jungen in dieser Zeit bedeutsam.158 Die Handlungen der Mutter während dieser Konfliktphase widersprechen Aylas Vorstellung von Toleranz. Ayla spricht in keinem ihrer Interviews direkt von diesen Auseinandersetzungen zwischen ihrer Mutter und ihrer Schwester. Das erste Interview, das zu einer Zeit stattfindet, die sie als intensive Phase erlebt und in der sie ihrer Beschäftigung mit Hobbys nachgeht und gemeinsame Zeit mit den FreundInnen verbringt, überschneidet sich mit diesen Familienerlebnissen. Vor diesem Hintergrund ist zu vermuten, dass Ayla durch die Unruhe und Trauer zu Hause überfordert ist und auf Ab158 In den beiden Interviews mit Miriam und Nuray erzählen diese, dass nachdem die Mutter von dieser Beziehung erfährt und ihre Tochter davon nicht abhalten kann, sie Nuray aus der gemeinsamen Wohnung wirft, so wie sie ein paar Jahre zuvor bereits Miriam verstoßen hat, weil diese ihre moralischen Erwartungen nicht erfüllt und ihr nicht gehorcht hat.
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stand zur Familie geht. Sie wendet sich in dieser problematischen Phase ihren FreundInnen zu. Diese Distanz ermöglicht der Sechzehnjährigen, zu der sich immer stärker polarisierenden Beziehung zwischen ihrer Schwester Nuray – zu der sie eine relativ enge Beziehung hat – und ihrer Mutter keine Stellung beziehen zu müssen. Sie definiert sich in den gegebenen Familienverhältnissen in der folgenden Zeit immer mehr als: „Ich bin neutral“. Dem Moralverständnis ihrer Mutter entsprechen zu sollen/wollen, ist für Ayla stark mit dem elterlichen Vertrauen verbunden, und es erfordert eine beträchtliche Selbstkontrolle von ihr. Sie sagt, dass ihre Eltern wissen, dass sie vernünftig ist und sie ihren „Ruf nicht unnötigt so verschmutzen würde und so, und vertrauen mir also“. Ayla bringt in keinem Interview dieses Thema mit ihrer Familiengeschichte in Verbindung. Ganz im Gegenteil sagt sie: „Also da, habe ich meine Meinung selber gebildet, ich hab nicht von meiner Eltern irgendwie mitbekommen oder so, du darfs nicht, du darfs nicht (5) I.: Aber ihr habt schon mit deinen Eltern darüber gesprochen? A.: Ebbend nicht direkt. Deswegen, dass ist ja das Schöne daran, man sagt das nicht direkt aber man, schlussfolgert das also irgendwie“ (I/8/6-11)
Aylas ‚akzeptierende‘ Haltung und die seit ihrer Kindheit verankerte Loyalität zu ihrer Mutter führt dazu, dass sie die normativen bzw. moralischen Erwartungen ihrer Eltern (vermittelt durch die Mutter) bzw. den Familienauftrag als ‚eigene Meinung verinnerlicht. Aus den Konflikten zwischen ihren Schwestern und ihrer Mutter „schlussfolgert“ Ayla die Vorgaben ihrer Eltern, vor allem ihrer Mutter. Da die moralischen Erwartungen Ayla nicht verbal vermittelt, sondern durch Handlungen tradiert sind, wirken sie umso nachhaltiger. Dadurch sind sie auch umso schwerer in Frage zu stellen. Ayla übernimmt in diesem Fall folgenden Auftrag ihrer Mutter: Sie soll durch ihr vorbildliches Verhalten die früheren negativen geschlechtsspezifischen Erfahrungen der Frauen sowie die abwertenden Zuschreibungen über die Frauen ihrer Familie (gemeint ist auch die Familie mütterlicherseits) wiedergutmachen. Dies bedeutet für Ayla eine belastende Bindung zu ihrer Mutter, die nach den Ergebnissen der Fallrekonstruktion, ihre Autonomieentwicklung einschränkt. Der Vater, der mit seiner Lebensweise als immer abwesend und/oder schlafend in einer anderen Lebenswelt als die restlichen Familienmitglieder präsentiert wird, wird trotz seiner faktischen und emotionalen Abwesenheit im Familienalltag von der Mutter als Autoritätsinstanz gegenüber ihren Töchtern herangezogen. Die Botschaften und Erwartungen an die Töchter werden indirekt vermittelt, es fehlt die direkte Kommunikation zwischen dem Vater und den Töchtern. Bei dem ersten Interview, als Ayla 16 Jahre alt ist, spricht sie von ihrem Vater als einem Menschen, der sich an sie wendet, wenn er mit seiner Frau
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Probleme hat. Auch in den Augen ihres Vaters steht Ayla ihrer Mutter zu Hause am nächsten. Dessen ungeachtet erlebt Ayla seinen Umgang mit ihr als eine Bestätigung und Verstärkung ihrer Selbstbeschreibung als einer „vernünftigen“ Heranwachsenden, die ihrem Vater auch als gute Ratgeberin dienen kann. Dennoch fehlt ihr durch die distanzierte Beziehung zu ihm ein Vater, dem sie auch ihre eigenen Probleme mitteilen kann. Die Fallrekonstruktion zeigt deutlich, dass diese Distanz zum Vater mit der Loyalität gegenüber ihrer Mutter verkoppelt ist. Ayla darf keine anderen Vertrauensbeziehungen haben, nicht zum Vater und nicht zu den Schwestern – jedenfalls nicht, wenn es deshalb zu einem Konflikt mit der Mutter kommen könnte. Besonders während der ersten Erhebungsphase steht Ayla in einem intensiven Loyalitätsverhältnis zu ihrer Mutter, die jedoch für sie selbst abwesend ist. Der Auftrag, den sie von ihrer Mutter erhalten hat, hindert sie, ihre Mutter als eine erwachsene Frau, die sie im Leben begleiten und ihre zentrale Bezugsperson sein soll, in Anspruch zu nehmen. Sie beantwortet die Frage nach ihrer Beziehung zu ihrer Mutter in der ersten Erhebungsphase folgenderweise: „Also ich finde sehr gut (4) Wir können uns alles sagen (2) Und meistens habe ich ((ab hier lächend)) nicht sehr viel zu sagen weil ich meine Probleme selber löse irgendwie ((lächelnd)) oder, mit Freundinnen bespreche (3)“. (I/14/6-9)
Schulwechsel und Krankheit Ayla sucht ihre Freunde oder Schwestern auf, wenn sie selbst Hilfe und Unterstützung braucht. Ihre Beziehung ist in diesem Zusammenhang durch eine Rollenumkehrung gekennzeichnet. Ayla sagt: „das einzige Konflikt [zwischen ihr und ihrer Mutter] ist die Schule“. Über diesen Konflikt sprechen sie, „aber auch nicht so, dass man sich gegenseitig anbrüllt oder so“. Ihre Mutter äußert ihre Erwartungen auch durch emotionalen Druck. Vor diesem Hintergrund hat Ayla eine klare Vorstellung, wie sie ihrer Mutter Freude machen kann: „Wenn ich mein A-bi-tur bestehe.((lacht)) und stu-die-re ((lachend)) (2) Ja ihr Wunsch ist eigentlich nur das, dass ich ebbend was Höheres werde ebbend mit Abitur und sowas (2)“ (II/6/3-5) Ayla hat in vielerlei Hinsicht die Rolle der Hoffnungsträgerin für ihre Mutter inne. Keine ihrer Schwestern hat einen gymnasialen Abschluss erlangt; sie symbolisiert in dieser Beziehung die letzte Hoffnung der Mutter.159 Ayla soll mit ihrem „Was-Höheres-Werden“ nicht nur den nicht verwirklichten Schulwunsch der Mutter erfüllen (all die nicht ausgelebten Lebens-
159 Vergleiche hierzu die Aussage ihrer Mutter bei meinem letzten Interview mit ihr: „Sie war unsere letzte Hoffnung, auch diese ist geplatzt.“
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wünsche, die auf den Erfolg in der Schule projiziert werden), sondern sie soll damit – vor dem Hintergrund der Lebensgeschichte ihrer Mutter – auch alle Erniedrigungs-, Unterdrückungs- und Demütigungserfahrungen ihrer Mutter reparieren. Als Ayla in die 10. Klasse kommt, steht sie unter einem enormen Erwartungsdruck. Sie verliert das Interesse an der Schule und bleibt in der 10. Klasse sitzen. Durch ihren Misserfolg verliert Ayla ihre soziale Ersatzfamilie in der Schule, die ihr zu Beginn der Schulzeit einen Halt gab und auch ein wichtiger Ort der Anerkennung war. Sie hat keinen unterstützenden Halt, um die für sie krisenhafte Zeit zu überstehen. Da ihr Selbstbild – eine erfolgreiche Heranwachsende, auf die ihre Lehrer stolz sind – durch den Misserfolg nicht mehr stimmt, kann sie nicht mehr in derselben Schule bleiben. Die einzige Lösung sieht die Siebzehnjährige in einem Schulwechsel, und so geht sie vom Gymnasium ab. Ihre Mutter ist von ihr enttäuscht, weil sie ihr keinen erfolgreichen Abiturabschluss schenkt, dies ist ein Wendepunkt in ihrer Beziehung, die Ayla stets als ein Gegenbild zu ihren Schwestern betrachtete. „Also finde ich dass ich mehr erreicht habe als meine Schwestern, die haben auch zwar 10. Klasse nicht aufgehört aber, ich hatte auch ja noch den Druck und so; du konntest ja schaffen, macht doch mal mehr und so was [meint ihre Mutter]. Die hatten nie den Druck irgendwie also (4) dann verstehen sie ebbend nicht wenn ich denn ebbend, mauere überhaupt gar kein Lust auf Schule und so was habe, und immer das selber wenn ich das immer dasselbe angehört kriege (2) Dass ich denn keine Lust hab oder so (2)“ (I/14/23-29)
Sie fühlt sich von allen Seiten unter Druck gesetzt, so dass sie zum ersten Mal anfängt, ihren Widerwillen zu zeigen. Ihr Misserfolg in der Schule und die folgenden Erlebnisse bedeuten für Ayla einen Befreiungsversuch von den Erwartungen ihrer Familie. Das ist vermutlich eine Anfangsphase ihres Ablösungsprozesses von ihrer Mutter. Ihre Mutter besteht jedoch weiterhin darauf („immer die Schulsachen“), dass Ayla doch einen gymnasialen Abschluss erreichen soll. Jedoch insistiert sie erfolglos darauf, denn Ayla hat inzwischen eine negative Einstellung zur Schule. Rückblickend fasst sie die entstandene Distanz zu ihrer Mutter folgendermaßen zusammen: „Dadurch dass sie mit sich unzufrieden ist, spiegelt es sich schnell bei uns wider vielleicht deswegen der Abstand oder so keine Ahnung (4)“ (III/18/47-48) Im gleichen Jahr geht Ayla mit einem sunnitischen Jungen in der Türkei eine kurze Fernbeziehung ein. Dies ist auch als ein Protest zu betrachten. Als ihre Mutter davon erfährt, stellt sie sich gegen diese Beziehung: erstens, weil er sunnitischer Herkunft ist, und zweitens, weil sein Interesse, so vermutet sie, mehr Deutschland als ihrer Tochter gilt. Nachdem sie das Gymnasium verlässt,
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geht sie zu einer Berufsschule, in der sie wieder eine sie emotional unterstützende Atmosphäre findet: „Also das war einfach super ich weiß nicht du kamst einfach rein und alle JAAA ((glücklich lächelnd)) alle begrüßen sich und alles ist okay und die Lehrer sind auch voll auf dich eingegangen, weil wir nett waren und sympathisch und nicht so frech, und wenn was organisiert werden musste nicht jede hm macht du das macht du das sondern lass uns mal zusammen machen und es hat geklappt so (1) Lehrer waren alle immer stolz auf uns ((lächelnd)) (5)“ (III/3/45-50)
Je konfliktreicher ihr Familienalltag wird, desto wichtiger werden erneut die Bindungen an die Welt außerhalb der Familie. In der neuen Schule bekommt Ayla erneut das Gefühl von Anerkennung und Erfolg. In dieser Schule überwiegen SchülerInnen mit türkischem Hintergrund. Die Abstammung wird zwar auch hier erneut zum Thema, doch geht Ayla damit distanzierter um, denn ihre Bindung an die alevitische Organisation ist inzwischen abgeschwächt. Da die Schule ihr den benötigten emotionalen Halt gibt, ignoriert sie nicht nur die Beleidigungen ihrer KlassenkameradInnen. Sie übernimmt darüber hinaus auch die Rolle der vernünftigen Heranwachsenden, die Auseinandersetzungen nicht emotional, sondern rational führt und auf die Wissensdefizite ihrer KlassenkameradInnen zurückführt. Die folgende Interviewstelle zeigt die Umgangsweise der 18-jährigen Ayla mit diesem Thema: „… die wissen gar nicht zu diskutieren so die würden denken das ist richtig ist und das ist falsch wenn du deine Argumente und die sind richtig so dann wissen sie nicht weiter. So blöde Kommentare. Zum Beispiel hat ne’ türkische bozkurt [türkischer Rechtsradikaler] ne’ Christen gefragt so’ würdest du zu Müslüman [Islam], umwechseln (würdest du zum Islam konvertieren) so dann meinte er ‚nein (2) Und ‚warum denn nein er ‚immer schon so gewesen man wechselt einfach nicht und sie meinte dann sie‚ würdest du denn Christen wechseln sie iih ((abweisend)) ööh ((sich ekelnd)) ‚warum denn du nicht also weiß du. Dann meint sie ‚nä’ wie äh voll eklich und so. Dann meinte ich Müslüman Christen in Müslüman enthalten ist und so du kannst nicht abwertend=sie wusste gar nicht darufmal zu antworten also. Sie wusste gar nichts sie wusste von ihren Eltern Türkin. Müslüman. Sonst nicht. ((alles in sehr autoritärem Ton ausgesprochen)) ich verstehe gar nicht warum sie Juden so schlecht machen. Judentum ist auch in Müslüman bisschen enthalten. Ich weiß gar nicht, fand ich immer schwachsinnig. Und dann wenn wir argumentiert haben so, na, kann nicht sein oder was weiß ich. Okay. Da wollen wir nicht streiten ((kurz lächelnd)) da war ich dann zurückhaltend. Ich höre mir das dann mehr das dann an (1) und dann lasse ich paar Kommentare und so. Nutzt ja auch nicht. Die sind dann so aufgewachsen dass denn egal ist manchmal was ich da erzähle.“ (III/17/16-28)
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Drei Elemente sind an dieser Interviewstelle auffällig: Erstens betrachtet Ayla die Zugehörigkeit zu einer Religionsgruppe als etwas Angeborenes und nicht als etwas frei Gewähltes. Zweitens bringt/sieht Ayla im Kontext der Schule ihre türkisch-muslimischen KlassenkameradInnen gegenüber den Christen in der Position einer Mehrheit oder sogar in der einer dominanten Mehrheit. Möglicherweise projiziert sie mit diesem Bild einer Dominanz der türkischmuslimischen (sunnitischen) SchülerInnen ihre eigenen und die familialen Erfahrungen von Abwertung und Ablehnung, die sie durch die Zugehörigkeit zur alevitischen Religionsgemeinschaft erlangt hat, auf ihre christlichen MitschülerInnen. Das dritte Element entsteht anscheinend als Folge der beiden oben genannten, indem sie sich in der Auseinandersetzung zwischen ihren muslimischen und christlichen KlassenkameradInnen in die Rolle einer außenstehenden, emotional distanzierten und ‚rationalen Person begibt. Diese Haltung ermöglicht ihr, sich vor diesem abwertenden Verhalten zu schützen. Durch ihre Einmischung, in der Position einer nicht betroffenen Dritten ihre unwissenden muslimisch-türkischen KlassenkameradInnen mit ihrem religionshistorischen, die Gegensätze ‚übergreifenden Wissen zu belehren, übernimmt sie die Rolle einer aktiv Handelnden, die sich gegen Diskriminierung und Stigmatisierung wendet. Ayla sieht alle großen Religionen als miteinander verbunden bzw. zusammenhängend und führt das andere Menschen abwertende Verhalten ihrer muslimisch-türkischen KlassenkameradInnen auf eine falsche Erziehung durch deren Eltern zurück. Trotz ihrer aktiven Rolle im distanzierten und kognitiven Umgang mit ihren türkisch-muslimischen KlassenkameradInnen bemüht sich Ayla bei solchen Diskussionen in der Schule doch, sich „neutral“ und „zurückhaltend“ zu benehmen, damit sie in keine konfrontative Situation kommt. Die familiale Erziehung ihrer türkisch-sunnitischen KlassenkameradInnen ist in dieser Auseinandersetzung der Grund für ihre Hoffnungslosigkeit. An einer anderen Stelle jedoch ist es die Form des Familienlebens, wo sie im Vergleich zu ihren christlich-deutschen KlassenkameradInnen mehr Ähnlichkeiten zwischen alevitischen und sunnitischen KlassenkameradInnen sieht. Diese Parallelen fasst sie in den beiden Maximen zusammen, „viel Wert auf Familientradition“ zu legen und auf den eigenen Ruf als junge Frau „ebbend bisschen mit Jungs“ aufzupassen. Auf die Frage, ob sie sich an eine Situation erinnert, in der sie in der Schule über das Alevitentum gesprochen hat, antwortet sie: „(4) also meistens waren kurze Gespräche weil wir wollten ja nicht aufeinander prallen aber einer der fünfmal am Tag gebetet hat der war extrem er wollte noch nicht mal zum McDonald gehen, also weil es nicht so geschlachtet wurde [halal kesim] wir machen es immer so spaßig dass es locker rüber kommt ((lachend)) also wir wollen da nicht weil nicht die Freundschaft kaputt machen wozu, wir verstehen ja uns alle gut. Deswegen. Wir haben bisschen angesprochen und so (2) aber wenn
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wir merkten dass es zu, aufeinander anprallt dann haben wir gelassen weil jeder akzepti=wir haben uns alle akzeptiert und so okay das wars dann so (2) und jeder soll sein eigener Kopf durch also durchbringen und so deswegen lassen wir es lieber ( ) ((sehr leise murmelt was)) (2) aber ein Kommentar zu mir so weil ich nicht wusste ob mein Papa Alevi oder Sünni ist weil kurdisch eher Sunnit ist dachte ich so. Und dann meinten die mich was ist dein Papa, und sagte Sunnit und deine Mutter ist Alevit ja und warum bist du nicht Sunnitin geworden weil man wird ja immer das was der Papa ist mein wird ja aus Çorum weil er aus Çorum ((genervte Stimme)) dann sagte ich ehh was hat dann damit zu tun, da fingt es ja an (2) Also Kommentare (4)“ (III/17/34-47)
Ayla versucht mit Hilfe der religionsübergreifenden Ähnlichkeiten zwischen ihrer Religion und der ihrer sunnitisch-türkischen KlassenkameradInnen eine Verbindung zu entdecken, da Letztere ihre abweichende Abstammung thematisieren. Selbst mit einem „extrem“ gläubigen sunnitischen Schüler vermeidet Ayla eine offene Auseinandersetzung, um ihre freundschaftliche Beziehung nicht zu gefährden. Ayla selbst vermeidet eine Auseinandersetzung über die „Unterschiede“ zwischen Alevitentum und Sunnitentum auch, weil sie sich in ihren Kenntnissen unsicher fühlt: „was ist Alevitum und so da weiß ich auch nicht weil jede was anders erzählt und so“. Trotz ihrer positiven Einstellung schafft Ayla das Probejahr in dieser Berufsschule, die ihr auch einen Abiturabschluss ermöglichen könnte, nicht. Warum Ayla, nach ihrer Meinung eine der Klassenbesten, dieses Jahr nicht bestand, lässt sich anhand der vorhandenen Informationen nicht beantworten. Die Erwartung ihrer Mutter, ‚die Leere ihres Lebens zu füllen, ist immer schwieriger zu erfüllen. Die Ergebnisse deuten allerdings darauf hin, dass die Erfüllung der Erwartungen ihrer Mutter implizit auch eine Distanz zu ihren Schwestern bedeutet. Da Ayla durch den auch bei ihr sich wiederholenden Misserfolg in der Schule ihre besondere Rolle bei der Mutter verliert, nähert sie sich immer mehr ihren Schwestern an. Sie bekommt an dieser Stelle von ihrer Schwester Nuray Unterstützung und wechselt auf eine andere Berufsschule. Diese Berufsschule ermöglicht sowohl eine Berufsausbildung als auch einen Abiturabschluss. Somit besteht implizit weiterhin die Hoffnung, den Wunsch der Mutter zu erfüllen. Aylas Haltung zu dieser Ausbildung ist jedoch ambivalent; einerseits will sie wegen ihrer Mutter nicht ganz versagen, andererseits aber die Nähe zu ihren Schwestern nicht verlieren, die ihr mehr Unterstützung anbieten. Ihre Mutter plant nach den Enttäuschungen in ihrem Leben, vor allem durch ihre Töchter, in die Türkei zurückzukehren und alle ihre Kinder in Hamburg zurückzulassen. Mit 19 Jahren reagiert Ayla auf ihre Lebensumstände mit einer Somatisierung. Durch eine Hautkrankheit fallen ihre Haare, die sie als sehr schön bezeichnet, so weit aus, dass sie ihren Kopf rasieren lassen muss. Ihre Somati-
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sierung bringt die Familie, die aufgrund der mangelnden familialen Kommunikation mehr auf Krankheiten als auf die verbalen Botschaften reagiert, etwas näher. Auch wenn dieser Versuch, sich untereinander etwas mehr anzunähern, gleichzeitig viele vorher unausgesprochene Konflikte manifest werden lässt, deutet Aylas Krankheit darauf hin, dass die Beziehungen in ihrer Familie mit den Krankheiten in enger Verbindung stehen. Ayla ist heute nach ihrem Haarausfall in einer Phase, in der sie angefangen hat, zuerst ihre schweigende Zurückhaltung in Frage zu stellen. Wie in der Falldarstellung gezeigt wurde, gehörte es bislang zu ihrer Normalisierungsstrategie, die Probleme zu kaschieren. Erst die Erkrankung ermöglicht ihr das Sprechen – so wie zuvor schon ihrer Mutter. Nach ihrer Somatisierung fängt Ayla an, ihre Meinung über ihre Beziehungen zu den anderen Familienmitgliedern auszudrücken. Ayla reagiert wie ihre ältere Schwester Nuray auf die Probleme in ihrer Familienstruktur und auf die schwierige Beziehung zu ihrer Mutter mit einer Hautkrankheit, die allgemein symbolisch für die Distanz und Angst vor Nähe stehen könnte. Die Distanz und (nicht) Bindung sind die Themen, mit denen sie sich nach der Analyse ihrer selbst strukturierten Eingangspräsentation gegenwärtig beschäftigt. Ihre Krankheit verstärkt ihre bisherige Distanz zu ihrem Vater. Dies fällt zu Hause auf, und alle fragen, ob sie mit ihm ein konkretes Problem habe. Heute, mit 19 Jahren, fasst Ayla ihre als distanziert erlebte Beziehung zu ihrem Vater folgenderweise zusammen: „Vielleicht war es ja Schutz, dass ich mich nicht dran gewöhne so, weil so in der Woche nicht sehen also dass es mir nicht fehlt, keine Ahnung also psycho psycho ((lachend)) weiß ich nicht. Also man weiß ja nie ((lachend))“. (III/21/1-3) Die Fallrekonstruktion macht plausibel, dass Ayla von den Erfahrungen ihrer Mutter, die sich von ihrem Ehemann im Stich gelassen fühlte, so weit geprägt ist, dass auch sie sich vor derartigen möglichen Erfahrungen schützt, indem sie sich distanziert. Ayla sagt heute, sie hätten miteinander „keine Beziehung“. Anders als früher kann sie dennoch heute über die mangelnde Nähe in dieser Beziehung sprechen. Auch über ihre Beziehung zu ihrer Mutter macht sich Ayla viele Gedanken, da durch die Entscheidung ihrer Mutter, in die Türkei zurückzukehren, eine Trennung von ihr bevorsteht. Ihre Mutter reagiert auf die Krankheit von Ayla intensiv, weil sie erfährt, wie ihre Tochter „gelitten“ hat. Das Leiden bindet die Mutter und die Tochter wieder fester aneinander. Zu Beginn von Aylas Somatisierung ist ihre Mutter in der Türkei und erkundigt sich jeden Tag nach ihrem Zustand. Durch Aylas Krankheit steht nicht mehr das Leiden der Mutter, sondern das von Ayla im Vordergrund. Da die Ärzte ihre Somatisierung mit eventuell auch in der Vergangenheit liegendem Stress begründen, fragen alle
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in der Familie sie nach ihren Problemen. Über ihre derzeitige Beziehung zu ihrer Mutter sagt sie: „Naa was für ne Beziehung ich weiß nicht ((zurückhaltend lächelnd)) also Mutter. sehr wichtig (2) immer halt, immer man weiß dass für ein immer da ist dass sie sich um dich Gedanken macht. Aber wie gesagt dass ich mit ihr über die Probleme bespreche und (2) so war ich noch nie gewesen deswegen würde man von außen sagen wir haben gar kein Verhältnis also, obwohl wir uns lieben und so und alles okay ist (2) Aber ich finde es so, gut wie es ist yani [also] das ist nicht so dass ich was vermisse oder so (3) finde ich unser Verhältnis wenn ich höre was die andere so mit ihren Müttern durchleben, ist okay also. I.: Du brauchst also keine Nähe. A:. Ne eigentlich nicht weil sonst hätte ich die Nähe bei meinen Schwestern oder so gefunden also aber brauchte ich auch nicht also ich bin eben eher ne Einzelgängertyp denke ich mal. (3) Ich weiß nicht ob es sie [ihre Mutter] traurig macht oder so vielleicht will sie ja Nähe haben oder so (2) dass müsste man dann sie fragen. ((kurz lächelnd)) (2)“ (III/18/26-36)
In der Beziehung zu ihrer Mutter gibt es noch heute eine ideale und eine real erlebte Ebene. Die Ebene der Idealisierung gibt ihr einen Halt, während ihre Mutter und sie auf der Erlebensebene mit Aylas Worten „gar kein Verhältnis“ haben. Ihre belastende Bindung zu ihrer Mutter und die verinnerlichte Loyalität hindern sie derzeit noch daran, eine Auseinandersetzung mit ihrer Mutter zu beginnen. Dieser Konflikt würde zahlreiche Fragen aufwerfen, deren Thematisierung vor dem Hintergrund ihrer „angestaubten“ Meinung viele Tabubrüche erfordern würde. Die Erfahrungen mit und in ihrer Peergroup hindern sie zurzeit, einen offenen Dialog mit ihrer Mutter zu beginnen, also zu verbalisieren, was sie selbst mit ihrer Mutter bis heute ,durchleben‘ musste bzw. noch durchlebt. Wie bisher gezeigt wurde, spielt ihre belastende Bindung an ihre Mutter und ihre lückenhaft tradierte Familiengeschichte sowohl in Aylas Lebensgeschichte als auch bei ihrer Somatisierung eine zentrale Rolle. Ihre Somatisierung ist ein Zeichen dafür, dass Ayla ihre belastenden Familienbeziehungen nicht weiter schweigsam ertragen will/kann. Damit nimmt sie auch eine große Verantwortung auf sich, denn ihre Krankheit öffnet die Beziehungsmöglichkeiten in der Familie. Auch wenn sie sich zurzeit als einen „Einzelgängertyp“, d.h. als bindungslos versteht, hofft Ayla auf eine Unterstützung durch ihre Schwester(n), sobald sie in der Lage ist, ihr Bedürfnis nach Nähe thematisieren und verbalisieren zu können.
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5.4.3 Zukunftsperspektive Ayla sagt, sie sei bei der Planung von Vorhaben für die Zukunft vorsichtig und habe sich bisher nicht viele Gedanken darüber gemacht. Dennoch habe sie eine Zukunftsperspektive, die hier kurz zusammengefasst wird: Zuerst möchte sie ihre Berufsschule erfolgreich beenden. Eine Perspektive sieht sie in dem Vorhaben ihrer Mutter, für sie und ihre älteste Schwester Miriam einen Kosmetikladen zu eröffnen. Miriam ist gelernte Kosmetikerin und will sich ohnehin irgendwann selbstständig machen. Über ihre weiteren Pläne sagt Ayla: „Es würde mir Spaß machen ehrlich gesagt Familiebetrieb und so. Aber man kann sich ja nicht drauf verlassen, deswegen gucke ich erstmal dass ich meine Noten im Griff kriege und so dass es so bleibt und so. Und wenn, wenn es mir Spaß macht dann weiterstudieren. Ansonsten Job, also ich würd gerne mein Geld verdienen=also ich bin in der Phase Geld zu verdienen, nicht so viel abhängig von den Eltern und so (2) Und, wenn ich so dran denke sie wollen ja für immer in die Türkei muss ich ja langsam (2) wissen wie es abläuft wenn man eigene Wohnung hat (2) Muss ich ja selbstständiger werden. Aber ich habe keine Angst davor yani [also]. Ich würde mir sogar trauen eigen Wohnung zu holen und drin zu wohnen jetzt.“ (III/20/6-17)
Anders, als in dem an der Familie orientierten Plan vorgesehen, lässt sie sich in Gedanken die Möglichkeit des Studierens offen, setzt jedoch voraus, dass bei dieser Entscheidung ihre eigenen Gefühle mitspielen. Die unsichere Bindung an ihre Mutter und die ambivalente Beziehung zu ihrer ältesten Schwester Miriam spielen bei ihrem Streben nach Selbständigkeit eine bedeutende Rolle. Ebenso spielt die finanzielle Unabhängigkeit eine große Rolle, diese bedeutete im wahrsten Sinne des Wortes eine ,Unabhängigkeit‘ von den Anforderungen ihrer Mutter. Auch wenn Ayla es zu kaschieren versucht, so ist die Vorstellung, alleine zu wohnen, für sie als Neunzehnjährige eine – noch Angst machende – Herausforderung. Sie möchte in der Zukunft nicht in Hamburg leben. Die Möglichkeit, in die Türkei zu gehen, schließt sie aus, weil sie das „Sozialwesen da katastrophal“ findet. Sie kann sich auch kein anderes Land vorstellen, weil sie außerhalb der Türkei keine Auslandserfahrung hat. Zu ihren Zukunftsplänen gehören auch Heiraten und Kinder zu bekommen. Sie fände es schön, vor allem wegen der Erziehung der Kinder, einen Aleviten zu heiraten. Dennoch geht es ihr vor allem darum, jemanden zu heiraten, den sie liebt: „warum soll ich mein Leben zerstören, weil ich Aleviten heirate“. Diese Aussage sollte im Zusammenhang mit der Familiengeschichte und mit ihrer Beziehung zu ihrer Mutter als loyale und gebundene Tochter betrachtet werden. Einen Aleviten zu heiraten gehört auch zu dem Auftrag ihrer Mutter, von dem
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sie sich hier deutlich distanziert. Auf die Frage, wie ihre eigene Mutterrolle aussehen würde, sagt sie: „(2) ((atmet aus)) eigentlich nicht typisch türkisch, denke ich mal. Also ich würd gar nicht so streng sein ehrlich gesagt. Aber also wie Mama auch Schule und so wäre wichtig, also wobei ich dann sagen soll dann würde ich da Vorbild sein wollen, wenn ich selber was erreiche dann kann ich mehr von ihm fordern. Also da würde ich schon bisschen, darauf achten (2) aber sonst dass sie keine Angst hat mit mir über die Probleme zu reden, also freundschaftlich (2) also würde ich schon drauf achten“ (III/22/31-36)
Die Beziehung zu ihrer Mutter spiegelt sich in ihren Zukunftsplänen. Ihre Mutter ist für sie im Blick auf die Schule, trotz ihres Erwartungsdrucks, kein Vorbild gewesen. Somit bringt sie hier einen impliziten Vorwurf an ihre Mutter zur Sprache. Mit ihrem Wunsch, dass ihr Kind keine Angst haben soll, mit ihr über Probleme zu sprechen, thematisiert sie implizit ihre Beziehung zur eigenen Mutter. Auch über das Verhältnis zwischen ihrem zukünftigen Ehemann und ihren möglichen Kindern macht Ayla sich Gedanken. „Vielleicht haben die besseres Verhältnis. Vielleicht ist er dann Vorbild für sie hätte ich kein Problem damit.“ (III/23/38-38) Sie will ihren eigenen Kindern die Möglichkeit geben, mit deren Vater eine enge Bindung einzugehen und ihn als Vorbild zu nehmen. Das heißt anders als ihre Mutter, die sie hiermit erneut kritisiert, würde sie selbst als Mutter keine Probleme damit haben, ihren Kindern dies zu ermöglichen. Ayla möchte zwar ein geregeltes Einkommen haben, jedoch nicht unbedingt reich werden und stattdessen für ihre Kinder mehr Zeit haben. Sie würde ihren Kinder den Vorzug geben und daher kein Problem damit haben, einige Jahre mit ihrer Berufstätigkeit aufzuhören. Auch mit dem folgenden Zitat kritisiert sie ihre eigene Mutter, die mit ihren kleinen Kindern wenig Zeit verbracht hatte, und geht unausgesprochen auf ihre eigene Kindheit ein. Sie sagt: „Achte darauf dass meine Kinder a= also die ersten Jahren sind wichtigsten, da mit denen Zeit verbringen (9)“ (III/23/1-2)
5.4.4 Zusammenfassung Ayla Topraks Geburt markiert innerhalb der Familie auch den Zeitpunkt der Krankheit ihrer Mutter. Ayla Toprak hat eine sehr starke Bindung zu ihrer Mutter, die in die Darstellung ihrer Lebensgeschichte mit einfließt. Sie wuchs als jüngstes Kind in einer Familienatmosphäre auf, in der es durch die Tabuisierung der Vergangenheit viele offene Fragen und kaum einen offenen Dialog über die Vergangenheit der Familiengeschichte gab. Ihre Familie, beeinflusst durch die
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Mutter, konzentrierte sich stark auf den finanziellen Aufstieg und bemühte sich um ein Vergessen der Vergangenheit. Die Vergangenheit lernt das kleine Mädchen Ayla als ‚eine Wunde‘ kennen, die nicht aufgerissen werden soll. Das heißt, dass das ‚Erinnern‘ für Ayla ebenfalls bedrohlich und schmerzhaft ist. Sowohl die manifest als auch die latent tradierten Familienthemen konzentrieren sich auf die Mutter und deren Herkunftsfamilie. Ihre Großmutter steht in diesem Zusammenhang sowohl für die Besonderheit ihrer alevitischen Abstammung als auch als Angstfigur; als eine Person, mit der man weder kommunizieren noch von der man sich distanzieren kann. Die Bedeutung der alevitischen Abstammung fällt mit der intensiven Bindung an ihre Mutter zusammen. Ayla hat keine vergleichbare Bindung an ihren Vater, daher spielt er keine Rolle bei der Frage der Abstammung. Ayla hat Kenntnis über verschiedene Versionen der Migrationsgeschichte ihrer Mutter, die sich je nachdem unterscheiden, ob die Betonung auf dem finanziellen Aufstieg der Familie oder auf der zweimaligen Eheschließung der Mutter liegt. Ayla Toprak wächst in einer Familie auf, in der der Vater – abgesehen davon, dass er in einer späteren Phase zur finanziellen Sicherheit der Familie beiträgt – faktisch depotenziert ist. Seine fast permanente Abwesenheit wird durch seine Rolle als „Brotverdiener“ gerechtfertigt und normalisiert. Hier wiederholt sich das während der Verfolgung entstandene Familienmuster der abwesenden und depotenzierten Männer. In der Präsentation ihrer Lebensgeschichte drückt sie die Trennung zwischen Gegenwart und Vergangenheit in der Aufspaltung ihrer Lebensgeschichte in türkische und deutsche Sprachwelten aus. In Ayla Topraks Lebensgeschichte stellt das Sprechen- oder Nicht-sprechen-Können der türkischen Sprache den roten Faden in der Regulation von emotionaler Distanz und Nähe zur eigenen Familiengeschichte und zu ihren Eltern dar. Ihre Beziehung mit ihren Schwestern bettet sie in diesen beiden Sprachwelten ein. Die türkische Sprachwelt ist mit leidvollen Erlebnissen, der lückenhaft überlieferten Familiengeschichte, mit Angst beladenen familialen Verfolgungserfahrungen sowie mit den Stigmatisierungserfahrungen ihrer Schwestern in der Schule in der Türkei verbunden und bietet ihr sowohl auf der Beziehungsebene (mit den Eltern) als auch auf der Erlebensebene keinen sicheren Ort. Die türkische Sprache steht ebenfalls für die mit der Krankheit ihrer Mutter und mit dem Thema Tod verbundenen Erfahrungen sowie für Aylas Erfahrung der Abwesenheit ihrer Eltern in ihrer Kindheit. In ihrer Selbstdarstellung macht sie deutlich, dass sie vorwiegend nur über das sprechen kann, was sie in Situationen oder Orten erlebt hat, in denen sie sich sicher fühlte. Dies war in ihrer Kindheit die Schule in der Bundesrepublik. Ihr übergreifendes Thema ‚Distanz – (keine) Bindung, das sich vor allem beim letzten Interview herauskristallisiert, bettet sie dementsprechend in das thematische Feld ,ich kann das erzählen, was ich auf Deutsch erlebt habe
5.4 Ayla Toprak (Tochter von Elif Toprak)
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ein. Wie die Fallrekonstruktion zeigte, hat Ayla Toprak gelernt, durch Gehorsamkeit und Anpassung Anerkennung und Akzeptanz zu bekommen. Ihre Forderung an alle „Ausländer“, sich an die deutsche Gesellschaft anzupassen, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Diese Forderung stellt sie auch an sich selbst, da es ihrer Lebenserfahrung entspricht, dass Anpassung eher Sicherheit bietet. Darüber hinaus zeigt die Fallrekonstruktion, dass das (Nicht-)Sprechen der türkischen Sprache ebenfalls ein verbindendes Thema zwischen dem Zuhause und der Schule ist. Ihre Distanzierung und ihr Protest gegenüber türkischsunnitischen MitschülerInnen (vor allem nachdem die alevitische Abstammung für ihre Mutter an Bedeutung gewonnen hat) zeigt sie dadurch, dass sie in der Schule kein Türkisch spricht. Die deutsche Sprache wird zur Sprache ihrer Lebenswelt, in der sie sich – besonders bis zum Abbruch der gymnasialen Schullaufbahn – sicher und akzeptiert fühlt. Im schulischen Kontext erlangt Ayla Toprak durch ihre Zugehörigkeit zur alevitischen Gemeinde, die in der deutschen Gesellschaft im Vergleich zur sunnitischen als liberal und fortschrittlich betrachtet wird, den Status einer Exotin. Die alevitische Gemeinde ermöglicht Ayla zwar ansatzweise die Geschichte ihrer Mutter zu verstehen, der kontrollierende Umgang der Erwachsenen hindert sie jedoch daran, sich auf Dauer mit dem Kollektiv ‚Wir als Aleviten verbunden zu identifizieren. Sie verbringt ihre Freizeit immer weniger in der Räumlichkeit der alevitischen Gemeinde und orientiert sich an ihrer schulischen Peergroup sowie in anderen Institutionen. Sie erlebt jedoch die Schule auch als einen Ort, in dem sowohl SchülerInnen der sunnitisch-türkischen Herkunft als auch der deutschen Mehrheitsgesellschaft sie jeweils als nicht zu ihnen gehörig klassifizieren; sie sitzt zwischen allen Stühlen. Erst während der Berufsausbildung geht sie mit türkischen SchülerInnen Freundschaften ein, da sie sich von ihnen in Bezug auf ihre Familienverhältnisse besser verstanden fühlt. Nachdem Ayla sich durch ihren Misserfolg in der Schule ihrer Rolle als ‚letzte Hoffnungsträgerin ihrer Mutter entledigt hat, gerät sie mit dieser in Konflikt. Mit anderen Worten, seit Ayla nicht mehr die Erniedrigungs-, Unterdrückungs- und Demütigungserfahrungen ihrer Mutter durch schulischen Erfolg zu reparieren versucht, zeigt sich offen der schwierige Charakter der Beziehung zu ihrer Mutter. Die Mutter reagiert darauf mit Beziehungsabbruch. Auf diesen und die durch ihn erzeugten oder verstärkten Schuldgefühle reagiert Ayla mit ihrer Hautkrankheit. Auf diese Weise übernimmt sie – wie ihre Mutter zuvor – die Rolle der Leidenden und erlangt die Aufmerksamkeit und Zuwendung der übrigen Familienmitglieder. Die Fallrekonstruktion verdeutlicht, dass das Thema Krankheit in diesem Familienkontext als ein Indiz für die Sprachlosigkeit zwischen den Generationen steht. In der Krankheit manifestieren sich sowohl die familialen Erinnerungslücken als auch Tabubereiche. Ihre Krankheit steht für
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5 Falldarstellungen
den schwierigen Dialog mit ihrer Mutter, für den Erwartungsdruck, der von ihrer Seite ausgeht, sowie für Aylas Versuch, sich diesem zu entziehen. Das heißt, ihr Misserfolg in der Schule ist vor dem Hintergrund der Familien- und Lebensgeschichte Aylas als ein Befreiungsversuch von den bedrückenden Erwartungen ihrer Mutter zu sehen. Ayla steht noch ambivalent zu der Frage, ob sie nicht doch noch studieren möchte. Die universitätsorientierte Ausbildung steht symbolisch für die Bindung an die Mutter und die Distanz zu ihren Schwestern. Da sie sich mehr Nähe zu ihren Schwestern wünscht, daran aber durch die Bindung an die Mutter gehindert wird, bleibt das Studium für sie noch ein offenes Thema. In ihren Zukunftsentwürfen und in ihrer Sehnsucht nach einer durch Vertrauen geprägten Mutter-Vater-Kind-Beziehung spiegeln sich die Themen der als unsicher erlebten Bindung an die Mutter, der Überforderung durch die übernommenen Aufträge der Mutter sowie des Allein-gelassen-Werdens durch den Vater wider.
6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse 6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
Folgende Frage leitet dieses Kapitel: „Welche Faktoren prägten die MutterTochter-Beziehung?“ Die Ergebnisse wurden durch die rekonstruktive Analyse der biographisch-narrativen Interviews mit den aus der Türkei stammenden Müttern und deren adoleszenten Töchtern gewonnen. Die in die Untersuchung einbezogenen Mütter wurden in der Türkei geboren, verbrachten zumindest ihre Kindheit dort und repräsentieren unterschiedliche Migrationsformen (als zweite Generation von den Eltern in die Bundesrepublik geholt, als Ehefrauen durch eine Eheschließung mit einem Migranten oder selbst als Gastarbeiterin in die BRD gekommen). Die Töchter wurden in der BRD geboren und wuchsen bis auf eine Interviewte, die ihre Kindheit in der Türkei verbrachte, auch hier auf. Sie befanden sich zum Zeitpunkt der Interviews in der Adoleszenzphase.160 Die Ergebnisse der Fallanalysen zeigen, dass im Prozess der Beziehung zwischen Müttern und Töchtern nicht nur die gemeinsamen Erfahrungen beider Frauengenerationen in der BRD als Mitglieder unterschiedlicher Generationen mit Migrationshintergrund eine Rolle spielen, sondern vor allem die Lebensgeschichten der Mütter, sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in der BRD vor der Geburt der Töchter. In diesem Zusammenhang ist die Familiengeschichte in der Türkei ebenfalls von zentraler Bedeutung. Ein zentrales Ergebnis der Studie ist, dass die biographischen Erfahrungen der Mutter als Mitglied der Minderheits- oder der Mehrheitsgesellschaft im Herkunftsland für ihre Beziehung zu ihrer Tochter in der deutschen Gesellschaft entscheidend sind. Das zeigt sich fallübergreifend und zugleich fallgenerierend bedeutsam durch die starke Bindung zwischen Müttern und Töchtern als charakteristisches Merkmal für die Muster der intergenerationalen Beziehungen zwischen diesen beiden Frauengenerationen. Dieser Begriff bzw. diese Beobachtung einer bestimmten Form von Bindung zielt hier weniger auf die emotionale Verbundenheit zwischen der Mutter und der Tochter ab, sondern verweist vielmehr auf die Erfahrungen, welche die beiden Frauengenerationen verbinden. Dieses Ergebnis stellte den Ausgangspunkt für die Typenbildung dar. Auf der Grundlage dieses Resultats
160 Zur ausführlichen Beschreibung des Samples der vorliegenden Studie siehe Kapitel 4.3.2.
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
einer spezifischen Konstellation der Bindung zwischen Müttern und Töchtern werden im Folgenden verschiedene Typen dieser Bindung und ihrer jeweiligen Entstehungsgeschichte diskutiert. Bevor ich im Einzelnen die verschiedenen Verlaufstypen der Beziehung zwischen den Müttern und ihren Töchtern darstelle, werde ich zunächst auf die für die Adoleszenz wichtigsten Aspekte, nämlich Bindung und Ablösung, eingehen. Nach der Darstellung der verschiedenen Verlaufstypen werde ich diese mit Hilfe des Konzepts der sozialen Vererbung betrachten. Abschließend werde ich weitere fallübergreifende Ergebnisse der vorliegenden Studie erörtern.
6.1 Vorbemerkungen: Bindung und Ablösung in der Adoleszenz 6.1 Vorbemerkungen: Bindung und Ablösung in der Adoleszenz Die Auswertung der Interviews mit den aus der Türkei stammenden Müttern und ihren adoleszenten Töchtern zeigt in allen Fällen (Mutter-Tochter-Beziehungen) die besondere Bedeutung der Bindung zwischen ihnen. Das ist zuerst auf die Gleichgeschlechtlichkeit der Partnerinnen aus beiden Generationen zurückzuführen, wie dies auch von einigen Autorinnen, wie Chodorow (1985), Burger/ Seidenspinner (1988), Bilden/Diezinger (1993), Gilligan (1992), Brown/Gilligan (1997) und Debold/Malavé/Wilson (1994) diskutiert wurde. Die Adoleszenz zeigt sich bei den Ergebnissen meiner Untersuchung als eine Lebensphase, die hinsichtlich der Mutter-Tochter-Beziehung (aus unterschiedlichen Motiven) eine eigene geschlechtsspezifische Phase der intergenerationalen Beziehungen ausmacht. Das manifestiert sich vor allem durch die Herstellung der Geschlechtlichkeit in der mittleren und späten Adoleszenz. Die Ergebnisse der Fallanalysen zeigen, dass mit der Adoleszenz der Töchter auch bei ihren Müttern die eigenen Erfahrungen und Verarbeitungsformen dieser Phase in dem Lebensraum der Türkei oder der BRD (manifest oder latent) aktiviert werden. Die Töchter werden in diesem Zusammenhang besonders herausgefordert, sich mit den Lebensentwürfen ihrer Mütter (intensiver) auseinanderzusetzen. Ob und wie es den Müttern möglich war, in ihrer eigenen Adoleszenz die mit dieser Lebensphase verbundenen Bestrebungen zu erfüllen sowie die damit verknüpften Probleme zu bewältigen bzw. zu bearbeiten, stellt sich für die Lebenspraxis der Töchter in deren Adoleszenz als ein wichtiger Faktor dar. Dies zeigt sich besonders an den auf die weibliche Körperlichkeit und Sexualität bezogenen Moralvorstellungen der Familie, die zum Teil von den Müttern durch ihre biographischen Erlebnisse modifiziert wurden. 161 161 Dieses Ergebnis, dass die Möglichkeiten der adoleszenten Entwicklungsspielräume der Töchter durch die Reaktionen der Mütter auf die Veränderungen ihres Körpers und ihrer Sexualität beeinflusst werden, entspricht auch den empirischen Befunden von Karin Flaake (1993; 1998).
6.1 Vorbemerkungen: Bindung und Ablösung in der Adoleszenz
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Ein weiteres Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass es überwiegend das Bestreben der Mütter ist, besonders in der Phase der mittleren und späten Adoleszenz ihrer Töchter, diese an sich zu binden. Damit festigen sich auch die Bindungen an die Familiengeschichte und zur Gemeinschaft, zu der die Familie gehört. Hierbei zeigen sich die innerfamilialen Delegationen, die von den Müttern oder Eltern an die Töchter manifest oder latent kommuniziert werden, als die Bindungsdynamik beeinflussende Faktoren. Mit der Übernahme der Delegationen entsteht eine Loyalitätsbindung, die bei den Töchtern dazu führt, ihren Müttern oder Herkunftsfamilien in einer Weise eng verbunden zu bleiben, die die Autonomieentwicklung der spätadoleszenten Töchter prägt. Bei diesem sich auf die Delegation beziehenden Aspekt der Bindung korrespondieren meine Ergebnisse mit dem Delegationskonzept von Helm Stierlin (1978; 1980). In seinem familiendynamischen Konzept bezeichnet Stierlin die Delegation als „übergreifende Beziehungsdynamik“ (1980: 6), die durch die bestehenden Interaktionsmodi der Bindung und Ausstoßung beeinflusst werden könne. Durch Delegation werden die Kinder oder Jugendlichen von ihren Eltern mit dem Erfüllen bestimmter Aufgaben beauftragt, die auf die eigenen Entwicklungskrisen, ungelösten Ambivalenzen und Konflikte der Eltern zurückzuführen sind. Das sei Stierlin zufolge nur möglich auf der Grundlage einer starken – obwohl oft unsichtbaren und selektiven – Loyalität. Daher seien Delegierende (nämlich die Eltern) und Delegierte (nämlich Töchter und Söhne) durch das „Loyalitätsband“ miteinander verbunden. Nach Stierlin kann eine solche Delegation dem Leben durch die elterlichen Aufträge einen Sinn verleihen, sie kann aber auch dazu führen, dass von den Eltern eine dauerhafte Überforderung des Kindes bzw. des Jugendlichen geschaffen wird, die seine Leistungsfähigkeit weit übersteigt und schließlich zur Verstoßung aus dem Familienverband führen kann oder zumindest die Entwicklung eigener Interessen bzw. eigenständige biographische Wahlentscheidungen verhindert. Mit diesem Konzept führt Stierlin auch die Mehrgenerationenperspektive ein. Demnach können die Delegationen über die Generationen hinweg bestehen und unter diesem Gesichtspunkt Bindungen und Verpflichtungen für die Familienmitglieder entstehen, die, ebenso wie Motivationen auf der individuellen Ebene, auf der familiären als eine Art transgenerationaler Auftrag wirksam werden können. Delegationen behindern nach Stierlin die Autonomieentwicklung und Ablösung von der Herkunftsfamilie. Die Entwicklung zur Autonomie wird in der Adoleszenzforschung als die wichtigste Sozialisationsaufgabe von Heranwachsenden diskutiert. Diese setze für geraume Zeit eine psychische und soziale Ablösung von den Eltern und der Herkunftsfamilie durch die Entwicklung von Beziehungen und Bindungen zu Personen außerhalb der Herkunftsfamilie voraus (vgl. Hurrelmann 1994; Schütze 1993b; King 2004). Demnach sei diese Lebensphase erst dann erfolgreich
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
beendet, wenn diese Aufgabe vollständig oder zumindest weitgehend erfüllt sei. Diese Sichtweise, die die beiden wichtigen Lebensbereiche auseinanderdividiert und Autonomie als Auflösung bzw. als Aufgeben einer bedeutsamen sozialen Beziehung betrachtet, wird seit einiger Zeit kritisiert. Stattdessen wird die Entwicklung von Autonomie, der sozialen Wirklichkeit besser entsprechend, eher als eine Transformation dieser Beziehung betrachtet (Youniss 1983). Es entwickelt sich in diesem Zusammenhang ein neues Verständnis von Autonomie. Demnach hänge die Chance von Autonomie vielmehr davon ab „[…] inwiefern die Familie dem Jugendlichen sowohl auf der psychologischen als auch auf der Handlungsebene Spielräume zur Verfügung stellt, die Ablösung und Bindung, Selbstständigkeit und wechselseitige Abhängigkeit nicht als einander ausschließende Entwicklungspfade erscheinen lassen“ (Schütze 1993b: 347 – Hervorhebung im Original).
Besonders hervorzuheben ist bei diesem neuen Verständnis von Autonomie, dass diese Entwicklung nicht allein als eine Aufgabe der Heranwachsenden betrachtet wird, sondern auch die Rolle der Eltern bzw. der Familie betont wird. Somit erhält aus dieser Sicht der wechselseitige Charakter der Eltern-Kind-Beziehung mehr Bedeutung. Ferner ermöglicht sie eine positive Sicht der Bindung an die Familie, ohne dies mit dem Erfordernis der Ablösung in einen Gegensatz bringen zu müssen. Das Letztere ist vor allem für die Sozialisation von Heranwachsenden mit einem Migrationshintergrund wichtig, da es in den Diskursen der Mehrheitsgesellschaft häufig eine Tendenz gibt, ihre Beziehung zu ihren migrierten Eltern auf Konflikte zu reduzieren.162 Dass die Ablösung und die Bindung in der Beziehung der Adoleszenten zu ihrer Herkunftsfamilie parallel stattfinden können, lässt sich auch bei dem Generationsansatz von Karl Mannheim (1924/1964: 509-565) und seinem Konzept der Generationsfolge finden, durch das es möglich wird, ein soziologisches Verständnis von Adoleszenz zu gewinnen. Nach dem Mannheimschen Generationskonzept – bei dem zwar ein innerer Bauplan des Menschen nicht thematisiert, aber impliziert angenommen wird – wird sowohl von einer inneren Entwicklungsbedingtheit von jugendlichem Leben ausgegangen, das notwendigerweise aus der Familie herausführt, als auch von einer „Übertragung“, indem er auf die Notwendigkeit des steten Tradierens aufmerksam macht, die wiederum eine Bindung erfordert. Das Wichtigste an der kulturellen Übertragung ist die Betonung der bewussten und der nicht bewussten Übertragung sozialer Erinnerungen. Demnach kann sich die bewusste Übertragung durch die öffentlichen Diskurse verändern. Im Unterschied dazu würden all jene Gehalte 162 Siehe beispielsweise Rosen (1993).
6.1 Vorbemerkungen: Bindung und Ablösung in der Adoleszenz
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und Einstellungen, die in der neuen Lebenssituation unproblematisch weiterfunktionieren, die den „Fond des Lebens“ ausmachen, unbewusst und ungewollt vererbt, d.h. an die jüngere Generation übertragen (Mannheim 1964: 538). Mit dem Wechsel der Generationen wird sozialer Wandel vorangetrieben. Dabei setzen sich die Heranwachsenden als neue „Kulturträger“ ein. Wie bereits zu Beginn dargelegt, erwies sich bei meiner Untersuchung die Zugehörigkeitserfahrung der Mütter zu der Minderheits- oder Mehrheitsgesellschaft im Herkunftsland, der Türkei, als entscheidend für die Entstehung und für die Art der Bindung zwischen den Müttern und Töchtern. Es handelt sich bei dieser Bindung auch um eine „Übertragung“ bzw. eine Form der „sozialen Vererbung“ dieser Zugehörigkeitserfahrung. Norbert Elias und John Scotson (1993) sprechen in diesem Zusammenhang und besonders im Kontext von „Etablierten-Außenseiter-Figurationen“ von einer soziologischen Vererbung. Anhand des Sozialisierungsprozesses eines Kindes heben sie besonders den Zusammenhang zwischen der Innenperspektive der Individuen und der Außenperspektive hervor. Als Innenperspektive wird hier die innerfamiliale Perspektive verstanden, als Außenperspektive gilt die Sicht der Gesellschaft als Ganzes. Ferner unterstreichen Elias und Scotson – aufbauend auf den Arbeiten von G. H. Mead (1934/1968) und Howe (1955) – den Zusammenhang zwischen Identifizierung und sozialer Vererbung. Den Autoren zufolge hat die soziale Vererbung als Übertragungsmechanismus eine wichtige Funktion bei der Übertragung von Normen und Werten zwischen den Generationen, die bei Kindern für deren Identitätsbildung und deren Wahrnehmung ihrer Lebenswelt eine bedeutende Rolle spielen. Hierbei betonen Elias und Scotson den über die „psychologische“ Autonomieentwicklung hinausgehenden sozialen Aspekt. Als besonders bedeutsam markieren sie die Außenperspektive für das Statusbewusstsein von Kindern. Das Erleben von Sicherheit, das ein Mensch als Kind aus dem gesellschaftlichen Status seiner Familie bezieht, hinterlasse Spuren in seinem späteren Selbstbild, in seiner späteren Selbstsicherheit (Elias/Scotson 1993: 271). Umgekehrt gelte dies ebenso für das Erleben von Unsicherheit. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, dass die entstandenen Bindungsmuster eine Ausdrucksform der Zugehörigkeitserfahrung bzw. der Lebensgeschichte der Mutter in der Herkunftsgesellschaft und in der BRD einerseits sind. Andererseits stellen sie auch die Erfahrungen der Tochter im Rahmen der Familiendynamik sowie in der hiesigen Gesellschaft dar. Die so entstandenen Bindungsmuster sind der Ausgangspunkt für die Typenbildung. Im Folgenden wird jeweils die Entstehung dieser Bindungsmuster entschlüsselt. Da sich diese Bindungen zwischen Müttern und Töchtern, d.h. zwischen zwei Frauengenerationen, als eine Form der sozialen Vererbung auf die gegenwärtige
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
Positionierung der Tochter in ihrer Herkunftsfamilie und in der Mehrheitsgesellschaft auswirken, werden im Anschluss an die Darstellung der Typenbildung die Ergebnisse auch unter diesem Aspekt zusammengefasst. Basierend auf den Ergebnissen der Fallrekonstruktionen und der Globalanalysen der vorliegenden Untersuchung lassen sich unterschiedliche biographische Verläufe von Bindungen zwischen Müttern und Töchtern typisieren.163 Erster Typus: Bindung in der Gegenwart mit Hilfe des religiösen Raumes. Bei diesem Typus dient der religiöse Raum als ein Medium der Bindung, als „third space“ zum Austausch zwischen der Mutter und ihrer heranwachsenden Tochter und zur gegenseitigen Betreuung und Bemutterung. Zweiter Typus: Bindung über Leid und Schuldgefühle. Transgenerationale Folgen von verschwiegenen Verfolgungserfahrungen führen zu einer MutterTochter-Bindung, in der die Vergangenheit die Gegenwart dominiert.
6.2 Typisierungen 6.2 Typisierungen 6.2.1 Erster Typus: Bindung in der Gegenwart mit Hilfe des religiösen Raumes Generalisierend kann für den Typus I festgehalten werden, dass die Repräsentantinnen dieses Typus im Herkunftsland Türkei zur sunnitisch-türkischen Mehrheitsgesellschaft gehörten, ohne dass damit für diese Frauen eine spezifisch religiöse Lebenspraxis im Kontext einer ‚institutionell organisierten Religiosität verbunden war. Dies änderte sich mit der Migration in die Bundesrepublik. Hier nahmen die Frauen Kontakt zu sunnitischen Gemeinden auf und entwickelten dabei eine Form der aktiven Teilnahme an einer ‚institutionell organisierten Religiosität. Die Töchter wurden in die in ihrer Herkunftsfamilie praktizierte traditionale Form der religiösen Lebenspraxis hineingeboren. Der Übergang von einer auf traditionale Weise erlernten sunnitisch-islamischen Gläubigkeit zur Mitwirkung an der heutigen, bewusst gelebten Religiosität der Mütter im Kontext einer ‚institutionell organisierten Religionsausübung fand durch biographische Erfahrungen statt, die die Frauen erst in der Einwanderungsgesellschaft – auch aufgrund fehlender Möglichkeiten einer sozialen Einbindung in die Mehrheitsgesellschaft und mangels anderer Alternativen sozialer Einbindung – in der Begegnung mit bestimmten Aspekten der Religion machen konnten. Die 163 In der Studie sind drei unterschiedliche Typen herausgearbeitet worden, doch da der dritte nicht detailliert dargestellt wurde, wird auch hier auf die Präsentation verzichtet. Bei Interesse können die Ergebnisse unter Kaya 2006 nachgelesen werden.
6.2 Typisierungen
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biographischen Erfahrungen sind gekennzeichnet durch eine Diskrepanz zwischen ihren Erfahrungen in der Herkunftsgesellschaft und denen in der Einwanderungsgesellschaft in einem für die ankommenden Frauen zentralen und relevanten Lebensbereich. Diese Diskrepanzen bzw. Erfahrungen können beispielsweise im Bereich des Umgangs der Geschlechter miteinander und den dazugehörigen Moralvorstellungen oder im Bereich der Bildung erlebt werden. Typus I der Mutter-Tochter-Beziehung ist repräsentiert durch diejenigen Mütter, die in den 1970er Jahren durch eine arrangierte Eheschließung mit bereits in der BRD erwerbstätigen Söhnen der ersten türkischen Einwanderergeneration im Alter von 16–18 Jahren nach Deutschland kamen. Gemeinsam ist diesen Müttern, dass sie ausschließlich eine Schulbildung bis zur Grundschule haben. Sie kommen aus Mehrkinder- und Mehrgenerationenfamilien, in denen sie um einen Platz kämpfen mussten und in denen männliche Verwandte wie z.B. der Onkel väterlicherseits an den Familienentscheidungen beteiligt waren. Die aus ihrer Herkunftsfamilie gewohnte männliche Dominanzrolle wurde in der BRD infolge des Zusammenlebens mit den Schwiegereltern in den ersten Jahren nach der Eheschließung durch den Vater des Ehemannes übernommen. Ihre Ehemänner erlebten sie gegenüber den eigenen Vätern als sehr loyal und damit zugleich oft unsolidarisch gegenüber ihren eigenen Ehefrauen. Eine partnerschaftliche Beziehung mit ihren Ehemännern entwickelten die Frauen dieses Typus erst nach dem Mutterwerden und der räumlichen Trennung von den Schwiegereltern. Wesentlich ist bei diesen Frauen, dass sie keine unterstützende Begleitperson (weder aus ihrer eigenen Herkunftsfamilie noch aus ihrem neuen sozialen Umfeld in der BRD) bei der Ankunft in der neuen Umgebung hatten. Sie waren in den ersten Jahren ihrer Ankunft in der BRD auf sich allein gestellt. Dies galt auch für die Erziehung der Kinder. Die Frauen dieses Typus bekamen gleich im ersten Jahr der Ehe ein Kind. Spezifisch für diese Frauengeneration ist, dass sie Möglichkeiten der Selbstverwirklichung nur in Frauenrollen fanden, wie z.B. im Dasein als Hausfrau, Ehefrau und später als Mutter. Die Einsamkeit und Enttäuschung über die erfahrene Diskrepanz zwischen ihrem vorherigen Deutschlandbild und der Wirklichkeit des Aufnahmelandes sowie dem fehlenden Zugang zur deutschen Mehrheitsgesellschaft einschließlich der verhinderten Erwerbstätigkeit waren Ausgangspunkt für eine Suche nach einem sozialen und emotionalen Halt in den genannten Frauenrollen. Da die Mütter dieses Typus außerhalb der vertrauten sozialen Frauenräume (nachbarschaftliche Beziehungen) keine anderen akzeptierten Wahlmöglichkeiten hatten, blieben ihnen meist nur nachbarschaftliche Kontakte zu ebenfalls durch Heiratsmigration nach Deutschland gelangten Frauen aus der Türkei oder die Mitwirkung in den Frauengruppen, die zu den unterschiedlichen sunnitischen Moscheegemeinden gehören. Weder eröffnete die Mehrheitsgesellschaft ihnen praktikable Möglich-
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
keiten einer sozialen Einbindung, noch duldeten die Familien, dass sich die Frauen Alternativen zu den herkömmlichen gesellschaftlichen ‚Frauenräumen im Kontext der Moscheegemeinden suchten. Diese ‚Frauenräume hatten für die jungen Frauen die Funktion eines sozialen Austausches mit der Außenwelt, sie wurden und waren aber auch Orte der Kontrolle. Zuerst fanden die Repräsentantinnen dieses Typus einen Halt in diesen Frauenräumen. Die Religiosität, die sie durch die soziale und emotionale Bindung an die Frauengruppen der Moscheegemeinden entwickelten, diente zunächst als eine Form der Bewältigung der durch die Heiratsmigration entstandenen schwierigen Lebensbedingungen, und sie begünstigten eine Umdeutung der eigenen familiären Probleme. Die betreffenden Frauen idealisierten ihre Mutterrolle zunehmend. Damit ging die Abwertung der ersten türkischen „Gastarbeiter-Generation“ in Bezug auf ihre elterlichen Aufgaben einher – dies kann als Abgrenzungsversuch gegenüber den Schwiegereltern verstanden werden. Sie warfen der ersten Migrantengeneration vor – besonders den erwerbstätigen Migrantinnen –, dass sie ausschließlich auf ökonomische Ziele wie das Geldverdienen konzentriert gewesen seien und nicht oder weniger auf die Erziehung ihrer Kinder. Im Unterschied zur ersten Generation der Migrantinnen konzentrierten sich diese Frauen auf ihre Kinder. Die religiösen Organisationen /Moscheegemeinden wurden für sie zum Ort der Bindung an die heranwachsenden Kinder und der Identifikation mit ihnen. Besonders die Töchter wurden in dieser Umgebung für die Mütter zu Trägerinnen ihres Stolzes. Die Repräsentantinnen dieses Untertypus erleben die Moscheeorganisationen als eine Verlängerung ihres familialen Raumes. Damit geht für die Mutter die Entlastung von der Elternrolle durch die (teilweise) Übergabe ihrer elterlichen Kontrollfunktion an ihre Gemeinde einher. Die Moscheegemeinden unterstützten die Mütter in diesem Zusammenhang mit einem Erziehungskonzept, das auf ‚Überzeugung und den Dialog mit Kindern anstatt Gewaltanwendung gründet. Dank der auf diese Weise zu ihren heranwachsenden Töchtern hergestellten Bindung fanden die Mütter Sicherheit und emotionalen Halt bei ihren Töchtern. Auf diese Weise erhielten ihre Töchter eine wichtige Funktion für die Selbstverwirklichung der Mütter. Damit delegierten sie an ihre Töchter, ihre eigenen unabgeschlossenen biographischen Themen weiter zu bearbeiten, die im Feld der Religion gleichsam eine Art Zwischenlager gefunden haben. Somit haben die Moschee und die sich in ihrem Kontext entwickelnden Bindungen der Mütter an die Töchter einerseits eine Entlastungsfunktion. Andererseits stellt die Anbindung an die gesellschaftlichen ‚Frauenräume der Moscheegemeinden für die Mütter auch einen Zugewinn an Autorität und Macht innerhalb der Familien, also auch gegenüber den Ehemännern, dar. Die Töchter dieses Typus wurden in den 1980er Jahren geboren, sie stellen damit die erste Generation dar, die im Aufnahmeland auf die Welt kam. Sie
6.2 Typisierungen
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wuchsen bei den Müttern in den oben genannten ‚Frauenräumen auf. Sie erlebten während ihres Heranwachsens, dass ihre Mütter durch ihre Religiosität und ihre Bindung an die religiösen Institutionen ihre Position innerhalb der Familie stärkten. Gemeinsam ist den Töchtern dieses Typus, dass sie im Grundschulalter zwei verschiedene Formen der Schulbildung nebeneinander genossen und in beiden von ihren Müttern unterstützt wurden. Die Töchter erfuhren parallel zu der Bildung in den öffentlichen Schulen der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft ab dem neunten bzw. zehnten Lebensjahr eine religiöse Bildung in den sunnitisch-religiösen Moscheegemeinden. Mit der Zunahme der gesellschaftlichen Fremdenfeindlichkeit und des verstärkten Rassismus in der Mehrheitsgesellschaft und der gleichzeitigen Zunahme der Aktivitäten der religiösen Organisationen der Sunniten in den 1990er Jahren waren die Töchter einer wachsenden, wechselseitig produzierten Spannung zwischen der Moscheegemeinde und der Schule ausgesetzt. Dieser Spannung konnten sie nicht mehr entgehen, als sie von den Müttern mit Abschluss der Grundschule aufgefordert wurden, (auch) in der Schule ein Kopftuch zu tragen. In dieser Lebenssituation reagierten die Töchter dieses Typus auf der Ebene ihres öffentlichen Auftretens und Erscheinungsbildes sehr unterschiedlich; aus diesem Grund werde ich im Folgenden zwei Untertypen unterscheiden. Während die Töchter des Typus I(a) der Aufforderung, ein Kopftuch zu tragen, nachkamen und sich zunehmend an den Forderungen der Moscheegemeinde orientierten, rebellierten die Töchter des Typus I(b) zunächst gegen den Wunsch ihrer Mütter und entschieden sich für die Peergroups in der öffentlichen Schule. Auf die unterschiedlichen Auswirkungen dieser Entscheidung der Töchter werde ich weiter unten eingehen; zunächst will ich weiter die Gemeinsamkeiten herausstellen. Gemeinsam ist beiden Untertypen, dass im Leben der Töchter der religiöse Raum als Medium zur Entwicklung einer Mutter-Tochter-Bindung beiträgt – unabhängig davon, ob die sunnitische Moscheegemeinde den Töchtern mehr als religiöse Bildungsinstitution oder als sozialer Beziehungsraum dient. An dieser Stelle bietet sich eine Anknüpfungsmöglichkeit an Homi Bhabha (im Interview mit Rutherford 1990) und dessen Konzept des „third space“ an.164 Nach diesem Konzept be164 Homi Bhabha betrachtet alle Formen von Kulturen im ständigen Prozess der Mischung (Hybridität), denn keine Kultur an sich ist umfassend. In ihrer jeweiligen Darstellung wird sie wie eine Sprache „übersetzt“, und während dieser Verschiebung verändert sich ihre Struktur. Er bezeichnet den Ort, wo diese Verschiebung bzw. Mischung durch die „Übersetzung“ stattfindet als „third space“. Er schreibt: „ [...] for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ‚third space which enables other positions to emerge. This third space displaces the histories that constitute it, and sets up new structures of authority, new political initiatives, which are inadequately understood through received wisdom.“ (im Interview mit Rutherford 1990: 211); siehe auch Bhabha 1998.
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
deutet „third space“ einen Ort, an dem eine Übersetzungsleistung zwischen zwei kulturellen Kontexten erbracht wird. Was im Zusammenhang dieser MutterTochter-Konstellation übersetzt wird, sind die unterschiedlichen Erfahrungen der Mütter und der Töchter ebenso wie deren gemeinsame Themen. Die familiengeschichtlichen Themen können mit Hilfe dieses Raumes mit religiösen Themen verknüpft werden (z.B. der Wunsch nach klaren Männer- und Frauenbildern bei den Müttern des Typus Ia und der Wunsch nach Bildung bei den Müttern des Typus Ib). Die Bindung zwischen der Mutter und der Tochter an diesem Ort ist ebenfalls eine Bindung zwischen zwei Frauengenerationen. Dank dieses neuen Mediums ihrer Beziehung bemuttern und begleiten sich die Mutter und die Tochter wechselseitig. Das heißt, während die Mütter mit Hilfe der „Mitmütter“ (vgl. Debold/Malavé/Wilson 1994) ihre adoleszenten Töchter ins Frauenleben begleiten, werden sie von ihren Töchtern auf dem Weg in die Einwanderungsgesellschaft begleitet. Es findet eine partielle soziale Rollenumkehr statt, die Mutter wird in gewisser Hinsicht auch zur Tochter und die Tochter zur Mutter. Es entsteht eine Beziehungsverflechtung von gegenseitigen Machtgefühlen. Die neue Kultur der Frauenbeziehungen, die sie über den religiösen Raum entwickelt haben, ist aus der Perspektive der Mütter eine Solidaritätsbeziehung zwischen zwei Frauengenerationen. Sie stellt eine Möglichkeit für die Müttergeneration dar, mit Hilfe ihrer Töchter in der hiesigen Gesellschaft noch einmal neu anzukommen. Somit haben die Töchter die Rolle eines Transformators für die Müttergeneration und dies sowohl in Bezug auf die Moscheegemeinde als auch auf die deutsche Gesellschaft. Im Leben der Töchter führt diese Rollenumkehrung und das Gebrauchtwerden bzw. die Instrumentalisierung durch die Mütter und die Moscheegemeinde zu Schwierigkeiten bei der Entwicklung von Autonomie während der Adoleszenzphase. Je mehr die Töchter sich an diesen religiösen Räumen orientieren und parallel dazu wegen ihrer äußerlichen Erscheinung in der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft sowohl in Institutionen wie der Schule als auch in alltäglichen Begegnungen ausgegrenzt werden, desto mehr entfernen sie sich von den Bildungs- und Partizipationschancen, die ihnen die deutsche Mehrheitsgesellschaft potenziell anbietet. Parallel zu der Abkehr von der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihren Kulturmustern erleben die Töchter eine erhöhte Anerkennung in der Moscheegemeinde. Das führt dazu, dass alle Töchter dieses Typus – trotz anderer manifest geäußerter Erwartungen ihrer Eltern – über das Abbrechen ihrer Schulausbildung nachdenken. Ihre Überlegungen zu einem möglichen Schulabbruch erklären sich aus widersprüchlichen Delegationen der Mütter. Diese wünschen sich einerseits eine Hochschulausbildung für die Töchter, wollen jedoch andererseits weiterhin in einer symbiotischen Bindung mit der Tochter verbleiben. Den letzteren Wunsch können die Töchter eher über eine Eheschließung erfüllen, da sie über die Geburt
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eines Kindes ihren Müttern eine neue Rolle als Großmutter anbieten und die Töchter dabei ihre bisherige, für ihre Herkunftsfamilien und besonders die Mütter bedeutsame Funktion der gesellschaftlichen Anbindung im Raum der Moschee aufrechterhalten können. Aus der Perspektive der Tochter ist dies eine Frage nach der Nutzung von Autonomiemöglichkeiten versus dem Akzeptieren der Autorität der Priorität der Familie und ihrer Erweiterung in der Moscheegemeinde. Dabei stehen hinter den Überlegungen der Töchter über den Abschluss oder eine Fortführung ihrer Schulbildung zugleich Fragen ihrer weiteren Partizipation an der deutschen Gesellschaft. Dabei nehmen sie gleichzeitig die biographischen Themen ihrer Mütter (Bildung und Frauenrollen) auf und bearbeiten sie bei der Gestaltung und Umsetzung ihres eigenen Lebensentwurfs. Im Folgenden werde ich auf die unterschiedlichen Haltungen zur christlichdeutschen Mehrheitsgesellschaft eingehen, die die gegenwärtige Lebenspraxis der Töchter beeinflussen. Diese Unterschiede stellen die Grundlage für die Bildung der im Folgenden herausgearbeiteten Untertypen dar. Untertypus I(a): Mutter und Tochter idealisieren die eigene religiöse Gemeinde und zeigen Desinteresse an allen, die den sunnitischen Islam nicht praktizieren: Bei diesem Untertypus kommt die Tochter der Aufforderung ihrer Mutter entgegen, mit Beginn der Pubertät ein Kopftuch zu tragen. Die Repräsentantinnen dieses Untertypus sind als Familie stark in die sunnitischen Moscheegemeinden eingebunden. Sie verstehen sich als „tolerante Gläubige“ und plädieren für die freiheitliche Ausübung der Religion. Sie machen eine deutliche Trennung zwischen „Offenen“ (Frauen ohne Kopftuch) und „Bedeckten“ (den Frauen, die in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen). Dabei ziehen sie pauschalisierend den Schluss, dass Frauen ohne Kopfbedeckung den Islam nicht praktizieren. Diese manifeste Unterscheidung zeigt sich im Alltag der Mütter und Töchter dieses Untertypus als eine Form der praktischen Ausgrenzung gegenüber allen Menschen, die nicht ihren Lebensvorstellungen entsprechen. Bei den Müttern stellt diese Haltung eine Reaktion auf den Umgang der deutschen und türkischen Männer mit ‚unbedeckten Frauen in der Einwanderungsgesellschaft dar. Bei den Töchtern ist diese Haltung Ausdruck und Folge von Diskriminierungserfahrungen, nachdem sie mit dem Tragen eines Kopftuches in der (deutschen) Schule begonnen haben, sowie der Loyalitätsbindung an ihre Mütter. Mit der Entscheidung für das „Bedecktsein“ regulieren sie auch die Teilnahme an den weiblichen und männlichen Peergroups in der Schule und in der Moscheegemeinde. Die Mütter und Töchter dieses Typus sind während der Adoleszenzphase der Tochter in eine Bindung verstrickt, die durch eine strikte moralische Dichotomie gekennzeichnet ist. Ihr Weltbild ist von klaren Vorstellungen von „gut“ und „böse“ geprägt. Die Mutter kann dank dieser Dichotomie der Tochter die Gefährlichkeit der deutschen Gesellschaft und im Unterschied
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dazu die Sicherheit in der eigenen sunnitischen Religionsgemeinschaft aufzeigen. Damit interagieren Mutter und Tochter miteinander in dichotomen Mustern, die für die Lebensphase der Adoleszenz charakteristisch sind. In dieser Beziehungskonstellation kann der Einfluss der Moscheegemeinde auf die Töchter während der Adoleszenz zunehmen. Die mögliche Ablösung der Tochter aus dem Familienleben wird durch die Bindung an die familienorientierte Moscheegemeinde verhindert, die Töchter werden weiter an die Familie gebunden, obgleich sie selbst ihre Aktivitäten in der Moscheegemeinde als einen Emanzipationsprozess sehen. Dies ist möglich, weil diese religiösen Organisationen das Bild einer aktiven Frau in ihr Weltbild integriert haben. Nökel (2002: 211) spricht in diesem Kontext von „inszenierter Weiblichkeit“. Für die Töchter bedeutet dies, dass ihnen alternativ zur deutschen Schulbildung Karrieremöglichkeiten im Rahmen der Gemeinden angeboten werden, z.B. als Lehrerin oder als Hodscha. Sie können in diesem sozialen Kontext ohne größere Kämpfe mit ihren Müttern eine berufliche Karriere machen und soziale Anerkennung durch diese erlangen. Mit der Entscheidung für das ausschließliche Leben in der Gemeinde verbleiben die Repräsentantinnen dieses Untertypus in einer zirkulären Umgangsform mit der Außenwelt, da sie sich von den Anderen abgrenzen und sich auch von diesen ausgegrenzt oder diskriminiert fühlen bzw. werden. Diese Anderen repräsentieren für sie alle, die den sunnitischen Islam nicht praktizieren, d.h. auch nicht fromme andere (nicht-sunnitische) Türkinnen. Bei diesem Typus werden zwar Freundschaften mit anderen Türkinnen gelebt, doch ein enges Vertrauensverhältnis besteht nur zu Frauen der eigenen Gemeinde. Das MutterTochter-Paar Neziha / Meral Demiray repräsentieren diesen Untertypus (Kap 5.1 und 5.2). Untertypus I(b): Die Mutter übernimmt die Perspektive der deutschen Mehrheitsgesellschaft, idealisiert jedoch ihre religiöse Bildung, die Tochter sucht soziale Anerkennung in einer Peergroup von SchulfreundInnen. Bei diesem Untertypus rebellieren die Töchter zunächst gegen den Wunsch ihrer Mütter und entscheiden sich für die Peergroup ihrer SchulkameradInnen in der öffentlichen, säkularisierten Schule. Es ist die Suche nach sozialer Akzeptanz, die die Tochter in der Adoleszenz dazu bringt, doch das Kopftuch zu tragen. Gemeinsam ist den Müttern dieses Untertypus, dass sie sich in der BRD als „Gast“ betrachten. Sie übernehmen damit die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft und zeigen daher auch Verständnis für deren diskriminierende Strukturen gegenüber den (islamischen) MigrantInnen. Die Mehrheitsperspektive übernehmend bezeichnen sie die MigrantInnengruppen mit gettoisierter Lebensform als nicht kultiviert bzw. zivilisiert sowie als Problemgruppen. Sie idealisieren die christlichdeutsche Mehrheitsgesellschaft wegen der Kombination von säkularer und
6.2 Typisierungen
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religiöser Bildung in ihren Bildungsinstitutionen. Die öffentliche religiöse Kindererziehung betrachten sie als ein Vorbild. Dies hat zur Folge, dass sie den Islam als Religion idealisieren, nicht aber die islamischen Gemeinden, wie bei den Repräsentantinnen des Untertypus 1(a). Ihr Verständnis von Religion baut auf der Verbindung von „Wissen und Bildung“ auf. Dadurch grenzen sie sich von der tradierten Familienstruktur ihrer Herkunftsfamilien ab, die besonders Frauen in ihren Wahlmöglichkeiten einschränkt. Dies hat zur Folge, dass sich die Bindungssuche bei den Töchtern verstärkt. Die Mütter balancieren zwischen der Perspektivenübernahme der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft und der Bindung an die islamischen Moscheegemeinden. Sie benötigen die Moscheegemeinden als Mittel, um ihre Töchter an sich zu binden, da sie jederzeit auf diese Organisationen als Institutionen zurückgreifen können, die Frauen – und somit auch Töchter – kontrollieren. Die Töchter dieses Typus werden von den Müttern auf der manifesten Ebene nicht verpflichtet, ihre Religion zu praktizieren. Sie bekommen die Botschaft, die öffentliche Schule als Bildungsort zu betrachten und sich jedoch gleichzeitig an den sozialen Raum der sunnitischen Religion zu binden. Die Töchter erfahren so eine doppelte Botschaft, da sie einerseits nicht zur Religionsausübung verpflichtet werden und andererseits in der sozialen Welt ihrer Religionsgemeinschaft stigmatisiert werden, wenn sie ihren Glauben nicht in sichtbarer Weise praktizieren. Andererseits erhalten sie einen Platz und Anerkennung im religiösen Raum, wenn sie sich entsprechend den (sozialen) Regeln und Standards der Moscheegemeinden kleiden und verhalten. Die Töchter halten die Doppelbotschaft ihrer Mütter nicht aus. Aufgrund ihrer Loyalität gegenüber ihren Müttern und ihrer Suche nach Anerkennung durch Autoritätspersonen und Peergroup entscheiden sich die Töchter für das Praktizieren der Religion in Rahmen der sunnitischen Moscheegemeinden. Auf diese Weise übernimmt die Tochter aktiv die Anbindung an die religiösen Organisationen. Das Mutter-Tochter-Paar Cennet und Arzu Kalan repräsentiert den Untertypus 1(b). Da dieser Fall im vorangehenden Kapitel nicht dargestellt wurde, wird er im Folgenden als ein Beispiel für diesen Untertypus zusammengefasst. Mutter Cennet Kalan (*1963) ist Sunnitin. Sie wuchs in einem Dorf am schwarzen Meer im Nordosten der Türkei in relativ guten finanziellen Verhältnissen auf. Ihr Wunsch nach weiterer Schulbildung nach der Grundschule wurde von männlichen Verwandten ihrer Großfamilie aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit abgelehnt. Von ihrer Mutter fühlt sie sich damals im Stich gelassen, da sie sie in ihrem Streben nach einer besseren Schulbildung nicht unterstützte. Durch ihre Eheschließung kam sie mit 18 Jahren nach Deutschland und fand sich auch hier in einer ähnlichen Großfamilienstruktur wie der ihrer Herkunftsfamilie wieder, in der den Frauen der Zugang zu Bildung (inklusive Deutschkursen) und
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
zur Arbeitswelt absolut untersagt war. Sie konzentrierte sich auf ihre Rolle als Mutter und Hausfrau und machte diese zu ihrem Beruf. Ihre – vor allem materielle – Großzügigkeit und gleichzeitig kontrollierende Haltung ihren Kindern gegenüber macht die Besonderheit ihrer Mutterrolle aus. Die Erfüllung ihres eigenen Wunsches nach Bildung sucht sie im Kontext der Religion. Dabei dient ihr der Vers des Korans „Lies im Namen deines Herrn, der erschuf“ (vgl. Khoury 1992: 475) zur Rechtfertigung ihres Bildungswunsches. Mit dem Schulbeginn ihrer ältesten Tochter Arzu (*1982) öffnete sich ihr durch ihr Kind ein Zugang zur Bildungswelt in der hiesigen Gesellschaft. Sie distanzierte sich von der einengenden, wie sie sagte, „unkultivierten“ Familienstruktur der Großfamilie durch die Betonung ihrer Mutterrolle; ebenso distanzierte sie sich von der „traditionellen“ Religiosität ihrer Herkunfts- und Schwiegerfamilie durch ihre „bewusst ausgelebte Religiosität“. Dabei nimmt sie sich die konservativ Orientierte der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft als Vorbild, vor allem idealisiert sie deren religiöse Erziehung in kirchlichen Kindergärten. Diese Idealisierung dient ihr zur Abgrenzung von der Herkunfts- und Schwiegerfamilie, die Religiosität und Bildung voneinander trennt. Über das gemeinsame Interesse an Bildung und Religion fühlt sie sich mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbunden. Ihre Tochter Arzu erzieht sie mit dem Auftrag, Religion und Bildung miteinander zu verknüpfen. Mit diesem Auftrag wurde die Tochter im Alter von neun Jahren parallel zur öffentlichen Schule in eine Koranschule geschickt. Die Mutter unterstützt die Tochter in beiden Bereichen, so dass die Tochter nach der Grundschule auf ein Gymnasium wechseln konnte. Als die Tochter 14 Jahre alt war, machten ihre Eltern eine Pilgerfahrt nach Mekka. Arzu blieb während der Reise ihrer Mutter der Schule fern. Sie verbrachte währenddessen ihre Zeit mit ihren FreundInnen außerhalb der Schule, so dass ihr Schulabschluss gefährdet war. Dieser Vorfall, der auch eine Krise im Leben der Tochter zum Ausdruck brachte, wurde durch die Reaktion der Mutter zu einer Krise der Großfamilie. Diese Krise diente der Mutter, die aufgrund ihres neuen Status als Mekkapilgerin viel selbstbewusster geworden war, als Anlass zur räumlichen Trennung von der Schwiegerfamilie. Sie machte die mit „Ausländern“ überfüllte Schule, die „schlechten“ Freunde der Tochter sowie die Schwiegerfamilie für das Versagen ihrer Tochter in der Schule verantwortlich. Die Kleinfamilie zog Mitte der neunziger Jahre bewusst in einen Stadtteil, in dem vor allem Deutsche und nur wenige „Ausländer“ leben. Diese Handlung vollzog die Mutter zu einer Zeit, als von Teilen der Mehrheitsgesellschaft den „ungebildeten MigrantInnen“ die Schuld an den schulischen Misserfolgen ihrer Kinder gegeben wurde. Mit anderen Worten, Mutter Cennet argumentiert ihren Schwiegereltern gegenüber so wie die Mehrheitsbevölkerung gegenüber den EinwandererInnen. An diesem Beispiel wird die Identifikation der Mutter mit der
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deutschen christlichen Mehrheit deutlich. Für die Tochter machte die Positionierung der Mutter zugleich deutlich, wie wichtig der mütterliche Bildungsauftrag ist. Die Ablösung von der Schwiegerfamilie eröffnete der Mutter Cennet mehr Handlungsmöglichkeiten. Sie konzipierte für ihre Tochter einen strengen Tagesablauf. Sie meldete die Tochter zu verschiedenen Kursen in der Moscheegemeinde an, so dass diese außerhalb des Bereiches, der der (direkten oder indirekten) Kontrolle ihrer Mutter unterliegt, keine Freizeit mehr hat und sich einer religiösen Peergroup anschließt. Gleichzeitig hielt sie ihren Ehemann von der religiösen Erziehung ihrer Kinder fern, der nach seiner Pilgerfahrt die strenge Einhaltung von religiösen Geboten (vollständige Körperbedeckung, regelmäßiges Beten usw.) durch seine Tochter wünschte. D.h. Cennet Kalan will ihre Tochter durch die Moscheegemeinde kontrolliert wissen, lässt ihr jedoch trotzdem Freiheiten (wie Handy, modische Kleider, Führerschein), die für die soziale Akzeptanz in der Jugendszene entscheidend sind. Über die Delegation der Kontrolle an die Moscheegemeinde und die Erfüllung von (materiellen) Freiheiten hofft die Mutter, sich die Loyalität ihrer Tochter zu erhalten. Die Loyalität gegenüber der Mutter und der Wunsch nach Akzeptanz in der sunnitischen und Bindung an die sunnitische Gemeinde sind schließlich auch die Motive der Tochter, sich in der Adoleszenz für das Tragen eines Kopftuches zu entscheiden. Dabei gelingt es Arzu mit der Unterstützung ihrer Mutter, das Praktizieren der Religion auf das Tragen eines Kopftuches zu begrenzen. Sie gleicht ihren Sonderstatus durch eine rege Teilnahme an religiösen Aktivitäten und ihre journalistische Tätigkeit für die Gemeinde aus. Die Mutter erwartet als Gegenleistung von der Tochter, den Bildungsauftrag – Abitur und Studium – zu erfüllen. Die Tochter versucht aus Dankbarkeit gegenüber der Mutter deren Erwartungen zu entsprechen, jedoch ohne eigentlich selbst von diesem Auftrag überzeugt zu sein. Sie geht nicht davon aus, dass ein absolviertes Studium ihr andere Zukunftsperspektiven eröffnen könne als die, die sie durch ihre Einbindung in die Familienstruktur und der religiösen Gemeinde ohnehin hat.
6.2.2 Zweiter Typus: Bindung über Leid und Schuldgefühle Generalisierend kann für den Typus II festgestellt werden, dass die Repräsentantinnen dieses Typus im Herkunftsland zu einer diskriminierten Minderheit gehören, in dem hier rekonstruierten Fall zur alevitischen Minderheitsgruppe in der Türkei. Deren Angehörige wurden im 20. Jahrhundert von der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft und vom türkischen Staat als so genannte Nichtgläubige verfolgt, viele Menschen wurden in Massakern ermordet. Die Müttergeneration
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dieses Typus wurde in den 1950er Jahren geboren und wuchs mit den Auswirkungen dieser ethnischen Verfolgung auf. Ihre Herkunftsfamilien verließen Ende der 1950er bzw. während der 1960er Jahre durch Binnenmigration innerhalb der Türkei die ihnen vertrauten alevitischen Dorfgemeinden und ließen sich aus ökonomischen Gründen in den Städten nieder. Die städtische Bevölkerung in der Türkei war und ist mehrheitlich sunnitisch. Aufgrund der vorangegangenen Verfolgungen innerhalb der Türkei war ihr Leben in der Stadt von Geheimhaltung der alevitischen Zugehörigkeit gekennzeichnet. Wie ihre Eltern Zeugen von Anschlägen auf und Massakern an Aleviten waren, so wurden auch die Mütter dieses Typus zu Zeugen von Gewalt gegen Aleviten durch die sunnitischtürkische Mehrheit. Über diese gemeinsamen traumatischen Erlebnisse wurde in den alevitischen Familien im sunnitisch dominierten städtischen Lebenskontext nicht gesprochen. Dies führte zu einem Bruch in der intergenerationalen Wissensübertragung. Mit der Geheimhaltung ging eine fragmentierte Tradierung der Familiengeschichte Hand in Hand, weshalb die folgenden Generationen kaum einen Zugang zu ihrer Familiengeschichte haben. Ihr Anderssein gegenüber der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft lernten die Mütter dieses Typus als etwas Bedrohliches kennen. Geheimhaltung der ethnisch-religiösen Abstammung und die Anpassung an die sunnitisch geprägte Mehrheitsgesellschaft waren und sind teilweise immer noch für sie Strategien, um den bedrohlichen Folgen des Andersseins zu entgehen, um nicht ‚aufzufallen. Ihre eigenen Eltern erlebten die Mütter dieses Typus nicht nur als nicht schützend: Sie erlebten ihre eigenen Mütter als unterdrückend und kontrollierend. Dahinter stand jedoch oft eine vergleichbare Intention, nämlich vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verfolgung in ihrer Umgebung nicht als Alevitinnen, also als Angehörige einer gefährdeten und vergleichsweise schutzlosen Minderheit, aufzufallen. Den Müttern dieses Typus ist die Präsenz von schmerzlichen Themen in der Kindheit gemeinsam, wie zum Beispiel Tod, Hunger, Gewalt, Unterdrückung, Angst oder fehlende ökonomische und emotionale Sicherheit. Durch ihr Streben nach mehr sozialer und finanzieller Sicherheit wurde die Migration für die Mütter dieses Typus zu einer sich wiederholenden Lebenserfahrung. Anders als die Repräsentantinnen des Typus I kamen die Mütter des Typus II (auch als nicht volljährige) Arbeitsmigrantinnen ohne Ehemänner nach Deutschland. Dies war in den 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre. Für ihre Migration waren eigene Familienmitglieder, die vor ihnen nach Deutschland migriert waren, das Bindeglied. Die Migration nach Deutschland erlebten die Mütter dieses Typus einerseits als Befreiung von belastenden Lebensverhältnissen und von Stigmatisierungserfahrungen aufgrund ihrer alevitischen Zugehörigkeit in der Türkei. Andererseits wurden sie in Deutschland wiederum durch die pauschale Mar-
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kierung als „Türkin“ erneut stigmatisiert und dabei zugleich mit der sie (auch in Deutschland) ausgrenzenden und verfolgenden Mehrheitsgesellschaft ihres Herkunftslandes gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung als Türken durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft förderte die fortgesetzte Nichtthematisierung der alevitischen Zugehörigkeit. Bei den Müttern stellte sich das Gefühl ein, erneut die eigene Abstammung verheimlichen zu müssen. Damit verbunden war oft das Gefühl einer spezifisch weiblichen Schutzlosigkeit und Gefährdungssituation. Mit zunehmendem wirtschaftlichen Erfolg und sozialem Aufstieg versuchten die Mütter dieses Typus über die materielle Absicherung, Sicherheit und Bestätigung zu finden und so bisherige Verunsicherungen in ihrer Lebensgeschichte zu kompensieren. Im Unterschied zu den Vertreterinnen des Typus I, die als Ehefrauen nach Deutschland kamen, brachten die Mütter des Typus II ihre Ehemänner aus der Türkei in die BRD. Aufgrund des bundesdeutschen Ausländergesetzes durften die nachgeholten Ehemänner in den ersten Jahren nach der Eheschließung keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Damit lag die finanzielle Verantwortung für die Familien auch nach der Geburt der Kinder bei den Müttern. Darüber hinaus oblag ihnen die Begleitung oder Einführung des Ehemannes auf seinem Weg in das soziale Leben der hiesigen Gesellschaft. Für die Mütter dieses Typus bedeutete die Verantwortung für die Familie sowohl eine Stärkung ihrer Position als auch eine Überforderung durch die damit verbundenen vielfältigen Aufgaben und Rollen, als Versorgerin, Mutter, Hausfrau und Ehefrau. Spezifisch für die Mütter dieses Typus ist, dass sie durch die überfordernden aktuellen Lebensbedingungen und die unbearbeiteten früheren traumatischen Lebenserfahrungen nicht bis zum gesetzlich festgelegten Rentenalter Arbeitsfähigkeit ausüben bzw. tätig bleiben können. Als manifeste Themen dienen den Müttern die Erwerbstätigkeit und die harte Lebenssituation sowohl in der Türkei als auch in der BRD zur Erklärung ihrer Lebenslage. Da sie sich von ihrer Herkunftsfamilie und den Ehemännern allein gelassen fühlen, suchen sie emotionale Unterstützung bei ihren Töchtern. Damit geben sie ungewollt ihre durch ihre belastende Lage geprägten Lebensgefühle an ihre Töchter weiter, ohne dass den Töchtern die dazugehörigen Lebens- und Familiengeschichten vermittelt werden. Dieses Ergebnis, dass die Mütter dieses Typus ihre belastenden Verfolgungs-, Ausgrenzungs- oder Diskriminierungserfahrungen an ihre Töchter in unterschiedlichen Formen tradieren, lässt sich mit Hilfe des Generationskonzepts Mannheims (1964: 538) sowie des bei Elias und Scotson (1993: 269-272) diskutierten Begriffs der „sozialen Vererbung“ angemessener begreifen. In dem folgenden Diskussionskapitel, in dem ich typenübergreifend nach der Bedeutung des sozialen Erbes der Herkunftsgesellschaft in der Begegnung mit der neuen Mehrheitsgesellschaft frage, komme ich auf diesen
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
Ansatz zurück. Zunächst soll jedoch die Darstellung dieses Typus zu Ende geführt werden. Analog zum Typus I wurden auch die Töchter beim Typus II in den 1980er Jahren geboren. Sie stellen damit die erste in Deutschland geborene Generation der vor der Verfolgung emigrierten alevitischen Minderheitsgruppe dar. Gemeinsam ist den Töchtern dieses Typus, dass sie in einer schwierigen Familienkonstellation aufwachsen. Wesentlich ist für sie, dass sie in der Kindheit ihre Mütter als überfordert erlebten. Als Kleinkinder lernten sie ziemlich früh, ihre bereits leidenden und überforderten Mütter nicht auch noch mit ihren Bedürfnissen zu beanspruchen bzw. diesen nicht zur Last zu fallen. Die Töchter erlebten in diesem Umfeld ihr Dasein als eine weitere Belastung für ihre Mütter, was sich bei ihnen in der Form von Schuldgefühlen manifestierte. Wesentlich ist bei den Töchtern dieses Typus die Übernahme der über Generationen tradierten Delegation ihrer Mütter (und Großmütter), sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen und nicht aufzufallen. Sie lernten durch Gehorsamkeit und Anpassung in der Schule wie auch ihrer Mutter gegenüber Anerkennung und Akzeptanz zu erlangen, ohne dass ihnen der Hintergrund dieser Delegation vermittelt wurde. Das heißt, die Töchter kannten die Familiengeschichte nicht, dennoch prägte diese ihre Beziehung zur Mutter. Zu einer Wende in der Mutter-Tochter-Beziehung kam es nach erneuten Massakern und Anschlägen auf Aleviten in den 1990er Jahren in der Türkei. Die darauf folgenden Proteste in der Türkei ließen das Thema der Verfolgung der Aleviten auch zum Bestandteil des öffentlichen Diskurses unter den alevitischen MigrantInnen wie in der weiteren Öffentlichkeit in der Bundesrepublik werden, was bei den Müttern Erinnerungen an in der Kindheit erlittene Verfolgungen und Stigmatisierungen reaktivierte. Die Töchter erlebten, dass die Verfolgung auch zum expliziten Bestandteil der innerfamilialen Kommunikation wurde. Die Mütter unternahmen den Versuch, sich über die Anbindung an alevitische Organisationen mit der Frage ihrer kollektiven Zugehörigkeit auseinanderzusetzen und ihre Verfolgungserfahrungen biographisch zu bearbeiten. Den in der BRD heranwachsenden alevitischen Töchtern fehlte das Wissen über ihre Familiengeschichte und ihre ethnisch-religiöse Zugehörigkeit, so dass es ihnen schwer fiel, eine Verbindung zwischen den alevitischen Organisationen und sich selbst herzustellen. Sie reflektierten die Situation der Mütter aufgrund der nicht existierenden Erinnerungskultur in der Weise, dass die Mütter aufgrund ihres anscheinend (und in gewisser Weise auch tatsächlich) ‚individuell erfahrenen Leidens Verständnis und Respekt verdienten. Im emotionalen Sinne hat das Verschweigen der Vergangenheit einen Rollenwechsel zwischen Mutter und Tochter begünstigt: Die Mutter wird von der Tochter emotional bemuttert. D.h. die Mütter wurden von den Töchtern von ihren mütterlichen Pflichten entlastet
6.3 Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern
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und von ihren Töchtern geschützt. (Hier besteht ein Unterschied zum Typ I, bei dem eine soziale Bemutterung der Mütter durch die Töchter stattfindet.) Diese gesellschaftlichen Veränderungen in den 1990er Jahren verursachen in der Schule eine öffentliche Auseinandersetzung über die Vielfalt der Machtstrukturen innerhalb der MigrantInnengruppen mit türkischem Hintergrund. Während die Töchter dieses Typus von den praktizierenden sunnitisch-türkischen Klassenkameraden stigmatisiert werden, erhalten sie von der christlichdeutschen Mehrheitsgesellschaft mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung. Dies ist vor allem im Zusammenhang mit der derzeitigen Kopftuchdebatte in der BRD zu sehen. Anders als die Töchter bei dem Typus I, die wegen ihres Kopftuches in der Schule diskriminiert werden, finden die Töchter beim Typus II bei ihren christlich(-deutschen) KlassenkameradInnen eine (gewisse) Unterstützung dabei, ihr Anderssein innerhalb der MigrantInnengruppe aus der Türkei zu thematisieren. Durch die alevitische Gemeinde gewinnen die Töchter dieses Typus zwar eine größere Nähe zur Geschichte ihrer Mütter, doch bietet die alevitische Organisation den Töchtern auf Dauer kein zufriedenstellendes Gefühl einer kollektiven Zugehörigkeit an. Durch die fehlende Offenheit der mittleren Generation gegenüber den Heranwachsenden wird die alevitische Gemeinde in erster Linie zu einem Ort der sozialen Kontrolle. Die Töchter fühlen sich hier stets unter Beobachtung. Da sie verschiedene Zugangsmöglichkeiten zu anderen (potentiellen) Peergroups in anderen Institutionen der deutschen Gesellschaft haben, praktizieren sie den alevitischen Glauben nicht kontinuierlich. Das Mutter-Tochter-Paar Elif und Ayla Toprak repräsentiert diesen Typus.
6.3 Zusammenfassung der Ergebnisse: Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern: Alevitinnen und Sunnitinnen 6.3 Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern Fallübergreifend werden hier die Untersuchungsergebnisse hinsichtlich der sozialen Vererbung zusammengefasst. Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei der sozialen Vererbung auch um eine „Übertragung“ bzw. Tradierung der Mehrheits- und Minderheitserfahrungen der jeweiligen Herkunftsfamilien an die Tochtergeneration. Die Vergleichsperspektive wird hier auf die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten in der Lebenspraxis der Töchter mit alevitischer und sunnitischer Zugehörigkeit gerichtet. Generell zeigen die Interviews, dass die Frage der Zugehörigkeiten Ende der 1990er Jahre für alle Biographinnen ein aktuelles Thema geworden ist. Das lässt sich auf das Erleben von Unsicherheit durch die soziopolitischen Veränderungen sowohl in der Türkei als auch hier in Deutschland sowie auf die sich
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
dadurch verändernde Mehrheits- und Minderheitssituation zurückführen. Bei der Generation der Töchter zeigen sich diese Einflüsse bei den Begegnungen in den öffentlichen Schulen, worauf ich weiter unten eingehen werde. Im Kontext der christlich-deutschen Mehrheitsgesellschaft handelte es sich ab den 1990er Jahren um die deutsche Wiedervereinigungsgeschichte. In der durch den Mauerfall symbolisierten „gesellschaftlichen Umbruchsphase“ wurden neue Grenzen zwischen „Ihr“ und „Wir“ gezogen. Demzufolge standen die nichtdeutschen „ethnokulturellen Minderheiten“, wie Christian Giordano es zutreffend ausdrückt, „zwischen dem Hammer der Identitätsaufgabe und dem Amboss der Ausgrenzung“ (Giordano 2000: 389). Während einerseits zwischen den Ost- und Westdeutschen zuerst eine Gleichheit aktiviert, aber schon bald die „Differenzen“ im Bereich der Lebenserfahrung hervorgehoben wurden (vgl. Rommelspacher 2002), nahmen die Fremdenfeindlichkeit und der Rassismus gegenüber MigrantInnen sowohl in Diskursen und Bildern als auch in Taten in der Öffentlichkeit zu. Die „Ausländer“ wurden als (neue) „Andere“ gekennzeichnet, um ein Bild von „Wir als Deutsche“ zu entwickeln. In diesem Sinne lassen sich die gesellschaftlichen Umgangsformen mit Nichtdeutschen und Nichtchristen in den 1990er Jahren als eine Manifestation der Folge der deutschen Geschichte, d.h. des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs deuten. Bei den MigrantInnen mit türkischem Hintergrund zeigte sich in den 1990er Jahren als Reaktion auf die durch diese gesellschaftlichen Veränderungen produzierten kollektiven Gefühle der Unsicherheit der Versuch, durch Vereinsgründungen eine Form organisierten Zusammenschlusses zu entwickeln. Die Töchter des Samples der vorliegenden Untersuchung waren einerseits Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen in der Schule ausgesetzt, andererseits wurden sie von ihren Müttern motiviert, in den alevitischen oder sunnitischen Gemeinden eine für die gesellschaftliche Repräsentation ihrer Familie geeignete Statusposition zu erwerben. Während die sunnitischen Töchter das Erleben von Unsicherheit im Kontext der Mehrheitsgesellschaft mit der angebotenen Sicherheit in den sich etablierenden Organisationen ihrer sunnitischen Glaubensgemeinschaft kompensieren konnten, fanden die alevitischen Töchter in dieser Umbruchsphase keinen sicheren Ort in den sich neu bildenden alevitischen Organisationen. Auf die unterschiedlichen Funktionen der alevitischen und sunnitischen Organisationen für die jungen Frauen werde ich weiter unten detailliert eingehen. Nach den Ergebnissen der Fallanalysen können die alevitischen und sunnitischen Töchter meines Samples vor diesem soziopolitischen Hintergrund als ‚Generation der Migrantenjugendlichen in der gesellschaftlichen Umbruchsphase bezeichnet werden. Allgemein ist damit für die Generation der Töchter von einer Art von „Politisierung“ zu sprechen, die auf die familiale Bindung, auf die biographischen Erfahrungen sowie auf die
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adoleszenzspezifische politische Identitätsbildung als „Entwicklungsaufgabe“ (Hopf und Hopf 1997) zurückzuführen ist. Bei dieser verstärkten Orientierung der Heranwachsenden an der Kultur der Eltern zeigt sich – so die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung – eine transformative Kraft von Traditionalität und Traditionsbildung in der Migration.165 Gemeinsam ist den Töchtern des Samples der vorliegenden Arbeit, dass sie in der Schule aufgrund ihres zugeschriebenen Status als nichtdeutsche Schülerinnen in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens Ausgrenzungserfahrungen durch LehrerInnen und KlassenkameradInnen machen. Dies erleben die alevitischen und sunnitischen Heranwachsenden in den verschiedenen Phasen ihrer Schulbiographie in unterschiedlicher Weise. Im Hinblick auf die Ergebnisse der Fallanalysen ist jedoch festzuhalten, dass die Schule wenig Raum für die wechselseitige Integration der unterschiedlichen Lebensformen und Lebensperspektiven im Verhältnis zwischen den Migrantenjugendlichen und ihren der Mehrheitsgesellschaft zugerechneten KlassenkameradInnen bietet. Denn in der Schule geht es, wie Tillmann (1999: 132) zu Recht betont, keineswegs nur um Unterricht und Erziehung, sondern immer auch um gesellschaftliche Reproduktion, um soziale Auslese und Verhaltensnormierung. Infolgedessen dienen die Unterrichtsstunden in der Schule der gezielten Beeinflussung und sind auf die Aneignung von gesellschaftlich erwünschten Kenntnissen, Fähigkeiten und Werthaltungen ausgerichtet. In der Schule, als der öffentlichen Bildungsinstitution der christlichdeutschen Mehrheitsgesellschaft, erfahren die Kinder und Heranwachsenden, dass die hiesige Gesellschaft kaum durchlässig ist. Sie machen die Erfahrung von Diskriminierung und kulturalisierenden Zuschreibungen durch Lehrpersonen (vgl. Granato 1997, Weber 1999). Dabei erleben die Mädchen in der vorliegenden Untersuchung die LehrerInnen als Autoritätspersonen, die ihnen überwiegend mit einem stereotypen Bild von „den türkischen Mädchen“ begegnen (vgl. Weber 2003 und Rodríguez 2003). Manifestierend zeigt sich dies am Beispiel des Kopftuches. Für die ihren Glauben praktizierenden Mädchen, wie das Fallbeispiel Meral Demiray veranschaulichte, bedeutet dies, dass sie mit dem Bild eines fremdbestimmten, passiven und Kopftuch tragenden Mädchens konfrontiert werden, das nicht unbedingt ihrem Selbstverständnis entspricht (vgl. Riegel 2003, Weber 1999). Dieses Bild der „türkischen Mädchen“ ist nicht nur in der Schule und der Wissenschaft, sondern auch in den Medien häufig zu finden. Nach der Darstellung in der Zeitschrift Der Spiegel (2004, Nr. 47, S. 79) verzichtet ein Mädchen mit dem Tragen eines Kopftuches nicht nur auf eine
165 Dass dies häufig von der hiesigen Mehrheitsgesellschaft übersehen wird, wurde von Ursula Apitzsch (1999a; 1999c; 2002) zu Recht mehrmals kritisiert.
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Bildungszukunft, sondern es wird auch „in fremden Heimatdörfern verlobt, verheiratet, weggesperrt“. Bei den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung ist den interviewten Töchtern gemeinsam, dass sie im Hinblick auf ihre Schul- und Berufausbildung mehr erreichen wollen als ihre Eltern, vor allem mehr als ihre Mütter. Dabei werden sie auf ihrem Bildungsweg besonders von ihren Müttern unterstützt, auch wenn diese zum Teil nur ein geringes Wissen über das Schulsystem in Deutschland besitzen. Die Mütter in meinem Sample sprechen den Wunsch aus, dass ihre Töchter einen Hochschulabschluss erwerben, berufstätig werden und in der Zukunft als finanziell unabhängige Frauen leben sollen. Es lässt sich feststellen, dass ein Universitätsstudium zum Teil das „Wunschbild“ der (bildungsfremden) Mutter bzw. der Eltern ist und dass sie dessen Verwirklichung von ihren Töchtern fordern, ohne zu wissen, was das Studieren an einer Hochschule im System der hiesigen Gesellschaft konkret bedeutet. So sind es in meinem Sample meistens die Töchter, die ihre Mütter davon überzeugen müssen, dass sie mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ihrer Tochter zufrieden sein sollten, weil es für sie unter den bestehenden gesellschaftlichen und zum Teil auch familienbiographischen Bedingungen sehr mühsam wäre, ein Hochschulstudium zu absolvieren – trotz der Bildungsmotivation, die nicht zuletzt die Erziehung der Mütter bei ihnen erzeugt hat. Diese Haltung der Töchter ist darauf zurückzuführen, dass das deutsche Schulwesen mit seinem bereits in der Grundschule einsetzenden selektiven Bildungssystem sowie migrations- und schichtbedingte Differenzen unter den SchülerInnen ausschließende Verhaltensnormierung und „Lücken“ produziert. Besonders für die SchülerInnen aus den Migrantenfamilien zeigt sich dies in der institutionellen rassistischen Diskriminierung (vgl. Gomolla 2000, Gomolla/Radtke 2000). Somit bietet die Schule vor allem Kindern aus Einwandererfamilien kaum eine stabile „Brücke“, um einen respektablen Platz im Berufssystem der Gesamtgesellschaft zu finden. Dieses Ergebnis stützt auch ein Bericht von Jan-Martin Wiarda in der Wochenzeitung Die Zeit (2005, Nr.33, S. 80), in dem die Schulsituation der Kinder aus Einwandererfamilien in Kanada und Deutschland verglichen wird. Besonders hervorgehoben wird darin der unterschiedliche Umgang mit Differenzen unter den Schülern; dabei sei der Begriff der gegenseitigen Akzeptanz dem der „Toleranz“ vorzuziehen, denn der Begriff der Toleranz impliziere, dass das Anderssein etwas sei, das man „aushalten müsse“. Im Kontext der vorliegenden Untersuchung ist zu betonen, dass einer der wichtigsten Bestimmungsgründe für den Bildungserfolg oder -misserfolg der Töchter die Erfahrung von (fehlender) Akzeptanz und Anerkennung in der Schule sowie in der Öffentlichkeit der Mehrheitsgesellschaft ist, wie dies auch die Befunde einiger anderer empirischer Untersuchungen belegen (vgl. Rommelspacher 2002, Hummrich 2002, Riegel 2004).
6.3 Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern
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Die folgenden Unterschiede lassen sich in den schulischen Erfahrungen bei den alevitischen und sunnitischen Töchtern in meinem Sample feststellen. Die Ergebnisse der Fallanalysen zeigen, dass die sunnitischen und alevitischen Töchter infolge der Einstellung ihrer Eltern – zum Beispiel ablesbar an deren Wunsch, die Töchter mögen sich zugunsten ihres Schulerfolgs mehr an den deutschen MitschülerInnen orientieren, oder an deren Absicht, sie in Klassen oder Schulen mit einem geringerem Anteil „ausländischer“ Kinder zu schicken – bereits in den Grundschuljahren lernen, ihresgleichen als „Hindernisse“ bzw. „schlechten Einfluss“ zu betrachten. Interessant ist, dass die Eltern dabei die Maßstäbe übernommen haben, die im öffentlich dominanten Diskurs unter den ‚deutschen Eltern vorherrschend sind. Trotz dieser gemeinsamen Einstellung zeigt sich bei den alevitischen Töchtern der Unterschied, dass sie aufgrund ihrer familienbiographischen Erfahrungen die Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft als eine Überlebensstrategie erlernt haben. Diese Anpassung ermöglicht im Rahmen dieser Einstellung zwar Akzeptanz und Anerkennung, hat hier jedoch zumeist vorwiegend die Funktion, ein Gefühl der Sicherheit zu erzeugen. Diese Haltung mündet bei einigen alevitischen Töchtern zum Teil in die allgemeine Forderung, „alle Ausländer“ hätten sich an die deutsche Gesellschaft anzupassen. Dies zeigt sich ausdrücklich in der Lebensphase der frühen und mittleren Adoleszenz und verstärkt sich in einer Klassenkonstellation, in der sie mit den Kopftuch tragenden türkischen Mädchen konkurrieren. Denn in diesen Klassenkonstellationen werden sie von ihren deutschen MitschülerInnen und LehrerInnen stets mit den nicht angepassten „Kopftuchmädchen“ verglichen und als „angepasste Türkinnen“ betrachtet. Die bereits angesprochenen soziopolitischen Veränderungen wirkten sich besonders in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre aus, so dass dies häufiger zu Auseinandersetzungen unter den Heranwachsenden führte. Hierbei treten religiöse Zugehörigkeitsmarkierungen wie bspw. das (Nicht-)Essen von Schweinefleisch, das (Nicht-)Fasten sowie nationale Zugehörigkeitsmarkierungen, wie bspw. die Sprache, als Themen dieser Auseinandersetzungen auf. Ferner zeigen die Fallanalysen, dass der Umgang mit der türkischen und deutschen Sprache ebenfalls ein verbindendes Thema zwischen dem Zuhause und der Schule ist. Um ein Beispiel zu geben: Die Tochter Ayla Toprak weigert sich, in der Schule türkisch zu sprechen, sie nähert sich auf diese Weise den deutschen MitschülerInnen und LehrerInnen. Sie begründet die Weigerung, türkisch zu sprechen, auf der manifesten Ebene damit, dass sie ihre deutschen MitschülerInnen nicht aus der Kommunikation ausgrenzen möchte. Im Zusammenhang mit ihrer Familiengeschichte kann ihr Insistieren auf dem Nichtsprechen der türkischen Sprache jedoch auch als ein impliziter Protest gegenüber allem verstanden werden, was mit sunnitisch-türkisch zusammenhängt, und als Soli-
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darität mit ihrer Mutter und alevitischer Zugehörigkeit. Das heißt, es kommt zu einem Rollenwechsel gegenüber VertreterInnen der türkischen Mehrheitsgesellschaft. Ayla übernimmt somit die Rolle einer Anwältin für die Generation ihrer verfolgten (Groß-)Eltern. Durch diesen Rollenwechsel greift sie, mit den Worten von Elias und Scotson (1993: 15), zu einer „Gegenstigmatisierung“ und verändert so die Machtbalance zwischen Sunniten und Aleviten. Trotz der größeren Anerkennung, die alevitische Töchter wie Ayla im Vergleich zu ihren Kopftuch tragenden Mitschülerinnen erfahren, ist die Schule auch ein Ort, an dem sie immer wieder mit den unterschiedlichen Machtbalancen konfrontiert werden. Von ihren sunnitisch-türkischen MitschülerInnen hören sie, dass sie nicht das Bild der normalen Türkin repräsentierten. Sie beschuldigen sie sogar des Verrates, so z.B. mit den Worten „du bist ja richtig Deutsch“. Gleichzeitig werden sie von den deutschen SchülerInnen aufgrund ihrer abendlichen Freizeitaktivitäten, ihrer Vorstellungen und Verhaltensnormen im Bereich der Sexualität oder ihres familialen Wertesystems als „du bist einfach Türkin“ ausgegrenzt und als ‚nicht dazu gehörend betrachtet. Im Endeffekt betonen beide Gruppen, dass sie nicht zu ihnen gehören. Interessanterweise gibt es in meiner Untersuchung mehrere alevitische Töchter, die sich im Fall der zuletzt genannten Aspekte auf der Erlebensebene ihren sunnitischen Mitschülerinnen näher fühlen als ihren deutschen Mitschülerinnen. Anders als die alevitischen Töchter machen die sunnitischen Töchter durch das Tragen eines Kopftuches in der Schule deutlichere Diskriminierungserfahrungen. Hierbei zeigt sich das Verhalten der LehrerInnen als Autoritätspersonen als besonders bedeutsam. Die Fallanalysen zeigen, dass vor allem die Erfahrungen mit den LehrerInnen der Fächer Deutsch und Geschichte, also den Gesinnungsfächern, die Stuart Hall (2000: 102) als „Stützsäulen der nationalen Identität und Kultur“ bezeichnet, als problematisch betrachtet werden. Daher ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass diese Fächer, die die Identifizierung mit der christlichen Kultur und der deutschen Nation fördern, für viele praktizierende sunnitisch-türkische Töchter problematisch sind. Die Erfahrung der Ablehnung und Abwertung des Fremden, die meist nicht explizit zum Ausdruck kommt, aber „implizit“, zum Teil als „heimlicher Lehrplan“166, mitschwingt, 166 Erste Überlegungen zur Existenz und Bedeutung des heimlichen Lehrplans gehen auf den Anfang des 20. Jahrhunderts zurück – Tillman verweist hier auf Bernfeld (1925). Das Thema wurde jedoch erst seit den 60er Jahren von Sozialwissenschaftlern aufgegriffen und weiter entwickelt (für eine detaillierte Darstellung vgl. Tillmann 1999: 168-182). Für diese Untersuchung hat dieses Konzept im Zusammengang mit dem Konzept der Ideologiebildung durch die Unterrichtsinhalte eine Relevanz. Durch den heimlichen, oft auch durch den manifesten, Lehrplan wird eine kulturelle Hegemonie durchgesetzt und gestützt, durch die die „Kulturen der Unterdrückten“ zum Schweigen gebracht werden. In ihrem Artikel „Erziehung und Toleranz“ stellt Diehm (2000: 268-269) in ihrer Analyse über die Repräsentation von
6.3 Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern
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kompensieren sie mit der Anerkennung und Akzeptanz durch ihre religiöse Gemeinde. Speziell ist hierbei zu erwähnen, dass durch die besondere Bedeutungszuschreibung, die das Kopftuchtragen erhalten hat, auch die Heranwachsenden selbst zum Teil dazu neigen, ihre schlechten (Erfolgs-) Erfahrungen in der Schule einseitig auf das Tragen eines Kopftuches und die dadurch erfahrene Diskriminierung zu reduzieren. Ferner lässt sich bei den sunnitischen Töchtern feststellen, dass sie sich im Vergleich zu anderen türkischen Mädchen (bspw. im Vergleich mit alevitischen Mädchen) durch die LehrerInnen in zweifacher Hinsicht von Diskriminierung betroffen fühlen – als Nichtdeutsche und als praktizierende Muslimin mit Kopftuch. Das Nachlassen der schulischen Leistung wird mit verstärktem Engagement in der Moschee kompensiert, in der sie im Gegensatz zum deutschen, christlich geprägten schulischen Umfeld Sicherheit und Anerkennung finden. Je stärker die Verbundenheit zur Moscheegemeinde ist, desto mehr kompensieren die sunnitischen Töchter ihre Schwierigkeiten im Lebensbereich und Umfeld der Schule mit einer Annäherung an die – ihnen Anerkennung und Zukunftsperspektiven ermöglichenden – religiösen Organisationen und desto mehr grenzen sie sich selbst vom sozialen Austausch in der Schule und deren Umfeld aus. Da die sunnitischen Organisationen – wie bereits gezeigt – sich inzwischen weitgehend etabliert haben, können sie den Töchtern parallele Ausbildungs- und Karrieremöglichkeiten zu den deutschen öffentlichen Schulen bieten. Das heißt, ihnen wird dadurch eine Form der „Doppelperspektivität“ (Gültekin 2003) ermöglicht. Da sie dadurch über eine alternative Zukunftsorientierung verfügen, sehen sich die praktizierenden und an die Moscheegemeinden gebundenen sunnitischen Töchter viel eher in der Lage als die unter dem Druck stehenden alevitischen Töchter, in der hiesigen Gesellschaft einen Platz für sich zu erobern. Gemeinsam zeigt sich bei den Fallanalysen, dass die Verbindung zu einer Glaubensgemeinde eine bedeutende Rolle für die Beziehung zwischen den Müttern und ihren Töchtern spielt. Die Entstehungsformen der alevistischen und der sunnitischen Glaubensgemeinschaften in Deutschland spiegeln die jeweilige Machtposition der beiden Gruppen in der Herkunftsgesellschaft der Türkei wider. Während die alevitischen Vereine in den 1980er Jahren primär als „patriotische“ Vereine gegründet wurden und als Treffpunkte für landsmannschaftlich definierte Kreise dienten, wurden die sunnitischen Moschee-Organisationen mit der Unterstützung des türkischen Staates sowie einiger türkischen Parteien als Migrantenkindern in Schulbüchern fest, dass auch in diesen Darstellungen ein „heimlicher Lehrplan“ herrscht. Sie schreibt, dass die Thematisierungsmuster dieser Schulbücher entweder Menschen als „Ausländer“ und „Deutsche“ ethnisch oder national kodieren und auf diese Weise in „Wir“- und „Sie“-Gruppen auseinanderdividieren. Vgl. dazu auch Mannitz/Schiffauer (2002: 87-100), Mannitz (2002: 108-120).
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6 Typisierung und Zusammenfassung der Ergebnisse
eine Form der Verbreitung und Institutionalisierung der islamischen Gemeinden gegründet (Kapitel 3.2 und Kapitel 3.2.1). Erst ab den 1990er Jahren, durch die soziopolitischen Veränderungen angeregt, begannen Aleviten in Europa, sich politisch zu organisieren und ihr Minderheitendasein in die europäische Öffentlichkeit zu tragen. Da die Tradition der Moschee-Organisation bei den sunnitischen Gemeinden in Deutschland älter ist und sie in finanzieller, aber auch politischer Hinsicht als Repräsentationsinstanzen der türkischen MigrantInnen sowohl aus der Türkei als auch von der hiesigen Gesellschaft als Glaubensgemeinschaft unterstützt wurden, betrachteten sie sich auch weiterhin als berechtigt, als legitime Sprecher für alle MigrantInnen aus der Türkei aufzutreten. Besonders in den letzten Jahren, in denen der Islam in der „westlichen Welt“ zunehmend zu einem bedrohlichen Feindbild gemacht wurde, legten einige der nicht staatlich unterstützten Moschee-Organisationen ihre Betonung in verstärktem Maß eher auf sunnitisch-islamische Gemeinsamkeiten als auf die türkische Nationalität. Vor diesen unterschiedlichen Entstehungshintergründen haben die sunnitischen und alevitischen Organisationen unterschiedliche Funktionen und bieten unterschiedliche Möglichkeiten sowohl für die Generation der Mütter als auch für die der Töchter. Wichtig ist zu erwähnen, dass in beiden Gemeindenorganisationen die Position der Frauen ähnlich ist: Frauen sind für die kulturelle Reproduktion dieser Gemeinden zuständig, und mit Hilfe von kulturellen Codes wie der Kleidung der Frauen werden Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit zugeschrieben und interpretiert. Die alevitischen Organisationen bieten überwiegend für die Elterngeneration einen Ort, an dem sie ihre eigenen, im Herkunftsland gemachten Minderheitserfahrungen und damit zusammenhängende Verfolgungs-, Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen verarbeiten können. Die sunnitischen Moschee-Organisationen übernehmen für die Mütter eher die Funktion einer erweiterten Familie. Die sunnitischen Mütter in meinem Sample werden in Fragen der Erziehung ihrer Töchter von ihrer Moscheegemeinde in einem Erziehungskonzept unterstützt, das die Gewaltanwendung und ein erzwungenes Praktizieren der Religiosität untersagt. Stattdessen werden die Mütter darin unterstützt, mit ihren Töchtern in einen Dialog zu treten und diese „zu überzeugen“. Dieses Erziehungskonzept ist insoweit erfolgreich, dass alle Töchter mit Kopftuch in der Untersuchung sagten, dass sie das Kopftuch aus eigener Entscheidung und eigener Überzeugung tragen.167
167 Auch andere empirische Untersuchungen in Deutschland oder in der Türkei, wo das Kopftuch aufgrund einer unterschiedlichen gesellschaftlichen Schwerpunktsetzung keine Akzeptanz findet, gelangten zum selben Resultat (Göle 1995, Nökel 2002, Karakaolu-Aydn 1998, Klinkhammer 1999; 2000)
6.3 Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern
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Die Fallanalysen zeigen, dass die sunnitischen Töchter, ebenso wie ihre Mütter, diese Moschee-Organisationen als verlängerte familiale Räume erleben. Für sie ist jedoch die Bindung zur Moschee-Organisation sehr stark mit der Bindung zu einer Peergroup in diesen Räumen verbunden. Da durch die Struktur der Moscheegemeinden eine geschlechtsspezifische Aufteilung erfolgt und somit in ihnen ein gesonderter weiblicher ‚Raum besteht, stellt sich bei dieser Gruppe die „Freundinnenschaft“ (vgl. Brendl 1999) unter den heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen als sehr bedeutsam heraus. Die Moscheegemeinden bzw. ihre Untergliederungen bilden dabei ein funktionales Äquivalent zur Peergroup. Die Mädchen oder Frauen übernehmen füreinander gegenseitig die Rolle einer Mentorin, so dass die Anbindung an die Gemeinde die Gestalt von persönlichen Beziehungen gewinnt und auf diese Weise gestärkt wird. Die Töchter erhalten in diesen Moscheegemeinden die Möglichkeit, eine Art von Ersatzfamilie zu bilden, in der ihre emotionalen und sozialen Bedürfnisse erfüllt werden, was ihnen ermöglicht, in der Adoleszenz eine gewisse Distanz zur eigenen Familie zu erleben. Parallel zu diesen ,inneren freien Räumen innerhalb der Moscheegemeinden werden sie auch in diesen Gemeinden auf feste Regeln verwiesen, die von ihnen zum Teil – so die Ergebnisse der Fallanalyse – im Sinne einer dichotomen Welteinteilung zwischen diesen Räumen einerseits und der Außenwelt andererseits interpretiert werden, was wiederum eine Spannung produziert. Die Mütter fungieren dabei als diejenigen, die sie in beiden Bereichen unterstützen. Die Fallanalysen deuten an, dass die Identifikation mit den Moschee-Organisationen und die Anerkennung durch diese auf der einen Seite und die Diskriminierung sowie der implizite Rassismus in der Schule auf der anderen Seite auf zwei dichotome Interpretations- und Deutungsmuster der sozialen Welt verweisen, welche sich gegenseitig bedienen. Entsprechend dieser dichotomen Denkweise ziehen die sunnitischen Töchter in meinem Sample zum Teil eine deutliche Grenze zwischen dem Deutschen und dem Türkischen sowie auch zwischen praktizierenden und nicht-praktizierenden Musliminnen. Die Mütter haben darüber hinaus durch die Anbindung ihrer Töchter an diese Organisationen die Möglichkeit, durch die Begleitung ihrer Töchter selber auch an den Aktivitäten der Moscheegemeinde, die zum Teil außerhalb der Moschee stattfinden, und am öffentlichen sozialen Leben teilzunehmen. Dieser besondere Zugang zur Außenwelt kann für sie auch ein Grund sein, die Bindung ihrer Töchter an diese Organisationen zu unterstützen. Die Ergebnisse der Fallanalysen zeigen, dass die Möglichkeit einer anderen Form der Mutter-TochterBeziehung besonders in der Migration in einer Wechselbeziehung mit gesellschaftlichen Institutionen betrachtet werden muss, durch die diese Beziehung
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geformt wird.168 Meine Ergebnisse zeigen, dass die Mütter und Töchter in diesen Gemeinden und in den durch die Migration erfahrenen neuen gesellschaftlichen Strukturen eine neue ‚Beziehungskultur entwickeln, die zur besonderen Prägung der Beziehungsgeschichte zwischen Mutter und Tochter in der Migration beiträgt. Bei den Töchtern mit alevitischer Abstammung haben die alevitischen Organisationen eine andere Bedeutung. Durch die alevitische Gemeinde gewinnen sie eine größere Nähe zur Geschichte ihrer Mütter. Der Zugang zu einer Peergroup und die Teilnahme an den Aktionen der alevitischen Organisationen wirken zwar eine Zeitlang bindend, bieten dennoch für sie auf Dauer kein zufriedenstellendes Gefühl der kollektiven Zugehörigkeit. Dabei spielt besonders die fehlende Offenheit der mittleren Generation (der Eltern) gegenüber den Heranwachsenden eine Rolle. Die Fallanalysen zeigen, dass diese Organisationen noch mehr als ihre sunnitischen Gegenbilder vor allem auf die Bedürfnisse der Elterngeneration abgestellt sind und daher noch wenige Möglichkeiten einer spezifischen Jugendarbeit oder „Generationsarbeit“169 (Inowlocki 1993; 1995) anbieten. Anders als die sunnitischen Moscheegemeinden haben diese Organisationen noch kein wirksames Erziehungskonzept entwickelt. Sie befinden sich, wie ihre Mitglieder, noch in einer Phase der Selbstfindung. Einerseits sind sie darum bemüht, der hiesigen Mehrheitsgesellschaft ihre Unterschiede zu den sunnitischen Kulturvereinen und Glaubensgemeinden sowie ihre Anpassungsbereitschaft zu demonstrieren, andererseits sind sie noch immer den in der Türkei produzierten Bildern, der dominanten sunnitischen Mehrheitsgesellschaft, über sich verhaftet, so dass sie sich vor allem den weiblichen Heranwachsenden gegenüber als kontrollierende und einschränkende Instanzen verhalten. Die Generation der Töchter bekommt vor diesem Hintergrund eine Doppelbotschaft: Einerseits sollen sie sich als weibliche Repräsentantinnen der alevitischen Gemeinden „richtig“ verhalten, andererseits aber sollen sie auch davon ausgehen, dass sie viel „freier“ seien als die „Kopftuch tragenden und unterdrückten sunnitischen Mädchen“. Diese Organisationen werden, vor allem durch ihre weiblichen Vertreterinnen, in erster Linie zu einem Ort der sozialen Kontrolle. Hierbei ist erneut zu betonen, dass die soziale Kontrolle zwar auch bei den sunnitischen Organisationen wichtig ist, hier aber, wie bereits gezeigt, eine 168 An dieser Stelle ist auf die Untersuchungen von Helma Lutz (1997b; 1999) am Beispiel von Migrantinnen in den Niederlanden sowie von Lena Inowlocki (1993; 1995; 1999) am Beispiel dreier Frauengenerationen jüdischer Herkunft in der Diaspora und der religiösen Orientierung der jüdischen Mädchen hinzuweisen, die zu ähnlichen Befunden kommen. 169 Inowlocki (1995: 430) zufolge muss die veränderte Identität der Familie in der intergenerationellen Kommunikation reflektiert werden, wenn zwischen den Generationen eine gemeinsame Orientierung auch weiterhin bestehen soll. Diese gemeinsame Arbeit von Eltern und Kindern an einer „Biographie“ bezeichnet die Autorin als „Generationsarbeit“.
6.3 Soziale Vererbung bei Migrantinnen und ihren Töchtern
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etwas andere Funktion hat. Die Heranwachsenden fühlen sich hier stets unter Beobachtung. Da sie verschiedene andere Zugangsmöglichkeiten zu Peergroups in der Schule und in anderen Institutionen der deutschen Gesellschaft haben, bleiben die Gemeindeorganisationen Orte, die sie überwiegend ihren Müttern zuliebe besuchen. Indem diese Töchter aus deren kontrollierenden und kontrollierten Räumen herausgehen und im gesamtgesellschaftlichen Raum agieren (Stichwort „Gegenstigmatisierung“ in der Schule), entwickeln sie etwas Neues im Gegensatz zu ihren Müttern. Diese hatten sich zwar an die Mehrheitsgesellschaft angepasst, haben sich aber als Alevitinnen isoliert und ihre Zugehörigkeit geheim gehalten. Da es den Töchtern anders als ihren Müttern nicht möglich ist, in der alevitischen Gemeinde eigene Lebenserfahrungen als Mitglied einer diskriminierten Minderheit in der Türkei aufzufrischen oder fortzusetzen, praktizieren die alevitischen Töchter ihren Glauben nicht kontinuierlich. Ein anderes Ergebnis der vorliegenden Studie ist, dass sowohl bei den sunnitischen als auch bei den alevitischen Töchtern das Wissen oder das NichtWissen über ihre Religion einen bedeutenden Aspekt ihrer Bindung an ihre jeweilige Glaubensgemeinde ausmacht. Während alle praktizierenden sunnitischen Töchter in dieser Untersuchung sich im Vergleich zu ihren Müttern, die ihre Form der Religiosität auf traditionale Weise erlernt haben, als über ihre Religion „mehr wissend“ und daher den Islam bewusster, in stärker reflektierter Weise praktizierend betrachten, begründen die alevitischen Töchter in meinem Sample ihre lockere Bindung an ihre Glaubensgemeinde mit ihrem „NichtWissen“ über das Alevitentum. Auf die Frage, welche Funktion das Wissen oder Nichtwissen über den Glauben für die jeweiligen Gruppen der Heranwachsenden haben könnte, verweisen die Ergebnisse der Studie auf unterschiedliche Antworten. Bei den alevitischen Töchtern meines Samples zeigt sich, dass ihr NichtWissen auf eine bei den Aleviten gebrochene Erinnerungskultur zurückzuführen ist. Anders als das schriftlich belegte Sunnitentum ist das Alevitentum seit seiner Entstehung von Generation zu Generation mündlich überliefert worden. Jan Assmann (1992: 59) folgend: „Eine mündliche Überlieferung gliedert sich genau so nach kommunikativer und kultureller, alltäglicher und feierlicher Erinnerung wie die Erinnerung einer Schriftkultur.“ Die Genese der Erfahrungen verschiedener Generationen aufgrund ihrer Zugehörigkeit sowie deren gesellschaftliche Legitimation spielen bei der Überlieferung der Erinnerungen eine bedeutende Rolle. Die gesellschaftliche Stigmatisierungs- und Unterdrückungserfahrung der Aleviten wird für ihre gebrochene Erinnerungskultur verantwortlich gemacht und somit auch dafür, dass es keine einheitliche, sozial standardisierte Betrachtungsweise oder Auffassung des Alevitentums gibt. Bei den Aleviten erweist sich hier als entscheidend, dass die Entwicklung einer Erinnerungskultur bis in die 1990er Jahre aufgrund der ihnen von der
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sunnitischen Mehrheit verweigerten gesellschaftlichen Akzeptanz und Anerkennung und aufgrund der daraus folgenden Angst vor Verfolgung verhindert wurde. Um sich und die nachfolgenden Generation zu schützen, wurde gleichsam statt einer Kultur des Erinnerns eine Kultur der Geheimhaltung entwickelt. Die Geheimhaltung diente ohnehin historisch zur Sicherung des Überlebens der Gemeinschaft gegenüber den Außenstehenden (siehe Kapitel 2.3.2). Demzufolge haben sie zwar nach einem bekannten Muster gehandelt, diesmal richtete sich die Geheimhaltung jedoch auf die Folgegenerationen der eigenen Gemeinschaft mit dem Ziel, die Folgegenerationen vor Stigmatisierung zu schützen und nach wie vor die Sicherheit zu garantieren. Erst nach den 1990er Jahren durch die „Wiederentdeckung“ der alevitischen Kultur als Alternative zu dem Aufleben der zum Teil vom Staat unterstützten sunnitisch geprägten nationalistischen Strömungen in der Türkei wurde begonnen, die geheim gehaltene alevitische Kultur ansatzweise in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Anschläge auf Aleviten in der Türkei in den 1990er Jahren und die darauf folgenden politischen Reaktionen der ebenfalls in Europa lebenden Aleviten, Bemühungen der alevitischen Organisation, um von den herkunfts- und migrationsbezogenen Mehrheitsgesellschaften anerkannt zu werden, waren bei den alevitischen MigrantInnen Auslöser für den Beginn eines neuen Umgangs mit der Vergangenheit und Kultur ihrer Herkunftsfamilien. Zwischen Erinnerung und Wissen stellt Mannheim (1964: 534) einen Zusammenhang her und macht dabei einen Unterschied zwischen der von anderen angeeigneten und der durch eigenes Erleben erworbenen Erinnerung. Demzufolge besitzt der Mensch nur selbst erworbene Erinnerung wahrhaft, d.h. in der aktuellen Situation erworbenes Wissen – nur dieses Wissen „sitze fest“ und binde wirklich. Meine Ergebnisse zeigen, dass bei den Aleviten mit Stigmatisierungs- oder Verfolgungserfahrungen an die Stelle von Erinnerungen und Traditionen Phantasien treten können, mit denen die Nachkommen versuchen, die Lücken in ihrer Familiengeschichte plausibel zu schließen.170 Diese Phantasien ‚sitzen fest und wirken auch – so meine Ergebnisse – wie eine selbst erworbene Erinnerung bzw. als ein selbst erworbenes Wissen, das besonders in der Beziehung zum verfolgten Elternteil bindend wirkt. Den sunnitischen Töchtern ermöglicht ihr größeres Wissen über ihren Glauben und ihre somit bewusster reflektierte Form von Religiosität, die durch die Anerkennung und Akzeptanz ihrer Moscheegemeinde weitere Bestätigung erhält, eine gewisse Form der Überlegenheit über ihre Mütter zu erlangen. Ferner grenzen sie sich mit ihrer bewusster reflektierten Form der Religiosität als aktiv handelnde und (religiös) gebildete Frauen von dem durch ihre Mütter
170 Dieses Ergebnis schließt an die empirischen Befunde von Gabriele Rosenthal (1997b; 2002b) über die Familien von Überlebenden der Shoah an.
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repräsentierten Frauenbild ab (vgl. Otyakmaz 1999), die die islamische Religion auf traditionale Weise gleichsam ‚passiv übernommen haben und ein Leben als bloße Hausfrauen führen. In diesem Zusammenhang positionieren sie sich selbst in einer Weise, die dem Frauenbild der deutschen Mehrheitsgesellschaft eher entspricht, in der idealerweise nicht die Traditionalität, sondern die Modernität und ihre aktive Teilnahme an dem öffentlichen Leben das Alltagsleben der Frauen kennzeichnet (siehe Kapitel 3.4). In Bezug auf diese gesellschaftliche Positionierung kommt auch Nilüfer Göle (1995) in ihrer Studie über Frömmigkeit bei studierenden sunnitischen Frauen in der Türkei zu ähnlichen Ergebnissen. Bei den Fallanalysen fällt auf, dass die Krankheit eines Elternteils – besonders wenn die Mutter davon betroffen ist – einen wichtigen Aspekt im Familiendialog darstellt. Gemeinsam ist diesen Krankheitsfällen, dass die Mütter berufstätig sind. Ferner zeigt sich, dass bei den alevitischen Müttern in meinem Sample die Krankheit ein zentrales Lebensthema einnimmt. Damit kann jedoch keine direkte Kausalität zwischen alevitischer Zugehörigkeit und Krankheit hergestellt oder die allgemeine Aussage gemacht werden, dass Migration an sich krank macht (vgl. Schulze 2006). Es wird jedoch deutlich, dass die sich ändernden gesamtgesellschaftlichen Bedingungen und die kontextabhängigen biographischen Erfahrungen im Herkunfts- und Ankunftsland sowie die Selbstdeutung und Funktion der Krankheit für die Mütter und die Töchter sehr bedeutsam sind. Die Ergebnisse meiner Fallanalysen zeigen, dass die Krankheit der Mutter oder des Vaters vielmehr als eine spezifische Form der Bearbeitung der Familien- und Lebensgeschichte zu verstehen ist. Die Auswertung der Interviews deutet darauf hin, dass die Krankheit ein Zeichen der Überforderung im Alltagsleben ist – vor allem bei den Müttern mit Verfolgungs- und Stigmatisierungserfahrungen als Mitglied einer Minderheitsgruppe, dass es als ein stummes Signal des Leidens und als eine Art Ersatz für einen fehlenden Familiendialog über diese Themen dient. Mit anderen Worten: Krankheit kann ein Indiz für eine Sprachlosigkeit zwischen den Generationen in Bezug auf die erlebten Verfolgungserfahrungen sein. Dieses Ergebnis, dass schweigende Mütter ihre belastenden Erfahrungen an ihre Töchter in unterschiedlichen Formen tradieren, korrespondiert sowohl mit dem Generationenansatz Mannheims (1964: 538), mit dem bei Elias und Scotson (1993: 269-272) diskutierten Begriff der „sozialen Vererbung“ wie auch mit den Arbeiten von Rosenthal (1997c; 2002b). Bezogen auf den bereits diskutierten Typus „Bindung über Leid und Schuldgefühle“ bedeutet dies, dass die Töchter durch die Mechanismen sozialer Vererbung an die Mütter gebunden sind, auch wenn sie deren Lebenseinstellungen und Gefühlslagen aufnehmen, ohne die dazugehörigen Entstehungskontexte entschlüsseln zu können. So sprechen die Mütter
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beispielsweise über ein Leiden an der Arbeit und ihre Krankheiten und vermitteln zwischen den Zeilen auf diesem Wege ihr Leiden an der Verfolgung. Eine Hilfe zum Verstehen dieser Zusammenhänge findet die Tochter dieses Typus im Allgemeinen weder innerhalb der Familie noch in anderen sozialen Einrichtungen wie beispielsweise der alevitischen Gemeinde. Wie ich bei einer Fallrekonstruktion gezeigt habe, wird auch die Tochter in einer Phase krank, in der sie den Versuch unternimmt, sich von der Delegation ihrer Mutter zu distanzieren. Demzufolge können die hier gemeinten Krankheitsformen von der nachfolgenden Generation reproduziert werden – obwohl sie potenziell transformierbar sind. Hierzu wäre eine Öffnung des familialen Dialoges notwendig. Es wäre zu erwarten, dass dies nach einer Phase weiterer Verunsicherung letztlich zum Erleben von mehr Sicherheit führen würde. Zur Erinnerung: Fehlende Sicherheit ist ein durchgängiges Lebensthema in allen drei Generationen bei dem Typus „Bindung über Leid und Schuldgefühle“. Eine weitere Gemeinsamkeit zeigt sich bei der Analyse der Interviews mit den Töchtern. Sie nehmen ihre Mütter in Schutz und erleben in der Beziehung zu ihren Müttern eine Rollenumkehrung, indem sie für diese die Funktion des „Bemutterns“, also einer gleichsam mütterlichen Fürsorge und Betreuung übernehmen. Dies findet jedoch in unterschiedlichen Formen statt. Bei den alevitischen Töchtern zeigt sich vor allem eine emotionale Bemutterung, indem sie ihrerseits ihre Erwartungen an ihre Mütter reduzieren und sie andererseits in deren Überforderung durch beeinträchtigende Lebensbedingungen und eine belastende Familiengeschichte emotional unterstützen. Diese Rollenumkehrung schafft jedoch eine belastende Beziehung zwischen beiden. Bei den sunnitischen Töchtern zeigt sich eine vor allem soziale Betreuung der Mütter, indem sie ihre Mütter motivieren und darin unterstützen, an Deutschkursen oder den Aktivitäten der Moscheegemeinden teilzunehmen. Dies erzeugt eine verhältnismäßig ausgewogene Machtbalance zwischen Mutter und Tochter, so dass sich die sunnitischen Töchter trotz der engmaschigen sozialen Kontrolle durch die familiennahen Moscheegemeinden in einem hohen Maß als autonom erleben und betrachten. Eine auffällige Gemeinsamkeit zeigt sich bei allen Biographinnen der beiden Frauengenerationen bezüglich der Türkei und Deutschland als Lebensorte. Alle interviewten Frauen oder Mädchen betrachten Deutschland im Vergleich zur Türkei als ein demokratisches Land, in dem sie ihre Lebensform gemäß ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen und praktizieren können und in dem sie deshalb weiterhin leben wollen. Die Frauen beider Gruppen (Alevitinnen und Sunnitinnen) erleben die gesellschaftliche Diskriminierung von sozialen Minderheiten im Allgemeinen im Vergleich zur Türkei als „weniger hart“. Vor allem alevitische Töchter erfahren die
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Situation der Aleviten in der Türkei durch die Berichterstattung in den Medien als überwiegend bedrohlich, so dass sie sich nicht vorstellen können, dort zu leben. Ferner zeigt diese Studie einen deutlichen Unterschied zwischen den alevitischen und sunnitischen heranwachsenden Töchtern in Bezug auf ihre Einstellung zur räumlichen Mobilität. Während keine der Töchter mit sunnitischer Abstammung von der Möglichkeit eines autonomen – das heißt weder durch Eheschließung noch durch Familienumzug bedingten – Wechsels des Wohnortes oder eines Umzugs in ein anderes Land sprach, erwähnten fast alle Töchter mit alevitischer Abstammung ihren Wunsch, in der Zukunft in eine andere Stadt Deutschlands umzuziehen. Mit dem Hintergrundwissen, dass die Mobilität historisch in der alevitischen Lebenspraxis im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Minderheitenposition verankert ist und eine nationale Identität aufgrund der Minderheitenposition viel weniger bedeutsam ist, kann man hier die Annahme für künftige Untersuchungen formulieren, dass möglicherweise auch die Migration – sei es innerhalb von oder über Staatsgrenzen – den alevitischen Töchtern als eine Lebensperspektive sozial vererbt wird.
7 Fazit 7 Fazit 7 Fazit
Die zentrale Motivation dieser Studie ist die Kritik an der häufig gemachten Pauschalisierung und Kulturalisierung. Ziel hierbei ist es, eine Sensibilisierung für die Unterschiede zwischen den Frauen aus der Türkei zu entwickeln. Die theoretischen Verallgemeinerungen auf der Basis von Einzellfällen (siehe Kapitel 6) sind nicht als verallgemeinernde Aussagen über die Frauen und Mädchen mit alevitischem oder sunnitischem Hintergrund zu sehen. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass die Lebenserfahrungen der Mütter und Töchter maßgeblich von der Zugehörigkeit zu einer Mehrheit und Minderheit beeinflusst wird, und nicht alleine der alevitischen und sunnitischen Überzeugung zuzuschreiben sind. Die biographischen Fallrekonstruktionen zeigen, dass die Biographien von beiden Frauengenerationen nicht nur individuelle, sondern auch kollektive Konstruktionen und in jeweilige sozialhistorische Kontexte eingebunden sind. Darüber hinaus steht die Mutter-Tochter-Beziehung in einer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Institutionen in Deutschland, durch die sie geformt werden. In diesem Zusammenhang kristallisierte sich bei der biographischen Analyse der Mutter-Tochter-Beziehungen eine Verflochtenheit verschiedener Aspekte heraus. Die Zugehörigkeit der Mütter zu einer Mehrheits- oder Minderheitsgruppe in ihrer Herkunftsgesellschaft und die damit zusammenhängenden familiengeschichtlichen Erfahrungen werden sozial an die Töchter vererbt und haben daher bedeutenden Einfluss auf die Biographie und somit auf die Sozialisation der Töchter. Die Widerspiegelung der gesellschaftlichen Machtverhältnisse sowie Themen der Inklusion und Exklusion spielen dabei eine wichtige Rolle. Die Zugehörigkeit zu einer Minderheit bzw. einer Mehrheit repräsentieren die Beziehungsverflechtungen zwischen Familien und Generationen, (religiösen) Gemeinden, Schulen, Staaten, die einem Wandlungsprozess unterliegen, was bei Norbert Elias (1986) als Figuration bezeichnet wurde. Die familialen Zugehörigkeitserfahrungen haben deutliche Auswirkungen auf die Beziehungsstrukturen zwischen Müttern und Töchtern, welche eine bestimmte Form geschlechtsspezifischer Tradierung in der Migration herbeiführen. Dies geht mit den unterschiedlichen Positionierungen der alevitischen und sunnitischen Töchter als Angehörige unterschiedlicher MigrantInnengruppen in Deutschland einher. Bei den Tradierungsprozessen und der ge-
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sellschaftlichen Positionierung spielen die Institutionen, wie die deutsche Mehrheitsgesellschaft repräsentierende und reproduzierende Schule und die Gemeindeorganisationen, sowie die Dynamik zwischen diesen eine bedeutende Rolle. Die wichtigsten Aspekte, nämlich Mütter und Töchter mit Mehrheits- und Minderheitszugehörigkeit, das Positionieren der Frauen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die Schule und die Funktion der alevitischen und sunnitischen Organisationen werden im Folgenden noch mal aufgegriffen, da besonders sie die Verflochtenheit verdeutlichen.
Mütter und Töchter mit Mehrheits- und Minderheitszugehörigkeit Alevitische Frauen wurden und werden in dem wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs der sunnitisch dominierten Herkunftsgesellschaft ignoriert und in der deutschen Ankunftsgesellschaft nicht wahrgenommen. Als Angehörige einer sozialen und religiösen Minderheitsgruppe lernten alevitische Frauen die Strategien der Selbstkontrolle, Geheimhaltung der alevitischen Zugehörigkeit und die Anpassung an die sunnitische Mehrheitsgesellschaft, um sich vor gesellschaftlicher Verfolgung und Stigmatisierung zu schützen. Anders ausgedrückt, diese Anpassung(sleistung) war von der Suche nach Sicherheit geprägt. Dies beeinträchtigte die Wissensübertragung an die Folgegenerationen und führte zur fragmentierten Tradierung der Familien- und Herkunftsgeschichte. Durch die Migration nach Deutschland entstand für sie ein doppelter Minderheitenstatus. Entsprechend ihrer gelernten Anpassungsstrategie an die Mehrheitsgesellschaft orientierten sie sich nun an der deutschen Mehrheitsgesellschaft, wurden jedoch von dieser pauschal als islamische (sunnitische) türkische Frauen stigmatisiert. Sie selbst änderten ihre Strategien der Geheimhaltung erst dann, als sie in unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens ein Gefühl von Sicherheit erlebten. Die Strategie der Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft delegierten sie jedoch weiterhin an ihre Töchter. Sunnitische Frauen kamen als Angehörige der türkisch-sunnitischen Mehrheitsgesellschaft durch die Migration nach Deutschland in eine soziale Minderheitsposition. Sie bewegten sich jedoch durch ihre sunnitische Zugehörigkeit in einer Mehrheits-/Minderheitsspirale, indem sie innerhalb der Migrantengruppen aus der Türkei die Mehrheit bildeten. Ihre sozialen Bindungen stellten sie über soziale Netzwerke von Angehörigen ihrer Herkunftsgruppe her. Besonders die Bindungen zu Moscheegemeinden pflegte ihre Selbstwahrnehmung als Mehrheitsgruppe. Sie vertrauten ihrer Gemeindeorganisation ihre Töchter an, um sie
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an diese zu binden. Gleichzeitig delegierten sie an ihre Töchter, an diese gebunden zu bleiben und dadurch diese Bindung zur Familie aufrechtzuerhalten.
Positionierung der Frauen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft Die beiden Frauengenerationen positionieren sich gegenüber der deutschen Gesellschaft unterschiedlich, jedoch unabhängig von ihrer sozialen und religiösen Zugehörigkeit, während sie von der deutschen Mehrheitsgesellschaft homogenisiert betrachtet werden (siehe Kapitel 3.4). Im öffentlichen Diskurs herrscht beispielsweise die Behauptung vor, dass „Kopftuchfrauen“ der Mehrheitsgesellschaft gegenüber desinteressiert seien. Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen dagegen beispielsweise Mütter, die die deutsche Gesellschaft idealisieren und ihre Wertevorstellungen verinnerlichen, so dass sie die eigene Herkunftskultur mit dem Blick der deutschen Mehrheitsgesellschaft stigmatisieren und verachten. Ferner wurde festgestellt, dass es eine Differenz gibt zwischen den Selbstbildern der Migrantinnen aus der Türkei und den Fremdbildern der deutschen Mehrheitsgesellschaft über sie. Dies ist auf einen ethnozentristischen Blick(winkel) sowohl in wissenschaftlichen als auch öffentlichen Diskursen über die Herkunftsbedingungen dieser Migrantinnen zurückzuführen. Dieser bestimmte Blick wird durch Ignoranz als „Wissenslücke“ in der deutschen Migrationsforschung bewahrt.
Schule Die Schule bietet eine Arena an, in der die Machtbalancen zwischen den alevitischen, sunnitischen Kindern bzw. Heranwachsenden und der deutschen Mehrheitsgesellschaft ersichtlich werden. Die Erfahrungen der Töchter in der Schule zeigen, dass sie auch dort von ihren MitschülerInnen und LehrerInnen durch die Übertragung von bestehenden Vorurteilen über „Türkinnen“ auf sie und ihre diskriminierenden Einstellungen eine andere Form der sozialen Vererbung erleben. Die alevitischen Töchter sehen hier, dass weder ihre erlernte Anpassungsstrategie an die Mehrheitsgesellschaft, noch ihre zeitweilige Instrumentalisierung als nicht Kopftuch tragende und damit ‚bessere Ausländerinnen, sie vor dieser Stereotypisierung als „türkisches Mädchen“ schützen. Die Schule und die sunnitischen Gemeindeorganisationen stehen miteinander im Spannungsfeld, weil sie unterschiedliche Identifizierungserwartungen an die Kinder und Heranwachsenden haben. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie sowie anderer Untersuchungen (siehe Kapitel 3.4 und 6.3) zeigen, dass zusätzlich zu Schul-
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7 Fazit
büchern und Lehrplänen auch die Inhalte der Bildungsprogramme (für die zukünftigen LehrerInnen) hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirklichkeiten eine Revision erfordern. Denn die Aufgabe der Schule ist es nicht, zwischen Kindern unterschiedlicher Herkunft zu differenzieren bzw. Kinder aus Migrantenfamilien zu stigmatisieren (auszuschließen) und somit eine konfliktbeladene Situation in der Schule zu reproduzieren. Stattdessen sollte sie, als Repräsentantin der deutschen Gesellschaft, eine Gleichbehandlung aller SchülerInnen gewährleisten.
Die Funktion der alevitischen und sunnitischen Organisation Aufgrund jahrzehntelanger Geheimhaltung ihrer Zugehörigkeit sind die alevitischen Gemeinden in einem anderen Stadium der Organisierung. Sie richten sich nach den Bedürfnissen der Elterngeneration und bieten Schutz- und Austauschräume für die Verarbeitung der erlittenen Stigmatisierungs- oder Verfolgungserfahrungen. Diese Organisationen haben noch keine generationsübergreifende Gemeindearbeit etabliert, die auch einen Dialog zwischen den Generationen eröffnen würde. Für die Generation der Töchter bieten sie vielmehr einen Ort zum besseren Verstehen der alevitischen Glaubensrichtung. Die Ergebnisse zeigen, dass die alevitischen Organisationen mit den sunnitischen in Konkurrenz bzw. in einem Spannungsfeld stehen (siehe Kapitel 3 und Kapitel 4.3.1), weil Sunniten sowohl aus der Perspektive der Türkei als auch aus der deutschen Perspektive die islamisch türkische Mehrheitsgruppe vertreten. Demzufolge haben sie in beiden Ländern leichteren Zugang zu ökonomischen und sozialen Ressourcen als die alevitische Minderheitsgruppe. Dieses Spannungsgefüge wird entsprechend der politischen Lage in Deutschland von den Politikern gefördert, indem Aleviten als ‚anpassungsfähige AusländerInnen im Vergleich zu ‚nichtintegrierbaren Sunniten instrumentalisiert werden. Dieses Beispiel wird besonders durch die Kopftuchdebatte verbildlicht. Indem alevitische Frauen als Nicht-Kopftuchtragende im Zusammenhang mit der Abwertung der praktizierenden sunnitischen Frauen mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft kooperieren, hindern sie sich selbst, ihre eigene Situation als Frauen sowohl in ihren eigenen Gemeinden als auch in der Gesamtgesellschaft in Frage zu stellen. Diese sporadische ‚Anerkennung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft motiviert Aleviten und Alevitinnen immer mehr, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen. Die gleichzeitige Betonung ihrer ‚Anpassungsfähigkeit deutet auf die Suche nach einer (neuen) Heimat. Diese Suche zielt darauf, sich nicht nur in Deutschland, sondern in Europa „zuhause“ fühlen zu können. Von den sunnitischen Gemeindeorganisationen werden sie jedoch weiterhin nicht anerkannt bzw. ignoriert.
7 Fazit
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Die islamischen Gemeindeorganisationen sind in Deutschland etabliert. Sie werden durch die Gewährleistung der generationsübergreifenden Gemeindearbeit von beiden Frauengenerationen in ihrer Funktion als verlängerte familiale Räume wahrgenommen, in denen sie Sicherheit und Schutz finden. Mütter werden von diesen etablierten Gemeindeorganisationen in ihren Bemühungen um einen Dialog mit ihren Kindern unterstützt. Diese Organisationen bieten Frauen und Mädchen ihren Bedürfnissen entsprechende Angebote und tragen zur Bindung der Generation der Töchter an die Gemeinde sowie zur Entwicklung neuer Beziehungsformen zu ihren Müttern bei. Die Frauen beider Generationen finden hier ausdrücklich, anders als in der deutschen Öffentlichkeit behauptet, nicht Eingrenzung, sondern Autonomie und Machtzugewinn im Familienleben. Die vorliegende Arbeit leistet mit der Analyse dieser Verflechtung einen innovativen Beitrag sowohl zur sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung als auch zur Frauenforschung (In der Türkei wurde bisher keine vergleichende Forschung im Hinblick auf die Zugehörigkeitserfahrungen der alevitischen Minderheitsgruppe und der sunnitischen Mehrheitsgruppe und /oder Tradierung der diesbezüglichen Familien- oder Lebensgeschichten geführt. Daher ist die vorliegende Arbeit für den sozialwissenschaftlichen Forschungsbereich in der Türkei ebenfalls eine grundlegende Pionierarbeit). Diese Form der Frauenforschung ist bedeutsam, da die Erfassung von Daten für politische Ziele und die Verbesserung der Lebenssituation von Frauen verwendet werden können. Auf der migrationspolitischen Ebene sollen sie zu einer Datenbasis für konkrete Maßnahmen beitragen. Thematisch legte die vergleichende Studie den Schwerpunkt auf die familienbiographischen Erfahrungen der alevitischen und sunnitischen Zugehörigkeitsgruppen aus der Türkei (siehe Kapitel 5). Auf diese Weise erweiterte die Arbeit den gesellschaftlich relevanten Blick im Kontext der deutschen Migrationsforschung über die Grenzen Deutschlands hinaus und bezog die gesellschaftshistorischen und -politischen Aspekte der Herkunftsgesellschaft der Migrantinnen in die Forschung ein (siehe Kapitel 2). Die Analyse der Lebenserfahrungen der Migrantinnen spiegelt den gesamten Migrationsprozess, mit Herkunfts- und Einwanderungsgesellschaft, wider. Einen weiteren Beitrag für die Migrationsforschung leistet die methodische Herangehensweise. Biographisch-narrative Interviews mit Müttern und Töchtern, teilnehmende Beobachtung in alevitischen und sunnitischen Organisationen sowie Experteninterviews wurden erstmalig in dieser Kombination durchgeführt. Damit leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Schließung einer weiteren inhaltlichen Lücke in der Forschung, nämlich den Zugang zu Gemeindeorganisationen und ihrer biographischen Relevanz für Migrantinnen und ihre Töchter.
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Dokumentation – Reportage RTL-Spiegel TV (05.12.2004): „Ein Leben in der Unterdrückung“ (Eine Reportage von Sanja Hardinghaus) NDR (16.11.2004):„Wenn der Vater zum Feind wird“. Zwangsehe und Ehrenmord in Deutschland (Eine Reportage von Rita Knobel-Ulrich)
Anhang
Abkürzungen (Organisationen)
DIB DP CHP MHP MSP MEB VGM DITIB IGMG VIKZ ADÜTDF
ATIB ANF ICCB AMGT RP YTB AABF AABF
Das Präsidium für Religionsangelegenheiten (Diyanet leri Reislii) Demokratische Partei (Demokrasi Partisi) Republikanische Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi) Nationale Bewegungspartei (Milli Hareket Partisi) Nationale Heilspartei (Milli Selamet Partisi) Das Bildungsministerium (Milli Eitim Bakanl) Direktion für das Stiftungswesen (Vakflar Genel Müdürlüü) Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Diyanet Ileri Türk-slam Birlii) Islamische Gemeinschaft Milli Görü e.V. Verband der Islamischen Kulturzentren e.V. (Islam Kültür Merkezleri Birlii) Föderation der Türkisch-Demokratischen Idealistenvereine in Europa e.V. (die Grauen Wölfe) (Avrupa Demokratik Ülkücü Türkler Dernekleri Federasyonu) Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa e.V. (Avrupa Türk slam Birlii) Föderation der Weltordnung in Europa (Avrupa Nizam-i Alem Federasyonu) Verband der Islamischen Vereine und Gemeinden e.V. (die Kaplan-Gruppe) Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V. (Avrupa Milli Görü Tekilatlar) Wohlfahrtspartei (Refah Partisi) Einheiten der Patrioten aus der Türkei (Türkiyeli Yurtseverler Birlikleri) Föderation der Aleviten – Gemeinden in Europa e.V. (Avrupa Alevi birlikleri Federasyonu) Föderation der Aleviten Gemeinden in Deutschland (Almanya Alevi Birlikleri Federasyonu)
290
Anhang
Zeichenerklärungen (Transkripte)
I.: N.: I.: Wie haben Sie es gemerkt? N.: Erst… , (3) sagte=wollte vielja: nein NEIN JA MICH ‘komm’ >komm< ( )
= Interviewerin = Interviewte (in diesem Fall Neziha) = = = = = = = = = = = = =
((lachend)) //hm// … (ihre Mutter)
= = = =
[ihre Tochter] [Fasten]
= =
gleichzeitiges Sprechen ab „es“ kurzes Absetzen Pause, Dauer in Sekunden schneller Anschluss Abbruch Dehnung betont laut laut betont sehr laut Zitat innerhalb eines Zitats leise Inhalt der Äußerung ist unverständlich, Länge der Klammer entspricht etwa der Dauer der Äußerung Kommentar der Transkribierenden Äußerungen der Interviewerin Auslassungen sinngemäße Ergänzungen bei den Übersetzungen Erläuterungen der Interviewerin Übersetzung von einzelverwendeten türkischen Wörter
Anhang
291
Biographische Daten
von Naziha Demiray Zu den Eltern: Zur Geburtszeit von Neziha ist die Mutter 45 Jahre alt, Hausfrau und hat bereits sechs Kinder. Der Vater ist ca. 50 Jahre alt und arbeitet in einer Großstadt. Zwei ältere Söhne sind bereits verheiratet, haben Kinder und leben in demselben Haus mit der Großfamilie. 1958 1964 1865 1872 1973 1974-1975 1975-1976 1977-1978 1979-1980 1980-1983 1981 1982 1984 1988 1993-2000 2000 2001
Geburtsjahr von Neziha Neziha zieht mit sechs Jahren mit ihrer Mutter zum Vater nach Istanbul um Einschulung gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Grundschulabschluss Ein der älteren Brüdern geht als Gastarbeiter nach Deutschland Heirat und Umzug nach Deutschland. Zusammenleben mit dem Schwiegervater Geburt ihres ersten Kindes (Sohn), das Baby wird mit acht Monaten geboren Räumliche Trennung vom Schwiegervater und Umzug des Ehepaars in eigene Wohnung Neziha hat eine Totgeburt – beginnt ein Kopftuch zu tragen zwei Fehlgeburten, nimmt Kontakt zu einer Moscheegemeinde auf, wird immer mehr religiöser Ihre Schwiegermutter zieht nach Deutschland um Nezihas Vater stirbt Geburt ihrer Tochter Meral – zum ersten mal eine normale Geburt Geburt ihres zweiten Sohnes Neziha konzentriert sich auf die religiöse Erziehung und Bildung ihrer Kinder, ihr Ehemann verliert seine Arbeitsstelle beginnt sie an Deutschkursen und an den Seminaren ihrer Moscheegemeinde teilzunehmen verlobt sie ihren älteren Sohn, beginnt mit Heimarbeit
292
Anhang
von der Tochter Meral Demiray 1984 1989 1991 1993 1994 1997 1999 2000 2001 2002
Geburtsjahr Vorschulzeit Einschulung, nimmt auch an dem Türkischunterricht teil Meral beginnt regelmäßig zur Moschee zu gehen Wechsel der Schule und der Moschee – beginnt außerhalb der Schule Kopftuch zu tragen Wechsel zum Gymnasium; beginnt auch in der Schule Kopftuch zu tragen nimmt an einer religiösen Reise teil (Umrefahrt), konzentriert sich immer mehr auf ihre Bindung an die Moscheegemeinde bleibt in der neunten Klasse sitzen versucht zur Realschule zu wechseln macht parallel zu ihrer Schule eine theologische Ausbildung in ihrer religiösen Organisation, die insgesamt drei Jahre dauern soll
von Elif Toprak Zu den Eltern: Ihr Vater ist schätzungsweise Jahrgang 1900 und ihre Mutter ca. 1920. Elifs Mutter wächst als Waisenkind auf. Elifs Vater verbringt seine Jugend beim Militär. Die Kindheit und Jugend der beiden Elternteile sind von gesellschaftspolitischen Ereignissen in dem Osten der Türkei und damit von Verfolgungsgeschichten der Minderheiten geprägt. Zwischen 1930 und 1945 erlebt die Familie mehrere Umzüge und legt große Distanzen zurück. Zur Geburtszeit von Elif haben ihre Eltern bereits 7-8 Kinder. Das letzt geborenes Kind (Mädchen) 1950 stirbt zwar noch als Baby, wird jedoch aus dem Melderegister nicht abgemeldet. Elif übernimmt mit ihrer Geburt die Meldedaten ihrer verstorbenen Schwester. 1953 1955 1956-1959 1960-1961 1966 1966-1967 1968
Geburtsjahr ihr älterer Bruder heiratet und lebt mit seiner Frau mit eigener Großfamilie Mutter gebärt zwei Kinder, nur eines überlebt Einschulung Grundschulabschluss und Ende der Schulzeit ihre verheiratete Schwester Makbule kehrt zurück zur Familie Makbule geht nach Deutschland
Anhang 1968
1970 1972 1974 1977 1980 1982 1984 1984-1985 1987-1988 1990 1990-91 1992 1993 1996 1998-1999 2000 2002
293 Elif wird gemeinsam mit einer weiteren älteren Schwester von Makbule als Gastarbeiterin nach Deutschlang gebracht. Sie trennen sich in Istanbul wegen der ärztlichen Untersuchungen, ihre Schwester gehen vor ihr nach Deutschland, Elif verreist nach zwei Wochen allein mit dem Zug nach Deutschland und beginnt gleich mit dem Arbeitsleben am Fließband der ältere Bruder stirbt und die verwitwete Schwägerin wird nach Deutschland gebracht heiratet Elif und bringt den Ehemann aus der Türkei nach Deutschland wird das erste Kind per Kaiserschnitt geboren, Elifs Mutter kommt nach Deutschland, Elif trennt sich von ihrem Ehemann stirbt Elifs Vater heiratet Elif zum zweiten Mal Geburt ihrer zweiten Tochter (ebenfalls Kaiserschnitt) Geburt der dritten Tochter (Kaiserschnitt), Beginn von Elifs Krankheitsphase geht Elif eine Zeitlang zu einer Tagesklinik Schwangerschaftsabbruch; Elif geht in Frührente Rückkehrversuch in die Türkei mit ihren drei Töchtern Rückkehr nach Deutschland Elifs Ehemann macht sich selbstständig, Umzug Elif lernt eine alevitische Gemeinde kennen und beginnt sich für die Gemeinde zu engagieren kauft sie sich eine Eigentumswohnung in einer wohlhabenden Umgebung und zieht um heiratet ihre älteste Tochter, noch in demselben Jahr stirbt der Ehemann stirbt Elifs älteste Schwester Elif engagiert sich viel weniger für die alevitische Gemeinde
von der Tochter Ayla Toprak 1984 1984-1985 1987-1988
geboren als dritte Tochter (per Kaiserschnitt); ihre Mutter wird krank ihre Mutter geht eine Zeitlang zu einer Tagesklinik kommt Ayla in eine Tageseinrichtung, ihre Mutter geht in Frührente
294 1990 1990-91 1991-1992 1993 1993-1994 1995-1996 1996 1998-1999 2000 2001 2002
2003
Anhang Ayla wird mit ihren beiden Schwestern von ihrer Mutter in die Türkei gebracht und in die Vorschule geschickt Rückkehr nach Deutschland und Einschulung Umzug in eine neue Wohnung erfährt Ayla von der ersten Ehe der Mutter beginnt Mutter sich für eine alevitische Organisation zu engagieren geht Ayla öfters mit ihrer Mutter in die alevitische Gemeindeorganisation Umzug der Familie in eine wohlhabende Umgebung, Aylas Schwester Nuray bekommt eine Hautkrankheit Teilnahme an Seminaren der alevitischen Organisation Ayla bleibt in der 10. Klasse (Gymnasium) sitzen Wechsel zu einer Berufsschule, sie geht eine kurze Beziehung mit einem sunnitischen Jungen in der Türkei ein Ayla schafft das Probejahr nicht und wechselt zu einer anderen Berufsschule, die sowohl eine Berufsausbildung als auch einen Abiturabschluss ermöglicht beginnt zu jobben, hat ein eigenes Auto, stressbedingter Haarschwund
Anhang
295
Zeichenerklärung (Genogramm)
Mann
Frau
Interviewte
Mann (verstorben) †.
Frau (Verstorben) †.
Totgeburt
Fehlgeburt
Abkürzungen beim Familiengenogramm Verheiratet seit 1975 oo 1975
Beziehung/Partnerschaft/ Verlobung
Anf. Dtl. d. Tr. geb. Org.
Anfang Deutschland der Türkei geboren Organisation