Jan Schneider Modernes Regieren und Konsens
Jan Schneider
Modernes Regieren und Konsens Kommissionen und Beratungsre...
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Jan Schneider Modernes Regieren und Konsens
Jan Schneider
Modernes Regieren und Konsens Kommissionen und Beratungsregime in der deutschen Migrationspolitik Mit einem Vorwort von Rita Süssmuth
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16398-7
Danksagung Danksagung
Als der damalige Bundesinnenminister Otto Schily im Sommer des Jahres 2000 eine Zuwanderungskommission berief, gab er den 21 Mitgliedern unter dem Vorsitz von Rita Süssmuth ein Zeitfenster von weniger als neun Monaten für ihre Arbeit. Schließlich, so Schily, solle die Kommission mit ihrem Abschlussbericht die Grundlagen für politische Entscheidungen schaffen und nicht etwa »zur Bereicherung der Berliner Staatsbibliothek beitragen«. Bei akademischen Qualifikationsarbeiten liegen die Verhältnisse umgekehrt: Eher selten dienen sie der Politikberatung und Entscheidungsvorbereitung. Vielmehr sollen sie einen Beitrag zum Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis bringen – werden nach ihrer Veröffentlichung also primär vom Fachpublikum wahrgenommen und in einschlägigen Bibliotheken bereit gehalten. Der benötigte Zeitrahmen ist in der Regel erheblich größer, nicht zuletzt weil meist ein einzelner Verfasser verantwortlich zeichnet. Dieser verfügt nur selten über ein Sekretariat oder einen Arbeitsstab, ist jedoch nahezu zwingend auf unterstützende Infrastruktur angewiesen. Auch diese Studie wäre ohne das Zutun zahlreicher Personen und Institutionen nicht durchführbar gewesen. Sie wurde am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität als Dissertationsschrift eingereicht und im Januar 2008 verteidigt. Mein besonderer Dank gilt dem Betreuer der Dissertation, Prof. Claus Leggewie – für die Initiative zum Projekt als solchem ebenso wie für die stetige Anregung zum Weiterdenken. Die Hans-Böckler-Stiftung hat mich mit einem Promotionsstipendium gefördert und auch die Drucklegung des Buches finanziell unterstützt; stellvertretend sei Iris Henkel und Werner Fiedler herzlich gedankt. Prof. Klaus Schubert hat bereits zu einem frühen Zeitpunkt angeboten das Zweitgutachten der Dissertation zu übernehmen und mir darüber hinaus zahlreiche konstruktive Hinweise gegeben. Ihm gilt mein Dank ebenso wie Prof. Dr. Dieter Eißel und Dr. Christoph Bieber für ihr Engagement in der Prüfungskommission. Kontinuierliche Foren des methodischen und fachlichen Austausches waren die Sektionen des Gießener Graduiertenzentrums Kulturwissenschaften sowie die Projektgruppe Migration der HBS-Stipendiaten. Als überaus wertvoll erwies sich der Kontakt zu Sven Siefken, der seine Dissertation zu einem ähnlichen Thema verfasste. Für den freundschaftlichen Austausch von Tipps und Erfahrungen – und der daraus erwachsenen Verbundenheit auch nach Abschluss unserer Projekte – bin ich ihm sehr dankbar. Besonderen Dank schulde ich auch Steffen Angenendt, Malti Taneja, Jutta Träger und Volker Tuchan, die Teile des Manuskripts gelesen und kommentiert haben. Profitiert habe ich außerdem von den Diskussionen im Rahmen von Vorträgen, die ich u.a. im Arbeitskreis Migrationspolitik beim DVPW-Kongresses in Münster, bei der IMISCOE-Konferenz zu Research-Policy Dialogues on Migration and Integration in Enschede, bei einer Tagung zur politischen Repräsentation von Fremden und Armen in Trier sowie bei der Gießener Tagung Herausforderungen an Politische Kultur und Demokratisches Regieren heute halten durfte.
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Danksagung
Die Berliner Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, zu deren Bereicherung vielleicht auch dieses Buch beitragen mag, wurde über weite Strecken der Dissertation zu meinem Arbeitszimmer und zur zweiten Heimat, erwies sich als verlässlicher Ort, um ein Vorhaben zum Abschluss zu bringen, das manchmal wie eine never-ending story anmutete. Dort trat auch – voller Anmut – Jarmila Bugala in mein Leben, der ich für ihren liebevollen und bedingungslosen Beistand in den letzten vier Jahren über alle Maßen dankbar bin. Auch meiner Familie Helga, Eckart und Anke Schneider gilt mein großer Dank dafür, dass sie mein Promotionsvorhaben zu jeder Zeit unterstützt haben. Ihre Mitwirkung bei Korrekturlesen, Endredaktion und logistischen Fragen war genauso unerlässlich wie die von Stefan Felber und Katja Hufnagel. Sven Hahn schließlich ist es zu verdanken, dass jedwede Art von EDV-Problem mir nur zeitweise Kopfzerbrechen bereitete – bis es durch seine Hilfe behoben war. Zu Dank verpflichtet bin ich nicht zuletzt allen InterviewpartnerInnen, die sich trotz ihrer engen Zeitpläne zu teilweise ausführlichen Gesprächen in Lobbies, Kanzleien, Abgeordnetenbüros, Ministerien, Gewerkschaftshäusern, Universitätsgebäuden und Cafés bereit erklärt haben. »Wissenschaft braucht Ruhe«, lautete die Antwort eines vielbeschäftigten Parlamentariers auf meine Eingangsfrage, wieviel Zeit uns denn für das Interview zur Verfügung stünde. Haltungen wie diese führten zu aufschlussreichen Gesprächen und haben damit nicht nur dem Forschungsprojekt einen unmittelbaren Dienst erwiesen, sondern auch seinem Bearbeiter wertvolle Blicke hinter die Fassaden sowie ein tieferes wissenschaftliches Verständnis des politischen Betriebs ermöglicht.
Berlin/Nürnberg, im Sommer 2009
Jan Schneider
Inhaltsübersicht
Danksagung.............................................................................................................................5 Inhaltsübersicht .......................................................................................................................7 Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................9 Abkürzungsverzeichnis .........................................................................................................15 Abbildungsverzeichnis ..........................................................................................................19 Vorwort von Rita Süssmuth...............................................................................................21 Einleitung: Do Commissions Matter? ...............................................................................25 1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen............39 1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik..............................................................39 1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen........................................................74 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung ...........109 Deutschland und die Zuwanderung.............................................................................109 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive .............................113 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit ......140 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99)............................................163 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit)................................................................170
3 3.1 3.2 3.3 3.4
Die Zuwanderungskommission im Politikprozess .................................................179 Methodik der Fallstudie ..............................................................................................179 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre? ...................................195 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz ..............................................237 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus .............................................277
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Ergebnisse und Schlussfolgerungen ........................................................................363 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde ....................................................363 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen................................................................373 Ausblick: Ergänzende Forschungsfragen....................................................................393 Fazit: Modernes Regieren? .........................................................................................397
Literaturverzeichnis.............................................................................................................403 Anhang ................................................................................................................................437 Personenindex .....................................................................................................................455
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Danksagung.............................................................................................................................5 Inhaltsübersicht .......................................................................................................................7 Inhaltsverzeichnis....................................................................................................................9 Abkürzungsverzeichnis .........................................................................................................15 Abbildungsverzeichnis ..........................................................................................................19 Vorwort von Rita Süssmuth...............................................................................................21 Einleitung: Do Commissions Matter? ...............................................................................25 1
Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen............39
1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik..............................................................39 1.1.1 Demokratisches Regieren: Begriff und Inhalt ....................................................39 1.1.1.1 Ethymologie und Begriffsverständnis...................................................39 1.1.1.2 Staatsrechtliche Aufgabenbestimmung.................................................41 1.1.1.3 Regieren und Regierungslehre ..............................................................42 1.1.1.4 Modell der Funktionsdeterminanten von Regieren...............................45 1.1.1.5 Regieren und demokratische Legitimität ..............................................48 1.1.1.6 Regieren in der Gubernative .................................................................51 1.1.2 Regieren in der Verhandlungsdemokratie...........................................................54 1.1.2.1 Neokorporatismus und Policy-Netzwerke ............................................55 1.1.2.2 Politikverflechtung und Parteienwettbewerb........................................59 1.1.3 Kernaspekte des Regierens im »semi-souveränen« Staat...................................61 1.1.3.1 Meta-Funktion: Politische Führung durch Organisation von Konsens...........................64 1.1.3.2 Regierungstechnik: Informelle Steuerung und Koordination...............69 1.1.4 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik: Zusammenfassung....................73 1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen........................................................74 1.2.1 Renaissance der Politikberatung, Konjunktur ihrer Erforschung? .....................74 1.2.2 Politikberatung: Modelle und Konzeptualisierungen .........................................77
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Inhaltsverzeichnis 1.2.3 Policy-Beratung und Beratungsregime: Zur Terminologie ................................82 1.2.4 Ausformungen von Beratungsregimen im politischen Institutionensystem .......86 1.2.4.1 Die Konsultative der Exekutive: Institutionalisierte und ad-hoc-Beratung im Regierungsprozess ...............................................87 1.2.4.2 Expertise in der Legislative: Parlamentarische Politikberatung ...........89 1.2.4.3 Unabhängige Räte .................................................................................92 1.2.4.4 Tripartismus und Konzertierung: Neokorporatistische Verhandlungsrunden ............................................93 1.2.4.5 Verhandlung und Bargaining: Parteipolitische Kompromissverfahren 95 1.2.5 Gubernative Kommissionen................................................................................97 1.2.6 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen: Zusammenfassung............106
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Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung ...........109
2.1 Deutschland und die Zuwanderung.............................................................................109 2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive .............................113 2.2.1 Ministeriale Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik: Beginn der »Gastarbeiterära« (1950-1960).......................................................113 2.2.2 Inkrementeller Politikwandel: Ausländergesetz und Ressortpolitik (1961-1972).............................................116 2.2.2.1 Rekurs auf nationalsozialistisches Polizeirecht ..................................116 2.2.2.2 Regierungspolitik ohne Widerstand: Das Ausländergesetz im parlamentarischen Verfahren ......................117 2.2.2.3 Koordinierungskreis und Ressortkonkurrenz: Ausländerpolitik zwischen divergierenden Interessen........................120 2.2.3 Neokorporatistische Strukturen in der Ausländerpolitik: Planung, Pluralisierung, Parteipolitisierung (1973-1982).................................123 2.2.3.1 Anwerbestopp und Agendapolitik ......................................................123 2.2.3.2 Ausländerpolitik goes commission......................................................125 2.2.3.3 Installation eines schwachen Akteurs: Der »Ausländerbeauftragte« und die pluralisierte Integrationspolitik ..............................................128 2.2.4 Kommissionspolitik und Reformverzug: Novellierungen des Ausländergesetzes (1983-1991)........................................131 2.2.4.1 Dokumentation des Dissenses: Die Kommission »Ausländerpolitik«..................................................131 2.2.4.2 Chuzpe und Scheitern eines Ministers: Der Zimmermann-Entwurf ..135
Inhaltsverzeichnis
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2.2.4.3 Informales Koalitionsmanagement: Die Vorbereitung des Ausländergesetzes unter Schäuble ..................136 2.2.4.4 Im Schatten der Wende: Die schnelle Reform des Ausländerrechts ..........................................138 2.2.5 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik: Zusammenfassung...............................139 2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit ......140 2.3.1 Asylpolitik im Schatten der Exekutiven (1953-1973) ......................................141 2.3.2 Ineffektiver Konsens: Scheitern von Steuerung und Verfahrensbeschleunigung (1974-1979) ...........142 2.3.3 Kompromisspolitik zwischen Bund und Ländern (1980-1991)........................145 2.3.3.1 Ad hoc-Maßnahmen der Regierung und Konsenssuche durch föderale Kooperation ................................................................145 2.3.3.2 Vehikel der Asylverfahrensreform: Kommission »Asylwesen« ........147 2.3.3.3 Willensbildung durch arkane Verhandlung: Das Asylrecht im Vermittlungsausschuss...........................................147 2.3.3.4 Kommissionen weisen den Weg: Von der Dethematisierung der Asylpolitik zur Demontage des Grundrechts......................................149 2.3.4 Migrationspolitik als parteipolitische Verhandlungsmasse: Vom »Asylkompromiss« zum restriktiven Stillstand in der Ausländerpolitik (1992-1998) .....154 2.3.4.1 Zwischen Konsens und Konfrontation................................................154 2.3.4.2 Der Migrationskompromiss: Zweidrittelmehrheit durch parteipolitische Verhandlung...................155 2.3.4.3 Mannigfaltige Einwanderungskonzepte und Stillstand in der Migrationspolitik ......................................................................159 2.3.5 Asyl- und Migrationspolitik: Zusammenfassung..............................................162 2.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99)............................................163 2.4.1 Ius soli light: Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Parteienwettbewerb ......................164 2.4.2 Unter ferner liefen…: Migrationspolitik rot-grün.............................................166 2.4.3 CEBIT 2000: Einwanderungsdebatte über Nacht.............................................167 2.4.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? Zusammenfassung ...................170 2.5 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit)................................................................170
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Inhaltsverzeichnis Die Zuwanderungskommission im Politikprozess .................................................179
3.1 Methodik der Fallstudie ..............................................................................................179 3.1.1 Qualitativ-rekonstruierende Politikforschung: Analyse von Entscheidungsprozessen und Generierung von Hypothesen .......179 3.1.1.1 Methodologie, forschungstechnischer Ansatz und Methodenindikation ............................................................................179 3.1.1.2 Gütekriterien und methodische Triangulation ....................................183 3.1.2 Datenerhebung: Themenzentrierte Gespräche mit Politikexperten ..................185 3.1.2.1 Experteninterviews als eigenständige Befragungsmethode? ..............185 3.1.2.2 Sample, Set und Setting ......................................................................187 3.1.3 Auswertung: Inhaltsanalyse als Reduktion und Interpretation verbaler Daten ......................191 3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre? ...................................195 3.2.1 Allparteiliche Problemwahrnehmung: »Renovierungsbedarf beim Ausländerrecht«....................................................195 3.2.1.1 Intentionen des BMI: »Einen großen Wurf« ......................................196 3.2.1.2 Skepsis der Regierungsparteien: »Vor der Wahl kommt da nix mehr!«.................................................197 3.2.1.3 Positionen der Opposition: »Wir müssen eine Diskussion führen« ...198 3.2.2 Ministerielle Federführung: »Im ›Spiegel‹ angekündigt, bevor wir darüber gesprochen haben« .................199 3.2.2.1 Eine alte Idee: »Expertenkommission unter Einbeziehung der gesamten Zuwanderungsproblematik« .........................................199 3.2.2.2 Handlungsdruck durch ökonomisch-gesellschaftliche Interessen: »Nicht mit 51 zu 49 Prozent« .............................................................201 3.2.2.3 Koalitionsarithmetik: »Kein Privatvergnügen des Innenministers«...203 3.2.3 Berufung und personelle Struktur: »Repräsentanten ganz hochwohllöblicher Vereinigungen«..............................208 3.2.3.1 Vorbild Weizsäcker-Kommission: »Bei der Zuwanderungskommission politisch Pate gestanden«.........208 3.2.3.2 Einbindung von Parteien und Opposition: »Wie könnt ihr aussuchen, wer uns vertreten soll?« ..........................210 3.2.3.3 Interessenvertreter und Sachverständige: »Der Vorsitzende des BDI kann kein Migrationsexperte sein« .........212 3.2.3.4 Migrantenrepräsentation: »Ein Salonvertreter von uns« ....................217 3.2.3.5 Infrastruktur und Arbeitsstab: »Ein Kästchen in der Abteilung M« ...................................................219
Inhaltsverzeichnis
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3.2.4 Beratungskonkurrenz: »Michael Schumacher der Zuwanderungspolitik«.......221 3.2.4.1 Zuwanderungspolitik der FDP: »Mit Rücksicht auf die Unabhängige Kommission«..........................222 3.2.4.2 Müller-Kommission der CDU: »Entsprechend was dagegen setzen« ..................................................222 3.2.4.3 Grundsatzdiskussion in der PDS: »Provozierte Debatten in die Partei hinein« .......................................225 3.2.4.4 Drei-Säulen-Modell von Bündnis 90/Die Grünen: »Umfassende gesetzliche Regelung der Einwanderung« ...................226 3.2.4.5 Stiegler-Kommission der SPD-Fraktion: »Wie einen wir unseren Verein?«.......................................................227 3.2.4.6 Gesellschaftlicher Diskurs: »Wenn Du König von Deutschland wärst, wie würde Dein Zuwanderungsgesetz aussehen?« ..................230 3.2.5 Regierungsprozess: Zusammenfassung und Zwischenfazit..............................230 3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz ..............................................237 3.3.1 Binnenfunktionalität: »So muss sich ein Diskurs abspielen« ...........................237 3.3.1.1 Konstituierung und Verfahrensgrundlagen: »Closed shop arbeiten« .......................................................................237 3.3.1.2 Akteurskonstellationen und Rollenwahrnehmung: »Wir sitzen hier nicht als Parteivertreter« ..........................................240 3.3.1.3 Entscheidungsfindung und Konsens: »Mit dem Kopf des anderen denken« .................................................243 3.3.1.4 Leitung und Verfahrenssteuerung: »Was wollen wir? Was erreichen wir?« .............................................250 3.3.1.5 Funktionen des Arbeitsstabes: »Keine Automaten« ...........................253 3.3.1.6 Berichterstattung: »Eine Knochenarbeit« ...........................................254 3.3.2 Interaktionen und Interdependenzen: »Wir waren keine Trappistenvereinigung«.......................................................257 3.3.2.1 Beratung der Berater: »Zentnerweise Gutachten«..............................257 3.3.2.2 Partizipation gesellschaftlicher Gruppen: »Einbinden, ohne dem Wahnsinn zu verfallen« .................................260 3.3.2.3 Steuerungsversuche des BMI: »Relativ schnöde zurückgewiesen« ...262 3.3.2.4 Feedback des politischen Systems: »Beratung mit dem Hinterkopf« .........................................................265 3.3.3 Public Relations: »Wen müssen wir mitnehmen?« ..........................................269 3.3.3.1 Pressearbeit und Medieninteresse: »Praktisch in Konklave getagt« ..........................................................269 3.3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit: »Give it a face« ................................................272 3.3.4 Kommissionsprozess: Zusammenfassung und Zwischenfazit..........................273
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Inhaltsverzeichnis
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus .............................................277 3.4.1 Das erste Gesetzgebungsverfahren: »Im Papierkorb versenkt«........................278 3.4.1.1 Referentenentwurf des BMI: »Plötzlich auf einem anderen Trip«.....278 3.4.1.2 Koalitionsabstimmung: »Die Tür müssen die Grünen einrennen«.....286 3.4.1.3 Opposition im Gesetzgebungsverfahren: »Flagrant ins Gesicht gespuckt« .........................................................292 3.4.1.4 Scheitern des Zuwanderungsgesetzes: »Politische Kampfsituation auf die Spitze getrieben«........................298 3.4.2 Das zweite Gesetzgebungsverfahren: »Geheimverhandlungen! Am Parlament vorbei!« ............................................302 3.4.2.1 Rituelle Polemik: »Conditio sine qua non« ........................................302 3.4.2.2 Parteienwettbewerb im Bundesstaat: »StGB ins BGB umschreiben« ...........................................................304 3.4.3 Policy-Vorschläge und -Implementation: »Die Kommission empfiehlt…« ....308 3.4.3.1 Einwanderung und Arbeitsmigration: »Das Herz herausgerissen« ....311 3.4.3.2 Flucht und Asyl: »Vom Innenminister als zu weit gehend empfunden« .......................319 3.4.3.3 Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion: »Tabuthema«, »…im Bewusstsein der historischen Verantwortung« .......................329 3.4.3.4 Integration: »Der eigentlich populäre Teil ist untergegangen« ..........333 3.4.3.5 Beratung, Verwaltung und legislative Ausgestaltung: »Ganzheitliche, transparente und flexible Konzeption«.....................339 3.4.4 Post-Kommissionsprozess: Zusammenfassung und Zwischenfazit .................353
4
Ergebnisse und Schlussfolgerungen ........................................................................363
4.1 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde ....................................................363 4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen................................................................373 4.3 Ausblick: Ergänzende Forschungsfragen....................................................................393 4.4 Fazit: Modernes Regieren? .........................................................................................397
Literaturverzeichnis.............................................................................................................403 Anhang ................................................................................................................................437 Personenindex .....................................................................................................................455
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
Abg. Abs. a.F. AG allg. APVO Art. AsylbLG AsylVfG AsylVO AufenthG AufenthV AuslG AZR BA BAFl BAFöG BAMF BDA BDI BeschV BeschVerfV BGBl. BITKOM BMA BMBF BMF BMFSFJ BMGS BMI BMV BR BT BVerfG BVerfG-E BVerfG-G BVFG CDU CEBIT CSU DAAD DAG DDR ders. DFG DGB
Abgeordnete(r) Absatz alte Fassung Arbeitsgruppe allgemein Ausländerpolizeiverordnung Artikel Asylbewerberleistungsgesetz Asylverfahrensgesetz Verordnung über die Anerkennung und die Verteilung von ausländischen Flüchtlingen Aufenthaltsgesetz Aufenthaltsverordnung Ausländergesetz Ausländerzentralregister Bundesanstalt für Arbeit (bis 2003); Bundesagentur für Arbeit (seit 2003) Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (bis 2003; vor 1965: Bundesdienststelle für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge) Bundesausbildungsförderungsgesetz Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände Bundesverband der Deutschen Industrie Verordnung über die Zulassung von neueinreisenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung (Beschäftigungsverordnung) Verordnung über das Verfahren und die Zulassung von im Inland lebenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung (Beschäftigungsverfahrensverordnung) Bundesgesetzblatt Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien e.V. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Verteidigung Bundesrat Bundestag Bundesverfassungsgericht Bundesverfassungsgerichtsentscheidung Bundesverfassungsgerichtsgesetz Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz) Christlich Demokratische Union Deutschlands Centrum der Büro- und Informationstechnik Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. Deutscher Akademischer Austauschdienst Deutsche Angestelltengewerkschaft Deutsche Demokratische Republik derselbe Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V. Deutscher Gewerkschaftsbund
16 d.h. DIHT DM DPWV DRK Drs. DStGB d.Verf. ebd. efms EG EKD endg. EU f. FAZ FAZamSo FDP ff. Fn(n). FR FTD GASiM GFK GG ggf. GGO-BM GMBl GO-BReg. GO-BT GO-VA GUS GZ HB HBS Herv. HRK Hrsg. i.d.R. i.E. IHK IMK insb. IntV i.Orig. i.S. IT IT-AV IT-ArGV i.V.m. IZA Jg. KPMG LT
Abkürzungsverzeichnis das heißt Deutscher Industrie- und Handels(kammer)tag Deutsche Mark Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband Deutsches Rotes Kreuz Drucksache Deutscher Städte- und Gemeindebund der/des Verfasser/s ebenda Europäisches Forum für Migrationsstudien an der Universität Bamberg Europäische Gemeinschaft(en) Evangelische Kirche in Deutschland endgültig Europäische Union folgend/e/r Frankfurter Allgemeine Zeitung Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Freiheitlich demokratische Partei Deutschlands fortfolgend/e Fußnote(n) Frankfurter Rundschau Financial Times Deutschland Gemeinsames Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) Grundgesetz gegebenenfalls Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien Gemeinsames Ministerialblatt der Bundesregierung und der Bundesministerien Geschäftsordnung der Bundesregierung Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses Gemeinschaft Unabhängiger Staaten Geschäftszeichen Handelsblatt Hans-Böckler-Stiftung Hervorhebung Hochschulrektorenkonferenz Herausgeber in der Regel im Einzelnen Industrie- und Handelskammer Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (»Innenministerkonferenz«) insbesondere Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung) im Original im Sinne Informationstechnologie Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie in Verbindung mit Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit Jahrgang Klynveld Peat Marwick Goerdeler Consulting Landtag
Abkürzungsverzeichnis LZZ Min.Dirig. Min.Dir. MdB MdL Mio. MSO MuB N.N. NPD NRW o.g. PDS Pl.Pr. PM PR PStS. Rn. SGB s.o. sog. SPD StAG Sten.Ber. StS. s.u. SVR SZ TAB taz TGD u.a. UK ZU UNO UNHCR US USA u.U. VAH
17
Landeszentrum für Zuwanderung in Nordrhein-Westfalen Ministerialdirigent Ministerialdirektor Mitglied(er) des Bundestages Mitglied(er) des Landtages Million(en) Migrantenorganisationen Migration und Bevölkerung nomen nominandum Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nordrhein-Westfalen oben genannt Partei des demokratischen Sozialismus Plenarprotokoll Pressemitteilung Public Relations Parlamentarische(r) Staatssekretär(in) Randnummer Sozialgesetzbuch siehe oben sogenannt(e)(n) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Staatsangehörigkeitsgesetz Stenografischer Bericht Staatssekretär(in) siehe unten Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Süddeutsche Zeitung Büro für Technikfolgenabschätzung Die Tageszeitung Türkische Gemeinde in Deutschland unter anderem Unabhängige Kommission »Zuwanderung« United Nations Organisation United Nations High Commissioner for Refugees (UNO-Flüchtlingskommissar) United States United States of America unter Umständen Vorläufige Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern zum Aufenthaltsgesetz und zum Freizügigkeitsgesetz/EU ver.di Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft Verf. Verfasser VG Verwaltungsgericht VGH Verwaltungsgerichtshof vgl. vergleiche vs. Versus VwV AufenthG Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz WamS Welt am Sonntag WP Wahlperiode z.B. zum Beispiel ZDH Zentralverband des Deutschen Handwerks zit.n. zitiert nach z.T. zum Teil ZuwG Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts von EU-Bürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) ZuwG-E Entwurf des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts von EU-Bürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz) vom 3. August 2001 ZWST Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1:
Regieren – Funktionsdimensionen des gubernativen Policymaking ........46
Abbildung 2:
Policy-Beratung – Akteure im Politikberatungsregime............................84
Abbildung 3:
Typen von Expertenkommissionen 1998-2005 ......................................100
Abbildung 4:
Asylanträge 1971-2004 ...........................................................................143
Abbildung 5:
Abgewandeltes inhaltsanalytisches Ablaufmodell nach Mayring ..........192
Abbildung 6:
Funktionen der Gegenkommissionen der politischen Parteien...............235
Abbildung 7:
Kontroverse Themendiskussionen der UK ZU.......................................246
Abbildung 8:
Von der Süssmuth-Kommission angehörte Akteure...............................257
Abbildung 9:
Teilnehmende Akteure beim »Praktiker-Erfahrungsaustausch« ............346
Abbildung 10:
Bevölkerungsmeinung zu einem Einwanderungsgesetz.........................360
Abbildung 11:
Bevölkerungsmeinung zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ..............360
Vorwort von Rita Süssmuth Vorwort von Rita Süssmuth
Das vorliegende Buch ist hochaktuell. Es behandelt wichtige Fragen im Hinblick auf die Gestaltung, Akzeptanz und aktive Zustimmung zu unserer Demokratie. Eine zentrale Frage lautet: Wie kann es einer Regierung gelingen, ihrer programmatischen Gestaltungsaufgabe gerecht zu werden und den zur erfolgreichen Durchführung ihrer Politik notwendigen gesellschaftlichen Konsens zu organisieren? Seit einigen Jahren schwindet das Vertrauen der Menschen in die Politik, drängende Probleme lösen zu können. Mit dem Vertrauensverlust wächst auch die Demokratieskepsis. Vertrauen und Problemlösungskompetenz zurückzugewinnen, gehört daher zu einer der vordringlichsten Aufgaben politischer Führung. Die in Forschung und Praxis entwickelten konzeptionellen Ansätze von modernem Regieren und Good Governance sind in dieser Hinsicht keine Leerformeln. Sie legen es der Regierungsspitze nahe, Politikprozesse partizipativ, dialogisch, gemeinwohlorientiert, effizient und in demokratischer Verantwortlichkeit zu gestalten. Gerade über komplexe Fragen, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von großer Bedeutung sind, sollte unter Berücksichtigung der vorhandenen und relevanten Expertise, der gewachsenen Wissensbestände sowie möglichst aller davon betroffenen Gruppen öffentlich beraten werden. Zuwanderung und Integration, die Politikbereiche auf die sich die Studie von Jan Schneider bezieht, behandeln diese Art komplexer Fragen. Sowohl auf nationaler als auch auf europäischer sowie internationaler Ebene ist die Migrationspolitik in den letzten Jahren zu einem höchst relevanten und kontrovers diskutierten Thema geworden. Regierungen haben erkannt, dass Zuwanderung nicht allein der defensiven Kontrolle, sondern auch der aktiven Steuerung und Gestaltung bedarf. Dies ist zum einen auf fundamentale Eigeninteressen der Aufnahmeländer zurückzuführen. Das betrifft die Lösung nationaler und internationaler Probleme mit Menschen aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen der Welt. Das gilt für Wissenschaft und Technik, Wirtschaft und Umwelt, Zusammenleben mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Es besteht ein Fachkräftemangel in bestimmten Branchen und es gilt für die allermeisten Industriestaaten, den Geburtenrückgang mit seinen Auswirkungen durch begrenzte Zuwanderung abzumildern. Zum anderen ist Migration stets auch ein Ausdruck struktureller Ungleichheit bzw. ungleicher Chancenverteilung in verschiedenen Regionen der Welt. Mehr und mehr wird deutlich, dass neben der kurzfristigen Aufnahme von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen sowie der Asylgewährung für politisch Verfolgte auch Perspektiven für jene Menschen geschaffen werden müssen, die in anderen Teilen der Welt in ihrer persönlichen Freiheit oder ihren Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt sind und nach besseren Lebensbedingungen streben. In der Ermöglichung und allgemeinverträglichen Gestaltung von Einwanderung, Transitmigration und Rückwanderung liegt eine Chance, solche Disparitäten auszugleichen und die europäischen Werte Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit glaubhaft auch nach außen zu vertreten.
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Dies verweist auf die zweite Seite der Medaille: die Anerkennung der Einwanderungssituation und die Gestaltung der Integration in einer de facto multikulturellen Gesellschaft. Integration darf keine Einbahnstraße sein und ausschließlich Adaptionsleistungen oder gar weitgehende Assimilation der Zuwanderer verlangen. Vielmehr sollte sie Einwanderern wie Mitgliedern der aufnehmenden Gesellschaft gleichermaßen ermöglichen, aufeinander zuzugehen und voneinander zu lernen. Dazu gehört es, zunächst die Versäumnisse der Vergangenheit abzuarbeiten und Grundvoraussetzungen für die Integration der zweiten und dritten Generation von Migranten zu schaffen. Den Zugewanderten werden dabei zahlreiche Pflichten auferlegt: Sie haben den Erwerb von Sprachkenntnissen, die Vertrautheit mit deutscher Kultur und Geschichte, die Anerkennung unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung bzw. ihrer Werte und Normen nachzuweisen. Andererseits soll ihr Anderssein, ihr kultureller und religiöser Hintergrund berücksichtigt und integriert werden. Vielfalt – das Multikulturelle – soll seinen Platz in unserer Gesellschaft haben. Denn schließlich ist es eine Zukunfts- und Überlebensfrage, wie wir uns auf weltweite Veränderungen einlassen und klären, welche Kenntnisse und Fähigkeiten wir brauchen, um an der Globalisierung, der weltweiten Vernetzung und den wechselseitigen Abhängigkeiten gestaltend teilzuhaben. Die Integration der Migranten und praktizierte kulturelle Vielfalt eröffnen positive Perspektiven in diesem Prozess: Mehrsprachigkeit und interkulturelle Kompetenz gehören heute zu den Basisqualifikationen wie die kulturellen Elementartechniken Rechnen, Lesen und Schreiben. In Deutschland wurden Migranten und Migrantinnen bislang aber primär als schwache, hilfsbedürftige Menschen wahrgenommen, die wenig, ja zu wenig zu unserem Wohlstand und unserer Zukunftsfähigkeit beitragen. Zum notwendigen Empowerment gehört daher einerseits die Stärkung der Rechtspositionen der Zuwanderer, zum anderen ein Umdenkungsprozess innerhalb der Mehrheitsgesellschaft: Vielfalt der Kulturen und Religionen stellt eher eine Bereicherung denn eine Gefahr dar, Integration ist nicht ausschließlich die Bringschuld der Migranten sondern ein Prozess mit Veränderungen auf beiden Seiten. Wie im politischen Raum über diese Fragen diskutiert wurde und wird, behandelt die Studie von Jan Schneider. Sie befasst sich mit der deutschen Migrationspolitik seit der Anwerbung der ersten ausländischen Arbeitnehmer in den 1950er Jahren – lange Zeit »Gastarbeiter« genannt – bis hin zum Zuwanderungsgesetz von 2004 und dem 2007 erarbeiteten Nationalen Integrationsplan. Den Schwerpunkt legt der Autor dabei auf das Zustandekommen politischer Entscheidungen und Maßnahmen im Zusammenspiel zwischen der Regierung als gestaltender Instanz, den sonstigen am politischen Prozess beteiligten Akteuren und der Gesellschaft – die Politikberatung im weitesten Sinn. Die Retrospektive macht deutlich, dass Beratung und Entscheidung über migrationspolitische Fragen bis weit in die 1990er Jahre hinein ganz überwiegend Sache der Ministerialbürokratie, vor allem der Innenressorts von Bund und Ländern, sowie der Behörden der Arbeitsverwaltung war. Die vom damaligen Bundesinnenminister im Jahr 2000 eingerichtete Unabhängige Kommission »Zuwanderung« – sie steht im Zentrum der Analyse – stellte im Hinblick auf die Wege der Beratung und Entscheidungsvorbereitung eine Zäsur da. Erstmals wurde ein Gremium berufen, das nicht vorrangig aus Mitgliedern der Ministerialverwaltung oder Parteipolitikern zusammengesetzt war, sondern Wirtschaft, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände und Wissenschaft gleichermaßen umfasste. Die Kommission erreichte in weiten Bereichen einen Konsens und machte der Politik umfassende Vorschläge für einen Paradigmen-
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wechsel vom Anwerbestopp zur gesteuerten arbeitsmarktorientierten Zuwanderung. Für die Gestaltung von Zuwanderung und Integration entwickelte sie ein Gesamtkonzept, das der humanitären Verantwortung gerecht werden, zur Sicherung des Wohlstandes beitragen sowie das Zusammenleben von Deutschen und Zuwanderern verbessern und die Integration fördern sollte. Die Vorschläge fanden allerdings im Bereich der Maßnahmen zur Steuerung und Gestaltung der Zuwanderung im Gesetz, mit Ausnahme der Zielgruppe Hochqualifizierter, Selbstständiger und Studierender, keinen Niederschlag. Der Anwerbestopp wurde aufrechterhalten, ein Bedarf an Fachkräften in bestimmten Branchen bestritten. Die Gründe dafür waren vielfältig und lagen nicht zuletzt auch in ungünstigen politischen Konstellationen. Heute wird jedoch deutlich, dass die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« bereits 2001 zahlreiche Themen angesprochen hat, die nunmehr geregelt werden oder über die eine Debatte wieder neu entbrannt ist – wie etwa das Problem der so genannten Kettenduldungen bzw. des Bleiberechts, die Situation der undokumentierten Migranten und ihrer Kinder, die Zuwanderung von Fachkräften oder auch ein Punktesystem zur Zuwanderungssteuerung. Einen weiteren wichtigen Aspekt beleuchtet die vorliegende Studie: die kontrovers diskutierte Frage des Zusammenspiels von Politikberatung und parlamentarischer Demokratie. Deutlich wird, dass von der Regierung eingesetzte, aber unabhängig arbeitende Kommissionen, wie die von mir geleitete Zuwanderungskommission eine war, in ihrer Beratungstätigkeit weder die zentralen Regierungsaufgaben noch das Parlamentshandeln ersetzen. Sie sind primär eine Vor- oder Zuarbeit; die endgültigen, verfassungsmäßigen Entscheidungswege und -prozeduren bleiben unangetastet. Zu einem demokratisch wertvollen und wirkungsvollen Element des kooperativen – und nicht nur des rein repräsentativen – Regierens werden Kommissionen insbesondere dann, wenn neben wissenschaftlicher und fachlicher Expertise auch die Zivilgesellschaft beratend eingebunden wird. Die dauerhafte Einrichtung eines unabhängigen Sachverständigenrates der Regierung oder des Parlaments für Zuwanderung und Integration, der neben der Bereitstellung wissenschaftlicher Expertise für die Migrationspolitik auch solche Aufgaben hätte wahrnehmen können, ist in Deutschland vorerst gescheitert. Im November 2008 wurde jedoch ein von der Politik unabhängiger Sachverständigenrat durch ein Stiftungskonsortium – eine Initiative der Mercator-Stiftung – eingerichtet. Andererseits sind die Deutsche Islamkonferenz sowie die Integrationsgipfel wichtige Elemente des Dialog-orientierten Regierens, das einerseits Expertenwissen aggregiert und zum anderen zivilgesellschaftliche Partizipation ermöglicht. Sie fokussieren jedoch auf wechselseitige Selbstverpflichtungen im Hinblick auf integrations- und religionspolitische Fragen. Um den Richtungswechsel bezüglich einer gleichsam an den Bedürfnissen potentieller Migranten orientierten wie nach nationalstaatlichen Interessen ausgerichteten Zuwanderungssteuerung zu vollziehen, bedarf es jedoch einer stärkeren Diskussion auch dieses Teilbereiches. Welche Zuwanderer sollen nach Deutschland kommen und wie soll diese Zuwanderung geregelt werden? Migrationspolitik bleibt halbherzig, wenn Integration eingefordert aber der Anwerbestopp aufrecht erhalten wird. Es fehlt die gemeinsame Anstrengung, wie die Engpässe auf dem Arbeitsmarkt und flexiblere Lösungen in diesem Bereich von Politik und Wirtschaft an die Bevölkerung herangetragen werden können, so dass sie die Vorteile einer begrenzten Öffnung erkennen und akzeptieren können. So lange überwiegen Zuwanderungsskepsis und eine eher restriktive Haltung, die immer noch auf latenten
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Überfremdungsängsten basiert, aber auch aus dem Versuch seitens der Politiker resultiert, eben diese Ängste und Abwehrhaltungen in Wählerstimmen umzumünzen. Um Fortschritte zu machen, bedarf es politischer Führungsarbeit und einer breiten Einbindung verschiedener Akteure in die Debatte. Aufbauend auf Gremien wie Zuwanderungskommission, Islamkonferenz und Integrationsgipfel müssen die Beratungsformen weiterentwickelt werden, um Migrations- und Integrationspolitik glaubwürdig zu verbinden. Auch die Arbeit der vom früheren Generalsekretär der UNO Kofi Annan eingesetzten Weltkommission für internationale Migration 2004/2005 legt dies nahe: Zeitgemäße Beratung und Entscheidung über migrationspolitische Fragen ist nur dann nachhaltig und demokratieverträglich, wenn Regierungen in einen möglichst intensiven und offenen Dialog mit Experten, Bürokratie und Verwaltungen, Nichtregierungsorganisationen, Wirtschaft, Gewerkschaften und der Zivilgesellschaft treten. Und zur Zivilgesellschaft gehören – dies gilt sowohl für die nationale Ebene als auch im europäischen Rahmen oder darüber hinaus im globalen Maßstab – selbstverständlich auch Vertreterinnen und Vertreter der Migranten selbst. Kofi Annan sah die Aufgabe von Politik und Gesellschaft in den Staaten der Welt darin, Win-Win-Situationen zu schaffen – d.h. für Aufnahmegesellschaften, die Herkunftsländer, die Migrantinnen und Migranten selbst. Diese Zukunftsaufgabe erfordert die Anstrengung aller Beteiligten und Verantwortlichen.
Einleitung Do Commissions Matter?
An der Schwelle zum 21. Jahrhundert galt die deutsche Migrationspolitik als dringend reformbedürftig. Die 1980er Jahre waren als »verlorenes Jahrzehnt« (Klaus J. Bade) verstrichen. Bis auf die späte Reform des Ausländergesetzes 1990 hatte es in 16 Jahren bürgerlich-liberaler Bundesregierungen keinerlei grundlegende Politikinnovation in einem durch fortgesetzte Einwanderung und damit assoziierter rechtlicher und integrationspolitischer Problemstellungen hochgradig regelungsbedürftigen Politikfeld gegeben. Das »rot-grüne Projekt« versprach einen klaren Politikwechsel: Die überfällige, von der Regierung Kohl über Jahre verschleppte Ablösung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913 zugunsten eines modernen ius-soli-Staatsbürgerschaftsrechts stand auf der Agenda. Ein Einwanderungsgesetz sollte folgen. Doch der neuen Bundesregierung gelang es nicht, in der Öffentlichkeit in ausreichendem Maße Akzeptanz für ihr Vorhaben oder einen Konsens über dessen Inhalte zu schaffen. Mit einer Unterschriftenkampagne mobilisierte die CDU rund fünf Millionen Bürger gegen die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts und gewann die hessische Landtagswahl 1999. Folge war der Verlust der bis dato zur rot-grünen Koalition im Bund konformen Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, so dass die Reform beinahe scheiterte. Nach parteiübergreifenden Verhandlungen trat am 1. Januar 2000 zwar ein neues Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft, die ursprünglichen Reformideen verwirklichte es jedoch nur ansatzweise. Ein Gesetz zur Regelung der Einwanderung schien darüber in weite Ferne gerückt. Am 12. Juli 2000 – kurz nach Aufbrechen einer unerwarteten Debatte über den Mangel an Fachkräften in der deutschen IT-Wirtschaft – berief der damalige Bundesinnenminister Otto Schily im Einvernehmen mit Bundeskanzler Schröder und dem Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen unter viel Aufsehen eine Unabhängige Kommission »Zuwanderung«. Unter Leitung der langjährigen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sollte das Gremium praktische Empfehlungen für eine neue Zuwanderungspolitik vorlegen. Die so genannte Süssmuth-Kommission, die bezüglich der Beratung migrationspolitischer Sachverhalte in Deutschland eine Zäsur markierte, ist der Hauptgegenstand dieses Buches. Im Jahr zuvor hatte die Bundesregierung ein ähnliches Gremium zur Reform der Bundeswehr (Weizsäcker-Kommission) installiert und bereits 1998 das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit initiiert. Nach der Berufung der SüssmuthKommission regte sich breite, zunächst primär im politisch-publizistischen, später auch im rechts- und politikwissenschaftlichen Bereich geäußerte Kritik1 an einem vermeintlich 1 vgl. beispielsweise zum ersten Bereich: Claus Leggewie, »Herrschaft per Konsens«, Die Woche Nr. 34 vom 18. August 2000: 8; Stefan Kornelius, »Das gezähmte Parlament«, SZ vom 28. Juli 2000: 4; Günther Bannas, »Schröders Regierungsstil geht zu Lasten der Legislative«, FAZ vom 29. Juli 2000: 12; Peter Ramsauer, »Wider die Kommissionitis«, Die Welt vom 4. Juli 2000: 7; Heribert Prantl, »Schröders Räterepublik«, SZ vom 19. Mai 2001: 4; Robert Leicht, »Alles Verhandlungssache«, Die Zeit Nr. 22 vom 23. Mai 2001: 5; zum zweiten Bereich: Hans-
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neuen Regierungsstil, der die Rolle des Deutschen Bundestages als Ort demokratischer Willensbildung mittels extra-parlamentarischen Gremien schwäche. Von den Kritikern wurde die Gefahr einer maßgeblichen Vorstrukturierung oder gar Vorentscheidung politischer Sachfragen durch dafür nicht legitimierte Gremien gesehen, die das Parlament tendenziell entmachteten und es zu einer Ratifikationsinstanz für politische Inhalte degradierten, welche dem Gemeinwohl nicht unbedingt zuträglich seien. Hingegen betonte die Regierungsseite vermeintliche Vorteile der außerparlamentarischen Beratungsforen.2 Das Novum läge in der Führung zu einem »innovativen Konsens« bei Reformprojekten in einzelnen Politikfeldern. In Zeiten gestiegener Anforderungen an die Politik seien temporär wirksame Instrumente zu schaffen, die Blockaden überwinden, politische Willensbildung beschleunigen und sie auf eine breite gesellschaftliche Grundlage stellen. Aufgabe der Politik sei es, durch Einbeziehung möglichst vieler Akteure und der Öffentlichkeit »den gesellschaftlichen Dialog zu organisieren, für Transparenz zu sorgen, schwächeren Partnern und Minderheiten das notwendige Gehör zu verschaffen und die Ergebnisse schließlich gesetzgeberisch umzusetzen.« (Steinmeier 2001: 269) Während eines begrenzten Mandats dienten Konsensrunden, Räte und Kommissionen der Verständigung über den jeweiligen Sachverhalt, der Formulierung von Zielvorstellungen und der Einigung auf bestimmte Lösungskorridore (vgl. ebd.: 266). Während die Bundesregierung also demokratischen Mehrwert sowohl auf der InputSeite (Transparenz, Partizipation, Responsitivät) als auch auf der Output-Seite (Effizienz, Konsens) reklamierte, lief die Argumentation der Kritiker von Regierungskommissionen im Endeffekt auf die Behauptung hinaus, diese schädigten die Demokratie hinsichtlich beider Legitimitätsebenen. Der Streit um Regierungskommissionen ergänzte somit im Grunde eine bereits ältere, zyklisch wiederkehrende Debatte um den Bedeutungsverlust des Parlaments im System der parlamentarischen Demokratie, die sich in der Vergangenheit an unterschiedlichen Diagnosen entzündete, wie z.B. am statistisch begründeten Verweis auf die unterlegene Position des Bundestages gegenüber der Bundesregierung bei der Einbringung von Gesetzen oder am Informations- und Entscheidungsvorsprung der Ministerialbürokratie.3 Das Parlament selbst begegnete dem Verdacht seiner Entmündigung bzw. dem Vorwurf der Selbstentmachtung vordergründig stoisch. »Der Bundestag bleibt der eigentliche Ort der demokratischen Auseinandersetzung. Hier findet der Ernstfall der Entscheidung statt«, konstatierte Parlamentspräsident Wolfgang Thierse.4 Und Norbert Lammert sagte nach seiner Wahl in das gleiche Amt: »Gewichtige Themen werden immer wieder in Kommissionen vorbereitet, dadurch werden keine parlamentarischen Gestaltungsmöglichkeiten reduziert.«5 Jürgen Papier, »Reform an Haupt und Gliedern«, FAZ vom 31. Januar 2003: 8; Ruffert (2002), Blumenthal (2003), Herdegen (2003), Morlok (2003), Tils & Bornemann (2004). In die Kritik wurden neben dem Bündnis für Arbeit und den Kommissionen von den meisten Autoren auch die Absprachen zum sog. Atomkonsens sowie später der im Frühjahr 2001 berufene Nationale Ethikrat einbezogen. 2 »Politik im Konsens – das ist Gerhard Schröders Erfolgsgeheimnis« propagierte das SPD-Organ Vorwärts. Es erhob Schröders Stil zu einem Ausdruck »modernen Regierens im 21. Jahrhundert«, als »Einladung zum Dialog« in der »Konsensdemokratie«; vgl. Vorwärts Nr. 10/2000: 1, 4. 3 vgl. dazu beispielhaft die Diagnose von Ralf Dahrendorf aus Anlass der Arbeitsaufnahme des Bundestages in Berlin (»Traurige Parlamente«, FAZ vom 8. September 1999) und die Replik von Peter Lösche (2000). 4 Präsident des Deutschen Bundestages Wolfgang Thierse, BT-Pl.Pr. 15/1: 5 D; vgl. auch ders., »Eine Runde der Abnicker? Zum angeblichen und tatsächlichen Bedeutungsverlust des Parlaments«, FR vom 25. Juni 2001: 6. 5 »Das Parlament hat kein Diskussionsmonopol«, Interview mit Norbert Lammert, Die Zeit Nr. 43 vom 20. Oktober 2005.
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Sowohl die Position der Bundesregierung als auch die ihrer Kritiker sind jedoch jeweils in sich plausibel und theoretisch begründbar, beide erfuhren auch im wissenschaftlichen Diskursverlauf Unterstützung – allerdings eher durch Partialanalysen und anekdotische Evidenz, denn durch empirisch fundierte Forschung. Weitergehende Fragen der Politikwissenschaft, etwa nach dem exekutiven Strategie- und Steuerungspotenzial von Kommissionen, ihren faktischen Auswirkungen auf das taktische Handeln der Akteure im Politikprozess sowie ihre nachhaltigen Effekte auf die materielle Politik und die Institutionen im jeweiligen Politikfeld blieben weitgehend offen. Hier gilt: »Politikberatung durch Kommissionen – ein wenig analysiertes Instrument« (Färber 2005: 132). Die vorliegende Studie versteht sich als Beitrag zur Bearbeitung dieses Desiderats.
Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisinteresse Ziel dieses Buches ist es, im umfassenden Sinne zu untersuchen, was das Einsetzen und die Arbeit einer Regierungskommission tatsächlich bedeuten. Es soll herausgefunden werden, was die Regierung mit der Installation einer Kommission bezweckt, wie diese den politischen Prozess beeinflusst und welche Auswirkungen sich daraus auf das betroffene Politikfeld und die darin vorzufindenden Modalitäten der Beratung und Entscheidung ergeben – kurz gesagt: ob Kommissionen »einen Unterschied machen«. Dabei werden auch mittelbare Folgeerscheinungen in den Blick genommen, die sich erst in zweiter oder dritter Konsequenz, als Ergebnis weiterer akteurspezifischer Handlungspräferenzen oder unter Berücksichtigung von »Hintergrundkontingenzen« ergeben. Die Untersuchung verfügt somit über zwei zentrale, in ihrer Bearbeitung unmittelbar assoziierte Gegenstände: das Regieren mit Kommissionen und die Beratungsregime in der deutschen Migrationspolitik. Sie versteht sich gleichermaßen als Beitrag zu einer modernen Regierungsforschung wie zur Politikfeldforschung. Da Kommissionen in dieser Untersuchung als genuiner Bestandteil des Regierens betrachtet werden, stellt sich zunächst die abstrakte Frage danach, was »Regieren« eigentlich bedeutet. Weiter ist zu klären, was im Hinblick auf die Tätigkeiten einer Regierung unter »modern« zu verstehen ist. In den 1960er Jahren hieß es »zunächst einmal nichts anderes als zeitgemäß, […] darin vereinten sich Aufbruchstimmung, Zukunftsgewißheit und Krisenbewußtsein gleichermaßen. […] die einfache Antwort auf die Frage, was unter ›modernem Regieren‹ zu verstehen sei, hieß: Planung.« (Metzler 2005: 289, 293) Auch wenn sich infolge der Planungsernüchterung dieses Verständnis gewandelt hat, so sind es auch heute vorrangig normative Ansprüche, die mit »modernem Regieren« verbunden werden. Die eingangs nachgezeichnete Debatte um den Einfluss von Kommissionen auf den Deutschen Bundestag verweist direkt auf die zwei zentralen normativen Dimensionen demokratischen Regierens: seine Input- und seine Output-Legitimität. Beide Dimensionen – so eine Grundannahme dieses Buches – müssen stets dialektisch betrachtet werden. In einer Konzeptualisierung, die auch auf Leistungsfähigkeit und Effizienz im Sinne einer Output-Legitimität abzielt, gelten Einbußen bei der Input-Legitimität unter einer Prämisse als hinnehmbar: wenn zugunsten eines nachweislichen Zugewinns auf der Output-Seite die erfolgten Abstriche vom demokratischen Ideal nicht unerträglich werden (vgl. Ellwein 1966: 171). Diese Grenzen zu bestimmen und zu diskutieren, ist nicht zuletzt Aufgabe einer pragmatistischpraxisorientierten Regierungsforschung.
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Das erste Kapitel des Buches fokussiert daher auf die Regierung und ihr Handeln bzw. die vielfältigen Handlungsbeschränkungen für Regieren im »semi-souveränen« bzw. kooperativen Staat. Da die Herstellung von Konsens sowohl ein internes Problem der Regierungsorganisation als auch eine nach außen gerichtete Aufgabe politischer Führung darstellt, wird diese Dimension des Regierens explizit hinterfragt. Daraus ergeben sich u.a. folgende Leitfragen: Welches sind die zentralen Funktionen bzw. Aufgaben des Regierens und unter welchen normativen Prämissen stehen sie? Welche formalen und informellen Wege der Steuerung und Koordination werden beim Regieren genutzt? Welche Funktionen hat Politikberatung für das Regieren und welche Wege der Policy-Beratung führen zu politischen Entscheidungen? Inwiefern stehen beratende Kommissionen und allgemeine Strukturmerkmale bzw. spezifische Handlungsaspekte des Regierens in Zusammenhang? Im Hinblick auf das Regieren mit Kommissionen werden mittels des gewählten Fallbeispiels Zuwanderungskommission Thesen sowohl zu den Funktionen und zum »Funktionieren« als auch zu den Auswirkungen regierungsseitig eingesetzter Beratungsgremien entwickelt, die nicht zuletzt auch die o.g. demokratiepolitischen Konfliktgegenstände berücksichtigen und die anschlussfähig für theoretische Überlegungen bzw. weitere empirische Forschung sind. Ausgangspunkt ist eine Reihe von Fragenkomplexen, die auf Veränderungen von Struktur- und Handlungsabläufen gegenüber dem »herkömmlichen« Policymaking gerichtet sind und daneben die eingangs skizzierten Legitimitätsfragen berücksichtigen: Welche Rolle und Funktion haben gubernative Kommissionen im Politikprozess und wie regiert man »mit« Kommissionen? Wie verändert sich dadurch das Regieren selbst; inwieweit ist also ein reflexiver Effekt von Kommissionen auf Regierungshandeln und gouvernementale Institutionenpolitik auszumachen? Wie »funktionieren« Kommissionen im Hinblick auf ihr internes organisatorisches Gefüge sowie ihre Interaktion mit Externen? Welche Auswirkungen hat das Kommissionsregieren auf den Willensbildungs- und Entscheidungsprozess in der parlamentarischen Demokratie? Genügen Regierungskommissionen grundlegenden Input- bzw. Output-orientierten Anspruchskategorien demokratischer Legitimität oder bedeuten sie gar eine Weiterentwicklung? Ist also das Regieren mit Kommissionen – um mit Fritz Scharpf (1999) zu sprechen – »effektiv und demokratisch?« Ausgangsüberlegung für das Buch ist, dass die Frage nach dem Regieren analytisch nur unter Berücksichtigung der Eigenheiten bestimmter Politikfelder, etablierter Netzwerke und entsprechender Dynamiken bzw. Strukturen nachvollziehbar beantwortet werden kann. So hat Gerhard Lehmbruch in der Neubearbeitung seiner klassischen Schrift Parteienwettbewerb im Bundesstaat in Anlehnung an Theodor Eschenburg darauf hingewiesen, dass politikwissenschaftliche Struktur- und Handlungsanalysen die entwicklungsgeschichtliche Dimension ihres Themas keinesfalls vernachlässigen sollten, sondern die Perspektive eines »historischen Institutionalismus« mit den neueren Forschungsperspektiven komplementär zur Anwendung kommen sollte (Lehmbruch 2000: 200; vgl. Schneider, V. 2003: 306ff.). Im Rahmen der Policy-Fokussierung auf die deutsche Migrationspolitik – den zweiten zentralen Gegenstand dieses Buches – wird die entwicklungsgeschichtliche Dimension des Politikfeldes explizit berücksichtigt. Hier interessiert besonders, inwieweit Politikberatung und Politik(vor)formulierung durch eine Kommission tatsächlich ein Novum in der deutschen Ausländerpolitik darstellen und welche sonstigen Entscheidungsmodi und -loci bisher kennzeichnend für das Politikfeld waren. Es wird ferner davon ausgegangen, dass sich Berufung, Struktur und Auswirkungen der Kommission unter Ausblendung des »historisch-
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institutionalistischen« Kontextes bundesrepublikanischer Migrationspolitikformulierung nicht ohne weiteres verstehen lassen. Der kritisch-analytische Blick der retrospektiven Politikfeldstudie im zweiten Hauptteil richtet sich auf die Verträglichkeit dieser früheren Beratungs- und Entscheidungsmodalitäten mit den Anforderungen demokratischer Willensbildung im parlamentarischen System sowie den Erfordernissen effizienten und »guten« Regierens. Die deutsche Migrationsgeschichte und die korrespondierende Zuwanderungspolitik werden also fokussiert auf das Handeln der Regierung sowie deren Interaktion mit anderen politischen Akteuren unter konsensdemokratischen Gesichtspunkten dargestellt. Diesbezüglich sind folgende Fragestellungen leitend: Welche Akteure konstituieren das migrationspolitische Beratungsregime und wie hat es sich gewandelt? Wurden unter spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen bzw. innerhalb von Teil-Politiken bestimmte Beratungs- und Entscheidungswege präferiert? Inwieweit ergeben sich Bezüge aus diesen früheren Konstellationen zur Beratung qua Süssmuth-Kommission? Welche konkrete Bedeutung kam der Kommission innerhalb der Zuwanderungsgesetzgebung zu und welche Auswirkungen hatte die Kommission auf die Konfiguration von Policy-Beratungsprozessen in der aktuellen Migrationspolitik? Trotz der großen (und stetig wachsenden) Bedeutung europäischer migration policies wählt diese Studie einen Fokus auf den nationalen Politikprozess und das politische System der Bundesrepublik. Dies geschieht aus drei Gründen: Erstens wird Migrationspolitik in entscheidenden Punkten weiterhin auf nationalstaatlicher Ebene entschieden. Obwohl die Lösung zentraler Fragen des Zuwanderungs- und Asylrechts nach der »Vergemeinschaftung« der vormals intergouvernementalen Säule Justiz und Inneres einer europäischen Migrationspolitik erste Formen verliehen hat, bleiben vor dem Hintergrund von Souveränitätsansprüchen die Einzelstaaten in wichtigen Bereichen regelungsbefugt.6 Zweitens spielen sich auch öffentliche Debatten zum Thema Migration ganz überwiegend unterhalb der EUEbene ab. Hier gilt die Beobachtung, dass die politische Öffentlichkeit hinsichtlich fast aller bedeutsamen Politikfelder fortwährend nationalstaatlich basiert ist, selbst wenn die materielle Politik in Europa gestaltet wird: »All politics is national, but policy is supranational« (Krouwel 2004; vgl. Lahav 2004: 102ff.). Drittens schließlich steht die Politikfeldbetrachtung wegen des abstrakten Hauptgegenstandes des Buches – dem Regieren mit Kommissionen – im engen Zusammenhang mit dem politischen System der Bundesrepublik; eine Erweiterung auf die Europäische Union hätte im Hinblick darauf nicht nur wenig zusätzlichen Erkenntnisgewinn versprochen, sondern auch schlicht den Rahmen gesprengt.
Politikwissenschaftlicher Ansatz Diese Untersuchung betont das Regieren und nähert sich dem Forschungsgegenstand daher aus der Perspektive der Regierungsforschung. Gemeinhin werden die Themenfelder der Regierungslehre bzw. Innenpolitik jedoch als Teil der vergleichenden Regierungs(system)lehre gefasst, die als zentrale Disziplin der politischen Wissenschaft angesehen werden 6 In Deutschland herrsche gar – so Cyrus und Vogel (2003: 24f.) – ein politischer Konsens darüber, der EU-Ebene keine Verantwortlichkeiten für die Migrationspolitik zu übertragen. Zur Persistenz der nationalstaatlichen Perspektive in der Migrationspolitik vgl. Köppe (2002: 154ff.); Guiraudon und Lahav (2000); Lahav (2004: 8). Parkes und Angenendt (2009) beobachten bei den Entscheidungsprozessen in der EU-Migrationspolitik Tendenzen der ReNationalisierung.
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kann (vgl. Helms & Jun 2004a). Neben den Internationalen Beziehungen, der traditionell eigenständigen zweiten großen Säule der Politikwissenschaft, hat sich mit der Politikfeldanalyse ein drittes disziplinäres Feld herausgebildet. Es weist zwar deutliche Bezüge zu den institutionell orientierten Forschungsagenden der vergleichenden Regierungslehre auf, kann jedoch nicht ohne Weiteres als einer ihrer Teilbereiche angesehen werden (vgl. ebd.: 14) – zu vielschichtig, wandelbar und volatil scheinen ihre Ausgangspunkte: die einzelnen Policies, die letztlich in ihrem Entstehen und ihrer Entwicklung immer auch maßgeblich als abhängige Variablen von übergeordneten Entwicklungen zu verstehen sind. Im Szenario der Fragmentierung der politologischen Disziplin lag denn auch ein großer Teil der Skepsis begründet, die der Policy-Forschung entgegengebracht wurde: Das »große Ganze« drohte über kleinteilige Politikfeldanalysen aus dem Blick zu geraten.7 Die Anregungen zu einer klarer umrissenen politologischen Teildisziplin Regierungsforschung stammen aus den 1960er Jahren und wurden unter dem Stichwort (moderne) Regierungslehre insbesondere von Wilhelm Hennis (1964, 1965), Thomas Ellwein (1966, 1970, 1976) und Emil Guilleaume (1965) vorgetragen. Ausgangspunkt ihrer Anregungen war der gewachsene Aufgabenbestand des Staates in Zeiten wirtschaftlicher Prosperität und steigende Ansprüche an seine Leistungen. Im Zentrum der politischen Wissenschaft sollte ihrer Ansicht nach verstärkt das Wirken von Regierung und Verwaltung bei der funktionellen Erfüllung ihrer Aufgaben im sog. Leistungsstaat stehen: »Wie wird diese enorme Maschinerie des modernen Produktions- und Verteilungsapparates am besten gesteuert?« (Hennis 1965: 429) Trotz zum Teil unterschiedlicher Nuancen ihrer Ansätze (vgl. dazu Wewer 1989: 15f.) war diesen Autoren damit eine weitere Orientierung gemeinsam, die als zentrales Element eines Perspektivenwechsels begriffen werden kann: Es ging ihnen »nicht mehr um die Struktur des Regierungsprozesses als vielmehr um das Regierungshandeln« (Hartwich 1990: 12; Herv.i.Orig.), wobei dieses in erster Linie normativ (nicht analytisch) gefasst wurde. Die besonders von Hennis betonte Empirieferne und Ausrichtung an normativ-ordnungspolitischen Kategorien machte die Regierungslehre anfällig für Kritik (vgl. Nehls 2002: 40, 124), die ihre Vertreter jedoch ihrerseits am Szientismus der PolicyAnalyse übten. Bis in die 1980er Jahre hinein polemisierte Hennis gegen eine »mitläuferische« Adaption der US-amerikanischen Policy Sciences und das »parvenühafte Neutönertum, das die ›moderne‹, ›professionelle‹, ›harte‹, ›methodenbewußte‹, ›anspruchsvolle‹ […] Politikwissenschaft der ›traditionalistischen‹ Politikwissenschaft« gegenüberstelle (Hennis 1985: 123). Andererseits war es auch eine gewisse Scheu vieler empirisch-analytisch arbeitender Politikwissenschaftler, das »Wertfreiheitspostulat« aufzugeben und (auch) normativ und historisch zu argumentieren, die der Herausbildung einer konsistenten Regierungslehre in Verbindung mit Policy-analytischer Forschung im Wege stand (vgl. Haungs 1990: 13f.). Dabei sprach sich die Regierungslehre Hennis’scher Prägung nicht etwa gegen die Hinwendung zu bestimmten Politikbereichen oder -feldern aus. Im Gegenteil: Er forderte auf Seiten der Politologen die Herausbildung »wissenschaftlich begründeter Kenntnisse« in »politisch bedeutsamen Materien« – also nichts anderes als Policy-Kompetenz – um die damit verbundenen staatlichen Aufgaben als Leitfaden für die Analyse politischen Handelns zu nutzen (vgl. Hennis 1965: 431f.). »Was wir brauchen, ist eine an den Staatsaufgaben einerseits, am Instrumentarium ihres Erkennens, Beschließens, Ausführens, Nachkon-
7 vgl. dazu z.B. die ausführlichen Diskussionen auf dem 1. Wissenschaftlichen Symposium der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft am 22./23. November 1984 in Hannover (Hartwich 1985).
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trollierens andererseits orientierte Phänomenologie des gesamten Willensbildungs- und Regierungsprozesses.« (ebd.: 432) Diese Sichtweise konnte sich allerdings nicht durchsetzen, so dass die »moderne« Regierungslehre ein »unvollendetes Projekt der deutschen Politikwissenschaft« blieb (vgl. Nehls 2002). Auch der Anspruch ihrer Begründer, die Regierungslehre als Didaktik zu verankern – Hennis publizierte im Anhang seines wegweisenden Aufsatzes auch ein universitäres Curriculum (vgl. Hennis 1965: 438ff.) – blieb weitgehend unerfüllt. Noch unlängst beklagte Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker in dieser Hinsicht ein Desiderat: Es gebe keine universitären Institute für die Lehre und Erforschung des Regierens.8 Einen Rekurs auf die Vertreter der »modernen« Regierungslehre der 1960er Jahre hat die deutsche Politikwissenschaft erst knapp 25 Jahre später vollzogen, als Regieren erneut zum Interessenschwerpunkt der Forschung wurde. Die seit Beginn der 1990er Jahre praktizierte Regierungsforschung hat in diesem Sinne bereits wesentliche Fortschritte bei der Lückenschließung zwischen normativ-theoretischem Anspruch und Empirie bzw. Praxisorientierung erzielt, auch wenn sich darüber eine explizite Theorie des Regierens (noch) nicht herausgebildet hat (vgl. Korte 2001: 515; Nehls 2002: 41). Die Aufgabe der Regierungsforschung soll im Rahmen dieses Buches verstanden werden als umfassende Beschreibung und Analyse gouvernementaler politics-Prozesse. Der Ansatz betont die Perspektiven, Ziele, Intentionen und leitend-steuernden Handlungen der Regierungsspitze unter angemessener Berücksichtigung der zahlreichen weiteren Akteure und Einflussvariablen des politischen Systems.9 Dabei gilt es einen gewichtigen Vorbehalt zu berücksichtigen: Eine Forschungsperspektive, die sich einer »prioritäre[n] Betrachtung der Regierung« verschreibt und die »zunehmende Exekutivlastigkeit des politischen Prozesses nachzuweisen« trachtet (Korte & Fröhlich 2004: 12), gerät u.U. in ein Dilemma. Sie läuft Gefahr, der Exekutive bereits ex ante erhebliche Macht- bzw. Steuerungskompetenzen einzuräumen – und damit einen möglichen Teil des Ergebnisses der eigentlichen Forschung als gegeben vorwegzunehmen (vgl. Nehls 2002: 12f.).10 Wie weit der bestimmende Einfluss der Regierungsspitze bei der Gestaltung staatlicher Politik geht, wird zudem in jedem Politikfeld und personeller Konstellation unterschiedlich sein. Daher ist die ergänzende Perspektive der Politikfeldforschung, die in ihrer Ausrichtung hinreichend offen dafür ist, ggf. auch dazu konträre Ergebnisse hervorzubringen bzw. die Komplexitäten eines von der Regierung gesteuerten Reformprozesses »realistisch« zu erfassen, von besonderer Bedeutung. Die Policy-Perspektive als Zugang verfügt 8 Es scheint, als habe der innovative Hennis des Jahres 1965 dem Weizsäcker des Jahres 2004 souffliert, als dieser in einer großen Wochenzeitung schrieb: »In der politischen Wissenschaft haben wir schöne und bedeutende Spezialinstitute, zum Beispiel für den Fernen Osten oder den Orient, für Frankreich oder Amerika. Aber für das Kernstück der Politik, die Lehre und Praxis vom Regieren im modernen Staat, warten wir noch immer auf die notwendigen Angebote unserer großen Universitäten« (Die Zeit Nr. 10 vom 27. Februar 2003: 11). Mittlerweise scheint diese Kritik entkräftet: In den letzten Jahren wurde mehrere Institute gegründet, die Verwaltungs- und Politikwissenschaft in der geforderten Weise praxisorientiert zu vereinen scheinen – so etwa in Berlin (Humboldt Viadrina School of Governance, Hertie School of Governance), Duisburg-Essen (NRW School of Governance), Erfurt (Willy Brandt School of Public Policy) und Potsdam (Graduate School of Modern Governance). 9 Ansatz soll hier – Nohlen und Schultze (1994) folgend – als spezifische, regelorientierte Herangehensweise an den Forschungsgegenstand verstanden werden, die verschiedene Elemente der vertikalen Anordnung von Theorie, Methode und Forschungstechnik kombiniert. 10 Freilich gründete genau umgekehrt die Kritik derjenigen Renegaten innerhalb der deutschen Politikwissenschaft, die eine stärker exekutivzentrierte Regierungslehre einforderten, gerade auf dem Vorwurf, die Mitbestimmungsund Verhandlungsprozesse des politischen Prozesses würden in der »Demokratiewissenschaft« Politologie überbetont (vgl. Hennis 1965: 427).
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über zwei herausragende Eigenschaften: Zum einen »denkt« sie politische Prozesse vom Politikfeld her bzw. gewinnt zentrale Erkenntnisse aus der Betrachtung des Zustandekommens oder Wandels einzelner Policies. Zum anderen liegt ein Fokus auf dem Einfluss von semi- und nichtstaatlichen Akteuren in politischen Entscheidungsprozessen innerhalb eines als relativ stabil konzeptualisierten Prozessablaufes (dem Politikzyklus) bzw. auf den multipolaren, themenbezogenen Netzwerken ihrer Genese (den Policy-Netzen; vgl. grundlegend Schubert 1991: 69). In diesem Sinne erlauben es Policy-Fallstudien, den Verlauf politischer Entscheidungen zu rekonstruieren und an Hand des empirischen Materials Hypothesen oder Theorien über die Funktionsweise des politischen Systems zu überprüfen. Stehen dabei neue Prozesse, Akteure oder Institutionen im Zentrum der Betrachtungen, kommt ihnen zusätzlich eine hypothesengenerierende Funktion zu (vgl. Bandemer & Cordes 1989: 297). Die Policy-Orientierung der Studie impliziert also eine »empiristische« Herangehensweise an Regierungs- und Politikprozesse. Die im Verlauf der Zuwanderungsgesetzgebung 2001-2004 geradezu offensichtlich zu Tage getretenen Erscheinungen der Wettbewerbsund Verhandlungsdemokratie schärfen den Blick für die Funktionslogiken des politischen Systems: das Zusammenspiel der politisch-administrativen Strukturen und der Einfluss institutioneller Veto-Spieler oder neokorporatistischer Interessenvertreter bei der politischen Willensbildung vor der Grundmelodie des parteipolitischen Widerstreits. Zentrale Prämissen der Regierungsforschung, die auf die moderne Regierungslehre zurückgehen, bilden hingegen eine Art »epistemologischen Überbau«: die stetige analytische Reflexion von Tun und Lassen der Regierungsspitze, d.h. ihrer Ziele und Intentionen vor dem Hintergrund des Machterhalts, der Orientierung an gemeinwohlpolitischer Verantwortung und wahltaktischer Responsivität, demokratischer Legitimitätserfordernisse sowie ihres Policy-Programms. Zur Regierungsforschung gehört demnach auch der Policymaking-Aspekt. Hier schließt sich der Kreis zur Politikfeldanalyse, die politisches Handeln, Entscheidungsprozesse und Interessenauseinandersetzungen stets im Hinblick auf die Herstellung einer bestimmten Politik in einem Feld beleuchtet. Die differenzierte Perspektive der Regierungsforschung scheint damit im Übrigen in ihrer Handlungsorientierung und ihren Gegenständen durchaus konform zu gehen mit der elegant-holistischen Definition Thomas Dyes zur Politikfeldforschung: Policy analysis »is concerned with what governments do, why they do it, and what difference it makes.« (Dye 1978: 3) Durch die Akzentuierung des Regierens werden einer sektoralen Policy-Untersuchung gewisse Leitlinien vorgegeben, die deren Ablösung von den »traditionellen« Fragestellungen der Disziplin – Macht, Legitimität, Institutionen unter Verankerung normativer Leitbilder – entgegen wirken können. Denn die Politikwissenschaft steht diesbezüglich vor hohen Anforderungen: Wenn sie ihre Identität nicht verlieren will, darf sie nicht nur beschreiben und erklären wollen, was ohnehin geschieht, sondern sie muß […] auch beurteilen können, ob und wie das Geschehende auf eine Verbesserung oder Verschlechterung der Verhältnisse hinausläuft – und sie muß im Prinzip auch sagen wollen, ob und in welcher Richtung Verbesserungen zu finden wären, die nicht im Widerspruch zu unserer empirischen Kenntnis der Funktionsweise politischer Systeme stehen. (Scharpf 1991: 623f.)
Zu analytischen Zwecken wird im Folgenden auf die aus dem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch adaptierte Trias zum Politik-Begriff zurückgegriffen (vgl. statt vieler Rohe 1994: 61ff.; Schubert 1991: 26f., 54). Demnach bezieht sich Policy auf die inhaltlichen Dimensionen von Politik, ihre »materiellen« Programme. Politics bezeichnet die prozessualen Aspekte des Politischen, also die Willensbildungsprozesse und meist konflikthaften Akte des Entscheidens und »Politikmachens« im Wettbewerb um Macht und Einfluss. Der
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Begriff Polity hingegen zielt auf strukturelle Handlungsrahmen der Politik, etwa die verfassungsmäßige Ordnung. Diese didaktisch sinnvolle Dreiteilung gilt jedoch für die empirischpraktische Politikforschung als nicht zielführend (vgl. Schmid, G. 1985: 181f.). Vielmehr werden die Schnittmengen von Policy, Politics und Polity betont, die es »im Sinne einer systematischen, nachprüfbaren, empirischen und theoretischen Bezügen gegenüber sensiblen, integrierenden Analyse« zu untersuchen gelte: »Politikwissenschaft heißt die Parole« (Schmidt 1985: 141f.; Herv.d.Verf.; vgl. Windhoff-Héritier 1985: 196f.) Diese Sichtweise findet auch auf dieses Buch Anwendung, wenngleich die PolityEbene selten explizit gemacht wird, sondern eher unterschwellig im fortgesetzten Bezug zum grundgesetzlichen Rahmen und den das Regierungshandeln kanalisierenden Geschäftsordnungen deutlich wird. Im weitesten Sinne handelt es sich somit um eine gouvernemental ausgerichtete »politics of migration policy«-Analyse.
Government versus Governance? Im Hinblick auf das bisher Gesagte erscheint der schillernde, seit Anfang der 1990er Jahre gebräuchliche Begriff Governance geradewegs dafür zugeschnitten, als Referenzpunkt zur Analyse moderner Regierungsprozesse zu dienen. Denn Governance hat – darin ähneln sich die meisten Konzeptualisierungen – mit dem Zusammenspiel von gesellschaftlichen bzw. privaten Akteuren auf der einen Seite und staatlichen Akteuren auf der anderen Seite zu tun, wobei weniger eindirektionale Entscheidungen als vielmehr horizontale Kooperationen zu beobachten sind. Außerdem hat sich Governance in der politikwissenschaftlichen Debatte gerade auch in Abgrenzung zu »Government« entwickelt (vgl. Blumenthal 2005: 1151), konstituiert also ein Spannungsverhältnis gegenüber der »Regieren«-Perspektive. Daher kommt eine Studie über modernes Regieren nicht um eine Auseinandersetzung mit dem beliebten Anglizismus herum. Governance-Perspektiven betonen die veränderte Rolle staatlichen Handelns, richten den Fokus auf Interdependenzen zwischen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Akteuren und betrachten dabei breiter angelegte und teilweise enthierarchisierte Prozesse der Kommunikation und Verhandlung (vgl. Ruhl, Schneider, Träger u.a. 2006: 17). Governance kennzeichnet einerseits analytische Forschungsperspektiven, aus der Veränderungen staatlichen, zwischenstaatlichen bzw. staatlich-gesellschaftlichen Handelns beschrieben und analysiert werden, andererseits normative Ansätze, in denen vorgegeben wird, wie politische Prozesse zwischen Staat und Gesellschaft gestaltet werden sollten. Die Governance-Debatte der letzten Jahre bietet einerseits Anschauungsmaterial für die Vielschichtigkeit und Progressivität politikwissenschaftlicher Terminologie. Andererseits stellt sie auch ein Beispiel für die inflationäre Nutzung bzw. Bedeutungs»Zerfaserung« eines Modebegriffes dar (vgl. Benz 2004a; Jann 2005: 21f.). Die Governance-Literatur ist praktisch nicht mehr zu überblicken.11 Auch eine eindeutige Begriffsdefinition zu geben erscheint unmöglich, wird Governance doch inzwischen in den unterschiedlichsten Kontexten und für die verschiedensten »politisch-geografischen« Ebenen genutzt: die globale, die europäische, die nationalstaatliche und die regionale (vgl. Pierre & Peters 2000: 75ff.). Zudem bleibt Governance nicht auf die politologische Disziplin beschränkt, sondern fungiert als interdisziplinärer Brückenbegriff (vgl. Keersbergen & Waarden 2004; 11
vgl. Übersichten in folgenden Bänden: Bang (2003); Benz (2004, 2007); Blumenthal (2005); Schuppert (2005).
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Schuppert 2005: 371ff.). Durch die Breite seiner Anlage und die Vielzahl der Anliegen, die es impliziert, tendiert Governance also dazu, ein catch-all-Begriff zu sein, der letztlich wenig Konkretes beinhaltet. Je nach Auslegung werden sogar durchaus gegenläufige oder gar widersprüchliche Elemente als Ausdruck von Governance interpretiert (vgl. Ruhl, Schneider, Träger u.a. 2006: 16). Rod Rhodes, der den Wandel des britischen Regierungssystems hin zu Politikentwicklung in Netzwerken früh als »governing without government« analysiert hat (Rhodes 1996), stellt daher sogar die generelle Brauchbarkeit des Governance-Begriffs infrage: »It has too many meanings to be useful.« (Rhodes 1997: 15) Ob und inwieweit es auf der Ebene von Zentralregierungen tatsächlich »Meta-Governance« gibt und wer dabei die entscheidenden Akteure sind, gilt als weitgehend offene Forschungsfrage (vgl. Jann 2005: 39f.). Im nationalen Bezugsrahmen wird heute meist dort von Governance gesprochen, wo früher von Regieren und Verwalten (public administration) die Rede war. Es geht um »non-traditional mixtures of the public and the private sector« (Kooiman 1993: 1). Arthur Benz bezeichnet das Governance-Konzept besonders für enthierarchisierte Prozesse der kooperativen Verwaltung als geeignet (vgl. Benz 2003). Hier kommt Governance das Paradigma des Neuen Steuerungsmodells (vgl. Naschold & Bogumil 1998; Jann, Röber & Wollmann 2006) am nächsten, wobei die Praxis dieser Erneuerungsbewegung öffentlicher Verwaltung bisher meist auf kommunale Gebietskörperschaften beschränkt geblieben ist (Grande & Eberlein 1997: 9). Ist nun an die Stelle von Regieren verstanden als Government im Nationalstaat inzwischen Governance getreten? Handelt es sich um einander entgegengesetzte Begriffe (vgl. Benz 2004a: 17f.)? Diese Frage muss im Hinblick auf die politische Führung auf Bundesebene sowie das dort initiierte Policymaking in mehrfacher Hinsicht relativiert oder zumindest differenziert erörtert werden. Denn das Verhältnis von Regieren als Government und Regieren als Governance gilt weiterhin als ungeklärt (vgl. Bröchler & Blumenthal 2006: 16ff.) Politikfeldorientierte Publikationen, die sich der Governance-Terminologie bedienen, legen keine ersichtliche Konzeptualisierung vor, nach der Governance einen grundlegenden Perspektivwechsel induziert (vgl. z.B. Green & Paterson 2005). Im Hinblick auf das Regieren innerhalb dieser Studie scheinen nationalstaatliche Ansätze von Governance daher ungenügend konzeptualisiert, um sie für eine qualitative Falluntersuchung operationalisierbar zu machen. Die Erzeugung verbindlicher Entscheidungen vermittels verfassungsrechtlicher Institutionen bleibt dominant, gerade im Hinblick auf die Gesetzgebung. Der Begriff des Regierens im Sinne von Government wird durch die geschilderten Veränderungen also keineswegs obsolet. Verstünde man Regieren als rein hierarchiebasiertes, nationalstaatsbezogenes Herbeiführen kollektiv verbindlicher Entscheidungen innerhalb eines ganz bestimmten »Systemtypus’«, so würde ihm in der Tat ein anachronistischer Beigeschmack anhaften; zu wenig scheint er auf die Verhältnisse der »entstaatlichten« – europäisierten, globalisierten – Politik anwendbar (vgl. Ellwein 1992; Kohler-Koch 1993). Bei differenzierter Betrachtung und unter Bemühung um genauere Begriffsklärung kann man indes seine Daseinsberechtigung nicht leugnen: Der »regierte« bzw. »regierende« Nationalstaat bleibt die primäre Bezugsgröße im internen, kollektiven politischen Verständnis und den damit verbundenen Einstellungen der meisten westlichen Gemeinwesen (vgl. Krouwel 2004). Jenseits von sich selbst organisierenden Netzwerken bedarf es außerdem auch in Governance-Prozessen koordinierender Führungsqualitäten und gezielter Steuerungstätigkeiten politischer Repräsentanten. Zu deren Analyse bietet sich weiterhin eine staatsbezogene Perspektive an (vgl. Pierre & Peters 2000). Das bedeutet: Government und
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Governance stehen nicht notwendigerweise im Gegensatz (vgl. Kooiman 2003). Allerdings würde das »Regieren in Governance-Prozessen« gegenüber dem herkömmlichen hierarchiebasierten Verständnis weniger die Aspekte Macht und Herrschaft, als vielmehr Funktionen wie Organisieren, Steuern und Moderation und demokratische Partizipation betonen. Klaus König hat diese Funktionendiversität griffig eingefasst: »Regieren als politisches Management und als öffentliche Governance« (König, K. 2002: 3). Während höchst disparate Verständnisse und Theorieansätze von Governance vorliegen, bietet sich Regieren als »engeres« Konzept an – orientiert am gestaltenden (oder auch defensiven) Handeln einer herausgehobenen Instanz, an ihren Aufgaben und Absichten, an den gewählten Techniken und Strategien des Führens und Koordinierens, aber auch an dem zugrunde liegenden Denken in Kategorien von Macht und Einfluss. Das Desiderat einer solchen Perspektive auf den Staat und seine politischen Prozesse ist den GovernanceAnsätzen gegenüber explizit festgestellt und deren Selektivität kritisch angemerkt worden (vgl. Mayntz 2004: 74f.). Im Hinblick auf den Ansatz der Regierungsforschung kann sich die vorliegende Studie somit in weitgehender Übereinstimmung mit der von Ludger Helms erläuterten »aufgeklärten ›government‹-Perspektive« verorten (Helms 2005a: 48): Sie widmet der Ebene politischer Entscheidungsprozesse und dem Handeln der Inhaber politischer Führungsämter besondere Aufmerksamkeit – freilich jeweils in ihrem Zusammenspiel bzw. Widerstreit mit anderen institutionellen Akteuren – und misst in normativer wie empirischer Hinsicht den durch Regierung und Parlament erarbeiteten Rechtsakten die wichtigste politische Steuerungswirkung zu. Regierungsorganisation und politische Führung werden dabei als essenzielle Bestandteile des politischen Prozesses angesehen – ein Prozess, der deswegen nicht minder an Kriterien demokratischer Input- wie OutputLegitimität ausgerichtet bzw. mit ihnen gemessen werden kann.
Forschungsdesign und Methoden Die oben angesprochene »politics of migration policy«-Analyse wird in Form einer extensiven, qualitativ-explorativen Einzelfallstudie vorgenommen, die um eine diachrone Forschungsperspektive ergänzt wird. Darin wird eine »historisch-institutionelle Aufarbeitung« von Politikberatungs- und Entscheidungsfindungsprozessen in der deutschen Migrationspolitik vorgenommen, die als Reflexionsfläche für die Politics-Aspekte des empirischen Fallbeispiels der Zuwanderungskommission dient. Das kardinale Problem der Regierungslehre bestand ursprünglich darin, überhaupt einen Zugang für empirische Beobachtung und Analyse zu erhalten. Für Hennis war »nichts […] undurchsichtiger als die Realität des modernen Regierens« (Hennis 1965: 428). Die Materie galt als »für den Gelehrten kaum zugänglich, weil dieser im allgemeinen die Regierung nur von außen betrachtet, aber keinen Zugang zu dem inneren Gefüge derselben hat« (Guilleaume 1965: 194). Für die Untersuchung solcher Politikprozesse, zu denen auch die Politikberatung mit Regierungskommissionen gezählt werden muss, hat sich die Integration unterschiedlicher Forschungsmethoden als zweckdienlich erwiesen. Regierungsforschung muss dabei vor allem auch fragen: Was passiert vor dem mehr oder weniger transparenten Arbeitsprozess der Kommission, an den sich in der Regel das im Grundgesetz niedergelegte Verfahren der Gesetzgebung anschließt. Denn hier ist ein wichtiger Teil des eigentlichen Regierens zu verorten. Ist die Kommission erst einmal eingesetzt, verbleiben nur geringe
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Steuerungsmöglichkeiten. In seinem Standardwerk Regieren und Verwalten legte Thomas Ellwein freimütig der Regierungsforschung einen wissenschaftstheoretischen und methodologischen Eklektizismus nahe. Sein Buch bediene sich »der historischen Analyse, bezieht sich auf empirisches Material, reflektiert geltende Normen, orientiert sich selbst an – ausdrücklich vorgestellten – Normen und muß auf den gegebenen Methodenpluralismus zurückgreifen, weil der Gegenstand es verlangt.« (Ellwein 1976: 12) Jenseits der Berücksichtigung der Forschungsliteratur greift die vorliegende Untersuchung methodisch auf Dokumenten- und Printmedienauswertungen zurück. Die vorrangige Methode der Datenerhebung besteht jedoch in Interviews. Im Zuge der Neuausrichtung der Regierungsforschung Anfang der 1990er Jahre regte Hans-Hermann Hartwich an, diese müsse »nicht nur empirisch sein, sondern auch zum kritisch-loyalen Dialog mit den Regierenden gelangen« (Hartwich 1990: 20). Auch in anderen Teilbereichen der Politikwissenschaft erfolgt seit einigen Jahren verstärkt die Einbeziehung der unmittelbaren Sichtweise politischer Akteure in den Forschungsprozess – der Siegeszug des Experteninterviews in der qualitativ ausgerichteten politologischen Methodologie ist sicherlich deren deutlichster Ausdruck. Für den Hauptteil des Buches wurden 26 leitfadenorientierte Experteninterviews geführt, die anschließend einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen wurden. Da der empirische Teil dieser Studie einem Ansatz qualitativ-explorativer Regierungsforschung zuzuordnen ist und eine in diesem Sinne offene methodische Herangehensweise an den Forschungsgegenstand induziert, wird auf die Ausformulierung von zu überprüfenden Hypothesen im Sinne des positivistischen Forschungsparadigmas verzichtet. Vielmehr besteht das Ziel der Empirie darin, interrogativ vorzugehen, exemplarisch darzustellen sowie hypothesen- und theoriegenerierend zu wirken – Prozesswissen, Rekonstruktionen und Interpretationen aus den erhobenen Daten zu verdichten und im Hinblick auf die Leitfragen zu interpretieren. Dabei wurde jedoch nicht nach der Methode der Grounded Theory gearbeitet, vielmehr wurden der empirisch-qualitativen Forschung implizit einige Ausgangsüberlegungen bzw. -prämissen zugrunde gelegt, die sich insbesondere aus der oben nachgezeichneten Debatte um die demokratische Legitimität und den »Nutzen« von Kommissionen speisen.
Forschung zum Untersuchungsgegenstand Sowohl die deutsche Migrationspolitik, als auch Regierungskommissionen innerhalb des politischen Systems sind bereits Gegenstand der politikwissenschaftlichen Forschung geworden. Auf die umfangreiche Literatur zur deutschen Ausländer- und Zuwanderungspolitik wird in Kap. 2.1 gesondert eingegangen. Während infolge der eingangs skizzierten Debatten zum Regierungsstil von Bundeskanzler Schröder verschiedentlich auf den politologischen Forschungsbedarf zum Bereich politikberatender Kommissionen hingewiesen wurde (vgl. z.B. Schneider 2004: 205f.; Siefken 2003: 503f.), gilt die rechts- und verfassungspolitische Debatte mittlerweile als erschöpfend geführt (vgl. Boos 2006: 66). Eine systematisch-komparative Untersuchung der als »Expertenkommissionen« zu bezeichnenden Gremien unter der rot-grünen Koalition hat Sven Siefken (2007) in seiner Dissertation vorgelegt, deren Ergebnisse an verschiedener Stelle berücksichtigt werden. Daneben existieren einige Fallstudien zu einzelnen Regierungskommissionen (z.B. zur sog. Hartz-Kommission und zur sog. Rürup-Kommission), die insbesondere in den Schlussteil des Buches einflie-
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ßen. Darunter befinden sich auch drei Untersuchungen, die u.a. die Unabhängige Kommission »Zuwanderung«, thematisieren und sich mit der Funktionsweise des Gremiums und den Auswirkungen auf den Politikprozess bzw. auf Policy-Wandel beschäftigen. Stephanie Heisele (2002) wählt die Süssmuth-Kommission als Beispiel zur Untersuchung der vermuteten Entmachtung des Bundestages durch außerparlamentarische Gremien und kommt dabei zu dem vorläufigen Ergebnis, eine solche Entparlamentarisierung sei nicht festzustellen. Eine ähnliche Fragestellung verfolgt mit stärkerer Betonung des parlamentarischen Prozesses Dominik Müller-Russell (2002), der die Zuwanderungskommission als Beispiel einer »vorparlamentarischen Konsensrunde« mit den sog. Atomkonsensgesprächen kontrastiert und in ihr ebenfalls keine Auszehrung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages erkennt. Tanja Zinterer (2004) fragt nach der Kapazität politikberatender Kommissionen hinsichtlich der Beförderung eines Policy-Paradigmenwandels und vergleicht die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« mit der kanadischen Royal Commission on Aboriginal Peoples. Sie zeichnet die Arbeits- und Entscheidungsprozesse der Kommission nach und gelangt hinsichtlich ihrer Fragestellung zu dem Ergebnis, die Süssmuth-Kommission habe keinen nachhaltigen Paradigmenwandel in der Zuwanderungspolitik befördern können. Dies sei zwar auch auf situative Faktoren wie die Terroranschläge in den USA und eine damit verbundene Verschlechterung des Klimas gegenüber Zuwanderung, vor allem aber auf strukturelle Bedingungen eines nicht angemessenen engineering politikberatender Kommissionen in Deutschland sowie auf das Unvermögen der Kommission, einen sachorientierten Policy-Diskurs aufrechtzuerhalten und zu steuern, zurückzuführen. Die vorliegende Studie erweitert die Erkenntnisse zur Funktionsweise der Kommission, indem sie ihre Arbeitsmodi und Kommunikationsstrukturen tiefer durchdringt und diese in analytisch-funktionalen Kategorien erfasst. Andererseits gilt besonderes Augenmerk dem tatsächlichen Wandel im Politikfeld, der von den bisherigen Arbeiten aufgrund der Beobachtungszeiträume nicht einbezogen wurde, sowie der Einordnung der Kommission in das migrationspolitische Beratungsregime. Weitere Arbeiten, auf die an entsprechender Stelle Bezug genommen wird, haben sich mit Aspekten der neueren deutschen Migrationspolitik nach 1998 befasst. Dazu zählen u.a. die Monografien von Fertig (2002; aus sozio-ökonomischer Perspektive), Green (2004; zeitgeschichtliche Darstellung), Krause (2004; Policy-Analyse), Mukazhanov (2004; mit demoskopischem Schwerpunkt), Hell (2005; parteipolitisch orientierte Diskursanalyse) sowie Schicha (2007; medienpolitische Analyse).
Aufbau des Buches Die Studie gliedert sich in vier Hauptkapitel. Zunächst erfolgt in Kapitel 1.1 ein Überblick darüber, was demokratisches Regieren bedeutet und ausmacht, welchen Restriktionen und Einflüssen es unterliegt und wie es sich dabei wandelt. Kapitel 1.2 enthält eine Auseinandersetzung mit dem Politikberatungsbegriff und verortet den abstrakten Forschungsgegenstand gubernative Kommission als Teil des je Politikfeld spezifischen Policy-Beratungsregimes. Kapitel 2 verfolgt zwei Ziele: Zum einen wird das Politikfeld Migration bezüglich seiner zentralen zeitgeschichtlichen und rechtsmateriellen Wegmarken dargestellt (Migrationspolitik als Policy). Parallel dazu werden die praktizierten Willensbildungs-, Beratungs-
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und Entscheidungsprozesse aus der Perspektive von Regierung und Gesetzgeber eluzidiert (Migrationspolitik als Politics). Kapitel 2.1 bietet eine kompakte Einführung und endet mit fünf zentralen Fragenkomplexen zur deutschen Migrationspolitikberatung, die das gesamte historiografische Kapitel leiten. Kapitel 2.2 rekapituliert die Entwicklung in der Ausländer- bzw. Ausländerbeschäftigungspolitik seit ihrem Beginn in den 1950er Jahren bis 1990. Dabei wird das Handeln der Exekutiven bei der Politikformulierung und -entscheidung dargestellt und gleichsam nach Rolle und Einfluss von Bundestag, Sozialpartnern, Wissenschaft, gesellschaftlichen Gruppen und Migranten als von der Politik Betroffene gefragt. Kapitel 2.3 zeichnet analog die Politikprozesse im Bereich der Asyl- und Flüchtlingspolitik nach. Es endet mit einer Darstellung der migrationspolitischen Entscheidungen in den 1990er Jahren, als über Ausländer-, Aussiedler- und Flüchtlings- bzw. Asylpolitik erstmals im Sinne übergreifender Zuwanderungs- oder Migrationspolitik diskutiert und beraten wurde. Kapitel 2.4 beleuchtet die Vorgeschichte der neuen Zuwanderungsdebatte von 1998 bis zur Einsetzung der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« im Jahr 2000. Insbesondere wird danach gefragt, welche regierungsinternen und welche externen Faktoren auf den entstehenden Zuwanderungsdiskurs begünstigend wirkten. Schließlich werden in Kapitel 2.5 die gewonnenen Erkenntnisse der Policy- und Politics-Analyse unter Beantwortung der eingangs formulierten fünf Fragenkomplexe zusammengefasst. Die Falluntersuchung in Kapitel 3 bildet den Hauptteil der Studie. Dabei wird die Form einer chronologisch-deskriptiven Erzählung gewählt, innerhalb derer unter stetigem Rückbezug auf die in Kapitel 1 dargelegten Rahmenbedingungen systematisch Einzelaspekte des Regierens und der Policy-Beratung analysiert werden. Der empirischen Untersuchung vorangestellt findet sich in Kapitel 3.1 eine Diskussion der Methodik und der wissenschaftstheoretischen bzw. forschungspraktischen Grundlagen. Der Regierungsprozess zur Zuwanderungskommission steht im Zentrum von Kapitel 3.2. Es klärt die vielfältigen Kausal- und Funktionszusammenhänge sowie exekutive Akteurskonstellationen innerhalb des Regierungssystems, die dem eigentlichen Arbeitsbeginn der Kommission vorausgehen. Kapitel 3.3 fokussiert auf den Kommissionsprozess, also die eigentliche Arbeit des Gremiums. In Kapitel 3.4 werden die kurz- und mittelfristigen Auswirkungen der Kommissionsarbeit sowie die mittel- und langfristigen Entwicklungen im Politikfeld – der Post-Kommissionsprozess – untersucht sowie eine rechtspolitische Implementationsanalyse vorgenommen. Das abschließende Kapitel 4 reflektiert die Erkenntnisse aus der empirischen Studie und bündelt ihre Resultate zweifach: In Kapitel 4.1 werden die zentralen Befunde zum Einfluss und zu den Auswirkungen der Süssmuth-Kommission im Hinblick auf die deutsche Migrationspolitik und das migrationspolitische Beratungsregime in sechs Punkten zusammengefasst. Kapitel 4.2 enthält zehn allgemeine Ergebnisthesen zum Regieren mit Kommissionen und den Auswirkungen auf das Policymaking im parlamentarischen Regierungssystem. Kapitel 4.3 gibt einen Ausblick auf mögliche Fragestellungen für die weitere politikwissenschaftliche Forschung; Kapitel 4.4 beschließt die Untersuchung mit einem allgemeinen Fazit.
1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Bei der Regierung wie bei der Tugend ist es die größte aller Schwierigkeiten, Fortschritte zu machen. […] Wo immer die Berücksichtigung der Meinung des Volkes erstes Prinzip der Regierung ist, muß eine praktische Reform langsam und jede Reform voller Kompromisse sein. […] Wer immer eine Veränderung in einer modernen verfaßten Regierung erreichen will, muß zuerst seine Mitbürger dazu erziehen, überhaupt Veränderung zu wollen. Ist das getan, muß er sie davon überzeugen, genau die Veränderung zu wollen, die er will. (Woodrow Wilson, 1887)
1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik Dieses Kapitel entwickelt ein grundlegendes Verständnis des vielfach als ungenau wahrgenommenen Begriffs Regieren und konzeptualisiert eine sowohl normativ als auch analytisch konsistente Leitidee von demokratischem Regieren. Den Aufgaben und Funktionen des Regierens wird dabei explizit sowohl in deskriptiv-analytischer wie in normativdemokratiepolitischer Hinsicht Rechnung getragen. Akteursbezogen werden Gubernative bzw. Kernexekutive als Orte führungsorientierten Regierens lokalisiert und die verschiedenen Dimensionen der Verhandlungsdemokratie, die sowohl ermöglichend als auch hindernd auf das Regieren einwirken können, diskutiert. Schließlich wird auf zwei Kernaspekte des Regierens fokussiert: die Organisation von Konsens als Meta-Funktion sowie das informale Handeln als Technik des Regierens.
1.1.1 Demokratisches Regieren: Begriff und Inhalt Nach herkömmlichem Verständnis zerfällt Regierung in eine institutionelle und eine funktionelle Dimension (vgl. Badura 1987). Erstere bildet einen genuinen Bezugspunkt der Staatsrechtslehre und beschreibt die verfassungsmäßigen Institutionen und Organe des Regierungssystems, die Polity. Letztere erschließt sich hingegen durch die Betrachtung der Aufgaben der Regierung, die materiell-inhaltliche bzw. prozessuale Regierungstätigkeit im Sinne exekutiven Handelns, deren Rahmen zwar ebenfalls durch Recht – genauer: das Grundgesetz – abgesteckt und gebunden, jedoch kaum durch allgemeine Aufgabenklauseln konkret bestimmt ist (vgl. Schröder 2005: 1116f.).
1.1.1.1 Ethymologie und Begriffsverständnis Das substantivierte Verb Regieren geht unmittelbar auf das lateinische regere (richten, lenken) zurück, dessen abstraktere Bedeutungen als »führen« und »leiten« später hinzukamen.
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Gleichbedeutend mit regere wurde bereits im klassischen Latein das Verb gubernare gebraucht. Beide bezogen sich ursprünglich auf die Steuerung und Lenkung eines Schiffes und koexistierten – auch in ihrer abstrakten und metaphorischen Bedeutungszuschreibung – bis ins Mittelalter (vgl. Sellin 1984: 363). In der Bedeutungsvielfalt, die dem Regieren im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit zukam, resultierte das Verb in Wendungen aus der politischen Sphäre stets im Führen zu einem guten Ziel (vgl. Sellin 1984: 364), auch wenn im Vorgriff auf die repressiv-obrigkeitsstaatliche »Staatsräson« bisweilen bereits den policies (den Polizeien im verengten Sinne einer peinlich-gebotsmäßigen Regelung aller Lebensverhältnisse im Inneren) der Vorrang vor dem guten Regiment eingeräumt wurde (vgl. Beyme 1985: 8). Auch in der staats- und später sozialwissenschaftlichen Betrachtung wandelt sich die Verwendung des Begriffes Regieren sukzessive. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert blieb das funktionale Verständnis von Regierung weitgehend auf Verwaltungstätigkeiten beschränkt (vgl. Murswieck 1995: 533f.). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte in Teilen der deutschen Politikwissenschaft eine intensivere Auseinandersetzung mit den Inhalten und Funktionen des Regierens. Vertreter einer »modernen Regierungslehre« rekurrierten auf das ideengeschichtliche Verständnis und die Genese von Regieren als »Führen zu einem guten Ziel« und suchten damit einen normativ-handlungsorientierten Forschungsansatz zu statuieren (vgl. Einleitung). »Regieren, gubernare, heißt lenken, steuern, Richtung geben, […] nicht zuletzt zusammenordnen, die Fäden bündeln, koordinieren.« (Hennis 1965: 433, Herv.i.Orig.). Zum Regieren, dessen empirische Analyse vom Bezugssystem der zu erledigenden Aufgaben ausgehen solle, gehörten demnach insbesondere auch das Planen, Ingangsetzen, Entscheiden, die Konsensbeschaffung, das Anweisen und Beaufsichtigen, die Koordination sowie – übergeordnet – die politische Führung (vgl. Ellwein 1966: 128ff.; 1976: 173ff.).12 In der Entwicklung der vergleichenden Regierungslehre (comparative government) setzte sich jedoch weitgehend ein Begriffsverständnis von Regieren im Sinne des angloamerikanischen government durch: die Koordination, Leitung und Entscheidungsfindung innerhalb des gesamten politischen Systems unter Einbezug mehrerer Gewalten (vgl. Vollrath 1990; Murswieck 1995; Helms & Jun 2004; Wewer 1999). In der engeren Betrachtung der politischen Führungstätigkeit und konkreten Regierungsaufgaben hingegen blieb »der Begriff des Regierens selbst ziemlich amorph« und »unspezifiziert« (Derlien 1990: 77), ein »Schlüsselbegriff mit unscharfen Konturen« (Kohler-Koch 1993: 113), ein »schillerndes Konzept« (Prittwitz 1994: 176). Erst in jüngerer Zeit kanalisieren sich in einer Art Dualismus von »Regieren bzw. politischer Führung und Regierungsorganisation« sowohl klarere Forschungsperspektiven als auch konkretere Funktionsbeschreibungen des Regierens heraus (vgl. Helms 2005a; Kropp 2005; Schüttemeyer 2005).
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Der Begriff politische Führung ist nicht einheitlich definiert. Jenseits eines engen Verständnisses als Lenkungsoder Leitungsfunktion im regierungs- oder parteiinternen Bereich (political leadership) wird er hier im Sinne Ellweins (vgl. Ellwein 1970) auch als normativ begründete, übergeordnete »Staatsaufgabe« verstanden, die u.a. Orientierungs-, Organisations- und Vermittlungsfunktionen sowohl gegenüber der Verwaltung als auch nach außen impliziert (vgl. Hesse & Ellwein 2004: 394f. sowie Kap. 1.1.1.3; aktuell auch Holtmann & Patzelt 2008).
1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik
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1.1.1.2 Staatsrechtliche Aufgabenbestimmung Auch wenn Wilhelm Hennis (1965: 426) zugespitzt formuliert hat, dass Verfassungen »den Bereich der Regierung dem öffentlichen Auge eher entrückt als zugänglich gemacht« hätten, ist beim Versuch einer Konkretisierung der politikwissenschaftlichen Funktionsbeschreibungen von Regieren die staatsrechtliche Perspektive zumindest dahingehend hilfreich, als dass sie den im materiellen Recht manifestierten Bestand der Regierungsaufgaben verdeutlicht. So ergeben sich aus dem Grundgesetz und den Geschäftsordnungen die so genannten Intra- bzw. Interorganzuständigkeiten der Bundesregierung, insbesondere die Facetten ihrer Organisationsgewalt (vgl. Böckenförde 1964; zur historischen Entwicklung vgl. Eschenburg 1954: 198ff.). Die im Zusammenhang mit dieser Untersuchung wichtigsten Zuständigkeiten innerhalb der drei Funktionsaxiome Kanzlerprinzip, Ressortprinzip und Kabinettsprinzip sind: auf Seiten des Bundeskanzlers seine allgemeine Richtlinienkompetenz (Art. 65 GG i.V.m. §§ 1-4, 6 und 9 GO-BReg) und das Vorschlags- bzw. Entlassungsrecht für die Bundesminister (Art. 64, Abs. 1 GG),13 auf Seiten der Bundesminister deren Ressortverantwortlichkeit (Art. 65 GG i.V.m. §§ 3 und 5 GGO-BM) sowie für die gesamte Bundesregierung deren administrative Organisationshoheit bei der Einrichtung von Behörden (Art. 86 GG) sowie der Geschäftsordnungsauftrag, über alle politisch relevanten Fragen und Gesetzesvorlagen zu beraten bzw. Beschluss zu fassen (§ 15 GO-BReg).14 Zur ministeriellen Kompetenz gehört insbesondere die innere Organisation des Ressorts sowie die Bildung, Errichtung und Einrichtung eines entsprechenden organisatorischen Unterbaus – Beiräte, Ausschüsse und Kommissionen eingeschlossen (vgl. Böckenförde 1964: 147f., 249f.). Die Errichtung von Beiräten ist auch per Kabinettsbeschluss möglich, darf aber nicht gegen den Willen der Ressortleitung erfolgen, bei der das Gremium angesiedelt sein soll (vgl. ebd.: 255; Detterbeck 2005: 1198f.). Laut Geschäftsordnung der Bundesministerien haben alle ministeriellen Aufgaben der Erfüllung oder Unterstützung von Regierungsfunktionen zu dienen. »Dazu zählen insbesondere die strategische Gestaltung und Koordination von Politikfeldern, die Realisierung von politischen Zielen, Schwerpunkten und Programmen« (§ 3 Abs. 1 GGO-BM). Relevant ist ferner die Verpflichtung seitens der Ressortminister, den Bundeskanzler über solche Vorhaben zu unterrichten, die für die Bestimmung der Richtlinien der Politik und die Leitung der Regierungsgeschäfte von Bedeutung sind (§ 3 GOBReg). Die Einrichtung einer öffentlichkeitswirksamen Regierungskommission durch die Spitze eines Ressorts dürfte jedenfalls zu dieser Art Vorhaben gehören. Jenseits von Grundgesetz und Geschäftsordnungen endet die rein materiellrechtliche Inhaltsbestimmung der Regierungsfunktionen. Weitere Aspekte werden in der staatsrechtlichen Literatur als »Aufgaben ohne abschließende Regelung« nur gestreift: Die Anstoß- und 13
Dieses ist in der Wirklichkeit der »Koalitionsdemokratie« jedoch fundamental beschnitten, da im Regelfall von Regierungsbündnissen die beteiligten Parteien über die Besetzung der Ministerämter entscheiden (vgl. Czada 1999: 403; Schüttemeyer 1998: 72f.) – als wirksame Wahrnehmung parlamentarischer ex-ante-Kontrolle der Bundesregierung (vgl. Harfst & Schnapp 2004: 2). Der populären Vorstellung, der Kanzler bestimme weitgehend allein die Richtung, wird mit dem Hinweis begegnet, die Richtlinienkompetenz ließe sich weder empirisch belegen noch überzeugend argumentativ herleiten (vgl. Schuett-Wetschky 2003a, 2004a). 14 Die den Funktionserfüllungen der Regierung adäquaten Prinzipien sollen an dieser Stelle nicht vertieft werden. Vgl. als generelle Überblicke Peter Badura, Staatsrecht – Systematische Erläuterung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, 3., neubearbeitete Auflage 2003, E, Rn.’n 90ff.; Böckenförde (1964: 168ff.); Detterbeck (2005: 1165ff.); Hesse & Ellwein (2004: 285f.); Patzelt (2005: 247ff.) sowie Wildenmann (1963: 78-86).
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Initiativfunktion, Vorausschau und Planung, Information der Öffentlichkeit sowie eine Integrationsfunktion i.S. der Einheits- und Konsensstiftung innerhalb der staatlich organisierten Gemeinschaft, d.h. unter politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Kräften (vgl. Schröder 2005: 1127ff.). Das Grundgesetz lege nicht fest, vielmehr müsse sich Regierung, so schrieb der Staatsrechtslehrer Klaus Stern (1980: 697), im Rahmen ihrer Verfassungsbindung »durch eigenständige, selbstbestimmende Zielsetzung erst definieren«.
1.1.1.3 Regieren und Regierungslehre Dort, wo sich der Fokus von der verfassungsrechtlichen Polity-Dimension des Regierens auf die Beschreibung und Analyse seiner politischen Führungsfunktionen und Durchsetzungsstrategien verschiebt, liegt das Metier der politikwissenschaftlichen Regierungsforschung: Sie analysiert die konflikthafte Willensbildung und die macht- und einflussbezogenen Akte des Entscheidens sowohl innerhalb der Regierung als auch nach außen. Die Politics des Regierens handeln originär auch von dessen »ungeschriebenen«, »informellen« operativen Seiten und beziehen Aspekte der Strategie, des Machterhaltes und der parteipolitischen Steuerung notwendig ein.15 Für das Thema des Buches erscheint insbesondere diese Dimension von immenser Bedeutung, weshalb im Folgenden eine begriffliche und inhaltliche Konkretisierung erfolgt. Regieren bedeutet im allgemein-funktionalen Sinn zunächst »die Herbeiführung und die Durchsetzung gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen« (Korte & Fröhlich 2004: 15) – was einer prominenten Antwort auf die Frage »Was ist Politik?« sehr nahe kommt. Regierungshandeln im Engeren umfasst jegliches »Tun und Lassen der Regierung im parlamentarischen Regierungssystem« (ebd.: 15; vgl. auch Wewer 1999: 497). Für den Inhalt dieser Untersuchung erscheint es sinnvoll, den Begriff entlang der drei Fragen »Was?«, »Wie?« und »Wer?« (vgl. Kropp 2005) zu entfalten. Auf diese Weise wird deutlich, dass Regieren eine vielschichtige und komplexe Einheit bezeichnet, deren »Außengrenzen« nicht immer leicht zu verorten sind. Denn Regieren stellt gleichsam eine »besondere Kombinationsform von policy-, politics- und polity-Elementen mit beschreibenden und normativen Bedeutungskomponenten dar« (Prittwitz 1994: 177, Herv.i.Orig.). Bereits für Wilhelm Hennis war die Frage nach dem materiellen Gehalt von Regieren wichtig, als er von der Regierungslehre als einer Betriebswirtschaftslehre des modernen Staates sprach (vgl. Hennis 1965: 427) – freilich ohne dass er die Frage nach dem »Was?« als Policy-Orientierung beschrieb (vgl. Korte 2001b: 75). Den normativen Bezug seines Ansatzes verdeutlichte er durch die Einforderung von Regierungsleistungen zur Bewältigung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und Probleme, also eine Orientierung am öffentlichen Interesse. Die Erfüllung der Staatsaufgaben unter neuzeitlichen Herausforderungen und Leistungsansprüchen wertete Hennis als Kernaufgabe der Regierung; »nicht das Regierungssystem, sondern das Regieren [sei] zum zentralen Problem der Politischen Wissenschaft avanciert […] und die Analyse seiner Technik ihre vordringliche Aufgabe« (ebd.: 424, Herv.d.Verf.; ähnlich Guilleaume 1965: 178, 182f., 186f.). Sein Fokus lag also neben dem »Was?« auch auf dem »Wie?« des Regierens, wobei er davon ausging, dass der wachsende Bestand staatlicher Aufgaben und ihre Planung stets Ausgangspunkt zur Analyse 15 Mit Joachim Raschke werden unter Strategien »situationsübergreifende, erfolgsorientierte Ziel-Mittel-UmweltKalküle« verstanden, die sowohl Macht- wie Gestaltungsziele umfassen können (Raschke 2002: 210).
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dieser prozessualen Dimensionen des Regierens sein müsse (vgl. ebd.: 430ff.; ähnlich Ellwein 1966: 10ff.).
Funktionsbestimmungen nach Thomas Ellwein Eine umfassendere Konzeption legte Ellwein mit seinem Buch Regieren und Verwalten (1976) vor. Darin konkretisierte er sechs Aufgaben des Regierens, die sich um die zentralen Tätigkeiten des Planens und Entscheidens ranken: Information, Koordination, Planen und Entscheiden, Mittelbeschaffung, Organisation, Konsensbeschaffung. Während Mittelbeschaffung und Organisation eher in den Bereich der ministeriellen Verwaltung fallen, können die übrigen Aufgaben als echte Tätigkeiten politischer Führung charakterisiert werden: Information Um Entscheidungen richtig vorzubereiten, müssten die primär durch die Verwaltung bereitgestellten Informationen sinnvoll durch externe Impulse ergänzt, aber auch gemessen an den Zielvorstellungen ausgewählt und bewertet werden, ohne dass es dabei zu einer Überfütterung mit Informationen oder Zufälligkeiten bei deren Aufnahme komme. Diesen Prozess beschreibt er als planmäßige Kontrolle von Informationen (ebd.: 175ff.) – das Informationsmanagement. Koordination Die Koordinationsaufgabe entfaltet er dreifach: als Koordination der internen Organisation, als Koordination innerhalb des politischen Systems unter Berücksichtigung parteipolitischer und föderaler Konstellationen sowie als (policy-spezifische) Koordination zwischen den Aufgabenbereichen des politischen Systems und den betroffenen oder diese Aufgaben subsidiär wahrnehmenden sozietalen Bereichen (ebd.: 178ff.) Planen und Entscheiden »Regieren heißt entscheiden oder den Rahmen bestimmen, in dem sich Einzelfallentscheidungen zu bewegen haben. Politische Planung stellt einen solchen Rahmen her.« (ebd.: 190) Ellweins Überlegungen sind an dieser Stelle deutlich vom Zeitgeist und den Bestrebungen beeinflusst, die einzelnen Ressortplanungen in einem koordinierten Gesamtplanungssystem zu integrieren (vgl. dazu Metzler 2005: 362ff.), wobei er drei Planungsphasen unterscheidet (vgl. Ellwein 1976: 186ff.). Konsensbeschaffung »Der Regierung kommt mit der politischen Führung die Programmfestlegung (nicht: Entwicklung!) zu und die allein muß sich dafür den Konsens zunächst im Parlament, in der Hauptsache aber in Öffentlichkeit und Bevölkerung verschaffen.« (ebd.: 200) Ohne sie explitzit so zu nennen, zielt Ellwein hier auf die Optionen der Agendagestaltung. Die Regierung entscheide darüber, »wann sie ein Anliegen oder Interesse erst akzeptiert und dann aufgreift« (ebd.: 201). Als konfliktbehaftet beschreibt er Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, derer sie sich ständig bediene, die aber unvermeidlich seien: »Alle Erwartungen richten sich auf die Regierung als politische Führung.« (ebd.: 203)
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Desiderate der Regierungslehre Wie Ellweins standen sämtliche Ansätze zur Analyse des Regierens in den 1960er und 1970er Jahren unter dem Einfluss des Planungsoptimismus. Der strategisch-taktische Koordinierungsbedarf hingegen wurde über die pure Ziel- und Ablaufbeschreibung eher vernachlässigt. So widmet Ellwein in Regieren und Verwalten den machtorientierten Aspekten der Regierungskoordination innerhalb des politischen Systems gerade einmal zwei Seiten (vgl. Ellwein 1976: 181ff.). Auch die Notwendigkeiten des intragouvernementalen Führens und Koordinierens (Koalitionsregieren) sind zu dieser Zeit (noch) wenig evident. Wie, d.h. vermittels welcher Akte und Maßnahmen der Konsens innerhalb der Exekutive, in Parlament, Öffentlichkeit und Bevölkerung für die Regierungsspitze erreichbar ist, wurde nicht prioritär analysiert. Auch die Policy-Forschung in den 1970er und 1980er Jahren blieb für die Analyse des Regierens wenig ertragreich, da sie ganz überwiegend auf einzelne Politikfelder (und nicht auf Regieren als übergreifende Aufgabe) fokussierte.
Regieren als Steuerung Eher markierten die politischen Steuerungstheorien einen Bezugspunkt. Politische Steuerung ist gegenüber Regieren der abstraktere Begriff und wird jeweils in Bezug gesetzt zum Policymaking und dem Ziel der Problemlösung in bestimmten Regelungsfeldern. Zentral ist der sachlogisch-technizistische Aspekt politischen Problemlösungsverhaltens und die Erfolgsbedingungen politischen Handelns (vgl. Görlitz 2002: 459). Theoretisch wurde ursprünglich von der deutlichen Trennung zwischen einem (steuerungsfähigen) Steuerungssubjekt und einem (steuerbaren) Steuerungsobjekt ausgegangen. Effektives Steuern umfasst einer prominenten Definition zufolge die absichtsvolle und zielorientierte Fähigkeit zur »konzeptionell orientierten Gestaltung der gesellschaftlichen Umwelt durch politische Instanzen« (Mayntz 1997: 189). Fritz Scharpf hebt zusätzlich normativ die Gemeinwohlorientierung dieser Gestaltung hervor (vgl. Scharpf 1988: 63). Über die Jahre ist jedoch ein Nachlassen des Steuerungsoptimismus beobachtet worden (vgl. Braun 1995). Politische Steuerung wird nicht (mehr) in hierarchischen und direkten Akten der Einflussnahme konzeptualisiert, sondern eher als mittelbares Unterfangen, bei dem insbesondere die Reziprozität zwischen Steuerungssubjekt und -objekt (den »Steuernden« und den »Gesteuerten«) bedeutsam ist. Ein in diesem Sinne eindirektionales Verhältnis wird zugunsten einer Art »Steuerungskooperation« aufgelöst, bei der die Ziele der primären Steuerungsinstanz (hier: der Regierung) handlungs- bzw. prozessleitend sind. Übertragen auf die analytische Regierungsforschung bedeutet Regierungssteuerung demnach »das strategische Regierungshandeln im Sinne der Erreichung materieller Politikziele zur Problemlösung« (Korte & Fröhlich 2004: 15). Teilbereiche öffentlicher Politik werden seitens der Regierung mit dezidierten Instrumentarien »gemanaged«, die Effektivität des Regierungshandelns rangiert »zwischen Allmacht und Ohnmacht« (ebd.: 177). Die Steuerungskapazität ist vorrangig von zwei Faktoren bestimmt: von den politischen Rahmenbedingungen und vom Tun bzw. Lassen der Handelnden (vgl. Schmidt 2002: 29ff.).
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»Neue« Regierungsforschung Die systematische Berücksichtigung und Erforschung des »Wie« – der Kernfunktionen und Methoden, aber auch Instrumente, Taktiken und Strategien der Regierungssteuerung – innerhalb der Regierungsforschung nach 1989 (vgl. Einleitung sowie u.a. Bandemer & Wewer 1989; Hartwich & Wewer 1990, 1991, 1991a; Helms 2005a; König, K. 2002; Korte 2000, 2001, 2001a, 2003; Korte & Fröhlich 2004) behandelt nunmehr ein Desiderat, das die Regierungslehre der 1960er Jahre zwar erkannte, jedoch nur ansatzweise zu füllen im Stande war: Die prozessual-handlungsorientierte Dimension von Regieren, die aufgrund des Dualismus zwischen Handlung und Akteur nicht selten auch unter Berücksichtigung der »Wer«-Frage analysiert wird. Stärker als die planungsoptimistischen Ansätze berücksichtigt die »neue« Regierungsforschung die vielfältigen systemimmanenten Beschränkungen des Regierensprozesses. Ihre Beiträge sind überwiegend analytisch-deskriptiv und weniger theoretisch ausgerichtet. Der Ertrag dieser Literatur bildet die Grundlage eines Modells zu den Funktionsdeterminanten des Regierens, welches im folgenden Absatz entworfen und konzeptualisiert wird.16
1.1.1.4 Modell der Funktionsdeterminanten von Regieren Mit einer gewissen Trennschärfe lassen sich drei Dimensionen eines funktionalen Regierungsbegriffes differenzieren, die sämtlich um das abstrakte Ziel des Regierens – das Entscheiden und »Politik machen« (Policymaking) – kreisen und sich zum Teil aus der Organisations- und Verwaltungsforschung ableiten lassen. Sie decken sowohl die Binnenperspektive der Regierung, als auch die Außendarstellung bzw. Interaktion mit externen Akteuren ab (vgl. König, K. 2002: 182). In einem abstrakten Modell können diese drei Dimensionen in einer Art Zyklus aufeinander bezogen werden (vgl. Abb. 1).17 Die erste Dimension betrifft das konkrete Entscheidungshandeln auf vier verschiedenen, z.T. interdependenten Ebenen: Organisationsentscheidungen, Personalentscheidungen, Haushaltsentscheidungen sowie Policy-Entscheidungen. Auf diese materiell differenzierbaren Entscheidungsebenen lassen sich jeweils wiederum Prozesse in einer übergeordneten, zweiten Dimension des funktionalen Regierungsbegriffes beziehen. Diese Meta-Prozesse des Policymaking sind Steuerung, Kontrolle, Koordination, Konfliktregelung, Informationsbeschaffung und -verarbeitung sowie Außendarstellung, Legitimations- bzw. Konsensbeschaffung (Vermittlung) und Repräsentation (vgl. Derlien 1990: 83). Eine dritte Dimension umfasst die im Einzelfall zur Anwendung kommenden funktionalen Mittel und Instrumente des Regierens, die man als techniques in politics bezeichnen könnte. Sie bedeuten die handlungsorientierte Konkretisierung der Funktionen des Meta-Policymaking in spezifischen Konstellationen, führen also letztlich auf konkrete Entscheidungsgegenstände der Politik – die bereits genannte erste Ebene – zurück. Im Gegensatz zu den Funktionsund Prozessdeterminanten der ersten und zweiten Ebene, die systembedingt durchgehend 16 Weitere Bezüge finden sich passim in Kap. 1.1.2 und insb. Kap. 1.1.3. Die Modellierung im folgenden Abschnitt gründet u.a. auf Systematisierungen, die Hans-Ulrich Derlien (1990) in seiner Kritik an den bis dato zwar breiten, aber recht eklektizistischen Ansätzen vorgenommen hat, sowie den neueren Rubrizierungen strategisch ausgerichteter Handlungsbestimmungen des Regierens, wie sie vor allem von Karl Rudolf Korte stammen. 17 Es handelt sich dabei um ein durch den Verf. entwickeltes Modell, das auf Hans-Ulrich Derliens (1990: 84) Kategorienschema aufbaut.
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
bei allen Regierungen beobachtbar sein werden, können einzelne Mittel bzw. Instrumente des Regierens durchaus punktuell bzw. situationsbedingt gewählt auftreten und durch ihre wiederholte strategische oder faktische Anwendung zu strukturbildenden Regierungsstilen erklärt werden. Sie lassen sich größtenteils akteurzentriert verorten und haben neben der Steuerung auf bestimmte Politikziele in einer gewandelten Mediendemokratie nicht selten auch Außendarstellung und Öffentlichkeitsbezug als Grundlage von Machterhalt und Steuerungskompetenz im Blick, sind also Teil des »gouvernementalen Kommunikationsmanagements« (Kamps & Nieland 2006). Ad hoc einberufene Kommissionen, die auf Ideen und Intentionen der Regierenden zurückgehen, können also als solche funktionale Mittel und Instrumente interpretiert werden.
Voraussetzung
INSTITUTIONELLER RAHMEN
z.B. Konsensbeschaffung
Materielle Entscheidungen (Policymaking)
Übergeordnete Prozesse (Meta-Policymaking)
REGIEREN z.B. politische Steuerung
z.B. Netzwerkpflege
techniques in politics Ermöglichung
Abbildung 1:
Konkretisierung
Regieren – Funktionsdimensionen des gubernativen Policymaking
Politics des Regierens In der gegenwärtigen Regierungsforschung werden solche Instrumente vielfach in Bezug zu individuellen Handlungsstilen gesetzt. Ursprünglich war es Wilhelm Hennis gewesen, der die »ungeschriebenen« Aspekte des Kanzlerregierens in den Fokus genommen hatte (vgl. Hennis 1964). Zur Kunst politischer Führung zählte er das Überzeugen und Beeinflussen. Das eigentliche Geschäft des Politikers sei es, »andere Menschen zu einem bestimmten Tun zu veranlassen« (ebd.: 29). Gleichzeitig machte er auf die Darstellungskomponente dieser Kompetenz aufmerksam, die zu Ansehen führe – einer weiteren wichtigen Bedingung effektiver Richtlinienbestimmung. Ferner müsse ein Regierungschef das richtige Maß an
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Delegation finden. Grundvoraussetzungen des Regierens seien aber Kompetenz und Technik zur Informationsbeschaffung: »Aus Information und allein aus Information […] resultiert die vielleicht wichtigste Bedingung des erfolgreichen Regierens, das Bewußtsein für den richtigen Zeitpunkt.« (ebd.: 36; vgl. Hirscher & Korte 2003) Ausgehend von seiner historischen Untersuchung zum Regierungsstil Helmut Kohls in der Deutschlandpolitik (vgl. Korte 1998) hat Karl-Rudolf Korte insbesondere die beiden Kanzlerschaften Gerhard Schröders als Grundlage weiterer Analysen zu jenen Instrumenten des politischen Handelns gemacht, die weiter oben als regierungsseitige techniques in politics angesprochen worden sind. Anders als bei Hennis wird das gouvernementale Politikmanagement hier jeweils im Kontext aktueller Ereignisse oder Politikfelder betrachtet, was zwar zunächst die Möglichkeit zu Globalaussagen schmälert, dafür aber die Chance realistischer Analysen des Regierens deutlich erhöht. Ohne den Anspruch einer abgeschlossenen Systematik oder Theorie rubriziert Korte acht Varianten praktischen Regierungshandelns, die sämtlich um die Frage der Steuerungskompetenz des Bundeskanzlers bezüglich seiner politischen Ziele, die »Handlungskorridore des Regierens« kreisen (vgl. ursprünglich Korte 2000, 2001; erweitert Korte & Fröhlich 2004: 232ff.). Er bezeichnet sie als »Bestandteile einer modernen Regierungstechnik«, als Strategien für das »Interdependenzmanagement in der Publikumsgesellschaft« (Korte 2001: 530). Sie können auf allgemein machtpolitische oder auf spezifisch gestaltungspolitische Ziele – oder auf beide – gerichtet sein (vgl. im Folgenden Korte & Fröhlich 2004: 232-257): Gespielte Kohärenz sichert die Schlüssigkeit des Regierens durch Orientierung an kurzfristiger Pragmatik (»Multi-Options-Pragmatismus«); Machtzentralisierung betont das Bestreben der Bundeskanzler, Einfluss an verschiedener Stelle und innerhalb unterschiedlicher Institutionen zu sichern bzw. auszubauen; Stilles Regieren bezeichnet den Gewinn von Handlungsspielräumen durch Prozesse der Informalisierung (vgl. auch Kap. 1.1.3.2), d.h. Anreizsysteme sowie Moderationsund Verhandlungstechniken; Netzwerk-Pflege schließt häufig an informelle Prozesse an und meint Steuerung durch Integration von Interessengruppen und Koordinierung von Konsens unter gegenläufigen Interessen; Der Chefsachen-Mythos hat eine positive Resonanz in der Bevölkerung; er reklamiert Entscheidungskompetenz und Steuerungspotenziale, um Handlungsspielräume zu schaffen; Telepolitik bedeutet das vielseitige Regieren in der Publikums- und Mediengesellschaft (Darstellungspolitik), die ebenfalls der Rückgewinnung (symbolischer) Entscheidungskompetenz dient; Policy-Akzentuierung deutet auf den Versuch, bestimmte Politikfelder im Regierungshandeln prioritär zu behandeln, und zwar meist solche, die affin für personenzentriertes Agieren eines Kanzlers sind und in denen die Anzahl der Veto-Positionen überschaubar ist; Ideen-Management soll die Durchsetzungsfähigkeit von Programmen erleichtern, indem ein Kanzler als personifizierter Ideenträger auftritt und dadurch vorab Verhandlungsmargen festschreibt und Steuerung erleichtert.
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Wenngleich es sich dabei um die wichtigsten Charakteristika zeitgenössischen Regierens handeln dürfte, die sich zudem systemübergreifend beobachten lassen (vgl. Korte 2001a), ist diese Aufstellung nicht als fest gefügtes Analyse-Schema anwendbar.18 Veränderungen grundlegender politisch-gesellschaftlicher Konstellationen in handlungsorientierter wie institutioneller Hinsicht können die Herausbildung neuer Regierungstechniken provozieren.
Institutionelle Aspekte des Regierens Dies führt unmittelbar zu einem weiteren Aspekt der Funktionsdeterminanten des Regierens: Bei aller Betonung von Akteurshandeln und Stilbildung darf die institutionalistische Perspektive auf das Regieren nicht zu weit in den Hintergrund geraten. Um zur Modellierung in Abb. 1 zurückzukommen: Den unterschiedlichen Facetten des funktionalen Regierungsbegriffes innerhalb des Kategorienschemas kann jeweils mindestens eine konkrete institutionelle Rahmenkonfiguration zugeordnet werden (vgl. Derlien 1990: 84), da jegliches Akteurshandeln in die Organschaften der Bundesregierung oder aber in das erweiterte institutionelle Rahmenwerk des politischen Systems (die Polity) eingebunden und durch sie ermöglicht wird. Der Regieren-Begriff sei insofern, so Volker von Prittwitz, enger an den Regierungs-Begriff gekoppelt, als dies manche Autoren wahrhaben wollten. »Schließlich wird in einem wie auch immer gearteten institutionellen Rahmen regiert, der die Legitimation der Regierenden unabhängig von Meinungsschwankungen faktisch sichert, andererseits zumindest potentiell immer auch die Handlungsfreiheit der Regierenden beschränkt.« (Prittwitz 1994: 178; Herv.i.Orig.) Dabei ist zu beachten, dass zwar in vielen Bereichen festgelegte institutionelle Zuständigkeiten bestehen, einige Funktionen aber von vornherein als Querschnittsfunktionen angelegt sind bzw. andere trotz formal klarer Kompetenz de facto erhebliche Koordinationsprobleme bergen. Genau dieser Umstand kann dazu führen, dass ergänzende institutionelle Arrangements formeller oder informeller Art geschaffen werden – in der Hoffnung, Koordination und Steuerung (wieder) zu erleichtern. Eine solcherart entstandene Instanz ist dann gleichsam ein Mittel des Regierens im Sinne der o.g. dritten Funktionsdimension des Regierens, eine technique in politics.
1.1.1.5 Regieren und demokratische Legitimität Beschreibung und Analyse des Regierens kreisen um einen zentralen Bereich von Politik und können daher nicht ohne eine demokratietheoretische Verortung auskommen. Anders 18
Korte selbst hat die genannten Handlungskorridore schrittweise abgewandelt und ergänzt. Ursprünglich hatte er z.B. die Handlungstechnik der Policy-Akzentuierung ausschließlich auf den außenpolitischen Bereich bezogen und sie »Charme der Ressource Außenpolitik« genannt (Korte 2000: 33f., 2001: 539f.); die Telepolitik war allgemeiner als »die öffentliche Kanzlerschaft« bezeichnet (Korte 2000: 31ff.), die Netzwerk-Pflege hieß »korporatistische Führungsstile« (ebd.: 27f.) und die gespielte Kohärenz hatte er noch nicht als solche elaboriert sondern stattdessen eine »Präsidentialisierung« des Regierens betont (ebd.: 30f.). Das Handlungsmuster einer »präsidialen Kanzlerschaft« wiederum (vgl. zugespitzt Lütjen & Walther 2000; kritisch Helms 2001: 1512f.) taucht in späteren Publikationen gar nicht mehr auf. Eine weitere, von Korte nicht explizit gemachte, aber wichtig erscheinende Komponente des Regierungshandelns fügt Manfred G. Schmidt (2002a: 31ff.) hinzu: Die Befähigung zur »Balance zwischen Klientelbedienung und Allerweltsparteienpolitik«.
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gesagt: Die Frage nach dem Demokratiegehalt von Regieren muss gestellt werden (vgl. Ellwein 1976: 10; Korte 2000: 15; Sartori 1997: 94ff.). Eine eigene Theorie des Regierens hat sich nicht herausgebildet (vgl. Nehls 2002: 24ff.); die überwiegend nicht-empirische Regierungslehre kam kaum zu theoretisch oder normativ abstrahierbaren Erkenntnissen über das Verhältnis von Regierungshandeln und Demokratie. Bereits 1966 hat Thomas Ellwein allerdings auf Effizienz und Legitimität als durch Öffentlichkeit vermittelte Maßstäbe demokratischer Politik hingewiesen, die explizit auch gegenüber dem Regieren zu verwenden seien: Da Effizienz oder Leistungsfähigkeit Illegitimität oder Verfassungswidrigkeit nicht entschuldigt und umgekehrt der Hinweis auf einen Verfassungsgrundsatz tatsächliche Leistungsunfähigkeit nicht dauerhaft verbergen kann, müssen beide Maßstäbe aufeinander relativiert verstanden werden und angewandt werden. Das bedeutet durchaus, daß um der Leistungsfähigkeit des Regierungssystems willen Abstriche vom demokratischen Ideal gemacht werden müssen, mit denen sich zwar in der Praxis fast jeder abfindet, von denen man aber in der wissenschaftlichen Diskussion nur ungern spricht. (Ellwein 1966: 171; vgl. auch Steffani 1971).
Viele der normativ argumentierenden Politik- und Verwaltungswissenschaftler gingen in der Phase der Planungseuphorie eher einseitig davon aus, dass die effiziente Aufgabenerfüllung im Vordergrund guten Regierens stehen müsse. So argumentierte Böhret (1970: 15): »Eben weil der Bürger des modernen Gemeinwesens output-orientiert ist und sein soll, muß die Regierung ›führen‹, und das bedeutet in erster Linie: rationale Entscheidungen hinsichtlich effizienter Aufgabenerfüllung legitimiert zu treffen.« In der heutigen Zeit scheint aufgrund gewachsener Partizipationsanprüche, aber auch vor dem Hintergrund eines Vertrauensverlusts in die Kompetenzen der Politik eine solche Sichtweise nicht mehr zielführend – vielmehr muss Regieren im umfassenden Sinne demokratisch verfasst sein. In diesem Anspruch manifestieren sich ganz ursprünglich die allgemeinen normativen Richtgrößen in politischen Systemen liberaler Demokratien: die Input-orientierte und die Output-orientierte demokratische Legitimität. Diese Richtgrößen haben in jüngerer Vergangenheit zur Herausarbeitung einer komplexen Demokratietheorie hauptsächlich durch Fritz W. Scharpf geführt. Die Theorie lehnt die vereinfachende These ab, nach der Effizienzsteigerung sowie Partizipations- und Transparenzerweiterung sich gegenseitig prinzipiell ausschließen, sondern geht vielmehr von der Chance zu optimaler Effizienz- bzw. Transparenz- und Partizipationsgewinnen des politischen Systems aus (vgl. Steffani 1971: 12).
Komplexe Demokratietheorie »Die komplexe Demokratietheorie will die politische Beteiligung und Fragen des Regierens berücksichtigen.« (Schmidt 2003: 154, Herv.i.Orig.) Scharpf zufolge lassen sich die beiden normativ-demokratiepolitischen Logiken in Rekurs auf Abraham Lincoln unterscheiden in government by the people – »Herrschaft durch das Volk« – und government for the people – »Herrschaft für das Volk« (vgl. Scharpf 1998: 85ff.; 1999: 17ff.). In seinem ursprünglichen Werk geht Scharpf davon aus, dass auf der prozeduralen Input-Seite die Weiterentwicklung der individuellen Partizipationsmöglichkeiten aus Komplexitätsgründen notwendig an Grenzen stößt und mithin unrealistisch ist. In kritischer Auseinandersetzung mit dem als tendenziell oligarchisch kritisierten Pluralismusmodell müsse Politik aber auf der inhaltlichen Output-Seite gleichzeitig über Handlungsspielräume verfügen, um Steuerungsleistungen in Form von Reformen zu erbringen, die Bedürfnisse Schwächerer berücksichtigen
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und möglichst wenig von organisierten Gruppeninteressen abhängig sind. Deswegen verortete er den ersten Entwurf seiner komplexen Demokratietheorie »zwischen Utopie und Anpassung« (Scharpf 1970). Darin wird »lediglich die annäherungsweise gleichmäßige Beteiligung aller Bürger an jeweils spezialisierten Entscheidungsprozessen« innerhalb eines »reduzierten Partizipationsmodells« (ebd.: 59) und gleichzeitig eine »zentrale Entscheidungsinstanz mit einer von den pluralistischen Gruppen relativ unabhängigen Legitimationsbasis« (ebd.: 76) gefordert, die gestützt durch Planungsstäbe eine »Erweiterung des Wertberücksichtigungspotentials des politischen Systems« auf der Ebene seines Output ermögliche (ebd.: 90). In ihrer Weiterentwicklung differenzieren sich innerhalb der Theorie insbesondere die Grenzen politischer Steuerung heraus (vgl. z.B. Scharpf 1988, 1991, 1998 sowie Kap. 1.1.1.3). Politikverflechtung und Verhandlungssysteme determinieren nicht nur die Chancen absichtsvollen Regierens für gute Politik, sondern auch die demokratische Legitimation, deren Erhalt andererseits als »unverzichtbares Gut« gilt (Schmidt 2003: 160). Stärker als noch 1970 orientierte sich Scharpf jedoch an der Output-Legitimation öffentlicher Politik: den Möglichkeiten ihrer effizienten, gemeinwohlorientierten Gestaltung trotz restringierender, als pathogen empfundener Konstellationen (vgl. Scharpf 1988). Sinnbildlich für diesen Wandel in Scharpfs »legitimatorischer Prioritätenliste« kann seine Maßgabe hinsichtlich des Regierens in Europa gelten: »Wenn europäische Politiknetzwerke in der Tat Lösungen erreichen könnten, die allen betroffenen Interessen Rechnung tragen, dann wäre die output-orientierte Legitimität gewährleistet und das demokratische Defizit nicht mehr von Bedeutung.« (Scharpf 1999: 32)
Normativer Anspruch Ein den Grundparametern der komplexen Demokratietheorie entsprechender Zugang liegt auch der Bewertung der Regierungsfunktionen, -aufgaben und -strategien im Rahmen dieser Untersuchung zu Grunde, wobei die normativ-demokratiepolitischen Aspekte der InputLegitimität explizit hervorgehoben werden. Dies geschieht aus folgendem Grund: Bisherige Beratungs- und Entscheidungsprozesse können in dem hier untersuchten Politikfeld, der bundesdeutschen Migrationspolitik zwischen 1955 und 2000, hinsichtlich ihrer Inputdemokratischen Dimension nur als schwach legitimiert gelten (vgl. Kap. 2). Daraus folgt – und zwar abweichend von einer Sichtweise auf Regieren, in der input-legitimatorische Einbußen bei nachweislich gesteigerter Effizienz billigend in Kauf genommen bzw. erweiterte politische Beteiligung hintan gestellt werden (vgl. Schmidt 2000: 300) –, dass als solche bezeichnete »Akte modernen Regierens« stets einen Zugewinn auf der Input-Seite des Regierens bedeuten müssen. Problematisch erscheint daher gerade das strategische Regierungshandeln: Denn Strategie erfordert bis zu einem gewissen Punkt Geheimhaltung und steht damit Transparenz und Öffentlichkeit entgegen; sie konstituiert eine »neue Zone des ›Arkanums‹« (Nullmeier & Saretzki 2002: 14). Der Anspruch kann hier nur lauten, dass solche Demokratieeinbußen allenfalls dann pragmatisch in Kauf genommen werden können, wenn die Strategie nicht auf Täuschung oder Manipulation der Öffentlichkeit hinausläuft, sondern der eigentliche Politik- und Beratungsprozess (das Policymaking) einen Transparenz- und Öffentlichkeitsgewinn erfährt und das (vorgelagerte) strategische Handeln an einem bestimmten Punkt für Außenstehende
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nachvollziehbar ist. Zum anderen darf auch die im Parlamentarismus angelegte repräsentativ-demokratische Legitimität durch neue Strategien und Koordinationsforen der Regierung keine Einbußen erfahren, sondern muss sich gegenüber ihrem Zustand ante factum in ähnlicher oder verbesserter Qualität darstellen. Die als Maßstab modernen Regierens einzufordernden etwaigen »Brutto-Zugewinne« an demokratischer Input-Legitimität könnten sich also unterschiedlich manifestieren: In (parlamentarischer) Repräsentation, gesellschaftlicher Partizipation, prozessualer Transparenz oder materieller Publizität. Daneben gilt es, die Output-orientierte Legitimität des Regierungshandelns, die sich in umgekehrter Schlussfolgerung ebenso wenig mindern darf, zu analysieren.
1.1.1.6 Regieren in der Gubernative Einleitend wurde vom empirischen Hauptgegenstand dieser Untersuchung, der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«, bereits als Regierungskommission bzw. als gubernativer Kommission gesprochen – Bezeichnungen, die im Folgenden beibehalten werden. Der Terminus gubernativ bedarf jedoch einer definitorischen Erörterung, denn er ist (bisher) weder in der deutschen Politikwissenschaft noch in der Rechtswissenschaft weit verbreitet. Dies trifft auch für den anglo-amerikanischen Sprachraum zu, für den der Begriff gleichwohl begründet empfohlen wird (vgl. Dann 2006: 2). Wird in diesen Disziplinen auf die sprachlichen Wurzeln des lateinischen gubernare zurückgegriffen (vgl. Kap. 1.1.1.1), so geschieht dies meist über das dem Französischen entlehnte Adjektiv gouvernemental. Ulrich von Alemann (1994) hat in einer didaktisch orientierten Annäherung an die Vielzahl z.T. kontroverser Verständnisse von der Substanz des Politischen den gouvernementalen Politikbegriff einem emanzipatorischen gegenübergestellt. Der gouvernementale Begriff sei maßgeblich geprägt durch die Konzepte »Führung«, »Herrschaft«, »Macht« und »Hierarchie«, während im Gegensatz dazu der emanzipatorische Politikbegriff auf »Machtbeschränkung durch Teilhabe, Partizipation, Gleicheit und Demokratisierung« ziele (ebd.: 298). Obwohl sich die »gouvernementale Terminologie« in ihrer Begriffsgeschichte eher deskriptiv-analytisch denn kritisch entwickelte, schwingt in der Notation »gouvernementaler Politik« heute meist der Hauch des Illiberalen, Arkanen, Dezisionistischen, (reaktionär) Konservativen oder gar Antidemokratischen mit. Da ihm keine Verständigung über die genaue Bedeutung von Regierung zugrunde liegt, bleibt gouvernemental ein meist präpositioniertes, begrifflich relativ unpräzises (nicht selten auch negativ wertendes) Adjektiv für »regierungsseitig«, »regierungsbezogen« oder »regierungszentriert«.19 Der Neologismus gubernativ/Gubernative ist hingegen Ausdruck eines politikwissenschaftlich bzw. staatsrechtlich motivierten, wertungsfreien Versuchs terminologischdefinitorischer Ausdifferenzierung im funktionalen System der Gewaltenteilung, und zwar als begriffliche Präzisierung für einen ganz bestimmten Bereich der vollziehenden Gewalt.20 Denn der Sinngehalt des der ausführenden Gewalt zugeordneten Begriffes Exekutive 19
Zwei weitere begriffliche Verwendungen innerhalb der Politik- bzw. Sozialwissenschaft sind hier von geringerem Interesse: der (Inter)-Gouvernementalismus in der europäischen Integrationstheorie (vgl. Bieling 2005; Moravcsik 1993) sowie das von Michel Foucault entworfene, philosophisch geleitete gesellschaftstheoretische Konzept der Gouvernementalität (vgl. Lemke 1997). 20 vgl. dagegen ohne den Versuch einer genaueren Definition unlängst Hanno Kube, der für die Bundesrepublik eine Entwicklung der Regierung »zu einer machtvollen, faktisch autonomen Gubernative« diagnostiziert (Kube
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wird gemeinhin als äußert facettenreich und seine Anwendung daher als unklar wahrgenommen – gerade wenn von der Regierung als »Regierungsspitze« (ein nicht-juristischer Begriff!) und ihrem Handeln als »Regierungsstil« oder »Regierungstechnik« die Rede ist. Dieses Handeln wird sich nämlich nur in der Minderzahl der Fälle wirklich klar der Ausführung oder dem Vollzug von Politik zuordnen lassen. Auch wenn die damit treffender bezeichnete Verwaltung nicht als eigene »vierte Gewalt« statuiert werden kann, gehört die grundgesetzlich gedachte Abgrenzung zwischen Regierung und ministerieller Verwaltung zu den Kernbemühungen des Staats- und Verfassungsrechts, aber auch der Politik- und Verwaltungswissenschaft (vgl. Vollrath 1990: 74; Stern 1980: 694ff.; Ellwein 1976: 147ff.; Goetz 2004: 74, 82ff.; Grauhan 1969 sowie König, K. 2002: 119-143).21
Gubernative in der Gewaltenteilungslehre Innerhalb der Rechtswissenschaft lassen sich drei Zugänge zum Begriff der Gubernative unterscheiden. Grundlegend ist die verfassungsmäßige Differenzierung zwischen der politischleitenden Führung (Gubernative) und der ausführend-verwaltenden, weisungsgebundenen Ministerialbürokratie (Administrative). Diese Differenzierung reflektiert beispielsweise die Vertretungsregelung innerhalb der Geschäftsordnung der Bundesregierung. Die Vertretung einer Ressortleitung in staatsleitenden und »politischen« Fragen darf nur durch ein Mitglied der Bundesregierung wahrgenommen werden (§ 14 GOBReg.; vgl. Detterbeck 2005: 1174ff.). Ein zweiter, eher staatsrechtlich-funktionalistischer Zugang betrachtet die Verantwortlichkeiten und Entscheidungskompetenzen bei Spezialfragen innerhalb der exekutiven Spitze der Bundesregierung. So lässt sich z.B. im Bereich Verteidigung und Bundeswehr neben gewissen Parlamentsvorbehalten eine grundgesetzliche »Verteilung der Kompetenzen auf die einzelnen Organe der Gubernative« feststellen (Kirchhof 2006: 640ff.; Herv.d.Verf.). Als gubernative Organe treten das Verteidigungsressort (Kommandogewalt; Art. 65a GG), der Bundeskanzler (Verteidigungsfall; Art. 115b GG) sowie die Bundesregierung als Kollegialorgan (Art. 35 Abs. 3, Art. 87a Abs. 4 GG; »Bundessicherheitsrat«) in Erscheinung. Deutlich wird an diesem Beispiel, dass sich Regieren nicht nur vom Verwalten und »Administrieren« abgrenzen lässt, sondern leitend-gubernative Handlungskompetenzen und politische Handlungsverantwortungen auch im intra-organischen Bereich des Verfassungsorgans Bundesregierung personell bzw. institutionell zugeordnet werden können. Ein dritter Ansatz rekurriert auf die Rechtsetzungskompetenzen der Gubernative im Gefüge der geteilten Gewalten (vgl. Bogdandy 2000: 108). Hier wird die synonyme 2003: 583; ebenfalls ohne Begriffsklärung: Klein 2004). Klaus Lompe (1976: 262) bediente sich im Rahmen der politischen Planung bereits früh des Begriffes »Gouvernative«. 21 Prominent in der Politikwissenschaft ist freilich eine andere, auf Winfried Steffani zurückgehende Erkenntnis zum Gewaltenverhältnis: nämlich dass sich dieses nicht durch plattes Gegenüber von Regierung und Parlament, sondern in einer komplexen Handlungseinheit zwischen Regierung und Mehrheitsfraktion(en) gegenüber den Oppositionsfraktionen ausdrückt und zu wechselseitig kooperativer bzw. konfrontativer Gewaltausübung, einer »neuen Gewaltenteilung« oder Gewaltenverschränkung führt (vgl. Steffani 1997: 148ff.; Schuett-Wetschky 2000; systematisch: Holtmann & Patzelt 2004).
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Verwendung von Gubernative und Regierung vorgeschlagen. Der Begriff Exekutive bleibt auf die ausführende Verwaltung beschränkt (vgl. ebd.: 115). Die zentrale Annahme zielt auf das Gewaltenverhältnis zwischen der Legislative und jener so definierten Gubernative im Sinne einer regierungsseitigen Führerschaft: der angemessene und legitime Primat bei der Rechtssetzungskompetenz liege auf Seiten der Regierung (»Konzept gubernativer Hegemonie«; ebd.: 105, 495). Leitung und Steuerung der Gesetzgebung müssten folglich als zentrale Regierungsfunktion verankert werden.
Politikwissenschaftliche Definition Formaljuristisch beschreibt Gubernative einen relativ exklusiven Ausschnitt der Regierung. Konstitutionell definieren sich ihre Mitglieder im Sinne der Grundgesetzartikel 62 bis 69 (also als das Kabinett), einzeln oder im Kollektiv. Aus politologisch-funktionaler Sicht werden jedoch – folgt man Ludger Helms (2005a: 12, 104), der von »politischer Exekutive« oder »Exekutivelite« spricht – auch die parlamentarischen Staatssekretäre oder »Juniorminister« zu den faktischen Mitgliedern der Regierungsspitze gerechnet. Politische Exekutive erscheint damit terminologisch weitgehend gleichbedeutend mit Gubernative, impliziert jedoch keine klare Abgrenzung von der Administrative. Als Akteure im politikwissenschaftlich-funktionalen Verständnis von Gubernative kommen vor allem jene in Betracht, die gemeinhin als »politischer Teil der Regierung« oder als »strategische Führung« (Raschke 2002: 214) wahrgenommen werden, also auch die Spitzen von Regierungspartei bzw. -fraktion. Die international vergleichende Regierungsforschung tendiert jedoch dazu, Parteien und parlamentarische Akteure bei der Untersuchung der Kernexekutive und den damit verbundenen Machtkonstellationen als Institutionen als externe Variablen zu behandeln (vgl. Elgie 1997: 221). Trotz der unbestreitbar großen Bedeutung, die ihnen im politischen System der Bundesrepublik zukommt,22 soll eine ähnliche Differenzierung auch innerhalb dieser Studie eingehalten werden: Machtpositionen der Regierungsfraktionen und -parteien werden jeweils deutlich vom gubernativen Regieren abgegrenzt. Brauchbare Ansätze bietet hier der aus der englischen Regierungsforschung entstammende Begriff der core executive (vgl. Rhodes 1996, 1997): Der Terminus Kernexekutive zur Bezeichnung jenes kollektiven Akteurs und seines Machtumfeldes, der gewissermaßen den Nukleus des Regierens bildet, wird auch von der deutschen Regierungsforschung aufgegriffen. Je nach Politikfeld und Ansatz werden dabei jedoch unterschiedliche Einzelakteure erfasst, so etwa das Kabinett (oder Teile desselben), Regierungsfraktionen, Parteispitzen und Ministerialbürokratien. Die Kernexekutive kann sich in ihrer Zusammensetzung und in ihren Zielen sowohl in Abhängigkeit vom Politikfeld als auch im Zeitverlauf verändert darstellen. Die Analyse der Terminologie macht somit zweierlei deutlich: Erstens kann man in der politikwissenschaftlichen Regierungsforschung nicht einfach von »der Regierung« sprechen. Zweitens bedürfen aber auch Begriffe wie Gubernative, Kernexekutive und politische Exekutive im Einzelfall der Konkretisierung. Dies führt zu folgender vorläufiger Arbeitsdefinition: In differenziertem Gebrauch sind »Gubernative«, »politische Exekutive« bzw. »Kernexekutive« drei auch für diese Untersuchung relevante Termini. Die Gubernative besteht formal aus den institutionellen Verfassungsorganen der Regierungsspitze: Der 22
Zur positiven Parteienregierungshypothese vgl. Schuett-Wetschky (2001, 2002, 2005a); zur negativ konnotierten Diagnose eines Parteienstaates Arnim (1990), Hennis (1998), Stöss (2001), Sontheimer (1989: 176ff.).
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Bundeskanzler, die Ressortminister sowie deren Kollegialorgan Kabinett. In politikwissenschaftlicher Sichtweise wird jedoch von der Gubernative und ihrem unmittelbaren Umfeld auch als »Kernexekutive« gesprochen– ein Begriff, der jenseits staats- und verfassungsrechtlich begründeter Differenzierung gleichsam zur »politischen Exekutive« überleitet. Unter Gubernative ist je nach politischer Fragestellung ein möglicherweise veränderter Kreis politisch verantwortlicher und de facto führender und zentrale Machtpositionen innehabender Akteure zu verstehen. Gubernatives Handeln (Regieren) bezeichnet führungs-, entscheidungs- und organisationsorientiertes Handeln im Innen- wie im Außenverhältnis der Regierung durch die politisch verantwortlichen Akteure der Kernexekutive, und zwar jeweils in impliziter oder expliziter Entsprechung gubernativer Richtlinienkompetenz.
1.1.2 Regieren in der Verhandlungsdemokratie Verhandlungsdemokratische Arrangements können aus zwei Perspektiven beschrieben werden: als (negative) de-facto-Erfordernisse, die effektives Regieren erschweren, sachgemäße Problemlösung behindern und Politikblockaden riskieren bzw. nur knapp vermeiden sowie als (positive) Mechanismen, die dazu beitragen, Blockaden präventiv zu verhindern, Machtbefugnisse angemessen zu beschränken und gesellschaftliche Koordinations- und Problemlösungakapazitäten zu steigern (vgl. Czada 2004; Czerwick 1999; Scharpf 1991). Auf der Grundlage klassischer Typenbeschreibungen von Verhandlungs- bzw. Konsensdemokratien in der vergleichenden Regierungslehre (consociational bzw. consensus democracy; vgl. Lehmbruch 2003: 16ff.; Armingeon 2002, Schmidt 2000: 339ff., 2002) wird der Begriff der Verhandlungsdemokratie seit den späten 1970er Jahren in einem erweiterten Verständnis auch auf solche Staaten bezogen, deren System qua Verfassung eher konkurrenzdemokratisch ausgerichtet ist, in denen aber andere Faktoren zu konkordanten politischen Entscheidungen führen (vgl. Czada 2000: 24, 2003: 177ff.). Charakteristisch für Konsens-, Konkordanz- bzw. Verhandlungsdemokratien ist demnach die faktische Einbeziehung wichtiger Interessen (z.B. Parteien, Verbände, gesellschaftliche Gruppen und Gebietskörperschaften) in den politischen Prozess, um jenseits der Mehrheitsregel eine möglichst große Zahl von Entscheidungen im Konsens bzw. über Kompromisse zu treffen (vgl. Lehmbruch 2003: 7ff.). Auch das politische System Deutschlands weist in diesem Sinne verhandlungsdemokratische Muster auf, obwohl es formal als repräsentativ-parlamentarische Wettbewerbsdemokratie ausgestaltet ist. Es verfügt über einen geradezu »mit gegenmajoritären Institutionen gespickten Staatsaufbau« (Czada 1999: 402), und durch die Verbindung von Parteienwettbewerb und verflochtenen Entscheidungsstrukturen ist die Bundesregierung vielfach Handlungsrestriktionen unterworfen. Daher betreibt sie aktiv die Schaffung von Strukturen und Prozesse zur Verhinderung von Politikblockaden jenseits der konstitutionell festgelegten Entscheidungsverfahren (vgl. Czerwick 1999). Die zentrale Aufgabe einer modernen Regierung besteht […] darin, solche Verhandlungssysteme zu entwickeln und zu stärken, die eine Vielzahl sich widerstrebender aber doch aufeinander angewiesener Interessen zusammenfügen und sie dazu veranlassen, die längerfristigen Interessen der anderen Partner zu berücksichtigen. (Jann 1996: 305)
Das operative Ziel der in Verhandlungssystemen engagierten Akteure ist üblicherweise die Kompromissfindung, die sie zur Abweichung von eigenen Positionen zwingt. Charakteris-
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tisch für Verhandlungssysteme ist daher, dass sie weitgehend von der Öffentlichkeit abgeschirmt werden, um Konzessionsspielräume zu wahren (vgl. Lehmbruch 2000: 26).
Dimensionen der Verhandlungsdemokratie In den letzten Jahren sind diese verhandlungsdemokratischen Facetten vermehrt integrativ beschrieben und eingeordnet worden (vgl. insb. Czada & Schmidt 1993, Czerwick 1999, Holtmann & Voelzkow 2000, Lehmbruch 2003). In der empirisch gestützten Literatur wird jedoch davor gewarnt, sämtliche Verhandlungszwänge innerhalb des politischen Entscheidungsprozesses unterschiedslos »einem« Konzept der Verhandlungsdemokratie zuzuordnen. Roland Czada (2000, 2003, 2004) unterscheidet drei typische Ausprägungen: 1.
2.
3.
Verhandlungsdemokratie als Parteienkonkordanz wird in der Regel als gegeben angesehen, wenn die nationalen Regierungen über längere Zeit jeweils mehr als 60 % der Stimmen im Parlament auf sich vereinen können (Modell des grand coalition state). Im Idealfall ist Parteienwettbewerb nicht nur reduziert, »sondern regelrecht überwölbt von speziellen Konsensbildungsgremien, die mehr oder weniger institutionalisiert sind.« (Czada 2000: 27) Verhandlungsdemokratie als Korporatismus bezeichnet die Beteiligung von Interessengruppen an der Formulierung und Implementation von politischen Programmen durch etablierte Netzwerke. Diese kann auf übergeordneter ebenso wie auf sektoraler Ebene erfolgen (Makro- bzw. Meso-Korporatismus). Verhandlungsdemokratie durch Politikverflechtung ist das Resultat konstitutioneller Arrangements zur Verteilung staatlicher Macht zwischen verschiedenen Organen, bei denen klare Veto-Positionen bestehen.
Für die vorliegende Untersuchung sind besonders die zweite und die dritte Dimension der Verhandlungsdemokratie relevant. Denn sie berühren das Regierungshandeln als nationalstaatliches Policymaking im Politikfeld Migration und bilden den Ausgangspunkt für die Einsetzung der Zuwanderungskommission. Es sind dies zum einen Verhandlungsarrangements und Netzwerke, die sektoral die Politikentwicklung mitbestimmen. Zum anderen geht es um jene Verhandlungserfordernisse, die aus der föderalen Politikverflechtung in Verbindung mit dem Parteienwettbewerb resultieren.
1.1.2.1 Neokorporatismus und Policy-Netzwerke Zunächst wird der Dualismus von politischen und gesellschaftlich-verbandlichen Akteuren bei der Politikentwicklung betrachtet. Im letzten Drittel des 20. Jahrhundert sorgte Philippe C. Schmitter (1974) mit seinem Aufsatz Still the Century of Corporatism? für eine neue Theorie- und Forschungsperspektive auf dieses Zusammenspiel. Darin offerierte er eine analytische Alternative zu den bis dahin verbreiteten pluralistischen Erklärungsansätzen. Pluralistische Modelle gingen von einem liberalen und durchaus variablen Wettbewerb unter den Interessengruppen beim Versuch der Einflussnahme auf staatliche Entscheidungen aus (als Paradebeispiel galten in diesem Zusammenhang die pressure group politics).
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Schmitter rekurrierte hingegen stärker auf die in verschiedenen politischen Systemen wahrnehmbare dauerhafte Symbiose aus Staatsorganen und Interessenverbänden und bezeichnete solche Konstellationen als Formen des Korporatismus.23 In der durch Schmitter angestoßenen vergleichenden Forschung wird auch verbreitet von Neokorporatismus gesprochen, um die liberale Form des Korporatismus vom »Ständestaat« früherer Jahrhunderte abzugrenzen, in dem mächtigen Korporationen Teile der öffentlichen Gewalt übertragen worden waren. Als schillerndster Ausdruck neokorporatistischer Verhältnisse in der Bundesrepublik gilt das Tarifvertragssystem mit seiner Tendenz, Gewerkschaften und Arbeitgebern in quasi-öffentliche Rollen zu versetzen. Auch die Einbindung dieser und anderer Interessenorganisationen in »konzertierte Aktionen« gilt als Neokorporatismus (vgl. Alemann 1989: 158; vgl. Kap. 1.2.4.4).
Meso-Korporatismus Indes wird seit den 1980er und 1990er Jahren die Insuffizienz der NeokorporatismusTheorien immer deutlicher, besonders weil makro-korporatistische Arrangements empirisch kaum mehr beobachtbar sind (vgl. Reese-Schäfer 1996, Reutter 2004, Wessels 1999). Parallel findet eine Transnationalisierung der Interessenvermittlung statt, die wiederum vielfach stärker pluralisiert und liberalisiert ist und nationalstaatlichen Korporatismus zunehmend überlagert (vgl. Alemann 2000). Spätestens mit dem Scheitern des Bündnisses für Arbeit (vgl. Kap. 1.2.4.4) erweist sich in der Bundesrepublik das gerade begonnene Jahrhundert als »No longer the Century of Corporatism« (Streeck 2003, 2005). Das Verhältnis zwischen Staat und Interessengruppen ist immer stärker aufgefächert, was nicht zuletzt auch zu einer gewissen Sprachverwirrung innerhalb der Forschung geführt hat (vgl. Waarden 1992: 49). In diesem Zusammenhang sind Überlegungen zu »sektoral segmentiertem Meso-Korporatismus« entstanden (Czada 2000: 29; vgl. auch Lehmbruch 2003: 108f.). Sie gehen von spezifizierten Mustern korporatistischer Politikentwicklung und -lenkung in einzelnen Sektoren bzw. Arenen der Politik aus, die übergeordneter (makro-korporatistischer) Konzertierung sogar zuwider laufen können. Neben ihrer scheinbar ordnungspolitischen Funktion für das Interessengeflecht in bestimmten Sektoren öffentlicher Politik (wie etwa im Fall der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen; vgl. Brede 2006: 196ff.) und einer positiven Output-Wirkung begegnet meso-korporatistische Politik vielfältigen demokratiepolitischen Vorbehalten (vgl. Voelzkow 2000: 191ff.; siehe dazu unten). Policy-Netzwerk-Ansätze (vgl. grundlegend Börzel 1997, Jansen & Schubert 1995; Jordan & Schubert 1992, Marin & Mayntz 1991, Peterson 2003, Rhodes 1997) erweiterten den Fokus abermals und untersuchen aus Policy-analytischer Perspektive das Zustandekommen von Politik. Sie schufen damit einen neuen konzeptuellen Rahmen zur Untersuchung der Interessenvermittlung. Ein Policy-Netzwerk wird dabei als Geflecht von größtenteils informellen Beziehungen unterschiedlicher Akteure bezeichnet, das von einem gewissen Maß an Permanenz geprägt ist sowie auf freiwilliger Teilnahme und Reziprozität der 23
Seine idealtypische Definition von Korporatismus lautete: »a system of interest representation in which the constituent units are organized into a limited number of singular, compulsory, noncompetetive, hierarchically ordered and functionally differentiated categories, recognized or licensed (if not created) by the state and granted a deliberate representational monopoly within their respective categories in exchange for observing certain controls on their selection of leaders and articulation of demands and supports.« (Schmitter 1974: 93f.)
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partizipierenden Akteure basiert. Es ermöglicht nicht-strategisches Problemlösen auf der Grundlage von Kommunikationsprozessen und wechselseitigem Vertrauen (vgl. Benz 1997, Börzel 1997). Policy-Netze können demnach als wichtige loci der Politikproduktion gelten, sind jedoch im Hinblick auf korporatistische bzw. pluralistische Muster der Interessenartikulation in mannigfaltiger Weise differenzierbar (vgl. z.B. Lehner 1979: 113ff.; Teubner 1999; Ladeur 2004; Mayntz 1997: 200f.). Frans van Waarden stellt unter sieben Analysedimensionen von Netzwerk-Verhandlungssystemen drei zentrale heraus: Die Anzahl der beteiligten Gruppen, die Funktion der Netzwerke sowie die Machtverhältnisse zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Agenturen innerhalb des Netzwerks (vgl. Waarden 1992: 32ff., 49f.). Die beiden letzten Dimensionen weisen einen unmittelbaren Bezug zum Regieren in Policy-Netzwerken und der Frage nach Möglichkeiten der Netzwerk-Steuerung auf. Der Politikverbund zwischen der Regierung und bestimmten, in einem Politikfeld betroffenen Interessen kann sich hierbei vor allem in folgenden drei Weisen auswirken: a) als hierarchische Steuerung wirtschaftlich-gesellschaftlicher Sachverhalte durch staatliche Instanzen; b) als Obstruktion regierungsseitiger Policy-Ideen durch non-compliance von Interessengruppen bei der Implementation, sofern entsprechende Gegenmacht besteht; c) als Kooperation aufgrund bilateraler Notwendigkeiten wie Informationsaustausch oder Arbeitsteilung.
Regieren und Netzwerksteuerung im kooperativen Staat Ernst-Hasso Ritter prägte für letztere Variante bereits 1979 den Begriff »kooperativer Staat«. Ritter bezog sich dabei primär auf das staatsrechtlich neu zu verortende Zusammenspiel zwischen Politik und Wirtschaftsverbänden bei der politischen Planung. Entscheidend war für ihn die Feststellung eines Perspektivenwechsels, weg von der herkömmlichen Auffassung eines monodirektional den privatwirtschaftlichen Bereich regulierenden »Eingriffsstaates«. Eine solche Auffassung betrachtete er aufgrund zahlreicher Faktoren als anachronistisch (vgl. Ritter 1979: 390f.). Vielmehr sei das Gegenteil beobachtbar. Das Prinzip der Zweiseitigkeit (do-ut-des) ersetze das Prinzip von Befehl und Gehorsam: »Der Staat steigt von hoheitlich-hoheitsvollen Podest des einseitig Anweisenden herab, er tritt auf die Ebene des Austausches von Informationen und Leistungen und der Verbindung zu abgestimmten [sic!] Handeln.« (ebd.: 393) In den letzten Jahren hat sich das Konzept deutlich ausdifferenziert. Der kooperative Staat bezeichnet nicht mehr nur das gewandelte Verhältnis zwischen Staat und Wirtschaftsverbänden bei der Interessenvermittlung, sondern ganz verschiedene wechselseitige Beziehungen, in die sich der Staat mit gesellschaftlichen Gruppen begibt (vgl. umfassend Voigt 1995; Benz 1997). Auch im Zusammenhang mit der Migrationspolitik haben sich durch Abhängigkeiten Ansätze solcher Netzwerke zur Herstellung von Politik herausgebildet. Zentrale Gründe für Regierungen, Politik in Netzwerken zu entwickeln und zu betreiben, ergeben sich primär aus zwei Zusammenhängen: Erstens wird Politikproduktion in sektoralen Netzwerken bzw. deren Beratung in Policy-Arenen (vgl. dazu Fn. 33) häufig als fortschrittlich wahrgenommen, da sie i.d.R. über reines bargaining im Sinne von Tauschgeschäften hinausgehen.24 Ein zweiter Vorteil kooperativ entwickelter Politik besteht in der 24
Dies belegen nicht zuletzt die lerntheoretischen Erklärungsansätze des policy-learning bzw. der advocacy coalitions (vgl. Sabatier 1993, Bandelow 2003), die von wechselseitigen Deliberations- und Konsultationsverfahren
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Möglichkeit, dadurch die Bildung von Konsens zu erleichtern bzw. öffentliche Zustimmung für die Regierungspolitik zu erhalten. Das Konkurrenzmotiv zwischen den an PolicyNetzwerken beteiligten Akteuren spielt eine geringere Rolle als im Parteienwettbewerb und steigert die Einigungschance (vgl. Scharpf 1993: 40). Beide Aspekte sind im Zusammenhang mit dem in Kapitel 2 behandelten Politikfeld Migration von besonderer Relevanz.
Demokratiedefizite Den demokratiepolitisch positiven Bewertungen von Policy-Netzwerken (Steigerung der Output-Legitimität) begegnen jedoch auch ernst zu nehmende Bedenken. Einerseits umfassen Netzwerke notwendig einen beschränkten Kreis von Akteuren – und erzeugen damit neue Ausschlussmechanismen, die sich nur bedingt sachlich begründen und legitimieren lassen. Netzwerke sind also meist exklusiv und weisen Beteiligungsdefizite auf (vgl. Benz 1997: 105f.). Zum zweiten sind Kooperationsbeziehungen in Politiknetzwerken vielfach durch den für Verhandlungssituationen typischen Ausschluss der Öffentlichkeit gekennzeichnet, haben also ein Transparenzdefizit und entziehen sich bestimmten demokratischen Kontrollen (vgl. ebd.). Drittens besteht die Gefahr, dass durch verhandlungsdemokratische Arrangements in Policy-Netzwerken das Parlament als verfassungsrechtliche Institution der politischen Entscheidungen abgewertet wird – auch wenn möglicherweise einzelne Parlamentarier an sektoralen Netzwerken beteiligt sind (vgl. Grimm 2003 sowie Kap. 1.2.5). Damit einher geht das Problem, dass die Verantwortlichkeit von Entscheidungen nicht mehr klar zuzuweisen ist (accountability-Defizit). Ein vierter Vorbehalt bezieht sich indes auf die Output-Ebene der Netzwerkpolitik: Befürchtet wird ein Zustand fortschreitender Fragmentierung von Politik durch eng begrenzte issue-Netzwerke, in denen sich Politik für Regierungen nicht mehr durch ganzheitliche Konzepte entwerfen lässt, sondern Partialinteressen in aufgefächerten Politikfeldern überwiegen (vgl. Kropp 2005: 141f.). Die skeptische Sichtweise auf Policy-Netzwerke im kooperativen Staat geht folglich davon aus, dass »kooperative Staatstätigkeit sich nicht mit Demokratie verträgt« (Benz 1997: 107, 109). Neben dem Plädoyer für eine Stärkung staatlicher Autorität gegenüber Partikularinteressen bestimmter Verbände und Gruppen, verbunden mit einer möglichst weitgehenden Wiederherstellung parlamentarischer Entscheidungshoheit, sind jedoch auch alternative Lösungswege skizziert worden, die sich aus Ansätzen der deliberativen oder diskursiven Demokratie entwickelt haben (vgl. dazu Kap. 1.2.2). Im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Interessenvermittlung ist dabei in erster Linie auf den Begriff der assoziativen Demokratie zu verweisen, den die amerikanischen Politikwissenschaftler Joshua Cohen und Joel Rogers als Konzept entwickelt haben und den Gunnar Folke Schuppert (1997) breit rezipiert hat. In Abgrenzung zum Neokorporatismus werden hier in ein Konzept der Interessenrepräsentanz nicht nur die großen organisierten Verbände, sondern auch intermediäre Assoziationen (Vereine, gesellschaftliche Gruppen) einbezogen. Der Ansatz geht davon aus, dass diese Assoziationen eine demokratiepolitisch wünschenswerte Brückenfunktion zwischen dem individuellen Subjekt und dem Staat haben. Ihre Beteiligung als Basis für eine egalitäre Gesellschafts- und Entscheidungsstruktur ist regulativ, d.h. durch öffentliche Gewalt sicherzustellen. Damit soll eine Überwindung des Partizipationsdefizits erreicht werunter Einschluss sachverständiger Expertise ausgehen. Sie bilden an dieser Stelle gleichsam einen Nexus zur zweiten Sichtweise auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, die Politikberatung (vgl. dazu Kap. 1.2).
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den (vgl. auch Heinze 2004: 122ff.; Leggewie 1999: 24). Dabei bleibt jedoch zum einen das Problem ungelöst, dass sich trotz ordnungspolitischer Eingriffe in die Arenen der Interessenrepräsentanz »elitäre Formen der Politik« durch »geschlossene Verhandlungsstrukturen« herausbilden (Benz 1997: 108). Als Folgeproblem ergäbe sich hingegen die Gefahr der »Überexpansion« assoziativer Netzwerke durch die Einbindung von immer mehr intermediären Interessenträger aus Proporz- oder Relevanzerwägungen. Als Zwischenfazit lässt sich festhalten, dass Policymaking in Netzwerken als weiterentwickelte Form neokorporatistischer Arrangements im Hinblick auf den Policy-Output unverzichtbar für das Regieren zu sein scheint. Die Steuerungsoptionen für die Regierungen sind jedoch beschränkt. Ferner begegnet Netzwerkpolitik im »kooperativen Staat« ernst zu nehmenden demokratiepolitischen Bedenken; jegliche Form des kooperativen Regierungshandelns bewegt sich in einem entsprechenden Spannungsfeld. Eine demokratische Ausgestaltung von Prozessen kooperativer Politikentwicklung scheint bezüglich gleicher Partizipationschancen auf der Ebene von Organisationen nur beschränkt möglich.
1.1.2.2 Politikverflechtung und Parteienwettbewerb Kooperatives Regieren tritt nicht nur im Verhältnis gesellschaftlicher Interessen zu öffentlichen Instanzen zu Tage. Auch zwischen staatlichen Gemeinwesen existieren Kooperationsverhältnisse und -zwänge durch miteinander verflochtene Systeme. Hauptschauplatz und prominentestes Beispiel von Verflechtung ist das föderative System der Bundesrepublik (vgl. als guten Überblick Laufer & Münch 1998). Politikverflechtung bezeichnet allgemein den Tatbestand, dass »mehrere politische Gemeinwesen, die je unabhängig voneinander ihren politischen Willen bilden, Kompetenzen gemeinsam ausüben, ohne dadurch zu einem homogenen Gebilde zu verschmelzen« (Zintl 1999: 471). Im Folgenden soll näher auf die prominenteste Form der Politikverflechtung im föderalen Bundesstaat eingegangen werden – in Kap. 1.1.2 bereits als eine von drei Dimensionen der Verhandlungsdemokratie angesprochen: die verfassungsrechtlich verankerte »Gesetzgebungsverflechtung« in Verbindung mit dem stetigen Parteienwettbewerb. Diese Verbindung wird als notwendige, aber bisweilen krisenhafte Konstellation wahrgenommen, die effektives Regieren erschwert und Legitimitätsfragen aufwirft. Die klassische Studie in der deutschen Politikwissenschaft zu diesem Thema – Gerhard Lehmbruchs Parteienwettbewerb im Bundesstaat (erstmals 1976, zuletzt 2000) – beschreibt den Zusammenhang von konkurrierendem Parteienparlamentarismus und bundesstaatlichem Föderalismus als Strukturbruch. Lehmbruch wählt die Methapher einer entwicklungsgeschichtlichen Verwerfung, bei der die beiden Regelsysteme nicht mehr parallel und ohne große Reibungsverluste koexistieren, sondern die Handlungslogiken des bipolar ausgerichteten, wettbewerbsdemokratischen Parteienkonfliktes die Entscheidungsmechanismen der föderalen Kooperation überlagern. Konkret: Die im Bundestag opponierende Partei nutzt ihre Stimmenmehrheit in der Länderkammer zur (bundes)parteipolitischen Profilierung und koordiniert diese Mehrheit dergestalt, dass der Bundesrat als Regelsystem föderativer Einigung quasi ausgeschaltet ist. Parlamentsabgeordnete müssten in diesen Bund-Länder-Verhandlungen eigentlich die Belange ihrer Gebietskörperschaft vertreten. Durch die Parteifunktion und Regierungsmitgliedschaft der »oppositionellen« Bundesrats-
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
mitglieder wird diese Funktion jedoch häufig von dem Anspruch überlagert, primär die Interessen und Ideologien ihrer Partei zu vertreten (vgl. Benz 2003b: 34). Die Folge sind laut dem »Parteienregierungsansatz« entweder Entscheidungsblockaden oder erhöhte Einigungskosten durch Kompromisse auf einen kleinen oder den kleinsten gemeinsamen Nenner. Dies führt zu zwei Problematiken: Einerseits findet sich auf diese Weise der Handlungsspielraum der Regierenden u.U. massiv eingeschränkt (Gefahr von Reformblockaden). Andererseits scheint, selbst wenn es zum Kompromiss in einer informellen, quasi Großen Koalition kommt, gerade dadurch die Legitimationskraft des politischen Systems für Entscheidungen gefährdet, da dessen wettbewerbsdemokratische Elemente implizit ausgeschaltet werden und die politische Entscheidung aus Sicht des Bürgers nicht klar einem Akteur zugeschrieben werden kann und über einen langen Zeitraum verzögert wird (accountability-Defizit).25
Faktische Reform-Blockaden vs. antizipiertes Blockade-Potenzial Entgegen diesen Szenarien der Politikblockade hat die empirische Gesetzgebungsforschung verdeutlicht, dass die Überlagerung föderativer Verhandlungen durch den Parteienwettbewerb zumindest statistisch nicht zu übermäßiger Blockade von Gesetzesvorlagen der Regierung führt. Hier bietet das Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat ein funktionierendes institutionelles Clearing (vgl. Lhotta 2000 sowie Kap. 1.2.4.5), das zu hohen Verabschiedungsquoten von Regierungsvorlagen führt (vgl. König, Th. 1999: 35). So hat in der Zeit zwischen 1949 und 2005 der Bundesrat lediglich bei 171 von 6.458 vom Bundestag beschlossenen Gesetzen seine Zustimmung verweigert. Davon wurden 99 nach einem Vermittlungsverfahren schließlich noch verabschiedet. D.h. lediglich 72 aller vom Bundestag beschlossenen Gesetze (etwa 1%) sind letztlich am Bundesrat gescheitert (vgl. Reutter 2004a: 1254). Geht man als Grundgesamtheit nur von den zustimmungspflichtigen Gesetzen aus, verdoppelt sich dieser Anteil auf gut 2% – eine Erfolgsquote, bei der von Blockade keine Rede sein kann. Vielmehr führt die Veto-Option der Bundesratsmehrheit »zu politischen Prozessen, die stark in eine konkordanzdemokratische Richtung tendieren.« (Stüwe 2004: 30). Die rein statistische Betrachtung der Gesetzgebungsbilanz gibt keinen Aufschluss darüber, inwieweit die durch den Verhandlungseinfluss der zweiten Kammer abgeänderten Gesetze noch über ihre ursprünglichen Inhalte verfügen und damit die Intentionen der Regierung widerspiegeln bzw. ob sie lediglich einen Kompromiss auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner bedeuten, der im Hinblick auf die Gemeinwohlzuträglichkeit zu mangelhaften Resultaten führt. So ist eine Tendenz festgestellt worden, nach der es sich bei vielen der schießlich blockierten oder verhinderten Gesetze um zentrale Politikvorhaben der jeweiligen Regierung handelte (vgl. ebd.: 30f.). Eine vor Kurzem erschienene judical reviewUntersuchung der Bundesgesetzgebung zwischen 1976 und 2002 wies ferner überzeugend nach, dass sich die Veto-Macht der Opposition auch statistisch ablesen lässt (vgl. Burkhart & Manow 2006). Die Studie sucht in der Gesetzgebungsstatistik des Bundes nicht etwa nach dem Vorkommen tatsächlicher Gesetzesblockaden durch die Länderkammer, sondern nach dem empirischen Niederschlag der strategischen Antizipation von Blockadepotentia25
Zu den hier nicht näher interessierenden Legitimations- und Effizienzdefiziten der Landesparlamente vgl. insb. Scharpf (1999a) und Reutter (2004a).
1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik
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len. Ausgehend von der These der »legislativen Autolimitation« (Selbstbeschränkung der Regierung bei der Gesetzgebung) äußert sich die Veto-Macht der Opposition dahingehend, dass eine Regierung bei deutlicher Oppositionsmehrheit im Bundesrat dazu neigt, den Gesetzentwurf bereits vorab stärker an den politischen Zielen der Opposition auszurichten. Es kommt also zu einer antizipierend-kooperativen Strategiewahl der Regierung, um die Blockade-Chance zu reduzieren (Veto-Antizipation; vgl. i.E. Burkhart & Manow 2006: 814ff.). Auf der anderen Seite ist von Befürwortern einschneidender Reformen der föderalen Ordnung angemerkt worden, dass die politischen Entscheidungsprozesse bei der Zustimmungsgesetzgebung nicht selten genauso schwerfällig und konsenserfordernd verlaufen, wenn Bundestag und Bundesrat über gleichgerichtete Mehrheiten verfügen (vgl. Scharpf 1999a).26 Gerade die in-depth-Betrachtung des föderalen Policymaking verdeutlicht, dass jenseits der reinen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat andere Faktoren und Randbedingungen die Steuerungsfähigkeit und damit die Chance angemesser und effizienter Lösungen verbessern können. Als nachhaltig erweisen sich dabei insbesondere externe oder zeitgeschichtliche Umstände wie die deutsche Wiedervereinigung, dadurch evozierte informelle Koalitionen, internationale Verhandlungen unter Geheimhaltung und Zeitdruck (z.B. innerhalb der EU) sowie ungewöhnliche Allianzen (vgl. Wachenhofer-Schmidt: 391f.). Solche unter Umständen auch zu provozierende oder zu beschleunigende Randbedingungen können der Bundesregierung zu Überzeugungs- und Durchsetzungsstrategien verhelfen. Entsprechend genutzt, zielen sie stets darauf, mögliche Widerstände im System föderaler Politikverflechtung durch öffentliche Darstellung von Rationalität, Notwendigkeit oder Konsens bereits ex ante zu reduzieren oder im Prozess der Gesetzgebung möglichst schwach zu halten. Stil, Mittel und Instrumente bzw. damit verbundene Strategien des Regierens sind also im Hinblick auf die Steuerungschancen gubernativer Politik im verflochtenen Föderalismus durchaus bedeutsam – auch und gerade bei blockadefähigen Mehrheiten im Bundesrat. Es bleibt mithin eine zentrale Aufgabe der Regierung, innerhalb des föderal verflochtenen Systems ggf. in jedem Einzelfall Zustimmung für ihre Politik herzustellen, indem sie steuernd auf die darin virulenten, sich aus dem Parteienwettbewerb ergebenden Konstellationen einzuwirken versucht. Die Ausdifferenzierung des Parteienspektrums und damit auch der Koalitionsoptionen auf Landesebene in den vergangenen Jahren (vgl. Helms 2003: 5) haben in Verbindung mit den kontinuierlich stattfindenden Landtagswahlen dazu geführt, dass diese Koordinationsaufgabe – in mehr oder weniger »schwieriger« Ausprägung – als Daueraufgabe einer jeden Bundesregierung zu interpretieren ist.
1.1.3 Kernaspekte des Regierens im »semi-souveränen« Staat Ende der 1970er Jahre mündete die in Teilbereichen feststellbare Überforderung bei der Organisation, Finanzierung und Regulation von Politik und die damit einhergehenden Legitimätsverluste in eine Diskussion darüber, ob und inwieweit moderne, industrialisierte Demokratien überhaupt noch »regierbar« sind (Theorie der Regierungsüberlastung; vgl. dazu 26 Auf die Chancen der Politikentflechtung wird an dieser Stelle nicht eingegangen; vgl. dazu Münch & Zinterer (2000) sowie Schultze (2000). Auch hinsichtlich der Föderalismusreform und der damit verbundenen Hoffnung, die Anzahl der zustimmungspflichtigen Gesetze zu reduzieren bzw. Gesetzgebung zu beschleunigen, sei auf die aktuelle Literatur verwiesen (vgl. Burkhart & Manow 2006a; Reutter 2006; Scharpf 2006).
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Lehner 1979: 26ff.). Der Kern der Regierbarkeits-/Unregierbarkeitsdebatte bestand in der Konstatierung erheblicher Beschränkungen der materiellen Leistungs- und politischen Handlungsfähigkeit des Staates, verbunden mit der Gefahr von Politikverdrossenheit aufgrund zu hoher Erwartungen. Während die Diagnose einer ernsthaften Krise der Regierbarkeit (der Fähigkeit zu regieren) breit geteilt wurde, variierten die Erklärungsansätze ihrer Ursachen ebenso wie die Vorschläge zu ihrer Remedur, je nach ideologischer Verortung (vgl. dazu Murswieck 1995: 536f.; Offe 1979 sowie die Bände von Hennis, Kielmannsegg & Matz 1977, 1979).
Krise der Regierbarkeit In Franz Lehners sozialwissenschaftlicher Studie Grenzen des Regierens (1979) ließen sich zwar verschiedene Handlungsrestriktionen und eine generelle Regierungsüberlastung nachweisen, nicht aber eine Kernannahme der Thesen von der Regierbarkeitskrise, nach der die Eskalation von Erwartungen an staatliche Leistungsfähigkeit als deren Ursache zu gelten habe (vgl. Lehner 1979: 157). Stattdessen würden gleichsam strukturelle Ursachen wie die fortschreitende Desintegration der Interessenrepräsentanz bei steigender Aufgabenbreite deutlich. Partikulare Interessen würden konkurrenzlos und in manifesten Interaktionssystemen vermittelt, die eine beim Auftreten neuer Probleme notwendigen Abweichung erschwerten bzw. zu verschärften Interessenkonflikten führten, weil nicht alle ausdifferenzierten Interessenlagen berücksichtigt werden könnten. Auch das wettbewerbsorientierte Parteiensystem unterliege diesem Integrationsdefizit aufgrund instabiler und wechselnder Mehrheiten infolge »homogener« Konkurrenz. Doch obwohl sich das Regieren immer stärker als mühsames und uneindeutiges Unterfangen erwies, bildeten sich meist adäquate Muster der Konfliktregelung heraus, die dauerhafte Blockaden oder einen fortgesetzten Zustand ungenügender Leistungserbringung verhinderten. Denn Probleme der Regierbarkeit resultierten häufig aus mangelhaften Konsensbildungsprozessen (vgl. Lompe, Rass & Rehfeld 1981: 11ff.). Über diese Erkenntnis erwiesen sich einige der Thesen zur drohenden »Unregierbarkeit« als alarmistisch: »In der Tat, der Bundesstaat funktioniert, und man muß sich […] eher fragen, warum das so ist, als zu untersuchen, was nicht funktioniert.« (Benz 1989: 181, Herv.i.Orig.) Gerade die Föderalismusforschung widmet sich seitdem der Erörterung dieser Frage. Da aber insbesondere die Regierungspolitik fortgesetzt vor der Aufgabe steht, Handlungsund Leistungsdefizite als Folge von »Schwerregierbarkeit« auszugleichen, gehört die Beschäftigung mit den assoziierten Prozessen auch in den Mittelpunkt der Regierungsforschung.
Semi-Souveränität Für die Handlungsspielräume der Regierenden hat in einer prominenten Außenansicht auf das politische System der Bundesrepublik der Politikwissenschaftler Peter Katzenstein die Diagnose vom »semi-souveränen Staat« propagiert und diese in ihren Grundzügen wiederholt behauptet (vgl. Katzenstein 1987, 1999).
1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik
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Katzensteins Beobachtung zufolge war die »alte« Bundesrepublik im internationalen Verleich von einem augenscheinlichen Mangel an neuen politischen Initiativen bei gleichzeitig pfadabhängiger, bisweilen inkrementeller Politikentwicklung gekennzeichnet (vgl. auch Fn. 77). Den Staat beschrieb er zwar aufgrund von Föderalismus, gegliedertem Gerichtssystem, überwiegend autonom arbeitenden Verwaltungen und Bürokratien der Gebietskörperschaften sowie Beschränkungen der Kanzlerdemokratie (Ressortprinzip) als weitgehend dezentralisiert. Ihm gegenüber stünde jedoch eine in vielen Punkten hochgradig zentralisierte »Gesellschaft«, womit er insbesondere die Interessenorganisationen der Arbeitgeber, Gewerkschaften, Bauern- und Berufsverbände meinte (Katzenstein 1987: 15ff.). Die SemiSouveränität des Staates – und man kann ergänzen: des Regierens27 – manifestiere sich in folgenden Punkten: Den parteipolitischen Aushandlungsprozessen, insbesondere durch Koalitionsregieren, der föderalen Politikverflechtung (vgl. Kap. 1.1.2.2), der Macht von Bundesbank und BVerfG, dem weitreichenden Subsidiaritätsprinzip und Strukturen korporatistischer Politikentwicklung in Netzwerken. Auch im wiedervereinigten Deutschland sah Katzenstein die staatliche Handlungsautonomie keineswegs erhöht: »Die innenpolitischen Machtstrukturen Deutschlands, die sich in den letzten 50 Jahren entwickelt haben, zeigen einen halbsouveränen Staat.« (Katzenstein 1999: 565) Die Perspektive Katzensteins hat in der vergleichenden Regierungslehre bzw. Staatstätigkeitsforschung – auch in Deutschland selbst – ein breites Echo gefunden und wird seitdem als konzeptuelles Rahmenwerk verwendet (vgl. z.B. Green & Paterson 2005, Helms 2003, Murswieck 1990: 165). Für die Perspektive der Regierungsforschung bietet sich die Diagnose des semi-souveränen Staates insbesondere deswegen an, weil sie den Blick auf die Vielzahl unterschiedlicher Faktoren lenkt, die direkter politischer Steuerung, hierarchischem oder gar obrigkeitsstaatlichem Regieren bzw. aktiver politischer Programmplanung und -implementation seitens der Gubernative im Wege stehen, plötzliche Politikwechsel erschweren und multiple Koordinationsanforderungen mit sich bringen.28 Nicht zuletzt wird das Konzept des semi-souveränen Staates unmittelbar zur Erklärung einer Resistenz gegen Policy-Wandel höherer Ordnung im Politikfeld Migration herangezogen (vgl. Green 2006: 131).
Kontingenz des Regierens Im Hinblick auf das direkte Entscheidungshandeln der Regierung führt Friedbert Rüb (2006: 12f.) den Begriff der »Krisis des Regierens« ein. Er stellt darauf ab, dass politische Entscheidungen selten genuin-machtvolle Dezisionen im Sinne von Primärinterventionen, sondern stets reflexiv und damit nur Folgeentscheidungen auf bereits getroffene Entscheidungen sind. 27
An anderer Stelle schreibt Katzenstein: »If we were to think of the West German state as an actor, we would stress its impotence.« (Katzenstein 1987: 372) 28 Katzensteins Konzeptualisierung bildet damit einen länderspezifischen Vorläufer des Ansatzes institutioneller Veto-Punkte (vgl. Immergut 2006) bzw. des von George Tsebelis (2002) entworfenen Veto-Spieler-Theorems. Die Theorie besagt in ihrem Kern, dass deutliche Politikwechsel umso leichter erfolgen, je kleiner die Zahl der vorhandenen Veto-Spieler ist. Mit Veto-Spielern sind dabei individuelle oder kollektive, institutionelle oder parteipolitische Akteure gemeint, deren Zustimmung für politische Entscheidungen eine unabdingbare Voraussetzung ist (vgl. Tsebelis 2002: 2ff., 19ff.). Für eine Anwendung der Theorie auf die deutsche bzw. europäische Reformpolitik vgl. König, Luig, Blume u.a. (2003), Merkel (2003) sowie Bandelow (2005).
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen Alles Entscheiden kann heute nicht mehr als individuelle Leistung gedacht werden, als Regierungsstil eines Kanzlers oder als Leistung eines ›System Kohl‹ oder ›System Schröder‹, sondern nur noch als die der Regierungsorganisation als ein komplexes Gebilde. (ebd.: 13, Herv.i.Orig.)
Politische Entscheidungen als Ergebnis guter Regierungsorganisation erfordern in diesem Sinne sowohl die Antizipation von eigentlich unkontrollierbaren, aber entscheidungsrelevanten Zufälligkeiten und Unsicherheiten »im Rücken« der Regierung (Hintergrundkontingenzen), als auch die machtvolle, strategisch-taktische Nutzbarmachung der eigenen Unberechenbarkeit mit Blick auf politische Ziele (Handlungskontingenz). Was also bedeutet auf dieser abstrakten Ebene Regieren als Kern des PolicymakingProzesses? Folgt man Rüb an dieser Stelle weiter (ebd.: 15ff.), so besteht die faktische Auswirkung der doppelten Kontingenzbehandlung im schöpferischen Umgang mit Ambiguität als machiavellistisches Prinzip politischen Entscheidens. Dazu gehören übergeordnete und strukturelle operative Handlungen ebenso wie kommunikativ-steuernde Techniken. Nur unter Einschluss von Taktik, Täuschung und Akten symbolischer Politik könnten Bedeutungsstrukturen geschaffen werden, die Handlungsentscheidungen ermöglichen. Diese »politische Manipulation« stelle zwar meist keine bewusste Täuschung oder Lüge dar (vgl. ebd.: 26), sie läuft jedoch notwendigerweise Gefahr, mit normativen Ansprüchen an demokratisches Regieren zu kollidieren (vgl. Kap. 1.1.1.5).
1.1.3.1 Meta-Funktion: Politische Führung durch Organisation von Konsens Auf der Meta-Ebene des Regierens ist die Schaffung von Konsens als eine zentrale Aufgabe identifiziert worden (vgl. Kap. 1.1.1.3). Thomas Ellwein hat dazu bemerkt, es herrsche allenthalben die »Selbstverständlichkeit« eines Konsenses zwischen Regierung und Bevölkerung (Ellwein 1966: 160; vgl. auch Guilleaume 1965: 185). Doch der Konsensbegriff beim Regieren erweist sich als vielschichtig; oftmals wird der Kompromiss als Resultat des politischen Prozesses zum Konsens-Äquivalent. Die politikwissenschaftliche Regierungsforschung hat bislang keine verstärkten Anstrengungen unternommen, die disparaten Verwendungskontexte des Konsensbegriffes zu konzeptualisieren. Dies scheint jedoch notwendig, denn »der operational definierte Konsens ist etwas anderes als das theoretische Konstrukt« (Sartori 1997: 14f.). Nicht zuletzt die Selbstzuschreibung der gubernativen Spitze der rot-grünen Bundesregierung, mittels Konsensschaffung »modern« zu regieren (vgl. Einleitung), induziert Begriffsinhalte, die nach einer Differenzierung der Verwendungen des Konsensbegriffes verlangen. Dabei gilt es mit Friedhelm Neidhardt (2000: 15) zu fragen, ob der Konsensdimension nicht »eine überhöhte Bedeutung und dem Konsensbegriff eine übermäßig diffuser Inhalt zugerechnet wird. Was heißt Konsens?«
Konsensverständnisse und -dimensionen In der Fülle von Konsensverständnissen lassen sich insbesondere fünf Konzeptualisierungen unterscheiden:29 29
Für grundlegende Definitionen und Zugänge vgl. Graham (1984) und Massing (1994). Die Konsensbildung als normativem Prinzip in der Demokratie findet sich ausführlich vorgestellt und diskutiert bei Ndeke (2006).
1.1 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik 1.
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Die von Carl Schmitt normativ geprägte identitäre Demokratie basiert auf einem Konsens verstanden als kulturelle bzw. soziale Homogenität und knüpft an Rousseaus Konstruktion eines identifizierenden Gemeinwillens (volonté générale) an, der dem allgemeinen Interesse entspreche bzw. zu dessen Besten sei (vgl. Günther 2006: 23ff.; Petersen 1991). Konsens ist dabei eng an die Einheit einer »völkischen« Gemeinschaft und den Willen der Mehrheit gekoppelt und bildet gewissermaßen die Voraussetzung der Politik (vgl. Prätorius 1990). Die Konzeption eines solchen völkisch-identitären Homogenitätskonsenses gilt jedoch als einer modern-pluralistischen Gesellschaft nicht angemessen. Der von Ellwein angesprochene Konsens (vgl. Kap. 1.1.1.3) gründet vor allem auf der Zustimmung der Wählerschaft zum Programm und Handeln der Regierung (consent), weswegen Giovanni Sartori ihn auch als Wahlkonsens bezeichnet. Er ist mit dem Ziel des Machterhaltes eng verbunden. Regierungen in demokratisch-wettbewerbsorientierten Systemen können demnach als konsensgetragene Regierungen bezeichnet werden (vgl. Sartori 1997: 96). Vor diesem Hintergrund untersuchte bereits Rudolf Wildenmann (1963) das Konsensproblem für das politische System der Bundesrepublik. Er ging von der Überlegung aus, dass die Macht der Regierenden nur dann gegeben und legitim ist, wenn ihr ein breiter Konsens der Bevölkerung zugrunde liegt, wobei der Konsens auch durch Akte des Regierens (und damit der Machtausübung) erst geformt werden könne (vgl. Wildenmann 1963: 9). Problematisch wird er als »Autoritätskonsensus« dann, wenn bereits aus dem Vorgang der Stimmabgabe auf bedingungslose Übereinstimmung geschlossen wird (vgl. Lehmbruch 1969: 292). Andererseits ergibt sich eine Gratwanderung zwischen Responsivität und Progressivität: Das Regierungssystem zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass es potentiell zur Erneuerung auch jenseits reinem vote seeking (»Wahlkonsens«) fähig ist und sich seine Akteure durch ihre Vorreiterfunktion ausweisen können (vgl. Wildenmann 1963: 124). Dabei muss stets das »richtige« Maß an Responsivität hinsichtlich der Mehrheitsmeinung gewahrt werden (vgl. auch Brettschneider 1996; Helms 2005a: 12). Konsens auf der Regimeebene oder Verfahrenskonsens bezieht sich auf die Mittel und Prozeduren der Politik, die von all jenen Akteuren akzeptiert und beachtet werden müssen, die am demokratischen Prozess partizipieren. So hat etwa der Verfahrenskonsens im Sinne der Mehrheits-Konfliktlösungsregel als die »conditio sine qua non der Demokratie« zu gelten (Sartori 1997: 99). Lehmbruch (1969: 291ff.) spricht vom Fundamentalkonsensus als (konstitutionell verankerter) Übereinstimmung bezüglich der »Spielregeln« zur Konfliktlösung (vgl. auch Wildenmann 1963: 68ff.). In engem Bezug zum Grundgesetz kann dieser Konsens, verstanden als Loyalität bzw. »Anhänglichkeit« gegenüber den Werten, Inhalten und Verfahren der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, auch als »Verfassungspatriotismus« bezeichnet werden (Sternberger 1990, hier: 31). Der gesellschaftliche Grundkonsens umfasst die fundamentalen Werte, die das Überzeugungssystem der Gemeinschaft prägen (vgl. Sartori 1997: 98f.) und steht ebenfalls in engem Bezug zu konstitutioneller Loyalität. Daher wird der gesellschaftliche Grund- oder Basiskonsens von manchen Autoren nicht gesondert von dem vorstehenden Konsensverständnis über die Mittel und Wege der Konfliktlösung (Verfahrenskonsens) unterschieden: »Seine Funktion besteht […] in der Vereinbarung von Grundformen gesellschaftlicher Praxis mit den in einer Gesellschaft vorhandenen Wertorien-
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen tierungen, also mit gesellschaftlicher Kultur« (Neidhardt 2000: 20). In der Differenzierung bietet sich jedoch an, Verfahrenskonsens ausschließlich auf die demokratischen Prozesse der Politik und ihre Institutionen zu beschränken (also die politics- und polity-Dimensionen) und den gesellschaftlichen Grundkonsens stärker auf inhaltliche Dimensionen politischer Überzeugungen zu beziehen. Demnach hätte etwa das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft den Rang eines Basiskonsenses erreicht (vgl. ebd.: 23). Eine wichtige Dimension betrifft den Konsens auf der Programmebene. Beim Programmkonsens wird die Objektdimension von Konsens bzw. Dissens relevant. Im Gegensatz zu den stabilen Überzeugungen in Grund-, Fundamental- oder Basiskonsensen hat der Programmkonsens als Mittel bzw. Ziel des Regierens die in ständiger Beratung sich herausbildenden Inhalte von Politik zum Gegenstand, die Policies. Er kann daher als »demokratiebestimmendste« Form des Konsens gelten – oder, wie Sartori es ausgedrückt hat (1997: 100): Er stellt den »Konsens-als-Dissens« heraus. D.h., hinsichtlich programmatischer oder parteipolitischer Alternativen kann durchaus ein Dissens bestehen, solange zumindest eine Übereinkunft dahingehend erreichbar ist, dass ein politisches Problem besteht und dieses nach den Regeln des politischen Systems gelöst werden soll. Ein solches »Minimum an Problemkonsensus (issue consensus)« (Lehmbruch 1969: 291) oder »goal agreement« (Graham 1984: 112) gilt allgemein als funktionsnotwendig. Ob und ggf. wie ein vollständiger Programmkonsens bei dissentierenden Grundauffassungen im Einzelfall tatsächlich erreichbar ist, kann an dieser Stelle nicht vertieft werden. Jürgen Habermas geht in seiner »Konsenstheorie der Wahrheit« von der Chance zur Erreichung von Konsens über verallgemeinerungsfähige Normen und Geltungsansprüche mittels vernunft- und wissensgeleiteter, argumentativ geführter Diskurse aus (vgl. Habermas 1984: 159ff.). Doch die Ansprüche an diesen Konsens sind hoch: Wenn wir unter ›Konsensus‹ jede zufällig zustande gekommene Übereinstimmung verstehen würden, könnte er offensichtlich als Wahrheitskriterium nicht dienen. Deshalb ist die ›diskursive Einlösung‹ ein normativer Begriff; die Übereinstimmung, zu der wir in Diskursen gelangen können ist allgemein ein begründeter Konsensus. Dieser gilt als Wahrheitskriterium, aber der Sinn von Wahrheit ist nicht der Umstand, dass überhaupt ein Konsens erreicht wird, sondern: dass jederzeit und überall, falls wir nur in einen Diskurs eintreten, ein Konsens unter Bedingungen erreicht werden kann, die diesen als begründeten Konsensus ausweisen. (ebd.: 160)
Handlungsräume konsensualen Regierens Der Regierung obliegt es im Rahmen ihrer zentralen Führungsaufgabe, Konsens – wenn er nicht bereits klar ersichtlich besteht – als Grundvoraussetzung für ihr weiteres politisches Handeln zu schaffen. Aus den oben genannten Verständnissen wird bereits deutlich, dass es hierbei nicht speziell um eine einzelne Form des Konsenses handeln kann. Vielmehr kann man die genannten Spielarten als »Dimensionen eines komplexen Konsensusbegriffs ansehen, die sich […] zu einem Bündel von Indikatoren für Konsensus (im weitesten Sinne) zusammenfassen ließen.« (Lehmbruch 1969: 292f.). Ins Blickfeld rücken daher die Orte bzw. Handlungsräume, in denen die Regierung im Rahmen ihrer politischen Führungsfunktion für Zustimmung sorgen will. Dabei wird zwischen interner und externer Konsensorganisation unterschieden.
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Im internen Bereich bedeutet politische Führung nichts anderes, als Konsens- bzw. Kompromissmanagement: »den eigenen Haufen zusammenzuhalten« (SchuettWetschky 2004: 20). Dabei ist zunächst auf die hohen Konsenserfordernisse des Kabinettsprinzips zu verweisen (vgl. Kap. 1.1.1.2). Beteutend ist unter Berücksichtigung der Regelmäßigkeit von »Koalitionsregieren« in Deutschland die Abstimmung der an der Regierung beteiligten Parteien bzw. der sie tragenden Fraktionen (vgl. Fn. 13 sowie Kap. 1.1.3.2). Unmittelbares Ziel ist es, durch Kommunikation einen intrakoalitionären Konsens über die »Regierungslinie« herbeizuführen – Foren der Konsensfindung sind Koalitionsgremien oder informelle Absprachen zwischen Akteuren der gubernativen Führung (vgl. Rudzio 2005: 264). Im Verhältnis Regierung-Opposition sind die Einigungserfordernisse im Falle der Zustimmungsgesetzgebung besonders hoch (vgl. dazu bereits oben Kap. 1.1.2.2). Demgegenüber ist das Maß gemeinsam gestalteter und getragener Politik verschwindend gering, jedenfalls wenn man die formale Zusammenarbeit im Bundestag betrachtet (vgl. Kranenpohl 2001). Dies führt zu der Frage nach dem Vorhandensein von informalen Konsensen bzw. anderen Formen der Einigung, gerade wenn ein Politikfeld – wie die hier untersuchte Migrationspolitik – über viele Jahre rhetorisch mit hohem Konsensbedarf versehen wird.30 Konsensbildungsprobleme der Regierung, die auf Bereiche außerhalb des politischen Systems gerichtet sind, betreffen die »Gewinnung externer Unterstützung und der Überwindung externen Widerstandes in der Öffentlichkeit und unter den positiv oder negativ betroffenen Gruppen« (Scharpf 1974: 54). Auf die konsensbildende Funktion der Politikentwicklung in korporatistischen Netzwerken ist oben bereits eingegangen worden (vgl. Kap. 1.1.2.1). Ein »gesellschaftlicher Konsens« wird oftmals in der Unterstützung durch Kirchen und Verbände als Akteure gesellschaftlicher Interessenvermittlung verortet. Ein Konsens der allgemeinen Bevölkerung zu einer bestimmten Programmatik ließe sich allenfalls abstrakt über den Akt der elektoralen Bestätigung bzw. Abwahl dieser Regierung konzeptualisieren (»Wahlkonsens«, s.o.). Dabei wäre allerdings die Bestimmung eines qualifizierten Quorums nötig, um Konsens von der einfachen Mehrheitsregel zu unterscheiden. Zum zweiten könnte Konsens mittels demoskopischer Umfragen bestimmt werden. In der empirischen Forschung ist allerdings festgestellt worden, dass die von deutschen Regierungen betriebene Politik in der überwiegenden Zahl der Fälle den Präferenzen der Bevölkerung gerade nicht entsprach (vgl. Brooks 1990), d.h. gesellschaftlicher Konsens in Policy-Fragen eher die Ausnahme darstellt. Umgekehrt könnte die Abwesenheit von Konsens durch Massendemonstrationen oder andere kollektive Willensäußerungen als belegt gelten. Während die präskriptiven Bedingungen eines gesellschaftlichen Konsenses an dieser Stelle theoretisch nicht näher erörtert werden können, wird in der empirischen Fallbetrachtung darauf zurückzukommen sein: In der parlamentarischen Debatte über das rotgrüne Zuwanderungsgesetz avancierte das Vorliegen eines Konsenses in der Bevölke-
vgl. dazu insb. Kap. 2.2, passim. Beispielsweise forderte die SPD-Abgeordnete und Parlamentarische Staatssekretärin Cornelie Sonntag-Wolgast noch im Vorfeld der Debatte um das Zuwanderungsgesetz, Regelungen zur Zuwanderung sollten »im Konsens der Demokraten« entschieden werden (BT-Pl.Pr. 14/133 vom 16. November 2000: 12803D). Unmittelbar darauf sekundierte der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU: »Wenn es irgendein politisches Gebiet gibt, auf dem ein breiter gesellschaftlicher Konsens wichtig wäre, dann ist es der Bereich der Zuwanderungspolitik.« (ebd.: 12806A/B)
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen rung (bzw. »im Volk«) zu einer zwischen der Regierung und Opposition kontrovers diskutierten Frage (vgl. Kap. 3.4.2.1).
Konsensäquivalente: Konsens als Kompromiss und als Fiktion Wann nunmehr von einem Konsens gesprochen werden kann, bleibt also in hohem Maße von der Betrachtungsebene und den definitorischen Voraussetzungen für sein Vorhandensein abhängig (vgl. Graham 1984: 112). Im Hinblick auf gesellschaftlichen Policy-Konsens hat Friedhelm Neidhardt aus empirischen Ergebnissen geschlossen, dass die Akzeptanz einer politischen Maßnahme nicht unbedingt auch breite Zustimmung voraussetzt. Trotz großer, stets vorhandener Nachfrage nach Konsens seien Gesellschaften nur auf ein geringes Maß an Konsens tatsächlich angewiesen. Zugespitzt: »In Umkehrung einer bekannten politikwissenschaftlichen Beschreibungsformel könnte man folgern, dass sich funktionierende Demokratien zumindest auf der Ebene ihrer legislativen Praxis weitgehend als ›Dissensdemokratien‹ stabilisiert haben.« (Neidhardt 2000: 17). Somit geraten Konsensäquivalente in den Blick. Auf der Grundlage vorhandener Verfahrens- oder Fundamentalkonsense lässt sich Konsens »durch den bloßen Glauben an Konsens ersetzen […]. Der Dissens bleibt latent, solange der Gehalt abstrakter Konsensformeln nicht getestet werden muß.« (ebd.: 27; Herv.i.Orig.) Diesen Umstand macht sich Regierung durch die Propagierung konsensualen Regierens und der (Über-) Betonung von Übereinstimmungen zwischen unterschiedlichen Gruppen zunutze. Die durch strategisches oder taktisches Regierungshandeln herbeigeführte Fiktion eines echten Konsenses fungiert als dessen funktionales Äquivalent. Scheitern Akteure, die nicht Anhänger dieses reklamierten Konsenses sind oder die aus anderen Gründen ggf. diesen Anschein erwecken wollen (typischerweise die politische Opposition), dabei, die abstrakte Konsensformel kompetetiv zu testen, steigen die Chancen der Regierung, ihrem Policy-Programm zu gesellschaftlicher Akzeptanz zu verhelfen. Auch unter den politisch entscheidenden Akteuren selbst werden in den genannten Handlungsräumen selten explizite, vollinhaltliche Übereinstimmungen erreichbar sein. Zum einen fehlen die Vorkehrungen und zeitlichen Kapazitäten für erschöpfende argumentative Erörterungen, zum anderen spricht die Polarisierungslogik des Parteienwettbewerbs gegen ein hohes Maß an Konsens. Demgegenüber scheint die Bedeutung von Kompromissen als »Ergebnisse klugen Handelns und Verhandelns« (Habermas 1984: 173) wesentlich größer zu sein. Dies gilt insbesondere für Parteienkonflikte, und zwar sowohl unter Koalitionspartnern innerhalb der Regierung, als auch zwischen Regierung und Opposition. Hier ergeben sich Verhandlungsergebnisse, die umgangssprachlich und in der Außendarstellung oftmals als Konsens »verkauft« werden, tatsächlich aber Ausdrücke strukturierter kommunikativer Prozesse sind, die Klaus Günther (2006) systematisch als »kompromissförmiges Dissensmanagement« seitens politischer Führungsfiguren theoretisiert hat (vgl. Günther 2006: 290f.). In Abgrenzung zum Vernunftsanspruch, den die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns an konsensbildende Deliberationsprozesse anlegt, geht auch die Systemtheorie nicht von der zwingenden Notwendigkeit von Konsens für die Interessenintegration aus. Im Gegenteil: Die Hauptfunktion von Diskursen sei nicht die Herstellung von Konsens. So stellt Helmut Willke (1989: 138) fest, dass »Konsens – im Gegensatz zu Dis-
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sens – zwar positiv bewertet wird, aber in komplexen Interaktionsgefügen hartnäckig sich nicht einstellen will«. Seine Erreichung zwischen funktional differenzierten Systemen gilt aus systemtheoretischer Perspektive nämlich als unmöglich. Der reduzierte Anspruch systemischer Diskurse bestehe in der Generierung von Informationen, die verstanden und angeschlossen werden können, die also inhaltliche Differenzen präzise bezeichnen (vgl. ebd.: 137f.). Damit könnten Dissens- und Konsens-Konstellationen, die zwischen gesellschaftlichen Funktionsbereichen bestehen, durchschaut und ggf. mit »abgestimmter Optionenpolitik« bearbeitet werden, d.h. der Gestaltung von Kontextbedingungen, »welche die systemische Autonomie nicht verletzen, aber z.B. andere oder geringere negative Externalitäten produzieren« (ebd.: 139). Es lässt sich schließen: Die Differenzierungen zwischen Konsens, Kompromiss und gesellschaftlicher Konsensfiktion bleiben in der Regel implizit, wenn Regierende vom Konsens als Mittel oder Ziel reden – so wie der damalige Innenminister Otto Schily am Vorabend der Einsetzung der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«: In der Diskussion um eine gesetzliche Regelung über die Einwanderungspolitik müssten die »Konturen eines parteiübergreifenden und gesellschaftlichen Konsens« sichtbar werden.31 Die rhetorische Bemühung des Konsenses kann somit als genuiner Bestandteil der zentralen Aufgabe politischer Führung interpretiert werden, komplexe Teilkonsense, Konsensfiktionen und Kompromisse auf verschiedenen Ebenen zu organisieren.
1.1.3.2 Regierungstechnik: Informelle Steuerung und Koordination Mit welchen Mitteln und Techniken können nun die in Kap. 1.1.1 modellierten MetaAufgaben des Regierens – darunter Steuerung, Konfliktregelung, Information, Legitimations- und insbesondere Konsensbeschaffung – im konkreten Regierungsalltag erreicht werden? Die Regierung greift für das Policymaking zum einen auf die festgefügten Institutionen und formellen Verfahren des politischen Systems zurück, die »dem politischen Prozeß sein Flußbett« geben, wie Werner Patzelt schreibt. »Wie er tatsächlich verläuft, erschließt aber nur der Blick auf auch die nicht institutionalisierten Strukturen und auf die informellen Handlungsmuster praktischer Politik.« (Patzelt 2005: 252[sic!]) Daher gehören die rechtlich nicht fixierten Strukturen und Verhaltensweisen zum Kern politikwissenschaftlicher Analyse (vgl. Kastning 1991: 72). Als besonders bedeutsam ist dieser Aspekt im Bereich der Regierung einzuschätzen. In Anbetracht der oben genannten Beschränkungen (vgl. Kap. 1.1.2) muss sich geradezu ein informales Netz der Kommunikationen einrichten, in dem sich Richtlinienkompetenz und gubernative Führung quasi »verflüssigen«, um innerhalb dieses hochkomplexen Entscheidungsfeldes zur Geltung zu kommen (vgl. König, K. 1991: 205; Korte & Fröhlich 2004: 245). Dass besonders in Koalitionsregierungen die wichtigen Entscheidungen meist außerhalb der verfassungsrechtlich präjudizierten Wege vorbereitet bzw. gefällt werden, gehört zu den frühen Erkenntnissen der deutschen Koalitions- und Parlamentsforschung, in denen Informalität mittlerweile zu einer Schlüsselkategorie avanciert ist (vgl. Kropp 2003; Helms 2005; Rudzio 2005; Stüwe 2006). Angesichts von Politikverflechtung und Parteienwettbewerb wird die Informalisierung des Regierens als normaler Vorgang angesehen, »der sich aus situativen Anforderungen, spezifischen Akteurskonstellationen und Zwängen der 31
SZ vom 19. Mai 2000: 6.
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Legalordnung erklären lässt« (Czada 1999: 403) und dem eine »Schutzfunktion gegenüber der allgegenwärtigen Volatilität politischer Mehrheitsbildung und dem legitimen Opportunismus der Parteien zuzukommen scheint« (Manow 1996: 96). Aus staatsrechtlicher Sicht hat Helmut Schulze-Fielitz (1984) erstmals die Bedeutung informaler Verfahren in der Verfassungswirklichkeit beschrieben.32 Er subsummierte ganz unterschiedliche Phänomene der Politik als Prozesse der Entformalisierung, darunter insbesondere proporzorientierte Praktiken wie die »Parteipolitisierung« der Ministerialbürokratie, aber auch die informale Kooperation von Staat und Gesellschaft sowie Koalitions- und Parteivereinbarungen (Schulze-Fielitz 1984: 25ff.). Daneben hob er »parakonstitutionelle Entscheidungsgremien« wie Koalitionsrunden, Konzertierte Aktionen und Sachverständigenräte hervor (vgl. dazu Kap. 1.2.4.3 und 1.2.4.4). Während rechtswissenschaftliche Theorieansätze von einer klar trennbaren Gegenüberstellung formaler und informaler Handlungspraxen ausgehen und letztere aus normativer Perspektive in der Regel negativ belegen (vgl. dazu Mayntz 1998: 57; Puhl 2005; Schulze-Fielitz 1984: 134ff.), analysiert die Politikwissenschaft das Phänomen weniger kontrastreich als eine Art Kontinuum (vgl. Helms 2005: 73) und versucht insbesondere die Interdependenzen und Übergänge herauszuarbeiten sowie Kausal- und Funktionszusammenhänge zwischen formalem und informalem Regierungshandeln zu eludizieren. Informalität ist in diesem Zusammenhang als eine funktionale, zweite Handlungsebene beschrieben worden, die die formale ergänzt (vgl. Wewer 1991: 25). Unter Informalität des Regierungshandelns kann im Sinne einer allgemeinen und breiten Definition die Gesamtheit all jener von der Regierung betriebenen Koordinations- und Entscheidungsvorbereitungsprozesse verstanden werden, die jenseits der etablierten Verfahren und Regelhaftigkeiten ablaufen und/oder die auf die Überbrückung formal existierender Distanzen zwischen der Regierung und anderen Akteuren oder im Binnenverhältnis der Regierung zielen (vgl. Helms 2005: 74; Mayntz 1998: 59). Als Regierungs-»Technik« kann Informalität insbesondere dann bezeichnet werden, wenn auf der Grundlage von Steuerungsabsichten der zentralen Akteure der politischen Exekutive (Gubernative) Kommunikations- und Entscheidungssituationen jenseits der vorgesehenen institutionalisierten Verfahren bewusst und intentional herbeigeführt werden. Informelle Kommunikationsprozesse, Koordinationsgremien und Entscheidungsverfahren sind jedoch z.T. durch Habitualisierung und Standardisierung soweit »geregelt« und strukturiert, dass man von einer Formalisierung des Informalen sprechen kann (vgl. Helms 2005: 79, 81; Kropp 2003: 25; Mayntz 1998: 63; Rudzio 2005: 226f.).
Koordination im Innern Grundlegend lassen sich informale Prozesse im innerstaatlichen Bereich von jenen im staatlich-gesellschaftlichen Bereich unterscheiden. Die informalen Entscheidungsstrukturen im 32
Schulze-Fielitz (1984: 16) regte an, klar zwischen formal/informal und formell/informell zu unterscheiden; die Begriffe seien nicht identisch: »Alles ›Informelle‹ ist definitionsgemäß (also i.S. von ›formell nicht vorgesehen‹) auch informal – aber das gilt nicht umgekehrt. Eine Konferenz der Ministerpräsidenten der Länder ist ein hochoffizielles, einverständliches, formelles Treffen – Existenz und Verfahrensweise sind gleichwohl rechtlich ungeregelt (und deshalb informal).« In der aktuellen politikwissenschaftlichen Literatur werden die Begriffe synonym verwendet (vgl. Helms 2005: 72, Fn. 7; Rudzio 2005: 11). Auch in dieser Arbeit wird eine alternierende Sprache gewählt. Nähere Erläuterungen zu Begrifflichkeit und Bedeutung finden sich bei Kastning (1991).
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Regierungszentrum sind natürgemäß schwer darstellbar. Gleichsam sind sie für das Funktionieren der Gubernative ganz offensichtlich unerlässlich. Zu nennen sind hier primär die persönlichen Gesprächskontakte zwischen Exekutivpolitikern, die jenseits von Kabinettssitzungen zahlreich stattfinden und der Verständigung über Vorgehensweisen in unterschiedlichsten Fragen dienen (vgl. Merz 2001: 65f.). Aufgrund seiner Richtlinienkompetenz, die letztlich in alle Bereiche wirkt, kommt dem Bundeskanzler im Verhältnis zu seinen Ressortministern bzw. dem engsten Führungsstab im Kanzleramt eine gestaltende Rolle zu. Für diese Gesprächskontakte, denen zwar Vorgaben der Geschäftsordnung zugrunde liegen (vgl. insb. §§ 17 und 18 GO-BReg.), ist Informalität in hohem Maße kennzeichnend. Bezüglich des Zusammenspiels von politischer Exekutive und den sie tragenden Fraktionen hat bereits Theodor Eschenburg die Teilnahme von Fraktionsvertretern an Kabinettssitzungen als informelles Mittel der Kontrolle bzw. der Integration beschrieben, die seinerzeit insbesondere durch die Ernennung von Ministern ohne Geschäftsbereich bzw. für besondere Aufgaben legalisiert worden sei. In Zeiten einer starken Rolle von Bundeskanzler und Kabinett sah er dies als unproblematisch an, da die Regierung zum »Führungsausschuß der Koalition und zu einer Art Vorparlament« werde (Eschenburg 1954: 201). Innerhalb der Parlamentarismusforschung wurden – ausgehend von den Möglichkeiten der parlamentarischen Kontrolle der Bundesregierung (vgl. Stadler 1984; Steffani 1989) und damit aus quasi umgekehrter Perspektive – Ausmaß und Einflussstrukturen der informalen Mitsteuerung durch die Abgeordneten des Deutschen Bundestages betont (vgl. Schwarzmeier 2001). Aufsehen erregte jedoch insbesondere die in der Regierungszeit Helmut Kohls beschriebene »Informalisierung durch Parteipolitisierung«, bei der eine Verlagerung der Dezisionsmacht weg von den formal und verfassungsmäßig zuständigen legislativen und exekutiven Entscheidungsträgern (Ressort, Kabinett und Parlament bzw. seine Ausschüsse), hin zu informalen Verhandlungsgremien unter Beteiligung von Repräsentanten der Regierungsparteien diagnostiziert wurde. »Koalitionsrunden« oder »Koalitionsgespräche« seien »zum wichtigsten informellen Beratungs- und Entscheidungsorgan in politisch-administrativen Entscheidungsfragen geworden« (Schreckenberger 1994: 339f.) und hätten »die feinen Regelungen des Artikels 65 GG bis zur Unkenntlichkeit überlager[t]« (Hennis 1998: 162). Die Einsetzung von »Koalitionsarbeitsgruppen« durch interne Absprachen markiere eine »standard operating procedure« und damit die Etablierung eines parallelen informellen Instanzenzuges bei der Vorbereitung wichtiger Gesetzesvorhaben, durch den sowohl Ressorts als auch Kabinettsausschüsse und interministerielle Ausschüsse an Bedeutung und Einfluss verlören (Manow 1996: 102f.). Während diese informellen, parteipolitisch dominierten Runden als de facto-Entscheidende unter normativ-verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten abgelehnt und als funktional nicht zwangsläufig geboten beurteilt werden, haben andere Autoren aus stärker funktionsanalytischer Perspektive auf deren stabilisierende Funktion hingewiesen (vgl. z.B. Manow 1996; Schuett-Wetschky 2002). Da »der Bundeskanzler und einige politisch herausragende Minister, die Vorsitzenden der Regierungsfraktionen und gewöhnlich ihre Ersten Parlamentarischen Geschäftsführer, die Vorsitzenden der Koalitionsparteien und zeitweilig auch deren Generalsekretäre; zu einzelnen Fragen […] engagierte Abgeordnete und betroffene Minister« teilnehmen, erlangen die dort gefundenen Einigungen einen hohen Grad an faktischer Verbindlichkeit: »Kabinett und Koalitionsfraktionen pflegen ihnen zu folgen.« (Rudzio 2005: 264; 2003: 283ff.). Von besonderer Bedeutung für einen funktionierenden und am Ende von allen Beteiligten akzeptierten informellen Koordinationsprozess sind die so
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genannten »Grenzstellenakteure« (Kropp 2003: 23), die an der Spitze der Fraktionen über einen »guten Draht« in die Gubernative verfügen und gleichsam das Vertrauen der Fachpolitiker der Koalitionsfraktionen und der eigenen Parteiführung genießen.
Steuerung nach außen Zu den Regierungstechniken im innerstaatlichen Bereich, die jedoch das Außenverhältnis der Regierung gegenüber der Opposition bzw. anderen konditionalen Spielern im föderalen System betreffen, gehören informelle Verhandlungsprozesse im Hinblick auf die Gesetzgebung. Die Notwendigkeit dafür ergibt sich zum einem aus den Zustimmungserfordernissen des Bundesrates bei der Gesetzgebung (Art. 77 GG, vgl. Kap. 1.1.2.2), zum anderen aus den qualifizierten Mehrheitserfordernissen bei Grundgesetzänderungen (Art. 79 GG; vgl. das Beispiel in Kap. 2.3.4). Charakteristisch für diese Verhandlungen ist, dass sie außerhalb der Institutionen Bundestag, Bundesrat und Vermittlungsausschuss stattfinden. Ziel der Regierung ist hier eine ihren ursprünglichen Vorstellungen möglichst konforme Verabschiedung des jeweiligen Gesetzes infolge eines Transfers der informellen Abkommen in die formal institutionalisierten Entscheidungsprozesse. Mittel der Prozesssteuerung sind Tauschangebote oder das Setzen von Anreizen (incentives). Besonders hier gilt: Informales Regieren setzt Gegenseitigkeit voraus. »Wer nichts zu bieten oder zu tauschen hat, ist ohne Chance« (Wewer 1991: 25). Als politische Beratungsprozesse ähneln informale Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition im Vorfeld von Gesetzgebungsprozessen strukturell dem Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat. Auf ihre Charakteristika in punkto demokratische Gremien- und Beratungstruktur wird unten in Kap. 1.2.4 noch gesondert eingegangen.
Informale Kooperation zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen Schließlich subsummiert die Informalisierungforschung auch das Verhältnis zwischen der Regierung und privaten Akteuren unter ihre Gegenstände, sofern die in diesem Verhältnis stattfindenden Kommunikationen und Entscheidungen nicht durch Recht in institutionalisierten Formen geregelt sind (vgl. Helms 2005: 77f.). Die theoretischen Grundlagen des kooperativen Staates sowie demokratietheoretische Bedenken gegen Politikentwicklung in Netzwerken sind weiter oben bereits dargestellt worden (vgl. Kap. 1.1.2.1). Diese Bedenken korrespondieren mit einem rechtswissenschaftlichen Diskurs, in dem verfassungsdogmatische Vorbehalte gegenüber Informalisierungstendenzen angemeldet werden. Da sich ein wesentlicher Teil dieses Diskurses aus dem Wirken von regierungsseitigen Beratungsgremien speist, wird an anderer Stelle näher darauf eingegangen (vgl. Kap. 1.2.4 und 1.2.5). Gleichsam als Ausblick wie als Antipode zur verfassungsrechtlich allzu dogmatischen Kritik an informeller, aber funktionell-effizienter Koordinierungspraxis in den Innen- und Außenbeziehungen der Regierung sei jedoch an dieser Stelle Renate Mayntz’ allegorische Anmerkung zitiert, mit der sie auf progressive Potenziale von Informalität für die Entwicklungsmöglichkeiten des politischen Systems aufmerksam macht: Beim Recht ist es so, dass Verletzungen einer Norm bis zu einem bestimmten Grade die Normgeltung nicht tangieren. Wenn jedoch das abweichende Verhalten de facto zur neuen informalen Norm geworden ist, so
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dass die Durchsetzung der als überholt empfundenen alten Vorschrift als unangemessen empfunden wird, dann kann das informal institutionalisierte neue Verhaltensmuster der erste Schritt zu einem Normwandel auch auf der Ebene formaler Rechtsnormen sein. Informalität könnte insofern die Quelle rechtlicher Innovation sein – immer vorausgesetzt, dass das informale Gremium oder Verfahren von Beteiligten und Betroffenen für nützlich gehalten wird. (Mayntz 1998: 64)
1.1.4 Regieren und Konsens in der Bundesrepublik: Zusammenfassung Diagnosen von der »Unregierbarkeit« oder »Semisouveränität« spielen deutlich auf die Grenzen der Politikgestaltung durch die Regierung an. Die Verflechtungen der Institutionen und die systemimmanenten Gegengewichte (»Veto-Spieler«) erschweren die Möglichkeit abrupter politischer Richtungswechsel (vgl. Wewer 1999). Wie aktives Regieren im Sinne der Sicherung von Handlungs-, Steuerungs- bzw. Machtsicherungskompetenz unter den genannten Einschränkungen dennoch möglich bleibt und politische Akzente durch progressive Programme in einzelnen Politikfeldern gesetzt werden können, ist daher ein zentrales Problem der Regierenden, insbesondere der politischen Führung (Gubernative). Die Regierungsaufgaben und -funktionen lassen sich grundsätzlich in einem Modell darstellen, das über drei Dimensionen verfügt (vgl. Kap. 1.1.1.4): Die erste Dimension betrifft das konkrete Entscheidungshandeln auf verschiedenen Ebenen wie Organisation, Personal, Haushalt und einzelnen Politikfeldern. Die zweite Dimension umfasst die Meta-Prozesse des Policymaking wie Koordination, Konfliktregelung und Konsensbeschaffung. Die dritte Dimension umfasst die praktisch-funktionalen Mittel und Instrumente des Regierens. Strategisch geht es für gubernative Akteure darum, einen antizipierten oder erfolgten Verlust an Handlungsautonomie durch den Gewinn »neuer« Autonomiepotentiale beim Regieren zu kompensieren, wobei insbesondere Aspekte innerhalb der zweiten und dritten Dimension relevant sind. Dabei lässt sich festhalten, dass der Organisation von Konsens als Meta-Funktion des Regierens und zur Herstellung von Legitimität besondere Relevanz zukommt. Eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst die Organisation eines Policy-Konsenses bzw. dessen Fiktion. Zur Koordination und Organisation von Konsens bedient sich die Regierung verbreitet informeller Verfahren und Prozesse. Gerade im regierungsinternen Bereich der Koalition, d.h. zwischen Gubernative und Mehrheitsfraktionen, bestehen informelle Gremien quasi ständig und sind zum faktischen Entscheidungszentrum geworden (vgl. Rudzio 2005: 12). Strebt die Gubernative eine Reform oder ein bestimmtes Policy-Programm an, so ergibt sich eine komplexe Steuerungs- und Koordinierungsaufgabe, die sich nie ausschließlich auf bestimmte Schritte des Entscheidens im politischen Prozess beschränkt, sondern stets die gesamte Policy-Arena33 koordinierend im Blick haben und sich dabei gerade auch informaler Techniken bedienen können muss. Modernes Regieren stellt sich dar als multipolares, hochkomplexes und kontingentes Interdependenz- und Chancenmanagement, das aus normativer Perspektive verschiedenen Maßstäben genügen muss. Dazu gehören 33
Der Begriff der Policy-Arena ist umfassender als der des Policy-Netzwerks und zielt auf den gesamten Prozess des Politikmanagements. Zu den Bestimmungsfaktoren gehören die Konflikt- und Konsensdeterminanten bei der Politikformulierung bzw. -implementation, die wechselseitige Antizipation von Handlungen und Reaktionen der Akteure sowie assoziierte Steuerungsstrategien (vgl. Windhoff-Héritier 1987: 43ff.). Das Akteurspektrum ist breit: »Arenas thus include legislatures, executives, and courts, but also regulatory agencies, semipublic bodies, and specialized committees of experts or professionals« (Timmermans 2001: 312). Innerhalb einer Policy-Arena können einzelne Sub-Arenen differenziert werden (vgl. ebd.: 315; Korte & Fröhlich 2004: 223f.).
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Glaubwürdigkeit und Authentizität, Transparenz und Verantwortung, Partizipation und Repräsentation und nicht zuletzt Effektivität und Effizienz (vgl. Korte & Fröhlich 2004: 339). Im Zusammenhang mit der Schaffung von Akzeptanz, Beteiligung und Konsens – mithin auch bei der Wahrung bzw. beim Ausbau demokratischer Prinzipien – muss neben den in diesem Kapitel beschriebenen formalen und informalen Verhandlungsarrangements ein weiterer Aspekt hervorgehoben werden: Die Einbringung und Nutzung von Expertise und Information im Regierungsprozess, von Guy Peters (1996) als »substance of policy« bezeichnet. Aus der Perspektive der wissenschaftlichen Politikberatung markiert wissensbasierte Rationalität eine wichtige Legitimationsquelle für politisches Handeln. Der Umgang und die Nutzung von Wissen ist daher ein essenzieller Bestandteil des Regierens, wobei diese informationelle Seite des Regierens lange als vernachlässigt galt (vgl. Lenk 1994: 41). Ihre theoretischen Bezüge und empirischen Gegenstände werden im nachfolgenden Abschnitt dargestellt. 1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen Nach einer Hinleitung zur aktuellen Debatte um die Politikberatung werden in diesem Kapitel zunächst ihre Grundlagen sowie allgemeine Ansprüche an ihr Wirken rekapituliert. Es folgen einige theoretische Bezugspunkte sowie wie die Entwicklung eines erweiterten Begriffsverständnisses von Politikberatung als konzeptuelle Grundlage für den Beratungsprozess einer Regierungskommission, wobei auch der Begriff des Beratungsregimes vorgeschlagen und begründet wird. Anschließend wird die unmittelbar dem Regierungssystem der Bundesrepublik zuzuordnende Politikberatung verortet und propädeutisch bewertet.
1.2.1 Renaissance der Politikberatung, Konjunktur ihrer Erforschung? Politikberatung scheint (wieder) en vogue. Verschiedene Formen der Konsultation über politische Fragen im weitesten Sinne sind in den letzten Jahren Gegenstand öffentlicher Debatten geworden und seit dem Umzug in die Hauptstadt wird Deutschland als »Berliner Räterepublik« paraphrasiert (vgl. Heinze 2002, 2004). Neben der Rolle politikvorbereitender Kommissionen auf Seiten der Regierung haben insbesondere privatwirtschaftliche Beratungsformen durch Consulting-Firmen an Bedeutung gewonnen: »wissenschaftliche Projektmacher, die hochgefragten Cagliostros der wissenschaftlichen Politikberatung […] haben Hochkonjunktur« (Hennis 2004: 328f.). Besonders haben jedoch damit verbundene Fehleinschätzungen, Skandale bzw. Belastungen öffentlicher Haushalte für Aufsehen gesorgt (vgl. z.B. Leif 2006; Siefken 2003a). Ferner ist seit dem erfolgreichen Bundestagswahlkampf der SPD 1998 die Kampagnen- und PR-Beratung in aller Munde (vgl. Althaus 2001). Neben Kommissionen, Sachverständigenräten und Beratungsagenturen scheinen sich in Deutschland außerdem verstärkt individualisierte Beratungssituationen durchzusetzen, wie sie im angloamerikanischen Raum verbreitet sind. Neben Image- und Strategieberatern wird insbesondere das Phänomen der Ein-Mann-Think-Tanks beobachtet – Wissenschaftler,
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
75
die in wichtigen Politikfeldern über längere Zeiträume als unmittelbare Berater von Verfassungsorganen dienen.34
Gegenstände der Forschung Aus politik- und sozialwissenschaftlicher Perspektive standen bisher meist die Komplexitäten des Wissenstransfers bei der Politikberatung im Mittelpunkt des Interesses: Bereits Ende der 1970er Jahre wurde ein »überschwellender Publikationsausstoß« zum Thema Wissenschaft und Politik registriert (vgl. Prätorius 1979: 7) und erst kürzlich beklagte Renate Mayntz, immer wieder stünden bestimmte Themen wie die Kommunikationsprobleme zwischen Politikern und Wissenschaftlern im Vordergrund einer »inzwischen hoch redundanten sozialwissenschaftlichen Diskussion über die Politikberatung« (Mayntz 2006: 115).35 Während Thunert hinsichtlich verfügbarer Standardwerke zur Bedeutung von Politikberatung in Deutschland noch 1999 ein Desiderat feststellte (vgl. Thunert 1999: 225, Fn. 5), hat sich der Bestand an wissenschaftlicher Literatur zum Thema Politikberatung insbesondere zu Beginn des neuen Jahrtausends vervielfacht (vgl. z.B. Bröchler & Schützeichel 2008; Dagger, Greiner & Leinert 2004; Falk, Rehfeld, Römmele u.a. 2006; Heidelberger Akademie 2006; Jens & Romahn 2002, 2005; Leschke & Pies 2005). Impulse zur Konzertierung der politikwissenschaftlichen Forschungsbemühungen sind nicht zuletzt auch von einer Ende 2003 gegründeten Ad-hoc-Gruppe Politikberatung innerhalb der DVPW und der 2008 lancierten Zeitschrift für Politikberatung zu erwarten.36 Inhaltlich gilt der Bereich der Politikberatung als kaum zu überschauen und einzugrenzen. Grundlegend ist die Unterscheidung von drei Ebenen der Politikberatung: Beratung der materiellen Politik (policy advice), kommunikativ-strategische Beratung im politischen Prozess (political consulting) und Konsultation bei der institutionellen Gestaltung von Gemeinwesen (Polity-Beratung), wobei die letzte Ebene einen eher untergeordneten Bereich darstellt (vgl. Falk, Rehfeld, Römmele u.a. 2006a: 15; Thunert 2004: 392). Es bietet sich an, die beiden Hauptformen, die Policy-Beratung und das political consulting, schlicht als Politikberatung und Politikerberatung zu bezeichnen (vgl. z.B. Müller 2006: 92).37 Die Politikerberatung als persönliche Image- und Handlungsberatung steht nicht im
34
vgl. beispielhaft die Zeitungs-Portraits solcher »Hofberater«: »Die Mächtigen schlau machen«, Die Zeit Nr. 28 vom 5. Juli 2001: 6; »Der Ausputzer«, Die Zeit Nr. 47 vom 14. November 2002: 6; »Pragmatiker ja, gnadenlos nein«, HB vom 18. November 2002; »Im Vorzimmer der Macht«, SZ vom 13. Juli 2002: 22; »Der Ein-MannThink Tank«, Die Zeit Nr. 45 vom 30. Oktober 2003: 28; »Krönung einer Beraterlaufbahn«, FAZ vom 4. Januar 2005: 14; »Rat im Spagat«, Die Zeit vom 7. Juli 2005: 32. Zur historischen Rolle der »Fürstenratgeber« vgl. Fisch (2004), Böhret (1997, 2004). 35 Zur Wissensvermittlung in der Zuwanderungspolitik vgl. Boswell (2005, 2009) und Timmermans & Scholten (2006). 36 vgl. http://www.politikberatung-dvpw.de (21.07.2009), http://www.zpb-digital.de (21.07.2009) sowie Falk, Rehfeld, Römmele u.a. (2006). 37 Letztere Form wird auch als Coaching bezeichnet (Böhret 1997: 87f.). Innerhalb der wirtschaftspolitischen Beratungsforschung wird diese Unterscheidung in anderem Zusammenhang benutzt: Mit Politikerberatung wird analog dem dezisionistischen Modell (vgl. Kap. 1.2.2) die herkömmliche Form der Bereitstellung von wissenschaftlich-ökonomischer Expertise für entscheidende Politiker verstanden, während Politikberatung als aufklärerisch-informierende Beratung der Öffentlichkeit verstanden wird (vgl. Cassel 2001: 5, 116ff.).
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Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen.38 Vielmehr geht es um den Policy-Bezug der Politikberatung, auch wenn Politics-Aspekte darin fast immer eine wichtige Nebenrolle spielen. Eine Polity-Funktion der Beratung wird stets dann implizit vorzufinden sein, wenn ein Beratungsprozess auch institutionelle Strukturen des Politikfeldes zu seinem Gegenstand hat. Praktische Forschungarbeiten im Bereich Politikberatung fokussieren häufig auf einzelne Politikfelder und untersuchen Beratungsprozesse, Institutionalisierungsformen oder Fragen der Implementation von Beratungsinhalten. Da sich auch in den Geschichtswissenschaften als quasi eigener Strang eine historische Politikberatungs- und Expertiseforschung herausgebildet hat (vgl. Engstrom u.a. 2005; Fisch & Rudloff 2004), nehmen einige Beiträge auch längere zurückliegende Zeiträume der »Beratungshistorie« innerhalb eines Politikfeldes in den Blick (vgl. etwa Hascher 2006) – ein Ansatz, dem auch in dieser Studie vermittels der Aufarbeitung migrationspolitischer Beratungsprozesse seit Gründung der Bundesrepublik in Kapitel 2 gefolgt wird.
Ansprüche an Politikberatung Im Zeitalter rascher technologischer Entwicklungen und Risiken in der Wissensgesellschaft gilt der über Politikberatung vermittelte Experten-Sachverstand als eine der wichtigsten Legitimationsquellen für staatliches Handeln (vgl. allg. Colling & Horstmann 2004), ist gleichzeitig aber auch stets eine (potenzielle) Bedrohung politischer Legitimität, da es im parlamentarischen System zu Intransparenzen im Verhältnis von Verantwortung und Zuständigkeit führen kann (vgl. Greiffenhagen 1997: 163, 166). Damit wird der Komplex Politikberatung auch für demokratisches Regieren relevant. Aus herkömmlicher Perspektive versteht man unter Politikberatung im weiten Sinne »das Verfügbarmachen von Informationen und Handlungsempfehlungen für politisch Handelnde und Entscheidende durch Wissenschaftler (wissenschaftliche Politikberatung) sowie durch Fachleute aus Wirtschaft und Gesellschaft« (Wollmann 2001: 376). Mit Blick auf ihren grundsätzlichen Sinn und Zweck wird der wissenschaftlichen Politikberatung einerseits eine subsidiär-ergänzende Funktion zum Auffüllen institutioneller Schwachstellen des politischen Systems zugeschrieben, gleichzeitig darin aber auch eine permanente strukturelle Ergänzung dieses politisch-administrativen Systems erkannt (vgl. Ritter 1982: 460). In diesem Sinne wird sie zu einer konstitutiven Komponente von Staat, wobei die Verfassungslehre grundsätzlich von einer Art Dienstleistungsfunktion ausgeht, mittels derer staatliche Aufgabenwahrnehmung im Hinblick auf rational »richtige« Entscheidungen verbessert werden kann (vgl. Brohm 1987, Voßkuhle 2005). Ortwin Renn (1999: 537f.) nennt drei Faktoren, die zumindest bis zu einem gewissen Grad erfüllt sein müssten, um Politikberatung für das politische System fruchtbar werden zu lassen. Dazu gehört die Fähigkeit innerhalb eines Beratungsgremiums Konsens oder zumindest einen Konsens über den Dissens über konkurrierende Wissensansprüche zu erreichen; 38
Hier hat sich ebenfalls ein stetig wachsender Literaturkorpus herausgebildet, der allerdings weniger auf wissenschaftliche Forschung als vielmehr auf praxisorientierte Darstellungen der »Beraterbranche« selbst zurückgeht (vgl. etwa die Bände von Althaus & Meier 2004; Busch-Janser, Gerding & Voigt 2005).
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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die Ergebnisse in eine Form zu fassen, die sie an die Erwartungen und strukturellen Anforderungen der politischen Auftraggeber anschlußfähig macht; dem Beratungsprozess bzw. den Empfehlungen dadurch Legitimität zu verschaffen, dass sie für Außenstehende nachvollziehbar werden und gerechtfertigt erscheinen. Im grundgesetzlichen Verständnis kann Politikberatung dann als demokratisch legitim angesehen werden, wenn die zentralen Prinzipien Gewaltenteilung, demokratische Wahlentscheidung, Volksherrschaft, Mehrheitsprinzip sowie freie Meinungsäußerung dadurch nicht negativ beeinträchtigt werden (vgl. Jens 2006). Mit Glaab und Metz (2006) muss hinsichtlich der demokratischen Legitimität der Beratung besonders auf Öffentlichkeit als der legitimierende Faktor solcherart verfassungskonformer Beratung hingewiesen werden. Nicht immer ist diese in ausreichendem Maße gegeben; die öffentlichkeitsbezogenen Defizite lassen sich differenzieren nach Transparenzproblemen, d.h. mangelnder Durchsichtigkeit für Parlament, Medien und Öffentlichkeit, sowie Publizitätsproblemen, d.h die fehlende Verpflichtung der politischen Institutionen zur Veröffentlichung von Beratungsergebnissen (vgl. Kevenhörster 2003: 485). Zusätzlich ergibt sich das Pluralitätsproblem, d.h. die mangelnde Vielfalt von Erkenntnisperspektiven und Beratungsinteressen im Konsultationsprozess (ebd.; vgl. auch Krevert 1993: 276ff.; Voßkuhle 2005: 466-474). Allerdings kann die Öffentlichkeit von Beratungsprozessen eine negative Kehrseite haben, etwa wenn dadurch effiziente Politik behindert wird (vgl. Glaab & Metz 2006: 169). Ihre Existenzberechtigung kann Politikberatung nur wahren, wenn sie »etwas bringt«, ihre Inhalte gemeinwohlfördernd umgesetzt werden oder Politik zumindest teilweise daran anschließen kann (vgl. Eichhorst & Wintermann 2003: 165). Demokratische Politikberatung impliziert also eine doppelte Legitimitätsanforderung, die sich ähnlich wie das Regieren auf eine Input- und eine Output-Dimension zuspitzen lässt. Zusätzlich zum Effizienzinteresse stehen auf Seiten der Regierung oder der beauftragenden Stelle möglicherweise weitere funktionale Ziele (vgl. Kap. 1.2.5).
1.2.2 Politikberatung: Modelle und Konzeptualisierungen Bis in die 1970er Jahre hinein beschränkte sich das Verständnis von Politikberatung nahezu ausschließlich auf die Interaktion von Wissenschaft und Politik, genauer gesagt: Regierungspolitik. Wissenschaftliche Expertengremien interagierten in erster Linie mit Ministerien; Parlament und Öffentlichkeit wurden allenfalls peripher als Rezipienten angesprochen. Daher rührt ein Verständnis, nach dem Politikberatung in Deutschland auch heute noch »primär eine dienende Rolle« hat (Mayntz 2006: 121). Auf der Grundlage des quasi Politikberatungsmonopols der Exekutive entwickelten sich vorrangig zwei abstrakte Modelle zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik, deren Vorzüge und Nachteile in den 1960er Jahren ihren Ausgang in einer intensiven Theoriediskussion und der Proklamation eines neuen Beratungsparadigmas durch Jürgen Habermas sowie dessen kritischer Weiterentwicklung durch Klaus Lompe nahmen. Auch wenn diesbezüglich Rainer Prätorius bereits 1979 von einer idealistischen, »durch zahlreiche Adepten bis zum Überdruß wiedergekäute[n] Unterscheidung« sprach (Prätorius 1979: 10), soll hier auf diese drei Modelle der Politikberatung – das dezisionistische, das technokratische sowie das pragmatistische –
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
knapp eingegangen werden.39 Ihre Grundaxiome scheinen für das Verständnis der Einbringung von Expertise in den politischen Prozess weiterhin hilfreich und lassen sich auch auf aktuell proklamierte Leitbilder und Formen der Politikberatung anwenden (vgl. Bröchler 2004; Brown, Lentsch & Weingart 2006: 51ff., 90f.). Darüber hinaus leisten sie vor allem eines: Sie erlauben Rückbezüge von der empirisch beobachtbaren Beratungspraxis auf normativ geleitete Anforderungen an Regieren, wie sie in Kapitel 1.1 dargestellt wurden.
Dezisionismus In Rekurs auf die Rationalisierungs- und Bürokratisierungstheorien Max Webers geht das dezisionistische Modell wissenschaftlicher Beratung von einer strikten Trennung des Sachverständigen vom Politiker (und damit vom politischen Prozess) aus. Politische Werte und Entscheidungskriterien bleiben außerhalb der Sphäre des Beraters. Dieser erfährt von der Politik lediglich Ziele und Vorgaben der Arbeit – seinen Beratungsauftrag – und liefert gewissermaßen die Steilvorlage zur positiven oder negativen Entscheidung. In zugespitzter Weise lässt sich dieses Modell verdeutlichen am Beispiel der Aussage des damaligen Bundesumweltministers Walter Wallmann, der im Jahre 1986 zwei eingeholte wissenschaftliche Stellungnahmen zum Ausstieg aus der Kernenergie mit den Worten kommentierte: »Die Gutachten ändern nichts an unserer Politik. Die friedliche Nutzung der Kernenergie ist in vollem Maße verantwortbar« (zit. n. Rausch 1988: 441). Politischen Dezisionen bleiben vom Rat der Experten zwar nicht notwendig unberührt, aber grundsätzlich unabhängig. Die Inkompatibilität der Bezugssysteme von Wissenschaft und Politik (Macht und Machterhalt vs. Wahrheit und Wissen) bzw. die Schwierigkeit der »Übersetzung« praktisch-politischer Fragen in wissenschaftliche Aufgaben und zurück gilt daher als kardinale Problematik der Politikberatung (vgl. Weingart 2006: 36; Habermas 1964).
Technokratie Im technokratischen Modell hingegen scheint sich das Abhängigkeitsverhältnis des Fachmannes vom Politiker umgekehrt zu haben. Letzterer vollzieht allenfalls das, was die Sachzwänge der Technik und des Fortschritts via wissenschaftliche Intelligenz erfordern (vgl. Habermas 1964: 414). Wissenschaft zeichnet also im Sinne eines Determinismus vor, was die Politik weitgehend alternativlos zu entscheiden haben wird: den »best one way«. Das Modell basiert auf dem Technokratie-Verständnis Helmut Schelsky’s, der demokratische Herrschaftsverhältnisse zusehens von einem Regnum der Sachgesetzlichkeiten in einem »technischen Staat« überlagert sah (vgl. Schelsky 1965: 453ff.). Vom Menschen selbst produziert, trete diese an die Stelle eines politischen Entscheidungsfindungsprozesses: »Politik im Sinne der normativen Willensbildung fällt aus diesem Raume eigentlich prinzipiell aus, sie sinkt auf den Rang eines Hilfsmittels für Unvollkommenheiten des ›technischen Staates‹ herab.« (ebd.: 456) So entstand gerade während der sozialreformerischwissenschaftlichen Planungseuphorie ab Mitte der 60er Jahre, als innerhalb des politischen 39
Umfassendere Diskussionen der verschiedenen Modelle und ihrer wissenschaftstheoretischen Bezüge finden sich bei Böhret (1967), Dietzel (1978: 236ff.), Hampel (1991: 112ff.) und Metzler (2005: 196-207) sowie in den ursprünglichen Texten von Habermas (1964) und Lompe (1966: 28-48, 119-153).
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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Systems die Zahl der Wissenschaftler und Beraterstäbe exorbitant anstieg, der Eindruck, Politik sei fast durch Wissenschaft ersetzbar (vgl. Ritter 1982: 458). Dieses Szenario ist jedoch nicht zuletzt deswegen ausgeblieben, weil sich die technokratische Konzeptualisierung mit einem parlamentarisch-repräsentativen politischen System – mit Demokratie per se – als nicht vereinbar erwies (vgl. Habermas 1964: 417; Lompe 1966: 28).
Pragmatismus Das pragmatistische Modell der Politikberatung nahm schließlich Abstand von der Vorstellung zweier gänzlich getrennter, lediglich durch monodirektional-linearen Transfer korrespondierender Sphären und konzipierte einen beratenden, iterativen Austausch. An Stelle einer strikten Trennung zwischen den Funktionen des Sachverständigen und des Politikers tritt im pragmatistischen Modell gerade ein kritisches Wechselverhältnis. Weder ist der Fachmann […] souverän geworden gegenüber den Politikern, die dem Sachzwang unterworfen sind und nur noch fiktiv entscheiden; noch behalten die Politiker […] ein Reservat, in dem praktische Fragen allein durch Willensakte entschieden werden müssten. (Habermas 1964: 415; vgl. auch Lompe 1966: 134f.)
Neben kommunikativen Rückkopplungsmechanismen zwischen Wissenschaftlern und Politikern bezog das Modell explizit den Faktor Öffentlichkeit ein. Habermas reklamierte daher, es sei das einzige auf Demokratie notwendig bezogene (vgl. ebd.: 417). Für die Umsetzung technischer und strategischer Empfehlungen durch die Wissenschaft sei Politik auf die Vermittlungsfunktion einer politischen Öffentlichkeit, die sich wertorientiert und an der Lebenspraxis ausgerichtet an einem Diskurs beteiligt, geradezu angewiesen und müsse an diese anknüpfen. Die philosophisch-politische Richtung des Pragmatismus (vgl. dazu Joas 2005; Schubert 2003) betont in diesem Zusammenhang, dass die praktische Verwertung wissenschaftlicher Erkenntnis nicht an unverrückbare Wertorientierungen gebunden sein muss, sondern dass diese Wertorientierungen ebenfalls diskutabel sind und in stetiger Rückkopplung mit Wissenschaft stehen. In der Praxis erweist sich jedoch das pragmatistische Modell in seiner idealen Form als äußerst voraussetzungsvoll und daher schwer anwendbar, u.a. aufgrund des hohen Vernunfts- und Rationalitätsanspruchs in seinen zentralen Prämissen. Gerade das Vorhandensein der allseits notwendigen Kommunikationsbereitschaft für einen Diskurs wurde angezweifelt. Daneben wirkten Komplexität und Arbeitsteilung in der Wissenschaft, Probleme der Vermittelbarkeit in Alltagssprache sowie die Abgeschlossenheit des Forschungsbetriebes hinderlich (vgl. Lompe 1966: 136ff.; Habermas 1964: 418ff.). Lompes vermeintlich praxistaugliche Konzeption reduzierte daher den Anspruch an vernunftgeleitete Deliberation auf die informierte bzw. interessierte Öffentlichkeit und betonte die Notwendigkeit politischer Entscheidungen, ergänzte das Modell also um eine dezisionistische Komponente (vgl. Lompe 1966: 137ff.; Hampel 1991: 117).
Demokratisierung von Expertise, »post-positivistische« Policy-Analyse und deliberative Gesellschaftsberatung Sowohl dezisionistische und technokratische Ansätze als auch die pragmatistischen Theoriemodelle begriffen Politikberatung weiterhin als einen überwiegend zweipoligen Pro-
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
zess – als eine duale Beziehung zwischen dem wissenschaftlichen System einerseits und dem politisch-administrativen System andererseits. In diese prinzipiell lineare Beziehung sollte gemäß dem pragmatistischen Modell Öffentlichkeit insoweit als »kontrollierender Hintergrundfaktor« einbezogen werden, dass sie a) einem transparenten Beratungsprozess kognitiv und inhaltlich folgen kann und b) ihre in öffentlichen Diskussionen zu Tage tretenden Meinungen und Wertvorstellungen im Beratungsprozess berücksichtigt werden. Dennoch blieben auch die pragmatistischen Ansätze bei der Grundannahme, dass Wissenschaft und Politik aufgrund ihrer differierenden Systemlogiken einen nur schwer überwindbaren Gegensatz bilden. In der Folgezeit entworfene Modelle stellten im Sinne einer Demokratisierung des wissenschaftlichen Beratungsprozesses auf eine breitere Beteiligung der Öffentlichkeit ab: So konstatierte Peter Krevert in seiner Beschreibung der Phasen und Institutionalisierungsformen der bundesdeutschen Politikberatung eine stetig zunehmenden Öffentlichkeitsorientierung der Beratung und leitete daraus theoretisch ein »kommunikatives Modell der wissenschaftlichen Politik- und Öffentlichkeitsberatung« ab. Nach diesem Modell sollte Bürgerbeteiligung im Rahmen der parlamentarischen Arbeit institutionalisiert werden, um neben der strategischen Innovationsfunktion von Politikberatung auch eine Partizipationsfunktion sowie einen Beitrag zu einer Diskurs-Kultur zu erreichen (Krevert 1993: 297ff.). Besonders in den Wirtschaftswissenschaften wird in jüngerer Zeit verstärkt ein Bedarf an institutionalisierter »Öffentlichkeitsberatung« gesehen. Grund dafür ist ein auf verschiedenen Ebenen beobachtetes Scheitern der Beratung (vgl. Pitlik 2001; Schanetzky 2007). So hat Susanne Cassel angeregt, ökonomische Beratung institutionell stärker an den Anforderungen ihrer Rezipienten zu orientieren und klar zwischen Politik- und Politikerberatung zu differenzieren (vgl. Fn. 37). Politikberatung müsse die »Bürger als Prinzipale« (Cassel 2001: 116) in die Lage versetzen, aus konkurrierenden Beratungsangeboten zu wählen, die in punkto Sprache und Komplexität angemessen und von staatlichem Einfluss unabhängig formuliert sind und über gesellschaftlich relevante Erkenntnisse der Ökonomik informieren (vgl. ebd.: 116ff., 237ff.; vgl. auch Kalbitzer 2006). Einen grundlegenden Perspektivwechsel im Hinblick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Politik zur Öffentlichkeit vollziehen partizipative Modelle der Politikberatung. In ihnen wird wissenschaftliche Expertise in wesentlich stärkerem Maße am Prinzip der Partizipation orientiert. Zentraler Ansatzpunkt ist die »Demokratisierung von Expertise«. Sie zielt auf demokratische Öffnung all jener Prozesse und Institutionen, in denen wissenschaftliches Wissen für die Beratung von politischen Entscheidungsträgern zusammengetragen, bewertet, verwendet und verbreitet wird. Es geht mithin um eine Demokratisierung der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung in allen Politikfeldern, in denen wissenschaftliches Wissen für die Identifikation und Bewertung von Problemen und Problemlösungen herangezogen werden kann und mit anderen Formen des Wissens vermittelt werden muß. (Saretzki 1997: 279)
Die Demokratisierung von Expertise kann unterschiedlich weit reichen und sich auch darauf beschränken, dass »Institutionen und Verfahren, in denen eine Beratung demokratisch legitimierter Entscheidungsträger erfolgt, transparenter, öffentlich kontrollierbarer und öffentlich zugänglicher werden« (ebd.; Herv.i.Orig.). Anspruchsvolle Verfahren zielen hingegen auf eine direkte, gleichberechtigte Beteiligung der Bürger. Bereits in den 1970er Jahren hat Peter Dienel die Beratungsform der Planungszelle bzw. des Bürgergutachtens prominent vertreten (vgl. Dienel 1971, 2002). Ausgehend von der Frage, wie von einer
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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anstehenden Planungsentscheidung betroffene Bürgerinteressen in einer »den Gleichheitsgrundsatz nicht verletzenden Weise wirksam in den Planungsprozeß« einbezogen werden können (Dienel 1971: 153), entwickelte er ein Verfahrensmodell, bei dem eine repräsentative Auswahl von Bürgern in konzentrierten »Zellen« über einzelne Planungsprojekte berät, dabei mit Verwaltung und Parlament zusammenarbeitet und diesen einen konsentierten und daher mit hohem Legitimitätsanspruch versehenen Handlungsvorschlag unterbreitet (zum Verfahren i.E. vgl. Dienel 2002: 74ff.). Ferner wurden Praxismodelle deliberativer Demokratie insbesondere in der USamerikanischen Politikwissenschaft elaboriert und theoretisch fundiert, darunter die prominenten Beispiele des deliberative opinion poll (Fishkin 1991), der regulatory negotiation (Dryzek 1990) oder eines landesweit ausgerufenen deliberation day (Ackerman & Fishkin 2004; zu weiteren Modellen vgl. Lösch 2005: 166ff.; Saretzki 1997: 298ff.; Hennen, Petermann & Scherz 2004: 81ff.). Auf der Grundlage des Diskurses – der Beratung der citizens über eine angemessene Problemlösung in einem organisierten Verfahren – erwächst die Möglichkeit, einen aufgeklärt(er)en kollektiven Willen zu erreichen, der einen »kommunikativ rationalisierten Konsens oder Kompromiss« (vgl. Dryzek 1990: 17) darstellt. Die meisten Modelle beteiligungsorientierter Beratung haben in der Praxis entweder stark regionalen Charakter, beziehen sich also auf relativ kleine Verwaltungs und Politikeinheiten, oder finden auf hochgradig spezifizierte Policy-Fragen Anwendung (vgl. Hajer & Wagenaar 2003; 2003a: 3). Doch bereits die in den 1970er Jahren entwickelte Planungszelle und das damit verbundene Bürgergutachten erheben prinzipiell den Anspruch überregionaler, ja sogar globaler Anwendbarkeit (vgl. Dienel 2002: 282f., 289). Gegenwärtig erleben am Modell der Planungszelle orientierte Verfahren in Deutschland eine Renaissance, insbesondere im Bereich der Technikfolgenabschätzung (vgl. Kap. 1.2.4.2; Dienel 2005, kritisch Saretzki 2005; allg. Hennen, Petermann & Scherz 2004) Deliberative und partizipative Ansätze einer demokratischen Politikberatung finden ihre Entsprechung in jüngeren Veränderungen innerhalb des wissenschaftstheoretischen bzw. forschungspraktischen Selbstverständnisses der Politikfeldanalyse. Hier hat der primär von US-amerikanischen Fachvertretern propagierte argumentative turn für Aufsehen gesorgt (vgl. Fischer & Forester 1993). Die auch in Deutschland rezipierte argumentative Wende besagt, dass die praxisorientierte Policy-Analyse/Beratung die Bedeutung von Argumenten bzw. Argumentation in den Vordergrund stellt (vgl. Saretzki 1998, 2003). Sie geht einher mit der Erkenntnis, dass Beratung in den wenigsten Fällen mit im neo-positivistischen Sinne »wahren« Analysen und damit richtigen Handlungsempfehlungen aufwarten kann. Vielmehr anerkennt sie die Unzulänglichkeiten empirisch-szientistischer Methoden. Modelle einer »post-positivistischen, partizipatorischen Policy-Analyse« sehen den Ausweg in einer Hinwendung zu Deliberation und Argumentation unter Vielen, die in einem pragmatistischen Sinne neue, bislang nicht erwogene oder »gedachte« Wege der Problemlösung eröffnen (vgl. Fischer 2003; Hajer & Wagenaar 2003). Jüngere Bemühungen zielen auf dieser Grundlage darauf, Politikberatung neu zu positionieren in Richtung auf eine breit angelegte, organisierte, moderierte und auch interaktive Medien nutzende Wechselbeziehung zwischen Experten in Wissenschaft und Politik und dem »einfachen«, aber gut informierten Bürger. Dafür werden die Begriffe Gesellschaftsberatung oder Selbstberatung der Gesellschaft vorgeschlagen und diskutiert (vgl. umfassend Leggewie 2007). Die unter diesem Signet rubrizierten Formen diskursiver Konsultation greifen weit über den Begriff der Gesellschaftsberatung hinaus, den Renate Mayntz
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bereits 1994 vorgeschlagen hat (vgl. Mayntz 1994: 20). Letzterer ist eher mit Politikberatung im Verständnis Susanne Cassels – also Öffentlichkeitsberatung (s. Fn. 37) – identisch.
1.2.3 Policy-Beratung und Beratungsregime: Zur Terminologie Da sich die vorliegende Studie einem qualitativ-explorativen Forschungsparadigma zuordnet (vgl. Kap. 3.1.1), soll an dieser Stelle kein eigenes Theoriemodell wissenschaftlicher Politikberatung hergeleitet werden. Vielmehr geht es darum, den Beratungsbegriff aus der Perspektive der Regierungsforschung aufzuschlüsseln, und zwar konkret im Hinblick auf das Regieren (politisches Führungshandeln) in Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen innerhalb eines Politikfeldes. In der differenzierenden Terminologie des Politikbegriffes: Es geht um Policy-Beratung als Teil der gubernativen Politics. Aus der Darstellung der ersten drei Modelle ergibt sich, dass Policy-orientierte Politikberatung nach klassischer Lesart überwiegend auf der Grundlage dualistischer Logiken konzeptualisiert und verstanden wird. Zum einen wird von einer mono-direktionalen »Ratgebung« oder »Raterteilung« durch externe Experten an entscheidende Akteure innerhalb des politischen Systems ausgegangen. Zum anderen (und daraus resultierend) beschränkt sich das Verständnis der Beratungsinhalte auf wissensbasierte Analysen und rationale Lösungsvorschläge (Fachexpertise), die dann in »richtige«, den Beratungsprozess ex post legimierende Politikentscheidungen münden.
Breiter Beratungsbegriff Dieses Verständnis scheint jedoch aus mehreren Gründen weder mit normativ begründeten demokratischen Legitimitätsansprüchen regierungsseitig betriebener Policy-Beratung vereinbar, noch bildet es ein adäquates Bild gegenwärtiger Beratungssituationen im Vorfeld gesetzgeberischer Entscheidungen im parlamentarischen Regierungssystem ab. Die Trennschärfe zwischen Politikberatung als »Bereitstellung« wissenschaftlicher Expertise auf der einen und Beratung politischer Inhalte als mehrpoliger, wechselseitiger und nicht klar abzugrenzender Kommunikationsprozess auf der anderen Seite scheint mehr und mehr verloren zu gehen. Nicht zuletzt die Perspektiven einer »post-positivistischen« Policy-Analyse (vgl. Kap. 1.2.2) mit ihrer Betonung der Unbestimmtheit, Ungewissheit und Diskutierbarkeit des Wissens sowie die partizipatorischen Ansprüche diskursiver Demokratietheorien an Politikberatungsprozesse haben diese Dualismen ein Stück weit aufgelöst. Hinzu kommt, dass sich die »Aktionssysteme« Wissenschaft und Politik wechselseitig mehr und mehr durchdringen (vgl. Lompe 2006: 25). Wenn das einschlägige Wissen in einer scientific community nicht konsentiert ist, spricht man von der »Politisierbarkeit des Wissens« (Weingart 2006: 39); in der Realität der Parteiendemokratie wird wissenschaftliche Expertise dann »parteipolitisiert«. Rein wissenschaftliche Politikberatung ist vielleicht in einigen hochkomplexen, stark naturwissenschaftlich beeinflussten Politikfeldern anzutreffen, aber selbst bei diesen ist der Faktor »politische Beratung« selten ganz auszublenden: Indem die Politikberatung komplexe wissenschaftliche Inhalte der Politik zugänglich macht, sie »aufbereitet«, schafft sie meistens auch Wahlmöglichkeiten für den Umgang mit diesen »wissenschaftlichen Fakten«. Es gibt
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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kaum Experten, die diese Wahlmöglichkeiten nicht bereits mitliefern – im optimalen Fall als neutral präsentierte, mit wissenschaftlichem Know-how im Einklang stehende Optionen politischen Handelns, schlechterdings als ein von den eigenen politischen Überzeugungen beeinflusster »best one way« – dem die entsprechenden Gegenexperten in der Regel schnell mit ihrem eigenen Nonplusultra entgegen treten. Ein dritter und entscheidender Aspekt besteht in der Symbiose von fachlicher Expertise und partikularem Interesse im praktischen Beratungsprozess: In zahlreichen komplexen Politikfeldern wird wissenschaftlicher Sachverstand über Verbandsvertreter bereitgestellt, da diese über größere Kapazitäten und Wissensbestände verfügen (vgl. Wessels 1987; Mai 2006). In Ergänzung der drei klassischen Modelle ist daher auch von einem vierten, korporatistischen Modell der Politikberatung gesprochen worden (vgl. Brown, Lentsch & Weingart 2006: 53f.). In meso-korporatistischen Netzwerken wirken Interessengruppen direkt an der Politikentwicklung mit (vgl. ausführlich Kap. 1.1.2.1). Neben dem möglichen Legitimationsdilemma der selektiven Auswahl wird diese Beratungsform insbesondere dann problematisch, wenn beim Lobbyismus die Funktion der partikularen Interessenwahrnehmung den gemeinwohldienlichen Effekt der Einbringung von Fachexpertise überlagert. Für diese Studie wird davon ausgegangen, dass nur ein breiter Beratungsbegriff, der den doppelten Dualismus herkömmlicher Verständnisse von Politikberatung überkommt, in der Lage ist, einen sinnvollen Beitrag zur Analyse von Regieren innerhalb eines Politikfeldes zu leisten. Es bietet sich in diesem Zusammenhang an, auf ältere Verständnisse des Beratungsbegriffes zurückzugreifen. Diese entbinden ihn von seiner heute scheinbar strikten Kopplung an wissenschaftliche Expertise und führen ihn auf ein Grundverständnis von Deliberation als multilateralem Kommunikationsprozess des Erwägens und der Auseinandersetzung zurück (vgl. Hennis 2000 [1962]: 165ff.; Leggewie 2006). In diesem Verständnis spielt wissenschaftliche Politikberatung eine nicht unbedeutende Rolle, da kaum eine politische Entscheidungsfrage ohne die vorherige Berücksichtigung fachwissenschaftlicher Expertise zustande kommt. Die dezidiert wissenschaftliche Erörterung ist jedoch stets nur ein Teil der Beratung eines politischen Inhalts. Der Beratungsbegriff lässt sich demgegenüber stärker an den gesamten Politikprozess binden und bezieht all jene diskursiven Elemente ein, die auf das Entstehen bzw. die Veränderung von Politik gerichtet sind. Politikberatung ist dann nicht mehr nur Raterteilung durch wissenschaftliche Sachverständige, sondern eine multilaterale Beratschlagung politischer Inhalte durch heterogene Akteursgruppen. Dazu gehört insbesondere, die Institutionen der repräsentativen Willensbildung einzuschließen (z.B. die parlamentarische »Beratung« über Gesetze), aber auch andere Verfahren zu berücksichtigen, die sowohl zur Wissensverbreiterung und Vermittlung von Interessen als auch zur Schaffung von Akzeptanz und Legitimität innerhalb des politischen Systems sowie in die Öffentlichkeit hinein beitragen können. Dieser Option folgt z.B. ein klassisches Lehrbuch zur vergleichenden Politikforschung, Karl W. Deutsch’s Politics and Government (1974; deutsche Ausgabe 1976). Deutsch koppelt den Beratungsbegriff an die institutionalisierten Entscheidungsfindungsprozesse des Regierungssystems. Beratung (im Amerikanischen: deliberation) wird gefasst als debattierendes Entscheiden über Mittel und Zweck einer Politik auf verschiedenen Ebenen; die Debatte ist der »Kern der demokratischen Politik« (Deutsch 1974: 194; Deutsch 1976: 232f.). Zur Beratung gehört in diesem Verständnis nicht nur die Deliberation über Policy-Inhalte in Fraktionen und Ausschüssen (vgl. Eilfort 2006), sondern auch die öffentlichkeitswirksamen, entscheidungslegitimieren-
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den »Beratungen« im Plenum des Bundestages, die i.d.R. bereits zuvor erfolgte Beratungsprozesse nach außen kommunizieren (vgl. Schulze-Fielitz & Gößwein 1997: 20f.; SchuettWetschky 2003: 536, 549). Ferner zählen auch informelle Verhandlungen oder die Vertretung von Interessen zur Policy-Konsultation: »Wenn z.B. der zuständige Wirtschaftsminister Gespräche mit den Chefs der Energiekonzerne führt, oder der Kanzler mit den Pharmakonzernen verhandelt, findet Beratung statt.« (Jens 2006: 127; vgl. auch Lösche 2006) Policy-Beratung umfasst also stets vier Facetten (vgl. Abb. 2): wissenschaftliche Beratung (Fachexpertise), diskursive, vernunft- bzw. konsensorientierte Beratschlagung (Deliberation), partei-, ideologie- oder interessenpolitische Verhandlung (Bargaining) sowie als Abschluss die instutionelle Entscheidung auf der Grundlage von Konsens oder Kompromiss (Dezision), die gleichsam auch auf informell getroffenen Vorentscheidungen beruhen kann. Ein solch erweitertes Begriffsverständnis ermöglicht es, Prozesse der Politikberatung unmittelbar in Bezug zu übergeordneten Aufgaben des Regierens und der politischen Führung bzw. deren vielfältigen Beschränkungen zu setzen.
gesellschaftliche Gruppen Medien
Experten
Expertise
Deliberation
Wissenschaft
Öffentlichkeit Policy
Verwaltung
Bargaining
Dezision
Verbände
Parlament
Regierung
Parteien
Abbildung 2:
Policy-Beratung – Akteure im Politikberatungsregime
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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Policy-Beratung kann als prozesshafter und ganzheitlicher Komplex verstanden werden. Die Arbeitsdefinition geht davon aus, dass die ersten drei der vier Beratungsaspekte (Fachexpertise, Deliberation und Bargaining) sowohl inhaltlich wie chronologisch nur in den seltensten Fällen klar voneinander abgegrenzt werden können. Vielmehr ist für die Realität von Beratungsprozessen davon auszugehen, dass etwa die Avisierung wissenschaftlicher Expertise in der Regel bereits auf der Grundlage antizipierter partei- oder interessenpolitischer Verhandlungsaspekte erfolgt, also latent politisiert ist, letztere wiederum aber selten losgelöst von diskursiven Sacherörterungen und der Kraft des guten Argumentes innerhalb politischer Deliberationen stattfindet (vgl. Lhotta 2000: 88ff.; Spörndli 2004: 179ff.). Umgekehrt gilt, dass auch die freie Deliberation einer politischen Fragestellung im Sinne öffentlicher bzw. unter breiter Beteiligung stattfindender Beratschlagung immer von korrespondierenden wissenschaftlichen Erkenntnissen gekennzeichnet ist.
Policy-Beratungsregime Auf der Grundlage dieses ganzheitlichen Beratungsverständnisses wird für das hier untersuchte Politikfeld die Bezeichnung migrationspolitisches Beratungsregime benutzt. Der Regime-Begriff (aus dem französischen régime = Staats- oder Regierungsform bzw. Regierung; vgl. dazu Sellin 1984: 389) wird in wertneutraler Form und gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung einerseits auf die Herrschafts- oder Staatsform eines politischen Gemeinwesens bezogen. Andererseits wird er in Anlehnung an Robert Keohane sowohl im nationalen wie im supra-nationalen Rahmen auf bestimmte etablierte, institutionalisierte Regelwerke bzw. Politikmuster in Politikfeldern oder Bereichen internationaler Kooperation angewendet (vgl. Held 1995: 108). Aus dem zweiten Verständnis heraus hat Carter Wilson (2000) eine Konzeptualisierung für (nationale) Policy-Regime abgeleitet, an die auch der Begriff des Beratungsregimes anknüpft. Policy-Regime bilden nach Wilson ein Rahmenwerk zur Untersuchung und Erklärung von politischen Veränderungsprozessen. Anders als die meisten Modelle des Policy-Cycle folgen sie keiner strengen Phasenheuristik. Sie sind eng um spezifische politische Themenfelder herum organisiert und bestehen aus vier Dimensionen: The first dimension is power or the arrangement of power. […] The second dimension is the policy paradigm. The dominant policy paradigm shapes the way problems are defined, the types of solutions offered, and the kinds of policies proposed. Policy paradigms are constructed by researchers and intellectuals [...]; by professionals and practitioners who are directly engaged with the issue; by interest group leaders and organisations who are promoting a particular policy agenda; and by policy makers who interact with academics, professionals, practitioners, and interest group leaders. [...] The third dimension is the organisation within government, the policy making arrangements and the implementation structure. The policy making arrangements include leaders of congressional committees, agencies, institutions, professional associations and organized interest involved in developing and maintaining the policy. These arrangements vary from close iron triangles to more open networks. The implementation structure includes the implementing agency and in some cases, state and local agencies. The fourth dimension is the policy itself. The policy embodies the goals of the policy regime. It also entails the rules and routines of the implementing agency. These goals, rules and routines legitimize the policy. (Wilson 2000: 258f.)
Mit der Wortschöpfung des Politikberatungsregimes, die bewusst auch zur Vermeidung des starreren und nicht immer einheitlich verstandenen Begriffs Beratungssystem beitragen soll, wird insbesondere auf die ersten drei Dimensionen Wilson’s Bezug genommen. Ganz im
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Sinne der Regierungslehre wird bereits allein durch den Begriff Regime implizit die Rolle der Regierung als koordinierende Instanz bei Policy-Beratungsprozessen betont. Die Routinen und Muster der Policy-Deliberation und -Verhandlung in einem Politikfeld erweisen sich zwar oft als pfadabhängig, können aber am ehesten von den regierenden Akteuren gesteuert werden. Zur Analyse eines Beratungsregimes ist daher bereits die erste, machtorientierte Dimension von Wilsons Policy-Regime-Begriff relevant. Die zweite Dimension betrifft die vorhandenen Leitbilder hinsichtlich der Ausgestaltung der Policy. Diese differieren in der Regel zwischen Regierung/Verwaltung, den politischen Parteien und insbesondere Wissenschaft und Interessengruppen. Die Auseinandersetzung über bestimmte Leitbilder oder Paradigmen der Policy sowie Versuche, sie im Sinne eines issue- oder Problemkonsenses anzunähern, bilden eine der wichtigsten Funktionen des Beratungsprozesses. Mit Wilsons dritter Dimension wird gleichzeitig ein Bezug hergestellt zu akteurzentrierten Ansätzen der Beschreibung institutioneller Policymaking-Arrangements (vgl. Scharpf 2000; Timmermans 2001; Fn. 33). Hier wird davon ausgegangen, dass sich in jedem Politikfeld so genannte »subsystem arenas« herausgebildet haben – Regelsysteme, in denen verschiedene Akteure direkt oder indirekt, formell oder informell an Beratungs-, Regulierungs-, Verhandlungs- oder Konsensbildungsprozessen beteiligt sind. Im Rahmen des breiten Beratungsbegriffes wird hiermit gleichsam das Akteursspektrum jenseits der breiten Öffentlichkeit markiert, das am Policy-Beratungsregime (bzw. dessen Teilregimen) partizipiert.40 Als vierte Dimension des Policy-Regimes nennt Wilson die materielle Politik selbst, also das Policy-Programm. Diese ist im Hinblick auf den Begriff des Beratungsregimes nur indirekt relevant, und zwar dahingehend, dass eine als Folge von Beratungsprozessen »implementierte« Policy bzw. deren Evaluation ein Legitimitätskriterium für die erfolgte Politikberatung und damit das Beratungsregime selbst ist.
1.2.4 Ausformungen von Beratungsregimen im politischen Institutionensystem Gegenstand dieser Studie ist das Regieren mit Kommissionen als Form der Beratung in einem Politikfeld. Es wird davon ausgegangen, dass ein spezielles, zumal temporär eingesetztes Gremium stets nur einen Teilbereich des gesamten Beratungsregimes im betroffenen Politikfeld darstellt. Als Ausgangspunkt werden daher in diesem Abschnitt die herkömmlichen – und möglicherweise parallel oder konsekutiv wirkenden – Beratungsformen überblicksartig dargestellt. Abgeleitet aus der Forschungsliteratur werden dabei auch ihre effizienz- und demokratiepolitischen Implikationen für das Policymaking angerissen, ohne dass der Anspruch erhoben wird, diese Beratungsmodi dahingehend zureichend evaluieren zu können. Die Darstellung beschränkt sich zudem auf Beratungsarrangements, die unmittelbar im Zusammenhang mit den institutionalisierten Bereichen des Regierungssystems
40
Scharpf spricht im Hinblick auf solche institutionellen Orte des Policymaking explizit von Regimen; »absichtsvoll geschaffene normative Bezugsrahmen, welche die Verhandlungen zwischen einer formell festgelegten Anzahl von Akteuren steuern, die sich explizit dazu bereit erklärt haben, bestimmte Interessenpositionen anderer Parteien zu respektieren, bestimmte Ziele gemeinsam zu verfolgen und bei ihren zukünftigen Interaktionen bestimmte Verfahren zu beachten.« (Scharpf 2000: 241)
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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stehen und über gewisse Bedeutung für das hier interessierende Politikfeld Migration verfügen.41
1.2.4.1 Die Konsultative der Exekutive: Institutionalisierte und ad-hoc-Beratung im Regierungsprozess Das Beratungswesen im deutschen Regierungssystem ist breit gefächert und schließt interne sowie externe Beratungskapazitäten ein (vgl. Murswieck 1993: 91). Sämtliche konsultativen Prozesse im Bereich der Regierung unterliegen zunächst dem Ressortprinzip und äußern sich in einer autonomen Zuständigkeit der Ministerien für das Beratungswesen (vgl. Brohm 1987: 238f.; Murswieck 1994a: 111). Die augenscheinlichsten Beratungsgremien sind wissenschaftliche Beiräte und Fachbeiräte. Sie sind gleichzeitig die älteste regierungsnahe Politikberatungs- und Interessenvermittlungsform. Solche Ausschüsse und ständigen Beiräte wurden bereits im 19. Jahrhundert von einigen Ministerien etabliert (vgl. Wollmann 2001: 378; Unkelbach 2001: 8ff.). Peter Krevert (1993: 71ff.) unterscheidet Wissenschaftliche Beiräte, Fachbeiräte und Gemischte Beiräte. Erstere sind überwiegend mit Wissenschaftlern besetzt und dienen den Ressorts kontinuierlich bei der Vorbereitung politischer Entscheidungen vor allem durch die Erarbeitung von Gutachten und Stellungnahmen.42 Fachbeiräte dagegen konferieren meist unter Beteiligung von Ministerialbeamten über ein Spezialgebiet innerhalb einer Ressortabteilung und dienen nicht selten der konkreten Gesetzesvorbereitung. Gemische Beiräte – der Normalfall der ministeriellen Beratungspraxis (vgl. Murswieck 1994a: 112; Voßkuhle 2005: 445) – werden im Falle einer Dominanz von Verbandsvertretern gegenüber Wissenschaftlern auch als »Interessenparlamente« oder pluralistische Gremien bezeichnet (vgl. Dietzel 1978: 123ff.; 170ff.). Neben fachlicher Expertise spielt in diesen Gremien insbesondere die (Vor-)Verhandlung solcher politischer Fragen eine Rolle, die Verbandsinteressen berühren. Wie auch die sonstigen Beiräte sind sie i.d.R. dauerhaft eingesetzt. Die Zahl der durch hoheitlichen Organisationsakt errichteten ständigen Beiräte gilt als schwer zu bestimmen, zumal ihre Bezeichnungen uneinheitlich sind (vgl. Brohm 1987: 223). Letzteres gilt auch für temporär eingesetzte plurale Beratungsgremien, die mit Vertretern aus Wissenschaft, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen besetzt sind. Sie können allgemein als Sachverständigen- oder Expertenkommissionen bezeichnet werden (vgl. Siefken 2003: 496, 2007: 67). Auf diese Gruppe wird unten noch näher einzugehen sein (vgl. Kap. 1.2.5). Selten näher betrachtet werden »Berichtskommissionen«, also Gremien von Experten, die eigens zur Erstellung von regelmäßigen erscheinenden Sachstandsberichten eingesetzt werden, zu deren Vorlage die Bundesregierung entweder auf der Grundlage eines Gesetzes oder durch Beschluss des Bundestages verpflichtet ist (vgl. Rauschenbach 2002). So erscheinen Familienberichte, Altenberichte und Kinder- und Jugendberichte quasi in jeder Legislaturperiode, werden aber jeweils durch eine neue, unabhängige Sach41
Partizipative Beratungsformen, öffentliche (Medien-)Diskurse und kommerzielle Beratung waren in der deutschen Ausländerpolitik selten relevant und werden daher ausgeklammert, wiewohl »zivilgesellschaftliche« Konsultationen durchaus in den Policy-Beratungsprozess hineinwirken können (vgl. das Bsp. in Kap. 2.2.3.2). 42 Als bedeutsame Beispiele können etwa die bereits früh etablierten Wissenschaftlichen Beiräte beim Finanzbzw. Wirtschaftsministerium (vgl. Grossekettler 2005), als neuere Ausprägung der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (vgl. Brede 2006: 215ff.) genannt werden.
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
verständigenkommission erstellt, deren Zusammensetzung wiederum der gerade amtierenden Bundesregierung anheim gestellt ist (vgl. Frank & Marquard 2002: 17). Als weiterer, regierungsnaher Bereich ist die Auftragsberatung zu nennen, derer sich die Ministerien ebenfalls im Rahmen der Ressorthoheit durch die Vergabe von Einzelgutachten und -expertisen an Externe bedienen (vgl. Brohm 1987: 222). Mit ad-hocgutachterlicher Tätigkeit können sowohl einzelne Wissenschaftler als auch Institute oder Beratungsfirmen beauftragt werden. In einigen Fällen übernehmen diese Auftragnehmer auch die Erstellung regelmäßiger Berichte der Regierung, so etwa zum Thema Migration (vgl. Beauftragte 2003; Zuwanderungsrat 2004a; BAMF 2005). Die am stärksten institutionalisierte Form der wissenschaftlichen Regierungsberatung erfolgt durch ressorteigenen Forschungseinrichtungen (z.B. Bundesinstitute, Bundesanstalten und Ämter als nachgeordnete Behörden) sowie eigenständige Forschungseinrichtungen (vgl. Murswieck 1994a: 108f.) Im weitesten Sinne verstanden als wissenschaftliche Ressortforschung oder »verlängerte Ministerialbürokratie« erfüllen erstere ihre fachliche Politikberatungsfunktion zwar in gewisser Autonomie gegenüber Regierung und Verwaltung, bleiben jedoch logistisch eng an sie gekoppelt und können sich keinem reinen, vom politischen Tagesgeschäft unabhängigen akademischen Forschungsparadigma verschreiben (vgl. Ronge 1988: 174f.). Über die Formen der externen Beratung hinaus gilt die Ministerialbürokratie an sich als »institutionalisiertes Gedächtnis« der Regierung (König, K. 2002: 178ff.), als ein quasi eigenes, selbstreferenzielles Politikberatungssystem, das zu einem Gutteil mit Wissenschaftlern oder wissenschaftlich geschulten Beamten und Angestellten der Verwaltung besetzt ist und aus dem eine Regierung bei der Vorbereitung von Gesetzen bereits umfassenden internen Expertenrat beziehen kann (vgl. Ismayr 2001: 252ff.; Krautzberger & Wollmann 1988: 179ff.). Laut § 10 der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO-BM) können jenseits der festen Verwaltungsstrukturen auch besondere Organisationseinheiten mit Stabsfunktion sowie auf einzelne Vorhaben bezogene Projektgruppen, sog. Task Forces, eingerichtet werden. Die Möglichkeiten ressortinterner Beratungsformen, die sich für gewöhnlich außerhalb jeglicher Transparenz und Publizität abspielen, werden unter dem Stichwort »bürokratische Einflussnahme auf politische Entscheidungen« diskutiert und sind für drei Sphären – das administrative Agenda-Setting, die strategische Kooperation im Normsetzungsverfahren und der bürokratische Einfluss bei der Implementation – mehr oder weniger ausgeprägt festzustellen (vgl. Schnapp 2004, 2004a). Zusätzlich besteht hier der allgemeine Vorbehalt, dass in Organisationen tendenziell eine einzelne Problemperspektive vorherrscht und damit meist auch eine bestimmte Gruppe von Experten (Barker & Peters 1993: 8f.). So ist im Hinblick auf das für Migrationspolitik zuständige Innenressort eine deutliche Orientierung an ordnungs- und sicherheitspolitischen Perspektiven bei der internen Beratung offenkundig (vgl. dazu Kap. 2.5, unter 4 sowie Fn. 244). Im Zusammenhang mit der Beratung ausländer- und asylpolitischer Fragen müssen an dieser Stelle auch die Inter-Ressortberatung sowie die Bund-Länder-Ressortberatungen in Koordinationsgremien genannt werden. Auf Bundesebene bestehen auf der Grundlage von § 20 GGO-BM verschiedene »ressortübergreifende Ausschüsse für Angelegenheiten der Organisation sowie Information und Kommunikation« (vgl. Prior 1968); in der föderativen Zusammenarbeit werden neben den Ressortministerkonferenzen (vgl. zur IMK Fn. 85) auch spezielle Arbeitsgruppen oder Kommissionen zur Policy-Beratung gebildet (vgl. Kap. 2.2.2.3; 2.3.3).
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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Intransparenz der Regierungsberatung Ein großer Teil der Politikberatungsprozesse im Bereich der Regierung vollzieht sich in einem relativen Arkanum. Die weitgehende Undurchsichtigkeit für Bundestag und Öffentlichkeit ist als »Hauptkennzeichen der Regierungsberatung« beschrieben worden (Krevert 1993: 277). Auch wenn einige der früh begründeten ministeriellen Beiräte durchaus öffentlich wirkten und auf reges Medien- und Bürgerinteresse stießen (vgl. Grossekettler 2005: 106, 115), ist ein grundlegendes Tranzparenz-Problem festzustellen, das sich insbesondere darin äußert, dass man seitens der Bundesregierung i.d.R. nicht an einer Offenlegung der Kooperationsstrukturen interessiert ist (Krevert 1993: 277). Daran schließt sich unmittelbar das Publizitäts-Problem an (ebd.: 278): Die Erteilung von Gutachtenaufträgen, die Anhörung von Sachverständigen und die Errichtung von Beratungsgremien unterliegt keiner Veröffentlichungspflicht. »Im allgemeinen erfährt der Außenstehende von der Existenz der Berater und der Beratungsgremien eher zufällig« (Brohm 1987: 240). Ein drittes Manko der Regierungsberatung wird im Pluralitäts-Problem gesehen, der überwiegend nichtausgewogenen Berufung oder Beauftragung von Beratern unterschiedlicher wissenschaftlicher Richtungen und Meinungen (vgl. Krevert 1993: 278). Diese legitimatorischen Kernprobleme der Politikberatung im Einflussbereich der Regierung haben insbesondere aus verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Sicht die Forderung nach einer rechtlichen Domestizierung der Beratung hervorgerufen (vgl. Brohm 1987: 236f.; Voßkuhle 2005: 455ff.).
1.2.4.2 Expertise in der Legislative: Parlamentarische Politikberatung Der Deutsche Bundestag ist formal das Zentrum des Willensbildungs-, Beratungs- und Gesetzgebungsprozesses (vgl. Beyme 1997). Er gilt als Arbeits- und Expertenparlament, in dem die wesentliche Gesetzgebungsarbeit durch Abgeordnete und ihre Mitarbeiter in Arbeitsgruppen und Fachausschüssen geleistet wird (vgl. Bryde 1989: 863; Oertzen 2006).43 Die Beratung findet dabei auf mehreren Debattenstufen statt, die sich zu öffentlichkeitswirksamen Entscheidungen in Ausschüssen und im Plenum verdichten (vgl. Zeh 1989a: 920ff.). Der Bundestag als Zentrum der repräsentativen Demokratie hat insbesondere die Transparenz- und Publizitätsanforderungen von Beratung zu erfüllen, um politische Entscheidungen nachvollziehbar zu machen und zu vermitteln. Dementsprechend unterliegen die Plenarverhandlungen des Bundestages (ebenso wie die des Bundesrates) der allgemeinen Sitzungsöffentlichkeit. Von der in Art. 42 Abs. 1 GG niedergelegten Option, die Öffentlichkeit durch einen Beschluss mit Zweidrittelmehrheit auszuschließen, hat der Bundestag noch kein einziges Mal Gebrauch gemacht. Die Fachausschüsse verhandeln laut Geschäftsordnung in der Regel nicht öffentlich; es herrscht fakultative Öffentlichkeit gemäß gesondertem Beschluss. Die Nichtöffentlichkeit wird wegen des in der Praxis stetig verbreiterten Zugangs zu den regulären Sitzungen für Mitglieder der Exekutive, Fraktionsreferenten, persönliche Mitarbeiter der Abgeordneten, 43
Auch das Mandat von Untersuchungsausschüssen beschränkt sich nicht zwangsläufig auf die Aufklärung von Missständen. Es kann auch Policy-beratenden Charakter entfalten, da »sich in einer einzigen Untersuchung Elemente einer Gesetzgebungs-, Regierungskontroll- und Mißstandsenquete im gesellschaftlichen Bereich verbinden können.« (Schröder 1989: 1246).
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Ländervertreter aber auch Lobbyisten, Fachexperten und Journalisten sowie der gestiegenen Zahl öffentlicher Hearings jedoch allgemein als überholt angesehen (vgl. Zeh 1989: 1099; 1989a: 933). Bereits seit den 1970er Jahren wird mit der Begründungsfigur erhöhter Transparenz auch die de jure-Öffentlichkeit der Ausschüsse gefordert (vgl. Oberreuter 1975). Sie unterliegen zunächst nur der Erklärungsöffentlichkeit. Die formale, meist sehr kurze Berichterstattung über jedes beratene Gesetz im Plenum durch einen vom Ausschuss benannten Abgeordneten erfüllt diese Pflicht. Die Protokolle der Ausschussberatungen werden der Öffentlichkeit meist nach Verkündung des entsprechenden Gesetzes bzw. nach Ablauf der Wahlperiode, spätestens jedoch – sofern es sich nicht um eine Verschlusssache handelt – nach Ablauf der jeweils folgenden Wahlperiode zugänglich gemacht.44 Seit den 1970er Jahren sind bei größeren Gesetzgebungsvorhaben Ausschuss-Hearings zu einer kontinuierlich genutzten Beratungsform geworden (vgl. Krevert 1993: 135). Sie werden in der Regel als »Öffentliche Anhörung von Sachverständigen« veranstaltet und erlauben es auch der parlamentarischen Opposition, Experten zur Stellungnahme zu benennen. Wegen ihres ritualisierten Ablaufes und ihrem relativ späten Stattfinden im Gesetzgebungsprozess werden sie vielfach kritisch beurteilt. In ihrer fundierten Abwägung kommt Schüttemeyer (1989: 1159) jedoch zu dem Schluss: »Hearings tragen in Grenzen zur besseren Erfüllung der Gesetzgebungs-, Kontroll- und Artikulationsfunktion bei. Mehr als alles andere aber dienen sie der Öffentlichkeitsfunktion.«
Enquete-Kommissionen Die Möglichkeiten des Bundestages, politische Inhalte auch außerhalb der Fraktions- bzw. Ausschussarbeit vertiefend wissenschaftlich zu erörtern, sind relativ bescheiden. Bis zum Ende der 1960er Jahre besaßen die Organe der Bundesregierung faktisch ein Beratungsmonopol (vgl. Thunert 2004: 396). Mit der kleinen Parlamentsreform 1969 sollte durch die Schaffung des Instituts der Enquete-Kommission zur »Vorbereitung von Entscheidungen über umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe« (§ 56 GO-BT) insbesondere ein Gegengewicht zu dieser Dominanz geschaffen und explizit die Position des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt werden (vgl. Braß 1990: 89; Hoffmann-Riem & Ramcke 1989: 1262).45 Die dialogische Beratungsform zwischen Abgeordneten und Sachverständigen versprach eine Rationalisierung von Politik »jenseits von Dezisionismus und Technokratie« (Euchner, Hampel & Seidel 1993: V). Später trat neben die ursprünglichen Absichten die Erwartung, »mit Hilfe von Enqueten intensiver und umfassender als bisher auf in der Öffentlichkeit zum Teil zunehmend heftiger geführte Kontroversen eingehen und die darin aufgeworfenen Problemlagen besser bewältigen zu können.« (Krevert 1993: 228) Indes herrscht die Meinung vor, dass die Kommissionen des Parlaments die in sie gesetzten Erwartungen allenfalls bedingt erfüllen konnten. Ihre Öffentlichkeitswirkung blieb beschränkt (vgl. Altenhof 2002: 321ff., 341f.). Da sämtliches Handeln maßgeblich von den politischen Verwendungszusammenhängen geprägt ist, wird häufig eine symbolisch-rituelle 44
vgl. Richtlinien für die Behandlung der Ausschussprotokolle gemäß § 73 Abs. 3 GO-BT (Anhang II zur GO-BT: I., Nrn. 1 und 2). 45 Die Enquete-Kommissionen gelten in Form und Funktion mittlerweile als gut erforscht. Zur Entstehung vgl. insb. Lompe, Rass und Rehfeld (1981: 185ff.) sowie Altenhof (2002: 61ff.); Fallstudien bieten z.B. Gayl (1993) und Vowe (1991). Über interne Macht- und Funktionszusammenhänge existiert anekdotische Evidenz von »Insidern« (vgl. Hoffmann-Riem 1988, 1993; Kleinsteuber 2006; Pott 2003; Seiwert 1999; Schenkel 2000).
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
91
Funktion von Enquete-Kommissionen betont (vgl. Hoffmann-Riem 1988: 69; HoffmannRiem & Ramcke 1989: 1283), die sie auf ein Forum zum regelgeleiteten Prozessieren von Dissens beschränkt (vgl. Euchner, Hampel & Seidel 1993: 32f.). Bei parteipolitisch kontroversen Themen markierten sie u.U. gar den »Schleichweg zur Nichtentscheidung« (Hoffmann-Riem 1988), einzelne Kommissionen werden als gescheitert betrachtet (vgl. ebd.; Seiwert 1999: 339). Die Arbeitsergebnisse der Kommissionen trugen nur in Einzelfällen zum kurzfristigen Politikwandel bei: »Wo grundlegende Entscheidungen zu fällen waren, verzichtete das Hohe Haus auf die ›Vorlagen‹ einer Enquete-Kommission.« (Altenhof 2002: 334)
Wissenschaftliche Beratungsdienstleistungen Zu Beginn der 1970er Jahre wurde auch eine Beratungsmöglichkeit für die regelmäßige Arbeit der Abgeordneten deutlich ausgebaut. Bei den Wissenschaftlichen Diensten des Deutschen Bundestages handelt es sich um eine die Abgeordneten unmittelbar beratende Behördeneinheit, die zur Verwaltung des Deutschen Bundestages gehört und an die auch die Sekretariate der Fachausschüsse angegliedert sind (vgl. Schindler 1989: 844f.; Weber 2003: 80-85). Sie konstituiert weniger eine wissenschaftliche Beratungskapazität durch eigene Forschung oder die Vergabe von Forschungsaufträgen nach außen. Vielmehr ist sie ein Dienstleister, der bereits bestehende Forschungsergebnisse, wissenschaftliche Sachverhalte oder Rechtslagen für die Parlamentsarbeit aufbereitet (desk research), ohne dabei über eigene Steuerungs- und Öffentlichkeitsfunktionen zu verfügen (vgl. Zeh 1983: 281; Backhaus-Maul 1990: 32ff.). Der Vorteil wird in der schnellen, unkomplizierten und vor allem parteipolitisch neutralen Beratungsform durch kurze Expertisen gesehen (vgl. Krevert 1993: 133). Soweit ersichlich gibt es im Umfeld des Bundestages derzeit keine zur Information und Methodenvermittlung geeignete Institution, die so wenig interessengebunden, fachlich verengt, bürokratisch verwurzelt und verbandsimprägniert wäre wie die Wissenschaftlichen Dienste. (Zeh 1983: 285)
Im Hinblick auf ihre Weiterentwicklung ist u.a. angeregt worden, durch sie Gesetzesfolgenbeobachtung und -abschätzung bzw. parlamentsnahe Evaluierung zu betreiben (vgl. Kretschmer 1984: 420). De facto sind die Dienste seit ihrer Einrichtung jedoch weder in ihrer Kapazität noch in ihrem grundsätzlichen Leistungsprofil deutlich erweitert worden. Daher kommen sie als Ort übergreifender Policy-Beratung jenseits von Spezialaufträgen und Einzelfragen kaum in Betracht (vgl. Winter 2006: 209; Petermann 1988: 420f.). Als Institut parlamentarischer Politikberatung muss schließlich auch das Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) genannt werden (vgl. Petermann & Coenen 1999; Petermann & Grunwald 2005). Technikfolgenabschätzung – von Paschen (1999: 77) als missverständliche und unzulängliche Übersetzung von technology assessment bezeichnet – erfährt in den letzten Jahren im Zusammenhang mit der Bedeutung gesellschaftlicher Diskurse über Technik-Kontroversen verstärkte Aufmerksamkeit (vgl. Renn 1999a; Renn & Oppermann 1998; Saretzki 2003a). Das TAB wurde 1990 nach einem langen Diskussionsprozess und gegen erhebliche Widerstände als externe Forschungseinrichtung institutionalsisiert, die dem Bundestag politikberaterisch zuarbeiten sollte (vgl. Petermann 1988). Ähnlich wie bei den Enquete-Kommissionen bestand ein wesentlicher Beweggrund darin, im
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Bereich der wissenschaftlich-technologischen Information und Beratung ein Gegengewicht zum Apparat der Exekutive bzw. den advokatorischen Informationen aus Wirtschaft und Gesellschaft zu schaffen. Daneben sollte das Parlament als Diskussionsforum gesellschaftlich relevanter Technikdebatten gestärkt und die parlamentarische Kontrolle der Regierungsarbeit verbessert werden.46 Nach einer Änderung der Geschäftsordnung obliegt es dem Bundestagsausschuss für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung, das TAB zu beauftragen (§ 56a GO-BT). Seit Ende der 1990er Jahre wird an einer Weiterentwicklung des TAB dahingehend gearbeitet, die Öffentlichkeit stärker in Beratungsvorgänge einzubeziehen, was in Zusammenhang mit der auch seitens der OECD geäußerten Forderung nach einer »kommunikativen Wende« in der Technologiepolitik steht (vgl. Petermann 1999: 163). Dabei werden insbesondere folgende Optionen diskutiert und z.T. bereits praktiziert: eine Stärkung von TA-Prozessen und öffentlichen Technikdebatten durch Öffnung des Prozesses der Themenfindung um die Perspektiven gesellschaftlicher Gruppen, der Einsatz partizipativer Verfahren der Wissensgenerierung als Supplement wissenschaftlichen Wissens, die Entwicklung politischer Handlungsoptionen als öffentlicher Prozess (vgl. dazu insb. Hennen 2005: 267ff.; Hennen, Petermann & Scherz 2004) Im Hinblick auf die bisherigen Auswirkungen wird dem TAB eine eher gemische Bilanz zugeschrieben. So wirke seine Arbeit vor allem in fachlicher Hinsicht durch die Einbeziehung eines umfassenden Spektrums wissenschaftlicher Positionen repräsentativ. Zwar besteht der Versuch, die Ergebnisse von Studien in eine politikwirksame Form zu überführen, doch offenbar verbleibt ein relativ großes Maß an Komplexität, das zusammen mit der schwachen Anschlussfähigkeit von TA-Fragen an das politische Anreiz- und KarriereSchema zu gelativ geringer Reichweite führt (vgl. ebd.: 120ff.). »Bei einer ganzen Reihe von Abschlußberichten zu TA-Projekten des TAB haben die beteiligten Ausschüsse nach meist intensiven Beratungen lediglich ›Kenntnisnahme‹ beschlossen und damit den parlamentarischen Beratungsprozeß offiziell beendet.« (Paschen 1999: 88).
1.2.4.3 Unabhängige Räte Neben den Beratungskapazitäten im unmittelbaren Bereich der Regierung und denen des Parlaments nehmen weitgehend selbständig tätige Beratungskollegien wie der 1963 gebildete Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) eine Sonderstellung ein (vgl. Brohm 1987: 226f.; Krevert 1993: 109).47 Formal darf der SVR in seinem Jahresgutachten, für das eine Veröffentlichungspflicht besteht und zu dem die Bundesregierung binnen acht Wochen Stellung beziehen muss, keine direkten Empfehlungen an die Politik aussprechen; er umgeht dieses Empfehlungsverbot jedoch in der Praxis durch implizite Ratschläge (vgl. Thunert 2004: 396f.). Neben der Darstellung der wirtschaftlichen Lage und ihrer Entwicklung soll der Rat auch Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder Beseitigung aufzeigen, um damit bei den wirtschaftspolitisch Verantwortlichen und in der Öffentlichkeit die Urteilsbildung zu erleichtern – also
46
vgl. BT-Drs. 14/9919 vom 3. September 2002: 4. In diesem Abschnitt wird lediglich der SVR knapp beschrieben. Zu dem auf der Grundlage eines Bund-LänderAbkommens errichteten Wissenschaftsrat als zweites wichtiges Beispiel für ein quasi-unabhängiges Beratungsgremium von Sachverständigen vgl. Bartz (2006) und Stucke (2006).
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1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
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explizit die Öffentlichkeit beraten und eigeninitiativ Lösungsansätze präsentieren (vgl. Krevert 1993: 111f.). Im Hinblick auf ihre Wirkmächtigkeit als entscheidungsrelevante Beratung werden die Gutachten der Sachverständigen eher skeptisch beurteilt; die »getarnten Empfehlungen« des Rates stießen häufig auf »reflexartige Ablehnung« (Pitlik 2001: 68). Vor diesem Hintergrund ist die heftige demokratiepolitische Kritik auffällig, die das Institut besonders in den ersten Jahren seiner Existenz aus verfassungsrechtlich-normativ Perspektive auf sich zog: Damals konstatierten Staatsrechtler, mit dem SVR sei »der Punkt erreicht, an dem fachkundige Beratung der politischen Instanzen, gegen die nichts einzuwenden ist, in eine unverantwortliche Nebenregierung umschlägt, die der demokratischen Legitimation entbehrt.« (Böckenförde 1964: 257; vgl. auch Heinze, C. 1967). Diese Kritik erwies sich jedoch als wenig stichhaltig, u.a. weil der Bundestag in Errichtung und Tätigkeit des Rates eingebunden war, seine Gutachten bei Nichtgefallen geflissentlich ignoriert wurden und er im Laufe der Jahre an Bedeutung einbüßte (vgl. Brohm 1987: 227). Strätling (2006: 360) sieht sogar den Eindruck eines Nischendaseins begründet, »wenn Bundesregierung und Opposition jeweils unwidersprochen die Erörterung des Jahresgutachtens als pauschale Bestätigung ihrer Arbeit einordnen.«
1.2.4.4 Tripartismus und Konzertierung: Neokorporatistische Verhandlungsrunden Die insitutionelle Ausgestaltung tripartiter – d.h. unter Beteiligung von Vertretern des Staates, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer stattfindender – Beratungsformen ist vielfältig. Sie reicht von meso-korporatistischen Netzwerken in einzelnen Politikfeldern bis zu übergreifenden Arrangements der Konzertierung (vgl. Kap. 1.1.2.1; zur Terminologie: Jochem & Siegel 2003: 12ff.; aus ländervergleichender Sicht: Hassel 1999). Fest institutionalisierte Formen sind erst zweimal zustande gekommen: 1966 bis 1977 als Konzertierte Aktion und 1998 bis 2003 als Bündnis für Arbeit (vgl. Schroeder & Esser 1999). Die Herausbildung einer »neokorporatistischen« Verhandlungsdemokratie in der Bundesrepublik wird eng mit dem Wirken der ersten Großen Koalition von 1966 bis 1969 in Verbindung gebracht. Unter dem Eindruck des wohlstandsbedingt schwindenden Parteienwettbewerbs setzten sich Vorstellungen einer koordinierten, auf Konsens zwischen dem Staat, seinen Gebietskörperschaften und den autonomen Interessengruppen ausgerichteten, wissenschaftlich beratenen Globalsteuerung wirtschafts- und sozialpolitischer Sachverhalte durch (vgl. Lehmbruch 1999: 42ff.; ). Im Rahmen des Stabilitätsgesetzes48 wurde u.a. die Einrichtung der Konzertierten Aktion vorgesehen. Sie sollte auf verschiedenen Ebenen das wirtschaftspolitische Verhalten staatlicher und verbandlicher Akteure mit dem Ziel des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts aufeinander abstimmen und verbindliche Absprachen erreichen. Dies gelang allenfalls bedingt. Die Konzertierte Aktion endete durch den Ausstieg der Gewerkschaften infolge einer Verfassungsklage der Arbeitgeberverbände gegen das Mitbestimmungsgesetz von 1976, nachdem sie durch stetige Erweiterung des Teilnehmerkreises kaum mehr handlungsfähig war (zu Genese, Resultaten und Kritik vgl. Lehmbruch 1999: 50ff.; Ruck 2004; Schroeder & Esser 1999: 3ff.; Sebaldt 2004: 193f.)
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Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vom 8. Juni 1967, BGBl. I 1967: 582
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Das Bündnis für Arbeit Im Dezember 1998 bildete die rot-grüne Bundesregierung als zentrales Projekt ein Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit (vgl. Fickinger 2005: 101ff.; Klein, M. 1999: 234f.; Ruck 2004: 343f.). Zwischen dem Bundeskanzler, den Präsidenten der vier führenden Wirtschaftsverbände sowie sechs Gewerkschaftsvorsitzenden sollten generelle politische Leitlinien verabredet und in neun spezialisierten Arbeitsgruppen konkretisiert werden, welche durch einen mit Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlern besetzte Benchmarking-Gruppe beratend unterstützt wurde (vgl. Fickinger 2005: 130f.; Heinze 2002: 86f.). Neben dem Hauptziel der Verringerung der Arbeitslosigkeit ergaben sich insgesamt zwölf konkrete wirtschafts- und sozialpolitische Ziele (vgl. Schroeder & Esser 1999: 10). Zwar konnten im Verlauf des Bündnisses eine Reihe von kleineren Teilabsprachen erreicht werden, sein Ziel eines konzertierten Vorgehens in der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik verfehlte das Bündnis jedoch; die Arbeitslosigkeit konnte nicht signifikant verringert werden. Nach mehrmonatigem Stillstand während der Jahre 2001 und 2002 wurde im Rahmen eines im Frühjahr 2003 zu seiner Revitalisierung angesetzten Spitzentreffens das Scheitern des Bündnisses festgestellt. Nico Fickinger (2005), der eine detaillierte und empirisch gesättigte Bilanz des Bündnisses und seiner Maßnahmen vornimmt, nennt eine ganze Reihe von Komplexen, die sich auf das politische Scheitern auswirkten: Weder unter den Spitzenakteuren noch in der Benchmarking-Gruppe wurde ein Konsens über die Ausgangslage hergestellt, eine ordnungspolitische Grundsatzdebatte über die gebotene Arbeitsund Aufgabenteilung im Bündnis fand nicht statt, die einzelnen Politikschritte wurden nicht ausreichend koordiniert (»kein Masterplan des Bündnisses«; ebd.: 163), ein Klima des Vertrauens und der klaren Zielvorgaben durch den Kanzler konnte ebenfalls nicht erzeugt werden und es kam nicht dazu, dass die Einhaltung der Absprachen sichergestellt wurde (vgl. ebd.: 138-185 sowie Schmid, G. 2003a: 73). Einen komplexeren Blick wählt ex post Wolfgang Streeck, der die These vertritt, ein dreiseitiger Konsens sei »vor allem wegen endemischer Funktionsschwächen des staatlichen und Parteiensystems« nicht zustande gekommen (Streeck 2003). Jenseits der materiellen Resultate des Bündnisses, die aus problemlösungsorientierter Perspektive von zahlreichen Autoren als bescheiden oder kontraproduktiv beurteilt werden (vgl. statt vieler Butterwegge 2006: 165f.; Fickinger 2005: 241ff.) hat sich die Politikwissenschaft kaum mit macht- und demokratiepolitischen Analysen des Bündnisses beschäftigt, wie insbesondere Christine Trampusch kritisiert. Sie bezeichnet hingegen im Hinblick auf alle beteiligten Akteure »das Bündnis als Opportunitätsstruktur für alte und während des Bündnisprozesses noch zu entdeckende Ziele«, bei denen »Machterhaltungs- Machtverschiebungs- und Machtverteilungsinteressen im Vordergrund« gestanden hätten (Trampusch 2004: 542). So habe das Bündnis aus Sicht der SPD, die es zusammen mit den Gewerkschaften als primäre Kampagnenstrategie genutzt habe, »schon mit dem Wahlsieg, spätestens jedoch mit dem Abgang Lafontaines seine Schuldigkeit getan« (ebd.: 554). In Bezug auf Input-demokratische Gesichtpunkte wurde hingegen bereits früh die Architektur des Bündnisses kritisiert. Durch die korporative Struktur zwischen Regierung und Spitzenakteuren der Arbeitsgesellschaft ergäben sich Asymmetrien zulasten nicht berücksichtigter, vermeintlich peripherer Akteure, die mit angeblich höherer Effizienz nicht zu rechtfertigen seien und die das »soziale Kapital« der Gesellschaft marginalisierten (vgl. Leggewie 1999: 16ff.).
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Generell laufen die Bündnispartner Gefahr, aus Gründen der Effektivität und Sicherung der ›Regierbarkeit‹ die demokratische Transparenz und Legitimation ihrer Politik zu vernachlässigen. Dies gilt für den Vorgriff auf parlamentarische Entscheidungen […], aber auch für die Beteiligung anderer ›gesellschaftlich relevanter Gruppen‹ (ebd.: 24).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Bündnis sowohl aus Input-demokratischer wie aus effizienzpolitischer Perspektive eine fragwürdige Beratungsform darstellte. Auch der beschränkte machtpolitische Nutzen für die beteiligten Akteure zeigte sich nicht zuletzt darin, dass einerseits die Sozialpartner auf ihren Positionen beharrten und damit das Bündnis scheitern ließen bzw. andererseits die Bundesregierung – unterstützt durch den Skandal bei der Bundesanstalt für Arbeit – ihre passive Moderatorenrolle in der Arbeitsmarktpolitik aufgab und die Hartz-Kommission berief (vgl. Kap. 1.2.5 sowie Fn. 816).
1.2.4.5 Verhandlung und Bargaining: Parteipolitische Kompromissverfahren Parteipolitische Verhandlungen stellen eine Policy-Beratungsform da, die vor allem im unmittelbaren Bereich der Entscheidungsvorbereitung stattfindet, meist wenig wissenschaftlichen Sachverstand umfasst, dafür aber i.d.R. eine politische Entscheidung einschließt. Verschiedene Varianten können dabei als funktional ähnlich angesehen werden: 1.) Konsensverhandlungen innerhalb der regierenden Koalition über ein gemeinsames Policy-Programm – im Stadium von Koalitionsgesprächen oder bei der Erarbeitung eines Gesetzentwurfes; 2.) Beratung im Vorfeld von Gesetzesvorhaben, die bereits im Bundestag die Zustimmung der Oppositionsparteien erhalten sollen, sowie 3.) Verhandlungen über einen Kompromiss im Vermittlungsausschuss im Falle zustimmungspflichtiger Gesetze. Parteipolitische Verhandlungen sind als Beratungsform wenig formalisiert, lassen sich wegen des vorhandenen grundgesetzlichen Rahmens jedoch am besten am letztgenannten Beispiel darstellen. Der in Art. 77 GG verankerte Vermittlungsausschuss hat sich in der politischen Praxis der Bundesrepublik zu einem wichtigen, integralen Bestandteil des Gesetzgebungsverfahrens entwickelt. Bei Gesetzesbeschlüssen, die zwischen Bundestag und Bundesrat strittig sind, obliegt ihm »der Versuch einer politisch-parlamentarischen Kompromißfindung in einem institutionalisierten Ausgleichsverfahren« (Dietlein 1989: 1565). Das Gremium ist paritätisch mit je 16 Vertretern aus Bundestag (im Verhältnis der Stärke seiner Fraktionen) und Bundesrat (je einer pro Bundesland) besetzt.
Intransparente Beratung Meist geht ein breites öffentliches und mediales Interesse an seinen Ergebnissen mit dem Wirken des Vermittlungsausschusses einher. Diesem Interesse sowie der großen Tragweite seiner in der Regel von Bundestag und Bundesrat »bestätigten« Beschlüsse steht jedoch eine geringe Regelungstiefe und Transparenz seiner Verfahren gegenüber (vgl. Dästner 1995: 5). Vergleicht man den Transparenzgrad des Verfahrens mit dem Öffentlichkeitsanspruch sonstiger formaler parlamentarischer Vorgänge, so rangieren die Sitzungen des Vermittlungsausschuss sicherlich am unteren Ende der »Transparenzskala«. Die Protokolle des Vermittlungsausschuss werden in der Regel erst in der übernächsten Wahlperiode veröffentlicht. Unter strenger Beachtung einer gesonderten Geschäftsordnung haben neben
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seinen Mitgliedern nur die jeweils zuständigen Minister – nicht ihre Beamten – sowie die Mitarbeiter der Geschäftsstelle ein Zutrittsrecht. Bundestag und Bundesrat wird lediglich über das Ergebnis Bericht erstattet bzw. ein Einigungsvorschlag unterbreitet. Die zentrale Begründung dafür liegt im Vertraulichkeitsschutz, der als wesentliche Bedingung für die Funktionsfähigkeit des Ausschusses angesehen wird und ihn vor der massiven Einschränkung der Einigungsmöglichkeiten durch die Einflussnahme von Interessengruppen, Ministerialbürokratien, Fraktionen und Parteien bewahrt (vgl. Hasselsweiler 1981: 162; Dästner 1995: 86). Gleichzeitig stellt die Intransparenz der Beratungen den Ansatzpunkt für normative Kritik dar, nach der »diese Verfahrensnorm als Einfallstor für einen substanziellen Verlust an öffentlicher politischer Kontrolle über das Parlament angesehen wird.« (Dästner 1995: 86). Durch seine de facto-Entscheidungsmacht wird er jedoch als »intermediäres Organ zweier Verfassungsorgane mit eigenen akzessorischen Kompetenzen« qualifiziert (Kluth 2005: 1005). Nur seine legitimitätsstiftende verfassungsrechtliche Bedeutung als Kompromissarena zwischen sonst praktisch unüberbrückbaren Interessengegensätzen sowie der Vorbehalt, dass seine Vorschlagskompetenz rechtlich niemals in tatsächliche Entscheidungsgewalt verwandelt werden kann, entlasten das Vermittlungsverfahren vom Vorwurf, als »meta-demokratisches Arcanum« einen »Fremdkörper im System geteilter und verschränkter Gewalten« darzustellen (Hasselsweiler 1981: 74; vgl. Dietlein 1989: 1565).
Argumentieren in pluralisierten Verhandlungssituationen Explizit steht die politische Kompromissfindung im Vordergrund; implizit ist damit der Kommunikationsmodus »Verhandeln« induziert. Die tatsächlichen Kommunikationsprozesse innerhalb des Ausschusses standen jedoch kaum im Blickpunkt wissenschaftlicher Forschung. Dies führt zum Eindruck, beim Vermittlungsverfahren handele es sich um ein auf reine »Abtauschlösungen« und Koppelgeschäfte hinaus laufendes Entscheidungsinstrumentarium. Markus Spörndli (2004) hat hingegen die Diskursqualität der Verhandlungen sowie deren Auswirkungen auf die getroffenen politischen Entscheidungen in den Mittelpunkt seiner empirischen Untersuchung gestellt. Vor dem Hintergrund deliberativdiskursiver Politikmodelle betont er dabei insbesondere die Output-Dimension eines Elitendiskurses bei der Entscheidungsfindung. Kompromisse stellen demnach zwar die übliche Form der Einigung im Vermittlungsverfahren dar, dennoch ließen sich vereinzelt auch eindeutige Konsense feststellen (ebd.). Bedeutsam ist daneben die empirische Erkenntnis, dass mit einer höheren Qualität des Diskurses in den Debatten offenkundig auch die Wahrscheinlichkeit dafür steigt, dass die später gefundene Entscheidung von allen Beteiligten in einmütiger Form getragen wird (Spörndli 2004: 179ff.). Es gibt im Vermittlungsverfahren – so die zentrale Erkenntnis – nicht nur Momente, »in denen die Argumentation das Abstimmungsergebnis stützt und damit vielleicht legitimiert, sondern auch Momente, in denen das Abstimmungsergebnis durch Argumentation verändert wird.« (ebd.: 187) Im Verfahrensablauf wird neben dem bargaining for compromise auch den informellen Kommunikationen ein hohes Gewicht beigemessen, wobei ebenfalls der Kommunikationsmodus »Argumentieren« anzutreffen ist. So dienen die üblichen Sitzungsunterbrechungen dazu, sowohl innerparteilich bzw. gruppenintern, als auch über Partei- oder Interessengrenzen hinweg Einigungsmöglichkeiten zu suchen und weiteres Vorgehen abzuklären (vgl. Dietlein 1989: 1573) bzw. Verhandlungslinien mit Fraktionsspitzen, der eigenen Lan-
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
97
desregierung, den Parteizentralen oder sachkundigen Beratern (telefonisch) abzustimmen (vgl. auch Leunig 2003: 44; zur Technik der »itio in partes« Lehmbruch 2000: 84). Auch diese externen Relationen können als »fakultative Beratungsprozesse« die jeweiligen Verhandlungsgrundlagen und Erkenntnishorizonte erweitern und auf Entscheidungen einwirken. Versuche der externen Einflussnahme begegnet der Ausschuss mit Verweis auf den Vertraulichkeitsgrundsatz grundsätzlich restriktiv.49 Nur unter sehr engen Einschränkungen werden Beamte aus Landes- oder Bundesministerien als sachverständige Berater zu den Sitzungen zugelassen (vgl. Hasselsweiler 1981: 96ff.). Dieser Ausschluss von Experteneinfluss wirkt jedoch nur vordergründig: In den nach § 9 der Geschäftsordnung des Vermittlungsausschusses (GO-VA) eingesetzten Unterausschüssen, Arbeitsgruppen und Kommissionen ist der Zugang von »anderen Personen« üblich (Dästner 1995: 86ff.). In diesen Arbeitsgruppen, die zu fast allen komplexeren Vermittlungsverfahren eingerichtet werden und die Einigungsvorschläge inhaltlich vorbereiten, im Gegensatz zum Vermittlungsausschuss selbst aber informal ablaufen und nicht offiziell protokolliert werden, öffnet sich der Beratungsprozess. Hier können Fachleute aus den Fraktionen oder Ministerialbürokratien mit der Beratung beauftragt werden. Bei der Bildung dieser Untergremien wird unter Effizienzkriterien von ganz unterschiedlichen Formen und Größen Gebrauch gemacht. Hier ergeben sich also Rückkopplungen und Feedback-Schleifen zwischen den Prozessbeteiligten und einem pluralen Akteursspektrum außerhalb der »black box Vermittlungsausschuss« – z.B. auch Experten in Wissenschaft und Interessenverbänden. Dadurch finden u.U. neue, ursprünglich nicht intendierte Beratungsaspekte Eingang in das Verfahren, die für einen selektiv oder kontingent »verbreiterten« Konsultationsprozess und ggf. sogar ein höheres Maß an Öffentlichkeit sorgen können – entsprechendes Medieninteresse vorausgesetzt. Die allgegenwärtige Intransparenz und das repräsentativdemokratische accountability-Defizit des informalen Verfahrens vermag dies freilich nicht auszugleichen – insbesondere dann, wenn nicht der verfassungsrechtlich legitimierte Ausschuss selbst, sondern die vielfach von ihm beauftragten Arbeitsgruppen die Entscheidungen präjudizieren (vgl. Leunig 2003: 45). Während aus staatsrechtlicher Perspektive die Praxis des Vermittlungsverfahrens als grundgesetzkonform gilt, werden jene o.g. parteipolitisch geprägten Verhandlungsrunden, die bereits im Vorgriff auf jegliches parlamentarisches Verfahren stattfinden, ungleich kritischer bewertet. Demokratiepolitisch wie verfassungsrechtlich markiere dieses informale (Vor-)Verhandlungsverfahren – ob als Koalitions-, Konsens-, Allparteien- oder »Elefanten«-Runde – eine Entparlamentarisierung durch Entformalisierung. Es sei »gekennzeichnet durch Exklusivität und Nichtöffentlichkeit, es beeinträchtigt Allgemeinheit und Gleichheit der Teilhabe der Volksvertreter – somit essentialia im Gesetzgebungsprozeß« (Puhl 2005: 677).
1.2.5 Gubernative Kommissionen Nicht nur in den Medien wurde die Einsetzung verschiedener Expertenkommissionen und Sachverständigenräte unter Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einer Inflation dieser 49
vgl. etwa die Ausführungen des Ausschussvorsitzenden Heribert Blens über verbandliche Einflussversuche im Rahmen der Verhandlungen um die Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes im Jahr 1996 (Stenographisches Protokoll der 1. Fortsetzung der 9. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 26. Juni 1996: 10f.)
98
1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen
Politikberatungsform – einer »Kommissionitis« oder »Räterepublik« – in Zusammenhang gebracht (vgl. Einleitung). Auch wissenschaftliche Abhandlungen gingen von einer gestiegenen Zahl beratender Gremien aus (vgl. z.B. Thunert 2004: 391; Tils & Bornemann 2004: 45). Empirisch können solche Wahrnehmungen hingegen nicht bestätigt werden. Es kann als gesichert gelten, dass es in den vergangenen Jahren eher zu einer quantitativen Abnahme gekommen ist, denn zu einer Inflation der Kommissionen.50 Da die Bezeichnung dieser Runden vielfältig und unsystematisch ist (vgl. Blumenthal 2003: 9), erfolgten Kritik und Analyse der verschiedenen »Aktionsbündnisse, Netzwerke, Kooperationen, Runde Tische, Kommissionen, Zukunftsinitiativen, Offensiven und Allianzen«51 oftmals in ungenauer Differenzierung voneinander.
Das »Pluriversum« der Kommissionen im Bereich der Regierung So wird einerseits das oben bereits diskutierte Bündnis für Arbeit – ein tripartistisches Verhandlungsgremium – als »Expertenkommission« rubriziert (vgl. Heinze 2004a: 51), andererseits die so genannte Atomkonsensrunde missverständlich als »erfolgreiche tripartistische Konzertierung« bezeichnet (vgl. Sebaldt 2004: 197).52 Um bessere analytische Klarheit als Ausgangspunkt für empirische Forschung zu erreichen, konzentrierten sich einige Beiträge darauf, die regierungsseitig verorteten Beratungsforen zu systematisieren (vgl. Schneider 2004, 2006; Siefken 2003). In Abschnitt 1.2.4.1 wurden bereits die Beratungskapazitäten im unmittelbaren Bereich der Regierung systematisch behandelt. Hinsichtlich der Gremien, die innerhalb der Organisationsgewalt der einzelnen Ressorts oder der gesamten Bundesregierung eingerichtet werden, ist dabei auf kurzfristig eingerichtete Kommissionen noch nicht näher eingegangen worden; behandelt wurden lediglich Sachverständigenräte (wissenschaftliche Beiräte, Fachbeiräte und gemischte Beiräte) und (regelmäßig eingerichtete) Berichtskommissionen. Sachverständigen- oder Expertenkommissionen werden über einen meist vorher festgelegten Zeitraum seitens der Bundesregierung oder eines einzelnen Ressorts mit einer bestimmten Aufgabe betraut und sind meist heterogen zusammengesetzt. Sie arbeiten unter Beteiligung von Sachverständigen aus Wissenschaft und/oder Interessengruppen/Verbänden; daneben sind bisweilen auch Vertreter aus Regierung, Parlament oder Ministerialbürokratie beteiligt (vgl. Siefken 2003: 496). Zu der Fülle von Kommissionen, die in den letzten Jahrzehnten zur Beratung einzelner Policy-Fragen im Auftrag der Regierung getagt haben, gehören beispielsweise kleine und hochspezialisierte Gremien wie die Kommission »Entlastung des Bundesverfassungsgerichts«, die unter Beteiligung von elf Vertretern der Rechtswissenschaften sowie der Bundesländer 1996/1997 im Auftrag des damaligen Bundesjustizministers Edzard SchmidtJortzig tagte (nach ihrem Vorsitzenden, dem ehemaligen Bundesinnenminister und Präsi-
50
vgl. dazu die Erhebungen und Diskussionen bei Unkelbach (2001: 12f.) und Siefken (2003: 484ff.). so etwa in ihren Kleinen Anfragen die FDP-Fraktion (BT-Drsn. 14/6901 vom 11. September 2001, 14/7404 vom 7. November 2001). 52 Die Atomkonsensgespräche können analytisch eher als bilaterale vertragliche Absprache zwischen der Bundesregierung und den Energieversorgungsunternehmen – und damit als lobbyistische Form der Policy-Beratung – gewertet werden (vgl. zum »Atomkonsens« Müller-Russell 2002: 66ff.). 51
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
99
denten des Bundesverfassungsgerichtes, »Benda-Kommission« genannt).53 Als Vorgänger der »Weizsäcker-Kommission« (s.u.) tagten im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums in regelmäßigen Abständen bereits drei Kommissionen zur Reform der Bundeswehr.54 Eine aufwändige, 36 Mitglieder umfassende Expertenkommission beschäftigte sich 1988/1989 mit »Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt« (Gewaltkommission).55 Das sicherlich bislang umfänglichste Kommissionsprojekt fand zwischen 1971 und 1976 im Auftrag der Bundesregierung statt: In die tripartit besetzte Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel berief sie sieben Wissenschaftler, je fünf Vertreter von Gewerkschaften und Unternehmensverbänden. Die Kommission war mit einem Budget von über zehn Millionen DM ausgestattet und vergab rund 170 Forschungsarbeiten, von denen 140 Gutachten in einer eigenen Schriftenreihe publiziert wurden (vgl. Kohn 1976). Auch während der Amtszeit der beiden rot-grünen Bundesregierungen wurde eine Reihe von ad-hoc-Kommissionen eingesetzt. Sven Siefken (2006) hat 25 zwischen Oktober 1998 und Oktober 2005 eingesetzte und beendete Gremien ermittelt, die drei Kriterien erfüllen: befristete Einsetzung, klarer Arbeitsauftrag sowie externe Besetzung, und diese als Expertenkommissionen bezeichnet. Seine an mehreren Variablen orientierte statistische Auswertung dieser 25 Expertenkommissionen ergibt, dass ein großer Teil dieser Gremien in der Öffentlichkeit relativ unbeachtet blieb und kaum in den Medien rezipiert wurde. Siefken identifiziert sie als wissenschafts- bzw. verwaltungsorientierte Expertenkommissionen (vgl. Siefken 2006: 577ff.; s. Abb. 3, Gruppe 1 und 3). Während erstere dem Paradigma wissenschaftlicher Politikberatung folgen und szientistische Expertise als Grundlage für politisches Handeln zur Verfügung stellen, ist die zweite Gruppe offenbar deutlicher auf die praxisorientierte Beratung der Ministerialbürokratie ausgerichtet. Interessant im Zusammenhang mit der Fragestellung der vorliegenden Arbeit scheinen jedoch insbesondere solche Kommissionen, die mit den politischen Führungsfunktionen des Regierens in Zusammenhang stehen, jene Gremien also, die im wahrsten Sinne des Wortes als Regierungskommissionen bezeichnet werden können.
Definition und Fallbeispiele Als gubernative Kommissionen oder öffentlichkeitswirksame Regierungskommissionen sollen im Hinblick auf die in Kapitel 3 untersuchte Unabhängige Kommission »Zuwanderung« solche Gremien zur Policy-Beratung bezeichnet werden,
53
vgl. »Entlastung des Bundesverfassungsberichts«. Bericht der Kommission vom 12. Dezember 1997; herausgegeben vom Bundesministerium der Justiz, Bonn 1998. 1970-1973 eine Wehrstruktur-Kommission (vgl. »Die Wehrstruktur in der Bundesrepublik Deutschland. Analyse und Optionen«, Bericht der Wehrstruktur-Kommission der Bundesregierung an die Bundesregierung, Bonn 1973); 1981/1982 eine (ministerielle) Kommission für die Langzeitplanung der Bundeswehr (vgl. Bericht der Kommission für die Langzeitplanung der Bundeswehr vom 21. Juni 1982, Bonn); 1990/1991 eine Unabhängige Kommission für die künftigen Aufgaben der Bundeswehr (vgl. BT-Pl.Pr. vom 16. Januar 1992: 5878C-5901D). 55 vgl. »Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt. Analysen und Vorschläge der Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)«, Band I: Endgutachten und Zwischengutachten der Arbeitsgruppen, Berlin 1990 (Duncker & Humblot). 54
100 1.
2.
3. 4. 5.
6.
1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen die auf höchster politischer Ebene – d.h. seitens einer Ressortspitze und/oder seitens des Kanzleramts – strategisch organisiert, geplant und eingesetzt werden und für die diese Gubernative (vgl. Kap. 1.1.1.6) die politische Verantwortung trägt; an deren Planung die an der Regierung beteiligten Parteispitzen (bzw. Entscheidungsträger dieser Parteien) entweder ideell mitwirken oder denen gegenüber sie sich billigend bzw. indifferent verhalten; die für einen von Anbeginn befristeten Zeitraum und mit einem konkreten, für die bundespolitische Gesetzgebung relevanten Arbeitsauftrag eingesetzt werden; mit denen Ziele verwirklicht werden sollen, die genuin der politischen Führungsaufgabe von Regieren nach innen und nach außen dienen (vgl. Kap. 1.1.3.1); die plural besetzt sind mit Wissenschaftlern, Einzelpersonen und Vertretern unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen oder Interessenverbänden, die für das zu beratene Policy-Issue relevant sind und die darin nach Möglichkeit zu einem konsensualen Ergebnis kommen sollen; die öffentlichkeitswirksam konstruiert sind bzw. eingesetzt werden und deren Ergebnisse von einer Vielzahl von Akteuren rezipiert werden sollen (vgl. dazu Schneider 2004: 212ff.).
Abbildung 3:
Typen von Expertenkommissionen 1998-2005 (Quelle: Siefken 2007: 309)
Diese hypothetische Typologisierung korrespondiert in ihren Grundzügen mit einer weiteren charakteristischen Gruppe von Expertenkommissionen, die Sven Siefken als »öffentlichkeitorientierte Kommissionen« identifiziert (vgl. Siefken 2006: 578f.; s. Abb. 3, Gruppe 2). Als Variablen für die Qualifizierung »öffentlichkeitsorientierter Kommissionen«
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
101
dienen die Medienresonanz der Gremien, die Anzahl der Fundstellen im Internet über die Suchmaschine Google, die visuelle Gestaltung ihrer Arbeitsberichte, der Umfang der Thematisierung der Gremien im Plenum des Deutschen Bundestages sowie der Grad der Personalisierung des Gremiums. Im Ergebnis seiner Auswertung zählt er neben der SüssmuthKommission die Weizsäcker-, die Hartz-, die Rürup- und die sog. SchlossplatzKommission zu den öffentlichkeitsorientierten Kommissionen (vgl. ebd. sowie Abb. 3). Aus drei Gründen soll die sog. Schlossplatz-Kommission in die folgende Aufzählung nicht als öffentlichkeitswirksame gubernative Kommission eingehen.56 Erstens wurde sie nicht direkt bei der Bundesregierung, sondern vom Bund und vom Berliner Senat gemeinsam berufen. Zweitens behandelte sie kein Thema, das als Teil eines genuin bundespolitischen Themenfeldes gelten kann und zu dessen legislativer Gestaltung sie unmittelbar beratend tätig geworden wäre. Drittens wies sie in Siefkens Auswertung eine geringere Medienresonanz auf als die Süssmuth-, Hartz- und Rürup-Kommissionen.
Öffentlichkeitswirksame gubernative Kommissionen 1.
2.
56
Die Weizsäcker-Kommission (Kommission »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr«; vgl. dazu Werkner 2002) wurde als Resultat eines diagnostizierten Reformbedarfes im Koalitionsvertrag der rot-grünen Bundesregierung 1998 vorgesehen und sollte auf der Grundlage einer aktualisierten Bedrohungsanalyse und eines erweiterten Sicherheitsbegriffs Auftrag, Umfang, Wehrform, Ausbildung und Ausrüstung der Streitkräfte überprüfen und Optionen einer zukünftigen Bundeswehrstruktur bis zur Mitte der 14. Wahlperiode vorlegen.57 Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping berief die 20-köpfige Kommission unter Vorsitz von Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 3. Mai 1999; am 23. Mai 2000 legte sie ihren Abschlussbericht vor.58 Die Hartz-Kommission (Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt) wurde im letzten Viertel der 14. Wahlperiode als unmittelbare Folge des Skandals um die manipulierte Vermittlungsstatistik der Bundesanstalt für Arbeit auf Betreiben des Bundeskanzleramts durch das Bundesministerium für Arbeit einberufen. Als grundlegende Faktoren wirkten jedoch auch das Problem der unverminderten Arbeitslosenzahlen sowie die Erfolglosigkeit des Bündnisses für Arbeit (vgl. Heinze 2003: 150; Siefken 2006a: 374f.). Die 15 Mitglieder umfassende Kommission erhielt am 22. Feb-
Die Internationale Expertenkommission »Historische Mitte Berlins« (so der offizielle Titel) wurde unter Hinweis auf die besondere Bedeutung des Berliner Schlossplatzareals als Ausgangspunkt der historischen und städtebaulichen Entwicklung der Stadt am 1. November bzw. am 31. Oktober 2000 von der Bundesregierung und vom Berliner Senat berufen und sollte auf der Basis städtebaulicher Überlegungen umfassende Vorschläge zur Bebauung des Schlossplatzes sowie zur städtebaulichen Gestaltung des umliegenden Areals erarbeiten. Die Kommission konstiuierte sich im Januar 2001 und legte im April 2002 ihren Abschlussbericht vor (vgl. http://www.bmvbs.de/,1514.933347/Die-Internationale-Expertenkom.htm; 09.07.2007). 57 vgl. »Aufbruch und Erneuerung – Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert«, Koalitionsvereinbarung zwischen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 20. Oktober 1998: 47. 58 vgl. BT-Drs. 14/1478 vom 10. August 1999; »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr«, Bericht der Kommission an die Bundesregierung vom 23. Mai 2000, Berlin. Laut ZEIT-Redaktion galt die Frage nach der Zukunft der Bundeswehr als »wichtigste politische Debatte des Jahres 2000« (vgl. »Wohin marschiert die Bundeswehr? Fakten, Meinungen und Dokumente zur wichtigsten politischen Debatte des Jahres 2000«, ZEIT Punkte Nr. 4/2000).
102
3.
1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen ruar 2002 den Auftrag, gesetzgeberische Schritte zum Umbau der BA zu einer modernen Dienstleistungseinrichtung vorzubereiten und darin ein Konzept für den zukünftigen Aufgabenzuschnitt, ein Konzept für eine neue Organisationsstruktur sowie ein Durchführungskonzept vorzulegen; bereits am 16. August 2002 übergab sie ihren Bericht.59 Die Rürup-Kommission (Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme) wurde zu Beginn der zweiten Amtszeit der rot-grünen Bundesregierung berufen. Vorausgegangen war ein koalitionsinterner Konflikt über das Vorhaben, das System der Sozialversicherungen zu reformieren (vgl. Brede 2006: 249f.). Das Gremium unter der Leitung des Professors für Finanz- und Wirtschaftspolitik Bert Rürup umfasste 26 Mitglieder und wurde am 12. November 2002 offiziell durch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt eingesetzt. Die Kommission erhielt den umfassenden Auftrag, umsetzbare und langfristig tragfähige Vorschläge zu erarbeiten, »die gleichermaßen geeignet sind, im Interesse einer Verbesserung der Beschäftigung die Lohnzusatzkosten zu dämpfen wie aus Gründen der generativen Gerechtigkeit die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Gesetzlichen Rentenversicherung, der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Soziale Pflegeversicherung zu erhöhen«. Ihren Abschlussbericht legte die Kommission am 28. August 2003 vor.60
Mögliche Funktionen und Motive Mit der Einsetzung von regierungsseitigen Beratungsgremien ist eine Vielzahl von ganz konkreten Handlungsmotiven, Intentionen und möglichen Funktionen in Verbindung gebracht worden, auf die im Folgenden knapp eingegangen werden soll. Da die für dieses Buch durchgeführte Fallstudie einem explorativ-thesengenerierenden methodischen Ansatz folgt (vgl. Kap. 3.1), werden diese Begründungszusammenhänge jedoch nicht im Sinne zu überprüfender Arbeitshypothesen herangezogen. Sven Siefken gelangt unter Berücksichtigung der einschlägigen Literatur über Expertengremien zu vier Motivgruppen, die für den oben skizzierten Typ der öffentlichkeitswirksamen (gubernativen) Regierungskommission ebenfalls in Frage kommen: 1.) die inhaltliche Klärung von Sachverhalten, 2.) die argumentative Stärkung der eigenen Position, 3.) die symbolische Lösung von Problemen sowie 4.) die Schaffung von Verhandlungssystemen zur Konsensfindung (vgl. Siefken 2007: 78-87). 1.
59
Das Motiv der inhaltlichen Klärung von Sachverhalten schließt an die Maxime an, über die Vermittlung von Information und Fakten »bessere« bzw. rationalere Politik zu ermöglichen und politische Probleme sachgerecht lösen zu können. Das Motiv für die Regierung besteht darin, fachliche Beratung im engeren Sinne heranzuziehen, die über herkömmliche Wege – etwa die Ministerialbürokratie als das »institutionalisierte Gedächtnis« der Regierung (vgl. Kap. 1.2.4.1) – nicht verfügbar erscheint. Es geht dann um die Entwicklung von Handlungsvorschlägen und die Generierung von Wis-
vgl. »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, Bericht der Kommission vom 16. August 2002, Berlin: 516; Siefken (2006a: 383); Weimar (2004). 60 »Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme«, Bericht der Kommission vom 28. August 2003, Berlin: 3.
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
2.
3.
4.
103
sen (vgl. Färber 2005: 137), um eine verbesserte Informations- und Entscheidungsgrundlage zu schaffen (vgl. Kropp 2003a: 341). In einer eher technokratischen Konzeptualisierung würde sich zumindest partiell die Steuerungsaufgabe verlagern, wenn Regierungskommissionen zu »hoch brisanten Fragen eine Lösung, eine politische Entscheidung vorlegen« sollen (vgl. Rudzio 2003: 307; Herv.i.Orig.). Zur argumentativen Stärkung der eigenen Position würden Kommissionen dann beitragen, wenn sie Ergebnisse hervorbringen, die inhaltlich dem Policy-Programm der Regierung (ihren »Schubladenentwürfen«) entsprechen. Dies würde voraussetzen, dass entweder durch die Auswahl der Mitglieder oder Einflussmöglichkeiten während der Arbeit der Kommission ihr Resultat in hohem Maße »steuerbar« ist. Der Beratungsprozess würde in der Hauptsache als Alibi zur Legitimierung längst getroffener interner Policy-Entscheidungen dienen (vgl. Mayntz 1994: 17) und die Autorität der Regierung stützen (vgl. Brohm 1987: 220; Murswieck 2003: 121f.). Hypothetisch wird aus einer »formell nur beratenden Kommission […] informell ein aktiver und zielgerichteter Faktor des Entscheidungsprozesses« (Rudzio 2005: 12). Denkbar sind ferner Konstellationen, in denen eine Regierungskommission nicht nur bereits vorhandene inhaltliche Policy-Vorstellungen der Gubernative untermauern, sondern deren allgemeine, übergeordnete Position strategisch dadurch stärken sollen, dass sie – jenseits des konkreten Beratungsinhalts – regierungsseitig Problembewusstsein und rationalen Problemlösungswillen verdeutlicht: »Kanzler und Minister regieren mit Hilfe dieses technokratischen Beiwerks unangefochtener« (Leggewie 2003: 110). Politikberatung dient hier als direkter Beitrag zur Agendabeherrschung (vgl. Murswieck 2003: 125). Gerade bezüglich der Öffentlichkeitswirkung sind gubernative Kommissionen auch als »Wahlkampfhilfe« beschrieben worden (vgl. Meßerschmidt 2004). Von hier sind die Übergänge fließend zu Funktionszusammenhängen, in denen gubernative Kommissionen primär zur symbolischen Lösung politischer Probleme dienen. Einerseits können sie Zeitgewinn bei als kritisch wahrgenommenen politischen Fragen bedeuten, andererseits als klares Instrument des »Agenda-Cutting« dienen (vgl. Siefken 2007: 82); ein Thema soll – möglichst dauerhaft – ruhig gestellt werden (vgl. Glombik 1987). Ebenso ist jedoch die umgekehrte Funktion denkbar: sie zum öffentlichen »Test« bestimmter Policy-Ideen zu nutzen, ohne zunächst die Verwirklichung dieser Ideen konkret zu betreiben (vgl. Siefken 2007: 83).61 Das Motiv, durch Regierungskommissionen Verhandlungssysteme zur Konsensfindung zu schaffen wurde insbesondere seitens der Bundesregierung explizit gemacht: »Die von der rot-grünen Bundesregierung initiierten Konsensrunden und Foren […] sind Beispiele für eine neue, ergebnisorientierte Dialogkultur zwischen Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und kritischer Öffentlichkeit […] und zielen auf einen ›innovativen Konsens‹ jenseits der traditionellen ideologischen Gräben.« (Steinmeier 2001: 265). Gleichzeitig wird hier das Motiv der Erneuerung deutlich. In Kommissionen werden gesellschaftliche Organisationen und Experten einbezogen, um eine »große und wachsende Zahl von Problemen, welche über die traditionelle Form der Konsens-
61 Bereits im Zusammenhang mit den englischen Royal Commissions ist die Strategie des jeweils zuständigen Ministeriums beobachtet worden, in der Vorbereitung größerer Reformen oder der Einleitung eines Politikwechsels Politikinhalte prämatur zu lancieren: »They present kite-flying suggestions to test the reactions from other bodies to suggested reforms, thereby forcing outside interests to formulate views on questions they had not prevoiusly considered« (Chapman 1973: 181).
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1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen bildung (durch Parteien und Parlamente) kaum noch zu lösen sind, in den Griff zu bekommen« (Heinze 2004: 117) und durch Vorverhandlung einer qualitativ höherwertigen Lösung zuzuführen. Das Konsens-Motiv zielt indes nicht nur auf die unmittelbar beteiligten Akteure, deren »Herkunftsorganisationen« oder das engere politische System, sondern auch in die breite Öffentlichkeit. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass jenseits der Frage, ob die Kommission zu einem einmütigen Abschlussbericht ohne Minderheitenvoten gelangt, bereits die Tatsache, dass Vertreter unterschiedlicher Positionen in einer Kommission zusammenwirken, auf einen grundlegenden Problem-Konsens hindeutet und eine entsprechende Außenwirkung hervorbringt.
Verfassungsrechtliche und demokratiepolitische Kritik Die Einsetzung von Expertengremien verband bereits Anfang der 1960er Jahre der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde mit der Befürchtung, dadurch könne die »eigentliche politische Sachentscheidungen von den politischen Instanzen weg auf unabhängige, politisch neutralisierte Sachverständigengremien verlagert« werden (Böckenförde 1964: 257; vgl. dazu auch Fn. 837). Rund 40 Jahre später befand der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes Hans-Jürgen Papier ganz ähnlich, durch Gremien wie die Hartz-, Rürup-, Süssmuth- und Weizsäcker-Kommissionen werde tendenziell die »eigentliche Sachentscheidung aus dem Parlament und dem parlamentarischen Verfahren hinausverlagert«. Gleichzeitig wirke die Artikulation partikularer Interessen »in die verfassungsmäßigen Verfahren staatlicher Willensbildung hinein«.62 Die Kritik an gubernativen Kommissionen ist Teil eines verfassungsrechtlichen Literaturkorpus’, der sich normativ mit Prozessen der Informalisierung und daraus erfolgender Entparlamentarisierung im deutschen Regierungssystem auseinandersetzt. Diese Literatur diskutiert ferner die Vorprägung von Gesetzesinhalten durch die Ministerialbürokratie, die Verlagerung politischer Entscheidungen in Partei- und Koalitionsgremien, die »Hochzonung« politischer Entscheidungen auf die Ebene der EU bzw. globaler Regime, die Erosion der Budgethoheit des Parlaments sowie die vertragsförmigen Kooperationen zwischen Staat und gesellschaftlichen Gruppen. Die vermeintliche Wirkung von Kommissionen ist hier also nur eine Facette eines übergreifenden Phänomens (vgl. u.a. Herdegen 2003; Kirchhof 2004; Klein, E. 2004; Morlok 2003; Puhl 2005; Ruffert 2002). Die zentrale Überlegung einiger Autoren besteht darin, dass diese Gremien nicht lediglich die informatorische Ermittlung und Darstellung von Entscheidungsgrundlagen übernehmen, sondern die Entscheidung selbst maßgeblich vorstrukturieren und de facto eine Vorentscheidung treffen, beispielsweise indem das Parlament seitens der Regierung dahingehend bedrängt wird, bestimmte Empfehlungen seien »eins zu eins« umzusetzen.63 Darin wird zwar kein direktes verfassungswidriges Handeln diagnostiziert, denn: Rechtlich wird die Kompetenz zur Letztentscheidung nicht in Frage gestellt. Vielmehr sei ihr »das materielle Substrat entzogen, weil die politische Weichenstellung früher und außerhalb des Parlaments erfolgt« (Ruffert 2002: 1149; vgl. Klein, E. 2004: 25). Es wird von einer Vorprägung politischer Entscheidungen gesprochen, die parlamentarische Gestaltungsmacht schmälere (vgl. Herdegen 2003: 15). Neben faktischen Einbußen bei der Mitentscheidung 62 63
Hans-Jürgen Papier, »Reform an Haupt und Gliedern« (s. Fn. 1). Hans-Jürgen Papier, »Reform an Haupt und Gliedern« (s. Fn. 1).
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
105
zehre »in scheinbar milder, jedoch wirksamer Form« insbesondere die »Verlagerung des legislativen Diskurses auf außerparlamentarische Foren an der Autorität des Parlaments als Hort der repräsentativen Diskussion.« (ebd.: 13; Herv.d.Verf.) Da der Deutsche Bundestag als gesetzgebendes Organ prinzipiell in der Lage wäre, auf seine verfassungsgemäße Repräsentationsfunktion zu bestehen, wird die Schwächung des Parlaments im Hinblick auf die politischen Diskurs- und Entscheidungsprozesse weitgehend als »Selbstentmachtung« interpretiert (vgl. ebd.; Herdegen 2003: 18f., 21ff.; Klein, E. 2004: 27; Ruffert 2002: 1149f., 1154). In der Politikwissenschaft ist diese Kritik ebenfalls aufgenommen worden (vgl. statt vieler: Blumenthal 2003), bis hin zu relativ pauschalen Urteilen, Regierungskommissionen und so genannte Konsensrunden führten zu einer Entmachtung des Parlaments und verdrängten »Politik sowie politische Entscheidungsfindung in einen undurchschaubaren Arkanbereich.« (Lösch 2005: 11) Neben die Hypothese entscheidungsorientierter Macht- und Steuerungseinbußen tritt hier das Argument der Depublizität und Intransparenz durch Policy-Beratungsformen unter Beteiligung von Kommissionen. Damit eng verbunden ist die Frage nach der mangelnden politischen Verantwortung: In intransparenten Politikprozessen kann politisches Handeln nicht mehr klar zugeschrieben werden (vgl. Blumenthal 2003: 10). Hinzu tritt ein demokratietheoretischer Vorbehalt hinsichtlich der Beteiligung von Interessen: Die Repräsentation ist durch selektive Auswahl eingeschränkt, insbesondere weil Vertreter von Einzelinteressen keine Gemeinwohlorientierung bzw. -verpflichtung aufweisen (vgl. ebd.: 11f.). Dabei wird vereinzelt durchaus anerkannt, dass unterschiedliche Regierungskommissionen möglicherweise auch ganz unterschiedliche Auswirkungen auf den (parlamentarischen) Politikprozess haben. Eine in diesem Sinne elaborierte Hypothese findet sich bei Hans-Peter Meister: Arbeiten die Kommissionen effektiv, sind sie demokratietheoretisch bedenklich; gelingt es ihnen jedoch nicht, Vorschläge in die politische Diskussion einzubringen, werden sie als (Mit-) Ursache für fehlende Reformfähigkeit des politischen Systems gebrandmarkt. (Meister 2004: 33).
Eine im Vergleich zu den oben wiedergegebenen Diagnosen eher »softere« Einschätzung der Entparlamentarisierung sieht weniger den tatsächlichen materiellen Entscheidungsvorbehalt des Parlaments betroffen, sondern geht von einer symbolischen Wirkung aus. Sie liest Entparlamentarisierung durch gouvernementale Kommissionen als Entzug der »legislativen Diskurshoheit«, durch die das Parlament als Ort der Deliberation und Entscheidung »gleichsam entmystifiziert« werde (Tils & Bornemann 2004: 46). Ganz abgesehen von der theoretisch diskutierten Frage, ob der Deutsche Bundestag in der Verfassungswirklichkeit tatsächlich (noch) der Hauptort materieller Entscheidungsprozesse ist,64 gilt es also im Hinblick auf die verfassungspolitisch und repräsentationsdemokratisch begründete Kritik jeweils im Einzelfall empirisch zu überprüfen, inwieweit
64
Die genannten Verfassungsrechtler – so kritisiert Eberhard Schuett-Wetschky (2005) – hingen überwiegend einem praxisfernen traditionellen Konzept parlamentarischer Repräsentation an. Dieses Konzept ginge vom Deutschen Bundestag als einem parteiunabhängigen Kollegialorgan aus, das aufgrund ergebnisoffener Beratung zu einer Entscheidung finde. Dem setzt der Autor ein radikal realistisches Repräsentationskonzept entgegen, in dem das Parlament nicht als Entscheidungs- sondern primär als Beschlussorgan fungiert, das den durch geschlossen agierende politische Parteien repräsentierten Willen ausführt (Parteien als Entscheidungsträger; vgl. ebd.: 499f.; vgl. auch ders. 2001, 2002, 2003).
106 1.
2. 3.
1 Regieren und Policy-Beratung – Grundlagen und Konzeptualisierungen Chancen der parlamentarischen Mitentscheidung und -steuerung durch gubernative Kommissionen zusätzlich eingeschränkt – oder vielleicht sogar wider Erwarten verstärkt ermöglicht – werden, das Parlament als Diskursarena und öffentlichkeitswirksamer Ort der politischen Auseinandersetzung Einbußen erfährt und Publizität und Transparenz von Deliberations- und Entscheidungsvorbereitungsprozessen im Vergleich zur herkömmlichen Praxis geringer ausgeprägt sind und dadurch die Zuschreibbarkeit politischer Verantwortung schwindet.
Aus der Perspektive der Input-Legitimität sollte ferner folgender Grundsatz Wolfgang van den Daeles und Friedhelm Neidhardts analytisch geprüft werden: Die Verlagerung von Politikgestaltung in besondere Verfahren der Kommunikation und Kooperation mit gesellschaftlichen Akteuren kann ein Effizienzgewinn sein, sie ist kein Demokratiegewinn. Damit sie nicht zu einem Demokratieverlust wird, muß gewährleistet sein, daß die verbindlichen Entscheidungsprozesse nicht nur normativ, sondern faktisch durch wirksame Unterbrechungen von solchen Verfahren getrennt gehalten werden, so daß, was immer in diesen ausgehandelt wird, in jenen geprüft, ratifiziert, veröffentlicht und begründet werden muß. (Daele & Neidhardt 1996: 45; Herv.i.Orig.)
Vertreter des Staats- und Verfassungsrechts, diskutieren dagegen alternative Optionen: Die demokratietheoretischen Probleme, die mit nebenparlamentarischen Steuerungsformen einhergehen können, sollen hier integrativ beseitigt werden, und zwar durch eine Verkopplung von Verhandlungsnetzwerken und parlamentarischen Entscheidungsprozessen. Der konkrete Versuch einer »Konstitutionalisierung der Verhandlungsdemokratie« zielt insbesondere auf die Formalisierung von Absprachen der Regierung mit nichtstaatlichen Akteuren und umfasst die Regelung des Zugangs zu entsprechenden Verhandlungen, die Zustimmungspflicht des gesamten Kabinetts, Publikations- und Informationspflichten sowie Möglichkeiten des Rechtsschutzes (vgl. Grimm 2003: 207ff.). Neben einer Ermächtigungsgrundlage für die Regierung wird dabei auch diskutiert, das Parlament einschließlich der oppositionellen Minderheit in Konsensgespräche einzubeziehen (vgl. Herdegen 2003: Klein, E. 2004: 26).
1.2.6 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen: Zusammenfassung Durch Kommissionen lässt sich die Regierung – lassen sich sonstige Akteure des politischen Systems – beraten; in Kommissionen werden Policy-Inhalte sowohl wissenschaftlich als auch unter Rationalitäts- und interessenpolitischen Gesichtspunkten beraten. Dieses Kapitel hat auf der Basis verschiedener Konzeptualisierungen von Politikberatung sowie institutioneller Grundlagen der politischen Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung im Regierungssystem der Bundesrepublik ein breites Begriffsverständnis von PolicyBeratung vorgeschlagen. Es umfasst vier grundlegende Facetten der Konsultation, die sowohl problembezogen als auch politikbezogen sind: wissenschaftliche Beratung (Expertise), diskursive, vernunft- bzw. konsensorientierte Beratschlagung (Deliberation), partei-, ideologie- bzw. interessenpolitische Verhandlung (Bargaining) sowie institutionell oder informell geleitete Entscheidung (Dezision). Die an einem Beratungsprozess beteiligten Akteure konstituieren ein je nach Politikfeld und Zeitpunkt wandelbares Beratungsregime, das auch die stabilere Form von meso-korporatistischen Netzwerken annehmen kann.
1.2 Regieren und Politikberatung mit Kommissionen
107
Innerhalb des politischen Institutionensystems verfügt besonders die Bundesregierung über mannigfaltige Optionen, ein Policy-Beratungsregime durch bestimmte Beratungsformen zu steuern. Die Zielfunktionen von Politikberatung können dabei in der Wissensaggregation und Klärung von Sachverhalten, der Interessenvermittlung, der Konsensbeschaffung, der Stärkung der eigenen Position sowie symbolischer Problemlösung bestehen. Zu den Beratungsformen zählen Sachverständigenräte in unterschiedlicher Ausgestaltung, die Vergabe von Gutachten und Forschungsaufträgen, integrierte oder externe Ressortforschung, ad hoc eingerichtete Kommissionen sowie die Ministerialbürokratie selbst, die ihre »Selbstberatung« mittels spezieller Arbeitsstäbe, Task Forces und Koordinationsgremien forcieren kann. Demgegenüber sah sich das Parlament lange Zeit deutlich benachteiligt und entwickelte neben bereits vorhandenen Formen neue Wege der Beratung, etwa durch EnqueteKommissionen, die Wissenschaftlichen Dienste und das TAB. Als weitere Ausformungen wurden unabhängige Konsultationsgremien ebenso vorgestellt wie verhandlungsorientierte Foren der Policy-Beratung. Ausgehend von Ansprüchen an modernes, effizientes Regieren und demokratische Politikberatung wurden in Verbindung mit den verschiedenen Beratungsformen zahlreiche Mängel diskutiert, die sich zum einen auf die Input-Legitimität der assoziierten Beratungsprozesse bezogen (Transparenz-, Publizitäts- und Partizipationsdefizite), zum anderen auf den Beratungsoutput (Effektivität). Eine scheinbar verstärkt in der Öffentlichkeit kommunizierte Form der Beratung seitens der rot-grünen Bundesregierung stellten kurzfristig und aufgabenbezogen eingesetzte Kommissionen dar, die insbesondere im Hinblick auf breit vorgetragene Kritik aus staatsrechtlicher bzw. verfassungspolitischer Perspektive vorgestellt wurden. Dabei wurde insbesondere auf die vermuteten Rollen, Funktionen und Auswirkungen solcher Kommissionen eingegangen, mit denen die Kernexekutive genuine Ziele politischer Führung verfolgt und die daher öffentlichkeitswirksam eingesetzt werden (gubernative Kommissionen).
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
2.1 Deutschland und die Zuwanderung Migrationspolitik wird in der vorliegenden Untersuchung grundsätzlich verstanden als übergreifendes Politikfeld unter Einschluss einer Vielzahl von Themen und assoziierter Rechtsgebiete, die mit Zuwanderung und Integration in unmittelbarer Verbindung stehen.65 Dazu gehören im Einzelnen: Asyl und Asylverfahren, Aufenthalt, Ausländer bzw. Ausländerbeschäftigung, Aussiedler bzw. Spätaussiedler, Integration, Staatsbürgerschaft. Die Aussiedlerpolitik wurde kaum Gegenstand kontroverser politischer Entscheidungsfindungsprozesse und bleibt daher weitgehend außerhalb der Betrachtungen. Als ethnisch motivierte und konzeptuell organisierte Immigrationspolitik auf der Basis des Grundgesetzes und des Bundesvertriebenengesetzes beruht sie auf einem weitgehenden überparteilichen Konsens.66 Emigrationspolitik sowie Fragen des Visa- und Passwesens werden in diesem Zusammenhang ebenfalls ausgeklammert. Weniger als konkrete Policy-Inhalte bilden relevante Politics-Aspekte den Schwerpunkt der Ausführungen; Willensbildungsprozesse, Politikformulierungsmodi sowie Beteiligungs- und Beratungsformen kollektiver und individueller Akteure im Vorfeld politischer Entscheidungen – die Beratungsregime der Migrationspolitik – stehen im Zentrum der Betrachtungen. Denn Migrationspolitik kann auf der Politics-Ebene aufgrund mehrerer Faktoren als exzeptionell gelten (vgl. Green 2006: 113): Der Politikbereich stellt erstens einen klassischen Ausdruck von staatlicher Souveränität dar, obwohl er der Innenpolitik zugerechnet wird, ist zweitens aber sowohl innen- wie auch außenpolitisch relevant. Drittens wirkt Migrationspolitik im Innern hochgradig identitätstiftend, hat also ungewöhnlich starke Symbolik und eignet sich damit zur parteipolitischen Profilierung. Schließlich sind viertens die von der Politik Betroffenen in der Regel von der Politikgestaltung ausgeschlossen bzw. haben – sofern sie nicht über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen – keine Möglichkeit, über Politikinhalte vermittels Wahl abzustimmen.
65 Die Frage, ob Migrationspolitik ein Politikfeld sui generis darstellt, wird kontrovers diskutiert. Ursula Birsl (2005: 72ff.) stellt Migrationspolitik zwischen die Pole »eigenes Politikfeld« und »Feld fragmentierter Politik«, dessen inhaltliche Dimensionen und charakteristische Problembearbeitungsprozesse sich aus unterschiedlichen Quellen speisen. Hieran gilt es anzuschließen, denn auch die (Rechts-)Politiken in anderen Bereichen können – mittelbar – migrationspolitische Relevanz erlangen: So hat Klaus Sieveking bereits 1988 auf die »Instrumentalisierung des Sozialrechts für ausländerpolitische Ziele« durch die Regierung Kohl hingewiesen (vgl. Voigt 1989: 439). Wenn also im Folgenden von »Migrationspolitik« im Sinne des Politikfeld-Begriffes gesprochen wird, so geschieht dies in dem Bewusstsein, dass es sich dabei gewissermaßen um eine »kompilierte« Policy handelt. 66 vgl. dazu Bade (1994a: 43-50), Bade und Oltmer (1999), Blahusch (1999: 109-149), Heinelt und Lohmann (1992), Klekowski von Koppenfels (2003); Krause (2004: 214-232); Rabkov (2006).
110
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
Fünf zentrale Fragenkomplexe sind für Kapitel 2 dieser Studie leitend: 1.
2.
3.
4. 5.
Wie vollzog sich Policy-Beratung in der bundesdeutschen Migrationspolitik? Welche Modalitäten und institutionellen Ausprägungen zur Beratung und Politikformulierung lassen sich dabei differenzieren? Wurden die qua Verfassung vorgesehenen Wege durch supplementäre oder substituierende Arrangements beeinflusst? Welche Akteure verfügten über Entscheidungsprärogativen bzw. Veto-Macht? Lässt sich feststellen, dass die jeweiligen Bundesregierungen in bestimmten Situationen bestimmte Beratungs- und Entscheidungsfindungsprozesse im Sinne aktiver Politiksteuerung favorisierten? Welche Bedeutung kam dabei den parteipolitischen Konstellationen zu, insbesondere den Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat? Inwieweit genügten diese Prozesse demokratiepolitischen Anforderungen des repräsentativen Parlamentarismus, der Transparenz (für Bürger) sowie der Partizipation (gesellschaftlicher Gruppen)? Welchen Einfluss konnte wissenschaftliche Expertise im Sinne von Politikberatung auf diese Politikformulierungs- und Entscheidungsprozesse nehmen? Lassen sich Aussagen über die Output-Qualität und die Akzeptanz der politischen Entscheidungsprozesse tätigen?
Bezugsrahmen und Terminologie Auf dem Weg von einem Nicht-Einwanderungsland über ein Land mit Zuwanderung hin zu einen normalen Einwanderungsland hat Deutschland mittlerweile ein großes Wegstück zurückgelegt. In der Bundesrepublik als jungem und im Vergleich zu republikanischen Gemeinwesen historisch von einem ethnischen Nationalismus geprägtem Staat (vgl. Brubaker 1992; Oberndörfer 1993) spielte in den ersten Jahren um seine Gründung 1948 der Gedanke an Zuwanderung von Ausländern kaum eine Rolle, obwohl deutsche Geschichte über mehrere Jahrhunderte immer auch Migrationsgeschichte war (vgl. Bade 1983, 1992, 2002). In den späten 1940er Jahren galt es, fast zwölf Millionen Vertriebene und Flüchtlinge als »Zugehörige des deutschen Volkes« aufzunehmen. Während die Eingliederung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten bis zum Jahr 1950 weitgehend abgeschlossen war,67 dauerte die Zuwanderung von Flüchtlingen aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. aus der DDR bis zum Mauerbau an. Erst in den 1960er Jahren setzte die Zuwanderung aus Südeuropa im großen Stil ein. Für den Gebrauch der Begriffe Zuwanderung und Einwanderung68 folgt diese Untersuchung der in der Migrationsforschung bereits länger praktizierten Differenzierung am Kriterium der faktischen Aufenthaltsdauer. Von Einwanderung und Einwanderern sollte demnach die Rede sein, wenn der Niederlassung in Deutschland – ob intendiert oder de facto – von Permanenz geprägt, also dauerhaft ist. Einwanderung impliziert mithin eine stärker integrationspolitische Dimension, während Zuwanderung gerade im Bereich der Wanderungsstatistik häufig als Teil eines Begriffspaares mit Abwanderung benutzt wird, ohne dass dabei zunächst die Perspektiven des Daueraufenthalts und der Integration eine Rolle spielen. 67 68
Zu deren Integrationsverlauf und einer mittelfristigen Eingliederungsbilanz vgl. Lüttinger (1989). Zum Sprachgebrauch im Migrationsdiskurs allg. vgl. Spieles (1993) sowie Jung, Wengeler & Böke (1997).
2.1 Deutschland und die Zuwanderung
111
Auch der Streit um den Begriff Einwanderungsland gehört seit den frühen 80er Jahren zum deutschen Migrationsdiskurs. Erst jüngst hat sich dieser Streit zu Gunsten der prinzipiellen Anerkennung der Bundesrepublik als Einwanderungsland gelegt. Bis weit in die 1990er Jahre hinein war die politische Diskussion dagegen vom Slogan »Deutschland ist kein Einwanderungsland« beherrscht, dem insbesondere die beiden großen Parteien anhingen69 – ganz im Gegensatz zur Faktenlage und zum assoziierten wissenschaftlichen Diskurs, der in dieser Zeit die Begriffe de-facto-Einwanderungsland bzw. unerklärtes Einwanderungsland prägte.70 Seit die im Bundestag vertretenen Parteien in den Jahren 2000 und 2001 ihre Zuwanderungskonzepte vorgelegt haben, scheint sich zumindest die Überzeugung durchgesetzt zu haben, dass die Bundesrepublik als Einwanderungsland bezeichnet werden kann, auch wenn die »neue« Position der Unionsparteien, bei der Bundesrepublik handele es sich um »kein klassisches Einwanderungsland«, das Eingeständnis flugs mit einem negierenden Appendix versah.71 Ein klares Bekenntnis steht im politischen Mehrheitsdiskurs bislang aus, nicht zuletzt weil eine der zentralen Bedingungen »echter« oder »klassischer« Einwanderungsländer – eine von unmittelbarem Bedarf und individueller Vorrangprüfung unabhängige Einwanderungsoption nach objektiven Kriterien – bisher keinen Eingang in das deutsche Zuwanderungsrecht gefunden hat. Demgegenüber konstituieren sich »echte« Einwanderungsländer über »pro-aktive Migrationsregime« (Fassmann 2004: 22ff.). Lange firmierte Migrationspolitik in Praxis, Politik und Forschung relativ eindimensional unter der Bezeichnung Ausländer- bzw. Ausländerbeschäftigungspolitik72 – dem Zustand Rechnung tragend, dass bis in die 80er Jahre hinein seitens der Bundesregierungen versucht wurde, zugewanderte Arbeitnehmer und ihre Familien zur Rückkehr in ihr Herkunftsland zu bewegen und erst 1990 ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung geschaffen wurde. Zwischenzeitlich hat sich jedoch das Politikfeld um zentrale Kategorien erweitert. Mit dem verstärkten Aufkommen von Flüchtlingsbewegungen seit Mitte der 1980er Jahre, der Reform des Ausländerrechts sowie dem Wegfall des Eisernen Vorhangs und der damit verbundenen Aussiedlermigration wurde Zuwanderung aufgrund von Rechtsansprüchen zu einem dominierenden Faktor von Migrationspolitik. Parallel spiegelt sich in dieser Entwicklung auch eine Einbüßung des eingangs beschriebenen Steuerungs- und Kontrollinstrumentariums des Staates gegenüber (potenziellen) Zuwanderern bzw. Eingewanderten. Zudem gilt die im Vertrag von Amsterdam 1997 vereinbarte Entwicklung des »Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts« als »eines der bedeutendsten Integrationsprojekte 69
vgl. beispielsweise das unverrückbar erscheinende Motto von CDU und CSU der 1980er Jahre: »Deutschland kann nach seiner Geschichte und seinem Selbstverständnis kein Einwanderungsland sein oder werden.« (BT-Drs. 9/1288 vom 21. Januar 1982: 2). 70 vgl. dazu Bade (1983, 1994a, 2001), Joppke (1999: 62), Hunger u.a. (2001), Thränhardt (1995)Қ. An alter und neuerer Literatur zum Einwanderungsland Deutschland sind zu nennen: Meier-Braun (1980), Heckmann (1981), Schult (1982), Currle und Wunderlich (2001), Davy und Weber (2006), Hell (2005), Meier-Braun (2002) sowie Motte und Ohliger (2004). 71 vgl. Antrag der CDU/CSU-Fraktion »Umfassendes Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung sowie zur Förderung der Integration jetzt vorlegen«, BT-Drs. 14/6641 vom 3. Juli 2001: 1 sowie Wolfgang Bosbach, BT-Pl.Pr. 14/93 vom 16. März 2000: 8575D). Dagegen hat Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble seit seinem Amtsantritt Ende 2005 den Begriff wiederholt abgelehnt: »Wir waren nie ein Einwanderungsland und wir sind’s bis heute nicht!« (zit.n. Tagesspiegel vom 7. Dezember 2006). 72 Als übergreifender Terminus wurde in der Forschung vereinzelt auch der Begriff Wanderungspolitik benutzt, so bei Steinert (1995); vgl. dazu auch die Begriffsbildung in der Nachbardisziplin: Hier hat sich nach frühen, wegweisenden Beiträgen »zur Soziologie des Fremdarbeiterproblems« (Hoffmann-Nowotny 1973) bzw. zur »Wanderungssoziologie« (Esser 1980) ebenfalls die Bezeichnung Migrationssoziologie durchgesetzt (vgl. Han 2000).
112
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
seit dem Beginn des europäischen Einigungswerkes in den fünfziger Jahren« (Monar 2000: 32). In diesem Zusammenhang entsteht neben Flüchtlings- und Asylpolitik auch für den Bereich Einwanderung ein europäisches Mehrebenensystem der Zuständigkeiten und Rechtssetzungskompetenzen.73
Materiallage, Stand der Forschung und Desiderate Die bundesdeutsche Einwanderungsgeschichte kann mittlerweile als gut und facettenreich erforscht gelten.74 Auch im Bereich der Ausländer- und Migrationspolitik wurden in den letzten Jahren einige Forschungslücken geschlossen. Eine umfangreiche Gesamtschau deutscher Ausländerpolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat Ulrich Herbert bereits 1986 (aktuell 2001) vorgelegt. Knuth Dohse (1981) richtete in seiner Untersuchung das Hauptaugenmerk auf die Herausarbeitung der rechtlichen und ökonomischen Determinanten staatlicher Disposition über ausländische Arbeitnehmer seit dem Kaiserreich. Für den Beginn der Anwerbepolitik ist die Studie von Steinert (1995) maßgeblich, während Schönwälder (2001) die politischen und öffentlichen Diskurse um Einwanderung in der Bundesrepublik mit denen im Vereinigten Königreich während des heyday der Gastarbeiterära umfassend vergleicht. Wichtige Impulse für den Zeitraum danach setzen die Arbeiten von Bade (1994a) und Meier-Braun (1979, 1988, 2002). Die bundesdeutsche Asylpolitik seit 1947/48 findet sich wiedergegeben bei Bröker und Rautenberg (1986), Dickel (2002), Kimminich (1983), Knopp (1994), Meier-Braun (1981), Wolken (1988) und Münch (1992). Systematische Überlegungen zur Bedeutung struktureller Determinanten für Entscheidungen über Migrationspolitik zwischen Exekutive, Verwaltung, Parlament und Öffentlichkeit sowie sonstigen kollektiven und individuellen Akteuren sind bisher weitgehend ein Desiderat der Forschung (vgl. Schönwälder 2001: 26). Gerade vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Politikberatung wurden politische Prozesse bisher nicht reflektiert. Die in den folgenden Kapiteln zu leistende differenzierte Darstellung der prozessualen Aspekte bei der Politikformulierung innerhalb des Regierungssystems verlangt daher nach einer »empirischen Unterfütterung« mittels Originalquellen, da sich solche Sichtweisen in den o.g. Publikationen nur kursorisch behandelt finden und somit begrenzte Aussagekraft gewähren. Hier diente die Sekundärliteratur als Richtschnur für das Ausfindigmachen der näher betrachteten Entscheidungsfindungsprozesse. Diese wurden mittels Sichtung und punktueller Auswertung der zugänglichen Dokumente der Gesetzgebungsorgane untersucht. Der schiere Umfang des Materials erlaubte an dieser Stelle natürlich keine Komplettauswertung der Quellen. Zu den analysierten Dokumenten zählen die Drucksachen und 73
Die EU-Migrationspolitik wird in dieser Arbeit weitgehend ausgeklammert (vgl. auch Einleitung, Fn. 6). Zur europäischen Politikverflechtung in migrationspolitischen Fragen vgl. Angenendt (1997), Birsl (2005), Lahav (2004), Schwarze (2000), Tomei (2001); zu den EU-Policies Geddes (2003), Givens & Luedtke (2004), Krause (2004), Peers (2005), Stalker (2002), umfassend: ter Steeg (2006); zum EU-Mehrebenensystem allg. Benz (1998), Scharpf (2000, 2002), Sturm & Pehle (2005). 74 vgl. dazu etwa die Bände von Motte, Ohliger und Oswald (1999), Motte und Ohliger (2004), Hunger, Meendermann, Santel (2001) und die Abhandlungen von Bade (1983, 1994a, 2002) und Herbert (1986, 2001), jeweils mit zahlreichen Literaturverweisen. Daneben haben im Rahmen des 50. Jahrestages des ersten Anwerbeabkommens auch wissenschaftliche Ausstellungen und online-Projekte sowie die Bemühungen um ein Migrationsmuseum für eine breitere zeitgeschichtliche Darstellung gesorgt, so etwa die Ausstellung »Zuwanderungsland Deutschland – Migrationen 1500-2005« im Deutschen Historischen Museum in Berlin (vgl. Beier-de Haan 2005) oder die Webangebote www.angekommen.com (21.07.2009) und www.bpb.de/migration (21.07.2009).
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
113
Plenarprotokolle von Bundestag und Bundesrat seit 1949 sowie die Protokolle des Vermittlungsausschusses bis zur 13. Wahlperiode. Ferner wurden zahlreiche Kommissionsberichte sowie die einschlägige Printmedienberichterstattung berücksichtigt. Die sequenziell-chronologische Einteilung der Kapitel weicht geringfügig von den in der Migrationsforschung mittlerweile etablierten »Phasen der Ausländerpolitik« ab.75 Dies ist ebenfalls der Tatsache geschuldet, dass bei der hier vorgenommenen Einteilung weniger die Politikinhalte oder Migrationsbewegungen i.S. der Statistik im Vordergrund stehen, sondern primär der Wandel der Politikberatungs- und Entscheidungsfindungsprozesse. Die Struktur berücksichtigt ferner die Tatsache, dass dieses Politikfeld für die meiste Zeit in mindestens drei, kaum miteinander kommunizierenden Sphären des politischen und administrativen Raumes verhandelt wurde: 1.) als »Gastarbeiter«-, Ausländer- bzw. Integrationspolitik, 2.) als Flüchtlings- bzw. Asylpolitik sowie 3.) als Aussiedlerpolitik. Bis in die 1990er Jahre hinein mangelte es in Deutschland an einem umfassend migrationspolitischen Ansatz, obwohl bereits sehr früh augenfällige Interdependenzen zwischen den drei genannten Politikfeldern bestanden (vgl. Franz 1982). Einzig wenn pragmatische Überlegungen und bargaining-Aspekte dies nahe legten, war man auf Seiten der politischen Parteien nicht verlegen, Schnittmengen beider Rechtsbereiche zu schaffen – so etwa als 1980 der Klageweg gegen ablehnende Asylbescheide mit dem Klageweg gegen aufenthaltsrechtliche Maßnahmen nach dem Ausländergesetz zusammen geführt wurde, um die Verfahren zu beschleunigen. Erst unter dem Druck vielfach erhöhter Flüchtlings-, Spätaussiedler- und Übersiedlerzahlen ab 1989/1990 sowie wachsender Integrationsprobleme der zweiten Generation von Arbeitsmigranten wurde in der Migrationspolitik ganzheitlicher gedacht und gehandelt. In dem 1992 zwischen der Bundesregierung und der SPD verhandelten »Asylkompromiss« fanden immerhin auch einige vorsichtige Maßnahmen zur Ausländer- bzw. Aussiedlerpolitik Niederschlag. Doch erst mit der Einsetzung der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« wurde Migrationspolitik stärker holistisch beraten. 2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive In diesem Kapitel werden die Entscheidungs- und Beratungsprozesse im Bereich der Anwerbe- bzw. Ausländerpolitik seit Beginn der Rekrutierung bis in die 1980er Jahre einer genauen Betrachtung unterzogen. Die Analyse erfolgt jeweils innerhalb mehr oder weniger abgeschlossener Zeitabschnitte, die spezifische Muster erkennen lassen.
2.2.1 Ministeriale Konjunktur- und Arbeitsmarktpolitik: Beginn der »Gastarbeiterära« (1950-1960) Bereits seit den frühen 1950er Jahren wurden aufgrund temporärer Engpässe in der Landwirtschaft und im Untertage-Bergbau im Wirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard Pläne zur politischen und organisatorischen Umsetzung der Anwerbung von Ausländern entwickelt. In Vorbereitung war ein bilaterales Abkommen mit Italien, dessen Verhandlung und Ausgestaltung gänzlich der Ministerialbürokratie bzw. der Abstimmung im Kabinett oblagen. Der Bundestag blieb formal unbeteiligt und konnte lediglich seinen Widerspruch 75
vgl. dazu unisono die Einteilung bei Bade (1994a: 18ff.) und Meier-Braun (2002: 5).
114
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
erklären (vgl. Dohse 1981: 166ff.). Die Idee der Anwerbung war nämlich nicht unumstritten. Dem anfänglichen Staunen bei Volksvertretern, Gewerkschaften und Teilen der Öffentlichkeit gegenüber den Überlegungen zur Rekrutierung von ausländischen Arbeitnehmern begegnete die Regierung allgemein mit dem Argument, es gehe dabei um prophylaktische Pläne für den Fall, dass einige Jahre später Vollbeschäftigung erreicht würde (vgl. Herbert 2001: 202f.; Dohse 1981: 159ff.). Dennoch wurde das Abkommen mit Italien bereits viel früher geschlossen, als in zahlreichen Bundesländern die Arbeitslosenquote noch bei über vier Prozent lag (vgl. Dohse 1981: 17).
Bilaterale Wanderungsdialoge Der Beginn der deutsch-italienischen Verhandlungen war – so Steinert (1995: 222) – durchaus typisch für bilaterale Wanderungsdialoge der Nachkriegszeit: Die Initiative und das Interesse gingen vom Herkunftsland aus, das vor dem Einsetzen von Wanderungen ein Abkommen mit dem Zielland erreichen wollte, um diese möglichst umfassend kontrollieren und gestalten zu können.
Die Regierungen selbst hatten also ein gesteigertes Interesse an solchen Vereinbarungen mit der Bundesrepublik, meist um das Problem der Massenarbeitslosigkeit in strukturschwachen Regionen zu mildern (vgl. Santel 1995: 57; Steinert 1995: 222f.). Auf deutscher Seite ergab sich für die geplante Zuwanderung kein besonderer gesetzlicher Gestaltungsbedarf, sondern lediglich ein spontanes Kontingentierungserfordernis. Mit den potenziellen Entsendeländern wurde auf der Grundlage der jeweils vorhandenen Engpässe in der deutschen Arbeitnehmerschaft verhandelt; Exekutive, Arbeitsverwaltung und die gebildeten Anwerbekommissionen konnten relativ flexibel agieren. Bereits bei diesen langwierigen deutsch-italienischen Verhandlungen war auf deutscher Seite große Reserviertheit gegenüber der Perspektive sich verfestigender Zuwanderung deutlich geworden. Kurz vor Weihnachten 1955 unterzeichneten die Delegationen den Vertrag dennoch (Steinert 1995: 220ff.). Das Anwerbeverfahren begann jedoch erst im darauf folgenden Jahr und verlief äußerst schleppend: Die Zahl der in der Bundesrepublik beschäftigten Italiener stieg zwischen 1955 und 1957 nur um ca. 12.000, deutliche Steigerungsraten ergaben sich erst 1958/59, als ein höherer Bedarf am Arbeitsmarkt offenbar wurde. Anders als in den so genannten klassischen Einwanderungsländern waren also bei der Förderung von Zuwanderung in die Bundesrepublik zu Beginn fast ausschließlich volkswirtschaftlich-utilitaristische bzw. konjunkturpolitische Motive handlungsleitend (vgl. Blahusch 1999; Münz, Seifert & Ulrich 1999: 46f.).76 Folgerichtig oblag die Politikformulierung in erster Linie den Ressorts Wirtschaft und Arbeit. Ein Steuerungsbedarf ergab sich dabei zunächst allenfalls innerhalb der Arbeitsverwaltung, die in Zusammenarbeit mit Unternehmen und Branchenverbänden für die Dokumentation des Bedarfs und die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte zuständig war, nicht jedoch bezüglich einer konzeptionellen Organisation oder gar Zukunftsplanung von Zuwanderung. Einwanderung wurde nicht 76
Auf die Darstellung der Anwerbung von Vertragsarbeitern aus sozialistischen Ländern durch die DDR, deren Politik gegenüber Ausländern sowie die Wege der Entscheidungsfindung wird in dieser Studie verzichtet; vgl. dazu Bade und Oltmer (2004: 90-96), übersichtlich Thomä-Venske (1990), Zuwanderungsrat (2004: 110-114) sowie – mit zahlreichen Statistiken und Dokumenten – Elsner & Elsner (1994).
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
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erwogen. Die Rolle der Gewerkschaften konzentrierte sich auf die Verhinderung untertariflicher Bezahlung für die angeworbenen Arbeitskräfte (vgl. Dohse 1981).
»Take-off« in der Anwerbung Bis Ende der 1950er Jahre gab es bei den ausländischen Beschäftigten aus unterschiedlichen Gründen nur relativ geringe Zuwachsraten (vgl. Steinert 1995: 281): Gegenüber dem Boom des Jahres 1955 hatte sich die Konjunktur merklich abgeschwächt und die Bergbaukrise 1958/59 wirkte sich negativ auf die Anzahl der Beschäftigten aus. Außerdem wurde der Abbau der Arbeitslosigkeit unter der deutschen Bevölkerung weiterhin mit Vorrang verfolgt (Inländerprimat), während parallel im Zuge der konjunkturellen Entwicklung der Industrie Rationalisierung und Automatisierung in vielen Branchen Einzug hielten. Daneben stiegen deutlich mehr Schulabgänger ins Berufsleben ein, als Alte ausschieden und Flüchtlinge aus der DDR sowie Aussiedler hauptsächlich aus Polen stießen auf den Arbeitsmarkt. Dann wirkte sich jedoch gleich ein ganzes Bündel von Faktoren negativ auf das Angebot an Arbeitskräften aus, so dass der Bedarf der weiterhin wachsenden Wirtschaft nicht mehr gedeckt werden konnte. Mit der Remilitarisierung erfolgte die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, wodurch ein Großteil der erwerbsfähigen männlichen Bevölkerung dem Arbeitsmarkt für mindestens 12 Monate nicht zur Verfügung stand. Ab 1961 führte der Mauerbau zum Versiegen des stetigen Stroms von Übersiedlern (über drei Millionen allein zwischen 1950 und 1960); durch die beginnende Bildungsexpansion verlängerten sich die Ausbildungszeiten und weniger junge Leute standen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Darüber hinaus sorgte der Ausbau von Arbeitnehmerrechten für eine Verkürzung der Arbeitszeiten, während infolge des »Babybooms« zwischenzeitlich ein merklicher Rückgang der Erwerbsbeteiligung von Frauen zu verzeichnen war (vgl. Münz, Seifert & Ulrich 1999: 44). Das Arbeitsministerium hatte bereits 1953 einen intern erarbeiteten Arbeitskräftehaushaltsplan mit dem Titel »Bevölkerungssubstanz, Arbeitsmarkt und Arbeitskräftebedarf in der Bundesrepublik« vorgelegt. Dieser Bericht prognostizierte für die Folgejahre zusätzlich zur inländischen Reserve einen Bedarf an Arbeitskräften (vgl. Steinert 1995: 217). Doch selbst als die Arbeitslosenquote bereits unterhalb von einem Prozent lag und Vollbeschäftigung erreicht war mündete die »prophylaktische Ausländerpolitik« (Herbert 2001) der Bundesregierung nicht in eine grundsätzliche Debatte oder längerfristige Planung darüber, in welchem Maße und wie lange die Beschäftigung von Ausländern notwendig sein würde. Im ständigen Dialog mit den Verbänden der Wirtschaft blieb es bei einer äußerst kurzfristigen und streng an Konjunktur und Arbeitsmarkt angepassten Allokation durch Bundesregierung und Arbeitsverwaltung. Als Folge der oben beschriebenen Kumulation von Faktoren forcierte die Bundesregierung die Anwerbung. Die ad-hoc-Steuerung führte zu einem Phänomen, das als »takeoff« der Ausländerbeschäftigung tituliert worden ist (Münz, Seifert & Ulrich 1999: 43): Die Anwerbezahlen stiegen drastisch an. Waren 1959 erst 167.000 Ausländer in Deutschland beschäftigt, hatte sich diese Zahl bis 1961 mehr als verdreifacht (549.000). Weitere Anwerbeverhandlungen wurden zum Abschluss gebracht. Auf das Abkommen mit Italien 1955 folgten 1960 Spanien und Griechenland, 1961 die Türkei, 1963 Marokko, 1964 Portugal,
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1965 Tunesien und 1968 Jugoslawien. Das Prozedere der Arbeitnehmerauswahl verlief ebenfalls in hohem Maße staatlich gesteuert und in administrativ verfassten Bahnen: In Zusammenarbeit mit der Arbeitsverwaltung (Bundesanstalt für Arbeit) wurden so genannte Anwerbekommissionen gebildet, die in den Anwerbeländern die Auswahl sowie die medizinische Untersuchungen der Bewerber durchführten (vgl. Dohse 1981: 181-229). Neben der administrierten Anwerbung wählten viele Zuwanderer jedoch auch den so genannten »zweiten Weg« der Arbeitsmigration: Interessierte reisten als Touristen in die Bundesrepublik ein und konnten sich selbst vor Ort um eine Arbeitsgenehmigung bewerben – was letztlich einer inoffiziellen Amnestie-Regelung für irreguläre Einwanderer gleichkam. Das Visaverfahren gewann nicht zuletzt auch aufgrund außenpolitischer Überlegungen an Bedeutung, obwohl die Nürnberger Bundesanstalt auf ihr Anwerbemonopol im Ausland pochte (vgl. Steinert 1995: 279). Bereits im Juni 1966 (zwei Jahre bevor das offizielle Anwerbeabkommen mit Jugoslawien unterzeichnet wurde) hatten beispielsweise rund 97.000 Jugoslawen auf diesem Weg eine Beschäftigung in der Bundesrepublik gefunden (vgl. Mehrländer 1969: 9). Da es sich bei allen Anwerbeabkommen gewissermaßen um intergouvernemetale Verträge handelte, oblag deren Verhandlung stets der Bundesregierung bzw. dem Arbeitsministerium. Der Bundestag war nicht beteiligt, ebenso wenig entwickelte sich ein öffentlicher politischer Gestaltungsdiskurs – die Formulierung der Anwerbemodalitäten und die zu Grunde liegende Ausländerpolitik verblieben im ministerialbürokratischen quasi-Arkanum. In diesem Sinne setzte das Anwerbeabkommen mit Italien »einen Präzedenzfall für die außerparlamentarische Erschließung weiterer Arbeitskräftereservoirs« (Dohse 1981: 177) und fundierte damit die exekutiv-administrative Steuerung dieses Politikfelds. Steinert (1995) resümiert die frühe Phase deutscher Migrationspolitik daher äußerst kritisch: Eine öffentlich transparente Bestimmung der wanderungspolitischen Zielvorstellungen der Bundesregierung blieb aus […]; die Wanderungspolitik galt weiterhin als Verschlusssache. Im Herbst 1954 wurde die erste Chance vertan, durch klare Stellungnahmen den Weg zu dem zu ebnen, was die Aktensprache der 1950er Jahre mit »Einwanderungspolitik« bezeichnete. Dabei lagen die grundsätzlichen Positionen der beteiligten Ressorts, der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerpositionen dicht beieinander. (ebd.: 225)
2.2.2 Inkrementeller Politikwandel: Ausländergesetz und Ressortpolitik (1961-1972) 2.2.2.1 Rekurs auf nationalsozialistisches Polizeirecht Während im Vorfeld des ersten Abkommens mit Italien noch am ehesten Ansätze gesellschaftlicher Interessenkonflikte und deren Beratung auszumachen waren, verstummten solche Diskurse zu Beginn der 1960er Jahre. »Es gab keine kritischen Kommentare von Gewerkschaftsseite, im Bundestag wurde – soweit ersichtlich – über den Abschluß dieser Abkommen kein Wort verloren.« (Dohse 1981: 177). Die Ausländerbeschäftigunspolitik bot eher das Bild eines kurzfristigen muddling through, denn einer intentionalen, gestalteten Politik. Originäre und kurzfristig wandelbare ökonomische und konjunkturelle Sachinteressen bestimmten das politische Handeln. Es basierte auf Einzelentscheidungen, Problemverlagerungen und segmentierter Bearbeitung einzelner Regelungsbereiche. Dabei bildete sich ein Prozess der Politikformulierung heraus, in dem Exekutive und Arbeitsverwaltung als dominante Akteure hervor traten und ihren bereits in den frühen 1950er Jahren
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begründeten Handlungs- und Ermächtigungsspielraum nutzten, um den Bundestag aus den Entscheidungsprozessen völlig auszuschließen (vgl. ebd.: 173). Eingebunden waren dagegen die Interessen von Wirtschaft und Kapital sowie bedingt der Arbeitnehmer. Knuth Dohse (1981) und Peter Katzenstein (1987), aber in ihrer Folge auch andere Autoren (z.B. Green 2005), haben diese wenig planvollen, gegenüber pluralisierten Diskursarenen »autistischen« Wege der bundesdeutschen Ausländerpolitikformulierung im Fünfeck zwischen Regierung, Ministerialbürokratie, Arbeitsverwaltung, Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften in negativer Anlehnung an Charles Lindbloms Konzept zur Entscheidungsfindung durch kleinste Schritte kritisch als Ausdruck eines multilateralen Inkrementalismus identifiziert.77 Gesetzgeberisch bestand zur Umsetzung der »Gastarbeiterpolitik« kein unmittelbarer Handlungsdruck. Nach dem Prinzip der Rechtskontinuität war zur Regelung des Aufenthalts von Ausländern in der Bundesrepublik – »trotz des anrüchigen Zeitpunkts ihrer Entstehung und einer zum Teil archaisch anmutenden Sprache« (Franz 1990: 3) – in angepasster Form die Ausländerpolizeiverordnung (APVO) von 1938 wieder in Kraft gesetzt worden. Bereits in der Weimarer Republik hatte sich eine eindimensionalen Sicht auf Migranten als Problem der »öffentlichen Sicherheit« herausgebildet, was das Politikfeld in den hauptsächlichen Verfügungsbereich der Innenverwaltungen gebracht hatte (vgl. Oltmer 2003: 53f.). Diese Tendenz hatte sich im Nationalsozialismus nochmals verstärkt. In der neu gegründeten Bundesrepublik war es hingegen ein auf Bundes- und Länderebene der durch »tradierte Kontrollansprüche und Bedrohungsfiguren« evozierte »Wunsch nach Wiederherstellung eines gewohnten und weitgehend unhinterfragten Kontroll- und Überwachungsinstrumentariums« (Schönwälder 1999: 128), der den Rückgriff auf die alten Vorschriften polizeilichen Ordnungsrechts begründete. In der migrationspolitischen Fachliteratur besteht keine Einigkeit darüber, inwieweit der Rekurs auf das Regelungsinstrumentarium nationalsozialistischer Ausländergesetzgebung, weitgehenden Entscheidungsprärogativen zu Gunsten von Exekutive bzw. Arbeitsverwaltung und gleichzeitig beschnittenem Einfluss der Gewerkschaften bereits ein direktes Resultat politischer Intentionen mit Blick auf die Beförderung von Ausländerbeschäftigung war.78 Unstrittig ist indes, dass über die Politik der Anwerbung weitgehend außerhalb öffentlicher Diskussionen oder gar pluralisierter Politikberatungsprozesse entschieden wurde. Die dokumentengestützte Forschung zur Genese ausländerpolitischer Entscheidungen weist für die Zeit nach 1960/61 eine Dominanz exekutiv-administrativer Diskursarenen unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments auf (vgl. Dohse 1981; Herbert 2001; Schönwälder 1999, 2001; Steinert 1995).
2.2.2.2 Regierungspolitik ohne Widerstand: Das Ausländergesetz im parlamentarischen Verfahren Ein Ausländergesetz zur Ablösung der APVO war bereits Anfang der 1950er Jahre erwogen worden. Tatsächlich ging die Bundesregierung Ende 1953 davon aus, dass bis zum 31.
77
Zum Begriff vgl. Nohlen (1994), Schubert (1991: 22); eine kritische Diskussion aus »Planungs«-Perspektive bietet Böhret (1970: 34ff.); Czada (1999) spricht im breiteren Zusammenhang von »reformlosem Wandel«. so Dohse (1981: 137ff.), relativierend dagegen Schönwälder (1999: 128) und Herbert (2001: 204f.).
78
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Dezember 1954 ein entsprechendes Gesetz erlassen sein würde.79 Doch man blieb über Jahre untätig. Erst gegen Ende der Dekade nahm sich das BMI auf Druck der Innenministerkonferenz (s. Fn. 85) der Aufgabe an, die Rechte der Fremden auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu präzisieren und den Erfordernissen der boomenden Arbeitsmigration anzupassen. Das Vorhaben »Ausländergesetz« dauerte von der Vorlage eines ersten Referentenentwurfs im Frühjahr 1960 bis zur Verkündung im Bundesgesetzblatt 196580 volle fünf Jahre. Der Bundestag war für einen großen Teil der vierten Wahlperiode formal mit dem Gesetz befasst. Auf Anregung des Bundesrats, der dem Gesetz zustimmen musste, kam es sogar zur Anrufung des Vermittlungsausschusses. Der darüber entstehende Eindruck eines den öffentlichen Diskurs und das politische Handeln nachhaltig bestimmenden, kontroversen Gesetzgebungsprozesses täuscht allerdings. Der lange Zeitraum ergab sich primär durch den Prozess der Ressortabstimmung (vgl. dazu Schönwälder 2001: 230ff.) und die relativ ausführlichen Beratungen im Innenausschuss, in dessen insgesamt acht Befassungen zahlreiche formale Überprüfungen vorgenommen und zudem die Verordnung über die Anerkennung und die Verteilung ausländischer Flüchtlinge (Asylverordnung) inkorporiert wurden. Ferner wurden »die Stellungnahme und die Vorschläge des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und zahlreiche Eingaben von Flüchtlings- und Wohlfahrtsorganisationen […] und von interessierten Einzelpersonen eingehend geprüft und […] – soweit wie möglich – berücksichtigt.«81 Ähnlich wie bei späteren Gesetzgebungsverfahren wurde, wie Franz (1971: 322) kritisch anmerkte, »eine Gruppe […] offenbar übersehen: Die ausländischen Gastarbeiter […] kamen nicht zu Wort.« Tatsächlich fanden auch kaum Veränderungen im Sinne der angehörten Gruppen Eingang in die Beschlussvorlage. Der Regierungsentwurf setzte sich weitgehend durch. Einzig das Bundesverwaltungsgericht, das vom Innenausschuss ebenfalls um eine Stellungnahme gebeten wurde, fand seinen Vorschlag später im Gesetz berücksichtigt – ohne dass bekannt wurde, welche Anregungen dies war (vgl. Franz 1970: 233). Das Parlament blieb seine Rolle als Diskursarena fast gänzlich schuldig: Im Plenum des Bundestages fand lediglich eine sehr kurze Aussprache im Rahmen der dritten Beratung statt, die der Ältestenrat jedoch auf die Abgabe von Erklärungen beschränkt hatte.82 Inhaltliche Debatten gab es nicht. Trotz anstehender Bundestagswahlen im Herbst 1965 hatten die Parteien keine Bestrebungen, ein migrationspolitisches Profil zu schärfen. Bei den Abgeordneten bestand wenig Interesse und ein geringer Spezialisierungsgrad in ausländerrechtlichen Fragen, und das Problembewusstsein war gering ausgeprägt (vgl. Schönwälder 2001: 349ff.). Der Bundesrat hatte ebenso wenig grundsätzliche Einwände gegen das Gesetz, rief aber in Einzelpunkten den Vermittlungsausschuss an. Hier kam es nach kurzer Erörterung zu einem Vermittlungsergebnis,83 dem Bundestag und Bundesrat gleichermaßen zustimmten. 79
vgl. § 22 des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren bei Freiheitsentziehung sowie die dazu gehörige Begründung, BR-Drs. 484/53 vom 6. November 1953: 23f. Dort wird die APVO mit ihrer in § 7 enthaltenen Möglichkeit des Freiheitsentzuges zu einem förmlichen Gesetz erhoben, da nur auf diesem Wege die Konformität einer derart weit reichenden Maßnahme mit dem Grundgesetz gegeben schien. Die Geltung der Vorschrift wurde bis zum 31.12.1954 befristet, da man bis zu diesem Zeitpunkt mit einem neuen Ausländergesetz rechnete. 80 AuslG vom 28. April 1965, BGBl. I 1965: 353ff. 81 vgl. Schriftlicher Bericht des Ausschusses für Inneres über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes über den Aufenthalt der Ausländer (Ausländergesetz), BT-Drs. 4/3013 vom 26. Januar 1965: 1. 82 vgl. BT-Pl.Pr. 4/163 vom 12. Februar 1965: 8034B-8036B. 83 vgl. Kurzprotokoll der 12. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 11. März 1965: 25-31.
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Ein restriktiver Entwurf der Bundesregierung fand in seiner Substanz unverändert Eingang in ein konsensual verabschiedetes Ausländergesetz, das am 1. Oktober 1965 in Kraft trat.
Gesetzliche Verankerung staatlicher Dispositionsbefugnis Zentraler Inhalt des Gesetzes war die Ablösung subjektiver Kriterien zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für Ausländer nach der alten APVO zu Gunsten einer objektiv zu fällenden Ermessensentscheidung, die den Behörden einen größeren und gerichtlich weniger anfechtbaren Handlungsspielraum verschaffte. In § 1 der APVO war solchen Ausländern der Aufenthalt erlaubt worden, »die nach ihrer Persönlichkeit und dem Zwecke ihres Aufenthalts […] die Gewähr dafür bieten, daß sie der ihnen gewährten Gastfreundschaft würdig sind«. Die »Würdigkeit« als ein unbestimmter Rechtsbegriff hatte den Weg einer inhaltlichen Überprüfung ablehnender Aufenthaltsentscheide der Ausländerbehörde durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit eröffnet. In § 2 des Ausländergesetzes hieß es hingegen: »Die Aufenthaltserlaubnis darf erteilt werden, wenn der Aufenthalt des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt«. Mit dieser »objektivierten Ermessensformel«, die den Behörden einen lediglich in formeller Hinsicht durch Gerichte überprüfbaren Spielraum einräumte, wurde das »Desiderat nach einer ›gerichtsfesten‹ Dispositionsbefugnis« (Köppe 2002: 66) aufgenommen, das neue Ausländergesetz direkt »auf das Potenzial ausländischer Arbeiter zugeschnitten.« (Franz 1992: 155).84 Auch die Angst vor kommunistischen oder staatsgefährdenden Bestrebungen durch Migranten kam durch einen Ermessensparagraphen zum Ausdruck, der das Recht auf politische Betätigung von Ausländern einschränkte, wenn die Belange der Bundesrepublik Deutschland es erforderten. Während im Fremdenrecht nach der APVO bei Nichterwerbstätigkeit ein vorübergehender Aufenthalt von Ausländern – je nach Zweck – für mehrere Monate erlaubnisfrei gewesen war, verfügte das neue Gesetz nunmehr sogar eine generelle Erlaubnispflicht. Das Ausländergesetz blieb somit primär als Fremden-, Polizei- und Abwehrrecht erhalten. Es war von der Vorstellung des Fremden beherrscht, dem der Aufenthalt zwar – wenn es im öffentlichen Interesse liegt – gestattet werden kann, der aber auch nach langem Aufenthalt nicht seine Fremdeneigenschaft, die ihn vom inländischen Staatsvolk unterscheidet, verliert (Hailbronner 1990: 56).
In der Analyse erscheint das parlamentarische Verfahren eher als Akklamation für den exekutiv-administrativen, letztlich obrigkeitsstaatlichen Vollzug der Ausländerpolitik, denn als Signal eines gegenüber der Regierung selbstbewussten und öffentlichkeitswirksamen Parlaments. Der Bundestag – so urteilt Schönwälder (2001: 245) – »versagte vor der Aufgabe, Ausländerrecht und damit auch Ausländerpolitik einer umfassenden, öffentlichen Kritik zu unterziehen und Mechanismen zur Kontrolle der Verwaltung einzubauen. Für das Ausland inszenierte man eine Demonstration bundesdeutscher Liberalität, ohne deren Gehalt wirklich ernsthaft zu überprüfen.«
84
vgl. ausführlich zur Rolle unbestimmter Rechtsbegriffe in Zusammenhang mit den zentralen Vorschriften der APVO bzw. des AuslG und dem damit verbundenen behördlichen Ermessensspielraum Dohse (1981: 233-239), Köppe (2002: 63-66).
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Außerparlamentarische Diskurse Die Bundesrepublik war zu dieser Zeit noch weit entfernt von einer breiten Diskussion über die Rechte von Ausländern. Dennoch entwickelte sich nach der Verabschiedung des Gesetzes ein Diskurs auch außerhalb des institutionell-politischen Raumes. Ausgangspunkt waren 1968/69 studentische, teilweise gewaltsame Protestaktionen gegen die inhumane Politik der Abschiebungen, ein vom Verband deutscher Studentenschaften erarbeiteter linker Gegenentwurf zum AuslG sowie die von zahlreichen Studierendenausschüssen getragene Kampagne »Zerreißt das Ausländergesetz« (vgl. Seibert 2006). Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftler und andere gesellschaftliche Gruppen formierten sich zu gemeinsamer konstruktiver Kritik, die sich sowohl am Inhalt des Gesetzes, aber auch am Etikettenschwindel und am Zynismus von Bundesregierung, Ministerialbürokratie und zahlreichen Kommentatoren entzündete, die das Gesetz als liberal und fortschrittlich priesen (vgl. Franz 1992: 155f.; Schönwälder 2003). In engagierten Streitschriften polemisierten einzelne Autoren gegen den ausländerpolitischen mainstream, etwa in dem sie das Ausländerrecht als »Disziplinarordnung für die Minderheit« identifizierten (Heldmann 1974). Bereits im Jahr 1970 unterzeichneten 143 Persönlichkeiten in Form einer von der Humanistischen Union initiierten Petition an den Deutschen Bundestag den »Alternativentwurf 1970 zum Ausländergesetz 1965« (dokumentiert in Franz 1971: 335-338). Anders als das geltende Ausländerrecht, ging dieser Entwurf nicht von einem generellen Aufenthaltsverbot für Ausländerinnen und Ausländer aus. Vielmehr sollte das Aufenthaltsverbot eine begründungsbedürftige Ausnahme darstellen. Als erstes, deutliches Signal der zivilgesellschaftlichen Meinungsbildung unter Beteiligung von Wissenschaftlern, Rechtspraktikern und Vertretern sozietaler Gruppen konnte der Alternativentwurf das politische Handeln allerdings nicht unmittelbar beeinflussen: Die Rezession von 1966/67 und die damit verbundene vorwiegend »ökonomistische« politische Diskussion um die Gastarbeiterbeschäftigung hatten fast ausschließlich die kurzfristigen, konjunktur- und beschäftigungspolitischen Perspektiven des Themas in den Vordergrund gerückt (vgl. Herbert 2001: 218ff.).
2.2.2.3 Koordinierungskreis und Ressortkonkurrenz: Ausländerpolitik zwischen divergierenden Interessen Die Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer fiel hauptsächlich in die Zuständigkeit der Innen-, Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialressorts, war aber ebenso auch ein Instrument der Außenpolitik. Beispielsweise machte sich bereits 1958 das Auswärtige Amt regierungsintern dafür stark, ein Anwerbeabkommen mit Griechenland abzuschließen, das in den Einflussbereich des Warschauer Pakts geraten war; 1960 kam es dazu (vgl. Steinert 1995: 301ff.). Gerade bei den Verhandlungen zu den Abkommen mit der Türkei in den frühen 1960er Jahren und später Jugoslawien unter Außenminister Willy Brandt war die Rolle des Außenministeriums von besonderer Bedeutung (vgl. Schönwälder 2001: 251ff., 343ff.). Den tendenziell restriktiven, teilweise ethnisch begründeten Bestrebungen des BMI, aber auch des BMA, die Anzahl der türkischen Arbeitnehmer möglichst klein und deren Aufenthalt kurz zu halten, wirkte das AA entgegen.
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Ausländerpolitische Kooperation im Exekutivföderalismus Der Beginn echter Ausländerpolitik auf der Ebene der Landesregierungen kann ebenfalls auf das Jahr 1965 datiert werden. Bei der Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK)85 im Juni wurden dazu erstmals Grundsätze festgelegt, die das bereits verkündete Ausländergesetz flankieren und handlungsleitend für die Vollzugspraxis der Ausländerbehörden werden sollten. Sie umfassten folgende Punkte (nach Meier-Braun 1988: 133f.): mit Ausnahme von Jugoslawen sollte Staatsangehörigen des Warschauer Pakts der Aufenthalt zur Ausübung einer Beschäftigung versagt werden; Staatsangehörigen außereuropäischen Staaten – mit wenigen Ausnahmen – sollte der Aufenthalt zur Ausübung einer Beschäftigung ebenfalls nicht gestattet werden; für die Entscheidung über den Familiennachzug zu Ausländern wurden Maßstäbe festgelegt: mindestens dreijähriger rechtmäßiger Aufenthalt, Aussicht auf fortgesetzte, längere Beschäftigung in der Bundesrepublik, angemessener Wohnraum, Beschränkung auf Ehegatten und Kinder unter 21 Jahre; bei Einreise von Ausländern ohne erforderlichen Sichtvermerk sollte ausgewiesen bzw. abgeschoben werden. Wichtige Impulse für die Formulierung dieser Neben-Ausländerpolitik, gegen die andere Ressorts zunächst wenig unternehmen konnten, ging vom Bundesinnenministerium aus, das damit seinen Kontroll- und Sicherheitsansprüchen gerecht werden wollte: »Das BMI, das in der Bundesregierung für die Ausländerbeschäftigungspolitik nicht zuständig war [...] versuchte [...] mit Hilfe der Innenminister der Länder und unter Ausnutzung der Länderkompetenzen eigenständige Fakten zu schaffen.« (Schönwälder 2001: 327)
Ressortkoordination auf Bundesebene Das Komplexitätsniveau der Ausländerpolitik stieg indes nicht nur auf der politischen Meta-Ebene enorm an. Auch Mikro-Policies im Themenbereich ausländische Arbeitnehmer, insbesondere die Artikulation ihrer politischen und sozialen Interessen und die Repräsentation in politischen Entscheidungsprozessen in Betrieben,86 Kommunen und Bundesländern sowie die entsprechende Kommunikation mit den zuständigen Ministerien auf Bundesebene, bedurften der Abstimmung zwischen den beteiligten Akteuren. Deren Anzahl nahm mit 85
Die IMK wurde 1954 als Gremium zur länderübergreifenden fachlichen Zusammenarbeit auf politischer Ebene errichtet. Sie ging aus der seit 1949 bestehenden »Arbeitsgemeinschaft der Innenministerien der Länder der Bundesrepublik« hervor (vgl. Kunze 1968: 106) und erlangte in zentralen Bereichen der praktischen Ausländer- und Asylpolitik große Bedeutung, insbesondere bei der Vorbereitung migrationspolitischer Vorschriften, die unterhalb der bundesgesetzlichen Ebene in Bundes- oder Landesverordnungen oder -erlassen ihren Niederschlag fanden. Für grundlegende Verfahrensfragen ist die IMK bis heute das zentrale Entscheidungsforum. Die Beschlussfassung der IMK erfolgt unter dem Einstimmigkeitsprinzip, wobei dem Bundesminister des Innern nur eine beratende Funktion zukommt (vgl. http://www.bundesrat.de/Site/Inhalt/DE/3_20Konferenzen/3.2_20Innenminister-Konferenz/ index,templateId=renderUnterseiteKomplett.html, 29.11.2004). Damit symbolisieren die Beschlüsse der IMK jeweils den kleinsten gemeinsamen Nenner. 86 Die Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1971 und das Mitbestimmungsgesetz von 1976 sicherten den ausländischen Arbeitnehmern weit gehende innerbetriebliche Mitwirkungsrechte.
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der raschen quantitativen Entwicklung der Zuwandererzahlen – bereits im September 1964 hatte man den einmillionsten »Gastarbeiter« begrüßt87 – ebenfalls zu. Am 6. Dezember 1965 rief der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Walter Arendt einen Koordinierungskreis »Ausländische Arbeitnehmer« ins Leben, um die Aktivitäten der befassten Behörden besser aufeinander abzustimmen (vgl. Kevenhörster 1974: 35). Dieser seitdem kontinuierlich tagende Arbeitskreis war das erste offizielle, plural besetzte Kollegialgremium zur Beratung migrations- und integrationspolitischer Fragestellungen auf Bundesebene. Neben den Vertretern der Bundesministerien (Inneres, Wirtschaft, Finanzen, Familie und Jugend, Wohnungswesen und Städtebau) nahmen auch die Landesregierungen der »zuzugsstärksten« Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, die Bundesanstalt für Arbeit und die Bundesvereinigung der Kommunalen Spitzenverbände teil. Ferner berieten DGB, Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Innere Mission, Jugendsozialwerk und Jugendaufbauwerk mit; die beiden großen Kirchen waren ebenfalls beteiligt. Insgesamt nahmen meist 30 bis 40 Personen an den Sitzungen teil. Wichtige Aufgaben des Koordinierungskreises bestanden in der Erarbeitung gemeinsamer Grundsätze und Richtlinien, in der Abstimmung der Einzelmaßnahmen zur Vermeidung von Überschneidungen, in der Schaffung eines Unterbaus auf Landes- und kommunaler Ebene sowie in der Übermittlung von Anregungen und Verbesserungsvorschlägen (ebd.: 35ff.) – also in der praktischen Koordination dessen, was im Rahmen gesetzlicher Vorgaben an Eingliederungsmaßnahmen auf den verschiedenen Ebenen initiiert oder umgesetzt wurde. Zu den Hauptthemen gehörten etwa Sprachvermittlung, Unterbringung sowie Repräsentation im Arbeitsleben. Auf der Ebene der Arbeits- und Sozialminister der Länder wurde als Kooperationsgremium zusätzlich ein Länderausschuss »Ausländische Arbeitnehmer« eingerichtet, in dem z.B. die von Bund und Ländern durchgeführten Eingliederungsprogramme koordiniert werden sollten.88 Es ist allenfalls von mittelbaren, beratenden Einflussoptionen des Koordinierungskreises auf die tatsächliche Politikformulierung und -gestaltung auszugehen. Während die Bundesregierung zu verschiedenen Zeitpunkten die Arbeit des Koordinierungskreises tendenziell positiv einschätzte,89 kam Paul Kevenhörster (1974) in einer qualitativinhaltsanalytischen Auswertung der Arbeit des Koordinierungskreises von 1966 bis 1972 zu einem vernichtenden Urteil: Der Arbeitskreis sei eher ein unverbindliches Diskussionsforum, als ein Organ, das integrative Konfliktregelung und die systematische Vorbereitung von Entscheidungen ermögliche. Unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation ausländischer Arbeitnehmer »scheint diese Institution somit eine Alibifunktion auszuüben, da sowohl der repräsentative Charakter wie auch die Effektivität der Beratungen zweifelhaft ist« ([sic!] ebd.: 47f.). Und weiter: Der Koordinierungskreis ist mehr ein Informations- als ein Koordinierungsorgan. Entscheidende Voraussetzungen einer wirksamen Koordination […] sind gegenwärtig nicht gegeben. […] Informations- und Meinungsaustausch vollziehen sich vorwiegend zwischen dem BMA und wenigen Verbänden. […] Der Vielzahl der im Koordinierungskreis vertretenen Institutionen entspricht nur eine geringe Chance der Beeinflussung der Diskussion. (ebd.: 51) 87
vgl. zu dessen tragischer Geschichte in den Folgejahren Meier-Braun (2002: 37f.). vgl. BT-Drs. 8/2716 (s. Fn. 89): 11. 89 vgl. Bundesminister Walter Arendt, BT-Pl.Pr. 6/46 vom 23. April 1970: 2361Df.; Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Fraktionen der SPD und der FDP »Politik der Bundesregierung gegenüber den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen«, BT-Drs. 8/2716 vom 29. März 1979: 10f. 88
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Der Fortbestand des Gremiums bis in die 1980er Jahre spricht jedoch andererseits dafür, dass der Koordinierungskreis durchaus positive Ergebnisse zeitigte – wenn nicht im Bereich der nachhaltigen Interessenrepräsentation ausländischer Arbeitnehmer, der verbindlichen Abstimmung von Einzelmaßnahmen oder als Initiator von bundesweit anwendbaren Politikmodellen, so doch bei der symbolischen Information und Inklusion des »integrationspolitischen Unterbaus« aus Verbänden, Kirchen und Organisationen sowie beider interministeriellen Kooperation. Nicht zuletzt symbolisiert die Einberufung des Koordinierungskreises »Ausländische Arbeitnehmer« den ersten Schritt bei der Etablierung einer in den Folgejahren in stärkerem Maße neokorporatistisch geprägten praktischen Ausländerund Integrationspolitik, bei der in wichtigen Fragen durch Einbindung von Interessengruppen und Wohlfahrtsverbänden innerhalb institutionalisierter Verhandlungsarrangements vorab ein Konsens angestrebt wurde.
2.2.3 Neokorporatistische Strukturen in der Ausländerpolitik: Planung, Pluralisierung, Parteipolitisierung (1973-1982) 2.2.3.1 Anwerbestopp und Agendapolitik In der Folge einer Sonderkonferenz der Arbeitsminister und -senatoren im September 1971 formierten sich in mehreren Ländern Planungsstäbe und interministerielle Arbeitsgruppen, die mit Blick auf die Verbesserung der Eingliederung sowie der Senkung staatlicher Kosten durch Ausländerbeschäftigung Konzeptberichte verfassten (vgl. Meier-Braun 1988: 135ff.). Dabei bildete sich eine Tendenz zur Reduzierung weiteren Zuzugs in einige Länder und Kommunen heraus. Ein Vorschlag zur Senkung der wohlfahrtsstaatlichen Folgekosten der Ausländerbeschäftigung bestand im so genannten Rotationsprinzip: Die Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen ausländischer Arbeitnehmer sollten nach einer bestimmten Zeit automatisch ablaufen, um die Rückkehr ins Heimatland zu erzwingen und den Familiennachzug zu unterbinden. Ersatz sollte durch Neuanwerbungen gewährleistet werden. Damit erhoffte man sich eine Reduzierung der Unterbringungs- und sonstigen sozialen Transferkosten für ausländische Familien (vgl. für Baden-Württemberg Meier-Braun 1979: 105133). Doch das im Jahr 1970 ursprünglich vom BDA ins Gespräch gebrachte Verfahren wurde von den Arbeitgebern wegen der erwarteten negativen betriebswirtschaftlichen Auswirkungen durch die laufenden Kosten der Einarbeitung abgelehnt (vgl. Bade 1983: 98; Herbert 2001: 227). Die 1970er Jahre waren auch auf Bundesebene in wesentlich stärkerem Maße von planvollem Vorgehen in der Ausländerpolitik und einem vielschichtigeren Problembewusstsein gekennzeichnet als die Jahre zuvor. Am 6. Juni 1973 verabschiedete das Kabinett ein Aktionsprogramm zur Ausländerbeschäftigung.90 Die Anzahl der Ausländer hatte die 4Millionen-Marke beinahe erreicht, fast 2,5 Millionen von ihnen waren als Arbeitnehmer beschäftigt. Erstmals wurde in dem Programm Eingliederung als eine primäre Notwendigkeit bezeichnet. Hauptzielsetzung der angekündigten Maßnahmen war jedoch die »Konsolidierung« der Ausländerbeschäftigung und damit verbunden eine Reduzierung der Belastungen für die soziale Infrastruktur. Mit dem Begriff Konsolidierung war unzweifelhaft 90
vgl. BT-Pl.Pr. 7/38 vom 6. Juni 1973: 2084B-2088B.
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auch eine graduelle Verringerung der Zahl der Ausländer gemeint.91 Dieses Ziel sollte mit sechs Leitlinien erreicht werden, von denen ein Großteil die Bedingungen für die Beschäftigung von Ausländern erschwerte. 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Einzelfallprüfung der geplanten Unterbringung in Arbeitgeberunterkünften anhand der Richtlinien; bundeseinheitliche Zulassungskriterien in »überlasteten Siedlungsgebieten«; spürbare Erhöhung der Vermittlungsgebühr bei Neuanwerbungen über die BA; fakultative Einführung einer »Wirtschaftsabgabe« für die Ausländerbeschäftigung; Prüfung der Option einer Mindeststrafe bei gravierenden Fällen illegaler Ausländerbeschäftigung; Ablehnung einer Rotation oder zwangsweisen Beschränkung der Aufenthaltsdauer durch behördliche Eingriffe, stattdessen Verbesserung des aufenthaltsrechtlichen Status bei längerer Aufenthaltsdauer; Ankündigung einer Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Bundesregierung und der Innenminister zur Vorbereitung einer Novelle des Ausländerrechts.
Thesen, Aktionsprogramme und politische Steuerungsversuche Deutlichster Ausdruck neokorporatistischer Einfluss- und Verhandlungsstrukturen in der Ausländerpolitik der 1970er Jahre war die seit März 1970 bestehende Sozialpolitische Gesprächsrunde beim BMA. Dieses Forum institutionalisierte das Bemühen, die Sozialpolitik der Bundesregierung stärker kooperativ zu entwickeln, besser zu planen und durch einen vorab hergestellten Konsens wichtiger gesellschaftlicher Gruppen abzusichern. Wichtige Interessengruppen wurden bereits in die Politikentwicklung einbezogen und sollten im Sinne konsensualer, selbst gestalteter Politik Verantwortung übernehmen. Die sozialpolitische Gesprächsrunde hatte eine spezielle Unterarbeitsgruppe »Ausländerbeschäftigung« eingesetzt, die tendenziell ebenfalls den »Konsolidierungskurs« unterstützte (vgl. Schönwälder 2001: 535). Hatte die Bundesregierung in ihrem Aktionsprogramm ein generelles Anwerbemoratorium noch explizit ausgeschlossen,92 vollzog sich der Sinneswandel nun äußerst rapide. Insbesondere der »Ölpreisschock« ist dabei als letzter Anlass – nicht als unmittelbare Ursache – für die Verhängung des Anwerbestopps am 23. November 1973 identifiziert worden.93 Unangetastet blieb die Option des Familiennachzugs, was dazu führte, dass in den ersten drei Jahren fast ein Drittel aller neuen Zuwanderungen auf den Familiennachzug entfielen (vgl. Bade 2002: 321).
91
So hieß es in der Begründung: »Um die bestehenden Unzulänglichkeiten in angemessener Zeit zu mildern, kann die Zuwachsrate der ausländischen Arbeitnehmer sicher nicht so weiter steigen« (Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Walter Arendt, BT-Pl.Pr. 7/38 vom 6. Juni 1973: 2084C; Herv.i.Orig.). 92 »Zwangsrotation oder Plafondierung« kämen – so Arendt – nicht in Betracht, BT-Pl.Pr. 7/38 (s. Fn. 91): 2086B. 93 Die Ölkrise erwies sich als »ein günstiger Anlaß, den Zustrom ausländischer Arbeitnehmer ohne große Widerstände von Seiten der Entsendeländer und ohne langwierige Diskussion in den deutschen Öffentlichkeit über die sozialen Folgen dieser Maßnahme einzudämmen und die Zahl der Ausländer zu senken« (Herbert 2001: 229; vgl. auch Bade 2002: 319); die »Anweisung des Bundesarbeitsministers an die Bundesanstalt« wurde bei ihrer Veröffentlichung als eine »vorsorgliche Maßnahme« deklariert (vgl. FAZ vom 24. November 1973: 1).
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
125
In Fortführung ihrer ausländerpolitischen Planungsbemühungen leitete das Bundeskanzleramt im Jahr 1975 einen Interministeriellen Ausschuss zur Ausländerpolitik, der im Oktober des gleichen Jahres 17 Thesen für eine neue Migrationspolitik vorlegte.94 Die Pläne waren jedoch sowohl in der Öffentlichkeit, als auch im Kabinett und innerhalb der Regierungsfraktionen höchst umstritten. Die Notwendigkeit einer »sozial verträglichen Konsolidierung« wurde erneut betont. Der Ausschuss schlug u.a. ein Arbeitsverbot für Kinder von ausländischen Arbeitnehmern, regionale Zuzugssperren in Kooperation mit den Landesregierungen (Regionalsteuerung), Einschränkungen beim Bezug von Arbeitslosengeld sowie den Ausschluss von Einbürgerungsoptionen vor. Dabei bestand innerhalb des Ausschusses ein Konsens über die Aufrechterhaltung der generellen Beschränkungsmaßnahmen und die Ablehnung von finanziellen Anreizsystemen zur Rückkehr ins Heimatland. Kontovers unter den beteiligten Ressorts blieben »Zwangsrotation«, die Gestaltung des Familiennachzugs in gesperrter Verdichtungsgebiete sowie Fragen der Statusverfestigungen für Ausländer mit längerem Arbeitsaufenthalt (vgl. Bade 1983: 99f.). Der Streit innerhalb des Kabinetts 1975/76 offenbarte die veränderten politischen Konstellationen zwischen den Ressorts: Während das BMA sich für eine Verschlechterung der Rechtspositionen von Ausländern bzw. für Zwangsmaßnahmen einsetzte, trat das BMI in Person von Innenminister Werner Maihofer (FDP) solchen Vorstellungen entgegen und akzentuierte die Vertretung humanitärer Anliegen (vgl. Schönwälder 2001: 549) Als Konsens- und Gestaltungsgremium der Exekutive war der interministerielle Ausschuss damit ein Fehlschlag; auf Bundesebene gelangte man zu keiner kohärenten Agenda. Eine umfassende, praktikable Konzeption für die zukünftige Ausländerpolitik blieb ein Desiderat; das Kabinett verfolgte seine »Ausländerpolitischen Thesen« nicht weiter.
2.2.3.2 Ausländerpolitik goes commission Nach der Wiederwahl der sozial-liberalen Koalition thematisierte Bundeskanzler Helmut Schmidt die Ausländer- und Integrationspolitik in seiner Regierungserklärung vom 16. Dezember 1976 und warb für eine beteiligungsorientierte Politikgestaltung. Daran sollen alle gesellschaftlichen Kräfte, z.B. die Vertreter der kommunalen Einrichtungen, die Vertreter der Schulen, der Gewerkschaften, der Wirtschaft, der Kirchen, der Wissenschaft, der politischen Parteien, aber eben auch der Vertrauensleute der ausländischen Arbeitnehmer selbst beteiligt werden.95
Auch die Bundesländer hatten Initiative ergriffen. Um »eine zwischen Bund, Ländern und Sozialpartnern abgestimmte umfassende Konzeption für Ausländerbeschäftigung, insbesondere zu Fragen des Familiennachzugs, Aufenthaltsrechts, einer künftigen Anwerbepolitik, der sozialen Integration sowie der Rückwanderung fortzuentwickeln« berief Arbeitsund Sozialminister Walter Arendt eine Bund-Länder-Kommission »Ausländerbeschäftigung«, die am 4. August 1976 zu ihrer ersten Sitzung zusammentraf.96 Die Bund-Länder-Kommission erweiterte erstmals den Teilnehmerkreis eines die Ausländerpolitik formulierenden Gremiums um die Sozialpartner – das Politikberatungsregime 94
In Auszügen dokumentiert in FR vom 23. Februar 1976: 14. Bundeskanzler Helmut Schmidt, BT-Pl.Pr. 8/5 vom 16. Dezember 1976: 42D-43A. 96 »Vorschläge der Bund- Länder-Kommission zur Fortentwicklung einer umfassenden Konzeption der Ausländerbeschäftigungspolitik« vom 28. Februar 1977, Bonn (GZ: IIa 5 – 24 200/22). 95
126
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
wurde in Ansätzen pluralisiert. Bis dahin waren neokorporatistische Strukturen lediglich in dem relativ unverbindlichen und ineffizienten Koordinierungskreis und der sozialpolitischen Gesprächsrunde institutionalisiert worden. Nun waren in der ersten großen Kommission zur Migrationspolitik auf Bundesebene neben der Bundesregierung als ständige Mitglieder auch alle Bundesländer, die Bundesanstalt für Arbeit (BA) sowie die kommunalen Spitzenverbände beteiligt. Die Inklusion von Gewerkschaften und Arbeitgebern beschränkte sich auf eine konsultative Mitgliedschaft in der Kommission, während eine Arbeitsgruppe unter Federführung des Arbeitsministeriums die inhaltliche Arbeit übernahm. Im Dezember 1976 legte die AG der Gesamtkommission den Entwurf eines Berichtspapiers vor. Dieser wurde Mitte Februar 1977 unter Beteiligung der Sozialpartner in einer Klausur beraten. Trotz deutlich widerstrebender Auffassungen innerhalb der AG und in der plural besetzten Kommission erzielte man schließlich einen Kompromiss (vgl. Meier-Braun 1988: 143f.). Den am 28. Februar 1977 verabschiedeten und auf knappen 39 Seiten formulierten »Vorschlägen der Bund-Länder-Kommission zur Fortentwicklung einer umfassenden Ausländerbeschäftigungspolitik« stimmte der Koordinierungskreis »Ausländische Arbeitnehmer« ebenso zu wie die Konferenzen der Arbeits- und Sozialminister und die Bundesregierung.
Widersprüchliche Konzeptionen Der Bericht bekräftigte den Grundsatz, dass die Bundesrepublik kein Einwanderungsland sei. Die Kommission ging grundsätzlich davon aus, den Anwerbestopp auf lange Sicht uneingeschränkt aufrechtzuerhalten, Rückkehrbereitschaft und Rückkehrfähigkeit der Ausländer zu stärken, ausländischen Arbeitnehmern und ihren Familien ein gesichertes und integriertes Leben zu ermöglichen, die Ausländerbeschäftigungspolitik künftig stärker an Problemen der zweiten Ausländergeneration zu orientieren.97 Die Vorschläge der Arbeitsgruppe waren nicht frei von Widersprüchen und bewegten sich zwischen den Polen Integration auf Zeit und Förderung der Rückkehrbereitschaft. Während Einwanderung abgelehnt wurde, sollte andererseits nach entsprechendem Aufenthalt ein unbefristeter Aufenthaltstitel zur Regel werden; erleichterte Einbürgerung wurde abgelehnt, das Arbeitsverbot für nachgezogene Familienangehörige bekräftigt. Die Ergebnisse der Kommission leiteten Änderungen bei den durch die Bundesregierung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz ein. Diese sollten ursprünglich in ihrer Ausrichtung dem »Konsolidierungs«-Gedanken Rechnung tragen und die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltstitel eng fassen. Pläne für restriktivere Vorschriften trafen jedoch auf den Widerstand der Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften (vgl. Bade & Bommes 2000: 175). Auch das liberal geführte Bundesinnenministerium entwickelte unter Minister Gerhart Baum verstärkte ausländerpolitische Aktivitäten und wollte die Voraussetzungen für erleichterten Daueraufenthalt sogar im Ausländergesetz ändern, scheiterte damit aber innerhalb der Regierung (vgl. Brüggemann-Buck 1999: 36).
97
vgl. hierzu und im Folgenden: Vorschläge der Bund-Länder-Kommission (s. Fn. 96): passim.
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
127
Alternative Einflüsse auf die Gesetzgebung Bereits bevor die Kommission tagte, hatten verschiedene Initiativen in Weiterführung des »Alternativentwurfes 1970 zum Ausländergesetz 1965« (vgl. Kap. 2.2.2.2) an Reformvorschlägen gearbeitet. Das sichtbarste und nachhaltigste Ergebnis zur Formulierung von Ausländerpolitik im gesellschaftlichen Raum, das »Düsseldorfer Reformprogramm zum Ausländerrecht« (vgl. Albrecht 1976), ging aus einem plural verankerten Initiativkreis hervor, der das reformerische Potenzial von Kirchen, Interessengruppen und Verwaltungsjuristen gebündelt hatte. Die darin enthaltenen Vorschläge wurden im Laufe des Jahres 1974 dem BMI und anderen interessierten Kreisen in Form eines Entwurfes für ein »Gesetz über die Rechtsstellung der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland« vorgelegt. Während Justizminister Hans-Jochen Vogel den Vorschlägen äußerst positiv gegenüber stand, lehnte das Innenministerium – damals noch unter Werner Maihofer – die in dem »Gesetzentwurf vorgesehene Grundkonzeption für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer« als »leider […] nicht geeignet« ab.98 Die Bund-Länder-Kommission stand hingegen den Vorschlägen offener gegenüber und nahm einige Anregungen auf, die in die Verwaltungsvorschriften zum Ausländergesetz inkorporiert werden sollten (vgl. Franz 1992: 157). Auf höchster Ebene der Länder, bei der Ministerpräsidenten-Konferenz am 11. Mai 1978, war diese Bereitschaft hingegen nicht vorhanden; man nahm die Vorschläge der Kommission lediglich entgegen, billigte sie aber nicht. Bei der Frage der aufenthaltsrechtlichen Statusverbesserungen zeigte sich ein offener Dissens (vgl. Meier-Braun 1988: 146). Dieser resultierte in der vorläufigen Blockade der Verwaltungsvorschriften zum AuslG durch den Bundesrat, was die Umsetzung der Kommissionsvorschläge verzögerte (vgl. Meier-Braun 1979: 50ff.). Die »Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zur Ausführung des Ausländergesetzes« wurden schließlich dahingehend liberalisiert, dass nach fünfjährigem, ununterbrochenen Aufenthalt regelmäßig eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bzw. nach acht Jahren eine Aufenthaltsberechtigung zu erteilen war. Der Bundesrat verabschiedete die Vorschriften am 2. Juni 1978.99 Festzuhalten bleibt, dass über die Bund-Länder-Kommission zur Ausländerpolitik erstmals – in sehr bescheidenem Maße – Anregungen aus dem zivilgesellschaftlichen Bereich in die Formulierung bundesdeutscher Migrationspolitik einflossen. Das mitgestaltende Wirken gesellschaftlicher Gruppen und der in der Kommission vertretenen Gewerkschaften beeinflusste den Entwurf in zentralen Punkten (vgl. Franz 1992). Auffallend im Vergleich zu anderen Kommissionen und Arbeitsgruppen ist die Tatsache, dass einerseits der Teilnehmerkreis der Bund-Länder-Kommission nicht auf die unmittelbaren exekutiven Akteure beschränkt blieb, andererseits ihre Funktion über die eines reinen Beratungsgremiums hinaus ging und gewisse Entscheidungsprärogativen beinhaltete: Die integrative Beratungsform sah implizit vor, dass die Leitlinien der Kommission nicht nur Handlungsoptionen aufzeigten, sondern tatsächlich zur Umsetzung kommen.
98
Schreiben des Bundesministers des Innern vom 17. Oktober 1974 an den Initiativkreis für die Reform des Ausländerrechts, dokumentiert in Albrecht (1976: 372f.). vgl. BR-Drs. 71/78 (Beschluß); BR-Sten.Ber. 459 vom 2. Juni 1978: 154B-1156B, 159A-160D.
99
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2.2.3.3 Installation eines schwachen Akteurs: Der »Ausländerbeauftragte« und die pluralisierte Integrationspolitik Ende 1978 berief Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen Heinz Kühn den ersten »Beauftragten der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen«. Der Beauftragte sollte die Bundesregierung in ihren ausländerpolitischen Bemühungen unterstützen, für die Weiterentwicklung der Integrationspolitik Anregungen geben und auf bessere Koordinierung der Integrationsmaßnahmen zwischen Ländern, Gemeinden und den damit befassten gesellschaftlichen Gruppen hinwirken. Schmidt hatte die Idee zur Einsetzung selbst entwickelt und verteidigte sie innerhalb der Regierung ebenso wie gegenüber der Kritik der Opposition (vgl. Grindel 1984: 12ff.).100 Obwohl das Amt äußerst spärlich mit Haushalts- und Personalmitteln ausgestattet war, ging von seiner Schaffung und insbesondere von der knapp ein Jahr danach, im September 1979 von Kühn vorgelegten Denkschrift ein deutliches integrationspolitisches Signal aus. Unter dem Titel »Stand und Weiterentwicklung der Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien in der Bundesrepublik Deutschland: Memorandum des Beauftragten der Bundesregierung« (vgl. Kühn 1979) plädierte der Beauftragte für einen Politikwechsel weg vom »Nicht-Einwanderungsland«: Eine unumkehrbare Entwicklung habe stattgefunden, die meisten ausländischen Arbeitnehmer seien nicht mehr einfach »Gastarbeiter« sondern »Einwanderer«. »Die unvermeidliche Anerkennung der faktischen Einwanderungssituation macht eine Abkehr von den Konzepten der Integration ›auf Zeit‹ erforderlich« (Kühn 1979: 15f.). Neben zahlreichen Anregungen für die Integration der zweiten und dritten Ausländergeneration gehörten das Optionsrecht auf Einbürgerung für in der Bundesrepublik geborene und aufgewachsene Jugendliche sowie das kommunale Wahlrecht zu den unmittelbaren Handlungsvorschlägen Kühns (vgl. ebd.: 43, 44ff.).
Ressortdominanz Mit den im Memorandum vertretenen Vorschlägen hatte der Integrationsbeauftragte zwar seine Unabhängigkeit von der offiziellen Regierungspolitik – und explizit die Nähe zu der in Wohlfahrtsverbänden und gesellschaftlichen Gruppen verankerten »Ausländerlobby« – deutlich gemacht (vgl. Kühn 1979: 4f; 37f.). Dementsprechend fehlte allerdings auch der Rückhalt innerhalb der Bundesregierung, und zwar nicht nur für den Inhalt der Handlungsvorschläge, sondern insbesondere auch für das Amt als übergreifende Institution zwischen den eigentlich zuständigen Ministerien. Der Widerstand einiger um ihre Pfründe fürchtende Ressorts wurde nach Vorlage des Berichts überdeutlich:
100
Die Idee zur Installierung eines Beauftragten war Ende der 1970er Jahre allerdings nicht neu: Bereits 1970 war – tempora mutantur – durch Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion angeregt worden, einen »Bundesbeauftragten für Ausländerfragen« zu berufen und »Fragen betreffend der Gastarbeiter und Ausländer wegen ihrer innen- und außenpolitischen Relevanz künftig im Bundeskanzleramt ressortieren zu lassen« (BT-Pl.Pr. 6/46 vom 23. April 1970: 2361C-2362A). Innenminister Werner Maihofer schlug 1972 die Ernennung eines »Regierungsbevollmächtigten für Ausländerfragen« vor; Schreiben der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag an den Initiativkreis für die Reform des Ausländerrechts vom 30. November 1972 (dokumentiert in Albrecht 1976: 330ff.).
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
129
Als der Bericht im Koordinierungskreis beim Bundesarbeitsministerium diskutiert werden sollte, Vertreter der Ministerien aber zum wiederholten Male eine Sachdiskussion verhinderten, kam es zum Eklat. Die Vertreter der Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände verließen unter Protest der Saal (Franz 1992: 157; vgl. Meier-Braun 1988: 150ff.).
Im November 1979 verabschiedete der Koordinierungskreis eigene Vorschläge zur Integration der zweiten Ausländergeneration, die jedoch »weit hinter dem ›Kühn-Memorandum‹ zurück und herkömmlichen arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen verhaftet« blieben (Bade 1994a: 19). Die Bundesregierung beschloss am 19. März 1980 ein zurückhaltendes Programm zur Weiterentwicklung der Ausländerpolitik, nachdem sich das Kabinett eingehend mit den ausländerpolitischen Vorschlägen befasst hatte. Man ging zwar erstmals explizit davon aus, dass »der Aufenthalt in der Bundesrepublik und die Integration in unser gesellschaftliches Leben im Einzelfall in die Einwanderung münden« könnten, betonte aber wiederum den Anwerbestopp und die Förderung der Reintegration in den Herkunftsländern.101 Auch wenn die Bundesregierung weit davon entfernt war, die Vorschläge des Beauftragten direkt in ihre »Orientierungslinien« zu übernehmen, entschloss man sich doch, zumindest rhetorisch auf Kühns Memorandum zu rekurrieren. Die ausländerpolitischen Beschlüsse wurden von Arbeitsminister Herbert Ehrenberg und Bildungsminister Jürgen Schmude gemeinsam mit Heinz Kühn vorgestellt, der betonte, die Bundesregierung habe die »wesentlichen Anregungen« aus seinem Memorandum aufgegriffen.102 Der ausländer- und integrationspolitische Fortschritt übertrug sich jedoch kaum auf die gesetzgebenden Körperschaften; die liberale Position des Ausländerbeauftragten blieb im unionsdominierten Bundesrat marginal. Selbst zurückhaltende, eher konservative Vorschläge, die nach einer Reform der Bundesgesetze zur Verbesserung der allgemeinen Rechtssicherheit im Ausländerrecht riefen (vgl. Hailbronner 1980), wurden nicht aufgegriffen.
Wende von der Integration zur Abwehr In einigen Bundesländern setzte ab 1980/1981 eine Diskussion um die »Grenzen der Aufnahmefähigkeit« ein, bei der u.a. strengere Nachzugsregeln für Familienangehörige und die Erhöhung der Rückkehrbereitschaft eingefordert wurden (vgl. Meier-Braun 1988: 166ff.). Auch im Bundestag wollte man von Einwanderung nichts mehr wissen. Die Herangehensweise an das »Ausländerproblem« blieb nicht zuletzt wegen der starken Abwehrdiskussion im Asylrecht (vgl. Kap. 2.3.3) defizitorientiert und latent rassistisch – auch bei den Regierungsparteien.103 Unter dem stärker werdenden Druck bewegte auch die Bundesregierung ihre ausländerpolitischen Konzeptionen wieder in eine restriktivere Richtung. Das Programm von 1980 wurde mit Kabinettsentscheidungen am 11. November und 2. Dezember 1981 »an die jüngste Entwicklung angepasst« und mündete mit Beschluss vom 3. Februar
101
zit.n. der Dokumentation des Beschlusses im Informationsbrief zum Ausländerrecht 1980: 216ff. zit.n. FR vom 20. März 1980: 1f. vgl. die Einlassungen des SPD-Abgeordneten Willfried Penner: »Die Bundesrepublik ist kein Einwanderungsland. […] Schließlich sind für nicht wenige Ausländer die Unterschiede in Kultur und Zivilisation oft unüberwindbare Sperren für ein Einleben hier. Nicht zu vermeiden sind häufig Spannungen sowohl mit einheimischen als auch mit den zum Teil aus verschiedenen Erdteilen stammenden Volksgruppen. (BT-Pl.Pr. 8/228 vom 2. Juli 1980: 18530 B. 102 103
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1982 in neuen ausländerpolitischen Grundpositionen.104 Die Bundesregierung richtete ihre Ausländerpolitik darauf aus, weitere Zuwanderung von Ausländern wirksam zu begrenzen, die Rückkehrbereitschaft zu stärken sowie die wirtschaftliche und soziale Integration der seit vielen Jahren in der Bundesrepublik lebenden Ausländer zu verbessern und ihr Aufenthaltsrecht »zu präzisieren«. Die Integrationsbemühungen blieben den restriktiven Maßnahmen untergeordnet. Das Jahr 1981 markierte – so Karl-Heinz Meier-Braun (1988: 18f.) – eine »Wende in der Ausländerpolitik«. Aus dem »Wettlauf um Integrationskonzepte« war ein »Wettlauf um eine Begrenzungspolitik« geworden. Als im Dezember 1980 die FDP-Politikerin Liselotte Funcke als Nachfolgerin von Heinz Kühn berufen wurde, hatte die Bundesregierung den Arbeitsstab der Beauftragten zwar um drei Stellen des höheren Dienstes erweitert (vgl. Grindel 1984: 31), dennoch blieb die Amtsinhaberin nur eine Stimme in dem durch Bundesressorts, Regierungsparteien, Opposition und vor allem elf für jegliche Implementation zuständige Länderregierungen orchestrierten Konzert zur Formulierung der deutschen Ausländerpolitik. Bis 1997, als das Amt im Ausländergesetz verankert wurde, blieb es »eine abhängige Hilfseinrichtung mit Beratungsfunktion für die Bundesregierung« (Grindel 1984: 32). In einigen Ländern hatte sich die Politik hingegen geradezu verselbständigt.105 Einzelne Innenministerien konstituierten über Erlasse und aufenthaltsrechtliche Bestimmungen in den Bereichen Kindernachzug, Ausweisung sowie beim Nachweis von Wohnraum und Sprachkenntnissen eine stark differierende Rechtsanwendung, eine »Grauzone des Verwaltungshandelns« (Meier-Braun 1988: 175ff.).
Am Ausgang des sozial-liberalen Zeitalters Nicht nur um die unterschiedliche Praxis der Einbürgerungen in den Ländern zu vereinheitlichen, sondern auch um die Integrationspolitik zu liberalisieren, legte die Bundesregierung Anfang 1982 den Entwurf eines »Vierten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit« vor, dessen Beratung sich in Bundestag und Bundesrat zu einer parteipolitisierten Kontroverse entwickelte.106 Die Debatte um die Erleichterung der Einbürgerung für die zweite Generation von Ausländern in Deutschland markiert gleichzeitig einen Grundstein für das bis heute nachwirkende, parteipolitisch stark differierende Verständnis von Integration (vgl. Leggewie 2000: 85). Denn bei der Frage der Staatsangehörigkeit liefen die Vorstellungen weit auseinander. Während die Unionsparteien davon ausgingen, dass »die Einbürgerung nicht Voraussetzung, sondern das Ergebnis der Integration« sei, postulierte die Bundesregierung eine konträre Schrittfolge: »Gerade der Einbürgerungswille eines jungen Menschen dokumentiert dessen Integrationsbereitschaft.«107 Im Rahmen weiter Ermessensspielräume des Ausländergesetzes nutzten die Innenverwaltungen der Länder ihre Weisungsmacht gegenüber den lokalen Ausländerbehörden zu 104
vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Fraktionen der SPD und FDP zur Ausländerpolitik, BT-Drs. 9/1629 vom 5. Mai 1982 (Zitate ebd.: 1) sowie Franz (1992: 158). 105 vgl. die Missbilligung und den deutlichen Verweis auf einen Regelungsanspruch des Bundestages durch den SPD-Abgeordneten Reinhard Bühling, BT-Pl.Pr. 9/100 vom 13. Mai 1982: 6057D. 106 vgl. BR-Drs. 3/82 vom 4. Januar 1982; BT-Drs. 9/1574 vom 16. April 1982; BR-Sten.Ber. 508 vom 12. Februar 1982: 20C-27B; BT-Pl.Pr. 9/100 vom 13. Mai 1982: 6054A-6064D. 107 Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel, BR-Sten.Ber. 508 vom 12. Februar 1982: 20C; PstS. Andreas von Schoeler, BR-Sten.Ber. 508 vom 12. Februar 1982: 26C.
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
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einer teils sehr restriktiven Politik. Der Deutsche Bundestag wurde selten zum tatsächlichen Entscheidungsforum. Vielmehr wurde wiederholt von einem »Grundkonsens« in der Ausländerpolitik gesprochen, wenngleich die Meinungen in Einzelfragen teilweise weit auseinander liefen und durchaus parteipolitisch prononciert vertreten wurden.108 Der vermeintliche Grundkonsens hatte weitgehende Tatenlosigkeit von Regierung und Bundestagsmehrheit zur Folge, jedenfalls was die Gesetzgebung betrifft. Migrationspolitisch relevante Gesetze wurden vom Bundesrat initiiert.109 Die oben genannte Regierungsinitiative zur Erleichterung der Einbürgerung fiel aufgrund des Koalitionswechsels und der Neuwahl des Bundestages dem Prinzip der Diskontinuität zum Opfer. Auch die von Bundesinnenminister Gerhart Baum angekündigte Novellierung des Ausländerrechts, mit der in erster Linie die Ermessensspielräume der Behörden beim Aufenthaltsrecht eingeengt werden sollten,110 konnte darob nicht mehr verwirklicht werden. Ebenso blieben die Resultate einer SPDinternen Kommission »Ausländerpolitik« vorerst ohne Nachhall.111 Im gesellschaftlichen Bereich hatten sich nach den Bemühungen um ein »menschlicheres« Ausländergesetz in den 1970er Jahren auch latent oder offen xenophobe Tendenzen herausgebildet: Ein völkisch geprägter Aufruf zahlreicher, teils renommierter Wissenschaftler zur Gründung eines bundesweiten Verbandes, dessen Aufgabe vor dem Hintergrund der Ausländerzuwanderung in der »Erhaltung des deutschen Volkes und seiner geistigen Identität« bestehen sollte, sorgte 1981 für Aufsehen. In dem so genannten »Heidelberger Manifest« vom 17. Juni 1981 (dokumentiert in Struck 1982: 109) wurden die »Unterwanderung des deutschen Volkes«, die »Überfremdung unserer Sprache, unserer Kultur und unseres Volkstums« perhorresziert und in Anbetracht der deutschen Ausländerpolitik, welche »die Entwicklung zu einer multirassischen Gesellschaft« fördere, vor einer »ethnische Katastrophe« gewarnt. Daneben formierten sich Bürgerinititativen und Gruppen »gegen Ausländer« und zahlreiche Gewalttaten zeugten vom aufkeimenden, fremdenfeindlich motivierten Rechtsradikalismus (vgl. Meier-Braun 2002: 53ff.; Keskin 2005: 121f.). Um die Chancen einer offenen und progressiven Migrationspolitik war es zu Beginn der 1980er Jahre nicht gut bestellt; die neue CDU-geführte Bundesregierung tat dazu ihr übriges.
2.2.4 Kommissionspolitik und Reformverzug: Novellierungen des Ausländergesetzes (1983-1991) 2.2.4.1 Dokumentation des Dissenses: Die Kommission »Ausländerpolitik« In ihrer Regierungsvereinbarung machte die Koalition aus CDU, CSU und FDP die Ausländerpolitik zu einem vordringlichen Thema.112 Unter der Maxime »Deutschland ist kein 108
vgl. dazu z.B. die Bundestagsdebatte zur Ausländerpolitik vom 4. Februar 1982, BT-Pl.Pr. 9/83: 4888A-4924A. So das »Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung« (ursprünglich als Änderungsgesetz zum »Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit« durch den Bundesrat bzw. die CDU/CSU-Fraktion eingebracht; vgl. BTDrsn. 9/192 vom 20. Februar 1981; 9/199 vom 24. Februar 1981) und »Entwurf eines Gesetzes zur Konsolidierung des Zuzugs und zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern«, BT-Drs. 9/1865 vom 21. Juli 1982 (»Rückkehrprämiengesetz«). 110 BT-Pl.Pr. 9/83 vom 4. Februar 1982: 4906A. 111 vgl. dazu den Bericht der Kommission »Ausländerpolitik« beim Parteivorstand der SPD: »Zur Integration der Ausländer gibt es weder eine politische noch moralische Alternative« vom Juni 1982; SZ vom 30. Juni 1982: 2. 112 dokumentiert in ZAR 4/1982: 166. 109
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Einwanderungsland« lag der Schwerpunkt auf der Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern sowie der Ergreifung aller »humanitär vertretbaren Maßnahmen« zur Unterbindung des Zuzugs von Ausländern. In seiner Regierungserklärung bezeichnete Bundeskanzler Kohl die Verwirklichung einer menschlichen Ausländerpolitik als einen Schwerpunkt des Dringlichkeitsprogramms der neuen Bundesregierung.113 Als zentrale Grundsätze nannte er 1.) Integration, 2.) die Beibehaltung des Abwerbestopps und die Begrenzung des Familiennachzugs, »gerade auch im Interesse der Kinder« sowie 3.) die Förderung der Rückkehrbereitschaft (»Ausländer in Deutschland sollen frei entscheiden, aber sie müssen sich auch entscheiden, ob sie in ihre Heimat zurückkehren oder ob sie bei uns bleiben und sich integrieren wollen«). Weitere Vorschläge und Empfehlungen sollten bis zum Jahresbeginn 1983 durch eine »Arbeitskommission« mit Vertretern von Bund, Ländern und Gemeinden vorgelegt werden. Berufung, Arbeitsauftrag und Arbeitsweise der Kommission »Ausländerpolitik« setzten die mittlerweile mehrjährige »Tradition« von interministeriellen bzw. Bund-LänderArbeitsgruppen zur Beratung deutscher Ausländerpolitik fort. Die erstmals umfassende Beteiligung der Gemeinden sollte die Gelegenheit geben, »stärker als bisher die Erfahrungen vor Ort in die Überlegungen des Gesetzgebers mit einzubeziehen und die Belange der unmittelbar betroffenen Kommunen stärker zu berücksichtigen.« (Spranger 1983: 24). In Orientierung an arbeitsorganisatorischen Grundsätzen der Ministerialbürokratie versammelte man die maßgeblichen exekutiven Akteure der drei Gebietskörperschaften. Die Kommission, deren Bildung die Ministerpräsidenten der Länder zugestimmt hatten,114 stand unter der Federführung von Bundesinnenminister Zimmermann und wurde von dessen Staatssekretär Dr. Siegfried Fröhlich geleitet. Fröhlich hatte bereits zwei Jahre zuvor der BundLänder-Arbeitsgruppe »Asylwesen« vorgesessen (vgl. Kap. 2.3.3.2). Als ständige Mitglieder der Bundesregierung wurden das Auswärtige Amt, der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, der Bundesminister der Justiz, der Bundesminister der Finanzen sowie die Beauftragte für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen beteiligt. Weitere Bundesressorts nahmen je nach Bedarf oder Art des Beratungsgegenstandes teil. Für die föderale Ebene waren qua Benennung durch den Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz die Länder Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Bremen, Hessen, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen durch die jeweiligen Ressorts für Inneres und Soziales vertreten (vgl. Haberland 1983: 55). Die Repräsentation der Kommunen übernahmen die drei Spitzenverbände Deutscher Städtetag, Deutscher Städte- und Gemeindebund und Deutscher Landkreistag. Nicht-staatliche Akteure blieben hingegen exkludiert, die Kommission beschränkte sich auf die Anhörung gesellschaftlicher Institutionen zu einem Sammeltermin.115 Der Auftrag der Kommission entsprach einer defizitorientierten und auf Restriktionen zielenden Grundhaltung und war bereits im Koalitionsvertrag formuliert. Sie sollte klären, »wie gemeinsam rechtsstaatliche Wege gefunden werden können, um wirksamer zu verhindern, daß Ausländer ihre politischen Auseinandersetzungen im Inland gewalttätig austragen, wie der Aufenthaltsstatus nach längerfristigem Aufenthalt verfestigt und gleichzeitig der Familiennachzug gebremst 113
BT-Pl.Pr. 9/121 vom 13. Oktober 1982: 7219D-7220A. vgl. hierzu und im Folgenden den Bericht der Kommission »Ausländerpolitik« aus Vertretern von Bund, Ländern und Gemeinden vom 24. Februar 1983. 115 Am 30. November 1982 führte die Kommission ein Hearing durch, zu dem folgende Institutionen angehört wurden: BDA, DGB, DAG, EKD, Katholisches Büro, AWO, Caritas, DRK, Diakonie, DPWV, Internationaler Sozialdienst, Internationaler Bund für Sozialarbeit, UNHCR. 114
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werden kann, wie dem Mißbrauch des Asylrechts wirksam begegnet werden kann, wie das Instrumentarium verbessert werden kann, um straffällig gewordene Ausländer abzuschieben.«116
Konträrer Rat Das Gremium bzw. seine vier Arbeitsgruppen, die jeweils von hohen Ministerialbeamten oder Staatssekretären geleitet wurden, tagten lediglich vier Monate. Die erste Sitzung fand am 16. November 1982 statt, ihren Abschlussbericht legte die Kommission bereits am 24. Februar 1983 vor. Ihre Tätigkeit konzentrierte sich weitgehend auf den ministerialen, nichtöffentlichen Raum. Externer wissenschaftlicher Sachverstand wurde in die Arbeit der Kommission nicht einbezogen. Der Stand der Beratungen oder Zwischenergebnisse drangen kaum an die Öffentlichkeit; überregionale Zeitungen stellten allenfalls in Nebensätzen Zusammenhänge zu dem Gremium her.117 Auf 220 Seiten bot der Bericht neben einem detailreichen Überblick über sämtliche Regelungsbereiche, die in Zusammenhang mit der Zahl von Ausländern und deren Aufenthaltsstatus in Deutschland standen auch mögliche Handlungsoptionen. Die tatsächlichen Handlungsempfehlungen dokumentierten jedoch den weitgehenden Dissens, der sich mittlerweile zwischen verschiedenen Positionen der an der Kommission beteiligten Akteure herausgebildet hatte. Der Bericht enthielt daher keine Majoritätsentscheidungen, wenngleich in vielen Fragen eine Mehrheit aus vier der fünf permanent beteiligten Bundesressorts (Inneres, Justiz, Finanzen, Arbeit und Sozialordnung), den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Niedersachsen sowie der kommunalen Spitzenverbände Empfehlungen in eine gemeinsame Richtung abgaben. Dem standen meist alternative Empfehlungen anderer Akteure gegenüber. Besonders deutlich offenbarte sich die Kakophonie des Berichts in der auch öffentlich heftig diskutierten Frage des Höchstalters beim Kindernachzug zu Nicht-EG-Ausländern (vgl. S. 33f.: 90ff.). Andere zentrale Fragen wie Aufenthaltsverlängerung, Bildung und Studium, Ehegattennachzug, Ausweisungstatbestände sowie die Erleichterung der Einbürgerung wurden in der Kommission ähnlich dissonant beraten. In einigen Bereichen gelangte die Kommission dagegen auch zu Konsens im Sinne einmütiger Empfehlungen. Dazu gehörten die nunmehr über mehrere Jahre gleich lautenden Ziele der deutschen Ausländerpolitik (Integration, Zuzugsbegrenzung/Anwerbestopp, Förderung der Rückkehrbereitschaft), Maßnahmen gegen Ausländerextremismus, die Schaffung spezieller Aufenthaltstitel für ausländische Familienangehörige bzw. zeitlich begrenzte Aufenthaltszwecke, die Festlegung konkreter Versagungsgründe für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen im Ausländergesetz sowie zusätzliche Maßnahmen zur Verhinderung von illegalem Aufenthalt und illegaler Beschäftigung. Der Tenor des Berichtes induzierte somit eher Verschärfungen der geltenden Rechtslage, gerade weil in zentralen integrationsrelevanten Fragen (erleichterte Einbürgerung, Statusverfestigung) kein Konsens zu Stande kam. Auch die Positionen der angehörten Gruppen und Verbände fanden keine merkliche Berücksichtigung,118 weswegen wissen116
zit.n. ZAR 4/1982: 166. Dies stand ganz im Gegensatz zu der mit einem Höchstmaß an Medienaufmerksamkeit bedachten Zuwanderungskommission 2000/2001, der sie nach Ansicht von Karl-Heinz Meier-Braun (2002: 57f.) in ihrer Anlage und bezüglich des Beratungsumfangs nicht unähnlich war. Die FAZ erwähnte beispielsweise die Kommission lediglich innerhalb anderer Kontexte, ohne dabei auf Arbeitsinhalte Bezug zu nehmen (eigene Auswertung d.Verf.). 118 Sie finden sich dezidiert ausgewiesen als Anhang zum Bericht der Kommission (s. Fn. 114): 203-220. 117
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schaftliche Kommentare und öffentliche Reaktionen auf den Bericht durchweg negativ ausfielen (vgl. Becker, Ghawami & Köhler 1984; Franz 1983; Meier-Braun 1988: 32f.; Zuleeg 1984). Als Legitimation für politisches Handeln der Regierung schied der Bericht damit weitgehend aus.
Koalitionskonflikt zwischen Union und FDP Kohls Regierungserklärung im Mai 1983 nach der Neuwahl zum zehnten Deutschen Bundestag knüpfte an die Ankündigungen aus dem Vorjahr an. Die notwendigen Entscheidungen auf der Grundlage der Arbeitsergebnisse der Kommission würden »nach eingehender Diskussion mit allen interessierten Kreisen getroffen. Die Bundesregierung wird dann den Entwurf eines neuen Ausländergesetzes vorlegen.«119 Angekündigt wurde somit eine beteiligungsorientierte Regierungspolitik, die in einem Gesetzgebungsvorhaben münden sollte. Bereits im September 1983 stellte daraufhin das Bundesinnenministerium unter Friedrich Zimmermann einen äußerst restriktiven internen Rahmenentwurf für ein geändertes Ausländerrecht fertig, der allerdings weder in die Ressortabstimmung ging, noch parlamentarisch beraten wurde. Nach den Vorstellungen des Ministers sollte u.a. das Nachzugsalter für Kinder auf sechs Jahre festgesetzt werden, die Erteilung oder Verlängerung von Aufenthaltserlaubnissen per Rechtsverordnung ausgeschlossen werden können und eine weit gefasste gesetzliche Regelausweisung festgeschrieben werden (vgl. Meier-Braun 1988: 38f.). Die kategorische Ablehnung einer liberalen Grundgedanken zuwider laufenden Ausländerpolitik durch die damalige Ausländerbeauftragte Liselotte Funcke, den innenpolitischen Sprecher Burkhard Hirsch und Außenminister Genscher als FDP-Parteivorsitzendem wurde somit bereits im ersten Jahr der nach dem Machtwechsel zum »Lackmus-Test« liberaler Parteiidentität innerhalb der neuen Koalitionsregierung (Joppke 1999: 82). Lediglich die bereits von der sozial-liberalen Koalition thematisierte Frage der finanziellen Rückkehrförderung für ausländische Arbeitnehmer (vgl. Kap. 2.2.3.3) wurde Gegenstand programmatischer Regierungspolitik. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung, der für bestimmte Fälle eine Rückkehrhilfe von 10.000 DM vorsah, wurde nach kontroversen Debatten in Bundestag und Bundesrat am 25. November beschlossen und trat bereits zum 1. Dezember 1983 in Kraft.120 Über die kritischen Stellungnahmen von Experten in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales hatte man sich weitgehend hinweg gesetzt.121 Die inhaltlich gescheiterte Kommission sowie die Koalitionskonflikte zwischen FDP und der Union bereits im Vorfeld eines Referentenentwurfes verdeutlichten die schier unüberbrückbaren Gräben, die sich inzwischen in der Migrationspolitik manifestiert hatten. Der kleine Koalitionspartner verfügte dabei gegenüber dem christlich-sozial geführten Innenministerium über ausreichende Veto-Macht, um dessen restriktive Pläne zu verhin119 BT-Pl.Pr. 10/4 vom 4. Mai 1983: 66D-67B; in diesem Sinne auch Innenminister Zimmermann: »Der Bundesinnenminister wird dazu Vorschläge in Form eines Gesetzentwurfs vorlegen. […] Ich bin überzeugt, daß wir am Ende eine Lösung erreichen, die einen Konsens der politisch Verantwortlichen darstellt.« (BT-Pl.Pr. 10/5 vom 5. Mai 1983: 220C/D). 120 vgl. BR-Drs. 285/83 vom 22. Juli 1983; BR-Sten.Ber. 526 vom 2. September 1983: 286A-291D; BT-Pl.Pr. 10/33 vom 10. November 1983: 2219A-2238C; BR-Sten.Ber. 529 vom 25. November 1983: 415D-421C; BGBl. I 1983: 1377ff.. 121 vgl. dazu den Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales, BT-Drs. 10/563 vom 3. November 1983: 12 sowie MdB Rudolf Dreßler, BT-Pl.Pr. 10/33 vom 10. November 1983: 2224A.
2.2 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik als Domäne der Exekutive
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dern. Dazu trugen auch die mangelhaften Konsensfindungsprozesse innerhalb des Regierungslagers der Union bei.
2.2.4.2 Chuzpe und Scheitern eines Ministers: Der Zimmermann-Entwurf Die 1987 beginnende Legislaturperiode bot dafür erneut Anschauungsmaterial. Wie schon 1982/83 kündigte die Bundesregierung eine Reform des Ausländerrechts an.122 Das Innenministerium arbeitete verstärkt an einem Gesetz. Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann konnte sich jedoch über mehrere Monate nicht mit seinen Kabinettskollegen einigen. Der doppelte Gesetzentwurf für ein »Ausländerintegrationsgesetz« und ein »Ausländeraufenthaltsgesetz« (vgl. Huber 1988; Heldmann 1989) wurde seit 1987 zwischen dem BMI und dem Justizministerium abgestimmt. Einen offiziellen Referentenentwurf als allgemeine Diskussionsgrundlage legte das BMI nicht vor. Gegen die Vorstellungen Zimmermanns opponierten koalitionsintern deutlich die CDU-Sozialausschüsse (Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft) sowie die FDP, deren innenpolitischer Sprecher Burkhard Hirsch die Überlegungen im Innenministerium als vom »Geist des neunzehnten Jahrhunderts«, von der Abwehr der Ausländer geprägt zurückwies.123 Der restriktive Entwurf des BMI, der weder zwischen den Ressorts und mit dem Koalitionspartner abgestimmt, noch unter Konsultation von Sozialpartnern, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Interessengruppen verfasst worden war, gelangte schließlich Anfang Mai 1988 an die Öffentlichkeit und stieß fast überall – insbesondere bei Gewerkschaften, Arbeitgebern, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, aber auch bei Teilen der Regierungsfraktionen – auf geschlossenen Widerstand (vgl. Bade 1994a: 20f.; Joppke 1999: 82f.; Okyayuz 1989: 143). Am 24. Juni 1988 debattierte der Bundestag in einer von der Fraktion der Grünen beantragten Aktuellen Stunde über die Vorstellungen der Bundesregierung für eine Reform des Ausländerrechts. Die Opposition nutzte dies zu einem Frontalangriff auf das inhaltliche und prozedurale Vorgehen des Innenministers.124 Daneben hatte sich der CSU-Minister mit seinen Vorstößen einerseits von der Position der Bundesregierung, andererseits von Teilen seiner Fraktion, offensichtlich aber auch ein Stückweit von der »institutionalisierten Meinung« im BMI entfernt, dessen nicht politisch besetzte Beamtenschaft jenen stillen, parteiübergreifenden und über die Jahre gereiften ausländerpolitischen Basiskonsens abbildete und durch die relative Unabhängigkeit von politischen Mehrheiten und Ressortleitung eine gewisse Kontinuität konservativer, aber rechtsstaatlicher Politik gewährleistete.125 In diesen Konsens hatten die Vorstellungen des CSU-Innenministers Zimmermann nicht gepasst. Inwieweit die Strategie des Innenministers, durch gezielte Kolportage von Maximalpositionen einem möglichst restriktiven Referentenentwurf den Weg zu bahnen, mit dem Bundeskanzleramt abgestimmt war, ist in der politischen Diskussion nicht deutlich geworden. Verstanden als führende Regierungspolitik im Sinne eines proaktiven Agendasettings ist der Versuch jedenfalls als gescheitert zu erachten. Letztlich spielte das heikle Lavieren mit nicht abgestimmten Papieren und die damit verbundene negative Öffentlichkeitswirkung 122
vgl. Bundeskanzler Helmut Kohl, Regierungserklärung vom 18. März 1987, BT-Pl.Pr. 11/4: 62A. zit.n. FAZ vom 7. April 1988: 1; vgl. auch ebd.: 12. 124 vgl. MdB Erika Trenz (Die Grünen), BT-Pl.Pr. 11/88: 6041D; MdB Thomas Schröer (SPD), ebd.: 6044B 125 vgl. zur Durchsetzung der Interessen »des Hauses« gegenüber der Resortleitung Schnapp (2004: 95) sowie Badura, Staatsrecht (s. Fn. 14): E, Rn. 107. 123
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Zimmermanns – nicht nur in der Ausländerpolitik – auch eine Rolle bei seiner Demissionierung als Innenministers im Zuge des großen Kabinetts-Revirement im April 1989.126
2.2.4.3 Informales Koalitionsmanagement: Die Vorbereitung des Ausländergesetzes unter Schäuble Die Widerstände gegen den Gesetzentwurf von Innenminister Zimmermann hatten zusätzliche Bewegung nicht nur in den gesellschaftlichen, sondern auch in den parlamentarischen Raum gebracht. Im Laufe des Jahres 1989 brachten die beiden Oppositionsfraktionen mehrere Gesetzentwürfe in den Bundestag ein. Die SPD schlug neben einem Gesetz »über den Aufenthalt und die Integration von Ausländerinnen und Ausländern (Bundesausländergesetz)«127 auch ein Gesetz »zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit« vor,128 welches die Inhalte eines Gesetzentwurfs der damaligen SPD/FDP-Bundesregierung von 1982129 sowie mehrerer von Ländern erfolglos über den Bundesrat eingebrachter Gesetzesanträge130 fortführte und die erleichterte Einbürgerung sowie den Übergang zur ius-soliStaatsangehörigkeit prospektierte. In eine ähnliche Richtung, aber in vielen Punkten etwas weiter, zielten die Vorschläge der Grünen in ihrem Entwurf für ein »Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung der ausländischen Wohnbevölkerung durch Einbürgerung und Geburt«, welches die Fraktion mit drei weiteren Gesetzentwürfen zum Aufenthaltsrecht, zum Niederlassungsrecht und zum Wahlrecht für Ausländerinnen und Ausländer am 3. Mai 1989 in den Bundestag einbrachte.131
Innerkoalitionäre und überparteiliche Konsenssuche Die Regierungsparteien bemühten sich parallel um eine gemeinsame Position. Sie beriefen im Februar 1989 eine Koalitionsrunde unter Beteiligung der Fraktionsexperten Johannes Gerster (CDU), Hermann Fellner (CSU) und Burkhard Hirsch (FDP) sowie des Staatssekretärs im Innenministerium Hans Neusel und des Staatssekretärs im Justizministerium Klaus Kinkel ein, die vom Kanzleramtsminister und späteren Innenminister Wolfgang Schäuble geleitet wurde (vgl. Barwig 1989: 125). Dahinter stand seitens der Regierung die Notwendigkeit, nach dem gescheiterten Alleingang von Innenminister Zimmermann endlich die lange angekündigte Reform des Ausländerrechts in Angriff zu nehmen und dazu eine kohärente Position der Regierungsfraktionen zu formulieren, die das Potenzial für Unterstützung auf breiterer Ebene bot. Das im April 1989 fertiggestellte Eckwertepapier der Koalitionsrunde war dem entsprechend weniger restriktiv als die bis dato vorliegenden Entwürfe des BMI, auch wenn sein Kompromisscharakter durch die Verbindung der zuvor lange konfli126
vgl. Jesse (2001: 773); Der Spiegel Nr. 16 vom 10. April 1989: 16-21; Nr. 19 vom 2. Mai 1989: 35-45. BT-Drsn. 11/2598 vom 29. Juni sowie 11/5637 vom 10. November 1989. 128 BT-Drs. 11/4268 vom 23. März 1989. 129 BR-Drs. 3/82 vom 4. Januar 1982. 130 BR-Drsn. 52/80 vom 29. Januar 1980, 339/86 vom 21. Juli 1986 und 207/88 vom 9. Mai 1988. 131 vgl. BT-Drs. 11/4464 vom 3. Mai 1989 sowie Entwürfe eines Gesetzes für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ausländerinnen und Ausländer, BT-Drs. 11/4463, eines Gesetzes für die Niederlassung von Ausländerinnen und Ausländern, BT-Drs. 11/4466 in Fortführung eines Entwurfs vom April 1984 sowie eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes, BT-Drs. 11/4462 vom 3. Mai 1989. 127
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gierenden Positionen der Unionspolitiker mit denen des liberalen Burkhard Hirsch in seinem Wortlaut bisweilen deutlich wurde.132 Verbunden mit dem Ziel, das Ausländerrecht mit einem Gesetz neu zu regeln, hatte man sich auf folgende, wesentliche Inhalte geeinigt: Die Einbürgerung von länger in der Bundesrepublik lebenden Ausländern sollte zwar an Voraussetzungen wie weitgehende Straffreiheit, Sicherung des eigenen Lebensunterhalts und mindestens sechsjähriger Ausbildungszeit bei jungen Ausländern gebunden, prinzipiell aber erleichtert werden. Ferner sollte auf Drängen der FDP für junge Ausländer mit einem Mindestaufenthalt von acht Jahren, sechsjähriger Schulbildung und eigener Unterhaltssicherung im Falle der Ausreise eine Wiederkehroption eingeführt werden. Das Recht auf Ehegattennachzug sollte – ebenfalls an den Vorbehalt der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts und an zahlreiche weitere Bedingungen gebunden – festgeschrieben und für nachgezogene Ehegatten nach vier Jahren des Aufenthalts ein eigenständiges Aufenthaltrecht geschaffen werden. Kindernachzug sollte weiter bis zum 16. Lebensjahr möglich sein, allerdings nur, wenn beide Elternteile in der Bundesrepublik lebten. Eine weitere entscheidende Änderung bestand in der geplanten Einführung eines Rechtsanspruchs auf eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt bei ausreichenden Sprachkenntnissen, Nachweis angemessenen Wohnraums und vorhandener Arbeitserlaubnis sowie der weiteren Statusverfestigung zur Aufenthaltsberechtigung.133 Das Eckwertepapier wurde nach seiner Vorstellung am 19. April von verschiedenen Akteuren der Ausländerpolitik grundsätzlich positiv aufgenommen, etwa von der stellvertretenden Parteivorsitzenden der SPD Herta Däubler-Gmelin und der Ausländerbeauftragten Liselotte Funcke (vgl. Barwig 1989: 125). Neben diesen Konsens-Signalen gab es sowohl auf Seiten der SPD als auch bei der CDU Befürworter der Idee einer Allparteienkoalition zur Reform des Ausländerrechts.134 Dem standen jedoch auch gewichtige negative Stimmen gegenüber. Der damalige bayerische Innenminister Edmund Stoiber hielt das Eckwertepapier der Koalition im Namen der CSU in »wesentlichen Punkten für nicht akzeptabel«.135 Der Vorschlag einer Allparteien-Konsensrunde wurde von Bundeskanzler Kohl abgelehnt, wegen angeblich mangelnder Sachlichkeit der SPD-Kritik an der Ausländerpolitik der Regierung.136 Somit blieben die Koalitionsrunde und das Eckwertepapier mit Blick auf den Entscheidungsprozess von beschränkter Reichweite. Insbesondere seitens des BMI wurde deutlich darauf verwiesen, dass der beteiligte Innenstaatssekretär Neusel kein Verhandlungsmandat gehabt und dem Papier nicht ausdrücklich zugestimmt habe.137 Der formulierte Kompromiss blieb unter dem Vorbehalt der Position des Bundeskanzlers.
132 »Ein Einbürgerungsanspruch ist zwar grundsätzlich abzulehnen, durch konkrete Tatbestandsmerkmale kann aber die Ermessensentscheidung bis auf Null reduziert werden.« (zit.n. FAZ vom 20. April 1989: 1) 133 vgl. FAZ vom 20. April 1989: 1, 2 sowie SZ vom 21. April 1989: 1, 4. 134 vgl. z.B. CDU-Generalsekretär Heiner Geißler, SZ vom 24. April 1989: 2 sowie FAZ vom 24. April 1989: 6; SPD-Vorsitzender Hans-Jochen Vogel, BT-Pl.Pr. 11/140 vom 27. April 1989: 10313D. 135 Brief von Edmund Stoiber an Bundesinnenminister Schäuble, in dem er auch zu den erzielten Kompromissen des Eckwertepapiers im Einzelnen kritisch Stellung nahm (zit.n. FAZ vom 22. April 1989: 2). 136 vgl. FAZ vom 22. April 1989: 2. 137 vgl. FAZ vom 22. April 1989: 2.
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2.2.4.4 Im Schatten der Wende: Die schnelle Reform des Ausländerrechts Die »Vorschaltung« eines koalitionsinternen Koordinations- und Konsensfindungsgremiums bedeutete jedoch für das Regierungshandeln den entscheidenden Rückhalt: Unter dem seit 21. April 1989 amtierenden Innenminister Wolfgang Schäuble erarbeitete das BMI auf der Grundlage der Koalitionseckwerte einen neuen Entwurf zum Ausländergesetz, der am 29. September 1989 im Referentenstadium der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.138 Durch frühzeitiges Einbeziehen des Koalitionspartners FDP sowie Konsultationen mit Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und dem UNHCR – deren Reaktionen auf den Entwurf zwar kritisch, aber relativ gemäßigt ausfielen139 – gelang es Schäuble, das Gesetz nach nur sehr kurzer Zeit zur Beratung ins Parlament zu bringen und den Fehler seines Amtsvorgängers zu vermeiden, sonstige politische und gesellschaftliche Akteure vor den Kopf zu stoßen (vgl. Kap. 2.2.4.2).140 SPD und Grüne hatten ebenfalls ihre Positionen in Form eigener Gesetzentwürfe vorgelegt, sodass dem federführenden Innenausschuss auf seiner 77. Sitzung zur öffentlichen Anhörung von 27 [sic!] Sachverständigen am 14. Februar 1990 insgesamt acht Gesetzentwürfe vorlagen, die in weiteren Sitzungen beraten wurden.141 Die Gesetzesvorbereitungen und das Gesetzgebungsverfahren hatten jedoch in Anbetracht der vollzogenen Öffnung der Mauer im November 1989 und der Umwälzungen in der DDR bei Weitem nicht die öffentliche und politische Aufmerksamkeit erhalten, die ihnen vermutlich sonst zu Teil geworden wäre (vgl. Herbert 2001: 281ff.). Ausarbeitung und parlamentarische Verabschiedung des zustimmungspflichtigen Gesetzes wurden von Schäuble zügig vorangetrieben, da die bevorstehende Landtagswahl in Niedersachsen am 13. Mai 1990 die Mehrheiten im Bundesrat zu Ungunsten der Bundesregierung zu ändern drohte. Obwohl sich die Opposition mit ihren Forderungen nicht durchsetzen konnte, erfuhr der Regierungsentwurf im Laufe der Beratungen im Innenausschuss des Bundestags einige Veränderungen zu Gunsten der ausländischen Bevölkerung, insbesondere im Bereich der Aufenthaltstitel und dem Kinder- und Familiennachzug (vgl. ZAR 3/1990: 106). Schließlich bedeutete das am 26. April 1990 vom Bundestag beschlossene, am 18. Mai 1990 vom Bundesrat bestätigte Ausländergesetz142 die erste Wegmarke in Richtung auf ein zeitgemäßeres Ausländerrecht seit dem ersten Gesetz von 1965. Als wichtige Neuerung wurde ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung nach bestimmten Wartefristen festgeschrieben. Ferner regelte das Gesetz erstmals bundeseinheitlich den Familiennachzug (vgl. Franz 1992: 159; Wollenschläger & Schraml 1991). Man verankerte fünf verschiedene Aufenthaltstitel, die 138
dokumentiert in ZAR 4/1989: 185f. vgl. ZAR 4/1989: 186f. Am 20. Oktober 1989 hatte im BMI eine eingehende Anhörung dieser gesellschaftlichen Gruppen stattgefunden (vgl. Schiffer 1990: 51). 140 Die Einbringung des Regierungsentwurfs erfolgte »besonders eilbedürftig gemäß Art. 76 Abs. 2 GG« über den Bundesrat (BR-Drs. 11/90 vom 5. Januar 1990), dessen Innenausschuss bereits einige Änderungsvorschläge hatte. Noch bevor der Bundesrat beschlossen hatte (BR-Drs. 11/90 [Beschluß] vom 15. Januar 1990, BR-Sten.Ber. 609 vom 16. Februar 1990: 26C-32B) fand bereits die erste Beratung im Bundestag statt (BT-Pl.Pr. 11/195 vom 9. Februar 1990: 15022C-15051C); zum Tempo des Gesetzgebungsverfahrens kritisch Franz (1990: 4). 141 vgl. Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 11/6960 vom 24. April 1989; Protokoll der 77. Sitzung des Innenausschusses vom 14. Februar 1990; als wichtigste zusätzliche Beratungsgegenstände: SPD-Entwurf eines Bundesausländergesetzes (BT-Drs. 11/5637 vom 10. November 1989) sowie die Entwürfe der Grünen für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ausländerinnen und Ausländer, für ein Einbürgerungsgesetz und für ein Niederlassungsgesetz (BT-Drsn. 11/4463, 11/4464 und 11/4466 vom 3. Mai 1989). 142 vgl. BT-Pl.Pr. 11/207 vom 26. April 1990: 16269C-16305B; BR-Drs. 290/90 (Beschluß) und BR-Sten.Ber. 612 vom 11. Mai 1990: 216D-243D; BGBl. I 1990: 1354ff. 139
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sich zum einen nach Aufenthaltszwecken, zum anderen nach der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet bestimmten (vgl. ebd.). Eine Hauptintention des Gesetzes war es daneben, die Ermessensspielräume der Ausländerbehörden, die in vielen Bereichen des alten AuslG 1965 verankert waren, zu Gunsten größerer »Erwartenssicherheit« der Ausländer bezüglich der behördlichen Entscheidungen zu verringern. Insgesamt konzedierten jedoch selbst Kritiker, das schließlich verabschiedete Gesetz markiere einen Perspektivenwechsel, da erstmals Eingewanderte und Einbürgerungswillige mit Rechtsansprüchen ausgestattet worden waren (vgl. Rittstieg 1990). Bemühungen um eine bessere Integration und die Angleichung der Lebensverhältnisse der Eingewanderten spielten indes eine untergeordnete Rolle. Aufsehen erregte in diesem Zusammenhang der Rücktritt von Liselotte Funcke als Beauftragte der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen am 15. Juli 1991, die noch unter der sozial-liberalen Bundesregierung berufen worden war (vgl. Kap. 2.2.3.3). Die Regierung unter Bundeskanzler Kohl hatten dieses Amt über weite Strecken nicht beachtet, obwohl auf Drängen der FDP für die Beauftragte die Mitberatung in Ressortbesprechungen, in Sitzungen von interministeriellen Ausschüssen und die Teilnahme an relevanten Kabinettsitzungen vorgesehen war. Zu Kabinettsitzungen wurde Funcke aber nie eingeladen und ihre mehrfachen Angebote, dem Bundeskanzler persönlich ihre Einschätzungen und Vorschläge darzulegen, wurden durchweg abgelehnt (vgl. Geiß 2001: 130). Die Rückgabe ihres Amts verband Funcke in einem Brief an Kohl mit der Forderung nach besserer Unterstützung seitens der Bundesregierung und einer stärkeren Einbeziehung sachverständiger Politikberatung: In den vergleichbaren Nachbarländern wurden Kommissionen, Regierungsstellen und Beratungsgremien berufen, die sich mit stärkeren Kompetenzen und besseren Einflußmöglichkeiten mit den international und national anstehenden Fragen der Integration und Migration befassen und durch die Einbeziehung von politischen und gesellschaftlichen Kräften mit größerer Autorität die Meinungsbildung in der Bevölkerung beeinflussen können. Im Vergleich dazu ist mein Amt völlig unzulänglich konzipiert. (zit.n. ZAR 3/1991: 106)
Die Beauftragte hatte kapituliert, die CDU-Regierungsspitze ohne größere Reibungsverluste erfolgreich ihre Hoheit über die Politikberatungsregime reklamiert.
2.2.5 »Gastarbeiter«- und Ausländerpolitik: Zusammenfassung Ausländerpolitik begann in der Bundesrepublik in Form von Anwerbepolitik. Diese fand fast ausschließlich unter den Auspizien der Regierung statt; das Lobbying von Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften stellte die interessenpolitische Einflussgröße dar. Vertreter des Arbeitsministeriums verhandelten die Konditionen, die Bundesanstalt für Arbeit organisierte die Infrastruktur und die Innenministerialbürokratie überwachte die aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei griff man ausschließlich auf ministerielle Rechtswege wie Verordnungen, Erlasse und Richtlinien zurück. Parlament und Öffentlichkeit als Diskursarenen blieben unberücksichtigt. »With perfect hindsight, we can say that the 1950s were remarkable for the lack of an open political debate of the issue.« (Katzenstein 1987: 215) Auch die Vorbereitung und Verabschiedung des ersten Ausländergesetzes 1965 konnte der Bundestag nicht nutzen, Profil bzw. Debatten- und Entscheidungskompetenz in ausländerpolitischen Fragen zu entwickeln. Die späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren
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unter dem Eindruck der Rezession und erster offenkundiger Integrationsprobleme143 von kurzatmiger und teilweise widersprüchlicher Politik geprägt. Trotz beginnender Koordinierungsbemühungen verblieb die Politikformulierung im exekutiv-administrativen Raum. Ausländerpolitik war in erster Linie Ressort- bzw. Inter-Ressortpolitik mit den durch das Ausländergesetz eröffneten, weiten Ermessensspielräumen der Behörden. Sie blieb relativ unstrittig, da ihre Maßnahmen grundsätzlich in den Augen aller Akteure vom Gedanken der Nützlichkeit der Ausländer im Arbeitsprozess bestimmt waren (vgl. Okyayuz 1989: 147). Zurecht sind daher die 1960er und 1970er Jahre im Hinblick auf das Policymaking als »halcyon days of consensus in Ausländerpolitik« tituliert worden (Green 2004: 136; Herv.i.Orig.) Der durch die Bundesregierung verhängte Anwerbestopp leitete einen Wandel hin zu breiterer Beteiligung und Beratung ein. Hier lagen die zentralen Kompetenzen der Wohlfahrtsverbände und zivilgesellschaftlichen Akteure. Waren durch die Beteiligung dieser Gruppen am Koordinierungskreis ab 1965 nur äußerst bescheidene Impulse auf die Politikformulierung spürbar, ist ihr Einfluss innerhalb der Bund-Länder-Kommission 1976/77 höher zu veranschlagen, auch wenn sie nicht unmittelbar gestaltend am Planungstisch der Bundespolitik saßen. Mit dem Beauftragten der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen schuf die Bundesregierung ein konsultativ-advokatorisches Amt, das im interministeriellen und föderal-kooperativen Entscheidungsgefüge seine schwache Ausgangsposition erst über Jahre (und mehrere Amtsinhaberinnen) graduell verbessern konnte. Der faktische Einfluss der Beauftragten auf die Politikformulierung blieb jedoch marginal. Während der Kanzlerschaft Helmut Kohls hatte das BMI unter den Innenministern Friedrich Zimmermann und Wolfgang Schäuble seine dominante Position in der Formulierung von Ausländerpolitik gegenüber anderen Ressorts reetabliert. Während sich in der Asylpolitik bisweilen deutliche Gräben zum liberal geführten Justizministerium auftaten, profilierte sich in der Ausländerpolitik das Arbeits- und Sozialministerium kaum gegenüber dem BMI. Die Friktionen zeigten sich daher besonders gegenüber der FDPAusländerbeauftragten Funcke sowie Teilen der FDP-Fraktion. Nicht zuletzt gewannen durch die koalitionsinternen Auseinandersetzungen die Innenpolitiker des Bundestages an Beratungsmacht. Erst eine verbesserte ressortübergreifende Koordination und die Einbindung gesellschaftlicher Gruppen im Sinne eines effizienten Gesetzgebungsmanagements unter Innenminister Schäuble verhalfen der lange geplanten Reform des Ausländergesetzes im Jahr 1990 schließlich zum Durchbruch. 2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt analog dem vorigen Abschnitt auf den Politikfindungsprozessen im Asyl- und Flüchtlingsbereich. Auch hier wird einer weitgehend chronologischen Darstellung gefolgt. Spätestens mit der Asyldebatte nach der Wiedervereinigung kann der Beginn eines übergeordneten (gleichsam Asyl- und Ausländerpolitik umfassenden), parteipolitisch vereinnahmten Migrationsdiskurses verortet werden.
143 Zu den sozialen Folgeproblemen der Ausländerbeschäftigung vgl. etwa Heckmann (1981: 183ff.), Herbert (2001: 232ff.), Esser (1980).
2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit
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2.3.1 Asylpolitik im Schatten der Exekutiven (1953-1973) In den Anfangsjahren der Bundesrepublik existierten keinerlei gesetzliche Bestimmungen zur Durchführung von Aufnahmeverfahren für Flüchtlinge aus Drittländern. Im Zuge der Integration der deutschen Vertriebenen, Flüchtlinge und Displaced Persons bis zum Anfang der 1950er Jahre spielte das Asylrecht für politische Verfolgte kaum eine Rolle. Für die Asylentscheidung war allein die dafür geschaffene Bundesdienststelle (später: Bundesamt) für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit einem institutionell festgelegten Verfahren und einem vorgezeichneten Recht sprechenden Instanzenweg zuständig. Unterhalb dieses »Entscheidungsmonopols« des Bundesamts (Kimminich 1983: 114) erfolgte die Aufnahme von Flüchtlingen und Asylsuchenden primär unter den Auspizien der Länder. Somit kam den Landesregierungen bzw. der seit 1954 bestehenden Ständigen Konferenz der Innenminister der Länder (IMK, s. Fn. 85) als Organ der föderalen Kooperation bei der Formulierung von Asyl- und Flüchtlingspolitik eine herausgehobene Stellung zu. Ab 1953 vollzog sich die Aufnahme von Flüchtlingen nach der Genfer Flüchtlingskonvention über die »Verordnung über die Anerkennung und die Verteilung von ausländischen Flüchtlingen« (AsylVO).144 Die Bundesregierung hatte es versäumt, in diese Verordnung auch ein Verfahren zum Asyl nach Art. 16 Abs. 2 II GG aufzunehmen. So wurden Flüchtlinge, die sich wegen politischer Verfolgung auf das Grundgesetz beriefen, aufenthaltsrechtlich nach der alten Ausländerpolizeiverordnung des Deutschen Reichs145 behandelt – ein symbolträchtiger Missstand, den der Gesetzgeber erst 20 Jahre nach Kriegsende im Zuge des Ausländergesetzes behob (vgl. Kap. 2.2.2.2). Bis dahin hatten sich bereits sehr unterschiedliche Anerkennungspraxen in den Bundesländern herausgebildet (vgl. Münch 1992: 50ff.). In den Verhandlungen des Bundestages während der ersten drei Wahlperioden spielte das Thema Asyl allenfalls eine marginale Rolle. Bei nur langsam steigenden Zahlen nichtdeutscher Flüchtlinge in den 1960er Jahren wurden Fragen des Asylrechts kaum in die parteipolitische Diskussion getragen. Zudem war die Asylanerkennungsquote sehr gering. Auch bei den kurzen Bundestagsberatungen zum Ausländergesetz zwischen 1963 und 1965 (vgl. Kap. 2.2.2.2), in dem erst auf Anregung des Innenausschusses auch das Asylverfahren nach Artikel 16 GG dahingehend geregelt wurde, dass Asylsuchende mit Flüchtlingen im Sinne der Genfer Konvention gleich gestellt waren, thematisierte man die Neuregelungen zum Asylrecht nicht öffentlichkeitswirksam. Die Begründungszusammenhänge wurden im Anhang zu Protokoll gegeben bzw. waren lediglich aus der einschlägigen Bundestagsdrucksache ersichtlich.146 Nach wiederholter Kritik des Bundestages an der Abschiebepraxis einiger Länder verliefen auch die politischen Debatten um die so genannten »Wirtschaftsflüchtlinge« im Jahre 1966 weitgehend konsensual. Nach dem einmütigem Drängen aller Fraktionen des Bundestages gegenüber dem BMI und mehrmaliger Behand-
144 vgl. BGBl. I 1953: 3ff. Der Begriff »Genfer Konvention« oder »Genfer Flüchtlingskonvention« nimmt hier und im Folgenden jeweils Bezug auf das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953: 560ff.) und das Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 (BGBl. II 1969: 1294ff.). 145 APVO vom 22. August 1938, Reichsgesetzblatt I: 1053ff. 146 vgl. BT-Pl.-Pr. 4/163 vom 12. Februar 1965: 8034B-8036A, 8059A-8060B bzw. Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 4/3013 (s. Fn. 81): 2, 6ff.
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
lung in der IMK wurde ihnen Abschiebeschutz mit anschließender Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis zugebilligt (vgl. Dittberner 1986: 168).147
2.3.2 Ineffektiver Konsens: Scheitern von Steuerung und Verfahrensbeschleunigung (1974-1979) Nachdem die Asylantragszahlen noch bis 1973 jeweils unter 10.000 pro Jahr gelegen hatten, lassen sich für die Folgejahre ein deutlicherer Anstieg sowie eine Diversifikation der Herkunftsländer beobachten. Der im November 1973 verfügte Anwerbestopp für ausländische Arbeitnehmer ließ das Asylverfahren plötzlich auch für potenzielle Arbeitsmigranten attraktiv werden, da Asylsuchende zu dieser Zeit noch nicht vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen waren. Die steigenden Antragszahlen führten zu einer wachsenden Belastung von Ländern und Kommunen, die als materiell zuständige Gebietskörperschaften für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen und Asylbewerbern aufkommen. Daneben stieg die durchschnittliche Verfahrensdauer, wodurch schnell die Kapazitäten der bei Klagen zuständigen Gerichtsbarkeiten erreicht wurden. Bald griff die Vermutung Raum, Asylanträge würden verstärkt aus rein ökonomischen Gründen mit dem Ziel eines möglichst langen Aufenthalts in der Bundesrepublik gestellt, das Asylrecht von »Scheinasylanten« »missbraucht«.148 Die Bundesregierung unternahm Mitte der 70er Jahre – oftmals in Kooperation mit den Landesregierungen – eine Reihe von meist erfolglosen administrativen Steuerungsversuchen im Rahmen der geltenden Vorschriften, um der Schwierigkeiten Herr zu werden. Diese Maßnahmen erscheinen in der Analyse als »typisches Symptom der bundesdeutschen Asylgewährungspraxis, welches in dem Wechselspiel zwischen den einzelnen Eingriffen der Exekutive besteht: Mit einer kurzfristig getroffenen Maßnahme zur Entlastung eines Verfahrensbereiches machte man schließlich andere Maßnahmen notwendig, um die negativen Auswirkungen der vorherigen abzuschwächen.« (Münch 1992: 64; i.E. vgl. ebd.: 65f.).
Verfahrensbeschleunigung qua Bundesgesetzgebung? Unter dem Eindruck steigender Asylantragszahlen (vgl. Abb. 4) und des damit verbundenen Unterbringungsbedarfs sowie der verfahrenstechnischen Überlastung der einzig zuständigen Gerichtsbarkeiten in Ansbach (VG) bzw. München (VGH) erhöhten Länder und Kommunen den Druck auf die Bundespolitik, tätig zu werden.
147 vgl. die Anfragen einzelner Abgeordneter in der fünften Legislaturperiode (Sachregister zu den Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 5. WP 1965: 69ff.) sowie die parteiübergreifende Forderung nach einem Abschiebeschutz durch die Bundesregierung (BT-Pl.Pr. 5/16: 611C-616B). Der inoffizielle Begriff »Wirtschaftsflüchtling« war bereits damals hoch umstritten und beschränkte sich meist auf Flüchtlinge aus den Staaten des Warschauer Pakts, bei denen Asylgründe nicht feststellbar waren, deren Abschiebung man sich aus ideologischen Gründen aber nicht leisten wollte. Seitens des Staatssekretärs im BMI Dr. Hans Schäfer wurde er zurückgewiesen (vgl. ebd.: 614D/615A). 148 zur Verwendung von Ausdrücken wie Missbrauch des Asylrechts und zu deren Verortung zwischen Politik, Rechtswissenschaft und öffentlichem Diskurs vgl. Bröker & Rautenberg (1986: 153ff.); Kimminich (1983: 149ff.); Münch (1992: 72ff., 150ff.); Otto Benecke Stiftung (1983: 32ff., 80ff.); Wolken (1988: 205-219).
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450.000 400.000 350.000 300.000 250.000 200.000 150.000 100.000 50.000
19
72 19 74 19 76 19 78 19 80 19 82 19 84 19 86 19 88 19 90 19 92 19 94 19 96 19 98 20 00 20 02 20 04 20 06 20 08
0
Abbildung 4:
Asylanträge 1971-2004 (Quelle: BAMF)
Neben der besseren Lastenverteilung auf die Behörden der Länder und Kommunen lag der zentrale Schwerpunkt der in den Jahren 1977/1978 stattfindenden öffentlichen Debatte in der Beschleunigung der Asylverfahren. Die Kritik an der (ausbleibenden) Regierungspolitik wurde maßgeblich von der CDU/CSU im Bund betrieben, die im Frühjahr 1978 einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung des Asylverfahrens vorlegte. Dieser wurde zusammen mit einem kurzfristig erstellten Gegenentwurf der Regierungskoalition zwischen dem 1. und dem 23. Juni 1978 in nur drei Wochen – gewissermaßen im beschleunigten Verfahren – in Plenum und Ausschüssen des Bundestags beraten, vom Bundesrat bestätigt und noch vor Beginn der parlamentarischen Sommerpause 1978 umgesetzt.149 Als Begründungsfiguren für ein Beschleunigungsgesetz dienten zwei recht unterschiedliche Grundideen und ihre Nuancen: Einerseits wurde argumentiert, eine Verfahrensdauer von acht bis neun Jahren bedeute für einen Asylbewerber eine unzumutbare Phase der Unsicherheit und gleiche einer Rechtsverweigerung für diejenigen, die schließlich Asyl erhalten. Mit Blick auf die relativ hohe Zahl an Asylsuchenden, deren Asylantrag im Endeffekt abgewiesen wird, die aber für die Dauer des Verfahrens mit staatlichen Mitteln versorgt würden, wurde andererseits von unverantwortlichen Kosten für die Steuerzahler gesprochen. In den Debattenbeiträgen aller Fraktionen sowie des BMI-Vertreters trat jedoch bereits deutlich die Rhetorik des »Asylmissbrauchs« durch »Wirtschaftsflüchtlinge« zu Tage.150 149 vgl. BT-Drs. 8/1719 vom 19. April 1978; BT-Drs. 8/1836 vom 30. Mai 1978; BT-Pl.Pr. 8/101 vom 23. Juni 1978: 8030ff.; BGBl. I 1978: 1108 ff. 150 vgl. etwa MdB Carl-Dieter Spranger (CDU/CSU; BT-Pl.Pr. 8/93 vom 1. Juni 1978: 7370C); MdB Reinhard Bühling (SPD; ebd: 7372D); MdB Thomas Wolfgramm (FDP; ebd.: 7373C); MdB Wolfgang Bötsch (CDU/CSU; BT-Pl.Pr. 8/101 vom 23. Juni 1978: 8029C); PStS. Andreas von Schoeler (ebd.: 8034D).
144
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
Das Gesetzgebungsverfahren war von einem weitgehenden Grundkonsens und dem Willen zu einer schnellen Einigung geprägt.151 Die zwei Ausschussberatungen zwischen erster und zweiter Lesung umfassten die Anhörung der für die Asylverfahren zuständigen Gerichtspräsidenten des VG Ansbach bzw. des OVG München. Sie führten zu einem einstimmig beschlossenen Ergebnis:152 Das Widerspruchsverfahren gegen eine ablehnende Entscheidung innerhalb des Bundesamts wurde abgeschafft, daneben der Zugang zur Berufungsinstanz erschwert und die gerichtliche Zuständigkeit bei Asylklagen auch auf Gerichte jenseits geografischer Zuständigkeit ausgeweitet. Gegen die Stimmen der CSU-Abgeordneten (aber mit den meisten der CDU) verabschiedeten die Fraktionen außerdem einen Entschließungsantrag, der u.a. Maßnahmen zur besonderen Information der Richter in Asylsachen sowie den Ausbau der Dokumentationen über die Herkunftsländer beim BAFl umfasste.153 Der Antrag bildete einen gewissen, wenngleich unverbindlichen Gegenpol zu den restriktiven Maßnahmen des Beschleunigungsgesetzes. Eingeflossen waren die Eingaben von amnesty international, des UNHCR, kirchlicher Einrichtungen sowie Gespräche mit »engagierten und sachkundigen Persönlichkeiten dieser Kreise«.154 Der Gesetzgebungsprozess zur Beschleunigung des Asylverfahrens markiert damit den ersten, umfassenden Diskurs zum Thema Asyl im parlamentarischen Raum der Bundesrepublik. Er führte – unter der Maßgabe eines weithin verspürten Handlungsdrucks – zu einem Konsensergebnis und umfasste eine relativ kurze Beratung der Politikinhalte. Unter den gegebenen Effizienzgesichtspunkten konsultierte man insbesondere den am Asylverfahren beteiligten Teil der Judikative. Der Einfluss von Interessenverbänden und Flüchtlingsorganisationen ist allenfalls an der Verabschiedung des »kompensatorischen« Entschließungsantrags festzumachen. Dessen Maßnahmen hatten jedoch auf die Alltagspraxis des Asylverfahrens nur mittelbare Auswirkungen und können daher als rhetorisches Zuckerbrot an die Flüchtlingslobby gewertet werden, die massive Verschlechterungen im Recht für Asylsuchende hinzunehmen hatte.
Weiterer Reformdruck Die zentralen Intentionen zur Beschleunigung der Verfahren wurden mit der Novelle indes verfehlt; der Verfahrensstau ließ sich mit den Beschleunigungsmaßnahmen nicht abbauen (vgl. i.E. Münch 1992: 74f.). Diese Einsicht reifte etwa Anfang 1980 beim damaligen Innenministers Gerhart Baum (FDP): das Problem der Asylverfahren könne nur durch eine Einschränkung des grundgesetzlich verbrieften Asylrechts reduziert werden [sic!].155 Einen im parlamentarischen Diskurs zu keiner Zeit ernsthaft aufgegriffenen Vorschlag stellte eine Regelung zur Amnestierung von geduldeten Asylsuchenden dar, die einigen Abgeordneten in Anbetracht des Verfahrensstaus 1981 vorschwebte.156 Doch auch restriktive Empfehlungen, die 1979 durch ein von der IMK beauftragtes ad-hoc-Gremium aus Beamten der In-
151
vgl. MdB Reinhard Bühling (BT-Pl.Pr. 8/93 vom 1. Juni 1978: 7371D). vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 8/1936 vom 16. Juni 1978. 153 vgl. BT-Drs. 8/1945 vom 21. Juni 1978. 154 vgl. MdB Reinhard Bühling (SPD), BT-Pl.Pr. 8/101 vom 23. Juni 1978: 8032C. 155 vgl. BT-Pl.Pr. 8/205 vom 6. März 1980: 16472B 156 MdB Rudolf Schöfberger (SPD), BT-Pl.Pr. 9/31 vom 9. April 1981: 1606 C/D. 152
2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit
145
nenministerien erarbeitet wurden, wies die Bundesregierung als verfassungsrechtlich bedenklich zurück.157
2.3.3 Kompromisspolitik zwischen Bund und Ländern (1980-1991) 2.3.3.1 Ad hoc-Maßnahmen der Regierung und Konsenssuche durch föderale Kooperation Zwischen 1979 und 1980 verdoppelte sich die Zahl der Asylbewerber abermals (vgl. Abb. 4). Nicht nur die Unionsparteien drängten auf weitere Gesetzesänderungen. Insbesondere auf der unteren kommunalen Ebene formierte sich aufgrund der finanziellen Belastungen durch die Asylverfahren eine Allparteienallianz (vgl. Münch 1992: 79). Im Bund wurde die Asylpolitik in Anbetracht der bevor stehenden Bundestagswahlen im Herbst 1980 zu einem immer brisanteren und von der Union zu Wahlkampfzwecken funktionalisierten Thema. Die Regierungskoalition von SPD und FDP geriet unter starken Zugzwang. Nachdem einige Länder Sondervorschriften in Form eigener Aufnahmegesetze erlassen und CDU/CSU im Bund bereits Mitte November 1979 einen weiteren Gesetzentwurf zur Beschleunigung des Asylverfahrens vorgelegt hatten,158 breitete sich im Frühsommer 1980 in der Regierungskoalition eine »panikartige Stimmung« aus (Kimminich 1983: 124). Ende Mai 1980 kündigte Innenminister Baum ein Sofortprogramm der Bundesregierung an (vgl. Meier-Braun 1981: 73f.) Schließlich brachte die sozial-liberale Koalition Mitte Juni des gleichen Jahres – um das »Odium der Tatenlosigkeit vergessen« zu machen (Münch 1992: 81) – im Eilverfahren einen eigenen Entwurf für ein zweites Beschleunigungsgesetz in den Bundestag ein, der zu einer weiteren ausführlichen Bundestagsdebatte über das Asylverfahren führte.159
Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Asylrecht« Bereits am 29. Februar 1980 hatte sich die Bundesregierung zusammen mit den Ministerpräsidenten der Länder auf die Einrichtung einer Kommission verständigt, die bis zum 15. Juni 1980 »vernünftige Überlegungen und Ergebnisse« vortragen sollte, damit man »wohlüberlegte Beschlüsse fassen« könne – so zumindest die Erwartungen der berichtserstattenden Abgeordneten.160 Die Geschäftsführung der Arbeitsgruppe oblag dem BMI. Neben den Ländern waren auch Bundesressorts beteiligt; separat beschäftigen sich auch die IMK und die Ministerpräsidentenkonferenz mit dem »Asylproblem«. Die Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Asylrecht« stand ganz im Zeichen der akuten Kapazitäts- und Finanzierungsprobleme der Länder bei der Unterbringung der Asylbewerber. Das liberal geführte Bundesinnenministerium unter Gerhart Baum suchte dagegen die Rechtstaatlichkeit der Verfahren zu wahren. Die Arbeitsgruppe brachte lediglich 157
vgl. BT-Drs. 8/2946 vom 6. Juni 1979: 10f. vgl. BT-Drs. 8/3402 vom 16. November 1979. 159 vgl. BT-Drs. 8/4227 vom 18. Juni 1980 sowie BT-Pl.Pr. 8/228 vom 2. Juli 1980. 160 vgl. MdB Carl-Dieter Spranger (CDU/CSU), BT-Pl.Pr. 8/205 vom 6. März 1980: 16473C; MdB Herta DäublerGmelin (SPD), ebd. 158
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wenige mit Mehrheit vorgeschlagene befristete Sofortmaßnahmen vor. Das Gros der in drei Unterarbeitskreisen des Gremiums behandelten Fragen zum Asylrecht blieb ohne konsensualen Handlungsvorschlag. Ihren Bericht legte die Arbeitsgruppe am 15. Juni 1980 vor (vgl. Meier-Braun 1981: 63ff.). Im Zuge eines Spitzentreffens der Regierungschefs von Bund und Ländern zur Billigung der Ergebnisse am 27. Juni kristallisierte sich heraus, dass das gesamte Asylrecht umfassend zu novellieren sein würde (vgl. Kimminich 1983: 126). Diese grundlegende Reform verschob die Bundesregierung auf die nächste Wahlperiode und deklarierte die Umsetzung der AG-Vorschläge sowie das laufende Gesetzgebungsverfahren als Sofortmaßnahme.
Aktionismus des Gesetzgebers Während das erste Beschleunigungsgesetz noch einstimmig im Bundestag angenommen worden war, stand die Beratung des »Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens« bereits stark im Zeichen des Parteienstreits über geeignete Maßnahmen zur Verhinderung des »Asylmissbrauchs«. Die Positionen von SPD/FDP auf der einen und CDU/CSU auf der anderen Seite erwiesen sich als unvereinbar, insbesondere weil die von der Union geforderten Maßnahmen (u.a. komplette Streichung der Berufungsmöglichkeit gegen ablehnende Asylbescheide) auf rechtstaatliche Bedenken bei der Koalition trafen. In zwei Sitzungen des Innenausschuss wurden die Entwürfe beraten.161 Die sozial-liberale Mehrheit im Bundestag verabschiedete das auf drei Jahre begrenzte Gesetz am 2. Juli 1980 nach einer polemischen Debatte162 und vertagte eine gründliche Reform auf unbestimmte Zeit. Nach Zustimmung durch den Bundesrat wurde das Gesetz bereits am 22. August 1980 verkündet.163
Resultate Mit der Novelle wurden beim BAFl das Einzelentscheiderverfahren sowie die Pflicht zur Verbundklage eingeführt. Letztere sollte verhindern, dass abgelehnte Asylbewerber durch den asylrechtlichen und aufenthaltsrechtlichen Klageweg ihren Aufenthalt verlängerten. Als »flankierende« administrative Maßnahmen zur Verhinderung missbräuchlicher Antragstellung hatte die Bundesregierung u.a. eine Visapflicht für einige der Hauptherkunftsländer sowie ein Arbeitsverbot für die ersten zwölf Monate des Asylverfahrens verordnet, wobei den Behörden freigestellt war, den größten Teil der Sozialhilfe nur noch als Sachleistung zu gewähren. Im Jahr 1982 wurde diese Sperrfrist sogar auf zwei Jahre verlängert (vgl. Dittberner 1986: 169). Doch auch die im zweiten Beschleunigungsgesetz verfügten Maßnahmen blieben »entweder weitgehend wirkungslos, da die Bestimmungen in der Praxis sowieso nicht anwendbar waren, oder sie behinderten das Verfahren zusätzlich, da sie dem gewünschten Beschleunigungseffekt […] entgegenliefen.« (Münch 1992: 87).
161 162 163
vgl. BT-Drs. 8/4353 vom 1. Juli 1980: 2. vgl. i.E. BT-Pl.Pr. 8/228 vom 2. Juli 1980: 18524B-18556B. vgl. BGBl. I 1980: 1437ff.
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147
2.3.3.2 Vehikel der Asylverfahrensreform: Kommission »Asylwesen« Zur umfassenden Beratung des Asylverfahrensrechts und zur Erarbeitung von Empfehlungen für eine nachhaltige Reform sollte die föderale Arbeitskommission auch nach der Bundestagswahl 1980 als Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Asylwesen« weiterbestehen. Den formalen Einsetzungsbeschluss fasste die IMK am 4. September 1980. Am 14. November 1980 trat die Arbeitsgruppe zum ersten Mal zusammen (vgl. Kimminich 1983: 126). Allerdings waren weder Wissenschaftler noch gesellschaftliche Gruppen beteiligt. Im Grunde bedeutete sie nichts anderes als ein innerstaatliches Koordinationsgremium. Einerseits handelte es sich durch die Beteiligung verschiedener Bundesressorts um eine interministerielle Beratungsform. Andererseits lässt sich in der Bund-Länder-AG eine Art Verbundkonsultation des deutschen Föderalismus erkennen, die personell und logistisch eng verknüpft war mit etablierten Formen der föderalen Kooperation in der IMK bzw. der Ministerpräsidentenkonferenz. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe arbeitete in vier Arbeitskreisen, die über einen Lenkungsausschuss koordiniert wurden. Dem Lenkungsausschuss gehörten der AGVorsitzende, die vier Vorsitzenden der Arbeitskreise sowie ein Ministerialdirigent aus dem Innenministerium von Nordrhein-Westfalen an.164 Die Arbeitsgruppe gelangte in ihrem Bericht zu zehn einvernehmlichen, aber z.T. vagen Handlungsvorschlägen, an deren Spitze erwartungsgemäß die Empfehlung stand, die Bundesregierung solle einen Gesetzentwurf für eine auf Dauer angelegte Neuregelung des Asylrechts vorlegen (S. 3). Bei der Frage der Unterbringung von Asylbewerbern und den Verfahren und Aufnahmewegen für sonstige Flüchtlinge und Kontingentflüchtlinge zeigten sich Meinungsverschiedenheiten zwischen Bund und Ländern, aber auch zwischen einzelnen Bundesländern. Hier gab der Bericht die jeweils unterschiedlichen Positionen wieder. Insofern hatte die Kommission keinen katharsischen Effekt, sondern dokumentierte die Konsens- bzw. Dissenspunkte der Exekutiven und gab die Aufgabe der Problemlösung gewissermaßen in den parlamentarischen Raum zurück.
2.3.3.3 Willensbildung durch arkane Verhandlung: Das Asylrecht im Vermittlungsausschuss Während der Beratungen der Arbeitsgruppe »Asylwesen« hatten auch einzelne Länder ihre Reformvorstellungen vorangetrieben. Sie legten am 10. März 1981 erneut einen Gesetzentwurf »zur Änderung des Zweiten Gesetzes zur Beschleunigung des Asylverfahrens« vor, unter Zustimmung der meisten SPD-dominierten Landesregierungen. Er beruhte auf einem Kompromiss, bei dem mehrheitlich von CDU/CSU regierte Länder ebenso wie Länder mit SPD/FDP-Regierungen auf einige von ihnen favorisierte Maßnahmen verzichtet hatten.165 In der verstärkten öffentlichen Diskussion äußerten vor allem die Richterschaft, Teile der Koalitionsfraktionen und die Kirchen rechtstaatliche Bedenken, die kommunalen Verbände drängten dagegen auf Umsetzung (vgl. Baumüller u.a. 1983: 6; Kimminich 1983: 128).
164 vgl. BT-Pl.Pr. 9/31 vom 9. April 1981: 1609A sowie Bericht der Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Asylwesen« vom 12. Juni 1981, Bonn; folgende Zitate ebd. 165 vgl. BT-Drs. 9/221 vom 10. März 1981 sowie Beauftragte des Bundesrats Justizsenatorin Eva Leithäuser, BTPl.Pr. 9/31 vom 9. April 1981: 1602C.
148
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
Die Bundesregierung hielt sich während der Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgruppe mit eigenen Vorschlägen zurück. Erst im Anschluss an den Kommissionsbericht brachten die Koalitionsfraktionen einen Gesetzentwurf ein, der auf die Herausverlagerung der Vorschriften zum Asylverfahren aus dem Ausländergesetz und die Klärung in einem eigenständigen Asylverfahrensgesetz zielte (vgl. Hailbronner 1981: 101) und zu dessen Vorbereitung die Fraktionen von SPD und FDP ein Praxis-Hearing mit Mitarbeitern des BAFl veranstaltet hatten.166 Im federführenden Rechtsausschuss fand nach der ersten Lesung im Bundestag ebenfalls eine Sachverständigenanhörung statt, bei der sich fünf Richter aus den drei Instanzen der Verwaltungsgerichtsbarkeit sowie Vertreter von amnesty international, UNHCR, Diakonie, Caritas, Arbeiterwohlfahrt und der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände äußerten. Das Hearing wurde als essenzieller Beitrag zur Beschlussempfehlung des Rechtsauschusses gewertet, in dem »einige – auch in den Reihen der Koalition – eine ganze Reihe ihrer Vorstellungen […] nicht länger aufrechterhalten konnten«.167 Der in insgesamt zehn Sitzungen des Rechtsausschusses diskutierte und durch einige Änderungsvorschläge des mitberatenden Innenausschusses überarbeitete Entwurf wurde Anfang Mai 1982 dem Bundestag mit der Mehrheit der Stimmen des Rechtsausschusses zur Annahme empfohlen, dort am 14. Mai 1982 in fast vierstündiger Debatte abschließend beraten und gegen die Stimmen der CDU/CSU-Opposition beschlossen.168
Verhandeln und Tauschen Die entscheidenden Beratungen fanden unmittelbar darauf hinter den verschlossenen Türen des Vermittlungsausschusses statt. Ein erstes, fünfstündiges Treffen am 8. Juni 1982 blieb ohne Erfolg. Die Verhandlungspositionen waren in den meisten Einzelfragen stärker von distributiv-finanziellen Aspekten des Bund-Länder-Verhältnisses denn von parteipolitischen Frontstellungen geprägt und lagen zunächst weit auseinander; bei einigen Punkten wurden jedoch bereits Andeutungen im Hinblick auf mögliche »Abtauschlösungen« gemacht, die überwiegend durch die willkürlichen Präferenzen der verhandelnden Minister geprägt waren.169 Erst unter dem Handlungsdruck der nahenden Parlamentssommerpause erzielten die Unterhändler in einer zweiten, über fast acht Stunden andauernden Nachtsitzung am 23. Juni 1982 nach zunächst mehreren erfolglosen Probeabstimmungen eine klassische Kompromisslösung. Zeitweise drohte das gesamte Verfahren zu scheitern.170 Der Gesamtkompromiss umfasste folgende zentrale Inhalte: Die Länder setzten sich mit einer auf zwei Jahre befristeten Einführung einer Verwaltungsentscheidung bei »offensichtlich unbegründeten« Anträgen durch, auf der anderen Seite blieb das Entscheidungs166 vgl. BT-Drs. 9/875 vom 7. Oktober 1991; MdB Hans Arnold Engelhard, BT-Pl.Pr. 9/59 vom 22. Oktober 1981: 3407D. 167 MdB Hans Arnold Engelhard, BT-Pl.Pr. 9/101 vom 14. Mai 1982: 6098B. 168 vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drs. 9/1630 vom 6. Mai 1982: 13; BT-Pl.Pr. 9/101 vom 14. Mai 1982: 6108D/6109A. 169 vgl. Protokoll der 9. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 8. Juni 1982: 46ff.; insb. die Redebeiträge hinsichtlich eines trade-off zwischen zwei Änderungsbegehren zur Verfahrensbeschleunigung von MdB Alfred Emmerlich (SPD), Ministerpräsident Lothar Späth sowie vom Hamburger Senator Günter Apel, ebd.: 47ff. 170 vgl. Protokoll der 9. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 23. Juni 1982: 112-269. Senator Norbert Blüm malte zwischenzeitlich schwarz: »[…] ich sehe es kommen – es ist jetzt 12 Uhr nachts; ich meine, wir sehen möglicherweise die Konsequenzen nicht ganz –, daß in diesem Punkt alle unsere Anstrengungen umsonst waren. Alles, was wir in diesem Vermittlungsverfahren gemacht haben, scheitert jetzt Viertel nach zwölf« (ebd.: 265f.).
2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit
149
monopol des BAFl unberührt, wobei dessen Organisationsstruktur dezentralisiert werden sollte; der Zulassungsvorbehalt gegen negative Verwaltungsentscheide wurde eingeführt, jedoch blieb grundsätzlich die Möglichkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde erhalten; das Einzelrichterverfahren wurde vorgesehen, blieb aber fakultativ und wurde an eine Reform der Verwaltungsprozessordnung gekoppelt. Daneben wurde ein neuer Schlüssel für die Verteilung neuer Asylsuchender und die Einführung von Sammelunterkünften für Asylbewerber vereinbart. Die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschuss wurde im Bundestag nahezu einstimmig und im Bundesrat mit der Mehrheit der Stimmen angenommen, woraufhin das Gesetz bereits am 1. August 1982 in Kraft treten konnte.171 Das Ringen hinter verschlossenen Türen beim Asylverfahrensgesetz verdeutlicht nicht nur trefflich den typischen Gang eines hochkontroversen Verfahrens im Vermittlungsausschuss. Es kann mit Blick auf den Entscheidungsfindungsprozess im Falle unterschiedlicher parteipolitischer Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat auch als Anschauungsobjekt für das Verfahren beim Zuwanderungsgesetz 2003/2004 (vgl. Kap. 3.4.2.2) herangezogen werden: Einschneidende Veränderungen im Asylverfahrensrecht (denn wie beim Zuwanderungsgesetz handelte es sich nicht lediglich um strittige Detailfragen, sondern um Gesetzesinhalte von elementarer Bedeutung) oblagen den Deliberationen, dem individuellen Verhandlungsgeschick und der Kompromissbereitschaft von 22 stimmberechtigten Ausschussmitgliedern – und den hinter ihnen stehenden Partei- und Fraktionsapparaten.
2.3.3.4 Kommissionen weisen den Weg: Von der Dethematisierung der Asylpolitik zur Demontage des Grundrechts Fast die gesamte politische Debatte um die Beschleunigung der Verfahren seit 1979 hatte die Asylpolitik als quasi losgelöst von sonstiger Migrationspolitik, insbesondere dem Ausländer- und Aufenthaltsrecht betrachtet. Die Gründe für gestiegene Asylantragszahlen und den Verfahrensstau suchte die Politik dabei unter Missachtung offensichtlicher Schnittmengen mit der unvermindert restriktiven Ausländerbeschäftigungspolitik stets im Asylrecht selbst. Dabei war es letztlich bereits zu diesem Zeitpunkt »das Fehlen einer Einwanderungsregelung, […] die das Asylrecht zum Ventil eines Einwanderungsdrucks verfremdet« hatte (Franz 1982: 209; Herv.i.Orig.). Die Zeit nach dem Regierungswechsel 1982 war zunächst von einer politischen Dethematisierung bzw. Negativaufmerksamkeit geprägt. Die materielle Politik blieb grundsätzlich von den gleichen, über Parteigrenzen hinweg vertretenen Prämissen geleitet: unter Beibehaltung des grundgesetzlich garantierten Rechts auf Asyl die Zahl der anfallenden Asylanträge möglichst gering zu halten. Die »asylpolitische Allparteien-Koalition« (Nuscheler 1995: 130) der 1980er Jahre, von der sich nur die Grünen in eindeutiger Opposition abgrenzten, resultierte in einer Reihe kleinerer, meist restriktiver Gesetzesänderungen bzw. Verlängerungen vormals befristeter Vorschriften bei der Arbeitserlaubnis bzw. beim Klagerecht (vgl. Münch 1992: 100-109; Wolken 1988: 80-96). Die Novellierungen des Asylverfahrensrechts standen dabei nicht mehr ausschließlich unter der Maxime der Verhinderung von »Missbrauch«, sondern zielten auf allgemeine Zuwanderungsbeschränkungen, gerade
171 vgl. BT-Drs. 9/1792 vom 25. Juni 1982; BT-Pl.Pr. 9/109 vom 25. Juni 1982: 6676; BR-Sten.Ber. 513 vom 2. Juli 1982: 232; BGBl. I 1982: 946ff.
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als die zwischenzeitlich gesunkenen Zuzugszahlen gegen Ende der Dekade wieder anzusteigen begannen.
Interministerielle Arbeitsgruppe »Auslieferung/Asyl« Als Folge der Diskussionen um die skandalöse Asylpraxis in der Bundesrepublik172 erwartete die Bundesregierung von einer neuen Asyl-Kommission »wesentliche Beratungshilfe«: Justizminister Hans Engelhard hatte eine interministerielle Arbeitsgruppe »in Abstimmung mit dem Bundesminister des Auswärtigen und dem Bundesminister des Innern unter dem Vorsitz des Bundesministers der Justiz gebildet«, um »alle hier inmitten stehenden Fragen zusammenzutragen, alle rechtlichen Lösungen zu untersuchen.«173 Der Verhandlungsbedarf zwischen Bund und Ländern war hingegen in asylpolitischen Sachfragen weniger akut, da die Regierungskoalition seit der Wende in Bonn 1982 auf die Stimmenmehrheit der CDU/CSU-geführten Landesregierungen bauen konnte. Daher diente die Arbeitsgruppe primär der Koordination und versprach Zeitgewinn in innerkoalitionär strittigen Fragen. Trotz eines umfassenden, im März 1984 vorgelegten Berichts erschöpfte sich die Arbeit der Interministeriellen Arbeitsgruppe »Auslieferung/Asyl« in einer eher »rituellen Funktion«: Das Papier bezeichnete »die herrschende Praxis als zur Problembewältigung weitgehend ausreichend«; die Kommission fand faktisch keinen Nachhall (Wolken 1988: 66f.). Die Politikformulierung habitualisierte sich zwischen den asylpolitisch »aktiven« Ländern Berlin, Baden-Württemberg und Bayern, der Bundesregierung und der Innenministerkonferenz. Der im Sommer dem Bundestag auf Antrag Berlins vorgelegte Entwurf eines »Zweiten Gesetzes zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes«174 spaltete allerdings die Regierung: Das Arbeitsverbot für Asylsuchende sollte auf die Dauer des gesamten Verfahrens verlängert, nach jeweils zwei Jahren die Asylberechtigung einer »Nachkontrolle« unterzogen werden, politische Verfolgung sollte zwingend binnen einer Zweiwochenfrist nach Einreise geltend gemacht und Kriterien für die »offensichtliche Unbegründetheit« von Anträgen festgelegt werden. Neben deutlicher Kritik von Verbänden, Kirchen und gesellschaftlichen Gruppen lehnte auch die FDP den Entwurf zunächst ab (vgl. Münch 1992: 103f.; Wolken 1988: 70ff.).
Interministerielle Kommission »Asyl« Erneut wurden die zentralen Sachdiskussionen zur Asylpolitik in ein Gremium der Bundesressorts verlagert. Die Bundesregierung berief eine Interministerielle Kommission unter Beteiligung des Kanzleramts, des Auswärtigen Amts, der Ressorts für Inneres, Arbeit und Sozialordnung, Jugend, Familie und Gesundheit, Justiz sowie Innerdeutsche Beziehungen und beauftragte sie damit, »die gesamte Asylproblematik in tatsächlicher und rechtlicher
172 Zum Selbstmord des Auslieferungshäftlings Kemal Altun sowie zum Report des UNHCR über die Zustände in deutschen Sammelunterkünften (»Toscani-Bericht«) vgl. Wolken (1988: 56ff.), Dittberner (1986); Münch (1992: 99f.); ZAR 1/1984: 68-75. 173 BT-Pl.Pr. 19/28 vom 13. Oktober 1983: 1890D. 174 vgl. BR-Drs. 91/85 vom 15. Februar 1985, BT-Drs. 10/3678 vom 25. Juli 1985.
2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit
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Hinsicht aufzulisten und u.a. für eine Kabinettserörterung aufzubereiten«; die Leitung lag beim Kanzleramtsminister.175 Die Interministerielle Kommission »Asyl« trug in ihrem Bericht vom 3. Juli 1985 weitgehend restriktive Vorstellungen des Bundesrates mit (vgl. Wolken 1988: 74f.). Daneben hatte sie – ganz im Sinne der CDU/CSU – die Installierung einer Arbeitsgruppe angeregt, die sich mit den Folgen einer Änderung des asylrechtlichen Grundgesetzartikels beschäftigen sollte (vgl. Schwarze 2000: 76). Damit fungierte zum zweiten Mal innerhalb von 18 Monaten eine Regierungskommission weniger als ein von Ideen geleitetes, politikberatendes Gremium von Ministerialexperten, denn als akklamierender Bezugspunkt für das von der Mehrheitsfraktion betriebene Gesetzgebungsverfahren, über dem sich in Verbindung mit einem Koalitionsgespräch am 24. Juni 1986 schließlich auch der Widerstand der FDP weitgehend erschöpfte.176 Die Kehrseite solcherart »exekutivierter« und durch pluralisierte Ressortbeteiligung vermeintlich auch breiter legitimierter Willensbildungsprozesse bestand in der weitgehenden Ignoranz des Gesetzgebers gegenüber den externen Beratungs-Inputs von Sachverständigen und Interessenvertretern, die jeweils erst im parlamentarischen Verfahren eingebracht werden konnten. Sowohl bei diesem Gesetzgebungsverfahren als auch in den Beratungen zum Asyl- und Auslieferungsverfahren veranstalteten die federführenden Bundestagsausschüsse jeweils ein Experten-Hearing. Die Sachverständigenanhörung zu den Novellierungsvorschlägen im Asylverfahrens-, Arbeitserlaubnis- und Ausländerrecht vor dem Innenausschuss am 17. März 1986 »brachte eindeutige Ergebnisse. Mit Ausnahme der Vertreter der Ausländerverwaltungen und der Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände wurden erneute Verschärfungen im Asylverfahrensrecht und im sozialen Bereich von allen Sachverständigen zurückgewiesen« (Wolken 1988: 75). Die Einwände der Experten fanden jedoch im weiteren Gesetzgebungsverfahren keine Berücksichtigung. Die restriktive Novelle wurde gegen die Stimmen der Opposition im Bundestag bzw. der »SPD-Länder« im Bundesrat beschlossen.177 Bei der Anhörung des Rechtsausschusses am 5. November 1986 zu Fragen der Rechtshilfe und des Asylverfahrensgesetzes verhielten sich die Dinge dagegen anders und verdeutlichten den VetoEinfluss externer Sachverständiger: Der [...] Gesetzentwurf der CDU/CSU/FDP-Koalition zur ›Änderung des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen und des Asylverfahrensgesetzes‹ [...] wurde von allen Sachverständigen bei der Anhörung im Rechtsausschuß so einhellig abgelehnt, dass eine abschließende Behandlung im zehnten Bundestag [...] unterblieb (ebd.: 65)
Bund-Länder-Arbeitsgruppe zum Asylverfahrens- und Ausländerrecht Bereits seit September 1986 hatte eine weitere Kommission – die dritte innerhalb von drei Jahren – getagt: Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe »für gesetzgeberische Maßnahmen zum 175 vgl. BT-Drs. 10/3346 vom 14. Mai 1985: 3. Im Parlamentsjargon wurde das Gremium daher auch »SchäubleKommission« genannt (u.a. von MdB Gerd Wartenberg, BT-Pl.Pr. 10/246 vom 13. November 1986: 19001D). 176 Hier nimmt die Bundesregierung wohlwollend zu Vorschlägen des Bundesrates Stellung und verweist auf die in ähnliche Richtung arbeitende Kommission; vgl. Münch (1993: 104); Wolken (1988: 90ff.) sowie BT-Drs. 10/3678 vom 25. Juli 1985: 7. 177 vgl. BT-Pl.Pr. 10/246 vom 13. November 1986: 18997D-19007B; BR-Sten.Ber. 572 vom 19. Dezember 1986: 737D-741A sowie BR-Drs. 572/86 (Beschluß) vom 19. Dezember 1986; BGBl. I 1987: 89ff.
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Asylverfahrens- und Ausländerrecht« sollte nochmals die legislativen Spielräume zwischen Bund und Ländern ausloten. Auch sie beteiligte die kommunale Ebene und die Interessengruppen nicht unmittelbar an den Beratungsprozessen. Die Kommission brachte am 28. Oktober 1987 lediglich ein Minimalergebnis mit Blick auf weitere Straffungs- und Restriktionsmöglichkeiten hervor. Die Bundesregierung folgte der Einschätzung der Kommission, dass »nur 3 Punkte gesetzgeberisch umgesetzt werden können« und überführte diese in einen weiteren Gesetzentwurf »zur Änderung asylverfahrensrechtlicher und ausländerrechtlicher Vorschriften«; aufgrund der für die Regierungspolitik günstigen Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat ging er einen ähnlich geradlinigen parlamentarischen Weg wie sein Vorgänger.178 Die Reichweite des Gesetzes blieb jedoch mit Blick auf die verfassungsrechtlichen Grenzen äußerst beschränkt (vgl. Münch 1992: 108). Die Verschärfungen der 1980er Jahre hatten bereits mit dem Änderungsgesetz von 1986/87 ihren Höhepunkt, gleichzeitig aber auch das Ende der asylrestriktiven Fahnenstange und selbst nach Meinung der Bundesregierung die Grenzen des Grundgesetzes erreicht.179
Last exit: Verfassungsänderung!? Im Zuge von Überlegungen, die Zuwanderungsmöglichkeiten in die Bundesrepublik weiter zu beschränken, vollzog sich die graduell vorbereitete Demontage des lange als unverrückbar deklarierten Grundrechts auf Asyl ungleich schneller. In den Rechtswissenschaften und der Publizistik hatte man die Debatte um Grundgesetzänderungen zum Ersatz des individuellen Asylanspruchs durch eine bloße objektive Asylverpflichtung – später »institutionelle Garantie« genannt – bereits Anfang der 1980er Jahre begonnen (vgl. Hailbronner 1980: 235ff.; 1981: 101). Andererseits war bis 1989 auf Bundesebene in keiner der etablierten Parteien die Abschaffung des absoluten Grundrechts auf Asyl für politische Verfolgte mehrheitsfähig. Für seine Fraktion stellte selbst der CSU-Abgeordnete und spätere Staatssekretär im BMI Carl-Dieter Spranger noch im März 1980 im Bundestag fest: »Die CDU/CSU hat sich – das wird sie auch in Zukunft tun – uneingeschränkt zum Grundrecht auf Asyl, zur Aufnahme politisch Verfolgter bekannt.«180 Zur gleichen Zeit forderten der spätere CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger und andere Abgeordnete in einer paradox anmutenden Rollenverteilung Bundeskanzler Helmut Schmidt im Bundestag dazu auf, einen Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel zu dementieren, in dem Schmidt die Möglichkeit angedeutet hatte, nach der Bundestagswahl 1980 das grundgesetzlich verbürgte Asylrecht zur Disposition zu stellen.181 Doch bereits im Wahlkampf zum Berliner Abgeordnetenhaus 1984/85 erhob der damalige Innensenator Heinrich Lummer die Forderung nach einer Verfassungsänderung (vgl. Dittberner 1986: 178); im Bundestag kündigten einflussreiche Abgeordnete den bis dahin postulierten Allparteienkonsens im Laufe des Jahres 1985 auf (vgl. Wolken 178
BR-Drs. 113/88 vom 18. März 1988: 1; BGBl. I 1988: 2326ff. vgl. Dittberner (1986: 180); PStS. Dr. Horst Waffenschmidt, BT-Pl.Pr. 10/246 vom 13. November 1986: 19006. 180 BT-Pl.Pr. 8/205 vom 6. März 1980: 16472 C. 181 vgl. Der Spiegel Nr. 26 vom 16. Juni 1980; MdB Alfred Dregger, BT-Pl.Pr. 8/228 vom 2. Juli 1980: 18525D: »Innerhalb der CDU/CSU gibt es niemanden, der das Asylrecht einschränken will.« (ebd.: 18544A/B). In der Retrospektive wirkt dieses Diktum wie das berühmte Dementi Ulbrichts bezüglich der Option eines Mauerbaus. 179
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1988: 75). Die Initiative der asylpolitischen Hardliner Baden-Württemberg, Bayern und Berlin aus dem Bundesrat 1985, u.a. eine »Sichere-Drittstaaten-Regelung« einzuführen,182 bedeutete faktisch die Aufforderung, Artikel 16 GG zu ändern. Die Bundesregierung unterstützte den Vorstoß zunächst deswegen nicht, weil sich ein breites Bündnis zwischen der FDP, den Oppositionsfraktionen und zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen dem vehement widersetzte (vgl. Schwarze 2000: 62ff.).
Kanzlerrunde und Parteienkompromiss Im Herbst 1991 diskutierte nach einem Mehrparteiengespräch bei dem seit April 1989 amtierenden Innenminister Schäuble eine informale Arbeitsgruppe »Asyl« gemeinsam zu ergreifende Maßnahmen (vgl. Schwarze 2000: 205). Am 10. Oktober 1991 einigten sich qua direkter informeller Verhandlung die Parteiführungen von CDU, CSU, SPD und FDP bei einem Spitzengespräch mit Bundeskanzler Kohl auf Zielvorstellungen, die in einen Gesetzentwurf mündeten, der »alle legislatorischen und administrativen Möglichkeiten zur Beschleunigung der Asylverfahren« ausschöpfte.183 Eine Woche später stimmten die meisten Bundesländer nach neunstündiger Debatte dem Ergebnis des Kanzlergesprächs zu. Doch bereits wenige Tage später wurde der verhandelte Kompromiss mit Unterstützung Bayerns und Baden-Württembergs aufgekündigt, indem Bundesinnenminister Schäuble öffentlich reklamierte, die besprochenen Maßnahmen gingen nicht weit genug, um die Asylverfahren ausreichend zu beschleunigen. Eine Einschränkung des absoluten Asylgrundrechts und die Festlegung von als verfolgungsfrei anzusehender Staaten bzw. sicherer Drittstaaten seien nötig.184 Die Parteienverhandlungen zwischen CDU/CSU, SPD und FDP wurden zu Beginn des Jahres 1992 vom neuen Bundesinnenminister Seiters185 fortgeführt. Erst nach Vorlage von drei Arbeitsentwürfen konnte man sich auf eine gemeinsame Einbringung in den Bundestag einigen (vgl. Schwarze 2000: 211). Das in Rekordzeit beratene und bereits am 1. Juli 1992 in Kraft getretene Gesetz186 markierte einen prekären Kompromiss, denn von einem echten Konsens war man weit entfernt. Obwohl eine Grundgesetzänderung noch nicht auf der Tagesordnung stand, hatten die Unionsfraktionen just zwei Tage vor der ersten Lesung im Bundestag einen weiteren Gesetzentwurf eben dahingehend eingebracht – die Blaupause für den »Asylkompromiss« im Winter des gleichen Jahres –, der zu heftigen Debatten führte.187 Vom Koalitionspartner FDP wurde diese Initiative in Anbetracht des Landtagswahlkampfes in BadenWürttemberg und der vermeintlich unerreichbaren Zweidrittelmehrheit zur Verfassungsän-
182
vgl. BR-Drsn. 100/1/85 vom 3. Juni 1985: 9; 100/85 (Beschluss) vom 14. Juni 1985. vgl. ZAR 4/1991: 154. 12; gemeinsamer Gesetzentwurf zur Neuregelung des Asylverfahrens von CDU/CSU, SPD und FDP, BT-Drs. 12/2062 vom 12. Februar 1992). Zu den Inhalten vgl. Renner (1992). Bündnis 90/Die Grünen blieben ebenso wie die Linke Liste/PDS von den »Allparteiengesprächen« ausgeschlossen (vgl. BT-Pl.Pr. 12/47 vom 10. Oktober 1991: 3937ff.). 184 vgl. ZAR Aktuell Nr. 3/1991 vom 11. November 1991. 185 Wolfgang Schäuble hatte nach seiner Rehabilitation in Folge des Attentats vom 12. Oktober 1990 das Amt zwar noch fast ein Jahr ausgeübt, wechselte aber zu diesem Zeitpunkt in den für ihn attraktiveren Fraktionsvorsitz. 186 vgl. BGBl. I 1992: 1126ff. 187 vgl. BT-Drs. 12/2112 vom 18. Februar 1992; BT-Pl.Pr. 12/79 vom 20. Februar 1992: 6465B/C-6517B. 183
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derung rhetorisch verharmlost, doch nur gut einen Monat später wurde der Entwurf ebenfalls im Bundestag beraten.188 Zwischenzeitlich hatte der Innenausschuss ein Sachverständigen-Hearing durchgeführt, in dem einzelne Maßnahmen des Gesetzespakets auf rechtsstaatliche Vorbehalte stießen (vgl. Bade 1994a: 35; Schwarze 2000: 212), die insbesondere Teile der SPDFraktion und die beiden kleinen Oppositionsparteien teilten. Der mitberatende Rechtsausschuss hielt die in dem Gesetz vorgesehene Klagefrist gegen eine Abschiebungsandrohung bei »offensichtlich unbegründeten« Asylgesuchen von einer Woche sogar einstimmig [!] für verfassungsrechtlich bedenklich.189 In einigen Details wurden die Maßnahmen daraufhin geändert. Erneut konnten also wissenschaftliche Sachverständige und Interessenvertreter – in begrenztem Rahmen und nur reaktiv – Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren nehmen. Im Verfahren des Bundesrates, der das Gesetz erwartungsgemäß passieren ließ, legten die Landesregierungen Hessens und Niedersachsens (unter Ministerpräsident Gerhard Schröder) mehrere Änderungsanträge vor und beantragten die Anrufung des Vermittlungsausschusses. An dieser Stelle wurde besonders deutlich, dass sich die zustimmende SPDParteilinie im Bund nicht in allen Punkten mit der Auffassung SPD-geführter Landesregierungen deckte – und die Grünen als Koalitionspartner in einigen Landesregierungen kein stillschweigendes Plazet zu dem von ihnen abgelehnten Gesetz geben wollten. Der Kompromiss im Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens verdeutlichte die Fragilität des asylrechtlichen Konsenses ebenso wie die Tatsache, dass dessen ungeachtet die Vorbereitungen zur Änderung des Grundgesetzes mit Emphase vorangetrieben wurden.
2.3.4 Migrationspolitik als parteipolitische Verhandlungsmasse: Vom »Asylkompromiss« zum restriktiven Stillstand in der Ausländerpolitik (1992-1998) 2.3.4.1 Zwischen Konsens und Konfrontation Mit den drängenden Fragen im Flüchtlings- und Asylrecht schien es 1992 im Bereich des Möglichen, den gordischen Knoten zu zerschlagen und parallel endlich auch geregelte Einwanderungsoptionen zu schaffen. Die Zugangswege über das Asylverfahren und – besonders seit 1990 – das Aussiedleraufnahmeverfahren hatten Migrationsbewegungen im großen Stil kanalisiert, die nicht mehr zu bewältigen schienen. Bündnis 90/Die Grünen hatten als Alternative zur interfraktionellen Asylverfahrensnovelle den Entwurf eines »Gesetzes zur Regelung der Rechte von Niederlassungsberechtigten, Einwanderinnen und Einwanderern« vorgelegt, dessen Beratung innerhalb der Debatte zum Asylverfahrensneuregelungsgesetzes stattfand und die – trotz aller Polemik und Gegensätzlichkeit – von grundsätzlicher Offenheit und Diskussionsbereitschaft gekennzeichnet war.190 Daneben hatte die Konferenz der Arbeits- und Sozialminister der Länder im Zuge des Kanzlergesprächs zum Asylverfahrenskonsens im Oktober 1991 erneut eine föderale Kommission eingesetzt: Die 188 MdB Dr. Hermann Otto Solms: »Man sollte das so werten, wie es gedacht ist: als Wahlkampfinitiative. Man soll es nicht weiter ernst nehmen.« (BT-Pl.Pr. 12/79 vom 20. Februar 1992: 6508C; BT-Pl.Pr. 12/89 vom 30. April 1992) 189 vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 12/2718 vom 2. Juni 1992, insb. S. 54, 58; BR-Sten.Pr. 644 vom 26. Juni 1992: 331C, 337A. 190 vgl. BT-Drs. 12/1714 (neu) vom 4. Dezember 1991; BT-Pl.Pr. 12/79 vom 20. Februar 1992: 6465B-6517B.
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ad-hoc-Arbeitsgruppe »Asylrecht und sozialer Frieden« sollte gemäß ihrem Auftrag nicht nur die Problemlagen im Bereich des Asylrechts diskutieren, sondern auch gemeinsame Vorschläge zum Umgang mit anderen Flüchtlingen, Ausländern und Aussiedlern machen. Doch das Klima des Wandels hin zu einer konzeptionellen Migrationspolitik mit Einwanderungsoptionen blieb Episode. Die Arbeitsgruppe, die im Juli 1992 ihren Bericht vorlegte, empfahl zwar eine »Zuwanderungspolitik aus einem Guß«.191 In zentralen Feldern der Ausländerpolitik (kommunales Wahlrecht für Ausländer, erleichterte Einbürgerung und Übergang zum ius soli bei Aufgabe des Ziels der Vermeidung von Mehrstaatigkeit) überwog jedoch der Dissens. Von Einwanderungspolitik war gar nicht die Rede. Das Land Bayern distanzierte sich vollends von dem Bericht und forderte u.a., den »Mißbrauch des Asylrechts« abzustellen, die Lasten des Asylrechts europaweit gleichmäßig zu verteilen und den grundgesetzlich verbürgten individuellen Rechtsanspruch auf Asyl zu Gunsten einer gesetzlich-institutionellen Vorschrift abzuschaffen. Die Ergebnisse der ad-hocArbeitsgruppe gingen im Zuge der Asylgrundrechtsdebatte weitgehend unter, die in den Medien und in der politischen Öffentlichkeit immer mehr in Reaktion auf die ausländerfeindlichen Übergriffe und Pogrome geführt wurde (vgl. dazu Herbert 2001: 303ff.; Keskin 2005: 123; Koopmans 1996). Die Befürworter einer Verfassungsänderung in den Reihen von CDU und CSU beeinflussten Zug um Zug die öffentliche Meinung; gegen das Grundrecht auf Asyl wurde eine gezielte Kampagne geführt (vgl. Herbert 2001: 299ff.; Bade 1994a: 34). Sollte sich die SPD einer Grundgesetzänderung verweigern, werde – so die infame Formulierung des CDUGeneralsekretärs Volker Rühe – »jeder Asylant zum SPD-Asylanten« (zit.n. Prantl 1996: 268). Auf Bundesebene wurde die »permanente und teilweise politisch gewollte Vermischung verschiedener Themen und Wahrnehmungsebenen« betrieben (Blanke 1993a: 15), insbesondere die rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Anschläge als legitimatorisches Moment für die Begrenzung des Asylbewerberzuzugs genutzt. Gleichsam lautete der Vorwurf aus den Medien an die Parteien, die Ängste der Bevölkerung nicht ernst zu nehmen und die Kontrolle über die Zuwanderung verloren zu haben (vgl. Angenendt 1997: 107f.). Mehr noch als die Landtagswahlen im Jahr 1992 war daneben die Antizipation des Wahlkampfes im »Superwahljahr« 1994 und damit verbundener Richtungsentscheidungen ein bedeutender Faktor (vgl. Meier-Braun 2002: 72). Vor »dem Wähler« schien nur eine responsive Begrenzungspolitik vertretbar, während sich die Asylkampagne der Union verselbständigte: »Boulevard und Straße regierten die Politik.« (Herbert 2001: 303)
2.3.4.2 Der Migrationskompromiss: Zweidrittelmehrheit durch parteipolitische Verhandlung Neben diesen überwiegenden parteitaktischen Aspekten bildeten auch tatsächliche, problembezogene Faktoren wie die große finanzielle Belastung einiger Kommunen bzw. infrastrukturelle Engpässe zur Unterbringung von Asylbewerbern ein Motiv für die interfraktionellen Asylverhandlungen der Parteien (vgl. Angenendt 1997: 105ff.). Die Belastungsargumente waren jedoch weitgehend Mittel zum Zweck, denn die Auswirkungen der im Juli 1992 in Kraft tretenden Kompromissmaßnahmen im Gesetz zur Neuregelung des Asylverfahrens – immerhin tituliert als Ausschöpfung »aller legislatorischen und administrativen 191
zit.n. ZAR Aktuell, Nr. 3/1992 vom 22. September 1992; vgl. auch zum Folgenden.
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Möglichkeiten zur Beschleunigung der Asylverfahren« (s.o.) – konnten noch gar nicht abgesehen werden. Aber die unverminderte Munitionierung der Befürworter weiterer Restriktionen durch Teile der Politik und die Boulevard-Presse im Sommer 1992 erzeugten zusätzlichen Druck. Entscheidend war innerhalb des Faktorenbündels schließlich die Tatsache, dass die von der Bundesregierung, zahlreichen Bundesländern und der CDU/CSU verfolgte Änderung der asylrechtlichen Basis im Grundgesetz durch eine Zweidrittelmehrheit kaum zu erreichen gewesen wäre, wenn man neben der Erzeugung öffentlichen Drucks nicht auch Wege jenseits der Bundestagsfraktion und des unmittelbaren Gesetzentwurfs der Union im parlamentarischen Verfahren gewählt hätte. Nur mittels einer auf der Ebene der Partei- und Fraktionsführungen verhandelte Paketlösung im Vorgriff auf den innerparteilichen Willensbildungsprozess und das parlamentarische Verfahren war die dafür notwendige Zustimmung eines großen Teils der SPD-Fraktion zu erlangen. Dafür fand man in Oskar Lafontaine, Hans-Ulrich Klose und nicht zuletzt auch Parteichef Björn Engholm einflussreiche SPD-Protagonisten als Verhandlungspartner, die »strategisch« dachten und mit Blick auf »kompensierende« Maßnahmen im Aussiedler- und Zuwanderungsrecht eine Grundgesetzänderung nicht kategorisch ablehnten (vgl. Prantl 1993, 1993a). Bereits vor der parlamentarischen Sommerpause 1992 gab es informelle interfraktionelle Treffen mit der Zielvereinbarung, ab September überparteilich in einer Arbeitsgruppe zu verhandeln. Die verheerenden Gewalteskalation von Rostock-Lichtenhagen Ende August 1992 beschleunigte das Vorgehen abermals (vgl. Schwarze 2000: 221ff.).
Innerparteiliche Willensbildung Am 23. August 1992 beschloss die SPD-Führung im Rahmen eines Sofortprogramms, unter Wahrung des Rechtsschutzprinzips eine Einschränkung von Artikel 16 GG nicht mehr auszuschließen. Der SPD-Parteivorstand ergänzte nach einer Klausursitzung am 12. und 13. September den Entwurf des Sofortprogramms explizit durch die Option einer Verfassungsänderung.192 Das »Umfallen« der SPD von ihrem mehrheitlich vertretenen Standpunkt, das Asylgrundrecht dürfe nicht angetastet werden, lässt sich bis zum Sonderparteitag im November als ein gradueller, aber über einen relativ kurzen Zeitraum vollzogener Wandel rekonstruieren, auf den verschiedentlich Prozesse der parteipolitischen Kybernetik unter maßgeblicher Beteiligung der Partei- und Fraktionsführung und ihrer Protagonisten wirkten (vgl. dazu aufschlussreich Prantl 1993, 1993a, 1996 sowie Schwarze 2000: 225). Weitere Zuspitzung und Druck im Vorfeld des SPD-Sonderparteitages erreichte die Bundesregierung durch geschickte Inszenierung und Intonierung der Problematik beim CDUBundesparteitag Ende Oktober in Düsseldorf: Dort sprach Bundeskanzler Kohl in Zusammenhang mit dem Asylrecht von der Möglichkeit eines Staatsnotstandes, sollte die SPD der Grundgesetzänderung nicht zustimmen.193 192
vgl. Der Spiegel Nr. 36 vom 31. August 1992: 36f.; FR vom 14. September 1992. BT-Pl.Pr. 12/116 vom 4. November 1992: 9865D. Offenbar war regierungsintern nach Hinzuziehung eines Rechtsgutachtens der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages tatsächlich darüber gesprochen worden, in der Ausrufung einer solchen Situation die Vorgaben des Grundgesetzes für Art. 16 nicht länger als bindend zu erachten (vgl. Der Spiegel Nr. 46 vom 2. November 1992); vgl. jedoch die Dementis vom Chef des Bundeskanzleramts (Antworten des Bundesministers Friedrich Bohl auf die Dringlichen Fragen des Abgeordneten Otto Schily sowie eine Aktuelle Stunde, BT-Pl.Pr. 12/116 vom 4. November 1992: 9865B-9899D). 193
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Innerhalb der Regierungskoalition wurde großer Druck auf die FDP-Fraktion ausgeübt, die zunächst abweichende Vorstellungen hatte und deren Fraktion eine Grundgesetzänderung mehrheitlich ablehnte. Die liberale Parteiführung hingegen hatte bereits im Juni 1992 ihren prinzipiellen Widerstand aufgegeben (vgl. Herbert 2001: 316). Mit einem Beschluss vom 4. September schwenkte auch die Fraktion um (vgl. Schwarze 2000: 224) und einen Monat später hieß es im Beschluss des FDP-Bundesparteitages sibyllinisch: »Der Missbrauch des Asylrechts muß bekämpft werden. Hierzu ist die FDP auch bereit, an einer Änderung von Artikel 16 GG mitzuwirken, ohne dabei das individuelle Grundrecht auf Asyl im Kern aufzuheben.« (zit.n. Blanke 1993: 346) Die asylpolitischen Beschlüsse des SPD-Sonderparteitages vom 16./17. November 1992 (dokumentiert in Blanke 1993: 360f.) bildeten die maßgeschneiderte Verhandlungsgrundlage für Kompromissgespräche mit der Bundesregierung. Darin wurden einerseits – relativ undifferenziert – eine rechtlich abgesicherte Aufenthaltslösung für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, eine Steuerung und Begrenzung der Aussiedlerzuwanderung sowie »ein europäisch abgestimmtes Einwanderungsrecht mit jährlichen Quoten entsprechend unserer Aufnahme- und Integrationskapazität« eingefordert, andererseits die Unantastbarkeit von Artikel 16 aufgehoben. Zwar stünde der Satz »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht« nicht zur Disposition, jedoch wurden Einschränkungen nicht explizit ausgeschlossen. In dem verklausulierten Beschluss hieß es: [Es] muß […] ein deutlich beschleunigtes und vereinfachtes Verfahren für jene Asylbewerber möglich sein, bei denen aufgrund ihres Herkunftslandes eine individuell widerlegbare Vermutung besteht, daß ihr Antrag offensichtlich unbegründet ist.
Migrationspolitische Konzepte durch Verhandlung? Unmittelbar nach dem SPD-Sonderparteitag begannen Regierung und Opposition konzentrierte Kompromissverhandlungen, die fast ausschließlich von parteipolitischen Erwägungen gezeichnet waren und auf der Grundlage eines gemeinsamen Entschließungsantrags der Regierungskoalition, den SPD-Parteitagsbeschlüssen und eines begriffsbestimmenden Eckwertepapier des BMI geführt wurden. In einer ersten Klausursitzung von CDU, CSU, SPD und FDP am 27. November wurden zunächst die Verhandlungsgegenstände bestimmt, die neben dem Asylrecht im Sinne der SPD explizit auch alle weiteren zentralen Aspekte der Zuwanderung – Aussiedler, Vertragsarbeitnehmer, Bürgerkriegsflüchtlinge, finanzielle Leistungen an Asylbewerber, Einbürgerungsrecht und Fluchtursachenbekämpfung – einschließen sollten (vgl. Schwarze 2000: 232). Die Verhandlungen trugen somit den Charakter wegweisender Beratungen mit Blick auf das gesamte Politikfeld Migration. Zahlreiche Punkte schienen im Sinne von echten Reformmaßnahmen politisch gestaltbar. Doch die öffentliche Erwartungshaltung an die Parteien, das »Asylproblem« zu lösen und der daraus resultierende Einigungsdruck verhinderten umfassende Deliberationen zu echten Reformperspektiven. Auch eine breitere Beteiligung von Fraktionen oder außerparlamentarischen Akteuren der Politikberatung war zu diesem Zeitpunkt nicht gegeben: Die Agenda wurde maßgeblich von den politischen Eliten in Regierung und Parteien vorgegeben. Kirchen, Verbände und Interessengruppen konnten lediglich ihre Ablehnung weiterer Verschärfungen verlauten lassen (vgl. z.B. ZAR aktuell Nrn. 4/1992, 1/1993, 2/1993), jedoch die Agenda der Medien kaum beeinflussen (vgl.
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Koopmans 1996: 189f.) Zudem hatte die SPD der harten klaren Haltung der Union nur wenig entgegenzusetzen, so dass nach einem dreitägigen Verhandlungsmarathon über die Einzelmaßnahmen mit dem so genannten »Nikolauskompromiss« ein Ergebnis vorlag, in dem sich mit Blick auf die Asylpolitik die Unionsparteien weitgehend durchgesetzt hatten (Schwarze 2000: 232ff.). Heribert Prantl (1993) kommentierte den Verlauf der Asylverhandlungen aus Sicht der Sozialdemokraten drastisch mit den Worten: »Wie man alles hergibt und nichts dafür erhält«. Die öffentliche Wahrnehmung blieb auf einen »Asylkompromiss« beschränkt. Weil aber in zahlreichen anderen Rechtsgebieten ebenfalls Änderungen vereinbart wurden, stellte die Einigung vom 6. Dezember 1992 eigentlich einen »Migrationskompromiss« dar, der jedoch nicht den Charakter eines Gesamtkonzepts hatte, sondern punktuelle Maßnahmen umfasste und somit eher ein »Ersatz-Zuwanderungsgesetz« war (vgl. Angenendt 1997: 91; Bade 1994a: 37). Die Parteien formulierten Ziele in sechs Bereichen der Migrationspolitik, zu denen höchst unterschiedliche Grundauffassungen bestanden hatten, und deren Einarbeitung in einen Gesetzentwurf erneut aufwändige Verhandlungen nötig machte:194 Schaffung eines zeitlich befristeten Aufenthaltsstatus’ für Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge analog zur Genfer Konvention; Ersatz von Art. 16 Abs. 2 GG durch einen neuen Art. 16a GG, der Beschränkungen der »Drittstaatsregelung« und der »sicheren Herkunftsstaaten« umfasst; restriktivere Fassung des Asylverfahrens; Kontingentierung der Aussiedler-Zuwanderung auf dem Niveau der beiden Vorjahre; Begrenzung der Zahl der Werkvertragsarbeitnehmer auf maximal 100.000 pro Jahr, stärkere Bekämpfung illegaler Beschäftigung, kein Daueraufenthaltsrecht für ehemalige DDR-Werkvertragsarbeitnehmer; Erleichterung der Einbürgerung von Ausländern durch neue Rechtsansprüche; Prüfung einer Regelung zur Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung auf nationaler Ebene. Insbesondere der letzte Punkt ging in den weiteren Verhandlungen um die konkrete gesetzliche Ausgestaltung der Eckpunkte weitgehend unter. Am 19. Januar brachten die drei Fraktionen den Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes in den Bundestag ein. Anfang März folgte der gemeinsame Entwurf zur Änderung asylverfahrens-, ausländer- und staatsangehörigkeitsrechtlicher Vorschriften.195 In zwei Sachverständigenanhörungen am 11. bzw. 24. März wurden aus unterschiedlichen Gründen Einwände vorgebracht, wobei die von der Union benannten Rechtsexperten die Grundgesetzänderung vorbehaltlich einiger praktischer Bedenken befürworteten, während die von der SPD vorgeschlagenen Fachleute das vorgesehene Paket kritisierten.196 Nach einer Aufsehen erregenden Abschlussdebatte 194 vgl. Dokumentation in der SZ vom 8. Dezember 1992: 5; zu den weiteren Verhandlungen vgl. FAZ vom 6. Januar 1993: 1f.; vom 7. Januar 1993: 2; vom 6. Februar 1993: 1 sowie vom 16. Januar 1993: 1f. 195 vgl. BT-Drsn. 12/4152 vom 19. Januar 1993; 12/4450 vom 2. März 1993 sowie FAZ vom 4. März 1993: 3. Das ebenfalls vereinbarte Asylbewerberleistungsgesetz wurde am gleichen Tag eingebracht, allerdings von der SPD zunächst nicht mitgetragen (vgl. BT-Drs. 12/4451 vom 2. März 1993). Die Regelungen zur Aussiedlerimmigration wurden gänzlich außerhalb des gesetzlichen »Asylpakets« in Verhandlungen des Vermittlungsausschusses zum sog. Kriegsfolgenbereinigungsgesetz umgesetzt (BGBl. I 1992: 2094ff.; vgl. i.E. Haberland 1994: 54ff.). 196 vgl. FAZ vom 12. März 1993 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 12/4984 vom 18. Mai 1993. Der Einfluss der Sachverständigen – so bilanziert Schwarze (2000: 242) – war gering.
2.3 Asyl- und Migrationspolitik zwischen föderaler Kooperation und Parteienstreit
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wurde das Gesetzespaket mit der einschneidenden Grundgesetzänderung am 26. Mai 1993 vom Bundestag beschlossen.197 einen Tag später stimmte auch die Länderkammer zu, so dass die meisten Änderungen bereits zum 1. Juli 1993 in Kraft treten konnten.
2.3.4.3 Mannigfaltige Einwanderungskonzepte und Stillstand in der Migrationspolitik Die 1991/92 entstandene Hoffnung auf umfassende Reformen in der Einwanderungs- und Integrationspolitik wurde auch durch außerparlamentarische Diskussionsbeiträge genährt. Insbesondere aus dem wissenschaftlich-publizistischen Bereich stammten zahlreiche Vorschläge zur Ausgestaltung konkreter Einwanderungs- und Integrationspolitik und deren institutioneller Verankerung (vgl. z.B. Angenendt 1997: 121ff.; Bade 1994; Heinelt & Lohmann 1992: 248-268; Thränhardt 1992; Wollenschläger 1993; Friedrich-Ebert-Stiftung 1995). Diese Initiativen interpretierten die fremdenfeindlichen Gewalt und den Asylkompromiss auch als eine Folge migrationspolitischer Konzeptionslosigkeit und unterbliebener Auseinandersetzung mit den Problemen der Einwanderungsgesellschaft. Besondere Aufmerksamkeit erlangte in diesem Zusammenhang 1994 das »Manifest der 60«, mit dem sich 60 namhafte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Öffentlichkeit und Politik wandten, nachdrücklich für Reformen in der Einwanderungspolitik plädierten und umfangreiche Argumentationshilfen dazu vorlegten (vgl. Bade 1994). Die Vorschläge bezogen sich einerseits auf die Verbesserung der Integrationsvoraussetzungen durch eine Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, andererseits plädierte die Initiative – aus der einige Jahre später ein unabhängiger »Rat für Migration« hervor ging – nachdrücklich für die Schaffung eines Zuwanderungskonzeptes, das neben humanitären Verpflichtungen auch die klar formulierten Interessen des Einwanderungslandes berücksichtigt. Dessen ungeachtet blieb die Zeit zwischen den Gesetzen des Migrationskompromisses 1993 und der Bundestagswahl 1998 von Seiten der Regierung ohne weitere grundlegende zuwanderungs- oder integrationspolitische Initiative. Analog zur immer wieder verzögerten Novellierung des Ausländerrechts in den 1980er Jahren (vgl. Kap. 2.2.4), standen die 1990er Jahre im Zeichen der »Verschleppung« einer grundlegenden Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Noch in der 12. Wahlperiode hatte Bundeskanzler Kohl in einer Regierungserklärung anderes angekündigt: […] unser Staatsangehörigkeitsrecht ist jetzt 80 Jahre alt. Ich denke, wir sind gemeinsam der Auffassung, daß es jetzt notwendig ist, daß wir die Regelungen des geltenden Rechts überprüfen. […]. Ich hoffe darauf, daß wir dieses Gespräch miteinander in einer sachgerechten Diskussion, ohne jeden ideologischen Vorbehalt führen können. Wir wollen weitere Regelungen […] noch in dieser Legislaturperiode verabschieden. […] Ich möchte alle Verantwortlichen in Bund, in den Ländern, in den Parteien und allen gesellschaftlichen Organisationen einladen, sich an dieser Diskussion zu beteiligen.198
Die Bundesregierung nahm die Reform jedoch nicht in Angriff, auch weil die bereits in den frühen 1980er Jahren beobachtbaren konträren Grundpositionen zwischen CDU/CSU und FDP (vgl. Kap. 2.2.3.3) wieder zum Tragen kamen. Daneben manifestierte sich in Teilen der Union früh die kategorische Ablehnung einer Option auf doppelte Staatsangehörigkeit, während eine Gruppe von reformorientierten Parlamentariern sie unter bestimmten Um197 vgl. BT-Drs. 12/4984 vom 18. Mai 1993; BT-Pl.Pr. 12/160 vom 26. Mai 1993: 13503D-13710D; BGBl. I 1993: 1002ff., 1062ff., 1074ff. 198 Bundeskanzler Helmut Kohl BT-Pl.Pr. 12/162 vom 16. Juni 1993, 13859C/D.
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ständen hinnehmen wollten.199 In ihren Koalitionsvereinbarungen 1994 kündigten CDU/CSU und FDP erneut an, man werde eine »umfassende Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vornehmen« und dabei eine »Kinderstaatszugehörigkeit« schaffen,200 doch auch in der 13. Wahlperiode legte sie keinen Referentenentwurf vor. Befürwortern eines Kompromisses mit der SPD auf Seiten von CDU und FDP gelang es nicht, die Koalition auf die von der Opposition vorgelegten Entwürfe zur Reform des Staatsbürgerschaftsrechts zuzubewegen.201
Policymaking als inkrementelles Bargaining Auch im Bereich konzeptioneller Zuwanderungspolitik blieb die Bundesregierung nach dem »Migrationskompromiss« von 1992/93 weitgehend tatenlos und setzte den Vorstößen der Opposition in Bundestag und Bundesrat für umfassende Reformen202 keine Alternativen entgegen. Vielmehr zementierte sich im Zuge der konjunkturellen Rezession 1993/94 bei CDU und CSU die ablehnende Haltung gegenüber Einwanderung (vgl. Bade 1994a: 27; Herbert 2001: 329). Mitte 1997 stellten Cornelia Schmalz-Jacobsen und der damalige Generalsekretär Guido Westerwelle der Öffentlichkeit den Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes vor,203 erreichten damit jedoch innerhalb der Koalition kein Gehör: Die Einbringung im Bundestag unterblieb. Unmissverständlich war die Position der Bundesregierung von der Maxime geleitet, Deutschland habe »weder heute noch in überschaubarer Zukunft einen Bedarf für eine aktive Zuwanderungspolitik.«204 Negatives Aufsehen erregte um die Jahreswende 1996/97 eine von Bundesinnenminister Kanther erlassene Eilverordnung der Bundesregierung, die für Kinder und Jugendliche aus den ehemaligen Anwerbestaaten mit Verweis auf das Missbrauchspotenzial beim Familiennachzug die Visums- und Aufenthaltsgenehmigungspflicht einführte.205 Hier wurde eine bedeutsame Maßnahme – die Sichtvermerkspflicht betraf unvermittelt mehrere Zehntausend Menschen – auf dem Wege exekutiv-ministerieller Entscheidungshoheit durchgesetzt, der die Opposition lediglich mit Gegenanträgen im Parlament begegnen konnte.206 Gesetz199
Den Ausführungen des früheren Vorsitzenden des Bundestags-Rechtsausschusses Horst Eylmann zufolge hätten insbesondere Bundeskanzler Kohl und die Mehrheit der Fraktion seine auch vom damaligen Innenminister Seiters befürworteten Pläne für Einbürgerungserleichterungen, auch unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, verhindert (Interview Eylmann: 38ff.; vgl. auch Dickel 2002: 168, 323). 200 zit.n. BT-Drs. 13/7505 vom 23. April 1997; ZAR 1/1995: 2. 201 vgl. Ausländerbeauftragte Cornelia Schmalz-Jacobsen, BT-Pl.Pr. 12/225 vom 27. März 1998: 20633C. 202 vgl. Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grünen »Verabschiedung eines Einwanderungsgesetzes« (BTDrs. 12/3467 vom 15. Oktober 1992); Gesetzentwurf von Bündnis 90/Die Grünen »zur Regelung der Rechte von Einwanderinnen und Einwanderern« (BT-Drs. 13/7417 vom 15. April 1997); SPD-Antrag zur »Vorlage eines Gesetzes zur Steuerung der Zuwanderung und Förderung der Integration« (BT-Drs. 13/7511 vom 23. April 1997); Gesetzesantrag der rheinland-pfälzischen Landesregierung eines Gesetzes »zur Regelung der Zuwanderung« (BRDrs. 180/97 vom 11. März 1997). 203 dokumentiert in ZAR 3/1997: 151f. 204 so Bundesinnenminister Manfred Kanther in einem Aufsatz in der FAZ vom 13. November 1996: 11. 205 vgl. BGBl. I 1997: 4ff.; Meier-Braun (2002: 87). 206 vgl. den PDS-Antrag zur »Rücknahme der Visums- und Aufenthaltsgenehmigungspflicht für hier lebende Kinder und Jugendliche aus den ehemaligen Anwerbestaaten Türkei, Marokko, Tunesien und den Nachfolgestaaten Ex-Jugoslawiens« (BT-Drs. 13/7036 vom 21. Februar 1997), den SPD-Antrag »Keine neuen bürokratischen Hürden für jugendliche Ausländer – Einbürgerung endlich erleichtern« (BT-Drs. 13/7090 vom 26. Februar 1997) sowie die Entschließungsanträge von Bündnis 90/Die Grünen (BT-Drs. 13/7121 vom 28. Februar 1997) und SPD (BT-Drs. 13/7177 vom 12. März 1997).
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geberische Aktivität in der Migrationspolitik beschränkte sich hingegen auf Novellierungen bestehender Vorschriften. Im Asylrecht setzte die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates kleinere Änderungen in Asylverfahrensgesetz durch.207 Bei zwei grundlegenden, sehr kontroversen Gesetzgebungsvorhaben kehrte aufgrund der Dominanz der Landesregierungen mit Beteiligung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bundesrat allerdings das Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat als verhandlungsorientiertes Entscheidungsfindungsmodus wieder (vgl. Kap. 1.2.4.5 und 2.3.3.3). 1.
An ein Änderungsgesetz vom Oktober 1995 zu dem im Zuge des »Asylkompromisses« verabschiedeten Asylbewerberleistungsgesetz (vgl. Kap. 2.3.4.2) koppelten CDU/CSU und FDP die Änderung weiterer Vorschriften: entstehende Mehrausgaben der Länder und Kommunen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitslose durch Wegfall der originären Arbeitslosenhilfe sowie die Übernahme der Kosten für die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personennahverkehr sollten u.a. durch Einsparungen bei der Versorgung von Ausländern, insbesondere Kriegsund Bürgerkriegsflüchtlingen, kompensiert werden.208 Im Vermittlungsverfahren lehnten zahlreiche Ausschussmitglieder das Aufrechnen föderaler und kommunaler Mehrausgaben in asylfremden Bereichen mit Leistungskürzungen für Ausländer kategorisch ab.209 Das Gesetz wurde über exakt ein Jahr in zahlreichen Sitzungen des Gesamtgremiums und diverser Arbeitsgruppen beraten. Um einen zustimmungsfähigen Kompromiss zu erreichen griff der Ausschuss zu einem ungewöhnlichen Mittel, das gleichzeitig seine (eng begrenzte) akzessorisch-politikgestaltende Kompetenz verdeutlicht: Er schlug eine anteilige, »zweckgebundene« Kompensation der eingesparten Mittel bei Ausländern durch »Entwicklungshilfe« in Kriegs- bzw. Bürgerkriegsländern vor.210 Da sich der Vermittlungsausschuss grundsätzlich auf die ihm vorliegenden Gesetzesentwürfe und die in dem Anrufungsbegehren formulierten Ziele zu beschränken hat (vgl. Kap. 1.2.4.5), konnte er diese Regelung nicht proaktiv in das Gesetz einfügen, sondern sie lediglich in Form einer Empfehlung an die Länder einbringen. Nach einer langen Debatte über die Unverbindlichkeit einer solchen Empfehlung, bei der das Vermittlungsverfahren fast gescheitert wäre, wurde das unkonventionelle Vorgehen mit einer ungewöhnlich hohen Zahl von Gegenstimmen und Enthaltungen (16:8:8) beschlossen und Bundestag und Bundesrat zur Annahme vorgelegt, die am 24. bzw. 25. April 1997 zustimmten.211
207 vgl. Erstes und Zweites Gesetz zur Änderung des Asylverfahrensgesetzes, BGBl. I 1995: 430ff. sowie BGBl. I 1996: 550ff. 208 vgl. Gesetzentwurf für ein »Erstes Gesetz zur Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes und anderer Gesetze« (BT-Drs. 13/2746 vom 24. Oktober 1995); BT-Pl.Pr’le. 13/65 vom 27. Oktober 1995: 5635B-5640D; 13/86 vom 8. Februar 1996: 7586C-7595B. 209 Auf eine ausführliche Darstellung des komplexen Verhandlungsverlaufs wird an dieser Stelle verzichtet; vgl. dazu die Stenographischen Protokolle der 9. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 20. Juni 1996: 18ff. und ihrer Fortsetzungen vom 26. Juni 1996: 6ff.; vom 5. Dezember 1996: 10, 38ff.; vom 26. Februar 1997: 4f; vom 12. März 1997: 2; vom 16. April 1997: 5ff. sowie der 20. Sitzung vom 23. April 1997: 9ff. 210 vgl. Stenographisches Protokoll des Vermittlungsausschusses vom 16. April 1997 (s. Fn. 209): 6. 211 vgl. BT-Pl.Pr. 13/172 vom 24. April 1997: 15522D-15527A; BR-Drs. 296/97 (Beschluß) sowie BR-Sten.Ber. 711 vom 25. April 1997: 126C-127B.
162 2.
2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung Im Sommer 1996 brachte die Bundesregierung über die Fraktionen den Entwurf eines Gesetzes »zur Änderung straf-, ausländer- und asylverfahrensrechtlicher Vorschriften« in den Bundestag ein, der überwiegend restriktive Ziele im Bereich des Ausländerrechts verfolgte212 und in Verbindung mit zahlreichen anderen Beratungsgegenständen in zwei großen Debatten zur Ausländerpolitik beraten wurde.213 Während SPD, Bündnis 90/Die Grünen und die Gruppe der PDS den Großteil der aufenthaltsrechtlichen Verschärfungen ablehnten, zeigten sie sich offen für einige der flankierenden Maßnahmen des Gesetzespakets, etwa die Verankerung des Amtes der Ausländerbeauftragten im Ausländergesetz oder das Änderungsvorhaben bezüglich des § 19, das für besondere Härtefälle ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für ausländische Ehegatten nach Beendigung einer Ehe vorsah. Unter der Maßgabe eines »Abtauschpotenzials« innerhalb des Artikelgesetzes lehnte der Bundesrat das Gesetz folgerichtig mit seiner Mehrheit ab und rief den Vermittlungsausschuss an, der sich in drei Hauptsitzungen und zahlreichen Treffen der Arbeitsgruppe mit dem Gesetz befasste.214 In der paritätisch zwischen »A«- und »B-Ländern« besetzten Arbeitsgruppe wurden in insgesamt 26 Stunden Verhandlung 46 Änderungsanträge behandelt. Der zu Stande gekommene Kompromissvorschlag wurde vom Gesamtgremium mehrheitlich angenommen. Sowohl CDU/CSU als auch SPD hatten sich im Ergebnis mit zahlreichen Forderungen durchsetzen können, die ganz unterschiedliche Bereiche der Migrationspolitik betrafen, in denen sich die Parteien wiederfinden konnten.215
2.3.5 Asyl- und Migrationspolitik: Zusammenfassung Seit den ersten, im Bundestag geführten Beratungen um ein Gesetz zur Beschleunigung der Asylverfahren 1978 ist die Asylpolitik als ständig wiederkehrendes Thema auf der politischen Bühne präsent gewesen. Bis in die 1970er Jahre hinein waren diese Auftritte jedoch äußerst sporadisch: Weniger Bundesregierung und Parlament agierten als Beratungs- und Entscheidungszentrum, sondern nahezu ausschließlich die IMK. Im Zuge verstärkter kooperativer Bemühungen der Länder durch Arbeitskreise der IMK und insbesondere seit der Installierung einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe »Asylrecht« wirkten dabei wiederholt plural zusammengesetzte und meist ad hoc berufene Gremien mit. Eine Serie von Gesetzen zur Beschleunigung des Asylverfahrens, die gleichzeitig stets auch darauf abzielten, die Bundesrepublik als Zielland für Flüchtlinge unattraktiv zu machen, wurde auf Bundesebene lanciert, konnte jedoch die Steigerung der Antragszahlen nicht verhindern. Parteiübergreifend entwickelte sich ein auf weitere Restriktionen zielender Diskurs um »Asylmissbrauch«. Gleichsam wurde das Politikfeld zu einem Gegenstand widerstreitender Interes212 vgl. BT-Drs. 13/4948 vom 18. Juni 1996; die Maßnahmen zur erleichterten Ausweisung wurden dabei in Verbindung mit kriminellen Handlungen von Ausländern bei den so genannten Kurdendemonstrationen begründet (vgl. MdB Erwin Marschewski, BT-Pl.Pr. 13/114 vom 21. Juni 1996: 10236Bff.). 213 vgl. BT-Pl.Pr’le. 13/114 vom 21. Juni 1996: 10235B-10263B und 13/138 vom 14. November 1996: 12352B12382B. 214 vgl. BR-Drs. 870/69 (Beschluß) vom 19. Dezember 1996 sowie Stenographische Protokolle der 16. Sitzung des Vermittlungsausschusses vom 29. Januar 1997: 3f.; der ersten Fortsetzung vom 26. Februar 1997: 2; der 3. Fortsetzung vom 12. Juni 1997: 5-21. 215 Das Vermittlungsergebnis kann hier aus Platzgründen nicht im Einzelnen wiedergegeben werden; vgl. dazu BT-Drsn. 13/4948 vom 18. Juni 1996, 13/5986 vom 6. November 1996 und 13/7956 vom 12. Juni 1997.
2.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99)
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sen, zunächst primär in distributiver Hinsicht zwischen Bund und Ländern, später in parteipolitischen Zusammenhängen. »Einwanderung«, so formulierte Dietrich Thränhardt (2009: 164), »wurde nicht mehr dem sottogoverno unterhalb der politischen Sphäre zur konsensualen und politikfernen Verwaltung überlassen, sondern migrationspolitische Kontroversen gerieten ins Zentrum der Auseinandersetzung, wurden zu high politics.« Wiederholt avancierte daher der Vermittlungsausschuss zur Beratungs- und Entscheidungsarena. Die Positionen von externen Sachverständigen, wie sie etwa in den AusschussHearings vorgebracht wurden, fanden in den Bund-Länder-Arbeitsgruppen bzw. interministeriellen Kommissionen zur Asylpolitik kaum Berücksichtigung. Neben der nicht zuletzt durch den Einzug der Grünen in den Bundestag beförderten, sachten Diskussion von Reformen in der Politik gegenüber Bürgerkriegsflüchtlingen und Einwanderungswilligen wurde auf der anderen Seite die Diskussion um die Beschränkung oder Abschaffung des grundgesetzlichen Asylrechts hoffähig. Von Seiten der Bundesregierung wurden der wachsende Zustrom von Asylbewerbern sowie die fremdenfeindlichen Anschläge 1990/91 zu einer öffentlichen Kampagne gegen Art. 16 GG genutzt, der die SPD als wichtigste Oppositionspartei nicht widerstehen konnte. Die Entscheidungsvorbereitung erfolgte ausschließlich auf höchster parteipolitischer Ebene; mit der Aussicht auf Reformen auch in anderen Bereichen der Migrationspolitik stimmte die SPD einer Verfassungsänderung im Rahmen eines Kompromisses mit der Bundesregierung zu. Doch die in Politik, Wissenschaft und Publizistik gehegten Hoffnungen auf Reformen erfüllten sich nicht. Die Migrationspolitik der Bundesregierung nach dem »Asylkompromiss« blieb weithin passiv. Kleinere Änderungen an bestehenden asyl- und ausländerrechtlichen Vorschriften kamen erst im Vermittlungsverfahren zu Stande. Das Einigungsgremium zwischen Bundestag und Bundesrat ermöglichte ferner umfassende package deals, die z.T. unkonventionelle Lösungen enthielten und über den einfachen Gesetzgebungsweg wohl nicht zu erreichen gewesen wären. Die nachhaltigen Veränderungen im Asylrecht Ende 1992 konnten hingegen nur durch ein dem Gesetzgebungsprozess vorgelagertes, parteipolitisches Kompromissverfahren erreicht werden, dessen »deklamatorisches Nebenprodukt« ein Programm zur Migrationssteuerung war und das nachhaltige Neuregelungen in der Zuwanderungspolitik – etwa ein »Zuwanderungs- und Integrationsgesetz« – vorerst obsolet erscheinen ließ. 2.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99) In diesem Kapitel wird zunächst das zentrale innenpolitische Projekt der rot-grünen Koalition, die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, in ihrem Zustandekommen nachgezeichnet und nach weiteren programmatischen Veränderungen im Politikfeld Migration gefragt. Darüber hinaus wird die Ankündigung einer so genannten Greencard als Initialzündung für die im Frühjahr 2000 einsetzende breite Debatte über Zuwanderung rekapituliert und der Rahmendiskurs des demografischen Wandels in Erinnerung gerufen.
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
2.4.1 Ius soli light: Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Parteienwettbewerb In der letzten großen Bundestagsdebatte zur Integrationspolitik der 13. Wahlperiode hatte die Abgeordnete Cornelie Sonntag-Wolgast mit Blick auf die vergeblichen Vorstöße im Staatsangehörigkeitsgesetz angekündigt, die SPD werde nach der Bundestagswahl vom 27. September unverzüglich wieder ans Werk gehen. Dann brauchen wir auch keine Kompromisse und Abweichler mehr, dann werden wir mit neuen Mehrheiten eine zeitgemäße Reform des Staatsangehörigkeitsrechts schaffen, […] Das werden wir sehr schnell tun.216
In den Koalitionsvereinbarungen nach der Bundestagswahl war folgerichtig als zentrales innenpolitisches Projekt die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts vorgesehen.217 Durch die Mehrheit reformorientierter Bundesländer im Bundesrat rechnete man damit, das Vorhaben ohne große Widerstände umzusetzen. Innenminister Schily legte am 13. Januar 1999 einen entsprechenden Arbeitsentwurf vor.218 Im Zuge des hessischen Wahlkampfes erhob die CDU die Frage des darin vorgesehenen »Doppelpasses« zu einem wahrhaften Politikum und lancierte eine Unterschriftenkampagne »Ja zur Integration – nein zur doppelten Staatsbürgerschaft«, an der sich fünf Millionen Bürger beteiligten.219 Nach dem unerwarteten Wahlsieg von CDU und FDP bei der Landtagswahl in Hessen im Februar 1999 war der Bundesrat mit neuen Stimmenverhältnissen versehen und eine Veto-Position der CDU/CSU dadurch gegeben, dass bei Enthaltung von Ländern mit Unionsbeteiligung ein Gesetz die Länderkammer nicht passieren konnte. Da die FDP die Reform im Grundsatz unterstützte (vgl. Kap. 2.3.4.3), fand ihr Vorschlag eines »Optionsmodells« als Kompromiss Eingang in den von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gemeinsam eingebrachten Gesetzentwurf, der zwischen März und Mai 1999 parlamentarisch beraten und von Bundestag und Bundesrat mehrheitlich beschlossen wurde.220
216
BT-Pl.Pr. 13/225 vom 27. März 1998: 20629B. Dabei sollte für in Deutschland geborene Kinder von Ausländern das ius soli eingeführt werden und die Einbürgerung von Kindern und Erwachsenen erleichtert werden. In beiden Fällen sollte »der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit nicht von der Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit abhängig« sein (Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998, s. Fn. 57: 38). 218 vgl. Dokumentation in FR vom 14. Januar 1999: 17. 219 vgl. SZ vom 21. Mai 1999: 7; Wollenschläger 1999: 256. Es war allerdings nicht nur die CDU in Hessen, die bundesweit öffentlich mobilisierte. Zu seiner bundespolitischen Profilierung als »Speerspitze der Opposition« hatte der bayerische Ministerpräsident und CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber gar für eine Volksbefragung zur doppelten Staatsbürgerschaft plädiert, sich damit aber weder innerparteilich noch gegenüber der CDU durchsetzen können (vgl. Kießling 2004: 299f.). Bei der Unterschriftenaktion zeigte sich die CSU mit 1,8 Millionen gesammelten Unterschriften deswegen nicht minder eifrig und »schleppt[e] 109 Säcke nach Bonn« (SZ vom 11. Mai 1999: L8). 220 vgl. BT-Drs. 14/533 vom 16. März 1999; BT-Pl.Pr. 14/28 vom 19. März 1999: 2281A-2319A; BT-Drs. 14/867 vom 29. April 1999; BT-Pl.Pr. 14/40 vom 7. Mai 1999: 3415A-3478A; BR-Sten.Ber. 738 vom 21. Mai 1999: 181D-214C; BR.-Drs. 296/99 (Beschluß) vom 21. Mai 1999; BGBl. I 1999: 1618ff.; zum Verlauf der informellen Verhandlungen im Gesetzgebungsprozess vgl. Saathoff und Taneja (1999); Busch (2003: 308ff.). 217
2.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99)
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Das neue Staatsangehörigkeitsrecht Die wichtigste Neuerung221 des Gesetzes besagte, dass in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern neben deren Staatsangehörigkeit automatisch auch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten (ius soli) – vorausgesetzt, ein Elternteil lebt seit mindestens acht Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik und verfügt über eine Aufenthaltsberechtigung bzw. seit mindestes drei Jahren über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis (§ 4 StAG). Auch ausländische Kinder, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes am 1. Januar 2000 noch keine zehn Jahre alt waren, sollten bei Antragstellung innerhalb eines Jahres den deutschen Pass erhalten (§ 40b StAG). Die Optionspflicht legte jedoch Kindern, die durch diese Regelung Inhaber von zwei Pässen wurden, eine Entscheidung für eine der beiden Staatsangehörigkeiten spätestens einen Tag vor ihrem 23. Geburtstag auf, was von Kritikern als unpraktikabel und verfassungsrechtlich bedenklich bewertet wurde (§ 29 StAG).222 Die herausragende Neuerung bei den Anspruchseinbürgerungen von Erwachsenen mit Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung bestand in der Herabsetzung der Mindestaufenthaltsdauer von 15 auf acht Jahre. Daneben sollte Mehrstaatigkeit jedoch auch in diesen Fällen vermieden werden, weshalb regelmäßig die Staatsbürgerschaft des Herkunftslandes aufzugeben war (vgl. §§ 85-87 AuslG). Bei der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts als einer zentralen migrationspolitischen Entscheidung wurde erneut deutlich, wie stark die Politik der Bundesregierung von den Mehrheitsverhältnissen in der Länderkammer abhängig und damit parteipolitischen Verhandlungszwängen unterworfen ist. Die Koalition musste zentrale Inhalte ihrer Politik preisgeben und die Einführung des Geburtsrechts (ius soli) durch die Optionspflicht für junge Erwachsene einschränken. Die FDP erreichte als »Zünglein an der Waage« große Einfluss- und Vermittlungsmacht. In den nur von Innenminister Schily und SPD-Vertretern geführten Verhandlungen (vgl. Egle & Henkes 2003: 80) ging es den Liberalen jedoch nicht primär um sachgerechte Lösungen, sondern um die öffentliche Wirkung. Als »Funktionspartei« mit beiden großen Parteien grundsätzlich koalitionsfähig (vgl. Vorländer 2004: 160f.) war die FDP zum Zeitpunkt der Gesetzesberatungen in Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz an der jeweiligen Landesregierung beteiligt. Erst im Juli 2000 hatten die FDP-Stimmen aus Rheinland-Pfalz der Bundesregierung die Mehrheit zu ihrer Steuerreform im Bundesrat gesichert und führende Parteivertreter die Rolle der FDP als unabhängig zwischen den beiden Volksparteien bekräftigt.223 Bei Enthaltung oder Ablehnung dieser Länder in der Bundesratsabstimmung hätte das Gesetz keine Mehrheit erlangt und die rotgrüne Koalition war von Beginn des Gesetzgebungsverfahrens an auf die Stimmen des Landes Rheinland-Pfalz angewiesen. 221 vgl. zur Diskussion der Inhalte des Staatsangehörigkeitsgesetzes Dickel (2002: 325ff.), Renner (1999, 2000), Santel und Weber (2000), Saathoff und Taneja (1999), Dornis (2002). 222 vgl. zur hoch kontroversen Debatte um das »Optionsmodell« die geäußerten Positionen im Rahmen der öffentlichen Anhörung von Sachverständigen im BT-Innenausschuss, die zwar Mängel und zu erwartende Probleme beinhalteten, aber mehrheitlich von der Verfassungskonformität ausgingen (Protokoll der 12. Sitzung des Innenausschusses vom 13. April 1999). Ende 2007 kam die Frage der Optionspflicht in Anbetracht erster Problemfälle (vgl. dazu MuB 1/2008: 1f.) als gesonderter Punkt auf die Tagesordnung einer Sachverständigenanhörung des Bundestags-Innenausschusses zum Staatsangehörigkeitsrecht, ohne dass daraus rechtliche Konsequenzen gezogen wurden (vgl. Protokoll der 54. Sitzung des Innenausschusses vom 10. Dezember 2007). 223 vgl. die Aussagen des Vorsitzenden Wolfgang Gerhardt und des stellvertretenden Vorsitzenden Rainer Brüderle in der FAZamSo vom 23. Juli 2000: 1, 5. Generalsekretär Guido Westerwelle führte aus, der FDP-Gesetzentwurf sei »zu 100 Prozent in diesem Gruppenantrag enthalten.« (BT-Pl.Pr. 14/28 vom 19. März 1999: 2293A/B)
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
2.4.2 Unter ferner liefen…: Migrationspolitik rot-grün Neben der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts hatte die Koalitionsvereinbarung lediglich kleinere migrationspolitisch relevante Vorhaben enthalten: Neben der Ankündigung einer Altfallregelung für lange Geduldete und einer »Überprüfung« des Flughafenverfahrens im Asylrecht beabsichtigten Rot-Grün die Novellierung des eigenständigen Aufenthaltsrechts ausländischer Ehegatten.224 Überhaupt hatten bei Amtsantritt der Regierungskoalition 1998 weniger innen- und rechtspolitische Themen als vielmehr Reformen im Bereich der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik im Zentrum der politischen Programmatik gestanden (vgl. Busch 2003: 305). Obwohl vor 1998 nicht nur die Grünen, sondern auch die SPD als Oppositionsfraktion unter maßgeblicher Beteiligung des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Otto Schily die damalige Bundesregierung zur Vorlage eines »Gesetzes zur Steuerung der Zuwanderung und Förderung der Integration« aufgefordert und ein solches Gesetz bereits inhaltlich ausgestaltet hatten (vgl. Fn. 296), war dessen Umsetzung nach der Regierungsübernahme zunächst nicht vorgesehen. Im Gegenteil: Bereits während der zähen Koalitionsverhandlungen zur gemeinsamen rot-grünen Innenpolitik erklärte selbst die designierte Justizministerin Herta Däubler-Gmelin die Absage an ein Zuwanderungsgesetz damit, dass in der gegenwärtigen Situation neue Zuwanderung nicht verantwortbar sei.225 Und nur einen Monat später gab jener – jetzt Innenminister – Otto Schily sein viel zitiertes, später durch ergänzende Erläuterungen leicht entschärftes HardlinerStatement zur Einwanderungssituation in Deutschland ab: Selbst wenn wir heute ein Zuwanderungsgesetz hätten, müßte eine Zuwanderungskommission die Zuwanderungsquote auf Null setzen. Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten.226
Über diese »Kehrtwende in der SPD-Politik« (Wollenschläger 1999: 255) zu einem »doktrinären Konservativismus« in innenpolitischen Fragen227 ließ sich mutmaßen, die Bundesregierung sei möglicherweise davon ausgegangen, sich den politischen Freiraum für die Novellierung des Staatsangehörigkeitsrechts nur verschaffen zu können, indem sie »in Sachen Migration zahlreiche Topoi der ›Belastung durch Zuwanderung‹ aufrief« (Bade & Bommes 2000: 164) und ein umfassendes Migrationsgesetz von der Agenda verbannte, ja mehr noch: Weitere Zuwanderung gänzlich ablehnte.228 Der liberale Vorstoß im Staatsangehörigkeitsrecht musste also mit restriktiver Rhetorik in einem verwandten Politikfeld (der Zuwanderung) einhergehen. Die Verbannung eines Einwanderungsgesetzes von der SPDAgenda muss vor dem Hintergrund der breiten Skepsis sozialdemokratischer Kernwählerschichten und der Parteibasis gegenüber wertorientierten, liberalen Reformen in der Innenpolitik gesehen werden (vgl. Egle & Henkes 2003: 79f.; Interview Sonntag-Wolgast: 78, 224 Diese Regelung wurde gemäß Koalitionsvertrag durch Änderung des § 19 AuslG umgesetzt (vgl. BT-Drs. 14/2368 vom 14. Dezember 1999; BGBl. I 2000: 742ff.; vgl. dazu ZAR 3/2000: 102). 225 vgl. SZ vom 15. Oktober 1998: 1. 226 Der Tagesspiegel vom 15. November 1998: 4; zur kontroversen Debatte vgl. MuB 1/1999: 1. 227 Heribert Prantl, SZ vom 15. Oktober 2000: 4. 228 Die Analyse der Parlamentsdebatten seit der Regierungsübernahme zeigt, dass ein umfassendes Zuwanderungsgesetz durchaus weiter auf der Agenda stand; vgl. Ausländerbeauftragten Marieluise Beck (BT-Pl.Pr. 14/11 vom 3. Dezember 1998: 612B); MdB Michael Bürsch (SPD; ebd.: 608B); PSt’in Cornelie Sonntag-Wolgast (ebd.: 614D/615A): »Wir stoßen die Tür zu einem zukünftigen Gesetz mit quotierter Zuwanderung nicht zu; aber wir lassen sie bis auf weiteres angelehnt.« (BT-Drs. 14/53 vom 9. September 1999: 4615A)
2.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99)
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80). So sprachen sich z.B. im Vorfeld der Landtagswahl in Hessen weniger als ein Drittel der hessischen SPD-Anhänger für das rot-grüne Konzept zur doppelten Staatsbürgerschaft auf Bundesebene aus (vgl. Hofrichter & Westle 2000: 164f.).
2.4.3 CEBIT 2000: Einwanderungsdebatte über Nacht Somit stand die Idee einer umfassenden gesetzlichen Regelung auf Seiten der Regierung nicht zur Debatte, denn das u.a. durch die Unterschriftenkampagne der CDU erlittene »Trauma der Hessen-Niederlage« unterdrückte ein initiatives Agendasetting und beförderte eine Politik des Reagierens auf Themen mit Konjunktur. Dies illustriert nicht zuletzt der Kontrast zwischen Bundeskanzler Schröders erneuerter ausdrücklicher Absage an ein Einwanderungsgesetz noch im Frühjahr 2000 und seiner auf der weltweit größten Computermesse CEBIT in Hannover spontan vorgetragenen Idee der Anwerbung ausländischer ITSpezialisten,229 die unmittelbar in eine breite Einwanderungsdebatte mündete.
Der Zufall der Greencard ... Dabei kam die Einführung dieser so genannten Greencard (die ganz im Gegensatz zu seiner amerikanischen Namensgeberin nur eine befristete Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis vorsah) entgegen der weit verbreiteten Wahrnehmung keineswegs isoliert und als fixe Idee zu Stande. Politische Maßnahmen zur Unterstützung der IT-Wirtschaft waren bereits früher erwogen worden: Beim »Take-Off« in die Informationsgesellschaft Ende der 1990er Jahre lief Deutschland – ähnlich wie andere europäischen Staaten – Gefahr, durch mangelnde Ausschöpfung des Marktpotenzials von Informations- und Kommunikationstechnologien auf ein zusätzliches Wirtschaftswachstum zu verzichten. Sowohl die Wissenschaft als auch die Arbeitgeber der Informationstechnologie (führend der Branchenverband BITKOM)230 gingen von einem deutlichen Bedarf an zugewanderten Spezialisten aus (vgl. Greifenstein 2001; Welsch 2001). Daneben hatte bereits 1999 eine Arbeitsgruppe innerhalb des Bündnisses für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit mit der Ausarbeitung eines Maßnahmenpakets in Aus- und Weiterbildung auf den diagnostizierten Fachkräftebedarf reagiert (vgl. ebd., Welsch 2000). Federführend bei diesen Überlegungen war dabei neben dem Arbeits- auch das Bildungs- und Forschungsministerium, dessen Chefin Edelgard Buhlman just am Tage der CEBIT-Eröffnung in der Kabinettssitzung über die Anwerbung von Spitzenkräften referiert, und damit das Bundeskanzleramt zur Lancierung der Idee noch am selben Tag motiviert hatte.231 Somit war lediglich der Moment der Präsentation kurzfristig 229
Schröder soll in einer Fraktionssitzung von der Einwanderung als einem »Loser-Thema« und einer »Falle der Union« gesprochen haben (Der Spiegel Nr. 24 vom 12. Juni 2000: 22). Bei seiner Eröffnungsrede am 23.2.2000 ergänzte Schröder das offizielle Redemanuskript u.a. um die Bemerkung, es sei »notwendig, kurzfristig ausländische IT-Spitzenfachkräfte, [er denke] vor allem an Fachkräfte aus Indien und Osteuropa, nach Deutschland zu holen« (www.bundesregierung.de/dokumente/Pressemitteilung/ix_12957.htm, 14.04.2005). 230 Daneben traten auch einzelne Unternehmen und Lobbygruppen aus der Branche in Erscheinung wie z.B. die »Initiative D21«. Die »Initiative D21« gilt als Deutschlands größte Kooperation zwischen Politik und Wirtschaft; etwa 400 Vertreter von Parteien, Unternehmen und Vereinen arbeiten darin mit der Zielsetzung zusammen, einen schnellen und erfolgreichen Wandel zur Informations- und Wissensgesellschaft zu erreichen und Deutschland international wettbewerbsfähiger zu machen (vgl. Kolb 2005a). 231 vgl. Die Welt vom 25. Mai 2000.
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
gewählt – dafür umso stärker unter Beachtung der Prämissen symbolischer, darstellender Politik (vgl. Kolb 2003, 2005; allg. Korte & Hirscher 2000). Die Umsetzung der Greencard erfolgte mittels zweier Verordnungen,232 auf die sich Bundesregierung und IT-Wirtschaft im »Sofortprogramm zur Deckung des IT-Fachkräftebedarfs« einigten. Bis August 2003 sollten maximal 20.000 auf fünf Jahre befristete Arbeitserlaubnisse für IT-Spezialisten erteilt werden; zunächst 10.000 und auf der Grundlage einer Zwischenbilanz und bei fortbestehendem Bedarf weitere 10.000.233 Die Greencards waren beschränkt auf Universitäts- bzw. Fachhochschulabsolventen oder Kandidaten mit nachgewiesener Berufserfahrung und mit der arbeitsvertraglichen Zusicherung eines Jahresgehalts von mindestens 100.000 DM (später 51.000 Euro). In der gesetzlichen Formulierung »zur Deckung eines aktuellen, vorübergehenden Bedarfs an hoch qualifizierten Fachkräften« der Informations- und Kommunikationstechnologie234 wurde unmittelbar die Absicht deutlich, der zuvor formulierten Kritik durch die Gewerkschaften an der Greencard zu begegnen.235 Ohne diese Differenzierung hätte die Maßnahme lediglich eine weitere »Anwerbestoppausnahmeverordnung« bedeutet. Alles in allem wurde die Regelung verhalten positiv aufgenommen und führte zu einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema Zuwanderung und Integration, was nicht zuletzt die Initiative für eine bayerische, später auf Hessen und andere Bundesländer übertragene »Blue Card« bewies, die eine Anwerbung von Ausländern in verschiedenen »Mangelberufen« auf eine bereits bestehende rechtliche Basis stellte236 und durch vereinfachte Verwaltungsverfahren größere Flexibilität versprach, deren materieller Inhalt aber der bundeseinheitlichen Regelung weitgehend glich. Sowohl der Bund als auch die »oppositionellen« Bundesländer dokumentierten mit der Anwerbung in Mangelberufen das Eingeständnis einer bis dahin leidlich akzeptierten Tatsache: Die Bundesrepublik war auf Einwanderung angewiesen. Aus der Not lautstarker Forderungen der Arbeitgeber nach Verbesserungen beim Arbeitskräfteangebot im Computerbereich und der Unmöglichkeit, diesem Mangel allein durch Aus- und Weiterbildung zeitnah zu begegnen war die tugendhafte Idee der Forcierung spezialisierter Zuwanderung geboren. Vom Bundeskanzler zu einem passenden Anlass öffentlichkeitswirksam und eingebettet in ein Gesamtkonzept zur Förderung der Aus- und Weiterbildung im IT-Sektor vorgetragen, ermöglichte sie der Bundesregierung die Darstellung von Handlungskompetenz in den Bereichen Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Die mittelbaren Folgen für das Politikfeld Migration waren zwar zunächst nicht absehbar, allerdings leitete die Initiative eine positiv besetzte Diskussion um Zuwanderung ein und eröffnete für die Regierungspolitik neue Handlungsspielräume, aber auch -zwänge (vgl. Ette 2003). 232 Verordnung über die Arbeitsgenehmigung für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IT-ArGV) vom 11. Juli 2000, BGBl. I 2000: 1146f. und Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hoch qualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IT-AV) vom 25. Juli 2000, BGBl. I 2000: 1176. 233 Die Maßnahme wurde im Frühjahr 2003 aufgrund des zwischenzeitlichen Scheiterns des ersten Zuwanderungsgesetzes nochmals um ein Jahr verlängert, um dann von den neuen Regelungen des AufenthG bzw. der Beschäftigungsverordnung (vgl. BGBl. I 2004: 2937ff.; hier: § 27, Nr. 1) aufgefangen zu werden. 234 § 1, IT-ArGV (Herv.d.Verf.). 235 vgl. etwa die Kritik der stellvertretenden DBG-Vorsitzenden Ursula Engelen-Kefer an der Greencard als einer allenfalls kurzfristigen Lösung des Fachkräftemangels, verbunden mit der Forderung nach vermehrten Aus- und Weiterbildungsinitiativen (FR vom 9. Februar 2000); trotz allgemeiner Kritik durch die Gewerkschaften nahm dagegen DGB-Chef Dieter Schulte »eine halbwegs neutrale Position« ein (FTD vom 7. März 2000). 236 Nämlich § 5 Abs. 2 der Arbeitsaufenthaltsverordnung (AAV).
2.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? (1998/99)
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... und die Macht der demografischen Frage Die beginnende Debatte um die Zukunft der Einwanderung nach Deutschland speiste sich noch aus einer weiteren Quelle: der demografischen Alterung und den damit verbundenen, Risiken für die sozialen Sicherungssysteme. In ihrem Manifest zur Migration (vgl. Kap. 2.3.4.3) hatten 1994 zahlreiche Wissenschaftler das Demografie-Problem explizit im Zusammenhang mit Zuwanderung diskutiert und prägnant formuliert: Die Deutsche Bevölkerung wird nicht aussterben, aber der Zahl nach kleiner und im Durchschnitt älter werden. Dieser Prozeß […] kann durch Zuwanderung nicht gestoppt, aber in seinen Folgen unter bestimmten Bedingungen balanciert werden. (Bade 1994: 30)
Die bereits 1992 eingesetzte Enquete-Kommission »Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik« sprach in einem Zwischenbericht Einwanderung explizit als Remedur für Bevölkerungsrückgang an: Unterstellt, daß zukünftig kein grundlegend verändertes generatives Verhalten in Deutschland auftritt […], bedeutet dies, daß Deutschland […] auf millionenfache Zuwanderung angewiesen sein wird. […] Die institutionelle Verantwortung für diese Option liegt beim Gesetzgeber, der über entsprechende Regelungen auch die gesellschaftliche Akzeptanz steuern kann. 237
Auch nach der baldigen Wiedereinsetzung der Enquete im neu konstituierten Bundestag kam es zu keinem Abschluss des als hoch komplex erachteten Themas. In einem weiteren umfangreichen Zwischenbericht zum Ende der 13. Wahlperiode wurde im Bereich der Bevölkerungsprognosen erneut deutlich auf den Faktor Zuwanderung und Integration aufmerksam gemacht, auch wenn gezielte Einwanderungspolitik und ein Zuwanderungsgesetz nicht empfohlen wurden.238 Die Stellungnahmen der Wissenschaft sprachen hingegen eine deutlichere Sprache: Der 1998 begründete Rat für Migration erläuterte in seinen Empfehlungen unmissverständlich einen absehbaren Zuwanderungsbedarf aus demografischer Sicht.239 Mit der Errechnung eines hypothetischen Wanderungssaldos, der nötig wäre um die Bevölkerungszahl konstant zu halten, verdeutlichte der Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg (1999) das Ausmaß der mittel- und langfristig zu erwartenden Wandlungsprozesse. Daneben schärfte die intensive Debatte um den »demografischen Faktor« in der Rentenversicherung zu Beginn der Legislaturperiode das Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit für die sozialstaatlichen Risiken durch den Bevölkerungsschwund zusätzlich. Der Zusammenhang einer Abmilderung des Geburtendefizits durch Einwanderung erlangte im Zuge der Greencard-Einführung verstärkt Eingang in die tagesaktuelle politische Debatte. Dabei schien sich die Option geregelter, »utilitaristischer« Zuwanderung aus wirtschaftlichen und demografischen Gründen Partei übergreifend als eine – vielleicht die einzige – gemeinsame Legitimationsfigur für die Regelung von Migration zu eignen. Die FDP 237 Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Demographischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den einzelnen und die Politik«, BT-Drs. 12/7876 vom 14. Juni 1994: 32, 122. 238 vgl. BT-Drs. 13/11460 vom 5. Oktober 1998; insb. S. 53-86, 380-452. In der 13. Wahlperiode wurde die Enquete-Kommission erneut eingesetzt (vgl. BT-Drs. 14/2354 vom 14. Dezember 1999), wobei sich sowohl CDU/CSU als auch SPD gegen eine explizite Befassung mit dem Thema Zuwanderungsgesetz aussprachen (vgl. Altenhof 2002: 117). In ihrem Abschlussbericht empfahl die Kommission mehrheitlich das »Angebot einer geregelten Zuwanderung« (vgl. BT-Drs. 14/8800 vom 28. März 2002: 107-142, insb. 133ff.). 239 vgl. Dokumentation in FR vom 16. Oktober 1998: 20; Rat für Migration (1999); der Rat für Migration blieb nicht ohne deutlichen Einfluss auf die Politik: Die FDP bezog sich in ihrem Entwurf für ein Zuwanderungsregelungsgesetz explizit auf seine Empfehlungen (vgl. BT-Drs. 14/3679 vom 27. Juni 2000: 8).
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
bezog sich bereits in der Begründung ihres Entwurfs für ein Zuwanderungsgesetz 1998 darauf240 und in den Debatten des Bundestages zu migrationspolitischen Themen tauchte sie besonders seit Beginn der 14. Wahlperiode immer wieder auf – auch bei Rednern von SPD und CDU/CSU.241
2.4.4 Einwanderungspolitik als Regierungspolitik? Zusammenfassung Der Amtsantritt der ersten rot-grünen Bundesregierung bildete nur für einen kleinen Teil der Migrationspolitik eine echte, akute Reformperspektive: das Staatsangehörigkeitsrecht. Während die erleichterte Einbürgerung für Zugewanderte und die Einführung des Territorialprinzips bei den Regierungsparteien die zumindest partielle Umsetzung langjähriger politischer Ambitionen bedeuteten, entsprach die Regelung der Zuwanderung keiner dezidierten Programmatik für die Regierungstätigkeit. Die designierten Minister der SPD für Inneres und Recht opponierten bereits im Rahmen der Koalitionsverhandlungen öffentlich strikt gegen ein Zuwanderungsgesetz. Auf der Darstellungsebene der Politik wurde dem Thema Staatsangehörigkeit der Vorzug gegeben, auch weil es hier Anknüpfungspunkte zu Teilen der CDU gab. Doch der unerwartete Erfolg der populistischen CDU-UnterschriftenKampagne »gegen den Doppelpass« und der damit verbundene Wahlsieg in Hessen (vgl. Hofrichter & Westle 2000) führte zu ungünstigen Mehrheitsverhältnissen im Bundesrat und verhinderte die Durchsetzung der Regierungspolitik. Anders als bei zahlreichen migrationspolitischen Gesetzesvorhaben der Vergangenheit wurde eine Einigung auf ein Kompromissgesetz im Vorfeld der abschließenden Beratungen im Bundestag – und nicht im Vermittlungsausschuss – gefunden. Die Genese der Migrationsdebatte koinzidierte mit der unerwartet positiven Rezeption einer eher spontan und sektoral geäußerten Initiative zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte und führte bei der Bundesregierung zu reaktiver Agendaformulierung. Der »Glücksgriff des Kanzlers« schuf die diskursive Grundlage für eine nachhaltige Zuwanderungsdebatte. War die Idee zur Anwerbung von hoch qualifizierten IT-Kräften die auslösende Injektion für eine neue Einwanderungsdebatte, so bedeutete die demografische Frage gewissermaßen ihre subkutan angestaute, nährende Gewebsflüssigkeit. Spätestens als der damalige Bundespräsident Johannes Rau in seiner viel beachteten Berliner Rede242 auch den passenden gesellschaftspolitischen Nährboden bereitete, war der Weg zum Agendasetting in der Zuwanderungsfrage für alle politischen Akteure gangbar. 2.5 Beschränkt beratungsfähig – Willensbildung und Entscheidung in der deutschen Migrationspolitik (Zwischenfazit) 2.5 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit) In diesem Kapitel konnte gezeigt werden, dass die Beratung der Migrationspolitik in der Bundesrepublik sehr unterschiedliche Willensbildungs- und Entscheidungsmodi bzw. -loci 240
vgl. BT-Drs. 14/48 vom 18. November 1998: 13. vgl. etwa BT-Pl.Pr’le. 14/11 vom 3. Dezember 1998: 604C-624C, passim; 14/53 vom 9. September 1999: 4607C-4615B, passim; 14/93 vom 16. März 2000: 8600B/C; 14/99 vom 13. April 2000: 9247D-9250B; 14/133 vom 16. November 2000: 12803D, 12807A/B; 14/173 vom 31. Mai 2001: 16978A-16995D, passim. 242 »Ohne Angst und Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben«, Berliner Rede des Bundespräsidenten am 12. Mai 2000 im Haus der Kulturen der Welt, dokumentiert in ZAR 4/2000: 147-152. 241
2.5 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit)
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umfasst. Einerseits haben sich diese mit der Zeit verändert, andererseits sind sie teilweise sehr spezifisch von dem zu regelnden Teilbereich der Policy abhängig. Nur sehr bedingt kann dabei von demokratisch-pluralistischer Politikberatung unter Berücksichtigung wissenschaftlicher Expertise gesprochen werden. Vielmehr überwiegen parteipolitisch und föderal bedingte Verhandlungsprozesse und hierarchisch-exekutive Steuerungsversuche, gelegentlich ergänzt um sektoral-korporatistische Mitwirkung durch Kirchen und Sozialverbände. Die eingangs aufgeworfenen Fragenkomplexe (vgl. Kap. 2.1) lassen sich zusammenfassend folgendermaßen beantworten:
1. Modalitäten der Policy-Beratung Die Willensbildungs-, Beratungs- und Entscheidungsprozesse in der deutschen Migrationspolitik lassen kein einfaches Muster erkennen. Die Formulierung praktischer Ausländerund Asylpolitik folgte aufgrund der weitreichenden Zuständigkeit der Länder in hohem Maße föderalen Verhandlungslogiken. Als institutionelle Akteure verfügten die Innenministerialbürokratien von Bund und Ländern über starke Entscheidungsmacht. Der Bundesinnenminister als zentraler Akteur innerhalb der Bundesregierung war dabei auf die Kooperation mit den Länderregierungen angewiesen. Als Clearing-Stelle fungierte die Ständige Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder (IMK), die mit ihren unter starkem Kompromisszwang stehenden Beschlüssen insbesondere die Politikformulierung unterhalb parlamentarischer Gesetzgebungsprozesse maßgeblich prägte. Im Bereich der »Gastarbeiter«-Anwerbepolitik bildete sich zwischen Bundesregierung, der Ministerialbürokratie in Bund und Ländern, Arbeitsverwaltung, Arbeitgebern und Gewerkschaften zeitweise ein Politiknetzwerk heraus, das in Anlehnung an die für die USA beschriebenen, entscheidungsmächtigen iron triangles (vgl. Jordan 1981; Jordan & Schubert 1992) als »migrationspolitisches Pentagon« bezeichnet werden könnte. Erst als Ende der 1970er Jahre die Anzahl der Asylsuchenden anstieg und Fragen der Staatsangehörigkeit und der Integration stärker in die öffentliche Wahrnehmung rückten, setzte auch ein deutlicher Parteienwettbewerb ein. Migrationspolitik wurde Gegenstand parlamentarischer Debatten und mithin parteipolitisch und wahltaktisch geprägter Auseinandersetzungen. In signifikantem Maße wurde die »oppositionelle« Länderkammer zum Vetospieler gegenüber den Mehrheitsbeschlüssen des Bundestags. Die Folge waren Verhandlungsarrangements im vorparlamentarischen Raum bzw. im Vermittlungsverfahren von Bundestag und Bundesrat. In Zuge der Politisierung kam es immer weniger zu Versuchen rationaler Konsensfindung, wie sie allgemein als typisch für die Policy-Beratungen in vielen Politikfeldern der Bundesrepublik dargestellt wurden (vgl. Dyson 1982). Keineswegs wurden bei der Politikformulierung und Entscheidungsfindung ausschließlich die vorgezeichneten Wege der Gesetzgebung genutzt. Im vor- und paraparlamentarischen Raum der Innenministerialbürokratien waren informal-komplementäre Gremien weit verbreitet. Die Retrospektive verdeutlicht, dass plural besetzte Kommissionen zur Beratung, Formulierung und Koordination von Migrationspolitik auf Bundesebene bereits seit Anfang der 1970er Jahre ein Kontinuum darstellen und sich in den 1980er Jahren zu einem Merkmal der Asyl- und Ausländerpolitik der bürgerlich-liberalen Koalition
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
entwickelten.243 Kennzeichend dieser von der jeweiligen Bundesregierung initiierten Kommissionen war es, dass sie kaum »gesellschaftliche« Akteure in ihre Beratungen einbezogen und weitgehend außerhalb der Öffentlichkeit agierten. Meist waren sie als Ausdruck »geschlossenen« und eher hierarchisch ausgerichteten Regierens auf den exekutivadministrativen Raum beschränkt. Hier dienten sie der Kompromiss- bzw. Konsensfindung innerhalb des föderal-subsidiären Mehrebenensystems, also zwischen Bund und Ländern oder sogar zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sowie der innerkoalitionären Koordination. Diese Form der Politikformulierung »hinter verschlossenen Türen« ist von KarlHeinz Meier-Braun als quasi-Regelfall gedeutet worden (Meier-Braun 1981: 102).
2. Politiksteuerung und Mehrheitsmanagement Die parteipolitischen Mehrheitsverhältnisse zwischen Bundestag und Bundesrat hatten bisweilen deutlichen Einfluss auf die »Wahl der Mittel« zur Durchsetzung von Regierungspolitik. Die zahlreichen Kabinettsbeschlüsse zur Ausländer- und Integrationspolitik konnten über die Jahre nur sehr bedingt Wirkung entfalten. Da bei so gut wie allen gesetzlichen Vorhaben in der Ausländer- und Asylpolitik Zustimmungspflicht im Sinne konkurrierender Gesetzgebung besteht, ist die Bundesregierung auf die Kooperation mit der Mehrheit der Bundesländer angewiesen. Bei unterschiedlichen parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat werden Konsens- und Kompromissfindungsversuche über drei Wege getätigt. Wenn innerhalb des Gesetzesentwurfs Verhandlungsspielräume bestehen oder andere, parallel beratene strittige Gesetzgebungsvorhaben »Abtauschoptionen« ermöglichen, wird nicht selten das Vermittlungsverfahren bemüht: Bundesregierung und Regierungsfraktionen beschließen das Gesetz gegen die Widerstände der Bundestagsopposition, die »Oppositionsländer« verweigern im Bundesrat ihre Zustimmung und der Vermittlungsausschuss tritt auf den Plan. Als Beispiele für dieses Muster sind etwa die Asylverfahrensgesetze von 1982 bzw. 1996/97 zu nennen (vgl. Kap. 2.3.3.3; 2.3.4.3). Bei weitreichenden Gesetzesmaßnahmen, über die vorab ein Grundkonsens zwischen den Exekutiven von Bund und Ländern hergestellt werden soll, sind dagegen häufig Bund-Länder-Kommissionen einberufen worden. Sie kamen jedoch kaum zu einvernehmlichen Ergebnissen. Einer ihrer zentralen Zwecke ist somit darin zu sehen, bestehende Dissenspunkte lediglich zu benennen und durch die Klärung der Positionen Verhandlungsgrundlagen für spätere Einigungsprozesse aufzuzeigen. Hier lässt sich die Kommission »Asylwesen« 1980/81 als mustergültiges Beispiel anführen (vgl. Kap. 2.3.3.2). 243 Insofern ist die Darstellung Krauses nicht haltbar, wonach die Süssmuth-Kommission nach der (von der Autorin so genannten) »Kühn-Kommission« zur Ausarbeitung des Memorandums Integration erst die zweite Regierungskommission gewesen sei, die sich mit Zuwanderung beschäftigt habe (vgl. Krause 2004: 278). Darüber hinaus scheint ihre Bezeichnung der Arbeitsgruppe des Beauftragten als »Regierungskommission« äußerst fragwürdig: Die Urheberschaft des Papiers geht auf kein Kollegialgremium zurück; vielmehr wurde es im Namen Kühns publiziert (vgl. Kühn 1979: 4f.). Sein Arbeitsstab umfasste damals nur zwei Mitarbeiter. De facto wurde das Memorandum hauptsächlich von Kühns engagiertem Referenten, seinem »Chefdenker Karlfriedrich Eckstein« (Bade 2007: 34), unter Konsultation der staatlichen Stellen, Wohlfahrtsverbände, gesellschaftlichen Gruppen, Ausländerorganisationen und wissenschaftlichen Experten erarbeitet (vgl. ebd.: 4f.).
2.5 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit)
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In anderen Fällen finden parteipolitisch geprägte Vorverhandlungen der Partei- und Fraktionsspitzen oder »Kanzlerrunden« statt, in denen bereits vor der Einbringung eines Entwurfs Einvernehmen über die Grundzüge hergestellt wird (Parteienkonkordanz). Dies ist i.d.R. dann der Fall, wenn es um grundsätzliche Reformen oder »Pakete« geht, die nicht im Vermittlungsausschuss »aufgeschnürt« werden sollen. Typischerweise einigen sich die Parteien auf Eckpunkte, die dann auf Fraktionsebene konkretisiert werden. Deutlich wurde dies bei den Vorhaben zur Asylverfahrensbeschleunigung 1991/92 bzw. beim »Asylkompromiss« 1992/93. Bei letzterem waren Vorverhandlungen schon deswegen unabdingbar, weil eine Verfassungsänderung essenzieller Bestandteil des Gesetzesvorhabens war. Solche Maßnahmen müssen dann seitens der Regierung durch »kompensatorische« Schritte – möglicherweise sogar in anderen Rechtsgebieten – als Zugeständnisse an die Opposition flankiert werden. So wurde Art. 16a GG u.a. mit der Beschränkung des Aussiedlerzuzugs »erkauft«. Die strukturellen Rahmenbedingungen des Föderalismus determinierten deutlich die Fähigkeit der Regierungsparteien, ihr migrationspolitisches Programm durchzusetzen. CDU und CSU konnten vor 1982 ihre »Mehrheit« im Bundesrat dazu nutzen, die Gesetzentwürfe der sozial-liberalen Regierungskoalition abzulehnen bzw. im Vermittlungsausschuss deutlich zu verändern. Ab 1983 konnte die Union wegen der Mehrheit gleichgerichteter Länder im Bundesrat restriktivere Gesetze im Asylbereich realisieren. In den 1990er Jahren dominierte die SPD über weite Strecken den Bundesrat. Der Verzicht der Bundesregierung auf die durch Bundeskanzler Kohl mehrfach angekündigte Reform des Staatsangehörigkeitsrechts findet seine logische Begründung neben den kaum zu überkommenden inhaltlichen Differenzen innerhalb der christlich-liberalen Koalition (vgl. Kap. 2.3.4.3) daher auch im antizipierten Veto- und Einflusspotential des Bundesrates. Die rot-grüne Bundesregierung wiederum musste 1999 in Anbetracht einer sich abzeichnenden Veto-Macht im Bundesrat ihr Staatsangehörigkeitsgesetz an Vorstellungen der FDP anpassen, um die Zustimmung der Mehrheit der Länderstimmen zu erreichen.
3. Demokratische Legitimität politischer Entscheidungen Aus dem zunächst kaum durchschaubaren Bereich der Regierungspolitik und Ministerialbürokratie hat eine parlamentarische und vor allem auch parteipolitische Öffnung migrationspolitischer Beratungsprozesse stattgefunden. In den 1950er bis 1970er Jahren blieb ein großer Teil der relevanten Entscheidungen unterhalb von Gesetzen der politischen Öffentlichkeit weitgehend entzogen. Die Gestaltung der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer geht fast ausschließlich auf kabinettsinterne Entscheidungsfindungsprozesse zurück. Man kann dabei mit Karin Schönwälder (2001) durchaus davon sprechen, dass die Bundesregierung grundlegende Pläne dem Parlament vorenthielt – was jedoch nicht zuletzt deshalb möglich war, weil die Abgeordneten ihrerseits die Bundesregierung nicht drängten, interne Diskussionsprozesse und Schlussfolgerungen offen zu legen. Andererseits herrschte bei der aufenthaltsrechtlichen Verwaltungspraxis ein außergewöhnlich weiter Ermessensspielraum. In der Asyl- und Asylverfahrenspolitik beruhte das politische Handeln über weite Strecken auf der individuellen Praxis der Bundesländer bzw. den föderalen Absprachen innerhalb der IMK. Bis zum so genannten Asylkompromiss
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
1992 war selbst die Gesetzgebung in einem hohen Maße von außerparlamentarischen Verhandlungsarrangements oder geheimen Kompromissfindungsprozessen im Vermittlungsausschuss gekennzeichnet. Die Rolle des Parlaments bzw. die Wahrnehmung seiner Aufgaben hat sich zumindest dahingehend gewandelt, dass es wie im Falle der Asylrechtsnovellierung 1992/1993 seiner Vermittlungsfunktion durch intensive Debatten gerecht geworden ist. Hingegen scheiterte es weitgehend hinsichtlich seiner Politikformulierungs- und Politikgestaltungsfunktion. Darüber hat auch die Transparenz der Politikprozesse durch die Medienöffentlichkeit deutlich zugenommen. Migrationspolitik wurde von Regierungsseite immer mit hohem Partizipations- und Konsensanspruch versehen. Es bleibt jedoch ein zentraler Widerspruch, dass wiederholt eine »beteiligungsorientierte« Formulierung von Ausländerpolitik angekündigt wurde – so etwa in diversen Regierungserklärungen der Bundeskanzler Schmidt und Kohl –, offenbar aber stets nur eine Beteiligung an der praktischen Umsetzung der im politischen Raum beschlossenen Maßnahmen durch Kirchen, Wohlfahrtsverbände und Interessengruppen gemeint war. Ihr Sachverstand wurde mit Blick auf die Ausgestaltung staatlicher Maßnahmen in Ländern und Kommunen gern genutzt – und von Ihnen durch die damit verbundenen Finanztransfers als subsidiäre Arbeitgeber auch willfährig geleistet. Nicht selten, so hoben Kritiker hervor, beschränkte sich die Rolle der karitativen Verbände dabei aufs »Beschwichtigen und Betreuen« (Klee 1972). Bei der Politikberatung im Ausländerrecht blieben sie hingegen auf formal-symbolische Einbindung in Expertenhearings der exekutiven Kommissionen bzw. parlamentarischen Fachausschüsse beschränkt. Bei letzteren verschafften sie sich allenfalls »negative« Einflussmacht als Veto-Kräfte, wenn es ihnen gelang die Parlamentarier davon zu überzeugen, dass einzelne der von der jeweiligen Bundesregierung intendierten Maßnahmen rechtsstaatlich allzu bedenkliche bzw. integrationspolitisch allzu ineffiziente Resultate zeitigen würden. Nachhaltige Beteiligungsformen existierten nicht oder nur sehr eingeschränkt. Einzig in der Bund-Länder-Kommission von 1976/77 ist eine solche Beteiligung institutioneller Art, die in Ansätzen auch direkten Einfluss im Vorfeld des Gesetzgebungsprozesses zur Folge hatte, auszumachen. Eine umfassende Beteiligung von gesellschaftlichen Gruppen, wissenschaftlichem Sachverstand und Interessenverbänden in der ministeriellen Referentenphase scheiterte weitgehend am Anspruch der Exekutiven, das Zuwanderungs- und Aufenthaltsrecht als Polizei-, Abwehr- und Sicherheitsrecht zu bewahren. Auch eine »basisdemokratische« Beteiligung von Ausländern als den primär von Migrationspolitik Betroffenen fand aus diesen Gründen ebenso wenig statt. Insofern bezog sich die Konsensorientierung in der deutschen Migrationspolitik vorrangig auf das Parteienverhältnis. Aus der Intention der Parteien, ihren Wählern »nicht zu viel zuzumuten« bzw. sich responsiv zu »Volkes Stimme« zu verhalten, resultierten dabei häufig Minimal-Kompromisse, die wenig grundsätzliche Veränderungen mit sich brachten. Die vorgefundenen rechtlichen Mittel und Instrumente wurden lediglich inkrementell weiterentwickelt. Für die Option eines Einwanderungs- oder Zuwanderungsgesetzes baute sich auf diese Art und Weise über Jahrzehnte eine hohe Legitimationsschwelle auf.
2.5 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit)
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4. Fachexpertise und wissenschaftliche Politikberatung Ein System unabhängiger wissenschaftlicher Politikberatung in migrationspolitischen Fragen hat sich in der Bundesrepublik bis zum Jahr 2000 nicht herausgebildet – und war auch von der Politik nicht gefragt. Die sicherheits-, ordnungs- und polizeistaatliche Wahrnehmung der Migrationspolitik und das damit verbundene, weitgehende »Juristenmonopol« im BMI schienen ausreichend intra-ministerielle Expertise zu gewährleisten.244 Daneben nutzten die Bundesregierungen zahlreiche interministerielle oder föderale Beratungformen, die jedoch immer unter Gesichtspunkten der Kompromiss- oder Konsensfindung, nie unter Konsultation externer wissenschaftlicher Expertise agierten. Der frühe Vorschlag der Deutschen Nansen-Gesellschaft etwa, »in Zukunft einen Asylbeirat beim Bundesinnenministerium einzurichten«,245 wurde nicht aufgegriffen. Mit der Massenanwerbung ausländischer Arbeitnehmer kam arbeitsmarkt- und wohnungsbaupolitischer Beratungsbedarf in den Blickpunkt, der ebenso größtenteils in den entsprechenden Ressorts »abgedeckt« wurde; Sachverständigenräte oder »Ständige Beiräte« wurden auch hier nicht eingerichtet. Sozial-, bevölkerungs- und erziehungswissenschaftliche Fragen wurden kaum als beratungsrelevant erkannt. Auch kam es nie zur Symbiose von parlamentarischer Politik und wissenschaftlicher Beratung in Form einer Enquete-Kommission zur Migrationspolitik.246 Die Konsultation beschränkte sich auf die Einladung von Experten in den Ausschusshearings. Nur in wenigen Fällen übte externer wissenschaftlicher Sachverstand auf diese Weise unmittelbaren Einfluss auf die Entscheidungen im politisch-parlamentarischen Raum aus. Nicht zu vernachlässigen scheint hingegen die eigenständige Einbringung gebündelten, wissenschaftlich-kritischen Sachverstandes in die politisch-gesellschaftliche Debatte. Sowohl bei der Initiative »Alternativentwurf 1970« (vgl. Kap. 2.2.2.2 und 2.2.3.2) als auch bei den Empfehlungen des Rat für Migration (vgl. Kap. 2.3.4.3 und 2.4.3) haben sich Akteure aus dem politischen Raum auf den Rat der Experten bezogen. Hier ist wenigstens von mittelbaren Einflüssen auf politische Entscheidungen auszugehen.
5. Politikergebnisse Was die Output-Qualität der bundesdeutschen Migrationspolitik anbelangt, muss eine definitive Wertung der Politikfindungsprozesse nicht zuletzt in Ermangelung der Überprüfbarkeit der jeweils alternativen (nicht umgesetzten) Optionen offen bleiben. Deutlich wird, dass alle deutschen Bundesregierungen – bei relativ schwacher oder indifferenter Rollenwahrnehmung durch den Bundeskanzler – mittels Erlasshoheit, Gesetz- und Verordnungsgebung stets eine primär restriktive und vom Abschottungsgedanken gegen eine »Über244 Fritz Scharpf (1970: 89ff.) hat darauf hingewiesen, dass die Tendenz zum »Juristenmonopol« bei der Gesetzgebung besonders in der Innenpolitik durchschlägt und so einen Teil der aktiven Öffentlichkeit privilegiere. Nichtjuristische (psychologische, soziologische) Perspektiven erführen i.d.R. erst Berücksichtigung, wenn sie bereits von der juristischen Diskussion selbst rezipiert würden (zum Juristenanteil in der Bundesregierung vgl. Hillner & Pampel 1984; zu Auswirkungen juristischer Dominanz im Verwaltungshandeln vgl. Prätorius 1979a). 245 vgl. die Frage des Abgeordneten Heiner Geißler (CDU/CSU) und die Antwort des StS. Dr. Hans Schäfer in der Fragestunde vom 26. Januar 1966 (BT-Pl.Pr. 5/16: 613D). 246 Die 1993 geäußerte Idee des SPD-Abgeordneten Dieter Wiefelspütz, eine Enquete-Kommission zur Untersuchung des Migrationsproblems einzurichten, wurde zunächst vom Generalsekretär der CDU Heiner Geißler unterstützt, später jedoch von der Unionsfraktion fallengelassen (vgl. Altenhof 2002: 110).
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2 Migrationspolitik in der Bundesrepublik – Beratung und Entscheidung
fremdung« geprägte Politik zu statuieren suchten. Besonders die Innenministerien fassten sich – wie bei den Vorbereitungen des Ausländergesetzes von 1965 – »als ›Bollwerke‹ von Sicherheit und Ordnung gegenüber als bedrohlich wahrgenommenen Liberalisierungstendenzen« auf (Schönwälder 1999: 136). Das Interesse der Exekutive bestand dabei in der Wahrung von Ausländerrecht als Teil des hoheitlichen Polizei-, Sicherheits- und Abwehrrechts. Dem entspricht auch die Wahrnehmung der »sekundären« Migrationspolitik in den Bereichen Eingliederung, Arbeitsmarkt und Wohnungsbau durch andere Ressorts, die – aufgrund des Subsidiaritätsprinzips oft gezwungenermaßen – wesentlich stärker gesellschaftlich verankert war. Mit Blick auf die »Ergebniswirkung« von Kommissionen und anderen beteiligungsorientierten Gremien fallen die Einschätzungen von Beobachtern unterschiedlich aus: KarlHeinz Meier-Braun etwa verortete in der Politikformulierung durch Bund-Länder-Kommissionen bzw. ihrer ministerialbürokratischen Arbeitsgruppen einen wichtigen Grund für das »Scheitern der Ausländerpolitik« (Meier-Braun 1979: 50). Im Rückblick vermuten hingegen Klaus Bade und Michael Bommes, dass »zahlreiche Schritte der rechtlichen Anerkennung und gesellschaftlichen Festigung« nur deshalb möglich gewesen seien, weil sie »nicht konzeptionell, sondern korporatistisch in verschiedenen Verhandlungssystemen zwischen politischen Verwaltungen und Wohlfahrtsorganisationen ausgehandelt und von wesentlichen Gerichtsentscheidungen flankiert« wurden (Bade & Bommes 2000: 166f.). Dazu bleibt kritisch anzumerken, dass eine unmittelbare »Verhandlungsposition« gesellschaftlicher Gruppen innerhalb migrationspolitisch-gesetzgeberischer Entscheidungsfindungsprozesse im Sinne eines Anspruchs geregelter Beteiligung oder sonstiger Machtposition natürlich zu keiner Zeit bestand. Gerade bei der Umsetzung von Integrationspolitik verband jedoch Politik, Verwaltung und Wohlfahrtsverbände in hohem Maße ein wechselseitiger Kooperationsbedarf: Erstere waren auf das Know-How und die zivilgesellschaftliche Verankerung der Vereine und Verbände angewiesen, letztere konstituierten als »freie« Träger ganz wesentliche Bereiche ihrer organisatorischen Strukturen über die subsidiär gewährten staatlichen Alimente – und damit einen Teil ihrer Legitimation. Ein solcher »korporatistisch-kooperativer Fortschritt« ist dagegen für die Asylpolitik nicht zu verzeichnen. Hier standen sich Politik und eine gesellschaftliche »Interessenkoalition« (Schwarze 2000) aus Menschenrechtsorganisationen, dem UNHCR und den Kirchen fast diametral gegenüber. Letztere verfügte jedoch kaum über Veto- und Gestaltungsmacht. Betrachtet man die Serie asylpolitischer Entscheidungen seit Ende der 1970er bis zum Anfang der 1990er Jahre, so muss – sowohl im Sinne einer Beteiligung zivilgesellschaftlicher und kirchlicher Positionen als auch gemessen an den proklamierten Effizienz-Zielen der Politik – unter demokratischen Gesichtspunkten ein weitgehendes Versagen konstatiert werden. Die Eindämmung des »Asylmissbrauchs«, die Senkung der Antragszahlen und die Beschleunigung der Verfahren wurden nicht oder nur ansatzweise erreicht. Dies findet nicht zuletzt darin seinen Ausdruck, dass sich die Frequenz von Novellierungen und grundlegende Reformen des Asylverfahrensrechts deutlich erhöhte und teilweise im Abstand von nur wenigen Monaten neue Maßnahmen ergriffen wurden. Politikwandel vollzog sich rein inkrementell, auch aufgrund der vielstimmigen parteipolitischen Akteure zwischen Bund, Ländern und Parteien. Daneben scheint die »Kompromissgeleitetheit« der deutschen Migrationspolitik ein nicht zu unterschätzender Einflussfaktor auf die Komplexität von Gesetzeswerken zu sein. Diese Komplexität äußert sich u.a. in mangelnder Transparenz der Vorschriften für »den
2.5 Beschränkt beratungsfähig (Zwischenfazit)
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Bürger« bzw. – wie im Fall des Ausländergesetzes 1990 vielfach moniert – der »Undurchschaubarkeit für Ausländer«.247 Ausdruck dessen ist ferner die Novellierung zentraler Vorschriften durch so genannte Artikelgesetze, deren voller Gehalt sich häufig erst unter akribischem Aufwand und der Zuhilfenahme von Synopsen erschließen lässt. Auch aus juristisch-rechtstechnischer Sicht blieben viele politische Entscheidungen mängelbehaftet. Hier wurde insbesondere der »Asylkompromiss« der Parteien kritisiert, dessen grundgesetzliche Regelungen zu weit überzogener Detailliertheit, aber auch zum Risiko verfassungsrechtlicher Lücken geführt haben (Hailbronner 1993; vgl. auch Renner 1993). Festzuhalten bleibt, dass sich die deutsche Migrationspolitik gemessen an den Ansprüchen eines breiten, demokratischen Politikberatungsbegriffes, wie sie in Kapitel 1.2 skizziert wurden, bis zur Jahrtausendwende nur äußerst bedingt als beratungsfähig erwiesen hat.
247 Hans Heinz Heldmann (1991: 7) spitzte in diesem Zusammenhang kritisch zu: »Anstelle dieses Gesetzes sollte es ein Gesetz geben, welches dem Gesetzgeber verbietet, ein Gesetz zu beschließen, dessen Aussagen den Gesetzesadressaten verschlossen bleiben.« (Herv.i.Orig.)
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
3.1 Regierungsforschung als empirisch-qualitative Sozialforschung: Methodik der Fallstudie 3.1 Methodik der Fallstudie In Fortführung der grundlegenden forschungstechnischen Positionsbestimmung (vgl. Einleitung) wird in diesem Kapitel zunächst die methodische Verortung im Bereich qualitativhypothesengenerierender Politikforschung konkretisiert (Kap. 3.1.1). Anschließend werden die praktischen Schritte der Datenerhebung mittels Experteninterviews (Kap. 3.1.2) und der interpretativen Auswertung der Interviewdaten durch qualitative Inhaltsanalyse (Kap. 3.1.3) detailliert beschrieben.
3.1.1 Qualitativ-rekonstruierende Politikforschung: Analyse von Entscheidungsprozessen und Generierung von Hypothesen 3.1.1.1 Methodologie, forschungstechnischer Ansatz und Methodenindikation Das Regieren mit Kommissionen bzw. dessen politikwissenschaftliche Reflexion konnte bislang sowohl empirisch als auch theoretisch weitgehend als Terra Incognita gelten. Weder existiert eine »Theorie des Regierens«, noch ein Set von empirisch entstandenen (oder überprüften) Hypothesen zu den Funktionen von Regierungskommissionen im Politikprozess.248 Bereits die relativ oberflächliche Betrachtung der verschiedenen Kommissionen führt jedoch unweigerlich zu dem Schluss, dass die Formulierung allgemein gültiger Gesetzmäßigkeiten kausaler Natur hier kaum möglich ist – auch wenn die landläufige Kritik am »Kommissionsunwesen« dies bisweilen suggeriert. Insbesondere vor dem Hintergrund der bereits an anderer Stelle dargelegten Diversität und Spezifität des Forschungsgegenstandes »Regierungskommissionen« (vgl. Kap. 1.2.5) sowie den zu erwartenden Relevanzen akteursspezifischen Handelns im Rahmen jeweils ganz bestimmter, über Jahre und Jahrzehnte historisch »geformter« Politikfelder und Policy-spezifischer Netzwerke wurde der Forschungsansatz einer extensiven qualitativen Einzelfallstudie gewählt. Der Wert einer Einzelfallstudie liegt für den allgemeinen Forschungsgegenstand einerseits darin, gewissermaßen »Pilotforschung« zu leisten, andererseits am konkreten Beispiel Wegmarken zu setzen und Hypothesen zu entwickeln, die vielleicht für die Zukunft komparatives Potenzial in einem wenig beforschten Feld eröffnen können (vgl. Bandemer & Cordes 1989: 297; Schmid, J. 1995: 303f.). Während Fallstudien in der quantitativen Forschungslogik allenfalls explorative oder additive Funktionen innehaben (vgl. Lamnek 2005: 301ff.), dient die hier durchgeführte Analyse vor dem Hintergrund eines qualitativen For248 vgl. dazu jedoch die neuere Untersuchung von Siefken (2007), deren Ergebnisse im Schlussteil dieser Arbeit berücksichtigt werden (vgl. Kap. 4.2).
180
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
schungsparadigmas der möglichst umfassenden Sinnerschließung von Handlungsweisen und Strategien sowie der Synthese von Deutungswissen aus strukturierten Daten. Sie hat das übergeordnete Ziel, durch Interpretation zu solchen Schlussfolgerungen zu gelangen, die Erkenntnisse auf höherer Abstraktionsebene des Betrachtungsgegenstandes (allgemeine Hypothesen) ermöglichen. Diese allgemeinen, »topischen« Schlussfolgerungen lassen sich auf Grundlage der »dichten Beschreibung« (vgl. Schneider, V. 2003: 307) des untersuchten Einzelfalles plausibel machen und erlauben Prognosen für andere Fälle, die in Bezug auf die wirkenden Faktoren ähnlich – oder in gewissen Punkten eben entscheidend anders – geartet sind. In der qualitativen Politikfeldforschung wird dieser politisch-praktischen Funktion von Einzelfallstudien ein allgemein größeres Maß an Bedeutung zugemessen, als der (kaum zu leistenden) Überprüfung von theoretisch begründeten Zusammenhängen im Sinne der positivistisch-szientistischen Forschungslogik (vgl. Schubert 1991: 123; auch Schneider, V. 2003; Scharpf 2000: 63ff.).249 Die exemplarische Untersuchung bietet sich besonders als Mittel der an den Regierungstechniken und -instrumenten interessierten Exekutivforschung an (vgl. Böhret 1990: 114). Die einzelfallspezifischen Erklärungen ermöglichen theoriefähige Aussagen zur strukturellen Entwicklung und Strategiefähigkeit der Regierungsorganisation (vgl. Jann, Döhler, Fleischer u.a. 2005: 15). Der abstrakte forschungskonzeptionelle Ansatz der hier vorgenommenen Untersuchung lässt sich am ehesten der Methode des abduktiven Schlussfolgerns zuordnen. Die Abduktion gilt neben Deduktion und Induktion als drittes wichtiges Schlussverfahren und wurde maßgeblich innerhalb der philosophischen Denkrichtung des Pragmatismus von Charles Sanders Peirce entwickelt. Bei der Deduktion wird formallogisch von einem bereits bekannten (und als wahr erachteten) theoretischen Regelzusammenhang ausgegangen, vor dem ein beobachteter Fall analysiert wird. Dies führt dann zwingend zu einem bestimmten Ergebnis. Die Induktion schlussfolgert umgekehrt vom Einzelfall oder einer Reihe von Beispielen mit bekanntem Ergebnis auf eine Regel. Abduktion hingegen bedeutet ein Verfahren des Schlussfolgerns, das zu einer gegebenen Beobachtung bzw. zu einem bekannten Ergebnis eine mögliche allgemeine Gesetzmäßigkeit bzw. noch unbekannte Regel sucht, die genau den beobachteten Fall erklären könnte. Sie schlussfolgert also aus einer bekannten Größe, dem Ergebnis, auf zwei Unbekannte, die Regel und den Fall. (Sturm, G. 2006: 28; Herv.i.Orig.)
Das Ergebnis der Abduktion ist aufgrund des Einzelfallbezuges also einerseits in seiner Erklärungskraft begrenzt, andererseits hinsichtlich der Aufstellung theoretischer Regelzusammenhänge »spekulativer«. Der abduktive Forschungsprozess, der sich im Gegensatz zu eindeutig deduktivem oder induktivem Vorgehen weniger an festgelegten Schritten orientieren kann, erlaubt dafür durch seine Offenheit und Spontaneität, sein »kreatives Potenzial« (ebd.: 29), auch scheinbar irrationale Schlüsse zu ziehen und Erkenntnisse jenseits eines bestimmten Erwartungshorizontes zu gewinnen (vgl. ausführlich Reichertz 2003; Schneider, V. 2003: 311ff.). Dazu muss er insbesondere von konsensfähigen Prämissen ausgehen und die beim Schließen gewonnenen Hypothesen einer logischen und nachvollziehbaren Begründung zugänglich machen. Die (explorative) Funktion des abduktiven Verfahrens im Kreislauf wissenschaftlicher Forschung besteht daher in nicht geringem Maße in der Erzeugung von plausiblen Hypothesen, die wiederum durch weitere Untersuchungen überprüft 249 Selbst in der komparativen Politikwissenschaft, die eigentlich stets Daten oder Phänomene vergleichend gegenüberstellt, leisten Fallstudien »bei weitem immer noch den größten Beitrag« (Jahn 2006: 320).
3.1 Methodik der Fallstudie
181
werden müssen. Ferner kann gerade die politikwissenschaftliche Regierungsforschung auch einen mittelbaren Praxisbezug aus den beim abduktiven Schlussfolgern gewonnenen Erkenntnissen transportieren, indem sie plausibel begründetes Anschauungsmaterial von Wissen und Handeln liefert und dadurch Handlungsorientierungen gibt (vgl. Schubert 2003: 178ff.).
Welche konkreten Methoden und Techniken? Speziell im Vollzug eines qualitativ-explorativen Forschungsprozesses sind Methode und Untersuchungsergebnis nie voneinander unabhängig. Daher kommt der propädeutischen Methodenevaluation eine wichtige Funktion zu. Den bewussten Prozess der Auswahl konkreter Methoden, orientiert am Kriterium der Gegenstandsangemessenheit und unter Berücksichtigung verschiedener methodischer Alternativen, bezeichnet Uwe Flick (2004a) als Indikation. Die Verwendung der Methoden einer politikwissenschaftlichen Studie hat sich demnach stets am originären Erkenntnisinteresse und damit verbunden an den basalen Forschungsfragen zu orientieren. Deren eingangs spezifizierter, übergeordneter Tenor lautet: »Wie funktionieren Regierungskommissionen und welchen Beitrag leisten sie zu ›modernem‹, konsensorientierten Regieren im demokratischen Staat?« Im Einzelfallbeispiel schlüsseln sich diese Forschungsfragen in eine Vielzahl von akteur-, institutionen- und Policy-bezogenen Zusammenhängen auf. Der Anspruch einer ganzheitlichen, »realweltlichen« Untersuchung einer Kommission und ihr damit einher gehender explorativer Charakter induzierte die Wahl von Methoden, die möglichst große Nähe zum Untersuchungsgegenstand und seinen Subjekten ermöglichten. Einen guten Orientierungspunkt zur methodischen Evaluierung bietet Volker von Thienen (1990). In seiner Methodenreflexion zur Untersuchung verschiedener EnqueteKommissionen kommt er zu dem Schluss, dass unter Beachtung der jeweiligen Risiken und Ungenauigkeitspotentiale ein Methodenmix am besten geeignet sei, um die Realitäten eines Beratungsprozesses möglichst genau abzubilden (vgl. allg. Prittwitz 1994: 250f.; Weber 2003: 18ff., 180ff. sowie Vowe 1991: 14f., der von »komplementärer Empirie« spricht). Bei der Suche nach den Methoden zur Datenerhebung lagen insbesondere die Dokumentenanalyse sowie das Gespräch mit Prozessbeteiligten auf der Hand. Die Analyse von Dokumenten bietet – so Thienen – vor allem die Möglichkeit, den Verlauf von Beratungsprozessen auf der »sachlichen« Ebene detailliert nachzuzeichnen. Für die Analyse im Rahmen der vorliegenden Studie wurde neben dem Bericht der Kommission auch die in Auftrag gegebenen und später publizierten Gutachten der Sachverständigen sowie veröffentlichte Stellungnahmen von Interessengruppen im Rahmen der Kommissionsanhörungen herangezogen. Daneben wurden die einschlägigen Parlamentaria (Drucksachen und Protokolle von Bundesrat und Bundestag; hier auch die nach Ablauf der 15. Wahlperiode zur Einsicht freigegebenen relevanten Dokumente des Bundestags-Innenausschusses zwischen Juni 2000 und Februar 2002) sowie Veröffentlichungen (Stellungnahmen, Pressemitteilungen) der Bundesregierung und der Parteien berücksichtigt. Zur Analyse interner Beratungsprozesse wäre es zudem wünschenswert gewesen, die Wortprotokolle der Kommissionssitzungen sowie sonstige Papiere der Kommission einer Inhaltsanalyse zu unterziehen. Die beim Bundesministerium des Innern lagernden, umfassenden Aktenbestände sämtlicher Korres-
182
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
pondenz der Kommission unterliegen jedoch einer Sperrfrist von 30 Jahren.250 Eine umfängliche Aktenanalyse war somit ausgeschlossen. Zudem ist laut Thienen die Auswertung von Aktenbeständen grundsätzlich nicht als das methodische Nonplusultra zu werten; vielmehr könne man durch Dokumentenanalyse allein »eigentlich nur zu bestenfalls ›nebensächlichen‹ Befunden kommen« (ebd.: 184), da zwischen konstruierter Sachrationalität der offiziösen Dokumente und einer »für die Wahrnehmung der Beteiligten konstitutiven Handlungsrationalität« meist eine Diskrepanz bestehe (vgl. ebd.: 186). Damit rückt die Konsultation von Prozessbeteiligten ins Visier der Methodensuche. Interviews böten sich einerseits dafür an, die Handlungsrationalitäten und Interaktionsrealitäten von Kommissionsmitgliedern zu verstehen, andererseits erschließe sich durch Gespräche mit beteiligten Akteuren auch die »Bedeutsamkeit meso- und makrostruktureller Bedingungen hinsichtlich der Wirkung und Umsetzung von Beratungsempfehlungen« signifikanter als mit anderen Methoden (Thienen 1990: 204). Für die vorliegende empirische Einzelfallstudie erschien insbesondere die Befragung von Beteiligten geeignet, um 1. 2.
3. 4.
5.
zur Bildung von Hypothesen über die Entstehung von Regierungskommissionen im Politiknetzwerk beizutragen; tiefere Erkenntnisse zu den »Intra-Kommissionsprozessen« und der »Kommissionskultur« – also den Arbeitsmodi und Kommunikationsverhältnissen vor dem Hintergrund gruppendynamischer Entwicklungen – zu gewinnen; Rückschlüsse auf die Rezeption der Kommissionsergebnisse in Fraktionen, Parteien und den Stellen der Regierung zu ermöglichen die subjektive Dimension des Policymaking by commission zu beleuchten, etwa durch die Frage, wie Akteure ihre Funktionen einschätzen, den Politikprozess bewerten und dessen Resultate beurteilen eine akkurate Deskription der faktischen Abläufe des Politikprozesses zu unterstützen, die primär durch eine chronologische Printmedienauswertung vollzogen wurde.
Methode und »Tradition« der Printmedienauswertung (vgl. Reh 1995) entstammen vor allem der geschichtswissenschaftlichen Forschung. Hier gilt die klassische Beobachtung Arnulf Barings: »Immer wieder ist man verblüfft, was […] irgendwo publiziert wird. Wenn man Zeitungen […] systematisch und vergleichend auswertet, dann liefert eine solche Analyse das Rückgrat jeder zeitgeschichtlichen Darstellung.« (Baring 1982: 16). Zum Umfang der Zeitungsberichterstattung und den in die Auswertung eingehenden Daten aus Printmedien vgl. Kap. 3.1.3.
250
»Eine Freigabe von weniger als 30 Jahre altem Schriftgut zur Benutzung durch Dritte ist grundsätzlich ausgeschlossen« (§ 39, Abs. 2 GGO-BM). Ausnahmen sind im Rahmen wissenschaftlicher Vorhaben nur dann möglich, wenn an ihnen ein »amtliches Interesse« besteht (vgl. Anl. 4 zu § 39, Abs. 2 GGO-BM). In der Antwort des zuständigen Abteilungsleiters im BMI auf eine Anfrage des Verfassers über den wissenschaftlichen Betreuer der Arbeit wurde folgerichtig die Akteneinsicht ausgeschlossen, allerdings mit Verweis auf die »für ihre gesamte Arbeit« vereinbarte Vertraulichkeit der UK ZU (Schreiben von Min.Dir. Dr. Gerold Lehnguth an Prof. Dr. Claus Leggewie, GZ: A 1 – FN 35/1) und auch im Rahmen des späteren Experteninterviews nach nochmaliger Anfrage verneint (vgl. Interview Lehnguth).
3.1 Methodik der Fallstudie
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3.1.1.2 Gütekriterien und methodische Triangulation Im Zusammenhang mit der Auswertung qualitativen Datenmaterials wird in der Literatur vor einer vorschnellen, unsystematischen bzw. nicht regelgeleiteten Interpretation qualitativer Daten – einer Art Auswertung à la carte – gewarnt. So habe die freie Interpretation des Textmaterials zwar den vermeintlichen Vorzug, »in kurzer Zeit plausible und interessante Ergebnisse zu produzieren«; dieses Vorgehen sei aber in Ermangelung objektiv nachvollziehbarer Verfahrensregeln eigentlich nicht als Auswertungsmethode zu betrachten und daher »sein wissenschaftlicher Wert eher gering« (Gläser & Laudel 2004: 43). Udo Kelle und Susann Kluge (1999) thematisieren in diesem Zusammenhang die verbreitete quantitative Fülle des zu analysierenden Materials als problematisch – die Gefahr, in Daten zu »ertrinken« könne direkt zu analytischen Verfälschungen führen (vgl. ebd.: 55). Vor dem Hintergrund weiterhin stark divergierender Auffassungen innerhalb der Sozialwissenschaften über das »ob« und »wie« der Formulierung von Qualitätskriterien für qualitative Forschung (vgl. Flick 2004a; Lamnek 2005: 146-148; Steinke 2000: 319ff.) erscheint es essenziell, sowohl den Forschungsschritt der Datenerhebung als auch den Prozess der Auswertung möglichst transparent und detailgetreu abzubilden und adäquate Gütekriterien für das praktizierte Vorgehen zu formulieren. Nur so kann der Anspruch einer intersubjektiven Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses erhoben werden.251 Vor dem Hintergrund scheinbar eindeutiger Qualitätsanforderungen in der quantitativen Forschung (Validität, Reliabilität; zur Definition vgl. Atteslander 2003: 330) und dem Ruch des Willkürlichen, der qualitativen Methoden lange anhaftete, wurden von fast allen Vertretern qualitativer Forschungsansätze so genannte Gütekriterien entwickelt, damit die Forschungsergebnisse wissenschaftlichen Anforderungen an Intersubjektivität, Validität und Reliabilität eher gerecht werden können. Philipp Mayring (2002: 144ff.) benennt sechs allgemeine Gütekriterien qualitativer Forschung, die im Folgenden benannt und auf den empirischen Hauptteil der Untersuchung bezogen werden sollen:252
Verfahrensdokumentation Nach den strengen Kriterien der qualitativen Sozialwissenschaft ist – um eine kategorische Position zu zitieren – »das schönste Ergebnis […] wissenschaftlich wertlos, wenn nicht das Verfahren genau dokumentiert ist, mit dem es gewonnen wurde.« (Mayring 2002: 144). In den beiden folgenden, methodisch-deskriptiven Abschnitten soll dem berechtigten Anspruch an Verfahrensdokumentation Genüge getan werden, ohne dabei das Kapitel in seinem Umfang zu überfrachten. Da es sich bei der vorliegenden Studie nicht um eine methodologische Arbeit handelt, gilt dabei die Maxime »so viel wie nötig, so wenig wie möglich«, um einerseits stets die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit der Forschungsschritte zu ermöglichen, ohne andererseits methodische Nebenschauplätze zu eröffnen. 251 Dabei ist die intersubjektive Nachvollziehbarkeit keineswegs gleichzusetzen mit intersubjektiver Überprüfbarkeit (vgl. dazu Steinke 2000: 324). Es ist geradezu ein Kennzeichen interpretativer Verfahren, dass ihre Ergebnisse nicht durchweg im Sinne einer szientistisch-positivistischen Forschungslogik »objektiv prüfbar« und damit – ceteris paribus – von Dritten reproduzierbar sind. 252 Flick (2004a: 60ff.) spricht vorsichtiger von »Leitgedanken für das Qualitätsmanagement in der qualitativen Forschung«; speziell zu Gütekriterien für qualitative Interviews vgl. Helfferich (2004: 138ff.).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Argumentative Interpretationsabsicherung Die empirischen Datenauswertungen der folgenden Kapitel dienen zum einen dazu, die Fakten und Realitäten eines Politikprozesses rekonstruierend darzustellen. Zum anderen sollen sie aber auch politisches Handeln verstehbar machen, Akteurkonstellationen beleuchten und Systemlogiken hervorbringen, sprich: hypothesen- und theoriegenerierend wirken. Da sich die aus der Analyse der Interviews ergebenden Interpretationen und Hypothesen nicht im Sinne mathematisch-kausaler Logik »beweisen« lassen, wird bei solchen Schlussfolgerungen auf ausreichende argumentative Begründung vor dem Hintergrund der in den Grundlagenkapiteln 1 und 2 vermittelten Vorverständnisse geachtet (Theoriegeleitetheit der Interpretation).
Regelgeleitetheit Der innerhalb des qualitativen Paradigmas breit propagierten Offenheit gegenüber den Forschungsgegenständen steht der Anspruch eines systematischen Vorgehens im Sinne bestimmter Verfahrensregeln scheinbar diametral gegenüber. Bei genauerer Betrachtung lassen sich die Pole Offenheit und Regelgeleitetheit jedoch relativ genau differenzieren: Während sich etwa das Interviewsetting an festgelegten Regeln orientierte (z.B. VierAugen-Gespräch, Rückkopplung des Interviews an einen Leitfaden), stand die Interviewdurchführung im Zeichen möglichst großer Offenheit (z.B. bezüglich Gesprächsdauer, Gewichtung/Relevanz der Inhalte). Dagegen erfolgte die Auswertung schrittweise und systematisch (z.B. in Form von Transkriptions- und insbesondere Kodierregeln); die Erstellung des jeweiligen Kodes selbst sowie die Zuordnung von Textpassagen (Codings) sind wiederum das Resultat eines offenen, iterativen Prozesses (vgl. Kap. 3.1.3).
Nähe zum Gegenstand Die Nähe zum Gegenstand der Forschung sowie die Gegenstandsangemessenheit der Methode(n) gelten – spätestens seit Schütz’ phänomenologischen »Lebenswelt«-Ansatz – als Leitgedanke qualitativ-interpretativer Sozialforschung. In der Politikfeldanalyse, mehr noch beim Ansatz der Regierungsforschung liegt es nahe, den unmittelbaren Gegenstand der Forschung (politisch handelnde Akteure) methodisch einzubeziehen. An dieser Stelle sei nur an das bereits einleitend wiedergegebene Diktum Hans-Hermann Hartwichs erinnert, die Regierungsforschung müsse zu einem »kritisch-loyalen Dialog mit den Regierenden« gelangen. Die extensive Befragung von Akteuren aus den verschiedenen Ebenen des politischen Systems (Parteien, Regierung, Ministerialverwaltung) bzw. der untersuchten Kommission werden diesem Gütekriterium gerecht.
Kommunikative Validierung Die Idee der kommunikativen Validierung besteht in der Überprüfung der durch Datenanalyse und -interpretation generierten Ergebnisse im direkten Diskurs mit den »Beforschten«
3.1 Methodik der Fallstudie
185
und kann die Validität des Forschungsergebnisses deutlich erhöhen. Dieses Gütekriterium konnte innerhalb des Forschungsprojekts ansatzweise berücksichtigt werden: Die Ergebnisse des empirischen Teils der Studie wurden im Sinne eines akademischen peer-reviews zwei mit dem Forschungsbetrieb vertrauten wissenschaftlichen Mitarbeitern der Kommissionsgeschäftsstelle zur Lektüre vorgelegt und anschließend besprochen. Auf diese Weise konnten die darin vorgenommenen Darstellungen und Interpretationen validiert bzw. plausibilisiert werden.
Triangulation Die Wahl unterschiedlicher Mittel und Wege zur Beantwortung von Forschungsfragen wird im Ansatz der sozialwissenschaftlichen Triangulation konzeptualisiert. Er beinhaltet die Einnahme unterschiedlicher Perspektiven auf den Gegenstand, etwa bezüglich Methoden oder theoretischen Zugängen sowie die Kombination unterschiedlicher Datensorten. Die Perspektiven sollten möglichst gleichberechtigt und konsequent behandelt und umgesetzt werden und sollten mit prinzipiellem Erkenntniszuwachs verbunden sein, der weiter reicht, als es mit einem einzigen Zugang möglich wäre (vgl. Flick 2004: 12). Deutlichstes Anwendungsbeispiel triangulierenden Vorgehens war die stetige Überprüfung der Faktenrekonstruierungen und Interpretationen aus der Inhaltsanalyse der Interviews durch systematischen Einbezug der Printmedienberichterstattung der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (zum genauen Vorgehen vgl. Kap. 3.1.3).
3.1.2 Datenerhebung: Themenzentrierte Gespräche mit Politikexperten 3.1.2.1 Experteninterviews als eigenständige Befragungsmethode? Bis in die 1990er Jahre hinein führten Experteninterviews in der Methodologie der empirischen Sozialforschung ein relatives Schattendasein. Einerseits keiner der »klassischen« qualitativen Gesprächsführungstechniken zuzuordnen,253 andererseits auch methodisch nicht ausreichend von diesen abgrenzbar, wurden sie selten zum Gegenstand methodologischer Reflexion. Ein Profil politikwissenschaftlicher Experteninterviews war bis vor wenigen Jahren ein Desiderat.254 In ihrem mittlerweile als klassisch zu bezeichnenden Aufsatz aus dem Jahr 1991 versuchten Michael Meuser und Ulrike Nagel erstmals, das Experteninterview von anderen Formen des qualitativen Interviews abzugrenzen.255 Als spezielle Anwendungsform von 253 Lehrbücher unterscheiden meist zwischen narrativen, episodischen, problem- oder themenzentrierten, fokussierten, Tiefen- oder Intensiv- sowie rezeptiven Interviews (vgl. etwa Lamnek 2005: 356ff.). 254 Die Methodologie des Experteninterviews ist kürzlich durch die Publikation eines Sammelbandes (Bogner, Littig & Menz 2002) sowie einer monographischen Handreichung (Gläser & Laudel 2004) entscheidend weiterentwickelt worden. Auch die Auseinandersetzung mit der schillernden Figur »des Experten« hat in den letzten Jahren wieder vermehrt Antrieb erfahren, insbesondere aus wissenssoziologischer, aber auch aus politikfeldanalytischer Sicht (vgl. dazu etwa Bogner & Menz 2002b; umfassend: Bogner & Torgersen 2005). 255 erschienen in Garz, Detlev & Kraimer, Klaus (Hrsg.): Qualitativ-empirische Sozialforschung. Konzepte, Methoden, Analysen. Opladen, Westdeutscher Verlag: 441-471. Im Folgenden wird nach dem aktuellen Wiederabdruck zitiert (Meuser & Nagel 2002; vgl. Literaturverzeichnis).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Leitfaden-Interviews liegt beim Experteninterview der Fokus auf dem Expertenwissen der Befragten für ein bestimmtes Feld. Weniger die Gesamtperson oder Biographie ist von Interesse, als vielmehr ein spezifischer struktureller Zusammenhang – objektiv wiedergebbares Institutionen-, Sach- oder Prozesswissen, über das die Experten als Funktionsträger innerhalb eines bestimmten, in der wissenschaftlichen Untersuchung relevanten institutionellen Kontextes verfügen. Die Zielrichtung von Experteninterviews wird folgendermaßen zugespitzt: Ihr Gegenstand sind Wissensbestände i.S. von Erfahrungsregeln, die das Funktionieren von sozialen und politischen Systemen bestimmen: handlungsleitende Regeln jenseits von Verordnungen, ungeschriebene Gesetze des Expertenhandelns, tacit knowing, Deutungsmuster und Relevanzstrukturen. [Sie] beziehen sich mithin auf funktionsspezifische Wirklichkeitsausschnitte. (Meuser & Nagel 1994: 123)
Methodologisch scheint das Experteninterview nach Meuser und Nagel – mutatis mutandis – prädestiniert für die Ziele qualitativ-interpretativer Policy- bzw. Regierungsforschung innerhalb einer Fallstudie: Mit dem Einsatz von ExpertInneninterviews wird – forschungslogisch – das Interesse verfolgt, Strukturen und Strukturzusammenhänge des Expertenwissens/handelns zu analysieren. Mit der Perspektive auf Betriebswissen verbunden ist im Allgemeinen ein objekttheoretischer Fragen- und Aussagenkomplex, innerhalb dessen die Untersuchung angesiedelt ist. Hier wird ein kategoriales Gerüst als Bezugsrahmen für die empirische Analyse vorausgesetzt. Die Forschungsresultate sind von daher nicht nur Hypothesen über den untersuchten bereichspezifischen Gegenstand, sondern zugleich auch Prüfinstanz für die Reichweite der Geltung des zugrunde gelegten theoretischen Erklärungsansatzes. (Meuser & Nagel 2002: 76f.)
Doch auch Kritik am Experteninterview bleibt nicht aus und speist sich aus verschiedenen Richtungen. U.a. wurde die »Vereinnahmung« als genuin qualitativ-interpretative Methode bemängelt; Interviews mit »Experten« könnten ebenso gut quantitativ oder per Fragebogen, themen-/problemzentriert und offen, oder teilstrukturiert oder standardisiert geführt werden. Des Weiteren sei die Frage des »Who is an expert?« jeweils nur relational und aus dem Forschungszusammenhang zu beantworten.256 Die Beobachtung, dass keine der von Meuser und Nagel vorgeschlagenen Regeln der Gesprächsführung und Auswertung nicht auch auf andere Formen qualitativer Interviews anwendbar seien, führte zu der Unterstellung, es handele sich im Grunde genommen nicht um eine eigenständige Methode (vgl. Kassner & Wassermann 2002).
Themenzentrierte, semi-strukturierte Interviews mit Experten des Politikprozesses Die durchgeführten Experteninterviews dienten einerseits klar dem Ziel, die verschiedenen Kommissionsprozesse realitätsgenauer abbilden zu können, als dies durch die alleinige Analyse des sonstigen zugänglichen Quellenmaterials möglich gewesen wäre. Andererseits sollten sie auch dazu beitragen, aus den subjektiven Wissens- und Deutungsbeständen der Befragten theorie- und hypothesengenerierende Erkenntnisse übergeordneter Zusammenhänge, namentlich dem »Funktionieren« von Kommissionen im Prozess des Regierens
256
vgl. Bogner & Menz (2002a: 34f.); allg. Engstrom, Hess & Thoms (2004); Bogner & Togersen (2005).
3.1 Methodik der Fallstudie
187
sowie kommissionsinterner Prozesse hervorzubringen.257 Die Frage nach der subjektiven Evaluation an die Interviewten gründete primär auf der Annahme, in dem gewählten Sample (vgl. dazu Kap. 3.1.2.2) nicht nur über 26 Expertinnen und Experten zum Untersuchungsgegenstand zu verfügen, sondern in gewissem Sinne auch über Experten des Regierungssystems, die über Reflexionsflächen für das Handeln und Wirken Politik beratender Kommissionen mit Blick auf die parlamentarische Regierungsform der Bundesrepublik verfügen (vgl. auch Frantz 2006: 61). Somit wirken die Befragten quasi selbst hypothesengenerierend. Durch diese dritte Zieldefinition erfährt die rein wissens- und prozessorientierte Konzeption des Experteninterviews von Meuser und Nagel eine Modifikation. Denn durch die explizite Berücksichtigung subjektiver und evaluativer Sichtweisen der Interviewten werden (ob gewollt oder ungewollt) gleichzeitig immer auch biographischpersönliche Anteile wirksam, die von Meuser und Nagel als irrelevant erachtet werden.258
3.1.2.2 Sample, Set und Setting Die Auswahl der Interviewpartner resultierte aus einem umfangreichen Planungs- und Organisationsprozess (vgl. dazu allg. Helfferich 2004) und erfolgte unter verschiedenen Maximen. Primär waren dabei Elite-, Repräsentations- (bzw. Positions-) und Entscheidungskriterien Ausschlag gebend (vgl. Schmid, J. 1995: 315f.). Der Großteil der Gesprächspartner entstammte einer aufgrund umfangreicher Vorexplorationen erstellten Liste mit Personen, die als zentrale Akteure des migrationspolitischen Prozesses zwischen 2000 und 2004 zu gelten hatten.259
»Feldzugang« und allgemeines Vorgehen Der Zugang zu den Interviewpartnern erfolgte auf verschiedenen Wegen. Ein Teil der Interviews geht auf kurze Anschreiben zurück, in denen die Prozessbeteiligten um ein Gespräch zum Thema gebeten wurden. Erfreulicherweise waren fast alle Angefragten grundsätzlich zu einem Experteninterview bereit und bemüht, das Gespräch in angemessener Zeit zu ermöglichen (siehe Liste der geführten Interviews im Anhang 1). Daneben bestand ein iteratives Moment, in dem »Empfehlungen« von bereits Interviewten für weitere Gesprächspartner aufgenommen wurden. Ferner wurden insbesondere persönliche Verbindungen und »strategische Ketten« genutzt, wobei darauf geachtet werden musste, dass nicht die Zugangsmöglichkeiten (unbewusst) die Auswahl der Interviewpartner determinierten, so
257
vgl. dazu das auf der Grundlage des Meuser-Nagel’schen Ansatzes weiterentwickelte Modell des theoriegenerierenden Experteninterviews, das »im Wesentlichen auf die kommunikative Erschließung und analytische Rekonstruktion der ›subjektiven Dimension‹ des Expertenwissens« zielt (Bogner & Menz 2002a: 38). 258 Dies schien im Übrigen auch der Wahrnehmung der Interviewten zu entsprechen: Zahlreiche Gesprächspartner – besonders die »Nicht-Prominenten« – begannen ihrerseits das Gespräch mit kurzen Anmerkungen wie: »Vielleicht kurz zu meiner Biografie …«. 259 Darunter die 21 Mitglieder der Kommission, die 19 Mitarbeiter ihrer Geschäftsstelle, die innenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen der 14. und 15. Legislaturperiode, die Berichterstatter für Zuwanderungsfragen des Bundestagsinnenausschusses, Vertreter der Regierungsparteien, Vertreter der Exekutive, speziell aus dem Bereich des BMI.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
dass etwa ein bestimmtes parteipolitisches Übergewicht entstanden wäre.260 Personen, bei denen kaum Aussicht auf einen Interviewtermin bestand (z.B. Innenminister Schily oder andere Kabinettsmitglieder) wurden jedoch von vorne herein ausgeschlossen. Von insgesamt 26 Interviews waren knapp die Hälfte Gespräche mit Kommissionsmitgliedern (zwölf der 21 Mitglieder wurden befragt; vgl. Anhang 1), wobei das funktionale bzw. partei- und interessenpolitische Spektrum angemessen berücksichtigt wurde. Die Rolle der Arbeitsebene wurde durch eine ausreichende Zahl von Interviews reflektiert.261 Aus der Regierungsebene war die parlamentarische Staatssekretärin ebenso unter den Interviewten wie aus der Verwaltungsspitze der für die Kommission zuständige Abteilungsleiter aus dem BMI. Das Parlament wurde durch die für Migrationspolitik zuständigen Abgeordneten aller Fraktionen des 14. Deutschen Bundestags262 sowie zusätzlich durch die für Migrationspolitik zuständigen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der beiden größten Fraktionen berücksichtigt.263 Die Perspektive der Bundesländer wurde durch zwei MdB (15. WP) eingefangen, die zum Zeitpunkt der Zuwanderungskommission als migrationspolitisch versierte Amts- bzw. Mandatsträger (als MdL bzw. als Leiterin des LZZ) in Nordrhein-Westfalen tätig waren. Mit den Interviews sollten die »realen« Abläufe des Politikprozesses inklusive des personenbezogen zuschreibbaren Akteurshandelns abgebildet werden. Zielsetzung war daher die nicht-anonymisierte Interviewauswertung. Grundsätzlich wird zwar davon ausgegangen, dass die Bereitschaft der Informanten zur Weitergabe von themenbezogenem Funktions- und Prozesswissen in der Regel größer ist, wenn Anonymität zugesichert wird. Eine vollständige oder teilweise Anonymisierung der in den Experteninterviews erhobenen Informationen hätte allerdings nicht hinnehmbare Einschränkungen zentraler Ziele des Forschungsvorhabens mit sich gebracht und wäre kaum praktikabel gewesen. Zudem entstand die gesamte Studie im Zusammenhang mit der vielfach geäußerten Vermutung, in gubernativen Kommissionen würden unter Beteiligung sonst öffentlich handelnder Personen Beratungs- und Entscheidungsprozesse im Bereich der Regierung »arkanisiert«. Vor diesem Hintergrund scheint ein investigatives Moment im Sinne erhöhter Publizität von Politikprozessen innerhalb der Studie seiner Berechtigung nicht zu entbehren, insbesondere 260 Dieses »Schneeballsystem« (vgl. auch Frantz 2006: 63f.) berücksichtigt den Umstand, dass einerseits die formale Position von Repräsentanten im Politikprozess nicht automatisch mit deren realen Einfluss korreliert, und dass andererseits trotz Vorexplorationen über die Verteilung relevanten Wissens und etwaige Machtstrukturen innerhalb des Untersuchungsfeldes beim Forscher häufig nicht ausreichend Kenntnis darüber vorhanden ist (vgl. Bogner & Menz 2002: 46f.). Auch dieses Prinzip entspricht dem qualitativ-rekonstruktiven Paradigma, nach dem die zentralen Arbeitsschritte einer Untersuchung – die der Erhebung und der Auswertung – erst im Forschungsprozess konkretisiert werden (vgl. Bohnsack 1999: 34). 261 Hier wurden vier Interviews geführt, und zwar mit dem Leiter der Kommissionsgeschäftsstelle, der gleichzeitig Referent des BMI war, mit dem stellvertretenden Leiter der Kommissionsgeschäftsstelle und persönlichen Büroleiter der Kommissionsvorsitzenden sowie mit zwei Mitarbeiterinnen der Geschäftsstelle. 262 Jeweils ein Interview wurde mit Abgeordneten von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP und PDS geführt. Die im Innenausschuss zuständigen Vertreter von CDU (Erwin Marschewski) und CSU (Hartmut Koschyk) wollten trotz mehrfacher Nachfrage bedauerlicherweise der Interviewanfrage nicht entsprechen; statt dessen erläuterten ein mit Migrationsfragen befasster Fraktionsreferent, der diesen Abgeordneten eng zuarbeitete, sowie ein stellvertretendes Mitglied des Innenausschusses (Willi Zylajew) die Perspektive der Unionsfraktion. 263 Dies waren für die CDU/CSU Wolfgang Bosbach und für die SPD Ludwig Stiegler, deren Rolle als zusätzlich bedeutsam zu werten ist, da sie jeweils leitend in den partei- bzw. fraktionsinternen »Gegenkommissionen« zur Süssmuth-Kommission tätig waren: Stiegler leitete die Querschnittsarbeitsgruppe der SPD-Fraktion (»StieglerKommission«, vgl. Kap. 3.2.4.5); Bosbach war stellvertretender Vorsitzender der Kommission »Zuwanderung und Integration« der CDU Deutschlands (»Müller-Kommission«, vgl. Kap. 3.2.4.2).
3.1 Methodik der Fallstudie
189
solange dabei sichergestellt ist, dass die persönliche Integrität der Interviewten sowie sonstiger Personen nicht berührt wird. Folglich mussten Datenschutzfragen264 berücksichtigt und die Einwilligung der Betroffenen erbeten werden (vgl. Gläser & Laudel 2004: 271f.).
Leitfaden und Gesprächsführung Sämtliche Gespräche wurden als gering strukturierte, persönliche Experteninterviews geführt und waren an einem groben Leitfaden orientiert. Der Leitfaden hatte mehrere Aufgaben: Er ermöglichte dem Interviewer eine wichtige Orientierung in dem prinzipiell offenen Gespräch, so dass seine unterschiedlichen Wissens- und Fragebestände aus der Vorbereitung nicht verloren gingen und dem Experten gegenüber in kompetenter Form dargeboten werden konnten. Daneben schloss er aus, dass sich die Befragten in Irrelevantem »verloren«, da jederzeit am Leitfaden orientiert »interveniert« werden konnte (vgl. Meuser & Nagel: 77f.). Der Leitfaden wurde in drei verschiedenen Versionen generiert, die sich in Nuancen voneinander unterschieden, je nach dem auf welche der drei interviewten Personengruppen (Kommissionsmitglieder, Mitglieder des Arbeitsstabs bzw. sonstige politische Akteure) er zur Anwendung kommen sollte. Der Basis-Leitfaden wurde zwei Pre-Tests unterzogen und dabei geringfügig verändert. Er erwies sich insbesondere deshalb als brauchbar, weil er durch die Vermeidung direkter Fragen einen narrativen Gesprächsstil ermöglichte; von Seiten des Interviewers wurde meist nur auf Stichworte oder durch Spiegelstriche gekennzeichnete Themenkomplexe Bezug genommen (vgl. Anhang 2). 24 Gespräche fanden unter vier Augen statt; in zwei Fällen wohnten ein Praktikant bzw. eine persönliche Mitarbeiterin unbeteiligt dem Gespräch bei. Sämtliche Gespräche wurden mit einem analogen Diktiergerät aufgenommen, welches möglichst unaufdringlich zwischen Interviewer und Gesprächspartner platziert wurde.265 Daneben wurden die Gesprächspartner im Rahmen des Interviews um ihr Einverständnis gebeten, im Zuge der wissenschaftlichen Auswertung ggf. auch unter Nennung des Namens daraus zu zitieren. Sieben Interviewpartner baten daraufhin um die vorherige Kenntnisgabe bzw. Möglichkeit der Autorisierung der in die Auswertung eingehenden Passagen.266 Das Interview erfolgte im Sinne eines an den Regeln offener Gesprächsführung orientierten Thematisierens der Komplexe des Leitfadens. Dabei wurde auf eine non-direktive Interviewführung geachtet, die dem Gesprächspartner die Möglichkeit zur freien und unbe-
264 Zur Diskussion datenschutzrechtlicher Probleme vgl. Gläser (1999), zu ethischen Fragen in Interviews Kvale (1996: 109ff.), zu den grundsätzlichen ethischen Prinzipien empirischer Politikforschung Dreier (1997: 52ff.). 265 Die Tonaufnahme gilt bei Experteninterviews gemeinhin als unverzichtbar; vgl. dazu Gläser und Laudel (2004: 151f.); zu Gütekriterien für Tonaufnahmen in Interviewsituationen umfassend Deppermann (2001: 24ff.). Das Einverständnis zur Aufzeichnung wurde vorab eingeholt – bisweilen mittels »taktischen« Vorgehens, indem z.B. während des Hervorholens des Gerätes beiläufig gesagt wurde: »Ich hoffe Sie haben nichts dagegen, wenn ich das Band mitlaufen lasse…« (vgl. dazu ähnlich Hermanns 2000: 362). 266 Dieser Bitte wurde vom Verfasser nachgekommen, in dem das Tonbandtranskript übersandt wurde. Bei den Autorisierungen wurden i.d.R. lediglich sprachliche oder grammatikalische Änderungen vorgenommen sowie Redundanzen beseitigt. In einem Einzelfall wurden jedoch bei der Autorisierung wichtige Passagen ersatzlos gestrichen, denen für die Hypothesengenerierung der Studie erhebliche Bedeutung zugemessen werden musste. Um nicht auf diese Daten zu verzichten, werden sie analog zu anonymen Mitteilungen ohne Quellenbeleg (mit der Bezeichnung »dokumentierte Hintergrundinformation«) in die Studie eingearbeitet.
190
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
einflussten Übermittlung seines Wissens gab.267 Von spezifischen Fragen wurde zunächst abgesehen, ein eher narrativer Stil durch offene Stimuli zu einem bestimmten Komplex aus dem Leitfaden gefördert.268 Erst nach dem entsprechenden Bericht wurde ggf. konkret nachgefragt. Für Experteninterviews sind zahlreiche Typisierungsdimensionen und Gesprächsdynamiken beschrieben worden, die insbesondere das direkte Interaktionsverhältnis von Interviewer/Wissenschaftler und Experte betreffen (vgl. Abels & Behrens 2002: 181ff.; Bogner & Menz 2002a: 50ff.). Hermanns’ (2000) spricht wertneutral von »interpersonellen Stegreif-Dramen«, in deren Vorbereitung und Verlauf vom Interviewer ganz spezifische Aufgaben bewältigt werden müssen. Dies beginnt bei Kleidung und Auftreten, führt über das Maß an Selbstoffenbahrung bei »politischen« Fragen bis hin zu konkreten »Fallen« und »Effekten« gelungener bzw. misslungener Interaktion. Josef Schmid (1995) sieht aufgrund seiner Erfahrungen aus einer Interviewstudie mit baden-württembergischen CDUFunktionären ein möglichst »angepasstes«, stellenweise durchaus als »anbiedernd« zu bezeichnendes Verhalten angezeigt, um das Interview erfolgreich im Sinne möglichst umfassender Wissensvermittlung zu gestalten (vgl. Schmid, J. 1995: 316f.). Als Alternative dazu bietet sich eine unpolitische, »überparteiliche« Herangehensweise an die Interaktion unter Propagierung wissenschaftlicher Distanz an. Zu Recht wird ein solches Vorgehen von Bogner und Menz (2002a) abgelehnt, da auch der Interviewer i.d.R. keineswegs frei von einer persönlichen, eben auch parteipolitisch verortbaren Wertung ist. Vielmehr gelte es, sich vom »Neutralitätsideal« zu verabschieden und – wiederum im Gegensatz zu Schmid – die eigene Position relativ offen zu vertreten (vgl. Bogner & Menz 2002a: 64ff.). Diesem Vorgehen wurde im Groben gefolgt, wobei keine merklichen negativen Einflüsse auf die Informationsbereitschaft festgestellt werden konnten. Die zeitliche Perspektive des Interviews wurde nach der telefonischen oder schriftlichen Vorabinformation in der Regel zu Beginn des Gesprächs nochmals abgeklärt; die meisten Interviewpartner hatten der Anfrage entsprechend (hier war eine antizipierte Gesprächsdauer von 30-45 Minuten mitgeteilt worden) eine Zeitstunde für das Interview reserviert. Die Dauer der meisten Gespräche lag zwischen 40 und 70 Minuten. Das kürzeste Gespräch dauerte 20 Minuten, das längste 1 Stunde und 45 Minuten. Ausgehend von der Annahme, dass möglicherweise »nicht vor der systematischen und kontrollierten Auswertung entschieden werden kann, was sich als interpretationsbedürftig und -würdig erweisen wird« (Hitzler & Hohner 1994: 393), wurden alle Interviews zunächst vollständig transkribiert. Lediglich Textpassagen, die mit dem Untersuchungsthema in keinerlei Zusammenhang standen, wurden ausgespart. Die sprachlich-syntaktische und stilistische Bereinigung erfolgte in Anlehnung an das Vorgehen bei der Erstellung von Plenarprotokollen des Deutschen Bundestags (vgl. Klein 1989: 981f.). Am Ende des Transkriptionsprozesses – zu den im Einzelfall erfolgten Autorisierungen durch die Inter-
267
Auf methodische Details des Gesprächsverlaufes wird an dieser Stelle nicht näher eingegangen; vgl. dazu Hellferich (2004), Froschauer & Lueger (2003: 58-79), Hermanns (2000); zu Setting und Interaktionen Pfadenhauer (2002), Abels & Behrens (2002), Gläser & Laudel (2004: 107-185) sowie Schmid, J. (1995: 309-312). 268 Beispiele: Der Punkt »Entstehungszusammenhang der Zuwanderungskommission« im Leitfaden führte zu der Formulierung »Was können Sie mir zu den Umständen der Berufung der Zuwanderungskommission sagen?«; der Punkt »Wechselwirkung mit dem Parlament« im Leitfaden wurde in einer allgemeinen Frage abgedeckt: »Was fällt Ihnen zur Wechselwirkung der Zuwanderungskommission mit sonstigen Akteuren des politischen Systems, etwa dem Bundestag, der Regierung oder der Ministerialbürokratie ein?«
3.1 Methodik der Fallstudie
191
viewten vgl. Fn. 266 – stand eine Datenbasis von mehr als 500 Seiten Interviewtext zur weiteren Auswertung zur Verfügung.
3.1.3 Auswertung: Inhaltsanalyse als Reduktion und Interpretation verbaler Daten Die im deutschen Sprachraum prominente Methode der qualitativen Inhaltsanalyse wurde Anfang der 1980er Jahre von Philipp Mayring umfassend beschrieben (aktuell Mayring 2003). Es handelt sich dabei in erster Linie um ein mehrschrittiges Reduktionsverfahren, bei dem abgeschlossene Kommunikationsinhalte in Originaltexten nach festgelegten Regeln und Abläufen einer theoretischen Abstrahierung zugänglich gemacht werden. Mayrings allgemeines Ablaufmodell einer Inhaltsanalyse, das im Sinne eines ganzheitlichregelgeleiteten Vorgehens auch bereits die oben in Kap. 3.1.2 referierten vorbereitenden Schritte impliziert, wird auch für die hier vorliegende Analyse übernommen. In der Regel wird bei der Adaption dieser inhaltsanalytischen Methodik von der Formulierung einer Auswertungsstrategie – nicht einer eigenen Methode – gesprochen (vgl. Meuser & Nagel 2002: 80; Schmidt, Ch. 2000: 448). Der Ansatz von Meuser und Nagel propagiert ein fünfschrittiges Auswertungsverfahren. Im Anschluss an die Transkription der Interviews folgen zunächst zwei Schritte der Materialverdichtung: die Paraphrase sowie die Bildung von Überschriften. Darauf folgt der so genannte thematische Vergleich, bei dem Textpassagen aus verschiedenen Interviews in Kategorien zugeordnet werden. Schließlich kommt es zur soziologischen Konzeptualisierung der Aussagen sowie ggf. deren theoretischer Generalisierung (vgl. Meuser & Nagel 2002: 83-91). Diesem Vorgehen wird hier aus unterschiedlichen Gründen nur in Ansätzen gefolgt; vielmehr findet eine spezielle, dem Inhalt, den zeitlichen Kapazitäten sowie der EDVUnterstützung angemessene und stärker an der computergestützten qualitativen Inhaltsanalyse orientierte Auswertungsstrategie Anwendung (vgl. Kuckartz 2006). Die Analyseeinheiten (Aussagen aus den Interviews) wurden in ihrem jeweils vollen Umfang einer Kategorie zugeordnet. Im finalen Schritt der Darstellung wurde das indizierte Material zwar interpretiert, wegen der »multiplen Zielrichtung« der Auswertung (vgl. dazu Kap. 3.1.1) jedoch nicht in Form einer Zuführung zu fest gefügten soziologischen Konzepten und Theorien.
Spezielle Auswertungsstrategie Die Auswertung folgte grob dem Ablaufmodell einer strukturierenden Inhaltsanalyse, weshalb das entsprechende Modell Mayrings modifiziert wiedergegeben wird (vgl. Abb. 5). Genutzt wurde für diesen gesamten Auswertungsprozess die Software MAXqda®, deren Funktionen und Handhabung dafür besonders geeignet erschienen (vgl. dazu speziell Kuckartz 2007).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Festlegung des Materials 26 Interviews – 500 Seiten Transkripte
Analyse der Entstehungssituation Direktes Anschreiben/Ansprechen - »Expertengespräche« bzw. »Experteninterviews« – überwiegend in Büro- und Privaträumen – ggf. Vorabinformation per E-Mail – Offene, leitfadenorientierte Vier-Augen-Interviews – Dauer unterschiedlich (20 bis 120 Min.)
Formale Charakteristika des Materials Tonbandaufnahmen - Volltranskripte
Richtung der Analyse Faktische Ereignisse – Handlungsstrategien der Akteure – Einschätzungen der Akteure
Theoretische Differenzierung der Fragestellung Funktionen von Regierungskommissionen im Politikprozess – keine meta-theoretische Ausgangsprämisse – hypothesen- und theoriegenerierender Ansatz
Bestimmung der Analysetechnik(en) und Festlegung des konkreten Ablaufmodells
Definition der Analyseeinheiten Kontexteinheit: 26 Transkripte – Kodiereinheit: Aussagen in Sätzen oder Teilsätzen – Bedeutungserschließung durch Kategorienzuordnung – induktives, revisionierendes Vorgehen
Analyseschritte mittels des Kategoriensystems Explikation Strukturierung Definition der Kategorien – Definition der Unterkategorien - regelgeleitetes Zuordnen Inhaltliche Strukturierung – Explikation von Handlungs- und Ablaufzusammenhängen – Ansätze zu Handlungstypisierungen – enge Kontextanalyse von Akteurshandeln
Rücküberprüfung des Kategoriensystems am Material Code-Revision – verifizierende Printmedienauswerung
Interpretation der Ergebnisse in Richtung der Hauptfragestellung
Anwendung der inhaltsanalytischen Gütekriterien
Abbildung 5:
Abgewandeltes inhaltsanalytisches Ablaufmodell nach Mayring (2003: 54)
3.1 Methodik der Fallstudie
193
Die Grundlage jeder inhaltsanalytischen Auswertung besteht in der regelgeleitenen Zuordnung von Textstellen in ein System von Analysekategorien. Diese wird als Kategorisierung, Kodierung bzw. als »Verkodung« oder Indizierung bezeichnet.269 Wie im »klassischen« Modell Mayrings kann die Erstellung des Kategoriensystems der Kodierung des Materials vollständig vorgelagert sein (thematisches Kodieren; vgl. Kuckartz 2007: 83ff.). Dem steht das aus der Grounded Theory bekannte offene Kodieren gegenüber, bei dem gewissermaßen »vorurteilsfrei« aus dem Material heraus ein Kategoriensystem erst erarbeitet wird (vgl. ebd.: 75ff.). Für den Umgang mit dem hier vorliegenden Material hat sich eine Kombination als zweckdienlich erwiesen:270 Um im Sinne eines offen-qualitativen Forschungsprozess möglichst »nah« am Material zu arbeiten und dessen Inhalte nicht vorschnell in ex ante festgelegten Kodes zu fixieren (und dabei möglicherweise relevante, »neue« Kategorien zu übersehen), erfolgte die Kodierung zunächst weitgehend »neutral« in grobe chronologische und thematische Komplexe.
Kodieren als regelgeleitetes Verfahren Der Erarbeitung des Kategoriensystems war in der Regel das mehrmalige Lesen und »Durchgehen« der Interviews vorgelagert, u.a. ein Prüfen der Transkripte unter erneutem, parallelen Abspielen der Bandaufnahme (»Korrekturhören«; vgl. Schmidt, Ch. 2000: 449). Zunächst entstand auf diese Weise ein vorläufiges, strukturierendes Kategoriensystem mit insgesamt 48 Kategorien und Unterkategorien, das im Zuge des ersten kompletten Materialdurchgangs differenziert und untergliedert wurde (vgl. Anhang 3). Für solcherart qualitatives Vorgehen steht in der Auswertungssoftware MAXqua etwa die Funktion »invivoKodieren« zur Verfügung, bei der Textstellen, die als solche relevant erscheinen, direkt in einen Kode umgewandelt werden können (vgl. Kuckartz 2007: 74). Das Kodieren des Textmaterials soll als regelgeleiteter Vorgang stattfinden und konsistent sein. Daher wurde parallel ein Kodierleitfaden in Form kurzer Kodebeschreibungen entwickelt, die eine möglichst eindeutige Zuordnung erlauben sollen.271 Es wurde jedoch nicht mit ausschließlicher Kodierung – bei der jede Aussage bzw. Ausprägung maximal nur einer Kategorie zugeordnet wird – gearbeitet. Vielmehr waren Mehrfachkodierungen möglich. Um die Reliabilität bei der Kodierung zu verbessern wurden probeweise zwei Interviews in zeitlichem Abstand komplett rekodiert und mit den Erstkodierungen verglichen, daraufhin die Kategoriendifferenzierungen im Kodierleitfaden geschärft (Revision) und die Kodierungen aller Texte erneut durchgegangen. Der Kodebaum umfasste bis zu drei Hierarchieebenen, wobei meist nur der untersten Kodeebene Textstellen zugeordnet wurden; die jeweils darüber liegende Kategorie hatte dann lediglich 269 Die Termini »Kode/Kodierung« und »Kategorie/Kategorisierung« sind im methodologischen Sprachgebrauch nicht eindeutig differenzierbar und werden im Folgenden weitgehend synonym verwendet – so etwa auch bei Kuckartz (2004, 2006, 2007). 270 Zentrale Anknüpfungspunkte ergaben sich bei der Auswertungsstrategie zu den methodischen Beschreibungen bei Gläser und Laudel (2004) sowie Christiane Schmidt (2000). Die Inhaltsanalyse erfährt hier eine Modifikation in Richtung auf ein stärker reflexiv-interpretierendes Verfahren. Der eingeschlagene Mittelweg überwindet den scheinbaren Antagonismus zwischen einem ausschließlich hypothesenprüfenden und einem rein rekonstruierendem Verfahren (vgl. dazu ausführlich Bohnsack 1999: 12-33). 271 Dabei wurde die so genannte Code-Memo-Funktion von MAXqda genutzt, bei der jedem Kode ein »Textfenster« angehängt werden kann (vgl. dazu Kuckartz 2007: 140ff.).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
strukturierende Funktion.272 Innerhalb des endgültigen Kategoriensystems fand sich das auszuwertende Textmaterial mittels 69 verschiedener Kodes indiziert, wobei die kleinste Anzahl der Codings (Zuordnungen von Kodiereinheiten pro Kode) bei zwei, die größte bei 49 lag.
Materialvergleich, Verifikation, Interpretation und hypothetisch-theoretische Abstrahierung Erst nach Abschluss des Kodierens erfolgt die Aufbereitung und Interpretation, also der »Vergleich« des Materials in Form einer unmittelbaren Gegenüberstellung der unterschiedlichen, einer Kategorie zugeordneten Aussagen (Codings) und das Ziehen von Schlussfolgerungen vor dem Hintergrund der politikwissenschaftlichen Fragestellungen der Studie. MAXqda® ermöglicht es, einfach Übersichten über das indizierte Material zu erzeugen. Daneben können Texte bzw. manuell erzeugte Memos mittels Text-Retrieval-Funktionen nach Stichwörtern durchsucht werden (vgl. Kuckartz 2007: 108ff.). Erst nach der Aufstellung kodespezifischer Übersichten erfolgte die inhaltliche Abstrahierung, Paraphrasierung und Interpretation der Textpassagen. Die Kategorien und Feinkodes bildeten gleichzeitig die Grundlage zur Verdichtung der zunächst nur unter thematisch-chronologischen Gesichtspunkten erstellten Gliederung des Empirieteils der Arbeit. Ergänzend ging an dieser Stelle die Berichterstattung der Printmedien systematisch in die Auswertung ein. Unter Gesichtspunkten der Relevanz sowie der »politischen« Ausgewogenheit in der Berichterstattung wurden die beiden größten überregionalen AbonnementTageszeitungen – die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine – ausgewählt.273 Die Datenbasis wurde über den Mediendienst LexisNexis® erschlossen. Mittels Suchwörtern, die eine annähernd erschöpfende Abdeckung des Themas versprachen, wurden insgesamt über 2.000 Artikel recherchiert und in chronologischer Folge in Textdokumenten abgelegt.274 Auf diese Datenbasis konnte nun mittels Text-Retrieval-Funktion bzw. »chronologischem Scrollen« zugegriffen werden. Die Printmedienauswertung bot einen verlässlichen Datenstamm zur Ergebnissicherung (Verifikation) der aus den Interviews rekonstruierten Faktendarstellungen und interpretativen Schlussfolgerungen.
272
vgl. Anhang 3. Die Gesamtzahl der Codings betrug 1.235. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) verfügt über eine Auflage von rund 437.700 Stück (verkaufte Exemplare), während die Frankfurter Allgemeine (FAZ) rund 365.600 Zeitungen pro Tag verkauft. Ergänzend wurde die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung als auflagenstärkste Sonntagszeitung (FAZamSo; ca. 344.000 Verkaufsexemplare) ausgewählt (Auflagenzahlen 2. Quartal 2009 nach Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.; http://www.ivw.de, 18.07.2009); vgl. auch die ähnlichen Überlegungen zur Auswahl dieser beiden Medien für ihre Fallanalyse bei Gerhards, Neidhardt und Rucht (1998: 47, 190ff.). 274 Dem Sprachgebrauch der Redaktionen gemäß wurde unter Nutzung des »ODER«-Operators zunächst nach den Stichworten »Zuwanderungsgesetz«, »Einwanderungsgesetz« und »Migrationsgesetz« selektiert. Der Zeitraum Januar 2000 bis September 2004 stellte sicher, dass der thematische Vorlauf der im Sommer 2000 eingesetzten Kommission ebenso erfasst ist wie die Gesetzgebungsprozesse und Reaktionen auf den Beschluss des Zuwanderungsgesetzes durch Bundestag und Bundesrat im Juni/Juli 2004. In einer gesonderten Auswahl wurden ferner alle Artikel gesucht, die mindestens eines der Stichworte »Zuwanderungskommission«, »Einwanderungskommission«, »Süßmuth-Kommission«, »Süssmuth-Kommission« oder »Müller-Kommission« enthielten. 273
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
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3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre? Dieses Kapitel analysiert umfassend den exekutiv-administrativen Vorlauf der Zuwanderungskommission – den planerisch-strategischen Regierungsprozess – und stellt diesen in Zusammenhang mit der allgemeinen politischen Diskussion in Parteien, Parlament und Öffentlichkeit. Welche Akteurskonstellationen, strukturellen Gegebenheiten, Intentionen und parteipolitischen Rahmenbedingungen sind für das Innenministerium bei der Berufung seiner Mitglieder handlungsleitend? Ist die Einsetzung ein Ausdruck aktiven Regierens oder eher ein Akt symbolischer Politik in Erwiderung auf den gestiegenen Handlungsdruck? Wie vollzieht sich die Berufung einer Regierungskommission technisch und organisatorisch? Warum wird überhaupt öffentlichkeitswirksam eine »Unabhängige Kommission« berufen? Erfüllt die (reaktive) Einsetzung von Arbeitszirkeln der Parteien im Zuge der Installierung der Zuwanderungskommission echte Programm- bzw. Strategiefunktionen? Oder ist darin nur ein inhaltsarmes Akkompagnement mit Alibicharakter zu der prominenten Regierungskommission zu sehen? Dabei wird auch ein wenig beachteter, aber für die Analyse der Kommissionsregierens eminent wichtiger Komplex in den Fokus genommen: Die Reaktionen des parlamentarischen und parteipolitischen Umfelds auf die Installierung der Kommission sowie die daraus erwachsene Policy-Beratungskonkurrenz.
3.2.1 Allparteiliche Problemwahrnehmung: »Renovierungsbedarf beim Ausländerrecht« Nach der Greencard-Initiative des Bundeskanzlers vom 23. Februar 2000 reift bei Bundesinnenminister Schily in relativ kurzer Zeit der Entschluss, das drängende Thema Zuwanderung innerhalb seines Ressorts endlich offensiver aufzugreifen und einen Regelungsbedarf anzudeuten. In einem Spiegel-Interview Anfang März schließt er ein Zuwanderungsgesetz erstmals nicht mehr aus.275 Obwohl seine Erläuterungen relativ vage bleiben, bedeuten sie doch einen deutlichen Kurswechsel zu der nur 15 Monate zuvor geäußerten kategorischen Ablehnung weiterer Zuwanderung und der allgemein restriktiven Rhetorik in der Innenpolitik (vgl. Kap. 2.4.2). Diese war beim Parteitag der SPD im Dezember 1999 auf breiten Widerstand in der Basis getroffen,276 so dass die neue Linie ein Stück weit als Reaktion auf den Parteiwillen interpretiert werden kann. Auch ein großer Teil der SPDBundestagsfraktion sieht in einem Einwanderungsgesetz die logische Folge der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts (vgl. Kap. 2.4.2, insb. Fn. 228). Das Thema gilt jedoch als heikel und unberechenbar: Die gesellschaftliche Niederlage in der Frage der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts blockiert ein aktives Agendasetting, etwa durch einen mit dem Koalitionspartner abgestimmten Referentenentwurf nach den Vorstellungen des BMI. Im Innenausschuss des Deutschen Bundestages regt Schily an, eine parteiübergreifende Grundsatzdiskussion zum Thema Zuwanderung zu führen und skizziert dort bereits die
275
vgl. Der Spiegel Nr. 10 vom 6. März 2000: 29ff. vgl. Heribert Prantl, »SPD-Scherbengericht über Schilys Asyl- und Ausländerpolitik«, SZ vom 10. Dezember 1999: 51. 276
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Option einer »Zuwanderungsquote«, in die auch Asylsuchende und Aussiedler einzubeziehen seien.277
3.2.1.1 Intentionen des BMI: »Einen großen Wurf« Unter Wahrung des Primats der Migrationssteuerung bzw. -abwehr und einer einwanderungsskeptischen Grundhaltung avisiert der Innenminister eine Ordnung und Sondierung der vielschichtigen, mit Zuwanderung assoziierten Sachverhalte, um daraus möglicherweise gesetzgeberische Konsequenzen zu ziehen. Aus dem formulierten Erfordernis der »sorgfältigen Prüfung« lässt sich bereits die Intention ableiten, möglicherweise auch Instanzen außerhalb der Innenministerialbürokratie mit politikberatenden Aufgaben zu befassen. Dabei ist die Idee einer Novellierung bzw. grundlegenden Reform des Ausländerrechts für das BMI in doppelter Hinsicht kein Novum: Erstens hatten bereits im Vorfeld der Greencard-Debatte die Arbeitgeberverbände ein Konzept zur gesteuerten und geregelten Zuwanderung bei der neuen Bundesregierung bzw. Innenminister Schily angemahnt (vgl. Interview Kannengießer: 6). Dieser war – so seine Einlassungen in internen Besprechungen der Leitungsebene des Hauses – bestrebt, den Forderungen von Wirtschaft und führenden Unternehmen im Gebiet der Hochqualifizierten auf dem Wege von Absprachen und ggf. Verordnungen entgegen zu kommen, jedoch ohne dabei Gesetze zu ändern (vgl. Interview Sonntag-Wolgast: 8). Die Frage war in der Leitungsebene des BMI zwar über einen längeren Zeitraum thematisiert worden, »führte aber eigentlich nicht zu irgendwelchen konkreten Ergebnissen« (ebd.). Zweitens legten innerhalb der Abteilung A des BMI (Ausländer- und Asylangelegenheiten) offenbar primär rechtssystematische und anwendungspraktische Gründe einen Reformbedarf im Bereich des zersplitterten, inkrementell gewachsenen Ausländerrechts nahe. Bereits unter der Vorgängerregierung hatte es dazu Pläne gegeben; der Spielraum für Reformen war jedoch unter den Innenministern Seiters und Kanther relativ klein geblieben. Die Kapazitäten des BMI – im ersten Jahr der rot-grünen Bundesregierung noch stark durch die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts gebunden (vgl. Sonntag-Wolgast 1999: 28) – stehen ab dem Frühjahr 2000 zur Formulierung eines Gesetzentwurfes zur Verfügung. Für den leitenden Ministerialbeamten stellt sich die Situation folgendermaßen dar: Man konnte sich überlegen, ob man einen großen Wurf macht oder ob man am geltenden Recht rumstoppelt […]. Die Idee, das insgesamt ganz neu zu machen, hatten wir auch schon einmal vorher hier im Innenministerium gehabt. Wir wollten im Grunde genommen ein wirkliches Gesamtwerk erstellen, nicht so ein Flickenteppich von verschiedenen Änderungen. (Interview Lehnguth: 9, 32)
Innerhalb des BMI ist man zunächst bestrebt, eine Art Inventur der zahlreichen Bundesvorschriften, von denen Ausländerinnen und Ausländer betroffen sind, vorzunehmen (vgl. ebd.: 8). Dazu wird eine informelle Arbeitsgruppe aus Beamten der Abteilung A gebildet, die auch konkrete Vorarbeiten für die Kommission leistet (vgl. Kap. 3.2.3.5; später als »Projektgruppe Zuwanderung« im Organigramm des BMI verankert).
277 vgl. »Bericht des Bundesministers des Innern Otto Schily über die ausländerrechtlichen Eckpunkte und die integrationspolitischen Folgen der Einführung der sogenannten Green Card«, Kurzprotokolle der 32. und 33. Sitzung des Innenausschusses vom 22. März 2000 (S. 7-15) bzw. vom 5. April 2000 (S. 8-14).
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3.2.1.2 Skepsis der Regierungsparteien: »Vor der Wahl kommt da nix mehr!« Bündnis 90/Die Grünen äußern Skepsis gegenüber der restriktiven Haltung des Innenministers. Ein umfassendes Einwanderungs- und Integrationsgesetz, dessen Umsetzung jedoch Zeit erfordere, wird vorgeschlagen.278 Für einen Gesetzentwurf, der in diesem Sinne neben Einwanderung auch umfassend die staatlichen Sprach- und Integrationsangebote für alle Zuwanderergruppen regelt, sieht man in Anbetracht der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, der Erfahrung aus der politischen Auseinandersetzung um die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts sowie einer bis dahin unvorbereiteten Debatte keine Realisierungschancen.279 Weite Teile der SPD erteilen einem Zuwanderungsgesetz ebenfalls eine vorläufige Absage bzw. stellen es unter den Vorbehalt eingehender Diskussion, die man frühestens zu Beginn der folgenden Legislaturperiode zu politischen Entscheidungen führen könne.280 Bezüglich der konkreten Zielvorstellungen treten besonders in Asylfragen im Parlament grundlegende Differenzen zwischen den Positionen der SPD-Abgeordneten und der des Innenministers offen zu Tage;281 aber auch in sich ist die SPD-Bundestagsfraktion hochgradig gespalten und noch »nicht gesprächsfähig« (vgl. Interview Stiegler: 7, 13ff., 21). Innerhalb der Koalition überwiegt die Absicht, die Frage der Migrationsgesetzgebung nicht im Rahmen der Greencard-Diskussion (und nicht ausschließlich als Zuwanderungsdebatte – sondern schwerpunktmäßig als Integrationsdebatte) zu beraten (vgl. Interviews Sonntag-Wolgast: 78; Özdemir: 94). Daneben besteht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung um ein Zuwanderungsgesetz Gegenstand zahlreicher Landtagswahlkämpfe wird bzw. aufgrund der unsicheren Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat nicht vor Beginn des Bundestagswahlkampfes abgeschlossen werden kann.282 Bundeskanzler Schröder zeigt sich durch die positive Rezeption auf die Greencard zwar ermutigt, das Thema weiter zu behandeln, führt im persönlichen Gespräch mit dem zuständigen Mitglied des DGB-Bundesvorstandes unmittelbar nach der Greencard-Einführung jedoch aus: »Das ist jetzt ganz gut, aber mit einem richtigen Einwanderungsgesetz: Warten bis zur nächsten Legislaturperiode; also vor der nächsten Wahl kommt da nix mehr!« (Interview Putzhammer: 94). Am 1. Mai 2000 bezeichnet Schröder im Rahmen einer Kundgebung eine grundsätzliche Debatte über ein Einwanderungsgesetz als unnötig, ein solches Gesetz sei in der laufenden Legislaturperiode überflüssig; und noch am Tag des Kabinettsbeschlusses zu den Greencard-Verordnungen
278 vgl. FAZ vom 24. März 2000: 13 sowie vom 1. April 2000: 2; mit Blick auf die so genannte Greencard versuchen Bündnis 90/Die Grünen (weitgehend erfolglos), die vorgesehene temporäre Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung als echte Einwanderungsoption umzugestalten (vgl. ebd. sowie SZ vom 16. März 2000: 6; vom 24. März 2000: 2 sowie FAZ vom 24. März 2000: 13). 279 vgl. die Ausführungen des innenpolitischen Sprechers Cem Özdemir (BT-Pl.Pr. 14/99 vom 13. April 2000: 9289D-9291A). 280 so erklärt Generalsekretär Franz Müntefering, die Greencard sei »eine ›Lex Informationstechnologie‹ auf Zeit – und nichts anderes. Auch aus diesem Grund sehen wir keinen Anlass, in dieser Legislaturperiode eine Debatte um ein Zuwanderungsgesetz zu führen« (FAZamSo vom 19. März: 5); ähnlich der Vorsitzende des BundestagsInnenausschusses Willfried Penner (vgl. SZ vom 15. März 2000: 1) und der innenpolitische Sprecher der Fraktion Dieter Wiefelspütz (vgl. SZ vom 16. März 2000: 6). 281 vgl. die Antworten des Abgeordneten Rüdiger Veit auf die Zwischenfragen des Abgeordneten Erwin Marschewski (BT-Pl.Pr. 14/93 vom 16. März 2000: 8580C/D). 282 Die Absicht, das Thema aus dem Wahlkampf heraus zu halten, wird insbesondere auch bei der oppositionellen CDU/CSU-Fraktion vermutet (vgl. Interview Helm: 6). Im Frühjahr 2000 stehen Landtagswahlen bevor in Nordrhein-Westfalen (14. Mai 2000), Baden-Württemberg (25. März 2001), Berlin (21. Oktober 2001), Hamburg (23. September 2001) sowie in Rheinland-Pfalz (25. März 2001).
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Anfang Juni kündigt er an, ein Einwanderungsgesetz werde es mit ihm nicht geben –283 zu diesem Zeitpunkt steht im BMI nach eingehender Konsultation mit dem Bundeskanzleramt bereits der Plan zur Süssmuth-Kommission. Das Politik beratende Gremium erscheint in diesem Zusammenhang zunächst ausschließlich als Vehikel, um die laufende Debatte zu entschärfen und zeitlich zu verschieben.
3.2.1.3 Positionen der Opposition: »Wir müssen eine Diskussion führen« Prinzipiell erkennen auch alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien den Reformbedarf des Ausländerrechts und ein Regelungserfordernis in Sachen Zuwanderung an, auch und gerade im konservativen Spektrum der CDU. Der neue Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz formuliert diese gewandelte, primär an utilitaristischen Kriterien orientierte Position im März 2000, unmittelbar nach Schilys Vorstoß: Wir müssen eine Diskussion darüber führen, ob wir nicht wie viele andere Staaten auch die ungeregelte Einwanderung über das Asylrecht ablösen müssen zu Gunsten einer geregelten Zuwanderung über ein Gesetz. Das muss sich dann allerdings ausschließlich aus der Interessenlage des Staates und nicht aus der der Einwanderer definieren.284
Auch wenn daneben parteiübergreifend Maßnahmen zur besseren Integration im Mittelpunkt des Interesses stehen, ist man von konsentierenden Positionen weit entfernt: Wir haben ja alle – alle – erheblichen Renovierungsbedarf beim geltenden Ausländerrecht gesehen, insbesondere im Bereich Integration. Aber die Vorstellungen darüber, wie ein neues Zuwanderungs- und Integrationsrecht aussehen sollte, gingen weit auseinander. Bei Union, Rot-Grün, Bundesregierung, Koalition – überall wurden mehr oder weniger unterschiedliche Auffassungen vertreten. (Interview Bosbach: 10)285
Die Policy-spezifische Profilierung funktioniert daher hauptsächlich über negative campaigning: Die Opposition im Bundestag nutzt die Gelegenheit, die Greencard-Initiative der rot-grünen Bundesregierung an mehreren Fronten anzugreifen.286 Die FDP beeilt sich, eine »echte« Greencard zu fordern, geißelt die geplante befristete Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung als »koloniales Herrschaftsdenken« und fordert die Bundesregierung mit Verweis auf ihren immer noch im parlamentarischen Verfahren befindlichen Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes von 1998 dazu auf, ebenfalls »ein umfassendes Konzept zur Steuerung der Einwanderung mit dem Ziel einer gesetzlichen Regelung vorzulegen«.287 Die PDS bezeichnet eine »Politik, die eine vermeintliche Elite aus anderen Län283
vgl. SZ vom 2. Mai 2000: 6; FAZ vom 2. Mai 2000: 1 sowie vom 4. Mai 2000: 1; SZ vom 2. Juni 2000: 6. Der Spiegel Nr. 11 vom 13. März 2000: 30; vgl. auch die Position des für Innenpolitik zuständigen stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Bosbach: »Wenn die Bundesregierung ein Einwanderungsgesetz vorschlägt, kann ich meiner Partei nur raten, sich der Diskussion nicht zu verweigern.« (zit.n. FAZ vom 14. März 2000: 1) 285 vgl. auch Interview Helm: 17f. Die konkreten Vorschläge der Unionsparteien aus der Oppositionsrolle »zur Verbesserung der Integrationsmöglichkeiten« wurden bis dato von einer Fülle restriktiver Maßnahmen flankiert (vgl. Antrag der Fraktion der CDU/CSU »Modernes Ausländerrecht«, BT-Drs. 14/532 vom 16. März 1999: 3ff., 8). 286 vgl. dazu allgemein und umfassend die beiden Debatten im Deutschen Bundestag vom 13. April 2000 (BTPl.Pr. 14/99: 9232D-9258C bzw. 9284D-9296D). 287 Antrag der Fraktion der FDP »Zuwanderung steuern, Aus- und Weiterbildung intensivieren, Arbeitserlaubnisrecht entrümpeln« (BT-Drs. 14/3023 vom 23. März 2000: 2); Entwurf eines Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes (BT-Drs. 14/48 vom 18. November 1998). 284
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dern zum Wohle der deutschen Wirtschaft anheuert, die weiterhin arme Menschen, Menschen in Not feuert«, als inhuman und untragbar.288 CDU/CSU warnen vor einer »überstürzten und konzeptionslosen Durchbrechung des Anwerbestopps«.289 In der Greencard sehen sie »die erste große staatlicherseits veranlasste Zuwanderungswelle«, »eine tiefgreifende Kursänderung der von allen Bundesregierungen seit 1973 verfolgten Politik der Zuwanderungsbegrenzung«; Fragen von derartiger Bedeutung könnten in der Demokratie nur nach ausführlicher parlamentarischer Debatte von Deutschem Bundestag und Bundesrat entschieden werden. Ferner bemängeln sie die Beschränkung der Greencard auf lediglich eine Branche und das Fehlen eines schlüssigen Gesamtkonzeptes zur Integration.
3.2.2 Ministerielle Federführung: »Im ›Spiegel‹ angekündigt, bevor wir darüber gesprochen haben« In den Wochen ab März 2000 reift bei Innenminister Schily relativ schnell die Ansicht, »dass es, bevor man ein Gesetz macht, ein Gesetz auf so einem prekären Feld, wo man auf alle Fälle mit Polarisierungen und Konflikten im politischen Bereich rechnen musste, […] Sinn machen würde, ein außerparlamentarisches Gremium zu berufen« (Interview SonntagWolgast: 8). Gerade auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus den 1980er Jahren (zum Scheitern ministeriell »verordneter« Ausländerrechtsreformen unter Innenminister Zimmermann vgl. Kap. 2.2.4.2) scheint es ausgeschlossen, ein Ausländergesetz mit gänzlich neuer Weichenstellung vorzulegen, ohne auf die umfassende Einbeziehung gesellschaftlichen Sachverstandes verweisen zu können (vgl. Interview Schnoor: 192). Obwohl dies in der öffentlichen Darstellung selten explizit ausgesprochen wird, ist das Vorgehen sehr stark von der gesellschaftlichen Niederlage bei der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts beeinflusst und soll in erster Linie dazu dienen, Zeit zu gewinnen und den Verlauf der Debatte abzuwarten bzw. konstruktiv zu begleiten (vgl. Interview Taneja: 6). Dies verdeutlichen die Äußerungen maßgeblicher Akteure der Regierungskoalition: In dieser Legislaturperiode wird es nach meiner festen Überzeugung kein Einwanderungsgesetz geben, weil wir erst einmal den gesellschaftlichen Konsens finden wollen. […] Wir werden das nicht noch einmal so schnell machen wie in Sachen Staatsangehörigkeit. […] Wir wollen auch in Zukunft Wahlen gewinnen. Und Einwanderung ist ein Thema, das von Angst besetzt ist, und es gibt sicherlich bei uns auch in den eigenen Reihen erfahrene Strategen, die sagen, das ist ein Thema, mit dem kann Haider gewinnen, aber nicht unbedingt die SPD.290
3.2.2.1 Eine alte Idee: »Expertenkommission unter Einbeziehung der gesamten Zuwanderungsproblematik« Darüber hinaus ist die Idee einer plural besetzten Kommission in diesem Politikfeld ist keineswegs neu: Von verschiedener Seite war auch schon lange davor angeregt worden, migrationspolitische Beratungsprozesse aus dem unmittelbaren Bereich der Regierung bzw. 288
MdB Ulla Jelpke, BT-Pl.Pr. 14/93 vom 16. März 2000: 8588B. vgl. BT-Drs. 14/3012 vom 21. März 2000. 290 So der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Dieter Wiefelspütz (zit.n. FAZ vom 25. Juni 2000: 5); ähnlich die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen Marieluise Beck (vgl. Deutschlandfunk-Interview vom 19. November 2000). 289
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der Ministerialbürokratie zu befreien und den Sachverstand von Wissenschaft und gesellschaftlichen Gruppen stärker einzubeziehen um einen Konsens zu erzielen. Dabei standen weniger gesetzesvorbereitende, als vielmehr begleitende und implementierende Expertengremien im Mittelpunkt. Zunächst entstammten diese Vorschläge dem außerparlamentarischen Bereich, später wurden sie vermehrt auch von politischen Akteuren geäußert. So hatte 1980 in Reaktion auf die inkrementell vollzogenen, umstrittenen und wenig nachhaltigen Novellierungen des Asylverfahrens der einflussreiche Deutsche Juristentag die Einberufung einer »unabhängigen Expertenkommission zur Prüfung des Asylverfahrensrechts unter Einbeziehung der gesamten Zuwanderungsproblematik« empfohlen (Franz 1992: 158). Auch in den verschiedenen Einwanderungskonzeptionen, die Anfang der 1990er Jahre im wissenschaftlichen Bereich formuliert wurden (vgl. Kap. 2.3.4.3), waren z.T. unabhängige Gremien vorgesehen, die den politischen Entscheidern beratend zuarbeiten sollten.291 Bereits im Jahr 1991 machte die damalige Ausländerbeauftragte Liselotte Funcke in ihrem Bericht neben einer »Regierungsstelle für Migration und Integration« auch elaborierte Vorschläge für eine »Ständige Kommission für Migration und Integration«.292 Auch die kleineren Oppositionsparteien traten mit Forderungen nach Ausschüssen oder Kommissionen in Erscheinung.293 Funckes Nachfolgerin Schmalz-Jacobsen erneuerte in ihrem Bericht 1994 die Forderung nach einer politikvorbereitenden und -beratenden »Institution«.294 Auf Seiten der Regierungsparteien machte sich jedoch nur die FDP diese Vorschläge programmatisch zu Eigen.295 Gegen Ende der 1990er Jahre setzte sich die Vorstellung eines permanenten unabhängigen Beratungsgremiums bei all jenen Parteien durch, die ein Zuwanderungsgesetz grundsätzlich befürworteten. Die SPD äußerte sie erstmals in einer Konzeption von 1995/96, die zur Vorbereitung ihrer Gesetzesinitiative zur Zuwanderung von 1997 diente.296 Danach sollte zur Unterstützung bei der Ermittlung der Zuwanderungsquoten und -kontingente dauerhaft eine 19-köpfige Zuwanderungskommission zu bilden sein, um jährlich ein Gut291
vgl. etwa Bade (1994: 221); Wollenschläger (1993: 268; 1995), Leggewie (1995). Die Kommission sollte 25 bis 30 Mitglieder umfassen, darunter Vertreter aus Ministerien, Bundestag und Bundesrat, der kommunalen Spitzenverbände, der zugewanderten Bevölkerung, der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, der christlichen Kirchen und des Islam, der Wissenschaft und Forschung, des Deutschen Frauenrates sowie der Medien und der Kultur. (vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen, März 1991, Bonn). 293 Bündnis 90/Die Grünen griffen 1991 die Funcke-Initiative explizit auf und beantragten die Einrichtung von zwei Kommissionen: eine Arbeitsgruppe »Flüchtlingsschutz und Wahrung des Asylrechts« und eine »Ständige Kommission für Migration und Integration« (vgl. BT-Drs. 12/1216 vom 27.9.1991: 2f.). Die Gruppe der PDS forderte die »Einrichtung einer Expertenkommission zur Überprüfung der Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften des Bundes auf Ausländerinnen und Ausländer diskriminierende und rassismusfördernde Bestimmungen« (vgl. BT-Drs. 13/1405 vom 17. Mai 1995; BT-Pl.Pr. 13/45 vom 23. Juni 1995; Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses vom 13. März 1996, BT-Drs. 13/4082; BT-Pl.Pr. 13/160 vom 27. Februar 1997). 294 vgl. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange der Ausländer über die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland 1993 (BT-Drs. 12/6960 vom 11. März 1994: 48). 295 In den Ausländerpolitischen Grundsätzen von 1996 hieß es unter dem Motto »Einwanderung kontrollieren – Einbürgerung erleichtern«: »Die Arbeitsgruppe Migration der FDP fordert, zur Vorbereitung eines […] Zuwanderungsbegrenzungsgesetzes umgehend eine unabhängige Sachverständigenkommission einzusetzen. […] Aus dem erwähnten Expertengremium muß mit Inkrafttreten eines Zuwanderungskontrollgesetzes eine ›Ständige Kommission für Migrations- und Integrationsfragen‹ erwachsen […].« (zit. n. ZAR Nr. 2/1996: 100) 296 vgl. »Eckwerte für ein Zuwanderungsgesetz« der Arbeitsgemeinschaft Inneres der SPD-Fraktion vom 1. August 1996 (dokumentiert in ZAR aktuell Nr. 5/1996) sowie SPD-Antrag zur »Vorlage eines Gesetzes zur Steuerung der Zuwanderung und Förderung der Integration« (BT-Drs. 13/7511 vom 23. April 1997). 292
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achten zu erstatten. Jeweils drei Mitglieder sollten von Bundestag und Bundesrat gewählt werden, die Bundesregierung sollte ebenfalls drei Mitglieder bestimmen dürfen. Außerdem war vorgesehen, dass einschlägige gesellschaftliche Gruppen und Organisationen jeweils ein Mitglied entsenden durften.297 Vorrangig dachte man also an eine politisch-sozietale Konsenskommission. Eine sehr ähnliche Konzeption hatte die sozial-liberale Landesregierung von Rheinland-Pfalz verfolgt, in deren Gesetzentwurf von 1997 (vgl. Kap. 2.3.4.3) eine Zuwanderungskommission die »innerstaatliche Aufnahme- und Integrationskapazität« beurteilen sollte. Hier hatte der über den Bundesrat eingebrachte Entwurf sogar 25 Mitglieder vorgeschlagen, von denen jeweils zehn von Bundestag und Bundesrat gewählt sowie fünf von der Bundesregierung berufen werden sollten.298 Die Bildung einer überparteilichen und plural besetzten Kommission war auch im Interesse von Bündnis 90/Die Grünen. Nach 1991 hatte man im Entwurf eines Einwanderungsgesetzes von 1997 erneut eine »Ständige Kommission für Fragen der Einwanderung und multikulturelle Angelegenheiten« vorgeschlagen.299 Da aber bei den Koalitionsverhandlungen 1998 umfassende Reformen in der Zuwanderungspolitik ausgeklammert blieben und lediglich dezidierte Änderungen des Ausländerrechts vorgesehen waren (vgl. Kap. 2.4.2), stellte sich die Frage nach einem Politik beratenden Gremium zunächst nicht.
3.2.2.2 Handlungsdruck durch ökonomisch-gesellschaftliche Interessen: »Nicht mit 51 zu 49 Prozent« Nach Lancierung der Greencard-Initiative durch Bundeskanzler Schröder und der dadurch aufbrechenden Debatte um Zuwanderung ist es der innenpolitische Sprecher der Grünen Cem Özdemir, der im März 2000 erstmals konkret einen »Runden Tisch« zur Beratung über ein Einwanderungsgesetz vorschlägt, »damit endlich der Streit der alten Ideologien beiseite gelegt werden kann«.300 In diesem Konsensgremium sollen alle Reformkräfte einbezogen werden; neben Arbeitgebern, Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbänden spricht er auch vom Bundespräsidenten. Zu dieser Zeit verfügt Özdemir über »einen relativ guten Draht« zu Schily und stimmt mit ihm überein, dass man das nicht mit 51 zu 49 Prozent nur im Parlament durchsetzt, sondern […] sich um Unterstützung in der Gesellschaft bemüht. […] Mein Eindruck war […], dass es in der Wirtschaft, bei den Gewerkschaften, bei den Wohlfahrtsverbänden, bei den Kirchen verschiedenste Akteure gab, die aus unterschiedlichen Gründen […] ein Interesse daran hatten, dass sich beim Thema Integration was tut, beim Thema Zuwanderung was tut, bei humanitären Fragen, Flüchtlingsrecht und Asylrecht was tut – und warum nicht diese Akteure 297 Konkret genannt werden in dem Entwurf die beiden großen christlichen Kirchen, der Zentralrat der Juden in Deutschland, die gewerkschaftlichen Spitzenorganisationen, der Deutsche Industrie- und Handelstag, die kommunalen Spitzenverbände, UNHCR, Terre des Hommes, amnesty international sowie die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. 298 In Betracht gezogen wurden ebenfalls die Kirchen, der Zentralrat, Gewerkschaften, der Deutsche Industrie- und Handelstag, die Bundesvereinigung der kommunalen Spitzenverbände, UNHCR, Terres des Hommes, amnesty international und die BAG der freien Wohlfahrtspflege (vgl. BR-Drs. 180/97 vom 11. März 1997: 22). 299 »Das Bundesministerium des Innern beruft in die Einwanderungskommission Vertreter der Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, Wohlfahrtsverbände, der bundesweiten Einwanderer- und Menschenrechtsorganisationen und des UNHCR. Zur Unterstützung ihrer Arbeit kann die Einwanderungskommission einen Sachverständigenrat berufen.« (§ 13, Abs. 3, Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Rechte von Einwanderinnen und Einwanderern; BT-Drs. 13/7417 vom 15. April 1997: 8) 300 zit.n. FR vom 7. März 2000: 4; vgl. auch SZ vom 7. März 2000: 5.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess zusammen bringen? Das heißt, wenn ich die Wirtschaft dafür gewinne, dass sie – um im Zuwanderungsbereich was zu bekommen –, auch ’ne Koalition macht mit Leuten, die im Flüchtlingsrecht was bekommen, erhöhe ich Durchsetzungschancen. (Interview Özdemir: 18)
Hinter der Idee stehen jedoch auch genuin parteipolitisch motivierte Überlegungen und strategisches Kalkül: Eine plurale Kommission verspricht Policy-Reformen auf einem der ureigenen grünen Themengebiete – dem Flüchtlingsrecht – in Form eines package deals mit einer wirtschaftlich-utilitaristisch orientierten Öffnung für Zuwanderung. Der Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen macht sich in seinen Leitsätzen zur Reform des Einwanderungsrechts vom 31. März diese Position zu Eigen und plädiert dafür, Fragen der Zuwanderung stärker in die parlamentarische Beratung einzubeziehen. Dazu solle unter Beteiligung der gesellschaftlichen Gruppen, der Regierung und des Parlaments ein »Migrations-Beirat« als Sachverständigengremium geschaffen werden.301 Die Kirchen formulieren ganz ähnliche Erwartungen an einen Politikfindungsprozess. Sie hatten bereits Ende der 1990er Jahre vehement für ein Gremium plädiert, in dem außerparlamentarischer Sachverstand und die Beteiligung gesellschaftlicher Interessen zusammenfließen und in einen Grundkonsens münden sollten.302 Nach Aufflammen der Zuwanderungsdebatte Anfang 2000 sprechen sich der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Deutsche Caritas-Verband für einen Ausschuss unter Beteiligung aller am Migrationsgeschehen Beteiligten aus. Dessen Präsident Hellmut Puschmann schlägt in einem Kanzlergespräch die Bildung eines solchen plural besetzten Gremiums direkt der Regierung vor (vgl. Interview Voß: 13). Ein nicht zu unterschätzender Druck – auf die Fraktionen des Deutschen Bundestags einerseits, aber auch direkt auf das BMI – geht von den Interessenorganisationen der deutschen Wirtschaft aus: Die Feder führende Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) konzertiert sich mit den anderen Spitzenverbänden DIHT, BDI und dem Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Unter dem Leitgedanken der Entwicklung eines integralen Konzeptes formulieren die Funktionäre ähnlich lautende Papiere.303 Zentrale Kritikpunkte betreffen dabei u.a. die Situation ausländischer Studierender, die nach ihrem Abschluss das Land verlassen müssen, sowie die zum Teil stark bürokratisierten und abschreckenden Regelungen bei Hochqualifizierten. Essenziell ist das Ziel – so der damalige Geschäftsführer der BDA Christoph Kannengießer – Abschied zu nehmen vom » regulatorischen Flickenteppich «, der durch Einzelregelungen wie die Greencard bzw. Ausnahmen vom Anwerbestopp entstanden war und eine Sektoren übergreifende Regelung zu finden.
301
vgl. FAZ vom 1. April 2000: 2. Die Nichtberücksichtigung parlamentarischer Repräsentanten in der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« markiert später einen zentralen Kritikpunkt der Grünen an dem Vorhaben, die gerne Cem Özdemir als innenpolitischen Sprecher der Fraktion in ein solches Gremium abgeordnet hätten (vgl. Kap. 3.2.2.3). 302 vgl. »…und der Fremdling, der in deinen Toren ist«. Gemeinsames Wort der Kirchen zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht. Herausgegeben vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (Gemeinsame Texte Nr. 12, Hannover/Berlin 1997): 29. 303 vgl. etwa »Die 8 BDI-Thesen zur Zuwanderungspolitik«, Positionspapier des Bundesverbandes der Deutschen Industrie vom 1. März 2001; »Einwanderung – Acht Leitlinien für ein offenes Deutschland«, Positionspapier des DIHT vom 27. September 2000.
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
203
Ich glaube, dass der Druck, der aus der Wirtschaft heraus gekommen ist, schon sehr maßgeblich dazu beigetragen hat – möglicherweise war er sogar entscheidend dafür – dass die Bundesregierung dann das Thema wirklich auch konstruktiv, initiativ aufgegriffen hat. (Interview Kannengießer: 7)
Der Druck der o.g. vier Wirtschaftsverbände wirkt sich jedoch nicht unmittelbar auf die Richtlinien der Regierungspolitik aus, denn noch Ende März 2000 weist Bundeskanzler Schröder beim Spitzengespräch in München deren Begehrlichkeiten zurück.304 Vielmehr ist von einer subtilen und sehr wirkungsvollen, indirekten Agendasetting-Funktion auszugehen: Da die Wirtschaftsvertreter ihre Appelle nicht nur an das Bundeskanzleramt richten, sondern auch in engem Dialog mit dem BMI stehen und es ihnen darüber hinaus gelingt, ihre Ziele auch öffentlichkeitswirksam zu platzieren,305 wird der Teilaspekt der arbeitsmarktorientierten Zuwanderung in das Zentrum der Debatte gerückt. Innenminister Schily anerkennt dies u.a. durch umfassende Berücksichtigung von Wirtschaftsvertretern in der Planung seiner unabhängigen Kommission (vgl. Kap. 3.2.3.3). Es sekundieren jedoch auch die politischen Akteure: Neben der FDP, die bereits in ihrem Antrag zur Zuwanderungssteuerung ein Konzept eingefordert hatte und an der Neufassung eines Gesetzentwurfs arbeitet, kommen im Laufe der folgenden Wochen vor allem aus der Union neue Signale. Hier wächst die Unterstützung für die Greencard-Initiative, nicht zuletzt durch Saarlands Ministerpräsidenten Peter Müller, der explizit ein Einwanderungsgesetz fordert, und die Linie der neuen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Merkel und Merz, die diesem beipflichten.306 Daneben erhöht die Position von Bündnis 90/Die Grünen, deren Protagonisten sich bereits seit langem für ein Einwanderungsgesetz ausgesprochen hatten, den Druck auf Bundeskanzler Schröder und Innenminister Schily, endlich zu handeln. Da auch der mediale Diskurs in den Folgewochen nicht abflaut, wirkt die Position der SPD, die Debatte um ein Zuwanderungsgesetz zu verschieben, als Untätigkeit einer Regierungspartei. Innerhalb der SPD-Fraktion wird bereits Ende April unter Führung des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Ludwig Stiegler sowie breiter Beteiligung der Abgeordneten eine Querschnittsarbeitsgruppe Integration und Zuwanderung gebildet (vgl. Kap. 3.2.4.5).
3.2.2.3 Koalitionsarithmetik: »Kein Privatvergnügen des Innenministers« Unter dem steigenden öffentlichen Druck, in der Zuwanderungsfrage aktiv zu werden, besteht nun auch zwischen den beiden Regierungsfraktionen ein unübersehbarer Abstimmungsbedarf. Ein zusätzlicher Impetus zur Debatte würde von der ersten »Berliner Rede« des neuen Bundespräsidenten Johannes Rau am 12. Mai 2000 ausgehen – Tenor und Tragweite seines Plädoyers »Ohne Angst und Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben« 304
Einer Ausweitung der Greencard-Initiative auf andere Bereiche erteilt Schröder den führenden Verbänden gegenüber ebenso eine Absage wie einem Einwanderungsgesetz (vgl. SZ vom 22. März 2000: 4). 305 Allein in der FAZ/FAZamSo wird etwa zwischen März und Mai 2000 der Forderung nach einer auf alle Branchen erweiterten Greencard bzw. einem Zuwanderungsgesetz in Berichten und Interviews gleich mehrfach breiter Raum gegeben – vgl. die Aussagen von BDA-Präsident Dieter Hundt (2. März 2000: 6), ZDH-Präsident Dieter Philipp (12. April 2000: 19), DIHT-Präsident Hans Peter Stihl (26. April 2000: 21 sowie 14. Mai 2000: 5), BDIPräsident Hans-Olaf Henkel (21. Mai 2000: 5). 306 vgl. SZ vom 8. April 2000: 6; vom 10. April 2000: 6 sowie vom 12. April 2000: 1; Der Spiegel vom 13. März 2000: 30. Müller formuliert sogar ein Junktim zwischen der Zustimmung der Union zu den IT-Verordnungen und dem Eintritt in einen Dialog um eine Einwanderungsgesetz mit einem Kontingent von bis zu 350.000 Zuwanderern pro Jahr (vgl. SZ vom 10. Mai 2000: 6 sowie vom 11. Mai 2000: 5; FAZ vom 22. Mai 2000: 1, 17).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
waren bereits in der Vorwoche durch den Redeentwurf bekannt –, worauf die Bundestagsfraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen Anfang Mai eine Arbeitsgruppe formieren, um ihre Positionen besser aufeinander abzustimmen.307 Zu diesem Zeitpunkt ist im BMI der Plan zur Einberufung einer Kommission bereits weit gediehen – außerhalb jedweder Parlaments- und Medienöffentlichkeit.308 Am Anfang steht die Rekrutierung der designierten Vorsitzenden Rita Süssmuth, die in Abstimmung mit Bundeskanzler Schröder erfolgt. Nach der ersten Anfrage durch Schily findet unter sechs Augen ein geheimes Gespräch zwischen dem Innenminister, dem Bundeskanzler und der ehemaligen Bundestagspräsidentin statt, um sie für die Leitung der unabhängigen Regierungskommission zu gewinnen (vgl. Interview Bierhoff: 6ff.). Wenngleich in der Presse auch andere Namen kursieren,309 ist Süssmuth für Schily und Schröder offenbar die alternativlose Kandidatin (ebd.: 10). Ich bin sehr früh – da liegen mehrere Monate dazwischen –, zunächst informell gefragt worden, ob ich mir vorstellen könnte, diese Kommission zu leiten und bin auch bei diesem ersten informellen Gespräch darüber informiert worden, was sie sich vorstellen, was diese Kommission leisten soll und auch welche Vertreter sie darin wissen möchten. (Interview Süssmuth: 18f.)
Der Innenminister plant auch die weitere Besetzung der Kommission zunächst weitgehend allein und denkt über zu beteiligende Institutionen und Persönlichkeiten nach. Weder das Kabinett noch der Koalitionspartner auf Parteiebene werden in dieser Phase involviert. Das Vorhaben »Zuwanderungskommission« gilt selbst im Kanzleramt als reines Ressortprojekt: dessen Stab ist zu keiner Zeit an den konkreten Planungen beteiligt.310 Tatsächlich werden die Rede des Bundespräsidenten vom 12. Mai und die durchweg positive Reaktion der Parteienvertreter in der öffentlichen Meinung als »Zwang zum Handeln« aufgefasst,311 auch wenn bei Regierung und Opposition die wichtigen Weichen längst gestellt sind.312 Öffentlich lässt Schily lediglich verlauten, er sei zu Gesprächen über Fragen der Einwanderungspolitik bereit, in denen die »Konturen eines parteiübergreifenden und gesellschaftlichen Konsens« sichtbar werden müssten.313 In Abstimmung mit der SPD307 vgl. Vorbericht zur Rede Raus in »Die Besten bleiben aus« (Der Spiegel Nr. 18 vom 12. Mai 2000: 78ff.), FAZ vom 13. Mai 2000: 1 sowie »Ohne Angst und Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben«, Berliner Rede von Bundespräsident Johannes Rau vom 12. Mai 2000, in Auszügen dokumentiert in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2000: 747-752. 308 In der Bundestagsdebatte zur Zuwanderung vom 13. April 2000 macht Innenminister Schily nur äußerst vage Andeutungen: »Ich führe zu diesem Thema eine ganze Reihe von – übrigens fraktionsübergreifenden – Gesprächen, deren Ergebnis ich nicht vorgreifen will.« (BT-Pl.Pr. 14/99: 9252C) 309 So habe der Innenminister über die Berufung des früheren Bundespräsidenten und Verfassungsrichters Roman Herzog nachgedacht; auch der frühere Bremer Bürgermeister Hans Koschnick und der (später als einfaches Mitglied in die Kommission berufene) Ex-Justizminister Jürgen Schmude sollen für den Vorsitz im Gespräch gewesen sein (vgl. Der Spiegel Nr. 24 vom 12. Juni 2000: 23). Letztlich erweisen sich diese Namen jedoch als Nebelkerzen, da zum Zeitpunkt des »Spiegel«-Berichts die Zusage von Süssmuth bereits vorliegt. 310 So die Information der zuständigen Unterabteilungsleiterin im Bundeskanzleramt (Gruppe 13, Justiz und Inneres; Telefonat des Verf. mit Min.Dirig.’in Dr. Margaretha Sudhof, 21.01.2004). Insofern ist Schröders persönliche Darstellung irreleitend, er habe die Kommission berufen (vgl. Schröder G. 2006: 315). 311 Johannes Leithäuser, FAZ vom 19. Mai 2000: 12; zur Rezeption der Rede Raus vgl. auch FAZamSo vom 14. Mai 2000: 1 sowie FAZ vom 15. Mai 2000: 4; SZ vom 15. Mai 2000: 5. 312 In der Analyse der Meinungsbildungsprozesse bei der Union wird häufig übersehen, dass diese bereits im Februar des Jahres 2000 – und damit vor der Greencard-Idee – ein »einheitliches Regelungssystem hinsichtlich legaler sonstiger Einwanderung« eingefordert hatte (Antrag der CDU/CSU »Modernes europäisches Asyl- und Ausländerrecht«, BT-Drs. 14/2695 vom 15.Februar 2000: 2) – freilich ohne dieses programmatisch auszugestalten. 313 zit.n. SZ vom 19. Mai 2000: 6.
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
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Führung gewinnt er unterdessen den ehemaligen Parteichef Hans-Jochen Vogel als CoVorsitzenden der Kommission: Ich bin im Mai oder Juni 2000 von Herrn Schily angerufen worden, ob ich mir vorstellen könnte, da mitzuarbeiten. Ich habe mir erst Bedenkzeit ausgebeten und dann gesagt: Ja [...]. Schily hat schon Frau Süssmuth erwähnt und mir das fairerweise zur Kenntnis gebracht. Wir haben früher schon gut zusammengearbeitet und ich war ganz einverstanden. Er sprach dann vom stellvertretenden Vorsitz. (Interview Vogel: 7ff.)
Darstellende Politik Selbst auf der unmittelbaren Leitungsebene seines Hauses (Ministerstab und Staatssekretäre) thematisiert Schily den Plan zur Einsetzung der Kommission zunächst nicht. Die damalige Parlamentarische Staatssekretärin im BMI erinnert sich: Er hat es zuerst im »Spiegel« angekündigt, bevor wir darüber gesprochen haben. [...] Das gehört zu seiner Wesensart auch, dass er eben so einsame Entschlüsse, gerade was Medienarbeit betrifft, getroffen und dann auch umgesetzt hat. [...] Manchmal hat er auch seinen eigenen Pressesprecher damit überrascht [...], er hat seine eigene Pressearbeit – wenn er es wollte – sehr stark gesteuert. Und so auch in diesem Punkt. Das war von ihm eindeutig als Coup gedacht, als einsamer Coup. (Interview Sonntag-Wolgast: 16-20)
Am 12. Juni erscheint im Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein längeres Interview mit Schily, das er zur Ankündigung und Erläuterung seiner Sachverständigenkommission nutzt.314 In dem Beratungsgremium sollen die Vorstellungen und Konzepte aller politischen Parteien, der Kirchen, der Wirtschaft, der Gewerkschaften, des UNHCR sowie der Länder und Kommunen unter Einbeziehung des Sachverstands verschiedener Wissenschaftsdisziplinen erörtert und zu konkreten Vorschlägen für ein neues, »europataugliches« Regelwerk synthetisiert werden. Süssmuth und Vogel stehen zu diesem Zeitpunkt zwar bereits als Spitze des Gremiums zur Verfügung, werden jedoch noch nicht genannt. Prinzipiell habe er alle Fraktionen zu Gesprächen eingeladen. Mit der Ankündigung der Kommission gelingt es Schily, die CDU/CSU in Zugzwang zu bringen, deren Reaktionen höchst ambivalent ausfallen: Zunächst kündigt der stellvertretende Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Bosbach an, die Union werde sich der Mitarbeit in einem solchen Gremium nicht verweigern,315 wird jedoch unmittelbar von der Parteiführung korrigiert: Beim so genannten StrategieGipfel am 14. und 15. Juni 2000 (einer Klausurtagung des Präsidiums und der Ministerpräsidenten) wird beschlossen, sich der »Umarmungsstrategie der Regierung« und der Inszenierung runder Tische künftig zu entziehen; explizit wird die Teilnahme an der Zuwanderungskommission abgelehnt und programmatische Arbeit an einem eigenen Gesetz angekündigt.316
Konflikt mit den Grünen Zum anderen stößt Schily den kleinen Koalitionspartner vor den Kopf: Ohne Rückkopplung mit Partei oder Fraktion hatte er das prozedurale Vorgehen in einem für Bündnis 314 Mit seinem Einverständnis wird das Spiegel-Gespräch jedoch bereits vorab veröffentlicht (vgl. Agenturmeldung der AFP vom 9. Juni 2000). 315 vgl. FAZ vom 14. Juni 2000: 1. 316 vgl. FAZ vom 15. Juni 2000: 1 sowie vom 17. Juni 2000: 6.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
90/Die Grünen essenziellen Politikfeld präjudiziert. Zwar stimmt die Einsetzung einer Kommission unter Beteiligung möglichst aller Interessengruppen mit deren Vorstellungen durchaus überein. Auch mit der Berufung Süssmuths an die Kommissionsspitze ist man aufgrund ihrer fachlichen Kompetenzen und ihrer überparteilichen Images einverstanden (vgl. Interview Özdemir: 12). Ein Mitspracherecht bezüglich der weiteren Besetzung des Gremiums wird jedoch als unverzichtbar angesehen und unmittelbar eingefordert, um die Richtung der zu erwartenden Arbeitsergebnisse vorzubestimmen. Sowohl die Parteispitze, als auch die Fraktion sowie die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck erarbeiten unabhängig Namensvorschläge, die anschließend zusammengeführt werden (vgl. Interview Özdemir: 6). Das Ziel der Grünen besteht darin, gleichberechtigt mit der SPD und dem Innenministerium in Verhandlungen um eine gemeinsame Namensliste zu treten. (vgl. ebd.). Ferner reklamiert der innenpolitische Sprecher Cem Özdemir, die Ausländerbeauftragte und das BMI sollten als »gemeinsame Veranstalter« der Kommission fungieren, diese sei Sache der gesamten Regierung und »kein Privatvergnügen des Innenministers«.317 Doch auch der Vorstoß, das Amt der Beauftragten unmittelbar in die Vorbereitung der Kommission einzubinden, scheitert. Schily, der die Kommission ebenso wie die Konquisition ihrer Mitglieder als sein persönliches Projekt betrachtet, gesteht den Grünen lediglich die Nennung eines Namens zur Vertretung der Parteiinteressen in der Kommission zu (vgl. Interview Taneja: 64). Innerhalb der Partei werden dafür u.a. der EU-Abgeordnete Daniel Cohn-Bendit und die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck erwogen,318 Fraktion und Koalitionsausschuss319 favorisieren jedoch Cem Özdemir, um damit gleichzeitig auch dem Anspruch der Grünen gerecht zu werden, »nicht nur über sondern mit Zuwanderern« zu diskutieren.320 Özdemir lässt sich bei Schily jedoch nicht durchsetzen, da der Innenminister strikt seine Linie verfolgt, neben Süssmuth keine Parteipolitiker zu berufen, die ein Amt oder Mandat innehaben; mit der gleichen Begründung wird auch Beck abgelehnt.321 Neben »Schilys Liste« gerät auch der Arbeitsauftrag für das Sachverständigengremium zum Gegenstand innerkoalitionärer Auseinandersetzung: Die Grünen wollen das Thema Asylrecht ausklammern; Schily plädiert für die ergebnisoffene Diskussion aller mit Zuwanderung assoziierter Sachverhalte in der Kommission (s.u.). Genauso wie die Teilnehmerliste entsteht auch der Arbeitsauftrag der Kommission ausschließlich unter seinen Auspizien: Er wird in Abstimmung mit Schily von leitenden Beamten der Abteilung A des BMI formuliert (vgl. Interview Lehnguth: 8). Die Grünen-Führung übt in beiden Fragen fortgesetzten Widerstand gegen die Dominanz des Innenministers aus, so dass Schily sich gezwungen sieht, die für den 12. Juli 2000 geplante offizielle Pressekonferenz zur Besetzung der 317 zit.n. Berliner Morgenpost vom 12. Juli 2000. Schily sieht die Kommission jedoch als Prestigeprojekt, die Auswahl und Benennung ihrer Mitglieder als persönliche Aufgabe. Auch Süssmuth und Vogel haben nach ihrer Rekrutierung keinerlei Einfluss auf die weitere Zusammensetzung (vgl. Interviews Bierhoff: 12; Holthey: 74; Lehnguth: 11; Özdemir: 6; Süssmuth: 20). Somit wird eine Verabredung aus dem Koalitionsvertrag gebrochen, nach der die Besetzung von Kommissionen im Einvernehmen und dem Stärkeverhältnis der Partner entsprechend vorgenommen werden solle (vgl. Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998, s. Fn. 57: 50). 318 vgl. taz vom 3. Juli 2000: 7; Berliner Morgenpost vom 12. Juli 2000; FAZ vom 14. Juli 2000: 1. 319 Der innerparteiliche, so genannte Koalitionsausschuss fungiert in der Zeit grüner Regierungsbeteiligung als informelles Machtzentrum und funktionelles Äquivalent für ein Parteipräsidium, um damit insbesondere Entscheidungen gegenüber der SPD vorzubereiten. Partei- und Fraktionsspitze sowie die grünen Minister sind hier in regelmäßigen Treffen mit Sitz und Stimme vertreten (vgl. Raschke 2001: 20; Kropp 2003: 27). 320 so Cem Özdemir, zit.n. Berliner Zeitung vom 12. Juli 2000 (Herv.d.Verf.); vgl. auch Interview Özdemir: 6; zur Frage der Repräsentation von Migranten in der Kommission vgl. Kap. 3.2.3.4. 321 vgl. taz vom 3. Juli 2000: 7 sowie Interview Özdemir: 6ff.
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Kommission noch am Abend des 11. Juli abzusagen und um zwei Wochen zu verschieben.322 Die strittigen Fragen sollen nunmehr in einer großen, bereits lang anberaumten Sitzung der Koalitionsspitzen – ebenfalls am Abend des 12. Juli – mit dem Bundeskanzler erörtert werden. In letzter Sekunde gelingt jedoch der mit den Personalverhandlungen beauftragten Fraktionsvorsitzenden der Grünen Kerstin Müller in bilateralen Gesprächen mit Schily eine Einigung: Der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung Ralf Fücks geht als zweite Wahl in die Kommission, was kurzfristig zu parteiinternen Verwerfungen führt,323 und der Pressetermin kann doch noch stattfinden. Mit dem ehemaligem Bremer Senator fährt ein Parteimitglied auf dem grünen Ticket, das aus Schilys Sicht formal weit genug von den tagespolitischen Auseinandersetzungen des Politikfeldes entfernt ist, für Bündnis 90/Die Grünen jedoch in ausreichendem Maß originäre Parteiinteressen in den Kommissionsprozess einbringen kann: Fücks ist zu diesem Zeitpunkt Mitglied der Grundsatzkommission und sogar Kandidat für den Parteirat. Auch wenn Schily in der nunmehr von den Querelen um die Kommission befreiten Koalitionsrunde einige Kritik für sein Vorgehen einstecken muss,324 hat sich der Feder führender Minister in quasi allen Punkten gegen die Grünen durchgesetzt. Mit dem Arbeitsauftrag der Kommission kommt er gleichzeitig einer Forderung der Unionsparteien entgegen: Die Kommission soll »frei von Tabus« tätig werden und »nach Wegen suchen, die de facto bestehende Verknüpfung zwischen Asylverfahren und Zuwanderung im Rahmen des rechtlich Möglichen aufzulösen.« (vgl. Arbeitsauftrag in Anhang 4) Auch wenn diese Maßgabe keinesfalls einen ministerialen Oktroi bedeutet, löst die Vorfestlegung bei verschiedenen politischen Akteuren bereits starke Bedenken aus; u.a. appellieren der Bundespräsident sowie führende Vertreter der Koalitionsfraktionen und der FDP, das Grundrecht auf Asyl dürfe nicht zur Disposition stehen.325 Bundeskanzler Schröder schließt Anfang Juli mit seiner Maßgabe, das Asylrecht »werde nicht angetastet« grundlegende Änderungen präskriptiv aus.326
322 Zu diesem Zeitpunkt stehen neben einer Vertretung der Grünen mindestens drei weitere Namen der Kommission noch nicht fest. Der DGB-Vorstand benennt Heinz Putzhammer erst am Morgen des 12. Juli und ein weiterer Name bleibt noch über mehrere Wochen ungenannt (Die Welt vom 12. Juli 2000: 2; Berliner Zeitung vom 12. und 13. Juli 2000; SZ vom 13. Juli 2000: 8.) 323 vgl. Berliner Zeitung vom 13. Juli 2000. Insbesondere wird bemängelt, dass Müller der Position Schilys vorschnell nachgibt bzw. Fücks ohne ausreichende vorherige Abstimmung mit der Parteispitze nominiert. Dahinter verbergen sich offenbar auch Querelen um die parteiinterne Unterstützung für Özdemir, der bereits bei der Regierungsbildung 1998 als Kandidat für das Amt des Ausländerbeauftragten galt und (zu Gunsten von Marieluise Beck) nicht berücksichtigt wurde (vgl. taz vom 8. August 2000: 4). 324 vgl. SZ vom 13. Juli 2000: 8 sowie zur »traut und freundlich beratenden Koalitionsrunde« FAZ vom 14. Juli 2000: 1f. 325 vgl. SZ vom 13. Juli 2000: 8; FAZ vom 28. Juni 2000: 2 sowie vom 23. Juli 2000: 5; FAZamSo vom 2. Juli 2000: 2; Der Spiegel Nr. 27 vom 3. Juli 2000: 17. 326 zit.n. taz vom 4. Juli 2000: 4.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
3.2.3 Berufung und personelle Struktur: »Repräsentanten ganz hochwohllöblicher Vereinigungen« 3.2.3.1 Vorbild Weizsäcker-Kommission: »Bei der Zuwanderungskommission politisch Pate gestanden« Die unerwartete Zuwanderungsdebatte nach der Greencard-Initiative überrascht die Regierung; klare Forderungen der Wirtschaft und das Drängen der Oppositionsparteien setzen sie unter akuten Handlungsdruck. Dem gegenüber sind die Meinungen in Kabinett und Regierungsfraktionen unausgegoren und z.T. disparat, sowohl bezüglich der Politikinhalte als des strategischen Vorgehens. In dieser Situation bildet die Einberufung der Kommission einen unmittelbaren Ausweg: Es gelingt, die Debatte zu beruhigen und Zeit zu gewinnen. Das Präzedens für ein solches Vorgehen ist in der noch jungen Amtszeit der rotgrünen Bundesregierung bereits gegeben: In einem ähnlich kontrovers diskutierten Politikfeld hatte Verteidigungsminister Rudolf Scharping etwa ein Jahr zuvor die unabhängige Kommission »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« eingesetzt, »um wichtige gesellschaftliche Gruppen zu repräsentieren und politischen Sachverstand und hohe Urteilskraft in der Kommission zu bündeln.«327 Bei der strategischen Planung der Zuwanderungskommission rekurriert Schily deutlich auf die Strukturen der von Scharping installierten Wehrstrukturkommission, die er für »das rühmliche Vorbild« hält.328 Neben der Berufung renommierter Altpolitiker gehört dazu auch die Einbeziehung betroffener Interessen, zuvorderst die von Arbeitnehmern/Gewerkschaften und Arbeitgebern/Wirtschaft, sowie wissenschaftlichen Sachverstandes. Auch in der Dauer des Mandates von knapp einem Jahr zeigen sich deutliche Parallelen, ebenso bei der Organisation der Geschäftsstelle (vgl. Kap. 3.2.3.5). Die Bundeswehrkommission steht also in mehrerlei Hinsicht »bei der Zuwanderungskommission Pate« (Interview Holthey: 46). Der mit dem Aufbau der Arbeitsstruktur der Kommission beauftragte Beamte des BMI und spätere Geschäftsstellenleiter Stefan von Holthey nimmt unmittelbar Kontakt mit dem Sekretär der Weizsäcker-Kommission Hilmar Linnenkamp auf: Da hab ich mich dann natürlich sofort auf Arbeitsebene schlau gefragt, [...] ganz einfach wie sie die Arbeit organisiert haben. […] Wir haben dann aber doch einiges anders gemacht und ich denke, jede Kommission entwickelt da ihr Eigenes und kann auch nur bedingt auf Erfahrungen anderer Kommissionen zurückgreifen. Mich haben dann mal welche angerufen aus der Rürup-Kommission, die sind dann aber doch nicht auf mich zugekommen, weil die wahrscheinlich so schnell überrollt wurden, dass sie gar keine Zeit mehr hatten, sich irgendwie vorzubereiten. Aber ich hab’ schon, sag ich mal, einiges aus der Wehrstrukturkommission gelernt und aufgenommen und das war ganz nützlich. (ebd.: 40ff.; vgl. auch Interview Lehnguth: 22)
Daneben orientiert man sich im BMI auch an den Modellen der Royal Commissions,329 wobei in den Planungsgesprächen die vorgesehene Formulierung des Aufgabenbereichs und die Frage, bis zu welchem Grad sich die Gesellschaft in der Kommission widerspiegeln soll, wichtige Rollen spielen (vgl. Interview Lehnguth: 22). 327 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der FDP »Kommission der Bundesregierung ›Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr‹«, BT-Drs. 14/1478 v. 10.08.1999; vgl. auch Kap. 4.2 sowie Werkner (2002). 328 zit.n. SZ vom 29. Juni 2000: 6. 329 vgl. umfassend zu den ministeriellen und kabinettsinternen Planungsprozessen, Berufungsverfahren und terms of reference bei der Institutionalisierung englischer Royal Commissions Chapman (1973: 176ff.).
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Arbeitsauftrag Der Arbeitsauftrag an die Kommission wird äußerst breit formuliert und umfasst die Erarbeitung legislativer, administrativer, organisatorischer oder sonstiger Maßnahmen, um Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen. Alle Migrationskategorien sollen dabei berücksichtigt werden: Zuwanderung in den Arbeitsmarkt ebenso wie Flüchtlings- und Spätaussiedlermigration. Daneben soll die Kommission Konzepte zur Bedarfsermittlung, zur Integration sowie zur institutionellen Verortung der Zuwanderungspolitik unterbreiten (vgl. Arbeitsauftrag in Anhang 4). Bewusst unterwirft der Innenminister den Auftrag der Kommission »keinen politischen Beschränkungen«; der Befürchtung, die Kommission könnte auch das individuell verfasste Grundrecht auf Asyl zur Disposition stellen, entgegnet er mit dem Hinweis, es gebe keine Denkverbote.330 Schily vermeidet öffentlich eine Vorfestlegung dahin gehend, ob und wann die Kommissionsergebnisse zur Grundlage eines Gesetzgebungsvorhabens werden sollen. Im Innenministerium geht man indes bereits vor der Konstituierung klar von einer prä-legislativen Funktion der Kommission aus. Die Empfehlungen würden – so kündigt der Parlamentarische Staatssekretär des BMI an – »ein Konzept für die Modernisierung unseres Ausländer- und Asylrechts darstellen und die Grundlage für die weitere konkrete Gesetzgebungsarbeit […] bilden.«331 Schily und sein Stab entscheiden sich gegen eine auf parteipolitischen Kompromiss ausgerichtete Besetzung.332 Trotz der betonten Unabhängigkeit und Überparteilichkeit geht es jedoch sehr wohl um die formelle Einbindung der Parteien – eben unter Vermeidung »parteipolitischer Scharmützel«.333 Die Berufung von elder statesmen bzw. -women garantiert vordergründig die Abdeckung des parteipolitischen Spektrums, ohne gleich die in aktuelle Konfrontationen der Tagespolitik verstrickten Protagonisten zu berufen (vgl. Anhang 5). Die Akquise der Partei-Granden und einiger sonstiger Kommissionsmitglieder vollzieht sich jedoch im Stillen und jeweils nach ähnlichem Muster: In einem persönlichen Anruf erläutert der Innenminister kurz seine Absichten und fragt nach der Bereitschaft, in der Kommission mitzuarbeiten. Dabei nennt er keine weiteren Details zur Gremienbesetzung, außer, dass er »eine geeignete Persönlichkeit« für den Vorsitz gewonnen habe (vgl. etwa Interviews Eylmann: 12; Schmalz-Jacobsen: 27ff.). Dahinter steckt die Absicht, unvoreingenommen und unabhängig von der personellen Zusammensetzung der Kommission eine Zusage der Kandidaten zu erhalten.
330
»Schily beruft Zuwanderungskommission«, PM des BMI vom 12. Juli 2000 (http://www.bmi.bund.de/cln_028 /Internet/Content/Nachrichten/Archiv/Pressemitteilungen/2000/07/Schily__beruft__Zuwanderungskommission__I d__18824__de.html, 02.01.2006); vgl. auch Kap. 3.2.2. Schily nimmt jedoch bald Abstand von der Umwandlung des Grundrechts in eine institutionelle Garantie, da die Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention in gleichem Maße justiziabel seien (diese Einsicht bezeichnet er als Korrektur seiner bisherigen Position; vgl. die Interviews im »Spiegel« Nr. 24 vom 12. Juni 2000: 26 sowie in der »Zeit« Nr. 30 vom 20. Juli 2000: 4). 331 PStS. Fritz-Rudolf Körper, BR-Sten.Ber. 753 vom 14. Juli 2000: 293B; vgl. auch Interview Lehnguth (passim). 332 Der Innenminister proklamiert eine »parteiunabhängige Kommission«. Es handele sich nicht um ein Gremium des Parlaments oder um eine Kommission, die nach dem Parteienproporz zusammengesetzt sei (vgl. FAZ vom 29. Juni 2000: 6). 333 PStS. Fritz-Rudolf Körper, BR-Sten.Ber. 753 vom 14. Juli 2000: 293B.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
3.2.3.2 Einbindung von Parteien und Opposition: »Wie könnt ihr aussuchen, wer uns vertreten soll?« Auch in Schilys eigener Partei bleibt das Projekt Zuwanderungskommission weit gehend geheim. Jenseits der Partei- und Fraktionsführung (Bundeskanzler Schröder, Peter Struck bzw. Ludwig Stiegler) wird niemand im Vorfeld eingeweiht (vgl. Interview Stiegler: 7). Selbst der innenpolitische Sprecher der Fraktion Dieter Wiefelspütz erfährt von den Planungen aus der Presse.334 Mit Hans-Jochen Vogel und Jürgen Schmude gewinnt Schily zwei Parteiprotagonisten, die mit ihrer politischen Biografie über jeden parteiinternen Zweifel erhaben sind und denen gegenüber sich auch die Fraktion im Bundestag wohlwollend bzw. indifferent positioniert.335 Daneben wird mit dem Juristen und ehemaligen Innenminister von Nordrhein-Westfalen Herbert Schnoor ein weiterer SPD-Politiker im Ruhestand ausgewählt. Seine Nominierung dient primär der Berücksichtigung von Länderkompetenzen und -interessen im Verwaltungsvollzug des Ausländer- und Flüchtlingsrechts, geht aber offenbar auch auf den von Schily abgelehnten Wunsch der IMK zurück, einen aktiven Landesinnenminister in die Kommission zu berufen (vgl. Interview Schnoor: 72).
Streit in der Union Bei der Beteiligung von Parteienvertretern der parlamentarischen Opposition verfolgt der Innenminister unterschiedliche Strategien. In der FDP findet Schily einen von Beginn an zur Mitarbeit geneigten Kooperationspartner, dessen Fraktion bis dato als einzige einen eigenen, umfassenden Entwurf für ein Zuwanderungsgesetz in den Bundestag eingebracht hatte (vgl. Kap. 2.4.2, 2.4.3). Nach vorheriger Absprache zwischen Schily und dem FDPVorsitzenden Wolfgang Gerhardt wird Cornelia Schmalz-Jacobsen in das Gremium berufen,336 die als nicht mehr aktive Politikerin mit ihrem jahrelangen Engagement als Bundesausländerbeauftragte unter den Regierungen Kohl gleichzeitig die profilierteste Kandidatin ihrer Partei für eine solche Funktion ist. Hingegen geht Schily nicht in direkte Verhandlungen mit der CDU-Parteivorsitzenden um einen »Vertreter« bzw. eine »Vertreterin«, da Süssmuth bereits früh als Kommissionsvorsitzende fest steht und Schily sicher stellen möchte, dass kein Unionsvertreter der Kommission angehört, dessen Grundhaltung zu starke gremieninterne Opposition erwarten lässt. Die CDU ihrerseits lehnt eine Teilnahme an dem Gremium nach anfänglichem Zögern definitiv ab und spricht sich gegen eine »Politik der Runden Tische« aus.337 Damit geht eine öffentliche Diskreditierung der ehemaligen 334
vgl. taz vom 14. Juni 2000: 4. vgl. Interviews Sonntag-Wolgast: 24; Stiegler: 17. Jürgen Schmude, der selbst in seiner aktiven Zeit als Minister nie den Ruf eines klassischen Parteipolitikers hatte (vgl. Stuttgarter Nachrichten vom 24. Mai 2003: 2) wird in seiner Funktion als Präses der Synode der EKD berufen, in der er ebenfalls über großes überparteiliches Renommé verfügt. Die beiden Juristen gelten als überaus diszipliniert, pflichtbewusst, akribisch und kompromissfähig. Während über Vogel geschrieben wird, er arbeite »mit pedantischer Lust, mit bürokratischer Genialität und elitärem Anspruch« (Heribert Prantl, »Der Herr und Diener der Partei«, SZ vom 3. Februar 2001: 9), erscheint Schmude als »aktendeckelgraue Inkarnation alles Preußischen« (Katharina Sperber, »Stur wie Luther«, FR vom 22. Mai 2003: 3). Zur Person Vogels vgl. auch Kap. 3.3.1.4. 336 vgl. FAZ vom 29. Juni 2000: 6. Auch hier wird absolute Vertraulichkeit gewahrt; Parteiorgane und Fraktion sind nicht informiert. Selbst der innenpolitische Sprecher der Fraktion Max Stadler hat keinerlei Vorkenntnis und erfährt von den Plänen des Innenministers erst aus der Presse (vgl. Interview Stadler: 15, 17ff.). 337 vgl. FAZ vom 27. Juni 2000: 1. 335
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Bundestagspräsidentin einher, die zu diesem Zeitpunkt noch Mitglied der Bundestagsfraktion sowie des Parteivorstandes ist. Auf der Bundesvorstandssitzung am 26. Juni, an der auch Süssmuth teilnimmt, missbilligen die Partei- und Fraktionsvorsitzenden Merkel und Merz ihren Schritt; sie könne in der Zuwanderungskommission nur für sich selbst, nicht für Partei oder Fraktion sprechen. Zahlreiche Politiker der CDU/CSU werfen ihr Partei schädigendes Verhalten vor, legen ihr den Parteiaustritt nahe oder drohen gar mit einer »Quittung«.338 Ein »furchtbarer Streit« um ihre Person (Interview Süssmuth: 42) wartet auch in der Fraktion auf die ehemalige Bundestagspräsidentin. Ihr Parteifreund Heiner Geißler beschreibt in einer Retrospektive die erste Fraktionssitzung der CDU/CDU nach Bekanntwerden ihrer Berufung in die Regierungskommission mit folgenden, selbst für einen ausgewiesenen Kritiker der Parteilinie auffallend drastisch gewählten Worten: Mitte des Jahres 2000 […], ein Jahr nach dem Ende des Jahrhunderts, das wie kein anderes in der Menschheitsgeschichte gebrandmarkt war durch entsetzliche Verbrechen des Nationalsozialismus und Rassismus, herrschte in der Bundestagsfraktion der CDU/CSU Pogromstimmung. Ich hatte Rita Süssmuth davor gewarnt, an dieser Sitzung teilzunehmen, denn die Empörung, die Wut, ja sogar der Hass eines Teils der Abgeordneten sollten sich gegen die frühere Präsidentin des Deutschen Bundestags richten, weil sie es gewagt hatte, das Angebot des Bundeskanzlers […] anzunehmen, den Vorsitz in einer von der Regierung eingesetzten Kommission zu übernehmen […].(Geißler 2002: 475)
Von Anbeginn ist Süssmuth somit auch von Seiten ihrer Partei und Fraktion ihrer möglichen Integrationsfunktion für die CDU beraubt und »überfordert, die Union insgesamt mitzunehmen« (Interview Zylajew: 100). Als zweiter prominenter CDU-Vertreter wird der über Parteigrenzen hinweg angesehene ehemalige Vorsitzende des BundestagsRechtsausschusses Horst Eylmann in die Kommission berufen, der zu diesem Zeitpunkt dem Parlament nicht mehr angehört. Auch er bleibt nicht von Vorwürfen seiner ehemaligen Kollegen ausgespart, insbesondere CSU-Landesgruppenchef Michael Glos äußert sich abfällig: Süssmuth und Eylmann seien »Alibifiguren«.339 Offenbar ist die Union, der zunächst von Schily hinter den Kulissen die Kooperation angeboten wird, nicht bereit, sich dessen Restriktionen beim Personal der Kommission zu unterwerfen bzw. bietet keinen für Schily akzeptablen Kandidaten an. Die Kritik der Union gegenüber der Regierung gibt Cem Özdemir (Interview: 68) empathisch wieder: »Wenn’s so was gibt, dann müssten wir die Leute benennen, die uns vertreten und nicht ihr sucht euch aus, wer uns vertritt.« Das war ja die Grundkritik von Beckstein340 und anderen, dass sie gesagt haben: »Wie könnt ihr aussuchen, wer uns vertreten soll?« Ist ja auch was Wahres dran – muss man ja zugeben.
338 vgl. SZ vom 27. Juni 2000: 5 sowie vom 3. Juli 2000: 6; FAZ vom 27. Juni 2000: 1; FAZamSo vom 2. Juli 2000: 1; CSU-Generalsekretär Thomas Goppel lässt sich zu diffamierenden Äußerungen hinreißen: »Zu welchen Ämtern sich Frau Süssmuth missbrauchen lässt, muss sie letzten Endes selbst wissen« (zit.n. taz vom 29. Juni 2000: 7). 339 SZ vom 14. Juli 2000: 5; vgl. Interview Eylmann: 30, 42. Der CSU-Abgeordnete Wolfgang Zeitlmann kritisiert, bei den von der Bundesregierung berufenen Unionsvertretern habe es sich fachlich um »Outsider« gehandelt und versteigt sich zu einem absurden Vergleich auf Kosten zweier bekennend homosexueller Politiker der Regierungsparteien: »Man hat einen »Oldtimer« der CDU und eine Dame berufen. […] Sie würden auch nicht morgen eine Familienkommission berufen und Herrn [Volker] Beck und Herrn [Klaus] Wowereit als Vorsitzende bestellen.« (BT-Pl.Pr. 14/189 vom 26. September 2001: 18441C, 18442C). 340 vgl. dazu das taz-Interview mit Günther Beckstein vom 23. April 2001: 15: »Die Mitglieder von uns, die in der Kommission mitarbeiten, sind alle nur von Schilys Gnaden dort hineinberufen worden und haben kein Recht, für die CDU oder die CSU zu sprechen.«
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Parteipolitische Balance Bei den am Kommissionsprozess Beteiligten herrscht auf Grund der gescheiterten Kooperation mit den Unionsparteien die Ansicht vor, dass Schily die beiden CDU-Mitglieder nicht etwa deswegen einbindet, um die in dem Gremium entstehenden Ideen in die Union hineinzutragen oder einen Austausch anzuregen (vgl. Interviews Bierhoff: 10ff.; Eylmann: 156). Vielmehr hofft er auf eine Versachlichung des politischen Streits durch zwei gemäßigte Mitglieder einer Oppositionspartei und die öffentliche Wirkung einer scheinbar das ganze Parteienspektrum repräsentierenden Kommission. Gerade bei der Besetzung der Kommissionsspitze mit einer CDU-Politikerin erwartet man, »dass man damit eben ein Signal in eine breite Öffentlichkeit für breite Akzeptanz setzen« kann (Interview Sonntag-Wolgast: 10). Auch in den anderen Bundestagsfraktionen herrscht von Anbeginn die Überzeugung, die Positionen von Süssmuth in der Kommission könnten im parteipolitischen Streit keinerlei bindende Wirkung für die Unionsparteien bzw. -fraktion entfalten. Die Lage war nicht: Roma lucuta, causa finita […] Frau Süssmuth war eben nicht roma für die Union im Sinne von: eine verbindliche Autorität, deren Wort einfach dann gilt, sondern wurde von großen Teilen der CDU/CSU natürlich von Haus aus kritisch gesehen. (Interview Stadler: 50) Jeder von uns wusste, die Frau Süssmuth kann allenfalls agitatorisch verwendet werden, aber wenn Frau Süssmuth sagt: »Das ist so!«, dann heißt das noch lange nicht, dass die CDU sich danach richtet. (Interview Stiegler: 41) Natürlich spielte auch ein kleines Augenzwinkern eine Rolle: Dass man eine Christdemokratin hat, die einer rot-grünen Kommission, oder einer von rot-grün einberufenen Kommission vorsitzt und damit auch […] den einen oder anderen in der CDU ein bisschen ärgert. (Interview Özdemir: 12)
Neben Süssmuth, Eylmann, Vogel, Schmude und Schnoor gehören noch einige weitere der von Innenminister Schily berufenen Persönlichkeiten als Mitglieder, aktuelle oder ehemalige Funktionsträger einer politischen Partei an, so etwa der Saarbrücker Oberbürgermeister Hajo Hoffmann (SPD) und der Geschäftsführer der BDA Christoph Kannengießer (CDU). Bei ihnen steht die Parteimitgliedschaft jedoch klar zu Gunsten der Interessenrepräsentationsfunktion im Hintergrund und wird auch nicht hinterfragt (vgl. Interview Schnoor: 52). Die einzige im Bundestag vertretene Partei, die im Personaltableau der Kommission gänzlich unberücksichtigt bleibt, ist die PDS – trotz Bemühungen von Seiten der Fraktion um Einbindung (vgl. Interview Pau: 28). Im Urteil ihres Co-Vorsitzenden ist damit »die Kommission so zusammengesetzt, dass keine Gefahr bestand, dass man sich nach Utopia begeben hätte.« (Interview Vogel: 41)
3.2.3.3 Interessenvertreter und Sachverständige: »Der Vorsitzende des BDI kann kein Migrationsexperte sein« Der Innenminister und sein Planungsstab setzen daneben auf eine starke Einbindung der Verbände und sozietalen Gruppen. Man will, im Gegensatz zu den politischen Parteien, explizit Rückkopplungen der Kommissionsmitglieder in gesellschaftliche Interessenbereiche wie Gewerkschaften, Arbeitgebervereinigungen und Kirchen erreichen; dass auf diese Art und Weise – wenngleich die Kommissionsmitglieder selbst unabhängig waren und keine Sprecher ihrer jeweiligen Organisation, aber natürlich ist das ein Effekt, den man sucht – die Vorstellungen
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aus den Bereichen, aus denen die kommen, mit einfließen in die Kommissionsarbeit und dass die Ergebnisse der Kommissionsarbeit bzw. Zwischenergebnisse und Beratungen in gewisser Weise auch […] wieder reflektiert werden mit den Organisationen. (Interview Holthey: 74)
Daraus ergibt sich das Problem der quantitativen Beschränkung: Schily möchte eigentlich nicht, dass die Kommission 20 Personen übersteigt, geht im Vorfeld aber davon aus, dass dies aufgrund von »Rücksichten, die genommen werden müssen« nicht vermeidbar ist (Interview Schmalz-Jacobsen: 39).341 Als unverzichtbar müssen hier in Anbetracht früherer Planungen für beratende Kommissionen insbesondere Arbeitgeber und Gewerkschaften, die kommunalen Spitzenverbände, die Kirchen sowie der UNHCR gelten (vgl. Interview Sonntag-Wolgast: 103). Bei der Einbindung dieser Gruppen geht Schily nicht ausschließlich den Weg der persönlichen Ansprache sondern stimmt sich auch wesentlich enger mit seinem Abteilungsstab und der politischen Leitungsebene des BMI ab (vgl. Interviews Lehnguth: 11; Sonntag-Wolgast: 22). Die Anfragen etwa an den DGB, die katholische Bischofskonferenz, die EKD, den BDI, den DIHT und die BDA erfolgen »im üblichen Rahmen« als Globalanfragen an den jeweiligen Vorsitzenden (vgl. Interview Putzhammer: 20). Schily will eine möglichst hochkarätige Besetzung unter Einbindung der Verbandsspitzen.Unter den Präsidenten und Vorsitzenden findet sich jedoch nur Hans-Olaf Henkel bereit zur Mitarbeit.342 Dies ist u.a. darauf zurück zu führen, dass in der Kommission keine Vertretungsmöglichkeit vorgesehen, und damit für die Mitglieder ein hoher zeitlicher Aufwand zu erbringen ist (vgl. Kap. 3.3.1.1); Schily beruft ausschließlich ad personam.
Rekrutierung von Spitzenvertretern Henkel ist als Präsident des BDI gerade im Ausscheiden begriffen und tritt ab Februar 2001 eine wirtschaftswissenschaftliche Honorarprofessur an der Universität Mannheim an. Zum 1. Juli 2001 übernimmt er außerdem die ehrenamtliche Präsidentschaft der wissenschaftlichen Leibnitz-Gemeinschaft.343 Für den DIHT wird dessen Vizepräsident Frank Niethammer in das Gremium geschickt, der bis Ende 2000 hauptamtlich als Präsident der IHK
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vgl. auch zu diesem Dilemma Mayntz (1977: 14). In der Forschung zu Entscheidungsprozessen in Kollegialgremien geht man von einem noch niedrigeren Schwellenwert für optimale Gremienarbeit aus; die Anzahl der Mitglieder solle maximal 15 betragen (vgl. Pfetsch 1987: 256). Zumindest die Faustregel der Dezisionsforschung, nach der mit der Zahl der Beteiligten auch die Kosten der internen Entscheidungsfindung einer Gruppe ansteigen (vgl. Sartori 1975: 135) ist dem Innenminister offenbar stets präsent. 342 vgl. »Schily will Henkel und Stihl«, SZ vom 1. Juli 2000: 6. Tanja Zinterers Darstellung, alle Wunschkandidaten Schilys hätten die Berufung angenommen (vgl. Zinterer 2004: 264), erweist sich damit als inkorrekt; mit Hans Peter Stihl (DIHT) und Dieter Hundt (BDA) stehen mindestens zwei designierte Kommissionsmitglieder nicht zur Verfügung. Zum Entscheidungsprozess innerhalb der BDA: »Ursprünglich hatte der Bundesinnenminister […] die Idee, dass er Herrn Hundt als Präsident der Arbeitgeberverbände für die Kommission beruft. Das hat aber Herr Hundt im Hinblick auf die Arbeitsbelastung […] abgelehnt und ich bin dann von Seiten der Arbeitgeberverbände vorgeschlagen worden« (Interview Kannengießer: 6) sowie beim DGB: »Der Vorsitzende […] Dieter Schulte wurde gebeten, einen Vertreter des DGB zu benennen. Das haben wir im Vorstand diskutiert und dann wurde ich benannt.« (Interview Putzhammer: 20) Heinz Putzhammer stirbt am 27. Juni 2006 im Alter von 65 Jahren in Berlin. 343 vgl. www.munzinger.de (Zugriff: 14.03.2006); daneben ist Henkel Mitglied von amnesty international Deutschland und setzt sich – seiner Repräsentationsfunktion für den BDI entbunden – innerhalb der Arbeitsgruppe der Kommission zu Flucht und Asyl für humanitäre Belange ein (vgl. Interview Eylmann: 116; Heisele 2002: 71).
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Frankfurt amtiert.344 Als Glücksfall entpuppt sich die Berufung von Christoph Kannengießer, der als Geschäftsführer des BDA zu diesem Zeitpunkt gleichzeitig Vorstandsvorsitzender des Aufsichtsrates der Bundesanstalt für Arbeit (BA) ist. Einerseits können auf diese Weise auch Interessen und Sachverstand der BA eingebracht werden, andererseits übernimmt Kannengießer später die Moderation einer sehr produktiven Arbeitsgruppe innerhalb der Zuwanderungskommission (vgl. Kap. 3.3.1.3, 3.3.1.6). Neben der Vertretung des DGB reserviert Schily einen zweiten Sitz für die Arbeitnehmerinteressen, für den er unbedingt den Vorsitzenden einer Einzelgewerkschaft gewinnen will. Alternativloser Kandidat ist offenbar der Chef der damaligen DAG Roland Issen, der sich einem intensiven Werben Schilys ausgesetzt sieht.345 Auch bei den Kirchen ist bald klar, dass jeweils die bereits früher mit Migrationsfragen befassten Bischöfe in das Gremium entsandt werden: Karl Ludwig Kohlwage und Josef Voß arbeiteten bereits Feder führend für ihre Glaubensgemeinschaften am Gemeinsamen Wort der Kirchen zu Migration und Flucht (vgl. Klepp 2003: 423ff.; Kap. 3.2.2.2). Kohlwage ist Vorsitzender der Kommission zu Ausländerfragen und ethnischen Minderheiten des Rates der EKD, Voß leitet als Vorsitzender die Migrationskommission (XIV) der Deutschen Bischöfe. Für den Zentralrat der Juden in Deutschland wird der neue Vorsitzende Paul Spiegel berufen, der jedoch nie an den Kommissionssitzungen teilnimmt (vgl. dazu Kap. 3.3.1.1). Offen bleibt die Frage der Vertretung anderer Religionsgemeinschaften, insbesondere der zahlenmäßig größten Gruppe der Muslime (vgl. dazu Kap. 3.2.3.4). Als kommunale Vertreter lädt Schily den Präsidenten des Deutschen Städtetages (und Oberbürgermeister von Saarbrücken) Hajo Hoffmann346 sowie den Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Gerd Landsberg zur Mitarbeit ein. Einziger Vertreter der »Flüchtlingslobby« ist der Vorsitzende von UNHCR Deutschland Roland Schilling. Die Zahl der Vertretungen sonstiger Wohlfahrtsverbände und NGOs bleibt damit zu Gunsten der oben genannten »klassischen« Verbandsvertreter hinter dem von der SPD 1997 für eine Bundeszuwanderungskommission geplanten Maß zurück. Neben dem Hohen Flüchtlingskommissariat sind weder Terre des Hommes, amnesty international, Pro Asyl, die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (bzw. einzelne Wohlfahrtsverbände) oder sonstige Interessenverbände vertreten, was zu Unzufriedenheit bei diesen Gruppen gegenüber der Kommission führt (vgl. Interview Süssmuth: 92). Über weite Strecken folgt die Bundesregierung bei der Besetzung der Zuwanderungskommission also implizit dem Primat funktional-organisatorischer bzw. verbandlicher Zugehörigkeit im Sinne eines neokorporatistischen Proporzes. Die Teilnehmerliste liest sich »wie ein kleines Vademecum der bundesdeutschen Gesellschaft.«347 Oder in den Worten 344 Die Spitze der IHK Frankfurt hatte Niethammer seit Januar 1991 bekleidet, den Vizeposten des DIHT nimmt er von 1998 bis Februar 2001 wahr. Am 25. Mai 2005 verstirbt Frank Niethammer im Alter von 74 Jahren (vgl. www.munzinger.de, 14.03.2006; Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen vom 1. Mai 2001: 456). 345 »Ich hatte eigentlich zunächst wenig Neigung, weil diese Kommissionsarbeit in die Endphase des Gründungsaktes von ver.di mit hineinfiel. […] dann hat mich Otto Schily aber so bearbeitet und ich hab dann gedacht: na ja, den brauchen wir ja auch wiederum bei Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. « (Interview Issen: 7) 346 Gegen Hoffmann waren zu diesem Zeitpunkt bereits seit Längerem staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gelaufen (vgl. Berliner Morgenpost vom 17. November 2000; FAZ vom 26. Oktober 2000: 5). Im Frühjahr 2001 ergeht ein Strafbefehl wegen des Verdachts der Untreue (der sich im Prozess bestätigt). Hoffmann beendet zwar noch seine Arbeit in der Zuwanderungskommission, lässt jedoch bereits im Juni 2001 sein Amt als Städtetagspräsident ruhen (vgl. SZ vom 7. April 2001: 8; FAZ vom 29. Juni 2000: 4). 347 Gunther Hofmann, »Basta! Basta? Gerhard Schröder entdeckt den Dialog mit der Gesellschaft«, Die Zeit Nr. 47 vom 16. November 2000: 8.
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eines Berufenen: In der Kommission finde sich die »Funktionselite der Republik, von der Kirche bis zur Großindustrie, vom Handwerk bis zur Wissenschaft«.348 Die problematische Ausgangslage innerhalb einer derart zusammengesetzten Kommission besteht in der Gefahr, dass das Entscheidungsverhalten der Repräsentanten immer unter einer »Verbandsprärogative« zu leiden droht. Dieser Gefahr wird lediglich rhetorisch durch die explizite Berufung von »unabhängigen Persönlichkeiten« vorgebeugt. Faktisch wird die »Verbandswirkung« jedoch billigend in Kauf genommen. Mehr noch: Das nach außen negierte imperative Mandat der in hohen oder höchsten Funktionsbereichen ihrer Institutionen wirkenden Kommissionaten soll für die Organisation eines neokorporatistischen Konsens nutzbar gemacht werden: Das ist sozusagen [...] der politische Ertrag: dass durch diese Zusammensetzung der Kommission aus Persönlichkeiten, die aus den verschiedensten Bereichen kommen, auch die Akzeptanz dieser Organisationen – obwohl sie nicht sozusagen weisungsabhängige Entsandte dieser Organisationen gewesen sind – hergestellt wird. (Interview Holthey: 133)349
Neben den zahlreichen Partei- und Verbandsangehörigen finden sich nur zwei wissenschaftliche Sachverständige unter den 21 Kommissionsmitgliedern. Die ausländer- und flüchtlingsrechtliche Expertise soll der Konstanzer Jurist Kay Hailbronner in die Kommission einbringen. Seine Nominierung geht u.a. auf seine kontinuierlichen Kontakte zur politischen und administrativen Spitze des BMI zurück, für die er zu verschiedenen Gelegenheiten als »Berater des Hauses« fungiert und bei der Formulierung von Gesetzestexten »die Hand geführt hat« (Interview Bierhoff: 140ff.; vgl. auch Interview Hailbronner: 18). Daneben beruft Schily den an der Humboldt-Universität zu Berlin lehrenden Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz in die Kommission, einen bekannten Befürworter organisierter Einwanderung, der auch auf der Wunschliste von Bündnis 90/Die Grünen steht, und der die demografischen Aspekte des Erwerbspersonenpotentials »mit wissenschaftlicher Kompetenz« beurteilen soll.350
Expertentum und Unvoreingenommenheit Während die meisten der Kommissionsmitglieder sowie der am politischen Prozess Beteiligten aus Politik, gesellschaftlichen Gruppen und Verbänden in den Experteninterviews die Zusammensetzung der Kommission ex post als vernünftig und ausgewogen betrachten,351 stehen die Wissenschaftler der Personalauswahl des Innenminister tendenziell skeptischer gegenüber, da sie auf die Berücksichtigung einer größeren Zahl von spezifischen Interessen unabhängiger Personen mit einschlägiger Expertise gehofft haben (vgl. Interview Hailbron348
Ralf Fücks, zit.n. Der Spiegel Nr. 43 vom 23. Oktober 2000: 58. Auch im Parlament führt die Bundesregierung recht unmissverständlich aus: »[…] die Positionen der von den Mitgliedern repräsentierten Organisationen [sollen] in die Arbeit der Kommission eingebracht werden.« (Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der PDS »Arbeit der ›Zuwanderungskommission‹«, BTDrs. 14/4197 vom 4. Oktober 2000: 2). 350 zit.n. Der Spiegel vom 12. Juni 2000: 28; vgl. Interview Özdemir: 6. 351 Der insbesondere von der Opposition (s.o.) erhobene Vorwurf an die Bundesregierung und Innenminister Schily, eine »Alibikommission« einzuberufen um das Thema auf die lange Bank zu schieben, hielt sich nicht lange: »Das war sehr rasch vorbei. [...] Die einzelnen Mitglieder der Kommission, das waren ja immerhin doch Repräsentanten ganz hochwohllöblicher Vereinigungen, die eben gesagt haben: ›Da brauch’ er uns ja, das ist ja lächerlich, warum würde er uns denn sonst berufen?‹« (Interview Schmalz-Jacobsen: 84ff.). 349
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ner: 14, 68). Auch von außen kommt deutliche Kritik: Die Tatsache, dass wissenschaftliche Experten nur eine kleine Minderheit der Kommission stellten und darunter keine Kulturund Gesellschaftswissenschaftler seien, ließe »auf ein sehr einseitiges Verständnis von Migration und Migrationspolitik schließen« – so z.B. der renommierte, von Schily jedoch nicht berücksichtigte Migrationshistoriker Klaus J. Bade. Die Einrichtung der Kommission habe sich – so Bade – vollzogen, »als sei man schon mitten im Wahlkampf.«352 Ein zweiter, daraus resultierender Kritikpunkt betrifft die mangelnde migrations- und bevölkerungswissenschaftliche Expertise bei den meisten Kommissionsmitgliedern zu Beginn ihrer Arbeit. Nur äußerst bedingt kann mit Blick auf den Status der Mitglieder von einem »Sachverständigengremium« oder einer »Expertenkommission« gesprochen werden.353 Auch unter den fachlich Versierten in Kommission und Sekretariat wird die mangelnde Kompetenz einiger Kommissionsmitglieder wahrgenommen. Man muss sehen, [...] dass [...] die große Mehrzahl der Kommissionsmitglieder von dem Thema vorher sozusagen auch nur aus der Zeitung und aus Aktennotizen Kenntnis genommen hatten [...]. Die meisten der Kommissionsmitglieder hatten keine in dem Sinne Vorbildung […], die waren keine profilierten Informations- und Meinungsträger. [...] Der Vorsitzende des BDI kann kein Migrationsexperte sein. (Interview Münz: 84ff.; vgl. auch Heisele 2002: 60; Interviews Sonntag-Wolgast: 99; Taneja: 106)
Daraus lässt sich auf das Kalkül seitens des BMI schließen, durch die Struktur einer Kommission mit »thematisch unbelasteten« Persönlichkeiten ein größeres Maß an Unvoreingenommenheit zu ermöglichen. Selbst mit dem Vorsitz der Kommission werden zwei Persönlichkeiten betraut, »die mit dem Thema bisher noch nicht befasst waren – und dabei wird sich Herr Schily was gedacht haben« (Interview Schmalz-Jacobsen: 72). Schily selbst verteidigt die Berufung Süssmuths zur Vorsitzenden bei der Vorstellung der Kommission vor der Presse: Sie habe zwar bislang nicht intensiv auf dem Gebiet der Einwanderungspolitik gearbeitet, erscheine aber insbesondere deswegen hervorragend geeignet, weil sie auf dem Gebiet der Sozialforschung tätig gewesen sei, das Parlament geleitet habe und über reiche politische Erfahrung verfüge.354 Im Mittelpunkt stehen Vogels bzw. Süssmuths Gruppenleitungs- und Verhandlungsgeschick als »parlamentarisch erfahrene Profis« (Interview Bierhoff: 12), nicht ihre fachlichen Kompetenzen, politisch-programmatische Verortung oder Ziele im Migrationsdiskurs. Dem entspricht auch die Nichtberücksichtigung sonstiger Akteure aus intermediären Bereichen migrationspolitischen Sachverstandes zwischen Parteien, Verbänden, Wissenschaft und Gesellschaft, die – vielleicht nolens volens – durch ihr professionelles Handeln immer auch advokatorische Funktionen oder politische Positionsbestimmungen in streitigen Fragen des Migrationsdiskurses einnehmen. Dazu müssen insbesondere die Ausländeroder Integrationsbeauftragten der Bundesländer gerechnet werden, die von der Kommission ebenfalls nur aus der Presse erfahren (vgl. Interview Akgün: 21). So hätte etwa die über Parteigrenzen hinweg anerkannte und renommierte Ausländerbeauftragte des Berliner Senats Barbara John parteipolitisch eine ähnlich neutrale Rolle wie Süssmuth einnehmen, aus ihrer rund 20-jährigen Arbeit in der Hauptstadt jedoch ein wesentlich höheres Maß an prob352
zit.n. taz vom 20. Juli 2000: 2. So äußerte eine der damals amtierenden Landesausländerbeauftragten im persönlichen Gespräch mit dem Verfasser ironisierend, man habe in professionellen Kreisen seinerzeit den Eindruck gehabt, als seien insbesondere diejenigen in die Kommission berufen worden, die gerade nicht über einen Expertenstatus in Migrationsfragen verfügten (dokumentierte Hintergrundinformation). 354 vgl. FAZ vom 13. Juli 2000: 1. 353
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lemzentrierter Expertise in das Gremium einbringen können. Auch die damalige kommissarische Ausländerbeauftragte von Nordrhein-Westfalen und Leiterin des Landeszentrums für Zuwanderung Lale Akgün, die wegen ihrer Migrationsbiografie wie kaum eine andere Person in einem vergleichbaren Amt geeignet scheint, die Sichtweise der Zuwanderer einzubringen,wird nicht berücksichtigt. Das LZZ als Institution bleibt ebenso außen vor wie andere universitäre oder außeruniversitäre Einrichtungen, die dezidierte migrationspolitische Expertise beisteuern könnten.
3.2.3.4 Migrantenrepräsentation: »Ein Salonvertreter von uns« Die Frage der Interessenvertretung der Migranten als der gesellschaftlichen Gruppe, die gewissermaßen Objekt der in der Kommission vorzuschlagenden Policy-Reformen ist bzw. unmittelbar davon betroffen, entwickelt sich für das BMI (und später auch für die Kommission selbst) zu einer heiklen Angelegenheit. Wie kann eine zahlenmäßig beschränkte Repräsentation bzw. Artikulation in dem Gremium erreicht werden? Die Gruppe der Zuwanderer ist ebenso wie ihre Organisations- und Verbandstrukturen äußerst heterogen; im »existierenden Pluriversum von Vereinen und Verbänden hat sich noch keine allgemein anerkannte kollektive Interessensrepräsentanz gebildet« (Santel 2002: 23). In der Vielzahl der Vereine besteht eine Tendenz zu jeweils eher »herkunftshomogenen« internen Strukturen bzw. »ethnischer« Interessenwahrnehmung ohne hierarchische Verbandsstrukturen mit anerkannter und etablierter Dachrepräsentanz. 355 Das Verhältnis von herkunftshomogenen, herkunftsheterogenen und deutsch-ausländischen Vereinen wird auf 8:1:1 geschätzt (vgl. Hunger 2004: 3, 7). Dieses Dilemma wird sowohl im Ministerium als auch im Zuge der Konstituierung von den sonstigen Kommissionsmitgliedern gesehen und breit diskutiert (vgl. auch Kap. 3.3.2.2): Wer sind die Migranten, wer vertritt die? […] Es war im Gespräch, eventuell den Vorsitzenden des Bundesausländerbeirates zu nehmen, die türkische Gemeinde wurde mal erwogen, dann wieder verworfen. Eigentlich kam es nicht zu einer richtigen Regelung, wer sozusagen die einzelne Figur sein könnte, die Migranten vertritt. Durch eine verspätete Zuwahl ist dann noch Herr Öger dazugekommen. Wobei ich von den Migrantenorganisationen weiß, dass die dann sagten: »Na ja, das ist so ein Salonvertreter von uns, das ist eigentlich nicht derjenige, der jetzt im Großen und Ganzen die wichtigsten Ausländeranliegen aus den Migrantenkreisen heraus vertritt«. (Interview Sonntag-Wolgast: 10)356
355 Nach mehreren Anläufen geben Anfang April 2007 vier wichtige islamische Verbände – die TürkischIslamische Union der Anstalt für Religion (Ditib), der Zentralrat der Muslime in Deutschland, der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland und der Verband der islamische Kulturzentren – die Gründung eines »Koordinierungsrates der Muslime« als zentralen Ansprechpartner für die Politik bekannt (vgl. FAZ vom 11. April 2007: 1; FR vom 12. April 2007: 3). 356 Aus Sicht des Verfassers lassen sich jedoch kaum stichhaltige Argumente dagegen anführen, etwa den Vorsitzenden des Bundesausländerbeirats, dem Zusammenschluss der Landesarbeitsgemeinschaften der demokratisch gewählten kommunalen Ausländerbeiräte und Ausländervertretungen, in ein solches Gremium zu berufen. Die Verwunderung über die Personalie Öger wird bei den politischen und gesellschaftlichen Vertretern der Migranten offenbar weithin geteilt (vgl. Interviews Akgün: 27ff.; Özdemir: 102; Schmalz-Jacobsen: 88).
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Inszenierte Nachnominierung So finden sich bei der offiziellen Ankündigung der Kommission am 12. Juli 2000 weder Repräsentanten des Islam als zahlenmäßig drittgrößter Religionsgemeinschaft in Deutschland noch Vertreter der Zuwanderer unter den Mitgliedern.357 Wegen der Vielzahl der Gruppen wäre bei deren Berücksichtigung – so Schily – der Rahmen der Kommission zu groß geworden; ein Name auf Schilys Liste fehlt jedoch noch: Die Aufstellung der Kommissionsmitglieder im Anhang der Pressemitteilung des BMI endet mit »N.N.«358 Offenbar ist er sich noch nicht im Klaren darüber, wer den noch freien Platz einnehmen soll bzw. es bestehen mehrere Optionen. Erst Ende August 2001 – mitten in der parlamentarischen Sommerpause – gibt das BMI bekannt, dass der türkisch-stämmige Reiseunternehmer Vural Öger als 21. Mitglied in die Kommission berufen wird.359 Nicht abwegig scheint indes die Vermutung, Schily habe möglicherweise die Nominierung Ögers als »Aushängeschild« und »wichtiges Signal« (Interview Sonntag-Wolgast: 10) ganz bewusst bis kurz vor dem protokollarischen Arbeitsbeginn der Kommission am 12. September zurück gehalten, um dem zu erwartenden Sturm der Entrüstung von Seiten der nicht berücksichtigten Verbände der Migranten und Muslime in Grenzen zu halten (vgl. Interviews Schmalz-Jacobsen: 106; Taneja: 64). Diese müssen bis dato davon ausgehen, dass keinerlei direkte Migrantenrepräsentation in der Kommission stattfindet, zumal das Ministerium in der Phase der Formierung des Gremiums erklärt hatte, Personalempfehlungen über die Öffentlichkeit seien unnötig (was zahlreiche Gruppen und Verbände jedoch nicht davon abhält, Kritik zu äußern oder mit Vorschlägen direkt an das BMI bzw. die designierten Vorsitzenden des Gremiums heranzutreten).360 Die Anfrage des Innenministers an Öger erfolgt jedoch offenbar später als bei den sonstigen Kommissionsmitgliedern: Ich bin irgendwann im Sommer – Juli oder August war das – von Otto Schily gefragt worden, da hatte ich nicht viel Ahnung über die Zusammensetzung [...] dieser Kommission [...], ob ich da Alibi-Ausländer war [...], ich kann das alles nicht beurteilen. Ich bekam persönlich den Anruf von Herrn Otto Schily [...], daraufhin – ich überlegte kurz – habe ich gesagt: »Ja sehr gerne, mir wäre es eine Ehre«. (Interview Öger: 50ff.)361
Den 21. Platz in der Kommission scheinbar »auf den letzten Drücker« doch noch mit einem Migranten zu besetzen kann vor diesem Hintergrund als Schachzug interpretiert werden, der Kritik der nicht berücksichtigten Migrantenverbände unmittelbar den Wind aus den Segeln zu nehmen (vgl. auch Keskin 2005: 59). Mit dem »Inbegriff des deutschtürkischen Selfmade-Mannes« (taz) benennt Schily öffentlichkeitswirksam »eine Persönlichkeit, aus 357 Die Tageszeitung merkt ironisch an: »Einziger ausländischer Teilnehmer ist der Berliner Bevölkerungswissenschaftler Rainer Münz. Er besitzt die schweizerische und österreichische Staatsangehörigkeit.« (taz vom 13. Juli 2000: 2). 358 vgl. Berliner Zeitung vom 13. Juli 2000; PM des BMI vom 12. Juli 2000 (s. Fn. 330). 359 vgl. »Schily beruft türkischstämmigen Unternehmer zu Mitglied der Zuwanderungskommission«, PM des BMI vom 31. August 2000, (http://www.bmi.bund.de/cln_028/Internet/Content/Nachrichten/Archiv/Pressemitteilunge n/2000/08/Schily__beruft__tuerkischstaemmigen__Id__18887__de.html, 02.01.2006). 360 vgl. taz vom 3. Juli 2000: 7 sowie vom 2. September 2000: 7; Interviews Akgün: 23ff.; Bierhoff: 12. 361 In seiner Autobiographie schreibt Öger hingegen, er habe »eine angenehme Überraschung« – die Einladung zur Mitarbeit in der Kommission – erst vorgefunden, als er »im September des Jahres 2000« von einer Geschäftsreise aus der Türkei zurückkehrte (Öger 2002: 283). Möglicherweise hat die formell-schriftliche Berufung tatsächlich erst im September vorgelegen, war jedoch zu diesem Zeitpunkt keinesfalls mehr eine »Überraschung«. Die autobiographische Darstellung trägt somit zur Legendenbildung bei, Öger sei erst in letzter Minute auf das Personaltableau des Innenministers gerutscht.
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
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deren Herkunftsland Türkei über zwei Millionen in Deutschland lebender Ausländer stammen« (BMI)362 – eine »Maulkorb-Funktion« gegenüber den kritischen türkischen Immigrantenverbänden scheint evident. In der Nominierung Ögers ist somit ein deutliches Moment der geplanten Inszenierung von Politik seitens der Regierung zu sehen, das über eine unmittelbar konfliktvermeidende (oder -reduzierende) funktionale Determinante verfügt. Der kritischen Nachfrage durch die PDS im Bundestag, warum in der Kommission keine außerkirchliche Nichtregierungsorganisation von Migranten bzw. aus der Arbeit mit Flüchtlingen vertreten sei, muss sich die Bundesregierung erst im Herbst stellen, als die Kommission bereits konstituiert ist.363
3.2.3.5 Infrastruktur und Arbeitsstab: »Ein Kästchen in der Abteilung M« Ein großer Teil des regierungsinternen Planungs- und Organisationsprozesses für eine gouvernemental verankerte Kommission vollzieht sich jenseits öffentlichen Interesses und medialer Wahrnehmung im Zusammenspiel zwischen ministerieller Exekutive und Administration. Sie haben jedoch i.d.R. weit reichende Einflüsse auf das spätere Arbeiten der Kommission selbst. Allerdings lassen sich diese Organisations- und Koordinationsaufgaben nur aus den Schilderungen Prozessbeteiligter umfassend erschließen, da sie kaum anderweitig – etwa in der Presse – dokumentiert werden. In den folgenden Absätzen wird daher maßgeblich auf die Experteninterviews mit Beamten des BMI bzw. Mitarbeiter der Kommissionsgeschäftsstelle zurückgegriffen. Neben der Unterstützung für sein Vorhaben im politischen Raum benötigt Schily vor allem die interne Organisationshilfe des BMI: Die fachlich für Ausländer- und Zuwanderungspolitik zuständige Abteilung A364 wird federführend eingebunden. Mit dem aktuellen (Min.Dir. Dr. Gerold Lehnguth) und dem früheren Abteilungsleiter (Min.Dir. a.D. Olaf Reermann, der nach seiner Pensionierung 1999 für weitere 18 Monate als persönlicher Berater für den Minister arbeitet) verfügt Schily neben seinem Leitungsstab über zwei absolut loyale und fachkundige Leitungsbeamte,365 die aus der Perspektive der Ministeriumsspitze die Vorarbeit mitsteuern. In einer kleinen informellen Arbeitsgruppe der Abteilung A ist bereits Thomas Gnatzy vertreten, der als Referent für Grundsatzangelegenheiten der Ausländer- und Asylpolitik später auch der Geschäftsstelle angehört. Diese Gruppe übernimmt zunächst die Aufarbeitung der Policy-Grundlagen für die Kommission (vgl. Kap. 3.2.3.1) und ab April/Mai auch Personalplanung und Mittelallokation für die Geschäftsstelle. Von Anbeginn ist klar, dass die Kommission logistisch an das Innenministerium angebunden wird (und nicht etwa »zentral« beim Bundeskanzleramt ressortiert). Sie ist »ein Kästchen in der Abteilung M; die politische Verantwortung für das Einrichten [und] das 362
taz vom 2. September 2000: 7; PM des BMI vom 31. August 2000 (s. Fn. 359). vgl. Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS »Arbeit der ›Zuwanderungskommission‹« (BT-Drs. 14/4108 vom 18. September 2000). 364 Hier und im Folgenden ist Abteilung A gleichbedeutend mit Abteilung M. Die Abteilung A für Ausländer- und Asylangelegenheiten des BMI (»A« wie »Ausländer«) wird während der Arbeit der Kommission in Abteilung M (»M« wie »Migration«) umbenannt, dabei aber nur leicht umstrukturiert. 365 vgl. Schilys eigene Schilderung in seinem Statement vor dem Visa-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages, am 15. Juli 2005 (http://www.bmi.bund.de/nn_210460/Internet/Content/Nachrichten/Archiv/Reden/ 2005/07/Schily__Eingangsstatement__Untersuchungsausschuss.html, 12.01.2006). Zur der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes im Bundestag 2004 bezeichnet er die befasste Projektgruppe in der Fachabteilung seines Ministeriums als »Dream-Team unter Leitung von Dr. Lehnguth« (BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10719B). 363
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Arbeiten der Kommission trägt der Minister« (Interview Holthey: 68). Offiziell wird die Geschäftsstelle per ministerieller Bekanntmachung unmittelbar dem zuständigen Abteilungsleiter Lehnguth zugeordnet.366
Kapazitäten der Ministerialbürokratie Auch was Größe und Arbeitstrukturen des Sekretariats anbelangt, orientiert sich Schilys Stab an der im Vorjahr berufenen Bundeswehr-Kommission. Zunächst wird eruiert, welche Mitarbeiter aus dem Einflussbereich des BMI abgestellt werden können; insbesondere wird ein Geschäftsstellenleiter gesucht. Die Wahl fällt auf Stefan von Holthey, der als langjähriger persönlicher Mitarbeiter Schilys dessen Vertrauen genießt und auch fachlich versiert ist. Der Ministerialrat arbeitet zum Zeitpunkt der Kommissionsplanung als Referatsleiter in einer Unterabteilung des BMI in Bonn und stößt im Frühsommer zur Planungsgruppe. Alle haushalterischen und verwaltungsorganisatorischen Fragen des Sekretariats übernimmt mit Uwe Behrens ein Verwaltungsbeamter aus der Berliner Zentralabteilung. Auch aus dem aktuellen persönlichen Stab des Ministers wird eine Mitarbeiterin berufen: Die Referentin Ingrid von Stumm ist erst für wenige Monate im BMI beschäftigt und hat in dieser Zeit u.a. den Stand der demografischen Forschung in einem Aufsatz erarbeitet, der Schily offenbar von ihrer Kompetenz für eine solche Aufgabe überzeugt (vgl. Interview Stumm: 10ff.). Ferner werden nach jeweils internen Auswahlverfahren aus den nachgeordneten Behörden des BMI in Köln (BVA) und Nürnberg (BAFl) insgesamt fünf Mitarbeiter in die Geschäftsstelle nach Berlin entsandt; ein Teil von ihnen erst zum 1. Januar 2001. Obwohl die designierte Kommissionsvorsitzende bei der Berufung der Mitglieder kein Vorschlagsrecht besitzt, kann sie zumindest bedingt Einfluss auf die Zusammensetzung des Sekretariats nehmen (vgl. Interviews Lehnguth: 11; Süssmuth: 21f.; Bierhoff: 10, 14). Süssmuth macht einen engen Vertrauten – den langjährigen Pressesprecher im Bundestagspräsidium Hartwig Bierhoff – zu ihrem Büroleiter und Stellvertreter Holtheys. Auch die Beteiligung eines Referenten aus dem Arbeitsstab der Ausländerbeauftragten geht u.a. auf ihr Betreiben zurück, nicht zuletzt weil sie sich der dominanten Stellung des BMI im Kommissionsprozess bewusst ist, die dieses durch sein Personal innerhalb des Geschäftsstelle einnehmen kann (vgl. Interview Taneja: 28). Von diesen eher marginalen Zugeständnissen bei der Personalauswahl abgesehen, bleiben Schily und seine Ministerialbeamten die Herren des Rekrutierungsverfahrens.367 Darüber hinaus hätten sich jedoch für das BMI ohne Kooperation auch unmittelbare Kapazitätsgrenzen personeller bzw. finanzieller Art ergeben. Die Arbeit der gesamten Kommission steht unter der Einschränkung, dass für sie zunächst kein Titel im Haushalt vorgesehen ist. Das eingestellte Budget der Zuwanderungskommission für das Restjahr 2000 beträgt 1 Mio. DM und wird bei anderen Titeln innerhalb des BMI eingespart.368 Zu366
»Einrichtung der Geschäftsstelle ›Unabhängige Kommission Zuwanderung (UK ZU)‹« – Bekanntmachung des BMI vom 1. September 2000 (GZ: Z 2 – 006 100 BMI/102), GMBl Nr. 29 vom 12. September 2000: 550. 367 Dieser Befund widerspricht der Darstellung Zinterers (2004: 266), die den Auswahlprozess der Sekretariatsmitarbeiter dem späteren Leiter der Geschäftsstelle Stefan von Holthey und seinem Stellvertreter Hartwig Bierhoff »in Kooperation mit dem BMI und der Vorsitzenden« Rita Süssmuth zuordnet. Holthey hat nach eigenen Angaben jedoch ebenfalls »keinen Einfluss« auf »den Personalkörper der Geschäftsstelle« (Interview: 37). 368 Für das Haushaltsjahr 2001 werden hingegen 3,5 Millionen DM direkt aus dem Bundeshaushalt bereit gestellt; die Finanzierung im Einzelplan 06 des Haushaltsgesetzes 2001 läuft unter Kapitel 0602, Titel 532 07, »Kosten für
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sätzliche Personalkosten dürfen nicht entstehen, die Mitarbeiter der Geschäftsstelle werden zeitweise abgeordnet (vgl. Interview Lehnguth: 13). Aus folgenden Behörden sind Mitarbeiter in das Sekretariat der Zuwanderungskommission abgestellt: Auswärtiges Amt, BAFl, Bundesausländerbeauftragte, Bundesanstalt für Arbeit, BMI, Bundesverwaltungsamt. Zu Beginn des Jahres 2001 wird Personalmangel deutlich und für die Redaktionsphase des Kommissionsberichtes werden zusätzliche externe Kräfte rekrutiert (vgl. auch Kap. 3.3.1.6). In punkto Mitarbeiter der Geschäftsstelle weicht das BMI somit deutlich von seinem Vorbild, der Weizsäcker-Kommission, ab. Diese hatte (ebenso wie frühere Bundeswehr-Kommissionen; vgl. dazu Kap. 1.2.5) ihren Arbeitsstab ausschließlich aus Angehörigen des BMV bzw. der Bundeswehr rekrutiert. Dennoch befindet sich auch das Sekretariat der Zuwanderungskommission – so die Wahrnehmung einer externen Mitarbeiterin – stets unter strenger Beobachtung des Innenministeriums (vgl. Interview Taneja: 28). Schließlich wird eine geeignete, dem BMI zugehörige Liegenschaft für die Sitzungen der Kommission und ihrer Arbeitsgruppen gefunden, in der das Sekretariat in der letzten Augustwoche – zwei Wochen vor der konstituierenden Sitzung – seine Arbeit aufnimmt: Das Bundeshaus des BVA. Das Gebäude an der Berliner Bundesallee sieht so abweisend aus, wie sein Name klingt: »Bundesverwaltungsamt«. In dieser unscheinbaren Ödnis aus Backstein und langen Fluren hantieren, fernab des geschwätzigen Regierungsviertels, […] 21 Experten mit politischem Sprengstoff – den Grundlagen für die zukünftige Einwanderungspolitik.369
3.2.4 Beratungskonkurrenz: »Michael Schumacher der Zuwanderungspolitik« Mit der Berufung der Kommission demonstriert die Regierung Handlungsbereitschaft, denn mit seiner Kritik an den bis dato eingeschränkten Möglichkeiten der Zuwanderungsgestaltung verbindet Schily einen klaren Beratungs- und Politikgestaltungsauftrag. Durch die Zielvorgabe, die Kommission solle bis Mitte des folgenden Jahres ihr Konzept vorlegen, hält er sich zudem die Option offen, doch noch in der laufenden Wahlperiode die Gesetzesinitiative zu ergreifen. Innerhalb der im 14. Deutschen Bundestag vertretenen Parteien stehen Meinungsbildungsprozesse weitgehend aus.
die Unabhängige Kommission ›Zuwanderung‹« (BT-Drs. 14/4506 vom 8. November 2000: 2; vgl. auch BT-Drs. 14/4993 vom 15. Dezember 2000: 4). Die im Vergleich zu anderen Kommissionen üppige Budgetierung (vgl. Siefken 2006: 575ff.) orientiert sich an den Erfahrungen der Weizsäcker-Kommission und deckt Kosten für Gutachten, Stenografische Dienste, Reisen, Hotels, Catering und Aufwandsentschädigungen. Sie ist jedoch wesentlich zu hoch veranschlagt: Im ersten Jahr werden etwa 200.000 DM, im zweiten Jahr rund 2 Mio. DM ausgegeben, so dass ca. 2,3 Mio. DM des maximal zur Verfügung stehenden Haushalts eingespart werden (dokumentierte Hintergrundinformation). Die tatsächlichen Gesamtkosten der Zuwanderungskommission werden von der Bundesregierung auf 1.203.531,- Euro (gut 2,3 Mio. DM) beziffert (vgl. BT-Drs. 15/337 vom 17. Januar 2003: 21). 369 Der Spiegel Nr. 16 vom 14. April 2000: 50. Tatsächlich handelt es sich beim Bundeshaus um einen repräsentativen und geschichtsträchtigen Bau. 1895 als Verwaltungsgebäude des preußisch-kaiserlichen Militärs erbaut, beherbergte es ausgerechnet eine Kommission, die Königlich-Preußische Artillerie-Prüfungskommission, bevor es nach dem nach dem 1. Weltkrieg von der Wehrmacht genutzt wurde. Bis 1944 wirkten dort die Offiziere des Widerstandes Generaloberst Erich Hoepner und Generalmajor Henning von Tresckow. Nach dem Krieg diente es u.a. als Sitz des Bevollmächtigten der Bundesrepublik in Berlin. Seit 1990 befindet sich das mit Büros und moderner Tagungstechnik ausgestattete Gebäude unter den Auspizien des Innenministeriums und wurde verschiedentlich durch das BMI bzw. nachgeordnete Behörden genutzt, meist durch das BVA.
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3.2.4.1 Zuwanderungspolitik der FDP: »Mit Rücksicht auf die Unabhängige Kommission« Über die deutlichsten Konturen eines Zuwanderungskonzepts verfügt die FDP. Ihre Vorstellungen einer unter arbeitsmarktpolitischen Bedarfs- und humanitären Gesichtspunkten gesteuerten Einwanderung nach Quoten und Teilquoten hatte sie bereits Mitte der 1990er Jahre in Gesetzesform konkretisiert. Über einen Gesetzesantrag der sozial-liberalen Koalitionsregierung von Rheinland-Pfalz im Bundesrat 1997 zeigt sich eine weitgehende Kongruenz zu Positionen innerhalb der SPD. Nach dem Wechsel in die Oppositionsrolle im Bund wird das Konzept weiterentwickelt und im November 1998 als Gesetzentwurf in den Bundestag eingebracht (vgl. Kap. 2.3.4.3, 2.4.2 und 3.2.1.3). Fast zeitgleich mit der Ankündigung der Süssmuth-Kommission bringt die FDPBundestagsfraktion diesen knapp zwei Jahre alten Gesetzentwurf mit leichten Veränderungen erneut in die parlamentarische Beratung ein.370 Nach den Vorschlägen der FDP sollen Zuwanderer ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft bestreiten können und die Kosten der persönlichen Integration grundsätzlich selbst tragen. Zuwanderung und Asylverfahren sollen einander ausschließen. Die Steuerung soll u.a. durch eine Kontingentierung erfolgen, bei der die Bundesregierung unter Beteiligung einer Sachverständigenkommission per Verordnung Gruppen von Zuwanderern nach wirtschafts-, entwicklungs- und arbeitsmarktpolitischen sowie humanitären Gesichtspunkten bildet. Ein Punktesystem ist nicht vorgesehen; die Entscheidung über die Zuwanderungsanträge soll auf pflichtgemäßem Ermessen der zuständigen Behörden beruhen. Der Mitarbeit in Schilys Sachverständigenkommission verweigern sich die Liberalen nicht.371 Der Innenausschuss behandelt den Gesetzentwurf nach der ersten Lesung im Plenum zunächst nicht weiter; während die übrigen Parteien parallel zur SüssmuthKommission ihre Positionen in Papieren erarbeiten, verweist die FDP auf das laufende Verfahren und fasst ihre Vorstellungen zusätzlich in einem kurzen Zuwanderungskonzept zusammen, in dem sie erklärt: Mit Rücksicht auf die vom Bundesinnenminister eingesetzte Unabhängige Kommission Zuwanderung hat die FDP die Beratung ihres Gesetzentwurfs zurückgestellt. Nach Vorlage der Ergebnisse der Kommission gilt es [...] die parlamentarische Beratung wieder aufzunehmen und mit einer gesetzlichen Regelung abzuschließen. Die FDP wird ihren Gesetzentwurf unter Einbeziehung der Ergebnisse der Unabhängigen Kommission Zuwanderung fortentwickeln.372
3.2.4.2 Müller-Kommission der CDU: »Entsprechend was dagegen setzen« Im absehbaren Policy-Wettbewerb mangelt es der Union an einem Programm. Eckpunkte für ein Integrationskonzept stammen aus dem Jahr 1998, geregelte Zuwanderung ist darin
370 »Wir möchten mit unserem Gesetzentwurf parlamentarischen Druck aufbauen, damit noch in dieser Legislaturperiode ein modernes Zuwanderungsrecht […] beschlossen wird.« Fraktionsvorsitzender Guido Westerwelle, BTPl.Pr. 14/133 vom 16. November 2000: 12799C); vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Zuwanderung, BT-Drs. 14/3679 vom 27. Juni 2000. 371 vgl. Fraktionsvorsitzender Guido Westerwelle, BT-Pl.Pr. 14/133 vom 16. November 2000: 12799C, 12801B; Interview Stadler: 56. 372 Zuwanderungskonzept der FDP-Bundestagsfraktion vom 30. Juli 2001: 1.
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nicht vorgesehen.373 Einen ersten Schritt unternimmt der neue Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, als er im Zuge der Greencard-Debatte seinen für Innenpolitik zuständigen Vize Wolfgang Bosbach mit der Erarbeitung eines inventarisierenden Papiers beauftragt, das die gegenwärtige Lage der Einwanderer, assoziierte Problembereiche und entsprechende Lösungsansätze skizziert. Gemeinsam mit den Unionsinnenministern legt Bosbach zunächst ein Positionspapier vor. Die Vorschläge werden bei einer Klausur des CDU-Fraktionsvorstands Ende Juni 2000 diskutiert und fließen auch in einen von Baden-Württemberg formulierten Entschließungsantrag im Bundesrat ein, in dem die unionsgeführten Länder ihre Zustimmung zu den Greencard-Verordnungen mit der Forderung nach einem Gesamtkonzept für die Zuwanderung an die Bundesregierung verbinden.374 Vor allem steht jedoch ein innerparteilicher Willensbildungsprozess an, »denn die Union hat zu dem Thema Zuwanderung noch überhaupt keine fest gefügte Meinung. Anders ist […] die Einsetzung einer eigenen Kommission […] nicht zu verstehen.«375 Die schnelle Ankündigung eines eigenen Gremiums unter Federführung des Präsidiumsmitglieds Peter Müller direkt im Anschluss an die Initiative des BMI hat jedoch auch eine stark öffentlichkeitsorientierte und somit darstellungspolitische Dimension; es geht auch darum, die Policy-Kompetenz der Opposition öffentlich zu inszenieren (vgl. Interview Helm: 10). Die Berufung des Gremiums, das die gesamte Meinungspalette der CDU abbilden und bis Ende 2000 ein Konzept vorlegen soll, erfolgt bereits Ende Juni durch Präsidium und Bundesvorstand.376 Die CDU reagiert also ganz konkret auf die Einsetzung der SchilyKommission, dessen Mitglieder zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht öffentlich bekannt sind. Man möchte gleichsam Bund-, Länder- und kommunale Gliederungen der Partei einbeziehen; Bundespartei und Bundestagsfraktion sollen die Mitglieder gemeinsam bestimmen. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach übernimmt dies für die Fraktion, wobei die CSU personell unberücksichtigt bleibt, Präsidiumsmitglied Müller für die Partei (vgl. Interview Bosbach: 12). Dabei habe man insbesondere versucht »Sachverstand zu bündeln – aus dem parlamentarischen Raum, Bund, Länder, Gemeinden, Praktiker, Theoretiker, Wissenschaftler« (ebd.: 28). Die Kommission bekommt 24 Mitglieder (darunter zwei türkisch-stämmige Migranten), von deren großer Mehrzahl der Kommissionsvorsitzende eine grundsätzlich zuwanderungsbejahende Haltung erwartet. Dabei werden nicht nur Ämter- und Parteistrukturen beachtet; beispielsweise wird auch der in Migrations- und Flüchtlingsfragen vergleichsweise liberale Christian Schwarz-Schilling eingebunden. In hohem Maße kommt somit der Kommission eine Integrationsfunktion für die Gesamtpartei in der Programmdebatte zu (vgl. Liste der Kommissionsmitglieder in Anhang 7). 373 vgl. Jürgen Rüttgers: »Integration und Toleranz. Eckpunkte für ein Integrationskonzept der CDU/CSUBundestagsfraktion«, Beschluss vom 19. Januar 1999 (http://www.cdu.de/politik-a-z/zuwanderung/inhalt.htm#, 15.10.2004; http://www.cdu.de/db/pabz.php?tid=83&sta=3, 05.12.2005). 374 vgl. Deutschlandfunk-Interview mit Friedrich Merz vom 21. Juni 2000; FAZ vom 4. April 2000: 1 sowie vom 17. Juni 2000: 6; Antrag der Länder Baden-Württemberg und Bayern »Entschließungsantrag des Bundesrates zu Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung, zu Arbeitskräftebedarf und Ausbildung sowie zur Verordnung über Aufenthaltserlaubnisse für hochqualifizierte ausländische Fachkräfte der Informations- und Kommunikationstechnologie (IT-AV)«, BR-Drs. 398/00 vom 29. Juni 2000). 375 Heiner Geißler, »Unsicherheit bei beiden großen Parteien«, FAZamSo vom 16. Juli 2000: 4. 376 vgl. SZ vom 27. Juni 2000: 5; Die Welt vom 10. Juli 2000: 4; FAZ vom 11. Juli 2000: 4 sowie vom 12. Juli 2000: 4. Mit dem saarländischen Ministerpräsidenten wird ein reformorientierter Politiker an die Spitze des Gremiums berufen. Rhetorisch bricht er explizit mit alten CDU-Positionen: Der Satz, Deutschland ist kein Einwanderungsland, sei so unhaltbar »wie die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe« (zit.n. taz vom 4. Mai 2001: 3); »Gegen Zuwanderung zu sein ist keine vorstellbare Position« (zit.n. FAZ vom 12. Juli 2000: 4).
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Gebremste Politikformulierung Auch die inhaltlichen Vorarbeiten der Kommission übernehmen hauptsächlich Müller und Bosbach: Bis zum Herbst entsteht ein Papier, das Ausgangspunkt und Arbeitsauftrag enthalten soll. Mit Rücksicht auf die Forderungen des baden-württembergischen Landesverbandes werden Arbeitsbeginn und Abschlusstermin um Monate verzögert, da man sich erhofft die dortigen Landtagswahlen Ende März leichter zu gewinnen, wenn das migrationspolitische Konzept der Müller-Kommission noch nicht thematisiert wird.377 Bosbach und Müller vertreten unionsintern eher progressive Auffassungen, die auf Widerstände besonders in der Fraktionsführung treffen. Hier werden auch Rücksichten auf die Forderungen der CSU genommen. Die Genese des Papiers bedeutet daher für Müller und Bosbach mehrmaliges Zurückrudern von ihren Positionen, gegen die zunächst auch Merkel nichts einzuwenden hat:378 Zunächst sorgt das CDU-Präsidium dafür, dass programmatische und vorwärts gerichtete Thesen Müllers wie »Deutschland ist ein Einwanderungsland« und »Das Boot ist nicht voll« gestrichen werden. Auch in der Fraktion der CDU/CSU wird heftiger Anstoß daran genommen. Die »entschärfte« Version wird unmittelbar darauf an die Mitglieder der Müller-Kommission verschickt. Zwei Wochen später kommt es auf Veranlassung der Partei- und Fraktionsspitze zu einer weiteren Veränderung. Müller und Bosbach haben im Text ihres Eckwertepapiers auf den kurz zuvor von Friedrich Merz propagierten Begriff der »Deutschen Leitkultur« verzichtet. Man habe ihn – so Bosbach – weg gelassen, weil er in Gesellschaft, Partei und Fraktion umstritten sei.379 Die Parteivorsitzende bestätigt diese Position zunächst gegenüber Müller, vollzieht jedoch eine plötzliche Kehrtwende: Der Terminus solle nun doch unbedingt in dem Papier auftauchen, da er den politischen Gegner irritiere, er ohnehin bereits in der Debatte und seine Nutzung somit ein Gebot der politischen Klugheit sei. Offenbar hatten Teile der Fraktion Druck auf Merkel ausgeübt. Müller kann sich nach eigenen Worten dem »charmanten Druck der Parteivorsitzenden« nicht entziehen:380 Die »Leitkultur« bleibt erhalten – nicht mehr als »deutsche Leitkultur«, sondern als »Leitkultur in Deutschland«. Auch bei den asylrelevanten Fragen wirken sich die CSU-Forderungen aus. Im Entwurf für die Vorlage hatten Bosbach und Müller lediglich abstrakt die »Überprüfung verfassungsrechtlichen Anpassungsbedarfs« avisiert.381 In der durch die Parteispitze ratifizierten Version kommt es zu einer Verschärfung: Es heißt nun, die »Umwandlung des Asylgrundrechts in eine institutionelle Garantie [dürfe] im Hinblick auf die euro-
377
vgl. FAZ vom 20. Oktober 2000: 3 sowie vom 28. Oktober 2000: 2; SZ vom 24. Oktober 2000: 12. vgl. in diesem Zusammenhang die aufschlussreiche »Reportage« aus der CDU/CSU-Fraktionssitzung am 25. Oktober 2000 von Karl Feldmeyer, »Merkel sieht sich zunehmend in Konkurrenz zu Merz« (FAZ vom 26. Oktober 2000: 3); FAZ vom 26. Oktober 2000: 3 sowie vom 28. Oktober 2000: 2. 379 taz vom 6. November 2000: 6. 380 zit.n. FAZ vom 7. November 2000: 1; vgl. taz vom 7. November 2000: 3. Müller spricht der Formulierung eine bindende Wirkung ab: »Ich habe den Begriff nicht benutzt, ich werde ihn nicht benutzen, und für die Arbeit der Kommission spielt er keine Rolle.« (Interview mit Peter Müller, FAZ vom 3. Dezember 2000: 3; Herv.d.Verf.) 381 SZ vom 6. November 2000: 1. 378
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päische Einigung und europäische Harmonisierung auch des Rechts kein politisches Tabu bleiben.«382 Die Hoffnung Bosbachs, das Papier werde in der Bundestagsfraktion unter Einschluss der CSU-Landesgruppe angenommen,383 erweist sich als Illusion: Die CSU kritisiert das Papier als zu einwanderungsfreundlich und setzt auf verstärkte Profilierung durch eine eigene Arbeitsgruppe unter Vorsitz von Günther Beckstein. Parteivorstand und Parteitag beschließen ein erstes Thesenpapier, nach dem Deutschland »kein klassisches Einwanderungsland« sei, Ausländer sich dem »europäisch-abendländischen Wertefundament als Leitkultur« anzupassen hätten und die Grundrechts-Artikel 16a und 19 GG geändert werden müssten.384 Die Einsetzung der Müller-Kommission als Gremium der größten Oppositionspartei verdeutlicht den einsetzenden Policy-Wettbewerb als genuiner Bestandteil des Parteienwettbewerbs, bei dem sich politische Parteien issue-bezogen in eine Leistungskonkurrenz begeben (vgl. Gabriel 2001: 231ff.). CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz kündigt an, die Ergebnisse des Müller-Gremiums sollen in den Wettbewerb mit den Ergebnissen der Süssmuth-Kommission gestellt werden; auf der anderen Seite begrüßt Schily öffentlich, dass es zu einem »Wettstreit der Vorschläge« komme.385
3.2.4.3 Grundsatzdiskussion in der PDS: »Provozierte Debatten in die Partei hinein« Der Fraktion der PDS bleibt eine Beteiligung an dem Gremium der Bundesregierung verwehrt. Teile der Partei drängen daher auf die Formulierung eigenständiger Positionen. Neben der innenpolitischen Sprecherin Ulla Jelpke ist die stellvertretende Parteivorsitzende Petra Pau mit dem Thema befasst und regt die Programmarbeit an, da die PDS noch über keinerlei Eckpunkte oder offizielle Positionen jenseits Formel »offene Grenzen für alle« verfügt habe. Die Feststellung eines Zuwanderungsbedarfes habe unter Generalverdacht gestanden, »dass man ausgrenzen will, dass man rassistisch ist.« (Interview Pau: 12ff.) Auch bei der PDS besteht das Ziel darin, im Policy-Wettbewerb ernst genommen zu werden durch eine Position, aus der sich auch konzeptionelle Überlegungen für die Ausgestaltung eines Zuwanderungsgesetzes ableiten lassen. Dazu werden in einer Arbeitsgruppe des Fraktionsvorstandes Vorarbeiten geleistet. Wir haben nicht die Positionierung zum Asylrecht in Frage gestellt, völlig klar; aber haben Stück für Stück – auch durch provozierte Debatten in die Partei hinein – erstmal deutlich gemacht, dass es sehr wohl auch andere Bedürfnisse gibt nach Zuwanderung. (Interview Pau: 16)
382 Arbeitsgrundlage für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands vom 6. November 2000 (http://www.cdu.de/db/pabz.php?tid=83&sta=3, 07.12.2005; http://www.cdu.de/politik-a-z/zuwanderung/ inhalt.htm#, 15.10.2004). Die »Leitsätze« schließen mit einem Kommissionsauftrag, der dem der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« Schilys nicht unähnlich ist. 383 vgl. taz vom 7. November 2000: 3. 384 vgl. FAZ vom 8. November 2000: 2 sowie vom 20. November 2000: 1; Berliner Zeitung vom 14. November 2000; SZ vom 20. Nov. 2000: 1. Kurz darauf eskaliert der Streit: Müller kündigt an, ein Zuwanderungsgesetz könne von der CDU möglicherweise auch gegen die CSU im Bundesrat beschlossen werden (vgl. FAZ vom 23. November 2000: 2). 385 vgl. FAZ vom 12. Juli 2000: 4; SZ vom 13. Juli 2000: 8.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Resultat ist ein im Namen Paus verfasstes Eckwertepapier mit sechs »Thesen zur Einwanderungspolitik«. Darin wird u.a. ein klar definiertes und nachvollziehbares individuelles Recht auf Einwanderung auf Grund von Familiennachzug, für ein Studium oder eine Ausbildung, zur Unternehmensgründung sowie zur Arbeitsaufnahme oder Beschäftigungssuche eingefordert. Die Einwanderung zur Beschäftigungssuche ist jedoch auf sechs Monate beschränkt und an die Sicherung des Lebensunterhalts geknüpft; bei der Aufnahme einer Tätigkeit muss es sich um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu ortsüblichen oder Tariflöhnen handeln.386 Dass damit auch Ausschlusskriterien festgelegt werden, provoziert heftigen Widerspruch in Teilen von Partei und Fraktion.387 Im ersten Halbjahr 2001 formuliert die Arbeitsgruppe der Fraktion auf der Grundlage von Paus Thesen und im Austausch mit den Positionen der Süssmuth-Kommission ein ausführliches Konzeptpapier »für eine menschenrechtliche Zuwanderungspolitik«, das in der Fraktion auf massiven Widerstand stößt und nur eine knappe Mehrheit findet, in den Augen des Fraktionsvorsitzenden Roland Claus die PDS aber dazu befähigt, an Konsensgesprächen in der Einwanderungsund Asylpolitik teilzunehmen.388
3.2.4.4 Drei-Säulen-Modell von Bündnis 90/Die Grünen: »Umfassende gesetzliche Regelung der Einwanderung« Die relativ geschlossenen Politikentwürfe von Bündnis 90/Die Grünen in migrationspolitischen Fragen sind weder im Koalitionsvertrag verankert, noch steht im Sommer des Jahres 2000 zu erwarten, dass sie im Wege direkter Verhandlungen mit der SPD in einen Gesetzentwurf einfließen. Für die Grünen scheint es essenziell, auf die Empfehlungen der Kommission zu wirken und eigene Vorstellungen in einem Papier zu fixieren, das Bezugspunkt in den anstehenden Debatten sein kann. Maßgebliche Akteure der Bundespartei legen Anfang November ein 18-seitiges Konzept vor, das am 8. November 2000 als »Autorenpapier« der Öffentlichkeit präsentiert wird. Es diene der innerparteilichen Diskussion und werde keinen Antrag der Fraktion im Bundestag nach sich ziehen, da man hier auf die Vorschläge der Süssmuth-Kommission warten wolle.389 Das Papier umfasst folgende zentrale Punkte: 1.
Einwanderung aus wirtschaftlichen Gründen, insbesondere zur Deckung des Arbeitskräftebedarfs: Hierfür seien flexible Quoten zur dauerhaften Einwanderung nötig, über
386 vgl. Petra Pau, »Thesen zur Einwanderungspolitik« vom 10. November 2000 (http://www.petra-pau.de/ bundestag/dok/001110_einw.htm, 04.12.2005). 387 vgl. Johannes Leithäuser, »Die PDS vor einem neuen Grundsatzstreit« (FAZ vom 9. Januar 2001: 4). 388 vgl. »Eckpunkte für eine menschenrechtliche Zuwanderungspolitik« vom 26. Juni 2001 (http://www.petrapau.de, 04.12.2005) sowie FAZ vom 28. Juni 2001: 4; taz vom 28. Juni 2001: 6. Die Bestätigung der Eckpunkte in der Fraktion erfolgt mit bei 16 Ja-Stimmen, neun Nein-Stimmen und zwei Enthaltungen – bei zehn [!] abwesenden Abgeordneten. 389 vgl. »Einwanderung gestalten – Asylrecht sichern – Integration fördern. Vorgelegt von Renate Künast, Bundesvorsitzende; Kerstin Müller, Vorsitzende der Bundestagsfraktion; Marieluise Beck, Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen; Cem Özdemir, innenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion; Claudia Roth, menschenrechtspolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion; Petra Hanf, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft ImmigrantInnen und Flüchtlinge«, 8. November 2000 (http://www.fluechtlingsrat.org/download/greinwkonz.pdf, 13.04.2006); FAZ vom 9. November 2000: 8; SZ vom 9. November 2000: 6.
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
2.
3.
227
die in einem transparenten, demokratischen Verfahren unter Beteiligung von Bundestag, Bundesrat und gesellschaftlichen Interessengruppen entschieden wird. Einwanderung aus politischen oder humanitären Gründen: Per Gesetz müssten Handlungsspielräume geschaffen, Bundestag und Bundesrat in Entscheidungen eingebunden werden; dauerhaftes Bleiberecht für Flüchtlinge, wenn die Rückkehr aus humanitären Gründen nicht möglich ist; Legalisierung von »Illegalen« und Straffreiheit für humanitäre Hilfe müssten diskutiert werden. Einwanderung aufgrund von Rechtsansprüchen: Beibehaltung des Asylgrundrechts, der Rechtswege und der Familiennachzugsrechte; »Paradigmenwechsel in der Asylpolitik« durch das Schließen von Schutzlücken, Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Asylgründe sowie Schaffung eines einheitlichen Flüchtlingsstatus auf Grundlage der Genfer Flüchtlingskonvention.
Im Gegensatz etwa zu CDU und PDS hat die Arbeit an einem Positionspapier für Bündnis 90/Die Grünen weniger eine Programm- oder innerparteiliche Integrationsfunktion, als vielmehr eine Funktion im politischen Wettbewerb der Konzepte und deren öffentlicher Wahrnehmung. Im Vorgriff auf die Ergebnisse der Süssmuth-Kommission und die absehbaren Verhandlungen um eine gesetzliche Regelung innerhalb der Koalition werden erste Pflöcke eingeschlagen.
3.2.4.5 Stiegler-Kommission der SPD-Fraktion: »Wie einen wir unseren Verein?« Seit der Amtsübernahme der rot-grünen Bundesregierung ist die Meinung innerhalb der Sozialdemokraten über den Kurs des Bundesinnenministers geteilt. Partei- und Fraktionsführung halten sich mit Äußerungen weitgehend zurück, rechnen aber nicht mit einer Reform des Ausländer- und Zuwanderungsrechts in der aktuellen Wahlperiode. Vordergründig wird dem BMI die Initiative überlassen. Bezüglich der Fraktion entsteht eine Außenwahrnehmung von »Blockade« und »Sprachlosigkeit« (taz vom 14. Juni 2000: 7). In der Fraktionsführung ist man sich der gravierenden Spannungen bewusst, die inhaltlich unter den 297 SPD-Abgeordneten aufkommen könnten, sollte es zu einer Debatte um ein Zuwanderungsgesetz kommen. Die Konfliktlinien bilden dabei tendenziell den Richtungsstreit zwischen dem »Seeheimer Kreis« und der Parteilinken ab.390 Bereits vor Ostern plant der für Innenpolitik zuständige Vize der Fraktion Ludwig Stiegler im Auftrag des Fraktionsvorsitzenden Struck eine Querschnittsarbeitsgruppe.391 Deren Einberufung ist also mitnichten eine unmittelbare Reaktion auf Schilys Expertengremium: als die »SüssmuthKommission« angekündigt wird, hat sich die »Stiegler-Kommission« längst konstituiert. Als primären strategischen Auftrag sehen Struck und Stiegler die Suche nach einem geschlossenen Standpunkt: Wie halte ich die SPD zusammen? Und wie halte ich die Fraktion zusammen […] und wie verhindern wir, dass es Durchstechereien zwischen Teilen der Fraktion und den Grünen gibt? […] Das Oberziel war: Die
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vgl. zur Geschichte des innerparteilichen Machtkampfes Gebauer (2005). vgl. SZ vom 26. April 2000: 6. Die folgenden Ausführungen zur SPD-Querschnittsarbeitsgruppe stützen sich maßgeblich auf die Expertengespräche mit dessen Vorsitzenden Ludwig Stiegler und der Parlamentarischen Staatssekretärin im BMI Cornelie Sonntag-Wolgast, die der AG als beratendes Mitglied angehörte. 391
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess SPD muss mit einer eigenen Position, die breit getragen wird, da rauskommen. […] Ich hab’ das immer in dem Bewusstsein geleitet und das auch x-mal gesagt: Der Gesetzgeber sind wir!« (Interview Stiegler: 39).
Neben dem intrafraktionellen Dissensproblem erwächst vor dem Hintergrund der zahlreichen entstehenden Policy-Konzepte für die Fraktion ein Profilierungs- bzw. Darstellungsproblem. Obwohl sich zwei Instanzen unter SPD-Beteiligung mit der Politikformulierung beschäftigten (die Süssmuth-Kommission und das Innenministerium), sind Partei und Abgeordnete weder umfassend über diese Arbeiten informiert, noch an ihnen beteiligt. Auch steht nicht zu erwarten, dass sie sich mehrheitlich und unhinterfragt damit identifizieren. Sehr deutlich wird hingegen die Gefahr erkannt, von außen als Fraktion mit dem Ergebnis der Regierungskommission identifiziert – und quasi mundtot gemacht zu werden (vgl. Interview Stiegler: 63ff.). Stiegler [hat] das als Steuerungsfunktion und auch als Mittel gesehen, dass die Fraktion sich noch mal eigenständig profiliert – das war also durchaus Wille, dass man an bestimmten Punkten sagt: da unterscheiden wir uns wiederum, da gehen wir ein bisschen weiter, wir sind auch nicht rot-grün, sondern wir sind Arbeitsgruppe der SPD und können da auch gewisse andere Schwerpunkte setzen. (Interview Sonntag-Wolgast: 70)
In weiten Teilen der SPD-Fraktion ist aus den Erfahrungen der ersten zwei Regierungsjahre auch die Gefahr der systemimmanenten Machtverschiebung zwischen den Gewalten Legislative und Exekutive präsent, die durch den disziplinierenden Umgangsstil von Bundeskanzler Schröder mit den »eigenen« Abgeordneten geprägt ist (vgl. Patzelt 2004: 276ff.). Bereits bei der Weizsäcker-Kommission zur Bundeswehr-Reform hatte Peter Struck eine begleitende Fraktionskommission angeregt, um den Macht- und Gestaltungsanspruch der Fraktion gegenüber Kanzler, Verteidigungsminister bzw. der von ihnen eingesetzten Kommission zu reklamieren.
Fraktionsvize Stiegler als Grenzstellenakteur Die Leitung der Kommission wird damit zu einer echten Koordinierungs- und Steuerungsaufgabe: Einerseits soll Konsens innerhalb der Fraktion hergestellt, andererseits eine profilierende Position gefunden werden, die inhaltlich nicht zu weit von der Regierungskommission entfernt liegt und einen stabilen Ausgangspunkt für Verhandlungen mit der Opposition markiert. Schließlich gehört zu der Leitungsaufgabe auch ein Stück Koalitionsmanagement: Die Schaffung möglichst großer inhaltlicher Kohärenz zur bündnisgrünen Fraktion verfolgt Stiegler durch Dialog: Ich hab mich mit Volker Beck oder mit Claudia Roth [...] regelmäßig abgestimmt. Wir hatten sozusagen ein stilles gemeinsames Bündnis: »Wir wollen ein weltoffenes Zuwanderungsrecht und müssen aufpassen, dass das eben nicht durch rein sicherheitspolitische Bedenken überfrachtet wird.« (Interview Stiegler: 69)
Die intermediäre Position Stieglers als Mitglied der Fraktionsspitze führt zu einer Aufgabendualität: einerseits der loyalen, zielbezogenen und erfolgsorientierten Unterstützung der Bundesregierung als Mitglied der regierungstragenden Partei sowie andererseits dem Selbstverständnis als Abgeordneter, einer Schwächung des Parlaments zu Gunsten exekutiver Machtkonzentration selbstbewusst entgegen zu wirken und dabei ein verlässliches Nebeneinander mit dem Koalitionspartner zu pflegen. Stiegler ist bereits im Vorfeld des Ge-
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
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setzgebungsprozess ein im Formalen wie Informalen agierender »Grenzstellenakteur« par excellence (vgl. Kropp 2003: 23 sowie allgemein Kap. 1.1.3.2). Folge dieser komplexen Gemengelage ist nur vordergründig ein unabhängiges, und von der Bundesregierung unbehelligtes »Nebeneinanderherarbeiten« der Kommissionen Süssmuth und Stiegler. Tatsächlich steht die Fraktionskommission unter genauester Beobachtung und im Austausch mit der Bundesregierung; Bundeskanzleramt und Arbeitsministerium sind vertreten. Noch wichtiger ist die Meinungsbildung der SPD-Fraktion für Schily und seine Beamten: Im BMI müssen bereits möglichst viele Diskussionslinien berücksichtigt werden, um die Chance auf einen Konsens zu erhöhen, zuvorderst aber die der SPDFraktion. Der für die Geschäftsstelle der Süssmuth-Kommission zuständige Abteilungsleiter A Gerold Lehnguth hat bei Stiegler dauerhaftes Gastrecht. Die Besetzung der Kommission erfolgt nicht ex cathedra, sondern durch breite Ausschreibung in der Fraktion. Zusätzlich werden Vertreter der Partei und der Friedrich-EbertStiftung eingebunden, zahlreiche Gäste eingeladen und ein vierköpfiger Arbeitsstab eingerichtet (vgl. Anhang 8). Das fraktionsinterne Interesse an der Programmarbeit in der Querschnitts-AG ist groß und die Arbeitsatmosphäre entwickelt sich äußerst positiv.392 Trotz breiter und kontroverser Beteiligung arbeitet das Gremium geschlossen und quasi unter Ausschluss der Medienöffentlichkeit. Die Wahrung der vereinbarten Vertraulichkeit kann offenbar maßgeblich der ausgewogenen und disziplinierenden Führungsarbeit des Kommissionsvorsitzenden zugeschrieben werden.393 Erst nach Präsentation der Süssmuth-Ergebnisse veröffentlicht die SPD-Fraktion ihr Konzept – was auch dem ursprünglichen Zeitplan entspricht. Da aber Stieglers Gremium seine Arbeit bereits Ende Mai beendet, wollen Teile der Fraktion die Präsentation auf Anfang Juni vorziehen.394 Dieser Plan scheitert am Widerstand des Innenministers, dem das Konzept zu weit geht, und wird offenbar nach strategischen Erörterungen mit Fraktionschef Struck verworfen. Ähnlich wie die Müller-Kommission der CDU muss Stieglers Gremium auf Druck der Partei- bzw. Fraktionsspitze außerdem in mindestens zwei zentralen Fragen Abstriche vom ursprünglichen Eckpunktepapier hinnehmen, die eine Annäherung an die Position des BMI bedeuten.395
392 »Das war die erste Kommission, die ich in meiner Laufbahn erlebt habe, die am Ende mehr aktive Beteiligte hatte als am Anfang. […] jeden Freitag um 12 Uhr hat diese Kommission getagt mit einer unglaublich hohen Präsenz.« (Interview Stiegler: 19ff.) 393 vgl. Interview Stiegler: 75 sowie die Artikel »Streng geheime SPD-Zuwanderung« (taz vom 16. Mai 2001: 7), »Mund halten und durch (SZ vom 16. Mai 2001: 1) sowie »SPD brütet über Zuwanderung«, (taz vom 2. Juni 2001: 8), die Stiegler als erfolgreichen Zuchtmeister beschreiben. 394 so die Kommissionsmitglieder Dieter Wiefelspütz und Michael Bürsch (vgl. Berliner Zeitung vom 1. Juni 2001). 395 Im Entwurf ruft die SPD nach der »ausdrückliche[n] Aufnahme« nichtstaatlicher oder geschlechtsspezifischer Verfolgung in den Gesetzestext (zit.n. FR vom 26. Juni 2001: 7). Später heißt es unverbindlich: »Wir wollen auch diejenigen Flüchtlinge besser schützen, die von nichtstaatlicher Verfolgung oder geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzungen bedroht sind.« (Die neue Politik der Zuwanderung: Steuerung, Integration, innerer Friede. Eckpunkte der SPD-Bundestagsfraktion vom 6. Juli 2001: 11). Kurzfristig findet auch eine »Mehmet-Klausel« (in Anlehnung an den jungen türkischen Straftäter, der ausgewiesen wurde) Eingang in den Text: Die klare Aussage »In Deutschland geborene oder aufgewachsene Ausländer sollen in Zukunft nicht mehr ausgewiesen werden können« wird in letzter Minute ergänzt um den Zusatz »[…], es sei denn, ihre Ausweisung ist auf Grund außergewöhnlicher Umstände aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit unerlässlich.« (ebd.: 14).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
3.2.4.6 Gesellschaftlicher Diskurs: »Wenn Du König von Deutschland wärst, wie würde Dein Zuwanderungsgesetz aussehen?« Die Jahre 2000 und 2001 stehen nicht nur im Zeichen intensiver Diskussion einwanderungspolitischer Fragen im politischen Raum, sondern auch breiter gesellschaftlicher und medialer Befassung mit dem Thema. Die Berichterstattung in den Printmedien ist umfassend, »Zuwanderung« nicht selten der Aufmacher auf Seite 1 der Tageszeitungen. Die Wirtschaftsverbände intensivieren ihr Engagement bei der Forderung nach einem Einwanderungsgesetz und tragen zu einem nachhaltigen, auch durch zahlreiche andere Akteure geprägten öffentlichen Diskursstrang bei, der Zuwanderung als ökonomische Notwendigkeit erscheinen lässt (vgl. Hell 2005: 119ff.). Die Einschätzung, erst die Berufung der Regierungskommission und der zahlreichen Arbeitszirkel der Parteien habe einen solchen umfassenden gesellschaftlichen Diskurs ermöglicht bzw. befördert, ergibt sich auch aus den Befragungen der Experteninterviews. Eine offene, themenbezogene Debatte unter Beteiligung von Bürgern, gesellschaftlichen Gruppen und Politik wird für den Zeitraum nach der Greencard-Initiative und der Installierung der Süssmuth-Kommission konstatiert. »Insofern ist doch überhaupt erst etwas in Gang gekommen, was es ja leider sonst gar nicht gibt.« (Interview Schnoor: 314; vgl. auch Interviews Bosbach: 34; Sonntag-Wolgast: 178; Süssmuth: 142, 156). Die politische Debatte wird begleitet durch eigene, programmatische Arbeit ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen wie Gewerkschaften oder Wohlfahrtsverbände. Bei den Akteuren entsteht eine migrationspolitische Aufbruchstimmung nach dem Motto: »Wenn Du König von Deutschland wärst, wie würde Dein Zuwanderungsgesetz aussehen?«396 Mit Hochdruck und Enthusiasmus wird allerorten an Zuwanderungskonzepten gearbeitet. Doch gerade von Seiten des Kanzleramts wird gewarnt, dass die erfolgreiche Agendagestaltungsfunktion der Süssmuth-Kommission und der durch sie initiierte Policy-Wettbewerb nicht vor den mühsamen Verhandlungsprozessen eines Gesetzgebungsprozesses feien: Fast könnte man darüber vergessen, dass es nicht darum geht, als Michael Schumacher der Zuwanderungspolitik mit seinem Konzept zuerst über die Ziellinie zu kommen. Die eigentliche Arbeit beginnt erst danach, dann, wenn es darum geht, die notwendigen politischen und […] gesellschaftlichen Mehrheiten zu organisieren.397
3.2.5 Regierungsprozess: Zusammenfassung und Zwischenfazit Aus der Analyse des Regierungsprozesses im Vorfeld der Konstituierung der SüssmuthKommission sowie der mit ihrer Ankündigung assoziierten Entwicklungen lassen sich eine Reihe von Ergebnissen generieren, die als abstrahierte Hypothesen auch allgemein auf das Regieren mit Kommissionen bezogen werden können.
396 so die damalige Leiterin des LZZ in Solingen Lale Akgün (Interview: 99) gegenüber ihren Mitarbeitern als Aufforderung zu innovativem Denken in den Konzeptbesprechungen, die zu dieser Zeit in der Behörde stattfinden. 397 Frank-Walter Steinmeier, »Immer älter, immer weniger – Das Bevölkerungsproblem«, Die Welt vom 23. Mai 2001: 5.
3.2 Regierungsprozess: Reaktive Politik oder Coup de Ministre?
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Strategisches Regierungshandeln In einem hochgradig polarisierenden, emotionalisierenden und für Wahlkämpfe instrumentalisierbaren Politikfeld ist die Einsetzung einer Kommission zur Politikformulierung für die Exekutive in mehrfacher Hinsicht Ausdruck strategisch motivierter Intentionen und Erwartungshaltungen. Mit unterschiedlicher Gewichtung lassen sich folgende Aspekte nachweisen, die jenseits des manifestierten Arbeitsauftrags an die Kommission deren »versteckte Agenda« darstellen: 1.
2.
3.
4.
Handlungskompetenz Die Berufung ist ein unmittelbarer Ausdruck proaktiven Regierungshandelns der Gubernative. Das zuständige Ressort oder die Regierung als Gesamtorgan sehen sich nicht mehr dem Vorwurf ausgesetzt, »nichts« zu tun und demonstrieren symbolisch ihre Handlungskompetenz. Zeitgewinn Eine kontroverse Diskussion wird beruhigt und Raum zur Meinungsbildung in Parteien und Fraktionen geschaffen, mit dem Gremium gleichzeitig eine mit scheinbar höherer Legitimität versehene regierungsinterne Antipode zur Position der Parlamentsfraktionen installiert. Repräsentation/Partizipation Die betroffenen Interessengruppen können in einem prä-parlamentarischen Stadium öffentlichkeitswirksam und möglicherweise nachhaltiger als bei Ausschussanhörungen in den Prozess der Politikformulierung eingebunden werden. Konsensexpertise Schließlich kann ein schlüssiges Policy-Konzept erwartet werden, das den Sachverstand der beteiligten Interessen mit dem politischen Urteilsvermögen und der Autorität der beteiligten Persönlichkeiten in einem Konsens vereint und direkt in die Erstellung eines Referentenentwurfs münden kann – der dann u.U. im Gesetzgebungsprozess eine größere Chance auf Durchsetzung hat und die Macht politischer Veto-Spieler schwächt.
Die konkreten Gründe für die Einsetzung einer überparteilichen und unter breiter Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen zusammengesetzten Kommission liegen daneben in den Erfahrungen mit der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts. Obwohl sich durch die positive Rezeption der Greencard-Initiative ein window of opportunity öffnet, entscheidet die Regierungsspitze, gesetzgeberische Maßnahmen zeitlich nach hinten zu verschieben und dadurch bessere Steuerungsoptionen zu gewinnen.398
Konsensorientierung Die Einsetzung einer explizit »unabhängigen« Kommission soll das Gremium möglichst von den agonalen Aspekten der Tagespolitik frei halten und das Policy-issue gewissermaßen öffentlich »entparteipolitisieren«, ohne dass dabei eine gleichmäßige Einbeziehung von 398 vgl. dazu Kap. 3.2.2. Hier muss der Darstellung Zinterers widersprochen werden, nach der »eine Verzögerung des Zuwanderungsgesetzes nicht beabsichtigt war« (Zinterer 2004: 262).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Akteuren, die mit den politischen Parteien identifiziert werden können, aus dem Auge verloren wird. Bei der Entscheidung über die personelle Zusammensetzung sind folgende Faktoren handlungsleitend: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Menschlich-charakterliche Eignung für Diskussionsprozesse in Kollegialorganen; Abdeckung des relevanten Policy-Netzwerks; Bekanntheit und Anerkennung in der Öffentlichkeit; Progressive und pragmatische Grundposition in Policy-Fragen; Aussicht auf Ideentransporte in gesellschaftliche Organisationen; in geringerem Maße: Expertenstatus im Politikfeld.
Das Personaltableau der Süssmuth-Kommission wird implizit an diesen Kriterien ausgerichtet, die Zusammensetzung soll »eine gesamtgesellschaftlich akzeptable Konsensfindung ermöglichen« (Beauftragte 2002: 29). Eine Politisierung der von der Kommission angeforderten Expertise wird dadurch vermieden, dass keine parteipolitische Färbung dominiert, sondern Mitglieder fast aller Parteien unter scheinbaren Proporzgesichtspunkten vertreten sind. Die Opposition kann auf diese Weise keinen Antoß an »opportunistischer« oder »nicht sachlicher« Auswahl nehmen (vgl. Brown, Lentsch & Weingart 2006: 72). Innenminister Schily beruft gemäßigte, über die Parteigrenzen hinweg anerkannte Persönlichkeiten und ehemalige Funktionsträger sowie aktuelle Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen und Verbände. Gremien wie die Zuwanderungskommission werden so einerseits zu einem »Beschäftigungsprogramm für Politiker ohne aktuelle Funktion«.399 Bei den berufenen Verbandsvertretern geht es andererseits um möglichst hohe Funktionsträgerschaft (Position), um Bindungswirkung innerhalb der Organisationen und bei den betroffenen Teilen der Bevölkerung zu schaffen. Auffallend ist die Gremien- und Kommissionserfahrenheit bei einem Großteil der Mitglieder, bei ihnen handelt es sich um politikberaterische »PowerBroker«.400
Rezeptive Politik und Procedural Learning Die Einsetzung einer Kommission erfolgt weder losgelöst von entwicklungsgeschichtlichen Dimensionen des Politikfeldes und der daran beteiligten Akteure bzw. Institutionen noch unabhängig von regierungsinternem Feedback. Vielmehr wirken sich gerade bei Ideenfindung und institutioneller Ausgestaltung einer Kommission bereits im Raum stehende Forderungen und Konzepte, aktuelle Netzwerkkonstellationen und Präzedenzien anderer Ressorts entscheidend aus. Es kann von einer Art procedural learning gesprochen werden, das der Agendagestaltung vorgelagert ist. Im Bereich der Migrationspolitik sind solche prädisponierenden Konstellationen derart ausgeprägt, dass die Einsetzung einer Zuwanderungskommission durch die Bundesregierung eigentlich eher als folgerichtiger Schritt des evolutionären Fortschreitens migra399
Werner Kolhoff, »Am runden Tisch mit Gerhard Schröder«, Berliner Zeitung vom 3. Juli 2000: 4. So Rainer Münz (Interview: 53). Mehrfachberufungen in unterschiedliche Gremien sind nicht selten. Bereits in den 1960er Jahren hatte sich der Typ des »wissenschaftlichen Multiexperten« herausgebildet, bei dem es primär »auf Renommee, auf Vertrautheit mit der Gremienarbeit sowie auf die Fähigkeit ankam, zwischen Wissenschaft und Politik zu dolmetschen« (Rudloff 2004: 220f.; vgl. auch Siefken 2007: 290f., insb. Fn’n. 735, 737). 400
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tionspolitischer Politics denn als überraschende oder innovative Maßnahme interpretiert werden muss. U.a. lassen sich folgende Faktoren nachweisen: »Gremienlastigkeit« der (Vor-) Formulierung von Migrationspolitik in Deutschland: Kommissionen als föderale bzw. parteipolitische Beratungs- oder Clearingstellen mit dem Ziel nachhaltigen Konsenses bzw. Kompromisses; Herausbildung eines »migrationspolitischen Netzwerks« mit wachsenden Beteiligungsmöglichkeiten und -forderungen (vgl. ebd. sowie Kap. 3.2.2.2); Ausgestaltung eines »Zuwanderungsrates« oder einer »Einwanderungskommission« in ähnlicher Besetzung schon in Konzepten und Gesetzentwürfen früherer Jahre vorgesehen; Idee eines einwanderungspolitischen Runden Tisches (vgl. Kap. 3.2.2.1); Modellfunktion einer anderen Regierungskommission in vergleichbarer Situation; ähnliche Intentionen, Beteiligungsmodi, Arbeitsweise, institutionelle Struktur (vgl. Kap. 3.2.3.1).
Selektive Öffentlichkeit Der Einsetzungsprozess einer Kommission vollzieht sich in zwei Dimensionen. Es existiert eine formelle und stets öffentliche sowie eine informelle, z.T. arkane Dimension, innerhalb derer unterschiedliche Phasen auszumachen sind. Auf der einen Seite ist die breite politische Debatte um das Thema Zuwanderung und der damit verbundene Handlungsdruck auf die Bundesregierung auszumachen. Dem entspricht die öffentlichkeitswirksame Choreografie der Berufung des Gremiums. Diese Dimension ist publik und folgt den Regeln darstellender Politik: Die Lancierung der Idee wird selbstbestimmt durch den Minister im Interview mit dem führenden Nachrichtenmagazin vorgenommen. Die Einsetzung der Kommission begleiten Pressekonferenzen und offizielle Verlautbarungen. Auf der anderen Seite lassen sich die weitgehend außerhalb der öffentlichen Aufmerksamkeit liegenden, durch die Gubernative betriebenen Planungs- und Koordinationsprozesse innerhalb der Regierung analysieren, die sich – ausgehend vom engsten Arkanbereich – auf mehreren Ebenen vollziehen. Der Einsetzungsprozess unterliegt dabei einem multifaktoriellen Bedingungsgefüge, dass im gouvernementalen Policy-Netzwerk zwischen Ministerium (exekutive Spitze und Ministerialbürokratie), Parteien und Fraktionen (bzw. ihrer Vorsitzenden und bedingt auch Fachpolitiker) sowie externen (in der Kommission oder ihrem Sekretariat vertretenen) Akteuren stark von Momenten des informellen Entscheidens und Verhandelns geprägt ist. Die Hierarchien der Regierungsorganisation statten das federführende Ressort dabei mit relativ weit reichenden Steuerungskompetenzen aus.
Planungsebenen Die Einberufung einer Sachverständigenkommission als Regierungstätigkeit erfordert innerhalb des zuständigen Ministeriums eine Vielzahl planerischer Überlegungen und wohl abgestimmter organisatorischer Schritte. Diese Notwendigkeit wird jedoch tendenziell konterkariert durch die Imponderabilien des politischen Alltagsgeschäfts, die nicht selten schnelle und medienwirksame Reaktionen erfordern. Mehrere Ebenen der Vorarbeit lassen
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
sich differenzieren, die mutatis mutandis auch in den Einsetzungsprozessen anderer Regierungskommissionen erwartet werden können. Die strategische (oder Meta-) Planung: Sie wird vom Innenminister bzw. seinem engsten Mitarbeiterstab sowie vom Bundeskanzler (später auch der Leitungsebene des Ministeriums) geleistet und umfasst Zielformulierung, grobe Struktur des Gremiums sowie die Auswahl der Mitglieder. Das Management der politischen Führung ist die Grundlage für alle weiteren Entscheidungen. Hier bestätigt sich ein hochgradig rationales, an den antizipierten Entscheidungs-Outputs orientiertes Vorgehen (»GremienZweckmäßigkeit«; vgl. dazu Mayntz 1977: 13f.) Die Erarbeitung der Policy-Grundlagen: Die Kommission wird in einem hoch komplexen Feld tätig. Das Ausländerrecht ist in zahlreiche Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften zersplittert, die wiederum mit anderen Rechtsbereichen verwoben sind. Hier leisten die Juristen der Ministerialbürokratie unverzichtbare Vorarbeit, indem sie innerhalb einer Arbeitsgruppe entsprechende Übersichten erarbeiten. Zum Zweiten müssen demographische und arbeitsmarktpolitische Daten zusammengetragen werden, um die sozio-ökonomischen Grundlagen der Zuwanderung zu berücksichtigen. Die Erarbeitung der Policy-Grundlagen dient einerseits der VorabInformation der Führungsebene des Ministeriums und wird von dieser u.a. für strategische Planungsaufgaben benötigt. Gleichzeitig stellen sie wertvolle Handreichungen für die Mitglieder der Kommission dar, die sich nach ihrer Berufung z.T. gänzlich neu in die Materie einarbeiten müssen. Die infrastrukturelle Organisation: Die Installierung des Gremiums erfordert einen hohen organisatorischen Aufwand im Sinne eines Projektmanagement, für das ebenfalls intraministerielle Kapazitäten genutzt werden. Zentral sind dabei der Aufbau des Arbeitsstabes und des Sekretariats der Kommission sowie sämtliche logistische, verwaltungsorganisatorische und Budget-Fragen.
Beratungskonkurrenz und Parteienwettbewerb Die Einberufung einer öffentlichkeitswirksamen gubernativen Kommission führt zu Beratungskonkurrenz bzw. einem Beratungswettbewerb. Die politischen Parteien setzen »Gegenkommissionen« mit ganz unterschiedlichen Funktionen ein. Aus der Perspektive der Gewaltenteilung wirken sie als informationelle und programmatische Instrumente zur Vorab-Kontrolle der Bundesregierung. Da der Beratungsdiskurs auch im gesellschaftlichen Raum seine Fortsetzung findet, medial begleitet wird und zu Rückkopplungseffekten führt, finden sich ansatzweise pragmatistische Politikberatungsmodelle verwirklicht (vgl. 1.2.2). Hier besteht das kompetetive Element im bereits beim Wirken von Enquete-Kommissionen beobachteten Wettbewerb »um die beste Lösung« (Kretschmer 1983: 272). Die mit hoher Priorität eingerichteten Kommissionen und Arbeitsgruppen der Parteien erfüllen daneben in unterschiedlicher Ausprägung vier Hauptfunktionen. Zum einen entwickeln sie politische Programme in Form inhaltlich konsistenter Konzepte (Programmfunktion). Zum anderen dienen sie der Darstellung von Handlungswillen und -kompetenz sowie der öffentlichkeitswirksamen »Vermarktung« parteipolitischer Positionen (Wettbewerbsfunktion). Drittens stellen die erarbeiteten programmatischen Papiere den Anspruch ihrer
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Verfasser als relevante Akteure neben der Regierung und »ihrer« Kommission heraus und bilden gleichsam Referenzpunkte für zukünftige Verhandlungen (Profilierungsfunktion). Schließlich sind sie Instrumente der innerparteilichen Willensbildung und Konsensfindung (Integrationsfunktion). Diese Funktionen sind in Abbildung 6 dargestellt. Vor dem Hintergrund der auf politische Beratungsprozesse angewandten Sprechakttheorie sind insbesondere die Wettbewerbs- und die Profilierungsfunktionen mit dem taktischen Versuch parteipolitischer Akteure gleichzusetzen, den autoritativ-direktiven Geltungsanspruch, der durch die Expertenempfehlungen einer Regierungskommission entstehen kann, zu relativieren und die Symmetrie zwischen den am Politikberatungsprozess Beteiligten wiederherzustellen (vgl. Nullmeier 2005: 4f.). Im Hinblick auf ihre strategische Logik schließen politische Gegengremien damit an die Funktionen gesellschaftlicher »Gegenexperten« bei den neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre an, um damit ggf. »Gegenöffentlichkeiten« zu erzeugen (vgl. Rucht 1988).
Abbildung 6:
Funktionen der Gegenkommissionen der politischen Parteien Programmfunktion
Wettbewerbsfunktion
Profilierungsfunktion
Integrationsfunktion
F.D.P.
0
XXX
X
0
CDU
XXX
XX
XX
X
CSU
0
XX
XXX
0
PDS
XXX
X
XX
XX
Bündnis 90/ Die Grünen
0
X
XXX
0
SPD
X
X
XX
XXX
XXX = stark ausgeprägt X = vorhanden
XX = ausgeprägt 0 = nicht erkennbar
Die FDP benötigt keinen innerparteilichen Willensbildungsprozess. Partei und Fraktion verfolgen seit Mitte der 1990er Jahre einen zuwanderungsfreundlichen Kurs im Sinne ökonomisch motivierter Immigration nach einem Quotensystem. Das zugehörige Konzept hat bereits in Gesetzentwürfe Eingang gefunden; eine Programmfunktion ist also ebenfalls nicht zu erkennen. Daher steht für die FDP als Oppositionspartei bei der Erarbeitung eines Papiers die Wettbewerbsfunktion im Vordergrund. Für die Müller-Kommission der CDU lassen sich hingegen alle vier Funktionen nachweisen. Im Vordergrund steht die Programmfunktion, denn die Zuwanderung ist bis
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dahin weitgehend negiert worden. Als größte Oppositionsfraktion muss sie sich sowohl beim Wettbewerb um Policy-Konzepte als auch im Wechselspiel mit der Süssmuth-Kommission und anderen Akteuren im parlamentarisch-politischen Bereich profilieren; eine Ausgangsposition für absehbare Verhandlungen um einen Kompromiss im Bundesrat wird benötigt. Auch eine interne Integrationsfunktion ist intendiert, misslingt jedoch partiell bereits im Ansatz: Die CSU-Landesgruppe der Fraktion lässt sich nicht einbinden. Vielmehr dient eine eigene CSU-Kommission unter Günther Beckstein der internen Profilierung gegenüber der Schwesterpartei. Die Wettbewerbsfunktion wird durch öffentliche Themensetzung deutlich (»Leitkultur«, Abschaffung des Grundrechts auf Asyl). Für die PDS ist Zuwanderungssteuerung terra nova. Ihre Arbeitsgruppe hat eine eindeutige Programmfunktion. Bisher war man in diesem Politikfeld noch gar nicht in einen Wettbewerb um Konzepte getreten, sondern hatte für Radikalopposition gestanden. Somit erfüllt die Arbeitsgruppe um Petra Pau ansatzweise auch Wettbewerbs- und Profilierungsfunktionen. Eine innerparteiliche Konsensfunktion ist nicht zu erkennen, da kaum differierende Positionen eingebunden werden; die fraktions- und parteiinterne Debatte erfolgt a posteriori und verläuft äußerst konträr. Bündnis 90/Die Grünen verfügen über sehr konkrete einwanderungspolitische Vorstellungen. Programmformulierung und parteiinterne Willensbildung sind somit weitgehend obsolet. Dagegen ist es unentbehrlich, als Regierungspartei im Innenverhältnis zum großen Koalitionspartner die eigenen Standpunkte zu verdeutlichen, insbesondere weil sie z.T gravierend von denen des Innenministers abweichen. Dazu wird auch der öffentliche Wettbewerb durch die frühzeitige Präsentation eines Drei-Säulen-Modells genutzt. Bei der SPD-Kommission sticht die parteiinterne Integrationsfunktion hervor. Insbesondere die Bundestagsfraktion muss auf einen Nenner gebracht werden um durch die Ergebnisse der Süssmuth-Kommission nicht gespalten zu werden. Gleichzeitig ist damit auch eine Programmfunktion verbunden, da die Partei erst über Ansätze schlüssiger Konzepte verfügt. Schließlich geht es um die interne Profilierung als Fraktion gegenüber der Bundesregierung und der von ihr installierten Kommission – und nicht zuletzt auch deren Kontrolle. Die Profilierungsfunktion wird jedoch durch relativ strikt verfolgte Nicht-Öffentlichkeit beschränkt. Es wird deutlich, dass den Gremien der Parteien bezüglich ihrer internen Funktionen ganz unterschiedliche Bedeutung zukommt. Parteien wie FDP und Bündnis 90/Die Grünen, die bereits über dezidierte migrationspolitische Programmatiken verfügen, halten den Aufwand gering und (re-)formulieren in kleinen Arbeitsgruppen ihre Positionen lediglich unter Wettbewerbs- und Profilierungsgesichtspunkten. CDU und SPD hingegen gründen aufwändige Programmkommissionen, die über einen ähnlich langen Zeitraum tagen wie die SüssmuthKommission. Gemeinsam ist allen die Kondensierung ihrer Policy-Standpunkte in Eckwertepapieren. Die darin enthaltenen Aussagen lassen sich durch ihre öffentliche Wirkung letztlich als Meilensteine des Prozesses der Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland innerhalb des parteipolitischen Establishments ebenso interpretieren wie als Inkarnationen des praktischen Anspruchs von Artikel 21 Grundgesetz, nach dem die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. Für die prä-legislative Phase des Politik-
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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prozesses ist somit auch die Frage nach einer Selbstentmachtung des Parlaments (vgl. Kap. 1.2.5) klar zu verneinen.
Zwischenfazit Es scheint weder »den« Grund, noch einen »besten Weg« zur Einsetzung einer gubernativen Kommission zu geben; ganze Bündel von Kausalitäten und Einflussvariablen determinieren in je unterschiedlichen Politikfeldern die Genese des Kommissionsregierens. Im Falle der Zuwanderungskommission lässt sich dies deutlich nachweisen. Was öffentlich als innovativer Schachzug oder »Coup de Ministre« wahrgenommen wird, reduziert sich bei genauerer Betrachtung in weiten Teilen auf einen Akt reaktiver Politik.401 Bundesinnenminister Schily verhält sich äußerst rezeptiv zu verschiedenen Entwicklungen und versteht es, diese öffentlichkeitswirksam mit seinen eigenen Interessen sowie denen seines Ministeriums und der Bundesregierung im Gesamten zu verbinden. Auf der Darstellungsebene bietet die Installierung der Süssmuth-Kommission ein Paradebeispiel des von der Regierungsspitze propagierten und durch sie gesteuerten »neuen, ergebnisorientierten Dialogkultur« (Steinmeier 2001). 3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz Im Zentrum dieses Kapitels stehen die tatsächliche Arbeit der Zuwanderungskommission und assoziierte kommunikative und organisatorische Vorgänge während ihres gut neunmonatigen Mandats – also die Strukturmerkmale ihres Wirkens. Da es sich primär um die Analyse nicht-öffentlicher Prozesse handelt, erfährt die subjektive Sichtweise der befragten Akteure besondere Beachtung; die Rekonstruktion des Kommissionsprozesses erfolgt primär auf der Grundlage der dort geschilderten Verfahrensabläufe und Interaktionsmuster. Dabei wird auf einen Vergleich der verschiedenen Aussagen und deren Verifikation durch weitere Quellen geachtet. Denn die Komplexität des sozialen Geschehens innerhalb eines solchen Kollegialgremiums in seiner Gesamtheit gilt als für einzelne Prozessbeteiligte einer Kommission kaum darstellbar (vgl. Pott 2003: 102).
3.3.1 Binnenfunktionalität: »So muss sich ein Diskurs abspielen« 3.3.1.1 Konstituierung und Verfahrensgrundlagen: »Closed shop arbeiten« Am 12. September 2000 präsentiert Innenminister Otto Schily im Rahmen einer Pressekonferenz die 21-köpfige Unabhängige Kommission »Zuwanderung«, die daraufhin zu ihrer ersten, konstituierenden Sitzung zusammenkommt. Bereits vor diesem protokollarischen Auftakt beginnt der Kommissionsprozess auf der Ebene der Geschäftsstelle.
401 Reaktive Politik soll hier verstanden werden im Sinne passiven Regierens – ein auf (schier unvermeidliche) Entwicklungen reagierendes Handeln, das ohne echten Führungs- oder Gestaltungsimpuls erfolgt und damit gewissermaßen die Antipode zum Konzept der aktiven Politik darstellt (vgl. dazu Schmidt 2003: 155).
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Sekretariat Die Rekrutierung der Arbeitsebene der Kommission hatte fast die ganze parlamentarische Sommerpause in Anspruch genommen, weshalb dem Arbeitsstab »keine 14 Tage« an Vorbereitungszeit bleiben, als er im Bundeshaus in Berlin seine Büros bezieht (Interview Holthey: 19). Seine formale Einrichtung erfolgt am 1. September und wird durch Bekanntmachung im Gemeinsamen Ministerialblatt angekündigt, wobei auch das Aufgabenprofil umrissen wird.402 In der Vorlaufphase werden zunächst Terminfragen geklärt, da die Sitzungsdaten weit im Voraus bekannt sein müssen, um allen Mitgliedern die Teilnahme zu ermöglichen (der Zeitplan der Kommission findet sich in Anhang 9). Daneben kommt es zu ersten Vorarbeiten wie Aufbereitung der Materialien. Daran sind insbesondere die Kommissionsvorsitzende Süssmuth, die Mitarbeiter des BMI und der Bevölkerungswissenschaftler Münz beteiligt. Alle Kommissionsmitglieder erhalten bereits bei der Auftaktsitzung umfangreiches statistisches und rechtliches Grundlagenmaterial.403 Für diese interne Koordination ebenso wie für die Verbindungen ins Ministerium und zu den anderen Ressorts sorgt der Geschäftsstellenleiter Stefan von Holthey, während sein Vertreter Hartwig Bierhoff – gleichzeitig Büroleiter der Vorsitzenden – für die externen Kontakte und die Bearbeitung der an die Kommission gerichteten Eingaben zuständig ist; sämtliche Post geht zunächst über seinen Schreibtisch (vgl. Interviews Bierhoff: 43, Holthey: 33ff., 102ff.).
Geschäftsordnung Auf der konstituierenden Sitzung erfolgt die Einigung auf eine relativ kurz gehaltene Geschäftsordnung problemlos und zügig (vgl. Anhang 6; Interviews Issen: 23; Vogel: 15; Voß: 17). Die wichtigste darin niedergelegte Bestimmung ist die Verpflichtung aller Beteiligten zur Vertraulichkeit (§§ 2 Abs. 2 und 5). Auch die Mitarbeiter des Sekretariats sind somit zu einer Arbeitsweise verpflichtet, die keine Interna publik macht: »Wenn es die Selbstverpflichtung der Kommission war, Vertraulichkeit zu wahren, dann war’s erst recht unsere Aufgabe, uns da völlig zurück zu nehmen und absolut closed shop zu arbeiten.« (Interview Holthey: 104).404 Als zweite wichtigste Bestimmung wird ein Vertretungsverbot in der Geschäftsordnung verankert (§ 4, Abs. 2). Die Tatsache, dass alle Kommissionsmitglieder jeweils persönlich anwesend sein und sich damit auch stärker mit der Materie beschäftigen müssen, trägt maßgeblich zur Qualität der Beratungen bei. Gleichzeitig wird auch das unmittelbare Entscheidungshandeln der Kommission befördert: »Dadurch konnte man […] nicht sagen: 402 »Einrichtung der Geschäftsstelle ›Unabhängige Kommission Zuwanderung (UK ZU)‹ – Bekanntmachung des BMI vom 1. September 2000 (GZ: Z 2 – 006 100 BMI/102), GMBl Nr. 29 vom 12. September 2000: 550. Die Aufgaben der Geschäftsstelle sind folgendermaßen festgehalten: »a. Unterstützung der Kommission, Vorbereitung und Protokollierung von deren Sitzungen. / b. Zusammenführung, Koordinierung und Dokumentation der Arbeiten der Mitglieder. / c. Publizierung der Ergebnisse der Kommission. / d. Wahrnehmung sonstiger anfallender Verwaltungsaufgaben sowie der laufenden Geschäfte der Kommission als ständiger Ansprechpartner für die partizipierenden Stellen, Vereinigungen, Verbände und Einrichtungen.« 403 vgl. Interviews Lehnguth: 8; Münz: 11ff.; SZ vom 13. September 2000: 2. 404 »Man war wahnsinnig closed shop« (Interview Taneja: 24; allg. zur »Beratung in Klausur« vgl. Dietzel 1978: 231; zum Durchbrechen des Vertraulichkeitsgrundsatzes vgl. Kap. 3.3.3.1).
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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›Ich kann da jetzt weder zustimmen oder ablehnen, ich muss erst meinen Chef fragen‹« (Interview Münz: 77). In der späteren Praxis der Kommissionsarbeit wird die Regel in einem Fall maßgeblich durchbrochen: Paul Spiegel nimmt als Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland praktisch an keiner der inhaltlichen Sitzungen teil. Vereinzelt wird er durch den Generalsekretär des Zentralrates Stephan Kramer vertreten. Auch Kramer ist jedoch in der Regel nur dann anwesend, wenn Themen mit unmittelbarer Relevanz für den Zentralrat auf der Agenda stehen, um dessen Interessen zu vertreten.405 Der dritte zentrale Regelungskomplex der Geschäftsordnung betrifft die gremieninterne Entscheidungsfindung. In Verfahrensfragen soll die Kommission mit der einfachen Mehrheit der jeweils anwesenden Kommissionsmitglieder entscheiden, in Fragen, die den Kommissionsbericht bzw. Teile desselben betreffen hingegen mit absoluter Mehrheit. Abweichende Voten sollen auf Antrag in den Bericht aufgenommen werden (vgl. § 4, Abs. 3). Weitere wichtige Verfahrensfragen werden in den ersten Sitzungen informell vereinbart und entfalten fortan entsprechend festen Regeln Geltung. Hervorzuheben sind insbesondere die Frage des Umgangs mit den in Auftrag gegebenen wissenschaftlichen Gutachten (sie sollen mit Vorlage des Abschlussberichtes publiziert werden), der Kontakt zur Öffentlichkeit (der für die Gesamtkommission nur über die Vorsitzende erfolgen soll) sowie die Schaffung von drei thematischen Arbeitsgruppen und eine entsprechend fragmentierte Arbeitsweise.406
Agenda und Vorgehensweise Ein zweitägiges Wochenendseminar bildet den eigentlichen Arbeitsauftakt der Kommission (vgl. den Zeitplan in Anhang 9). Hier werden die zu behandelnden Themen und das schrittweise Vorgehen geplant: Nach einer Reihe von Plenumssitzungen zu prioritärübergreifenden Themen sollen sich drei Arbeitsgruppen ausführlich mit migrationspolitischen Einzelkomplexen beschäftigen. Die AG I widmet sich Fragen des »klassischen« Ausländer- und Flüchtlingsrechts, die AG II thematisiert Zuwanderung aus arbeitsmarktund demographiepolitischen Gründen und die AG III analysiert die vielfältigen Probleme der Integration (vgl. Interviews Holthey: 27, Lehnguth: 15). Mit den Arbeitsgruppen folgt die Kommission den Ideen des BMI, dessen Abteilungsleiter die Dreiteilung innerhalb der Geschäftsstelle bereits angeregt und vorbereitet hatte (vgl. Interview Lehnguth: 15). Die Leitung der drei Arbeitsgruppen (»Sprecherfunktion«) wird im Plenum der Kommission einmütig verabredet und geht auf die Vorschläge der Kommissionsvorsitzenden zurück (vgl. Interview Schmalz-Jacobsen: 62). Die Sprecher der Arbeitskreise erfüllen neben ihrer gruppeninternen Moderations- und Integrationsaufgabe auch eine Relaisfunktion zur Kommissionsvorsitzenden und der Leitung des Arbeitsstabes, denen sie regelmäßig Bericht erstatten müssen (vgl. Interview Bierhoff: 103). Die Zuordnung der Kommissions405
Bei dieser Ausnahme handelt es sich offenbar um ein »commissioners’ agreement«, das von der Vorsitzenden befürwortet, von der Kommission stillschweigend toleriert, von einigen Kommissionsmitgliedern jedoch nicht vorbehaltlos akzeptiert wird. »Da hat Frau Süssmuth eine Brücke gebaut, die keinem sonst gebaut worden wäre. […] darüber haben wir dann weiter nicht geredet, aber das war schade – sagen wir mal so!« (Interview SchmalzJacobsen: 146; vgl. auch Interview Hailbronner: 74ff.). 406 Diese drei Komplexe sind offenbar unter den Kommissionsmitgliedern allenthalben derart unumstößlich internalisiert, dass sie in den Experteninterviews von einigen als veritable Bestandteile der GO erinnert werden (vgl. Interviews Hailbronner: 22; Holthey: 50; Schnoor: 178; Süssmuth: 119)
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
mitglieder zu den einzelnen Arbeitsgruppen ergibt sich in den meisten Fällen aus früheren Arbeitsschwerpunkten, Spezialisierungen oder Interessengebieten (vgl. Interview Vogel: 22). Die AG Integration wird erst nach entsprechendem Werben durch die Vorsitzende gefüllt; »es schwirrten eigentlich zunächst alle in die anderen Arbeitsgruppen aus« (Interview Schnoor: 112). Während der Großteil den Arbeitsauftrag als einen umfassende, das gesamte Politikfeld reformierende Aufgabe begreift, werden einzelne vom Ausmaß der Arbeit überrascht407 bzw. halten Vorgehen und Zielrichtung der Arbeit für zu wenig konkret, um in der zur Verfügung stehenden Zeit ausreichend zu beraten und durchdachte, vernünftige Ergebnisse hervorzubringen (vgl. Interview Hailbronner: 30). Ausgangsbedingungen und Policy-Kompetenz der Kommissionsmitglieder sind sehr heterogen (vgl. Kap. 3.2.3.3). Daher lädt die Vorsitzende zu der Klausursitzung auch externe Referenten ein, die den Kommissionaten mittels Grundlagenreferaten die essenziellen Fragen und Handlungserfordernisse nahe bringen. Aus Sicht des BMI beschreibt der Abteilungsleiter A Gerold Lehnguth die ministerielle Ausgangslage, der erst kurz zuvor von Schily berufene neue Präsident des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) Albert Schmid schildert den Handlungsbedarf aus seiner Sicht, und ein Vertreter des UNHCR erklärt humanitäre Probleme im Flüchtlingsrecht (vgl. Interview Lehnguth: 8). Bis zum Ende des Jahres 2000 finden – in der Regel mittwochs – Themendiskussionen sowie Anhörungen von Experten, die zu den Sitzungen als Berater hinzugezogen werden, ausschließlich im Plenum statt, wobei die Kommission sich lange mit bevölkerungswissenschaftlichen Fragen beschäftigt (vgl. Interview Bierhoff: 132). Dabei kristallisieren sich auch die konkreten Fragestellungen heraus, die im Laufe der Zeit auf thematischen Tableaus den Arbeitsgruppen zugeordnet werden (vgl. Interview Schmalz-Jacobsen: 80).
3.3.1.2 Akteurskonstellationen und Rollenwahrnehmung: »Wir sitzen hier nicht als Parteivertreter« Rollen und Funktionen Gemäß der Berufung des Innenministers begegnen sich bei den Plenumssitzungen jeweils 21 »Persönlichkeiten«, die in ihrer Arbeit und in ihrem Entscheidungsverhalten keinem unmittelbaren Auftrag oder imperativen Mandat von Organisationen, Parteien oder sonstiger Interessenvertreter unterworfen sind. Dennoch ergibt sich bisweilen eine »neokorporatistische« Beratungsrealität (vgl. auch Kap. 3.2.3.3). Die meisten Mitglieder der Kommission sehen ihre Rolle als persönlich berufene Teilnehmer eines sachbezogen arbeitenden, 407
Horst Eylmann, der beruflich in seiner Anwaltskanzlei tätig ist, thematisiert den unerwartet hohen zeitlichen Aufwand bei der Geschäftsstelle und reklamiert Verdienstausfälle (vgl. Interview Eylmann: 20). Neben Reisekosten und Spesen werden jedoch keine Honorare oder zeitbezogene Aufwandsentschädigungen gezahlt; die Kommissionsmitglieder erhalten auf Antrag eine Entschädigung i.H.v. 50 DM, die auf den vom Bundesministerium der Finanzen erstellten und 1997 geänderten Richtlinien für die Abfindung der Mitglieder von Beiräten, Ausschüssen, Kommissionen und ähnlichen Einrichtungen im Bereich des Bundes vom 9. November 1981 basiert (vgl. Antwort des PStS. Fritz Rudolf Körper vom 4. Dezember 2000 auf die Frage des MdB Wolfgang Schulhoff, BT-Drs. 14/4993 vom 15. Dezember 2000: 4). In der aktuellen Fassung der Richtlinie heißt es: »Als Sitzungsentschädigung können je Sitzungstag Mitgliedern von Beiräten und dergleichen bei obersten Bundesbehörden bis zu 50 DM […] gewährt werden.« (Rundschreiben des BMF vom 19. März 1997, GZ: II A 4 – BA 3401 – 5/97, GMBl Nr. 11 vom 22. April 1997: 172)
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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temporären Gremiums und nicht als mandatierte Vertreter einer Institution, Partei oder Interessenorganisation. Diese Selbstwahrnehmung deckt sich weitgehend mit den ihrer Berufung zu Grunde liegenden Erwartungen durch die Ministeriumsspitze (vgl. Kap. 3.2.3). So stellen die beiden Wissenschaftler im Interview die Einbringung und Vermittlung ihres jeweiligen Fachwissens – ihren Expertenstatus – in den Vordergrund (vgl. Interviews Hailbronner: 18; Münz: 11ff., 94). Münz wirkt im Vorfeld bereits maßgeblich an der Zusammenstellung von statistischen Informationsmaterialien für die Kommissionsmitglieder mit (vgl. Münz 2001: 10). Auch bei Cornelia Schmalz-Jacobsen wird ein Rollenverständnis als Expertin hervorgehoben, das auf ihre profunde theoretische und praktische Auseinandersetzung mit Migrationsfragen als langjährige Ausländerbeauftragte gründet (vgl. Interviews Schmalz-Jacobsen: 78; Münz: 84). Bei anderen Teilnehmern wird dagegen ein von wissenschaftlicher Expertise losgelöstes Expertentum erkennbar, dass sich auf einen bestimmten praktischen Erfahrungsschatz gründet, der als Expertise eingebracht werden kann. So beschreibt seine Rolle Vural Öger: Ich war der einzige mit so genanntem Migrationshintergrund. Ich habe aus meiner Erfahrung bzw. der Erfahrung mit den Menschen, die zu uns gekommen sind, berichtet [...], die anderen Mitglieder der Zuwanderungskommission informieren wollen, wie so ein Mensch, der aus der Türkei herkommt, so genau eigentlich hier fühlt [...]. Ich habe versucht über die Seelenlage dieser Menschen zu reden; diese Ablehnung – warum die zu Moscheen gehen, warum diese Korankurse? (Interview Öger: 12ff.)
Eine ähnliche Einbringung »empirischer Expertise« liegt bei Herbert Schnoor vor, der als langjähriger Innenminister des größten Flächenlandes über vielfältiges Praxiswissen beim Vollzug des Ausländer- und Asylrechts verfügt (vgl. Interview Schnoor: 42). In der Inhaltsanalyse der Experteninterviews wird ferner deutlich, dass kommissionsintern besonders die Rolle derjenigen Mitglieder als entscheidend angesehen wird, die »für« eine Organisation oder Gruppe vertreten waren. In partiellen Bereichen des kommissionalen Themenspektrums fungieren sie als echte stakeholder; ihre Position ist hier von herausgehobener Bedeutung. Das, was Herr Putzhammer oder auch Herr Issen auf der [...] Arbeitnehmerseite, auf der anderen Seite Herr Kannengießer und Herr Henkel gesagt haben, hatte schon [...] ein größeres Gewicht. Denn man konnte davon ausgehen: Die Auffassungen, die Herr Putzhammer vertreten hat […] waren schon [...] repräsentativ für den DGB [...]. Und dasselbe waren auf der anderen Seite die Aussagen von Herrn Kannengießer […] (Interview Schnoor: 36ff.).
Interessenkoalitionen und Akteursnetzwerke Mit Blick auf die hervorgehobenen Protagonisten der Gewerkschaften (Putzhammer und Issen), der Arbeitgeber (Henkel und Kannengießer) sowie der Kirchen (Voß und Kohlwage) kann von einer tatsächlichen Repräsentanzfunktion innerhalb der Kommission ausgegangen werden. Dafür sprechen neben der Wahrnehmung einiger der Interviewten insbesondere zwei Begründungskomplexe: 1.
Während der Kommissionsarbeit finden intensive Rückkopplungen dieser Akteure in ihre Verbände und Organisationen statt. Heinz Putzhammer versucht innerhalb der Gewerkschaften einen Erfahrungsaustausch zu organisieren, um »ganz konkret auf die Fragestellung in der Kommission bezogen gewerkschaftliche Unterstützung zu haben«
242
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess (Interview Putzhammer: 58). Ein eigens dafür gegründeter und vom Migrationsexperten des DGB-Bundesvorstands Volker Roßocha geleiteter Arbeitskreis umfasst Mitglieder aller Einzelgewerkschaften sowie Vertreter aus der Bundesvorstandsverwaltung und tagt regelmäßig begleitend zur Arbeit der Kommission; seine Resultate werden direkt in den Kommissionsprozess eingespeist: Putzhammer argumentiert unmittelbar auf der Grundlage dieser Positionspapiere (vgl. ebd.). Die bei den Arbeitgeberorganisationen bereits im Rahmen der Greencard-Diskussion begonnenen Konzertierungsprozesse (vgl. Kap. 3.2.2.2) werden im Rahmen der Kommissionsarbeit fortgesetzt, vollziehen sich jedoch für den BDA-Vertreter Christoph Kannengießer nicht immer reibungsfrei (vgl. Interview Kannengießer: 28; vgl. auch Zinterer 2004: 283f.). Die Rückkopplung der Kirchen in die Gliederungen ihrer Organisationen wird am Beispiel von Josef Voß deutlich: Eine Arbeitsgruppe der Caritas arbeitet dem Weihbischof unmittelbar zu, in entwicklungspolitisch relevanten Migrationsfragen stimmt er sich eng mit den katholischen Hilfswerken ab (Interview Voß: 15, 44).
2.
Die Kommissionsmitglieder formieren interne Interessenkoalitionen und kooperieren darin eng. Als die Themendiskussionen und Anhörungen in Arbeitsgruppen fortgeführt werden, ordnen sich die Gewerkschafter in Absprache miteinander den beiden wichtigsten AGs, denen zu Integration und zum Arbeitsmarkt, zu (vgl. Interview Putzhammer: 48). Ein ähnliches Arbeitsbündnis formieren die klerikalen Vertreter Voß und Kohlwage, die ihre Wünsche und Positionen gemeinsam auf dem Hintergrund des gemeinsamen Wortes der Kirchen einbringen (vgl. Interview Voß: 52). Auch Jürgen Schmude als Präses der evangelischen Synode kann zu dieser Koalition gerechnet werden. Der in der Redaktionsphase als assoziiertes Mitglied hinzu gezogene Vorsitzende Richter am hessischen Verwaltungsgerichtshof Günter Renner (vgl. auch Kap. 3.3.1.6, Fn. 419) steht der Kirchenkoalition ebenfalls nahe (vgl. ebd.: 54).
Weitere bi- oder trilaterale Allianzen innerhalb der Zuwanderungskommission treten eher als stille Bündnisse denn als deutliche und auf Absprachen basierenden Interessenkoalitionen in Erscheinung. Ein Beispiel für eine solche Allianz ist das in mehreren Fragen gemeinsame Auftreten von Horst Eylmann und Kay Hailbronner, die eine zuwanderungsskeptische und eher restriktive Haltung eint (vgl. dazu auch Zinterer 2004: 281, 288). Mit Hailbronner war ich meistens einer Meinung. […] Und es war sogar so, dass er dann […] in ein oder zwei Punkten [...] etwas mutiger und entschiedener wurde, nachdem er gemerkt hatte, dass er mit diesen Auffassungen nicht allein war und dass ich insbesondere ihn unterstützte. (Interview Eylmann: 106ff.)
Mit Blick auf die Konsensfähigkeit birgt dieses Bündnis große Herausforderungen für die Kommission, da es sich in vielen Fragen in fast diametralem Gegensatz zu der Interessenkoalition von Vertretern einer humanitären Asyl- und Flüchtlingspolitik steht (vgl. Interview Schnoor: 98).
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Arbeitsklima und Gruppendynamik Die 20 regelmäßig teilnehmenden Mitglieder der Kommission begegnen sich sowohl im Plenum als auch in den Arbeitsgruppen mit Offenheit und Interesse. Die Atmosphäre wird größtenteils als äußerst angenehm und produktiv beschrieben (vgl. Interviews Eylmann: 205ff.; Münz: 17ff.; Schmalz-Jacobsen: 142ff.; Süssmuth: 34ff.; Vogel: 20; Voß: 29). Dazu gehören der respektvolle Umgang mit divergierenden Positionen, das inhaltliche Engagement über einen vermeintlich durch die »Herkunftsorganisation« vorgegebenen Interessenhorizont hinaus, das Aufeinanderzugehen in strittigen Fragen sowie die Wahrung von Diskretion vor externen Akteuren und der Öffentlichkeit. Verbunden mit großem committment durch Präsenz und Arbeitseinsatz führt dies zur Herausbildung eines offenbar einzigartigen ésprit de corps unter den Kommissionsmitgliedern. »[Es] hat sich sehr bald eine Gruppenbildung mit hoher Motivation ergeben [...], habe ich nicht wieder erlebt danach« (Interview Süssmuth: 34ff.); »wie in einem Trainingslager oder einer Schulklasse oder Armee« (Interview Münz: 17ff.). In der Kommission hat sich die Diskussion in einem ganz anderen Klima, in einer ganz anderen Bereitschaft, auch auf den anderen mal zu hören – zuzuhören – abgespielt [...]. Dort miteinander zu diskutieren, zu streiten, das war geradezu ein intellektuelles Vergnügen. So muss eigentlich ein Diskurs, ein Disput sich abspielen, und nicht, dass man – wie in der Politik – sich gar nicht mehr zuhört und sich nur die groben Argumente um die Ohren haut. (Interview Eylmann: 197ff.; vgl. auch Interview Schmalz-Jacobsen: 134ff.)
Außerhalb dieser beinahe enthusiastisch beschriebenen positiven Grundstimmung bleibt das Kommissionsmitglied Hailbronner. Inhaltlich der »migrationsskeptischste Teil« des Gremiums (Interview Münz: 94) befindet er sich offenbar auch mit Blick auf den gruppendynamischen Prozess in einer Außenseiterrolle: »Das hat man sehr schnell mitbekommen. Aber das ist weiter nicht schlimm« (Interview Schmalz-Jacobsen: 142). In zahlreichen Punkten weicht Hailbronners Einschätzung des Arbeitsprozesses von den allgemein positiven Wertungen anderer Kommissionsmitglieder ab. So seien mit Blick auf die Erarbeitung vernünftiger Handlungsempfehlungen die aus dem Arbeitsauftrag abgeleitete Agenda der Kommission zu umfassend, die Aufteilung in Arbeitsgruppen ungünstig und die Verhandlungsführung suboptimal gewesen (vgl. Interview Hailbronner: 22ff.). Da ausgewiesene Minderheitenmeinungen im Kommissionsbericht vermieden werden sollen, die große Mehrheit der Kommissionsmitglieder sich aber in fast allen Punkten einig ist, sieht sich Hailbronner mit seinen dissentierenden Auffassungen genötigt, zu Kompromissen zu kommen (vgl. ebd.), was aus gremiendynamisch-analytischer Sichtweise als eine Art Gruppenzwang interpretiert werden kann.
3.3.1.3 Entscheidungsfindung und Konsens: »Mit dem Kopf des anderen denken« Auf der Grundlage des ähnlichen Rollenverständnisses der meisten Teilnehmer und der allgemein guten Arbeitsatmosphäre entwickelt sich ein offen-diskursiver und weitgehend kognitiv-argumentativer Arbeitsstil. »Die Sache stand im Mittelpunkt.« (Interview Voß: 36) Es gibt kaum Tendenzen zu intransigentem Handeln: Die Kommissionsmitglieder sind bestrebt, sich auch in Fragen, in denen man zunächst unterschiedliche Ausgangspositionen einnimmt, durch intensive, bisweilen langwierige und erbittert geführte Diskussionen aufeinander zu zu bewegen und Lösungen zu finden, die sachlich überzeugend und konsensual
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
beschlussfähig sind (vgl. Interviews Bierhoff: 43; Eylmann: 80; Issen: 23, 39; Kannengießer: 19; Stumm: 60ff.). Es werden keine Forderungen erhoben, bei denen man weiß, »dass jemand anderes nicht mit kann.« (Interview Münz: 25)
Argumentieren Der vorherrschende Kommunikationsmodus Argumentieren ist nach Aussagen der befragten Kommissionsmitglieder daneben auch maßgeblich auf die Tatsache zurückzuführen, dass innerhalb der beratenen Themenbereiche grundsätzlich wenig »Verhandlungspotenzial« vorhanden ist und ein innovativer Konsens dadurch erleichtert wird. »Es ist nicht viel bargaining gewesen, das ist eine zu starke Querschnittsmaterie« (Interview Münz: 81; vgl. auch Heisele 2002: 69ff.). Der einzige fundamentale Interessenkonflikt bei der Arbeitsmarktzuwanderung scheint zwischen Vertretern der Gewerkschaften und denen der Arbeitgeber zu bestehen. Hier kommt es jedoch in einem relativ frühen Stadium der Kommissionsarbeit zu einem Konsens (vgl. auch Zinterer 2004: 284), an dessen Schaffung innerhalb der Arbeitsgruppe maßgeblich Christoph Kannengießer und Roland Issen beteiligt sind. Als »Verhandlungstandem« erweist sich die Konstellation dieser beiden Interessenvertreter in der Kommission als äußerst günstig. Da beide neben ihrer primären Tätigkeit auch dem Vorstand der damaligen Bundesanstalt für Arbeit angehören, sind sie sich in punkto Persönlichkeit und Verhandlungsstil bereits bekannt und erfüllen eine Grundvoraussetzung zur Erzielung einer gemeinsamen Linie in der Frage der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt: Sie wissen klar um die Interessen des Anderen und behalten die übergeordneten, insbesondere arbeitsmarktpolitischen und volkswirtschaftlichen Zusammenhänge ausgewogen im Blick. Am Beispiel von Kannengießer und Issen zeigt sich auch, dass trotz konträrer Ursprungsinteressen ein gutes interpersonales Verhältnis innerhalb einer Verhandlungssituation die Kompromissfähigkeit maßgeblich beeinflussen kann: Ob das funktioniert […] hat sicherlich auch etwas mit Personen zu tun und es war mit Herrn Issen damals eine sehr sachorientierte und konstruktive Zusammenarbeit. […] Dabei haben es beide Seiten auch mit Hilfe der »Neutralen« gut hingekriegt, immer wieder auch mit dem Kopf des anderen zu denken. Ich glaube, dass das sowohl für Issen wie für mich gilt, dass wir so ein bisschen ein Gefühl auch dafür haben, wo überfordert man eigentlich das Gegenüber und wo sollte man das tunlichst vermeiden, wenn man wirklich nicht seine Zeit damit verschwenden will, am Ende ergebnislose Debatten zu führen. (Interview Kannengießer: 13, 19)
Kommissionsinternes »Policy-Lernen« Dem kognitions- und vernunftgeleiteten Arbeitsstil der Kommission kommt ferner entgegen, dass ein Teil ihrer Mitglieder sich das Fachwissen (und damit die Entscheidungsgrundlagen) erst in medias res erarbeiten muss. Dies geschieht – wie bei der Frage der demographischen Entwicklung – durch intensive Behandlung in den Plenarveranstaltungen oder Vertiefung in den Arbeitsgruppen: Man muss sehen, das argueing ist natürlich […] leicht gewesen. Dadurch dass die große Mehrzahl der Kommissionsmitglieder von dem Thema vorher sozusagen auch nur aus der Zeitung und aus Aktennotizen Kenntnis genommen hatte, ist es relativ leicht gewesen, die Leute auf einen gemeinsamen Informationsstand zu bringen. (Interview Münz: 84; vgl. auch Interview Holthey: 27)
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Es scheint evident, dass diese Situationen des individuellen bzw. gremieninternen PolicyLernens eher objektive, vernunfts- und wissensgeleitete denn ideologiebasierte Entscheidungsprozesse befördern. Dennoch ergeben sich für diese Arbeitsweise offenbar auch Grenzen und latente Gefahren in Form von Lenkungsmöglichkeiten – entweder wenn Sachzusammenhänge für einzelne Mitglieder oder Mitarbeiter zu komplex sind, um sie sich in kurzer Zeit zu erarbeiten, oder wenn die zur Verfügung gestellten Grundlagen Entscheidungen präjudizieren: Du musstest eben die Leute überzeugen, die nicht wussten, worüber sie genau reden, die fachlich nicht ganz so versierten. Und irgendwann haben die sich auch ausgeklinkt. Und dann war das ’ne Elitendiskussion. (Interview Taneja: 106)
Dissens und Persuation Bei gegensätzlichen Aufassungen innerhalb der Kommission zu einzelnen Themen spielt das argumentative Überzeugen eine große Rolle. Strittige Einzelfragen werden auf »Wiedervorlage« gebracht und erneut diskutiert (vgl. Interview Schmalz-Jacobsen: 130). Horst Eylmann hebt hervor, es sei ihm »in einem Punkt sogar gelungen, Herrn Vogel zu überzeugen, was ja bekanntermaßen sehr schwierig war« (Interview Eylmann: 82). Aus der Inhaltsanalyse der Experteninterviews sowie der differenzierten Betrachtung des Abschlussberichts der Süssmuth-Kommission ergeben sich eine Reihe von Dissenspunkten, die im Laufe der Sitzungen von Arbeitsgruppen oder im Plenum debattiert und einer gemeinsam getragenen Lösung zugeführt werden müssen. Die wichtigsten kontroversen Inhalte und damit verbundene strittige Fragen der Kommissionsarbeit sind in Abbildung 7 dargestellt. Nur vereinzelt kommt es bei deren Behandlung gemäß den vorgesehenen Regelungen in der Geschäftsordnung tatsächlich zu majoritären Beschlüssen – »demokratische Mehrheitsentscheidungen in nicht demokratisch legitimierten Gremien«, wie ein Kommissionsmitglied süffisant anmerkte (Interview Münz: 51). Diese Mehrheitsbeschlüsse betreffen neben Verfahrensfragen nur solche inhaltliche Aspekte, die für die unterlegenen Akteure nicht von derart elementarer Wichtigkeit sind, dass sie auf eine Dokumentation ihrer abweichenden Meinung in Form eines Sondervotums bestehen ( vgl. Interview Holthey: 131). In zahlreichen Fragen wird die in der Abstimmung unterlegene Minderheit jeweils dahingehend »überzeugt«, dass ihre Position entweder aus formaljuristischen oder sonstigen rationalen Erwägungen ohnehin kaum Chancen auf Realisierung hätte. Einige der in Abbildung 7 dargestellten Dissens-Fragen, die auf zunächst scheinbar fundamentalen Unterschiede in den Grundauffassungen der Kommissionsmitglieder basierten, werden ebenfalls argumentativ aufgelöst oder durch Kompromisse doch zumindest so weit angeglichen, dass keine explizit von der Mehrheit des Gremiums abweichende Meinung deutlich gemacht wird.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Themenbereich
Besonders konfliktstark diskutierte Fragen (Seiten: UK ZU 2001)
Asyl/Flüchtlinge (Grundrecht)
Sollen die §§ 16, 16a und 19 (4) GG abgeschafft, ersetzt bzw. modifiziert werden? (S. 124f., 128)
Asyl/Flüchtlinge (Asylgründe)
Sollen geschlechtsspezifische und nichtstaatliche Verfolgungsgründe als asylrelevant anerkannt werden? (S. 162)
Asyl/Flüchtlinge (Arbeitsrecht)
Soll Asylbewerbern und Zuwanderern aus humanitären Gründen der Arbeitsmarktzugang gestattet werden? Ggf. nach welchen Fristen? (S. 119)
Asyl/Flüchtlinge (Ausbildung)
Sollen junge Flüchtlinge eine Ausbildung beginnen dürfen?
Asyl/Flüchtlinge (»Missbrauch«, Ausweisung, Rückführung)
Sollen Abschiebeeinrichtungen oder weitere Sanktionen bei gesetzlich missbilligten Verhaltensweisen zur Ausreise bzw. Rückführung (S. 149, 156, 159) geschaffen bzw. beibehalten werden?
Aufenthaltsrecht (Ausweisung)
Sollen in Deutschland geborene oder aufgewachsene Ausländer (Jugendliche und Heranwachsende) ausgewiesen werden können, wenn sie straffällig werden? (S. 250f.)
Aufenthaltsrecht (Härtefälle)
Sollen eine gesetzliche Härtefallregelung für langjährig Geduldete (Verrechtlichung), die Befugnis zur Ermessensentscheidung für Landesexekutiven (»Superrevisionsinstanz«) oder eine bundesweite Regelung für Härtefallkommissionen eingeführt werden? (S. 168ff.)
Aufenthaltsrecht (Illegalisierte)
Soll für Menschen ohne Papiere eine Amnestieregelung eingeführt werden? Sollen arbeitsrechtliche Maßnahmen und medizinische Versorgung eingeführt werden? Soll die Unterstützung von Illegalisierten aus humanitären Gründen kein Straftatbestand mehr sein? (S. 197)
Aufenthaltsrecht (Visarecht/Rückführung)
Soll die Abnahme von Fingerabdrücken und deren Speicherung im Visumsverfahren mit dem Ziel, Identitätsverschleierungen zu vermeiden, eingeführt werden? (S. 156)
Integration (Familiennachzug)
Bis zu welchem Alter (und Verwandschaftsgrad) sollen ausländische Familienangehörige nach Deutschland nachziehen dürfen (Senkung des Nachzugsalters oder Orientierung am damaligen EURichtlinienentwurf)? (S. 195)
Integration (Sprache)
Sollen flächendeckend Sprachkurse eingeführt werden? Soll es einen Rechtsanspruch bzw. eine Pflicht auf Kursteilnahme geben? Wer trägt ggf. die Kosten?
Spätaussiedler
Soll der Personenkreis der Berechtigten/Familienangehörigen eingegrenzt werden? Soll die Zuwanderung an Voraussetzungen (bes. Sprache) oder einen Stichtag geknüpft werden? (S. 183f.) Soll das Kriegsfolgenschicksal bei Aussiedlern aus der ehemaligen UdSSR nicht mehr pauschal vermutet werden (Beweislastumkehr)? (S. 182)
Zuwanderung (Einwanderung)
Soll ein Punktesystem eingeführt werden, auf Grund dessen sich ein Bewerber für die Einwanderung qualifizieren und mit einem unbefristeten Aufenthaltsrecht ausgestattet werden kann? (S. 88)
Abbildung 7:
Kontroverse Themendiskussionen der UK ZU
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
247
Dazu gehört beispielsweise die Frage, für welches Höchstalter beim Familiennachzug sich die Kommission ausspricht. Teile der Kommission wollen sich an dem Entwurf für eine EU-Richtlinie orientieren, die in ihrer damaligen Form nicht nur das Nachzugsalter von 16 auf 18 Jahre erhöht sondern auch den Kreis der Nachzugsberechtigten auf Personen jenseits der Kernfamilie erweitert hätte.408 Dem stehen insbesondere Hailbronner und Eylmann kritisch gegenüber, die eher zu einer Beibehaltung bzw. Absenkung der Altersgrenze tendieren. Die Kommission steht in dieser Frage kurz vor einer Nicht-Entscheidung. Ein Großteil der Kommission spricht sich jedoch für eine Lösung aus, die zwischen der deutschen Rechtslage nach dem Ausländergesetz und der geplanten EU-Regelung liegt und die Altersgrenze für einen Rechtsanspruch zum Nachzug an die Volljährigkeit koppelt. In der Abstimmung bleiben »zwei Voten dagegen« (Interview Münz: 63), die sich jedoch der endgültigen Formulierung nicht widersetzen. Ein zweites Beispiel ist der Umgang mit der Frage, ob die Kommission gesetzliche Änderungen bei Spätaussiedlerzuzug empfehlen soll. Teile der Kommission wollen die Aussiedlerzuwanderung durch eine Stichtagsregelung auslaufen lassen, andere die Pflicht zum Nachweis eines Vertreibungsdrucks auf Antragsteller aus den Staaten der ehemaligen UdSSR ausweiten (keine pauschale Vermutung des Kriegsfolgeschicksals). Anders als bei sonstigen kommissionsinternen Konflikten zum Thema Flucht und Asyl ist es in der Aussiedlerfrage die Vorsitzende selbst, die solche Bestrebungen mit Nachdruck bekämpft und angeblich apodiktisch formuliert: »Wenn das kommt, mache ich nicht mit.«409 Das Thema wird jedoch nach einer »fruchtbaren« und mit »sehr guten Argumenten von beiden Seiten« geführten Auseinandersetzung einer einvernehmlich getragenen Lösung zugeführt (Interview Schmalz-Jacobsen: 110; vgl. Interview Eylmann: 98ff. sowie die Erörterungen im Kommissionsbericht; UK ZU 2001: 182ff.).
Prozedurale Kompromisse Nur zwei der in der Kommission behandelten Themenkomplexe bleiben derart strittig, dass sie den Gesamtkonsens im Bericht der Kommission nachhaltig gefährden. Diese konzentrieren sich auf den Bereich des Asyl-, Flüchtlings- und Aufenthaltsrechts, wo es nur durch intensive Gespräche und rhetorische Formelkompromisse für den Kommissionsbericht gelingt, »eigentlich unüberwindbare Meinungsunterschiede« (Interview Holthey: 122) zum Ausgleich zu bringen bzw. zu kaschieren. Denn die Kommission möchte keinen Bericht, der Empfehlungen gestaffelt nach Mehrheiten und Minderheiten gibt oder explizite, namentlich gekennzeichnete dissenting opinions enthält. Am Ende der Arbeit soll im Bericht ein geschlossenes und widerspruchsfreies Konzept stehen: »Wenn es einen Mehrheitenoder Minderheitenbericht gegeben hätte, wäre der völlig entwertet gewesen.« (Interview Schnoor: 74) Die Lösung besteht in der Berücksichtigung des partikularen Dissenses innerhalb des Gesamtkonsenses: Über Consensual Governance sprechen, das heißt nicht, dass es keine Divergenzen gibt. Sondern man sagt, worauf hat man sich geeinigt oder in diesem amerikanischen »I agree«. […] Das ist übrigens ein gutes, ein wichtiges Stück für Good Governance: Nicht nur […] einfach das Mehrheitsprinzip; das Minderheitenvo408 vgl. insb. Art. 5 des Entwurfes für eine Richtlinie des Rates betreffend das Recht auf Familienzusammenführung von Drittstaatsangehörigen, COM (1999) 638 vom 1. Dezember 1999: 16f., 28f. 409 zit.n. Der Spiegel Nr. 16 vom 14. April 2001: 44; vgl. auch Zinterer (2004: 289).
248
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess tum ist durchaus demokratietheoretisch und praktisch brauchbar, aber in eine einbeziehende Demokratiepolitik. Ich denke sehr stark vom Prinzip inklusives versus exklusives Denken [und] fand diese Form, für die ich mich auch sehr verwandt habe, viel angemessener. (Interview Süssmuth: 70, 84)
Die Vorsitzende geht trotz geschäftsordnungsmäßig verankerten Mehrheitsbeschlussverfahrens also de facto von einem Einhelligkeitsverfahren aus (vgl. dazu Pfetsch 1987: 265f.; Sartori 1997: 229). Analytisch lassen sich beim Umgang mit inhaltlichem Dissens im Abschlussbericht der Kommission vier Muster unterscheiden, die mehr oder minder offensichtlich abweichende Meinungen oder Positionen dokumentieren und ggf. begründen: 1.
2.
3.
4.
Persuation Die Minderheitenposition wird implizit angezeigt, aber deren Überzeugung und ein Konsens der Kommission als Gesamtgremium betont; kein abweichendes Votum. Formulierungsbeispiel: »Die Kommission hat […] erwogen, die generelle Vermutung eines Kriegsfolgenschicksals für die Spätaussiedler aus den Nachfolgerepubliken der ehemaligen Sowjetunion […] aufzuheben. […] Nach eingehender Prüfung hat die Kommission diese Überlegung jedoch wieder verworfen.« (S. 182f.). Das Verfahren findet an zahlreichen Stellen Anwendung (vgl. S. 108, 136f., 159, 168f., 182, 272). Majorisierung Die Minderheitenposition wird gewürdigt und dargestellt, aber eine letztendlich klare Empfehlung im Sinne der Mehrheit der Kommission gegeben; kein abweichendes Votum. Formulierungsbeispiel: »Ein besonders wirksames Mittel, Identitätsverschleierungen aufzudecken, ist die Abnahme der Fingerabdrücke von Visaantragstellern sowie deren zentrale Speicherung und Abgleich […]. In der Kommission wurden gegen diesen Vorschlag Bedenken erhoben […]. Nach Auffassung der Kommission sollten die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen werden, um die Erteilung eines Visums in bestimmten Fallkonstellationen vom Einverständnis des Antragstellers abhängig machen zu können, dass seine Fingerabdrücke genommen werden.« (S. 156; vgl. 88) Nicht-Entscheidung Der Dissens wird offen gelegt, dabei keine klare Empfehlung gegeben, weil die Minderheit auf ihrer Position besteht. Ein abweichendes Votum wird dadurch vermieden. Dieses Vorgehen tritt nur bei einer Dissensfrage im Flüchtlingsrecht offen zu Tage: »Die Kommission bejaht die Schutzbedürftigkeit von Frauen, die ihres Geschlechts wegen verfolgt werden, sowie die Schutzbedürftigkeit derjenigen Opfer, die in Situationen nicht oder nicht mehr bestehender staatlicher Strukturen oder genereller Schutzunfähigkeit des Staates Gefahren für Leben und Freiheit ausgesetzt sind. Über die Frage, ob sich eine entsprechende Schutzgewährung bereits aus der Genfer Konvention oder aus dem Ausländergesetz ergibt oder anderweitig vorgesehen werden soll, konnte die Kommission keine Einigung erzielen.« (S. 162). Nicht-Behandlung Ein Thema wird quasi komplett ausgespart und damit die Offenlegung des in seinen Einzelfragen herrschenden Dissenses vermieden. Dies wird deutlich am Thema der so genannten Illegalen, wo die Kommission nur zwei flankierende Empfehlungen gibt, die eigentlich wichtigen Statusfragen jedoch ausblendet bzw. das Thema nur »wischiwaschi« benennt (Interview Schmalz-Jacobsen: 112): »Im Laufe ihrer Beratungen hat die Kommission festgestellt, dass es hierzu vertiefender praktischer und rechtlicher Untersuchungen bedarf.« (UK ZU 2001: 198; vgl. auch Kap. 3.3.1.4)
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
249
Die »Drohung« mit einem Sondervotum geht in fast allen Fällen auf Horst Eylmann bzw. Kay Hailbronner zurück (vgl. Interview Vogel: 16), letzterer ist nach eigenen Angaben »kurz davor, eine abweichende Meinung zu schreiben«.410 Im Nachhinein bedauert er es, mit Blick auf das erklärte Ziel, Einigkeit zu erzielen, seine dissentierende Auffassung nicht niedergeschrieben zu haben.411 Gerade auch aus der Textanalyse des Kommissionsberichts ergeben sich Hinweise auf die vom mainstream der Kommission stark abweichende Meinung Hailbronners und Eylmanns in zahlreichen Einzelfragen. Es fällt auf, dass insbesondere der von der Arbeitsgruppe Recht vorbereitete Abschnitt »Humanitär handeln« (vgl. UK ZU 2001: 123-198) zahlreiche Beispiele für die oben beschriebenen vier sprachlichen Muster aufweist. Primär ist es offenbar Hailbronner, der für die in ihrem Duktus stets auf einen Bruch der Rechtssystematik zielenden Einwände verantwortlich zeichnet (vgl. ebd.: 163, 168ff., 197f.). Bei der Frage der Verankerung geschlechtsspezifischer bzw. nichtstaatlicher Anerkennungsgründe im deutschen Flüchtlings- und Asylrecht ist es Eylmann, der die vage Kompromissformulierung vorschlägt (vgl. Interview Eylmann: 126; Zinterer 2004: 288; UK ZU 2001: 162). Auch im Bereich der arbeitsmarktorientierten Zuwanderung macht Hailbronner seine Bedenken gegen das von der Arbeitsgruppe II entworfene Konzept deutlich. Er hält es für rechtssystematisch inakzeptabel und erzwingt die Aufnahme eines relativierenden Passus’ in den Bericht (vgl. UK ZU 2001: 88; Interview Hailbronner: 34).
»Klassisches bargaining« Neben diesem »procedural bargaining«, dem intensiven Suchen nach Verfahrenskompromissen, tritt der Kommunikationsmodus »Verhandeln« vergleichsweise selten auf. Dies bestätigen sämtliche Interviewpartner in den Experteninterviews. Die Ausnahmen liegen im Bereich der Zuwanderung in den Arbeitsmarkt: Es gab […] ein paar Bereiche, bei denen wir klassisches bargaining gemacht haben, zum Beispiel, als wir Einkommensgrenzen definiert haben, ab der jemand als hochqualifiziert gilt. […] Oder als es am Ende um die Frage geht, welche quantitative Empfehlungen wir eigentlich zu den einzelnen Säulen unseres arbeitsmarktorientierten Zuwanderungssystems geben. Da gab es dieses klassische Sich-aufeinander-zu-bewegen. (Interview Kannengießer: 19)
Im Bereich Integration ist es hingegen der zu erwartende finanzielle Belastungsrahmen, der zu kontroversen Verhandlungen innerhalb der Kommission führt. Man muss sich mit Zahlenspielen annähern. Wegen der mangelnden Erfahrungen und der schlechten Prognosefähigkeit bezüglich der Nutzung neu aufgelegter Integrationskurse setzt sich die Kommission kritisch mit bereits bestehenden Finanzierungskonzepten des BMI und der Ausländerbeauftragten auseinander: Besonders den kommunalen Vertretern in der Kommission gelingt es dabei, ihre Position stark zu machen. Gerd Landsberg und Hajo Hoffmann fordern – auch öffentlich – die Verantwortung des Bundes für die Finanzierung und gehen von Kosten bis
410
zit.n. FTD vom 23. Dezember 2002: 13; vgl. auch Zinterer (2004: 282). vgl. Interview Hailbronner: 32. Später nimmt er in eine fast spöttische Haltung zu den Passagen des Kommissionsberichtes ein: »Es erscheint wenig sinnvoll, den Blick auf kunstvoll erarbeitete Punktesysteme und Auswahlverfahren zu richten, wenn dadurch die Realität der Zuwanderung […] verfehlt wird. [...] Die Vorschläge der Unabhängigen Kommission ›Zuwanderung‹ haben insoweit der Versuchung, ein ›Disneyland‹ der Einwanderung hoch qualifizierter Ausländer zu kreieren, nicht ganz widerstanden.« (Hailbronner 2001: 10) 411
250
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
zu 1 Milliarde DM aus.412 Diese erscheinen anderen Kommissionsmitgliedern vor dem Hintergrund der Regierungskonzepte als zu hoch. Innerhalb der Arbeitsgruppe muss man sich daher mittels plausibilisierter Annahmen aufeinander zu bewegen, die zwar zu einer einmütig getragenen Empfehlung führen, jedoch ein hohes Maß an Unsicherheit bergen.413
3.3.1.4 Leitung und Verfahrenssteuerung: »Was wollen wir? Was erreichen wir?« Bei der Analyse von Konsensfindungsprozessen ist ein genauerer Blick auf die Leitungsund Moderationsarbeit innerhalb der Kommission unerlässlich. Die »Ressource Führung« (Vowe 1991: 315f.) kann entscheidend für Erfolg bzw. Misserfolg sein. Sie wirkt maßgeblich auf Arbeitsklima und Motivationsniveau und damit auch auf den Output. In der Sitzungsleitung liegt die wichtigste Möglichkeit der Tätigkeitssteuerung eines Beratungsgremiums (vgl. Mayntz 1977: 8), denn zahlreiche Gestaltungsspielräume ergeben unmittelbar aus dem Organisations- und Leitungsauftrag. Geschäftsordnung, geübte Praxis sowie die Schnittstellenfunktion zu externen Akteuren und zum Auftraggeber ermöglichen weitere Prärogativen.
Führungsstil Die Einschätzungen von Kommissionsmitgliedern, Sekretariatsmitarbeitern und externen Akteuren lassen – ebenso wie die obige Analyse der Entscheidungsfindungsprozesse – auf eine an Effizienzkriterien und Führungsqualitäten gemessene, optimale Wahrnehmung der Leitungsaufgaben der Kommissionsvorsitzenden und ihres Stellvertreters schließen. Aspekte der Führungsarbeit lassen sich folgendermaßen systematisieren: 1.
2. 412
Interesse und Sachkompetenz: Den beiden Vorsitzenden wird für die Arbeit innerhalb der Kommission ein hohes Maß an Interesse und Themenkompetenz bescheinigt. Neben der Leitung des Plenums bleiben beide auch über das Wirken der Arbeitsgruppen stets im Bilde. Dennoch konnten weder Süssmuth noch Vogel zu Beginn der Kommissionsarbeit als Experten gelten. »Sie haben sich beide natürlich unheimlich rangeklebt – unglaublich – und alle beide sind zu Sachkennern geworden« (Interview Schmalz-Jacobsen: 74; vgl. auch Interview Taneja: 173). Dies kann u.a. auf ein hohes Maß an Unvoreingenommenheit zurückgeführt werden, die mit einer angemessenen Würdigung unterschiedlicher Sichtweisen und Inputs einhergeht und auch in den Anhörungen und Fachgesprächen zum Ausdruck kommt: »Sie waren wirklich versucht, aus allem Honig zu saugen, um zu guten Ergebnissen zu kommen.« (Interview Akgün: 75ff., 113; vgl. auch Interviews Issen: 55; Münz: 86; Schnoor: 50) Stringenz und Konsistenz: Der persönliche Führungsstil Süssmuths wird ebenfalls durchweg positiv wahrgenommen; ein Mitglied beschrieb es in der Retrospektive als
vgl. taz vom 12. Februar 2001: 18 sowie vom 27. April 2001: 7. So stellt die Kommission den pro Kursstunde kalkulierten Kosten der Bundesregierung (ca. 3,50 DM) die tatsächlich aufgewendeten Kosten der Unterrichtskosten in Schweden und den Niederlanden (ca. 12 DM) gegenüber, um für ihre eigene Kalkulation einen Betrag von 5 DM anzunehmen. Ein gleichermaßen unsicherer Faktor besteht in der Anzahl der zu erwartenden Kursteilnehmer; vgl. dazu die in hohem Maße spekulativen Modellrechnungen im Kommissionsbericht (UK ZU 2001: 262f.). 413
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
3.
251
eine »Ehre« und ein »Vergnügen«, »die straffe und ausgewogene Führungsarbeit von Frau Süssmuth zu erleben« (Henkel 2002: 481). Versehen mit einem breiten Auftrag bei relativ geringem Zeitbudget ergibt sich auch eine schlichte Notwendigkeit für stringentes Arbeiten und das Üben verlässlicher, schlüssiger und regelorientierter Verfahren, bei denen jedes Mitglied gleich behandelt wird (vgl. Interview Münz: 17). Besonders Hans-Jochen Vogel wird eine äußerst stringente Arbeitsweise in der Leitung von Sitzungen bescheinigt: »Wenn Pause gemacht wurde, dann wurde gesagt: ›Nach zehn Minuten sind wir wieder hier!‹ und dann saß er auch nach zehn Minuten da und fing wieder an – ob die Leute drin waren oder nicht drin waren.« (Interview Schnoor: 174) Funktionsteilung und Kohärenz: Rita Süssmuth und Hans-Jochen Vogel erscheinen den Prozessbeteiligten als sich ergänzendes, kohärent agierendes Team – als »Doppelpack« im Vorsitz (Interview Bierhoff: 43), als »Speerspitzen« der Kommission (Interview Akgün: 113). Besonders die disziplinierte und disziplinierende Arbeitsweise Vogels – aus anderen Zusammenhängen hinlänglich bekannt (vgl. Fn. 335) – kann als vorteilhaft für den Kommissionsprozess betrachtet werden. Die Elogen der Interviewten an seine Akribie scheinen bisweilen deckungsgleich mit einer eher als enervierend wahrgenommenen, aber offenbar zielführenden Pedanterie: »Die wirkliche Stütze war Vogel. Ohne Vogel wäre die ganze Sache nicht gelaufen. Vogel ist einfach brilliant – schwer verträglich, also wirklich nicht gerade ein Sympathieträger und schwer im Umgang, aber ausnehmend korrekt, also immer wirklich korrekt.« (Interview Taneja: 71ff.); »Der einzige, der von Anfang bis Ende den Bericht nicht nur gelesen, sondern im Kopf hatte, war er.« (Interview Bierhoff: 43ff.; vgl. Interview Schnoor: 50)
Steuerung und pragmatische Zielorientierung Süssmuth wie Vogel verinnerlichen zu Beginn der Kommissionsarbeit schnell das Ziel, einen im Konsens verfassten Bericht vorzulegen und vermögen es geschickt, bei Konflikten die Arbeit der Kommission entsprechend zu steuern (vgl. Interview Bierhoff: 43). Offenbar profitieren sie dabei im Umgang mit Dissens auch von ihrer umfassenden Gremienerfahrung – als Teilnehmer ebenso wie als Rezipienten von Politikberatung (vgl. Interviews Süssmuth: 148, 156; Vogel: 15f.). Die Vorsitzende beschreibt die schwierige Gratwanderung bei der Führung zum Konsens innerhalb der Kommission: »Ich stand oft vor der Frage, ob jetzt Minderheitenvotum oder lassen wir es […] ruhen für 24 Stunden oder auch 8 Tage und kommen wieder drauf zurück.« (Interview Süssmuth: 70) Neben zeitlichen Moratorien werden dabei auch intensive Debatten mit den »Abweichlern« als Mittel genutzt, explizite Voten gegen von der Mehrheit der Kommission getragene Empfehlungen zu vermeiden – sowohl im Plenum der Kommission als auch im Einzelgespräch (vgl. Interview Bierhoff: 139). In den Diskussionen mit Hailbronner und Eylmann legen die beiden Vorsitzenden ein gehöriges Maß an Ausdauer und das offenbar optimale Verhältnis von Druck und Zugeständnis an den Tag, um den Charakter der Empfehlungen nicht zu weit von der mehrheitlich getragenen Linie zu entfernen. Darauf deutet nicht zuletzt die ex post geäußerte Wahrnehmung Hailbronners hin, unter einer Art Zwang zum Kompromiss gestanden zu haben (vgl. Interview Hailbronner: 26).
252
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Insgesamt versuchen die Vorsitzenden stets, die Arbeit der Kommission und die Reichweite ihrer Vorschläge am »Machbaren« auszurichten. Sie sind davon überzeugt, dass die Kommissionsvorschläge als Gesamtkonzept nur dann Aussicht auf Implementation haben, wenn auch die Akteure der Regierung, der Parteien und der Ministerialbürokratie ihnen prinzipiell aufgeschlossen gegenüber stehen.414 Aus der Erfahrung mit jahrzehntelangem inkrementellem Policy-Wandel dürfen die Vorschläge also nicht »zu weit« gehen.
Tabuthema Illegalität Große Begehrlichkeiten herrschen bei einem gewichtigen Teil der Kommission hinsichtlich einer wesentlich stärker an den Prinzipien universeller Menschenwürde ausgerichteten Flüchtlingspolitik, gerade in den Bereichen Asyl, Abschiebeschutz und der so genannten Illegalen. Hier greift jedoch eine besonders von Seiten der Kommissionsführung vertretene, pragmatische und an den (vermeintlich) realen Durchsetzungschancen von Politikempfehlungen orientierte Sicht der Dinge Platz, die Süssmuth als eine Art von bargaining, ein Verhandeln und Ringen um durchsetzbare Lösungen, bezeichnet: Wir haben immer auch gefragt: »Wen müssen wir mitnehmen und was ist erreichbar? Was ist notwenig und erreichbar?« [...] Ich kenne auch andere Kommissionen oder wissenschaftliche Beiräte, in denen sich die Frage gar nicht stellt, sondern [die] ein normatives System aufstellen und sagen: »Wie müsste es eigentlich sein, wenn...?« [...] Das ist schon ein bargaining gewesen, wo wir oftmals gefragt haben: Wir können jetzt das Absolute wollen, aber nichts erreichen. Das hat ’ne Rolle gespielt. Das würde ich sogar als generelle Tendenz sagen […] Das heißt immer abwägen zwischen »Was wollen wir?« und »Was erreichen wir auf der Handlungsebene?« (Interview Süssmuth: 52ff.)
Gerade mit Blick auf solche Erwägungen wurden zum Themenkomplex irreguläre Migranten keine weiter gehenden Policy-Empfehlungen formuliert (vgl. Interviews Schnoor: 100; Schmalz-Jacobsen: 114). Der Verzicht auf innovative Vorschläge in einem heiklen Teilbereich der Migrationspolitik soll also die Glaubwürdigkeit der Kommission stärken – mehr noch: Um Akzeptanz bei Regierung und Parteien zu erlangen, empfiehlt man sogar solche Maßnahmen, von denen offenbar die Mehrheit der Kommissionsmitglieder inhaltlich nicht überzeugt ist. So werden im Kommissionsbericht beispielsweise harte Sanktionen bei der Verletzung von Mitwirkungspflichten von Asylbewerbern befürwortet – eine Maßnahme, welche »die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen erreicht«, wobei die Kommission jedoch glaubt, »dass gerade im Interesse der wirklich Schutzbedürftigen auf diese Möglichkeit zurückgegriffen werden muss.« (UK ZU 2001: 149) Ein weiterer Zweifelsfall betrifft die sog. Abschiebeunterkünfte: »Wo eigentlich auch jeder noch mit einem unguten Gefühl herausgegangen ist, das ist bei den Ausreisezentren.« (Interview Süssmuth: 78ff.) Diese Entscheidungen der Kommission »wider Wollen und Gewissen« können als das Ergebnis vermeintlich vernunftgeleiteter und an den Maximen rationaler Politik orientierter interner Deliberationsprozesse interpretiert werden. Das zu Grunde liegende Kalkül besagt, dass die Empfehlungen der Kommission als ganze eine bessere Chance auf Durchsetzung erhalten, wenn sie auch restriktive Elemente aufweisen und damit die Bedürfnisse meinungsresponsiver bzw. abwehr- und sicherheitsorientierter Politik bedienen. Hierin ist jedoch eine vorweggenommene Kompromisslogik zu sehen, die als Strategie vor dem Hin414
vgl. dazu auch die Berichterstattung im »Spiegel« Nr. 22 vom 28. Mai 2001: 25.
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
253
tergrund implementationsanalytischer Betrachtungen (vgl. dazu Kap. 3.4.3) zumindest kritisch hinterfragt, wenn nicht gar als gescheitert betrachtet werden muss.
3.3.1.5 Funktionen des Arbeitsstabes: »Keine Automaten« In der medialen und wissenschaftlichen Darstellung von Politikberatungsgremien stehen zumeist die formal berufenen Mitglieder sowie deren Positionen im Mittelpunkt des Interesses. Daneben wird die Rolle von Gutachten, Anhörungen und Kontakten ins politische Umfeld betrachtet (vgl. dazu Kap. 3.3.2). Die Ebene der unmittelbaren und kontinuierlichen Zuarbeit für die Kommissionsmitglieder wird indes häufig vernachlässigt. Denn Mitarbeiter eines Arbeitsstabes haben keinerlei finale Mitentscheidungsmacht. Sehr wohl ist jedoch von Mitsteuerungskapazitäten im Sinne der indirekten Beeinflussung von Kommissionsentscheidungen auszugehen. Eine methodisch aufwändige Einzelfallstudie einer Enquete-Kommission kommt etwa zu dem Schluss, dass neben der Sitzungsführung durch den Vorsitzenden sehr wohl auch »die Selektion der berufenen Experten und Sekretariatsmitglieder das Ergebnis des Beratungsprozesses präg[t]« (Thienen 1990: 205). Engagierte Mitarbeiter können Binnenwirkung dahingehend entfalten, dass sie ihre Policy-Ideen kommissionsintern durchsetzen, sie konsensfähig machen und so als Katalysator für die Beziehungen mehrerer Kommissionsmitglieder untereinander wirken (vgl. Vowe 1991: 264). Der heterogen zusammengesetzte Arbeitsstab (vgl. dazu Kap. 3.2.3.5) erledigt sämtliche Aufgaben unter »Gruppenbildung mit hoher Motivation« (Interview Süssmuth: 34). Das Gros der Sekretariatsarbeit besteht jedoch im Erstellen von Protokollen und dem Verfassen des Abschlussberichts mit den Politikempfehlungen, bei dessen Fertigung nicht nur redaktionell-technische Zuarbeit sondern auch inhaltlich-formulierende Beiträge von Geschäftsstellenmitarbeitern benötigt werden. Ihre Mitarbeit kann für das Gelingen der Berichtsarbeit als konstitutiv erachtet werden: Solche Kommissionen sind in der Zusammensetzung nicht geeignet, um als Redaktionskonferenzen und zur Erarbeitung von Texten in Frühstadien zu dienen. Insofern war der Erfolg der Kommission wesentlich geschuldet auch der Tatsache, dass von einer fähigen Geschäftsstelle ordentliche Textentwürfe geliefert worden sind. (Interview Putzhammer: 80)
Einflussmöglichkeiten der Mitarbeiter Schon während der Untersuchungs- und Datenaggregationsphase besteht »immer ein sehr intensives Feedback« zur Mitarbeiterebene (Interview Bierhoff: 102). Da formal kein Mitspracherecht vorgesehen ist, und die geladenen Experten vom Arbeitsstab nur nachrangig befragt werden, müssen sich engagierte Mitarbeiter bisweilen mit Nachdruck ein Rederecht beschaffen, um sich auch im Plenum der Kommission einbringen zu können (vgl. Interview Taneja: 173). Die prinzipielle Möglichkeit dazu besteht jedoch immer (vgl. Interviews Stumm: 86; Schmalz-Jacobsen: 226). Besonders starker Einfluss von Ideen ist in den Subgremien der Kommission möglich – weniger in der größten Arbeitsgruppe zu den ausländer- und flüchtlingsrechtlichen Komplexen (vgl. Interview Eylmann: 207) als bei den AGs zu Integration bzw. Arbeitsmarkt. Da letztere bei fünf Kommissionsmitgliedern über den
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
kleinsten Stab von nur zwei Mitarbeitern verfügt,415 diese aber fachlich gut qualifiziert sind, werden sie »gleichberechtigt auf Augenhöhe« in die Arbeit integriert – »sie waren extrem wertvoll und haben sich sehr große Verdienste erworben.« (Interview Kannengießer: 15) In der AG III stimmt sich deren Sprecherin Cornelia Schmalz-Jacobsen vor und nach den Sitzungen ebenfalls eng mit den drei zugeordneten Mitgliedern des Stabes ab, hauptsächlich um sich zu Beginn über den Arbeitsplan und nach den AG-Sitzungen über das jeweilige Protokoll, dessen Schwerpunkte und Formulierungen zu verständigen;416 die Mitarbeiterinnen verfügen über »einen gewissen gleichberechtigten Status« (Interview Schmalz-Jacobsen: 156). Aber auch andere Kommissionsmitglieder stehen informell direkt mit einzelnen Stabsmitarbeitern in Kontakt (vgl. Interview Schnoor: 132). Auch mit Blick auf den Transport von Ideen und Inhalten politischer Akteure aus dem politischen Umfeld in die Kommission hinein ist der Arbeitsstab in hohem Maße relevant: Einzelne Mitarbeiter nehmen hier eine ähnliche Transmitter-Funktion wahr wie die Kommissionsmitglieder selbst. Die vom Arbeitsstab formulierten Beschlussvorlagen für die Kommissionsmitglieder stehen jedoch stets unter dem Vorbehalt vorheriger Abstimmung mit dem Leiter der Geschäftsstelle, und damit dem BMI (vgl. Kap. 3.3.2.3).
3.3.1.6 Berichterstattung: »Eine Knochenarbeit« Als sich die Arbeitsgruppen kurz vor Weihnachten 2000 formieren wird deutlich, dass der Arbeitsstab für die prospektierten Aufgaben zu klein ist (vgl. Interview Holthey: 27). Die Geschäftsstelle wird im Januar 2001 um 4 Personen vergrößert. Besonders im Bereich der AG I herrscht Bedarf nach zusätzlicher Arbeitskraft. Die Akquise erfolgt durch Absprache und Vorschläge einzelner Kommissionsmitglieder mit Süssmuth, Vogel und Holthey (vgl. Interviews Hailbronner: 60; Holthey: 33; Schnoor: 154ff.). Wichtigster Neuzugang ist Steffen Angenendt, der für die Redaktionsphase des Abschlussberichts als einziger Stabsmitarbeiter aus dem Nichtregierungsbereich »eingekauft« wird, da er im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) über sehr gute fachwissenschaftliche Kompetenzen und ausgewiesene publizistische Erfahrung verfügt. Er soll den Bericht in eine lesbare Form bringen und wirkt vor der Redaktionsphase primär in der AG II mit.417
415 Dr. Dieter Bogai (ein Arbeitsmarktexperte der damaligen BA, der die Vorschläge der Kommission später insbesondere in sozial-, wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Fachpublikationen transportierte; vgl. Bogai 2001, 2002, 2003) und York Schuegraf (ein Beamter aus dem AA). 416 Zunächst protokolliert der Arbeitsstab die Sitzungen mit. Da dies durch den schieren Umfang nicht zumutbar ist, geht man später dazu über, die Sitzungen auf Tonband aufzuzeichnen (vgl. Interview Taneja: 116ff.). 417 vgl. Interview Schnoor: 144ff. Angenendt erhält für seine Tätigkeit ein außerplanmäßiges Honorar. Das Engagement kommt jedoch erst nach längeren Verhandlungen zu Stande, da er zusätzlich unterstützende Redaktionsstellen eingerichtet sehen möchte. Im März 2001 wird Imke Kruse in den Arbeitsstab aufgenommen. Sie ist zu diesem Zeitpunkt noch Studentin, verfügt aber über einschlägige redaktionelle Erfahrung und wird vollständig integriert (vgl. Interviews Holthey: 29; Stumm: 78). Ab Mai 2001 verstärkt die Redakteurin und Fachjournalistin Susanne Laux das Redaktionsteam. Die Tätigkeit Angenendts hinterlässt nachhaltig positiven Einfluss auf zahlreiche Kommissionsmitglieder (vgl. z.B. Interviews Schmalz-Jacobsen: 162; Vogel: 24). Auch Süssmuth ist von seiner Arbeit überzeugt und nominiert ihn später in den wissenschaftlichen Mitarbeiterstab des Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration, dessen erstes (und einziges!) Jahresgutachten er redaktionell koordiniert (vgl. dazu Kap. 3.4.3.5).
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Der ursprünglich von der Beauftragten Beck abgeordnete Referent Michael Schlikker verlässt die Geschäftsstelle, da er aus arbeitsorganisatorischen Gründen in deren Stab gebraucht wird. Im Bundeshaushalt für 2001 werden jedoch die Personalmittel der Beauftragten aufgestockt, um u.a. das Sekretariat der Zuwanderungskommission besetzen zu können. Als Ersatz für Schlikker wird die Referentin Malti Taneja in die Kommission abgeordnet, die zuvor bei der Bundesfraktion von Bündnis 90/Die Grünen tätig ist.418 Auf Vorschlag Kay Hailbronners wird außerdem der Vorsitzende Richter am Hessischen Verwaltungsgerichtshof Günter Renner als ständiger Berater zu allen drei Arbeitsgruppen hinzugezogen, um juristische Formulierungshilfe zu leisten; insbesondere in der AG II wirkt er maßgeblich mit (vgl. Interview Hailbronner: 60).419 Beratung in administrativen und institutionellen Fragen wird der Kommission durch den Potsdamer Politik- und Verwaltungswissenschaftler Werner Jann zuteil, der zu verschiedenen Fragen seine Expertise beisteuert.420
Konzeptarbeit und Berichterstattung der AGs Aufgrund des früh zu Stande gekommenen internen Konsenses über die vorzuschlagenden Maßnahmen im Bereich demografischer und arbeitsmarktpolitischer Zuwanderung (vgl. Kap. 3.3.1.3) gelingt es der AG II, im Frühjahr 2001 ein bereits relativ geschlossenes Konzept vorzulegen, dessen Inhalte AG-intern unstrittig sind und im Gesamtgremium engagiert vertreten werden (vgl. auch Zinterer 2004: 282ff.). Der Sprecher der AG Christoph Kannengießer erklärt den »Erfolg« seiner Arbeitsgruppe: Wir haben es uns […] zur Regel gemacht, dass wir mit Papieren oder Vorschlägen erst dann ins Plenum gehen, wenn wir in der Arbeitsgruppe uns wirklich einig sind – also keine unausgetragenen Konflikte aus der Arbeitsgruppe ins Plenum tragen. […] Wir hatten es in mancher Beziehung übrigens auch leichter, weil wir […] ein bisschen eine zero-budget-Betrachtung gemacht haben nach dem Motto: Jetzt erfinden wir schlicht und einfach mal ein neues Steuerungssystem. (Interview Kannengießer: 15ff.) 418
vgl. BT-Pl.Pr. 14/133 vom 16. November 2000: 12809A; Interview Taneja. Renner, der am 19. August 2005 im Alter von 66 Jahren gestorben ist, konnte in Deutschland als persona sine qua non der Migrationspolitikberatung ebenso wie der -rechtsprechung gelten – »kaum eine obergerichtliche Entscheidung, in der nicht Renner zitiert wäre!« (Kay Hailbronner in ZAR 10/2005: 345). Als Kapazität in allen Materien des Ausländer-, Asyl-, Zuwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts wurde er vom BMI jedoch nicht in die UK ZU berufen (in diesem Sinne unzutreffend: Rolf Gutmann und Gerhard Strate in Informationsbrief Ausländerrecht 11-12/2005: 445) – nicht zuletzt wohl auch deswegen, weil seine wissenschaftliche Tätigkeit und seine richterlichen Auslegungen stets deutlicher an den humanitären Gesichtspunkten des Ausländer- und Flüchtlingsrechts orientiert waren, als die anderer Juristen der Zunft. So stellte er seinem postum in 8. Auflage erschienenen Kommentar zum Ausländerrecht das Bonmot »Wir alle sind Ausländer – fast überall« voran (Günter Renner, Kommentar zum Ausländerrecht, 8. Auflage, 2005: V). Daneben war Renner aktives Mitglied im Netzwerk der Kirchen. Hier wirkte er u.a. 1993-1998 an deren Gemeinsamen Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht mit. Die katholische Kirche beriet er seit 1997 als assoziiertes Mitglied der bischöflichen Kommission zu Migration (vgl. Interview Voß: 54; ZAR 8-9/2005: 258). Die Bedeutung des Verwaltungsrichters und das Gewicht seines Urteils bei der Formulierung der Zuwanderungspolitik lassen sich aus einem Nachruf Süssmuths ermessen: »Mehrere Jahre haben wir in der Unabhängigen Kommission ›Zuwanderung‹ wie auch im Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration mit ihm zusammen arbeiten dürfen. […] Ob erfahrene Kollegen oder junge Nachwuchskräfte, wir alle hörten auf ihn. War er bei Sitzungen einmal nicht zugegen, dann fehlte er im wahrsten Sinne des Wortes.« (ZAR 8-9/2005: 257). Für biografische Daten Renners im Rahmen von Nachrufen vgl. ebd.: 257ff.; Informationsbrief Ausländerrecht 11-12/2005: 445; IMIS-Beiträge 27/2005: 134ff. 420 Eine prominente Rolle erhält Werner Jann auch kurz darauf bei der Erarbeitung eines Konzeptes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in seiner Funktion als Mitglied der so genannten Hartz-Kommission (vgl. dazu Kap. 1.2.5, 4.2). 419
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Der Abstimmungsprozess über einzelne Berichtsteile ist aufwändig, Beschluss fasst formal immer das Gesamtgremium. Zwar werden einzelne Komponenten im Sinne des auch aus Fraktionen bekannten arbeitsteiligen Vorgehens unhinterfragt akzeptiert, wenn darüber in der AG ein Konsens hergestellt ist, nicht selten wird jedoch im Plenum erneut diskutiert (vgl. Interview Schmalz-Jacobsen: 224ff.) Insbesondere Fragen des Asyl- und Flüchtlingsrechts aus der AG I bleiben »hoch kontrovers bis zum vorletzten Tag« (Interview Bierhoff: 136). Die AG III erreicht ebenfalls leichter einen Konsens, da hier am wenigsten ideologisch vorgefasste Meinungen aufeinander stoßen und die meisten der prospektierten Maßnahmen unstrittig sind (vgl. Interview Taneja: 161ff.; Zinterer 2004: 291). Allerdings liegen die Gutachten überwiegend erst Ende März vor (vgl. Kap. 3.3.2.1), so dass die Entwürfe der drei Berichtsteile in einer dichten Abfolge von AG-Sitzungen im April fertig gestellt werden. Die Monate Mai und Juni sollen komplett für die Endredaktion und Produktion des Berichts zur Verfügung stehen.
Redaktion und Produktion Für den Arbeitsstab ist dies die arbeitsintensivste Phase. Obwohl bereits im Vorfeld – etwa ab Januar – kontinuierlich an der Struktur des Kommissionsberichts und der Inkorporierung einzelner Berichtsteile in das Gesamtraster gearbeitet wird, gerät die Redaktionsphase unter starken Zeitdruck. Bis spät abends und an Wochenenden und Feiertagen wird »Dienst geschoben« (vgl. Interviews Holthey: 29ff., Stumm: 52ff., Taneja: 50ff., 114ff.). Aus Sicht eines Kommissionsmitglieds ist die Geschäftsstelle in dieser Phase »übel dran […] – das war schon eine Knochenarbeit« (Interview Schnoor: 126). Erst Ende April zeichnet sich die Gliederung des Berichtes ab. War man bis dahin von einer Anordnung gemäß der Nummerierung der Arbeitsgruppen ausgegangen – zunächst die Aspekte des Ausländer- und Asylrechts (AG I), dann Fragen arbeitsmarkt- und demografisch orientierter Einwanderung (AG II) und schließlich Integration (AG III) – setzt sich unvermittelt eine neue Sichtweise durch, die den von Teilen der Kommission befürworteten »Paradigmenwechsel« stärkt: Der meiste Diskussionsstoff war eigentlich im Bereich des Asylrechts, bis wir dann in einer Plenarsitzung geklärt haben: Das kann nicht unser Hauptthema sein. Unser Hauptthema kann nicht sein, hier und da im Bereich des Asylrechts einen Kompromiss zwischen A und B zu finden, sondern unser Thema muss sein, eine neue Zuwanderungspolitik zu definieren [...]. Aus der Mitte der Arbeitsgruppe von Herrn Kannengießer kam [...] der Vorschlag: Das muss am Anfang stehen. (Interview Schnoor: 136ff.)
In einer zweitägigen Sitzung am 1. und 2. Mai 2001 wird über alle zentralen Inhalte und Empfehlungen Beschluss gefasst; gleichzeitig endet die AG-Phase. In den ersten drei MaiWochen wird die erste Gesamtversion des Berichts zusammengestellt. In drei Lesungen am 30. Mai, 13. Juni und 27. Juni 2001 werden nochmals Details geändert, Formulierungen angepasst oder offen gebliebene Dissense gelöst (vgl. Kap. 3.3.1.3). Alle Kommissionsmitglieder sind berechtigt, Änderungsanträge zu stellen. Der Prozess entwickelt in dieser Schlussphase eine starke Eigendynamik. Die Leitung der Geschäftsstelle überlässt die Koordinierung der Redaktion weitgehend Steffen Angenendt, der mit seiner Mitarbeiterin »innerhalb von zehn Tagen den Bericht durchformuliert. Das war fabelhaft.« (Interview Vogel: 24; vgl. Interview Stumm: 70ff.). Dennoch entwickeln sich Lektorat, Korrektorat und Layout – z.T. wahrgenommen durch einen externen Dienstleister, die Firma Zeitbild
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Verlag GmbH – zu einem Wettlauf gegen die Zeit, denn der Präsentationstermin 4. Juli ist unbedingt einzuhalten (vgl. dazu Kap. 3.3.2.3). »Es war zwar in den letzten Sitzungen noch irre viel zu tun und […] die allerletzte Sitzung fand wenige Tage vor Drucklegung statt. Das war auch ein unglaublicher organisatorischer Aufwand. « (Interview Holthey: 60) Bei der feierlichen Berichtsübergabe in der Französischen Friedrichstadtkirche (»Französischer Dom«) in Berlin kann das druckfrische Werk verteilt werden. Nachdrucke, eine englische Übersetzung (vgl. UK ZU 2001a), eine CD-Rom-Version mit allen Gutachten sowie die Internetveröffentlichung auf der Website des BMI folgen.
3.3.2 Interaktionen und Interdependenzen: »Wir waren keine Trappistenvereinigung« 3.3.2.1 Beratung der Berater: »Zentnerweise Gutachten« Die zentrale Beratungsform in der Phase der Informationsbeschaffung und Datenauswertung besteht in Fachgesprächen und Anhörungen von Experten. Dazu werden Mitglieder der Ministerialbürokratien, externe Praktiker, Interessenvertreter und Wissenschaftler eingeladen. Bei der Vorbereitung von Expertenlisten spielen auch die Kontakte der Mitarbeiter des Arbeitsstabs eine wichtige Rolle (vgl. Interviews Holthey: 104; Taneja: 143 sowie Zinterer 2004: 273). Auch interne Expertisen bilden einen wichtigen Bestandteil des Wissenstransfers (vgl. Interview Holthey: 114).
Abbildung 8:
Von der Süssmuth-Kommission angehörte Akteure EU- und ausländische Experten 6%
Wissenschaft/ Politikberatung
Politiker*** 4% 32%
35% 23%
Öffentliche Verwaltung*
NGO's, Verbände, Schulen, Private**
* Bundes- und Länderministerien, nachgeordnete Behörden, Gerichtsbarkeit, Beauftragte des Bundes, Bundesinstitute ** Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Praktiker, Schulen, Verbände, Interessenvertreter *** Amts- und Mandatsträger der Parteien, Mitglieder von Regierungen
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Die in Abbildung 8 dargestellte Auswertung der Expertenkonsultation spiegelt diese Tatsache wieder. Der Kommissionsbericht listet 143 angehörte Persönlichkeiten, wobei einige der Kommission auch mehrmals, zu verschiedenen Sachkomplexen zur Verfügung stehen (vgl. UK ZU 2001: 296ff.; Interview Taneja: 137). Mehr als ein Drittel entstammt entweder den Ministerien oder nimmt andere Positionen in der öffentlichen Verwaltung ein.421 Das zweite Drittel kann der Gruppe der (wissenschaftlichen) Politikberater zugeordnet werden.422 Praktiker aus Schule bzw. öffentlichem Dienst und Mitglieder von religiösen, Nichtregierungs- oder Interessenorganisationen (ca. 20%), EU-Vertreter und Experten aus anderen Staaten (ca. 6%) sowie aktive Politiker (Mitglieder der Bundestagsfraktionen, Länderminister; ca. 4%) bilden das letzte Drittel. Den Sachverstand der Ausländerbeauftragten der Länder und ihrer Stäbe bezieht die Kommission erst auf Anregung der Hamburger Beauftragten Ursula Neumann Ende Januar im Rahmen eines Kurzkolloquiums der Beauftragten mit den beiden Vorsitzenden Süssmuth und Vogel ein (vgl. Interview Akgün: 51ff.; UK ZU 2001: 295, 306). Darüber hinaus führt ein Teil der Kommissionsmitglieder mit der Präsidentin und mehreren Richtern des Bundesverfassungsgerichtes ein Rechtsgespräch (vgl. UK ZU 2001: 295).
Vergabe wissenschaftlicher Gutachten Daneben werden im Verlauf der Arbeit »zentnerweise Gutachten angefordert […]; die konnte gar nicht jeder lesen, sondern die wurden dann in den Arbeitsgruppen gelesen« (Interview Schnoor: 110). Neben dem 323 Seiten starken Abschlussbericht sind 18 externe Expertisen mit einem Umfang von insgesamt fast 2.000 Seiten das schriftliche Produkt der Kommission. Die wissenschaftlichen Stellungnahmen sind damit durchschnittlich gut 100 Seiten lang, wobei das kürzeste Papier 34 Seiten, die längste Studie 278 Seiten umfasst (vgl. die Übersicht in Anhang 13). Die Gutachten werden in ihrer Mehrzahl erst Ende Dezember 2000 vergeben, und sollen den Arbeitsgruppen bis Ende März 2001 erstattet werden. Erst zu einem späten Stadium der Arbeit entsteht zusätzlicher Bedarf nach Expertise im Bereich der rechtlichinstitutionellen Organisation des Migrationswesens (vgl. Interview Holthey: 29), so dass die Gutachten von Bade (2001), Bothe (2001) und KPMG (2001) erst im April bzw. Mai 2001 vorliegen. Die Initiativen für Gutachten gehen meist auf die AGs zurück, wobei die zugeordneten Mitarbeiter des Stabes eng mit den Kommissionsmitgliedern kooperieren und eigene Vorschläge einbringen (vgl. Interview Stumm: 46). Über die Vergabe der Expertisen fasst jedoch formal stets das Plenum Beschluss, wobei insbesondere die Vorsitzende ein wesentliches Wort mitzusprechen hat (vgl. Interviews Hailbronner: 57; Stumm: 48).423 421 Dazu werden Mitarbeiter von Ministerialbürokratien in Bund und Ländern, nachgeordneten Behörden und Bundesinstituten ebenso gezählt wie Angehörige der Gerichtsbarkeiten sowie Beauftragte von Bundes- bzw. Landesregierungen. 422 Diese Gruppe umfasst Hochschullehrer und Wissenschaftler an Universitäten und Forschungsinstituten sowie Mitarbeiter von Politikberatungs- und Consultingunternehmen. 423 Letztlich verschlingen die 18 Gutachten auch einen gewichtigen Anteil des der Kommission zur Verfügung stehenden Budgets, wobei die Expertisen finanziell höchst unterschiedlich honoriert werden. Je nach Arbeitsauftrag, vorgesehenem Umfang und Verhandlungsverlauf kostet ein Gutachten zwischen 2.500 und knapp 100.000 DM (dokumentierte Hintergrundinformation). Zu Ausschreibung und Kostenvarianz wissenschaftlicher Expertisen als Zuarbeit für Kommissionen am Beispiel der Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel vgl. Kohn
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
259
Funktionen Aus den Einschätzungen der interviewten Kommissionsmitgliedern und Angehörigen des Arbeitsstabes lassen sich drei Hauptfunktionen der Gutachtenvergabe ablesen, die gleichermaßen auch für die mündlichen Konsultationen der Experten gelten: 1. 2.
3.
Wissensinput und Faktenvermittlung: Einigen Gutachten wird nachhaltiger Einfluss auf den Gang der Diskussionen und den Kommissionsbericht zugeschrieben (s.u.). Legitimation: Zu zentralen Fragen ihrer Arbeit fordert die Kommission zwei oder mehr Expertisen an, um ggf. eine Auswahl an verschiedenen Sichtweisen zu erhalten (vgl. Interview Putzhammer: 84 sowie Anhang 13). Daneben seien viele Gutachten mit dem klaren Ziel vergeben worden, eine Legitimation für das zu erhalten, was die Kommission bereits im Hinterkopf hatte (vgl. Interview Hailbronner: 58). Integration: Schließlich sind Gutachten, Fachgespräche und Expertenenanhörungen auch als Mittel der Integration zu sehen um externe Protagonisten der epistemic community einzubinden. Die Gutachten hätten »im Wesentlichen den Zweck gehabt, möglichst viele Leute so einzubinden, dass sie nachher nicht über den Kommissionsentwurf herfallen.« (Interview Münz: 123)
Einfluss auf den Kommissionsbericht Das Potenzial der wissenschaftlichen Expertisen kann für die inhaltlichen Diskussionen nicht voll genutzt werden. Einerseits ist das Material nach Ansicht der Kommissionsmitglieder in seiner Gesamtheit zu umfangreich; viele Gutachten hätten nicht in der Ausführlichkeit gewürdigt, ausgewertet und einbezogen werden können, wie sie es verdient gehabt hätten, andere hätten sich inhaltlich als überflüssig erwiesen (vgl. Interviews Hailbronner: 58; Münz: 127; Putzhammer: 82ff.; Schnoor: 110). Andererseits liegen einige Papiere zu spät vor und können selbst in der Redaktionsphase vom Arbeitsstab kaum mehr verarbeitet werden.424 Für ausführliche Themendiskussionen in Plenum und AGs stehen ihre Ergebnisse jedenfalls nicht zu Verfügung. Die Analyse des Kommissionsberichts ergibt, dass an insgesamt 40 Stellen explizit auf einzelne Gutachten Bezug genommen wird (eigene Zählung). Daneben wird bei 16 der 54 Abbildungen bzw. Grafiken auf ein Gutachten als unmittelbare Quelle verwiesen. Nur zwei Gutachten bleiben gänzlich ungenannt, die meisten Expertisen werden ein bis zwei Mal zitiert. Wenige Gutachten bringen es auf fünf oder mehr Nennungen, es sind dies: ifo (2001), IZA (2001), prognos (2001), efms (2001), Seifert (2001) und ZfT (2001). Insbesondere die Arbeitsgruppe II bedient sich des umfassenden Datenmaterials zur demografischen Entwicklung und zum Arbeitsmarkt, das die Expertisen der Institute ifo, IZA und prognos bereitstellen (vgl. auch Zinterer 2004: 275). In der AG III wird vielfach auf das
1976: 61-77, insb. 69ff. Zum finanziellen Verfügungsrahmen der Süssmuth-Kommission insgesamt vgl. Kap. 3.2.3.5, Fn. 368. 424 so wird das Gutachten der Beratungsfirma KPMG zur »Institutionellen Optimierung im Bereich der Zuwanderung« (KPMG 2001) erst Mitte Mai geliefert, das Papier des Hamburgischen Welt-Wirtschaftsarchivs (HWWA 2001) trägt gar das Datum 29. Juni 2001 – dem Tag der Drucklegung des Kommissionsberichts.
260
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Gutachten von Seifert (2001) und die Expertise von Faruk en und KollegInnen (ZfT 2001) zurückgegriffen (vgl. auch Interview Schnoor: 210). Die expliziten Nennungen der Gutachten bieten freilich nur begrenzt Belegkraft für deren tatsächlichen Einfluss auf den Kommissionsbericht. Die Analyse der Gutachten im Vergleich zum Kommissionsbericht bestätigt jedoch tendenziell die quantitativen Beobachtungen: Die mehrfach genannten Expertisen finden ideell in stärkerem Maße Eingang in den Bericht, wobei nur an wenigen Stellen Textpassagen direkt übernommen werden. Eine Ausnahme bildet der Abschnitt zur Umsetzung der neuen Zuwanderungspolitik, in dem offensichtlich zahlreiche Vorschläge der später in Auftrag gegebenen Expertisen zur rechtlich-strukturell-organisatorischen Beschaffenheit des Migrationswesens Berücksichtigung finden. Hier kommt insbesondere den Empfehlungen des »Bade-Gutachtens« (Bade 2001) eine herausgehobene Stellung zu, obwohl es erst relativ spät bei der Kommission eintrifft (vgl. Interview Münz: 127). Die verfassungsrechtliche Kompetenz des Bundesgesetzgebers für Zuwanderung und Integration legitimiert die Kommission deutlich durch das entsprechende Rechtsgutachten von Michael Bothe (vgl. UK ZU 2001: 242f.; Bothe 2001).
3.3.2.2 Partizipation gesellschaftlicher Gruppen: »Einbinden, ohne dem Wahnsinn zu verfallen« Über einen Mangel an Angeboten und unaufgefordertem Input kann die Kommission sich nicht beklagen: »Wir sind überschwemmt worden von Leuten, die da mittun, mithelfen wollten« (Interview Münz: 133). Somit stellt sich die Frage der Partizipation der als relevant erachteten Gruppen, die von sich aus um Berücksichtigung ihrer Positionen bitten: »Wie können wir die einbinden, ohne hier nun dem Wahnsinn zu verfallen?« (Interview Schmalz-Jacobsen: 86). Die Kommission entschließt sich nach ausführlicher Diskussion zu einer Strategie, die in Form von Kurzstatements und anschließender Diskussion im Rahmen einer zweitägigen öffentlichen Anhörung die Positionen der Wohlfahrtsverbände, Migrantenorganisationen und sonstiger Träger der Flüchtlings- und Integrationsarbeit berücksichtigt. Damit adaptiert sie eine Partizipationsform, die auch für das parlamentarische Verfahren als das einzige transparente und institutionalisierte Instrument für den Bundestag gilt, gesellschaftliche Gruppen Gehör zu schenken und Mitwirkungsoptionen zu schaffen (vgl. Schüttemeyer 1989; Wessels 1987: 290).
Akzeptanz durch Inklusionsstrategie Dieses Vorgehen geht maßgeblich auf das Bestreben der Vorsitzenden zurück, für die das »Mitnehmen« der gesellschaftlichen Gruppen ein wichtiger Faktor ist, um die allgemeine Akzeptanz der Kommission und ihrer Ergebnisse zu sichern bzw. zu erhöhen (vgl. Interviews Süssmuth: 92; Hailbronner: 66; Schmalz-Jacobsen: 86). Insgesamt 57 Vertreter werden zu Terminen am 26. bzw. 27. April 2001 nach Berlin eingeladen, von denen schließlich 46 anwesend sind und sich äußern (vgl. UK ZU 2001: 304ff.). In doppelter Hinsicht werden die Anhörungen zu einem strategischen Unterfangen: Einerseits dienen sie der Legitimation; die Kommission will sich nicht dem Vorwurf aussetzen »›Ihr habt überhaupt gar nicht den Sachverstand, den es in der Bundesrepublik gibt, aufgenommen!‹ Wir mussten ja mög-
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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lichst viele hören.« (Interview Schnoor: 175). Andererseits bietet die Diskussion mit den Geladenen zusätzlich die Gelegenheit, die Marschroute der Kommission bei Advokaten der relevanten gesellschaftlichen Partikularinteressen zu testen. Denn die Empfehlungen der Kommission stehen bereits überwiegend fest: »Man wollte wissen, ob man richtig liegt« (Interview Münz: 135). Aus den Experteninterviews geht hervor, dass die Strategie offenbar weithin aufgeht. Sowohl Mitglieder der Kommission, als auch der Geschäftsstelle und des politischen Umfeldes beurteilen das Vorgehen als konstruktiv mit Blick auf die Akzeptanz der Kommissionsarbeit. Diese Einschätzung lässt sich etwa an der offiziellen Stellungnahme des Wohlfahrtsverbandes der Evangelischen Kirche zum Kommissionsbericht veranschaulichen: Das Diakonische Werk bedauert, am eigentlichen Arbeitsprozess der Kommission nicht beteiligt worden zu sein. Wir hatten allerdings die Möglichkeit, unsere Positionen bei entsprechenden Anhörungen vor der Kommission zu vertreten. [...] Die positiven Reaktionen [...] bestätigen, dass unsere Positionen und Handlungsvorschläge für sinnvoll gehalten werden. [...] Das Diakonische Werk der EKD begrüßt den Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«.425
Die Organisationen sind milde gestimmt und gehen mit dem Tenor der Kommissionsempfehlungen in vielen Punkten konform (vgl. Kap. 3.3.3.2), auch wenn z.T eine sehr differenzierte Haltung eingenommen wird.426 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass unter den angehörten Akteuren grundsätzlich keine Gegeninteressen auftreten (denkbar wären hier politische oder gesellschaftliche Vertreter von zuwanderungsskeptischen Vereinigungen und Initiativen, der »neuen Rechten« o.ä.). Diese werden jedoch selbstverständlich nicht als legitime stakeholder in Fragen der Migrationspolitik betrachtet. Genauso wie unter den Kommissionsmitgliedern herrscht auch unter den Angehörten eine allgemein migrationsfreundliche Tendenz – und damit breite Interessenkongruenz (vgl. Interview Münz: 137).
Erkenntnisgewinn und Einfluss Der prozedural-strategischen Funktion einer breiten formalen Einbindung der von Migrationspolitik betroffenen gesellschaftlichen Gruppen in den Anhörungen steht deren inhaltlicher Ertrag gegenüber. Hier ist deutlich zwischen den Konsultationen einzelner Experten und Praktiker im Rahmen der Wissensaggregation in Plenum bzw. Arbeitsgruppen und Interessenartikulation bei den Sammelterminen zu unterscheiden. Ersteren wird von einigen Kommissionsmitgliedern z.T. erhebliche Bedeutung für den Gang der Debatte und der Ausrichtung der Empfehlungen zugeschrieben. Gerade aus der Schilderung von Fallbeispielen aus der Praxis kann die Kommission weitreichende Schlüsse ziehen, wobei die Qualität des Vortrags und die Stärke der Argumentation naturgemäß eine wichtige Rolle spielen (vgl. Interviews Bierhoff: 184; Schmalz-Jacobsen: 220). Für die Vorsitzende ist die Einbindung von Migranten in die Problemlösung ein essenzieller Bestandteil erfolgreicher Arbeit. Man habe »beste Erfahrungen mit Anhörungen gemacht, auch Probleme [wahrgenommen], die Sie als Gesetzgeber so gar nicht erkennen können, wenn Sie nicht in die 425 »Integrationsforderung und Zuwanderungspolitik gehören untrennbar zusammen«, Stellungnahme des Diakonischen Werkes der EKD zum Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« vom 1. August 2001, Stuttgart: 1; vgl. umfassend zur Meinungsbildung in der EKD: Klepp (2003). 426 vgl. Übersicht zu den Stellungnahmen in ZAR 5/2001: 238f.; taz vom 7. Juli 2001: 7; SZ vom 7. Juli 2001: 5.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Praxis gehen.« (Interview Süssmuth: 94) Dazu kommt der Vorteil der Prägnanz mündlicher Vorträge oder Thesen gegenüber der Gutachtenform vor dem Hintergrund stetiger Zeitknappheit: »Auch für den persönlichen Eindruck und für die eigene Bewertung spielt eine Anhörung immer eine größere Rolle, als wenn man auf zweihundert Seiten ein Gutachten geliefert bekommt.« (Interview Putzhammer: 86) Durch die persönliche Ansprache und die Option von Rede und Gegenrede werden Sachinformationen authentischer vermittelt als bei schriftlich-gutachterlichen Stellungnahmen. Inhalte beeindrucken, werden plastischer und können nachhaltiger wirken (vgl. Interviews Stadler: 35; Schnoor: 210ff.; Süssmuth: 94ff.). Hingegen seien die Sammelanhörungen zwar »informativ« gewesen, haben aber mit Blick auf die Arbeit der Kommission offenbar in weitaus geringerem Maße zu supplementärem Erkenntnisgewinn geführt, da viele der Positionen und Inhalte bereits vorher bekannt gewesen seien (vgl. Interviews Schmalz-Jacobsen: 88; Hailbronner: 66; Schnoor: 174). Aus Sicht von Kay Hailbronner kommt ihnen gar ausschließlich eine Alibifunktion zu; mit Blick auf die Arbeit der Kommission seien sie zum großen Teil völlig überflüssig gewesen (vgl. Interview Hailbronner: 66). Auch Parallelen zu Anhörungen von Bundestagsausschüssen, in denen jeweils von vorneherein klar ist, was von den Vertretern gesagt wird, werden gezogen (vgl. Interview Eylmann: 70ff.). Die Analyse des Kommissionsberichtes ergibt, dass der direkte Rekurs auf Ergebnisse der Anhörungen und Stellungnahmen von Interessengruppen eher selten stattfindet. Zwölf Mal wird im Text direkter oder abstrakter Bezug genommen, meist um damit eine allgemeine Schlussfolgerung (mit)zubegründen. So unterstützt beispielsweise die Kommission im Rahmen einer Empfehlung zur Verbesserung der Einbürgerungsanreize ihre sachte Kritik am Grundsatz der Vermeidung von Mehrstaatigkeit im Staatsbürgerschaftsrecht folgendermaßen: »Stellungnahmen von Migrantenverbänden machen deutlich, dass der Zwang zur Aufgabe der alten Staatsangehörigkeit eine größere Akzeptanz des neuen Staatsangehörigkeitsrechts verhindert.« (UK ZU 2001: 248) Der Praxis der Anhörungen kann also neben den o.g. genannten Folgen in hohem Maße eine legitimitätsstiftende Funktion zugeschrieben werden.
3.3.2.3 Steuerungsversuche des BMI: »Relativ schnöde zurückgewiesen« Die Kommission tritt nicht nur von sich aus mit externen Akteuren in Interaktion. Auch von außen wirken Ratschläge, Erwartungshaltungen und Steuerungsversuche auf das Gremium ein. Zentral ist hierbei die Rolle des BMI. Die Analyse legt nahe, zwei Ebenen zu differenzieren: Erstens den Informationsfluss von der Kommission zum BMI und zweitens Tendenzen seitens des Ministeriums, auf Inhalt oder Arbeitsweise der Kommission oder der Geschäftsstelle Einfluss zu nehmen.
Personalunionen und informationeller Zugriff Die Weitergabe von Informationen aus der Kommission in die operativen Arme des Ministeriums hinein ist in der Konzeption der Kommission bereits strukturell verankert. Dem Abteilungsleiter für den Bereich Ausländerpolitik im BMI (Dr. Gerold Lehnguth) obliegt die organisatorische Verantwortung für die Geschäftsstelle, die von einem eigens für diesen
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Zweck freigestellten Referatsleiter geleitet wird (Stefan von Holthey). Beide wirken bereits intensiv in der Planungsphase mit und sind dem Bundesinnenminister lange im Vorfeld persönlich bekannt (vgl. Kap. 3.2.1.1 und 3.2.3.5). Somit ist von einem fortgesetzten Loyalitätsverhältnis der Spitze des Arbeitsstabes zur höchsten Ebene des Ministeriums auszugehen. Gespräche zwischen Holthey, Lehnguth und dem Minister finden informell statt; die Rolle Holtheys als Verbindungsperson zur Ministeriumsspitze wird von diesem zu Beginn der Kommissionsberatungen eingestanden und ist allseits bekannt (vgl. Interview Bierhoff: 178). Natürlich gab es eine Verbindung von der Geschäftsstelle [...] zur Abteilung M […]. Das ist auch eine meiner Aufgaben gewesen, dass wir den Herrn Dr. Lehnguth, die Abteilung M, auf dem Laufenden [darüber] halten wie der jeweilige Beratungsstand ist, [...] natürlich auch mit der Folge, dass das Haus hier zum Zeitpunkt des Erscheinens des Berichts wusste, was drin steht. [...] natürlich hat parallel dazu dann auch hier die Abteilung M schon das Gesetzgebungsverfahren vorbereitet. Damit haben die nicht erst am 5. Juli begonnen, sondern das haben sie schon parallel gemacht. Da waren sie ganz schnell auf’m Markt mit. (Interview Holthey: 74)
Mit Thomas Gnatzy arbeitet zudem ein Jurist im Arbeitsstab der Kommission, dessen Tätigkeit für die AG I mit seinen sonstigen Aufgaben als Referent innerhalb des BMI korrespondiert. Man kann also davon ausgehen, dass Schily und seine Beamten zu fast jeder Zeit über den Stand der Arbeiten der Kommission – auch en détail – informiert sind. Eine andere Frage betrifft den Umgang des BMI mit der Vorabkenntnis der Überlegungen innerhalb der Kommission. Zwar kann die Abteilung A bereits parallel ihren Gesetzentwurf konkretisieren und ausgewählte Aspekte der Zuwanderungskommission, die als fix gelten, einarbeiten (vgl. Kap. 3.4.1.1). Für die Darstellungsebene des Politikprozesses ist diese Kenntnis jedoch wertlos; offiziell »darf« vor Abschluss der Arbeiten das BMI die Kommissionsvorschläge genauso wenig kennen wie die Öffentlichkeit. Schily drängt auf einen möglichst zeitigen Abschluss der Kommissionsarbeit, um die Chance zu wahren, das Gesetzgebungsverfahren im Jahr vor der Bundestagswahl 2002 zum Abschluss zu bringen. »Wir wollten […] unbedingt nicht nur einen Bericht der Kommission haben, sondern auch noch daraus handeln.« (Interview Lehnguth: 15).
Verteidigung der Unabhängigkeit Verschiedentlich versucht der Minister, die Rahmenbedingungen der Arbeit zu steuern. Bereits bei seinem Antrittsbesuch bei der Kommission formuliert Schily »sehr deutlich bestimmte Anforderungen« in Richtung einer Eingrenzung des Auftrag auf Fragen der Zuwanderungssteuerung und -begrenzung, wird jedoch »von der Kommission relativ schnöde zurückgewiesen […]; wir haben bewusst gesagt, uns geht’s vor allem auch um die Frage der Integration und der Innenminister musste das zur Kenntnis nehmen.« (Interview Putzhammer: 68) Allen voran Rita Süssmuth pocht auf den im Namen verankerten Status der Unabhängigkeit ihres Gremiums, während das BMI meist nur von »der Kommission« spricht (Interview Bierhoff: 8). Den stärksten Druck übt Schily im Hinblick auf die Straffung des Zeitplans der Kommission aus. So bittet das Ministerium bereits Anfang des Jahres 2001 darum, die Kommission möge ihre Arbeit bis 1. Juli beenden. Anders sieht man keine Chance, das Gesetzgebungsverfahren in der 14. Wahlperiode abzuschließen (vgl. Interview Lehn-
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
guth: 15). Auch die Publikation von Zwischenständen oder Eckpunkten hätte Schily die Legitimationsgrundlage für einen früheren Referentenentwurf gegeben. Dies verweigert die Kommission,427 da es das öffentliche Interesse am Abschlussbericht enorm geschmälert hätte. Schily bleiben die Hände gebunden. Lediglich zu geheimer Vorab-Information erklärt sich die Kommission bereit. So berichtet der stellvertretende Leiter der Geschäftsstelle, es habe mehrere Gespräche zwischen Schily, Vogel und Süssmuth gegeben, »unter der strengsten Maxime […], dass davon nichts nach außen dringt« (Interview Bierhoff: 89). Die »Terminfrage« wird zwischen dem Innenminister und der Kommission kontrovers diskutiert, u.a. in der Kommissionssitzung Anfang Februar 2001, an der Schily teilnimmt (vgl. Zinterer 2004: 279). Da bei Einsetzung der Kommission offenbar kein genauer Abgabetermin vereinbart wird,428 will sie sich die nötige Zeit nehmen: Wir haben uns darauf berufen können, dass es im Einsetzungsbeschluss bezüglich der Berichtsabgabe ›im Sommer‹ geheißen hat, und der Sommer – darauf konnte ich ohne Widerspruch zu finden aufmerksam machen – reicht bis zum 20. September. (Interview Vogel: 28)
Schließlich kommt man dem Innenminister entgegen und einigt sich auf den 4. Juli, auch weil Schilys Argumentation überzeugt, dass die Empfehlungen der Zuwanderungskommission nur dann eine Chance auf Umsetzung haben, wenn nach der parlamentarischen Sommerpause mit den Beratungen begonnen werden kann – dies erhöht den Arbeitsdruck drastisch (vgl. Interviews Holthey: 29; Schnoor: 124; Vogel: 28). Betrachtet man die konkrete Arbeit der Kommission in der Wahrnehmung ihrer Mitglieder, so ist unabhängiges Arbeiten weitestgehend gewährleistet; offensichtliche Versuche von Seiten der Regierung, manipulativ auf Inhalt oder Arbeitsweise der Kommission einzuwirken, gibt es aus Sicht der meisten Interviewten nicht: Verdachtsträger meinen ja, wir seien da an der langen Leine im Auftrag des Ministeriums geführt worden – keine Rede davon! Es wäre auch schwer gewesen, wir waren ja doch lauter alte Hasen, die solche Praktiken kannten. (Interview Vogel: 24; vgl. Interviews Kannengießer: 28; Putzhammer 68ff.)
Subtile Einflusswege Die Einflusswege sind eher im verdeckten Bereich auf der Ebene des Arbeitsstabes zu verorten. Roland Issen merkt an, man habe schon aufpassen müssen, dass nicht eine bestimmte Meinung, die im Innenministerium favorisiert wurde, zu stark in die Arbeit des Stabes eingeflossen wäre – »was dann auch wieder so ein bisschen präjudizierend für die Meinungsbildung in der Kommission war« (Interview Issen: 23). Dieses Bewusstsein ist nicht nur bei den Kommissionaten, sondern auch auf Arbeitsebene vorhanden. Daher wird intern gerade zum Leiter der Geschäftsstelle ein Distanzverhältnis gewahrt. Aus Sicht seines Stellvertreters ist Holthey für den Arbeitsstab »der schwierigste Kollege«. »Zwischen mir und ihm war das häufig so, dass ich ihm Papiere nur gegeben habe mit der strengen Maßgabe: Davon werden keine Kopien gemacht« (Interview Bierhoff: 178). Sicherlich zu weit geht in diesem Zusammenhang daher die pauschale und eine gestaltende Rolle der Kommissionsmitglieder negierende Darstellung von Krause (2004: 281), nach der »die Geschäftsstelle in Personalunion mit dem BMI verbunden ist« und die Poli427 428
vgl. FAZ vom 9. Februar 2001: 6. vgl. aber die Darstellung Zinterers (2004: 271, 279) nach der von Anbeginn der 4. Juli 2001 festgestanden habe.
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tikvorschläge »von Beamten des BAFl und des BMI erarbeitet und der UKZu zur Abstimmung vorgelegt« werden. Aus den Schilderungen der interviewten Mitarbeiterinnen des Arbeitsstabes lässt sich allerdings schließen, dass im Hintergrund der Geschäftsstellentätigkeit durchaus ein subtiler Kampf um politische Einflusswege in die Entscheidungsebene der Kommission geführt wird. Denn die Grenzen zwischen der Bereitstellung von benötigten Sachinformationen als Fachexpertise und dem Transport tendenziöser Handlungsoptionen in die entscheidungsvorbereitende Ebene hinein sind fließend. Im Rahmen der inhaltlichen Gestaltungsmöglichkeiten der Mitglieder des Arbeitsstabes kann insbesondere durch Gnatzy und Holthey die Politik des BMI in den Kommissionsprozess eingespeist werden. Zwar werden grundsätzlich alle Texte von den wissenschaftlichen Referenten des Arbeitsstabes verfasst. Faktisch müssen diese jedoch in häufig mühsamen Diskussionen mit dem Geschäftsstellenleiter Holtey abgestimmt werden, bevor sie den Kommissionsmitgliedern als Tischvorlagen oder auf sonstige Weise zur Kenntnis gebracht werden. Hier fällt es den wissenschaftlichen Mitarbeitern z.T. schwer, ihre Texte gegen redaktionelle Änderungsbegehren im Sinne der von Lehnguth geleiteten Abteilung A – die über Holthey transportiert werden können – zu verteidigen.429 Da die Kommissionsmitglieder nur über schriftlich vorliegende Sachverhalte förmlich Beschluss fassen, ergibt sich eine versteckte, aber ernst zu nehmende Möglichkeit für das BMI, Einfluss auf Kommissionsentscheidungen zu nehmen; subtile Versuche der Manipulation finden also durchaus statt.430
3.3.2.4 Feedback des politischen Systems: »Beratung mit dem Hinterkopf« Die Kommission pflegt als unabhängiges Gremium bewusst keinerlei formellen Austausch mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages. Weder dem Innenausschuss431 noch anderen Institutionen in Regierung und Verwaltung wird zwischenzeitlich offiziell Bericht erstattet. Der Zugang zu den Kommissionssitzungen ist eng beschränkt und weitgehend unbehelligtes Arbeiten möglich; die Fraktionen halten sich ihrerseits gegenüber der Kommission zurück (vgl. Interviews Bierhoff: 142; Holthey: 66; Putzhammer: 70ff.). Andererseits reflektieren Süssmuth und die Kommissionsmitglieder ihre Policy-Beratungen stets vor dem Hintergrund der Umsetzbarkeit im politischen Raum (vgl. Kap. 3.3.1.4)
429 dokumentierte Hintergrundinformation. »Das war irre schwer, sich dagegen zu wehren« (Interview Taneja: 76, 90). Das Dilemma besteht u.a. darin, dass Expertisen des BMI als rechtstechnische Hilfen unverzichtbar sind, dies der zuarbeitenden Projektgruppe Zuwanderung des BMI jedoch Möglichkeiten zur Präjudizierung bestimmter Fragen einräumt (vgl. auch Interviews Holthey: 88; Schnoor: 158; Stumm: 86ff.). 430 Manipulation soll hier mit Friedbert Rüb undramatisch, nicht im Sinn einer bewussten Irreführung, Täuschung oder Lüge, sondern als »strategische Aktivität verstanden werden, die mit Halbwahrheiten operiert, Sachverhalte uminterpretiert, Kontexten eine neue Bedeutung gibt, Zahlen und Daten selektiv und einseitig verwendet oder in Argumentationen nicht aufrichtig und wahrhaftig, sondern verschlagen und unaufrichtig agiert.« (Rüb 2006: 26) 431 In den Beratungen des Innenausschusses wird lediglich respektvolles Erwartungsinteresse formuliert (vgl. MdB Dr. Hans-Peter Uhl, Kurzprotokoll der 43. Sitzung vom 11. Oktober 2000: 20; StS Claus-Henning Schapper, ebd.: 23 sowie MdB Marieluise Beck, Kurzprotokoll der 55. Sitzung vom 28. März 2001: 34). Unmittelbar nach Abschluss der Arbeiten soll Süssmuth die Ergebnisse jedoch im Ausschuss vorstellen.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Informelle Mitsteuerung Nicht nur mit Blick auf das BMI vollzieht sich der Kommissionsprozess also als »Beratung mit dem Hinterkopf« (Interview Holthey: 88). Besonders die Interessenkongruenz zwischen dem Büro der Beauftragten der Bundesregierung für Ausländerfragen und Bündnis 90/Die Grünen bietet der Partei die Möglichkeit, ihre einwanderungs- und integrationspolitischen Positionen einzubringen. Die Grünen verfolgen dieses Ziel strategisch: Einerseits versuchen sie, in thematischen Einzelfragen eine Interessenkoalition unter den Kommissionsmitgliedern zu schaffen. Die Interaktionen reichen personell deutlich über die Person von Ralf Fücks hinaus, dessen öffentlich bekannte Lebenspartnerschaft mit der Beauftragten Marieluise Beck bereits zu Beginn der Kommission für entsprechende unterschwellige Vorbehalte sorgt und als »Einfallstor« gesehen wird.432 Dabei setzen die Grünen – aus eigener Sicht durchaus erfolgreich – auf die Logik von Fordern und Verhandeln, um durch die Einbringung von Maximalpositionen akzeptable Ergebnisse zu erreichen: [...] dass überhaupt was drinsteht, erreicht man eben nur, indem man mehr fordert, als die nachher machen. Sonst gibt’s gar nichts. [...] Wir haben da [...] Leute gehabt, mit denen wir uns besser verstanden haben und mit denen wir uns weniger gut verstanden haben, da hat man schon mal versucht, ebenfalls über Bande zu spielen, zusammen zu arbeiten – sehr eng sogar. (Interview Özdemir: 48ff.)
In stärkerem Maße erfolgen Steuerungsversuche jedoch über verschiedene Mitarbeiter des Arbeitsstabes. Dabei sind nicht in alle drei AGs hinein gleichermaßen Einflussmöglichkeiten vorhanden. Mit der Arbeitsgruppe zum ausländer- und asylrechtlichen Teil (AG I) gestaltet sich der Austausch eher schwierig; die ihr zugeteilten Mitarbeiterinnen entstammen allesamt dem BMI bzw. nachgeordneten Behörden. Die AG II zur arbeitsmarktpolitischen und demografischen Zuwanderung arbeitet ohnehin an einem einwanderungsfreundlichen Konzept. In die Arbeit der AG III (Integration) sind die Grünen nicht zuletzt durch Ralf Fücks eng eingebunden und erhalten regelmäßig Zwischenberichte (vgl. Interview Özdemir: 20ff.). »Die Kommunikation war schon so eng, dass man sich da bei Formulierungen mal ausgetauscht hat.« (ebd.: 34) Im Kollegium des Arbeitsstabes sind die Loyalitätsverhältnisse der Referenten kein Geheimnis: Wenn Sie bei der Bundesbeauftragten für Ausländerfragen arbeiten, haben Sie eine ganz klare Auffassung, wie Ausländerpolitik auszusehen hat. […] mit einer klaren parteipolitischen Präferenz, da müssen wir uns ja keine Illusionen machen. […] wenn Sie sich als Referent daran stark orientieren, dann haben Sie einen großen Output aus diesem Haus – oder Input, oder wie immer Sie es nennen wollen. (Interview Stumm: 86)
Trotz der Transferoption parteipolitischer oder ministerialbürokratischer Vorlagen und Ideen in die Kommission hinein dient die Kommunikation primär dem Austausch von Informationen. Allenfalls der Duktus bestimmter Formulierungen kann subtilen Einfluss auf den Abschlussbericht nehmen; inhaltlich stehen alle Entwürfe unter dem Vorbehalt der Diskussion und Konsensualisierung durch die berufenen Mitglieder der Kommission.
432 vgl. Die Welt vom 13. Juli 2000: 2. Fücks ist jedoch auf kritische Nachfrage hin in der Öffentlichkeit um die Wahrung von Distanz zur Arbeit der Partei, deren Grundsatzkommission er angehört, bemüht und betont seine Nichtbeteiligung an dem im November 2000 vorgelegten Konzept von Bündnis 90/Die Grünen (vgl. taz vom 7. November 2000: 3; Kap. 3.2.4.4). Dennoch ergeben sich im Laufe des Kommissionsprozesses die erwartbaren institutionalisierten Kommunikationskanäle zur Partei bzw. Fraktion (vgl. Kap. 3.3.2.4).
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Informationelle Interaktionen Die Ideen anderer Parteien gelangen zunächst – wenn sie nicht ohnehin bekannt sind – gleichermaßen auf informellem Wege in die Kommission. Auch hier liegen weniger veritable Beeinflussungen als informationelle Interaktionen vor. Bei der FDP besteht ein regelmäßiger Austausch über Inhalte und Positionen zwischen dem innenpolitischen Sprecher Max Stadler und Cornelia Schmalz-Jacobsen; ein häufiger Gesprächspartner für die ehemalige Ausländerbeauftragte ist daneben der Referent der FDP-Bundestagsfraktion für Migrationspolitik Dr. Thomas Schotten (vgl. Interviews Schmalz-Jacobsen: 202; Stadler: 33). Für die PDS ist es ungleich schwerer, überhaupt mit der Kommission zu interagieren, da sie in keiner Weise repräsentiert ist und auch nicht über Möglichkeiten des verdeckten Zugriffs über einzelne Referenten des Arbeitsstabes verfügt. Folgerichtig wendet sich Petra Pau direkt an einzelne Kommissionsmitglieder, unter denen ihr gerade Vogel und Süssmuth aufgeschlossen gegenüber stehen (vgl. Interview Pau: 26). Ihr Engagement richtet sich primär auf den »Problemkomplex Illegale«, da hier am ehesten Möglichkeiten gesehen werden, in einer Interessenkoalition mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen, Kirchen und Bündnis 90/Die Grünen die Kommission zu innovativen Vorschlägen zu bewegen. Die Frage der Möglichkeit von Legalisierungskampagnen wird bei Expertenhearings und im Rahmen der abschließenden Sammelanhörung der Bundestagsfraktionen intensiv und aufgeschlossen beraten. Gleichwohl verhindern verschiedene Faktoren die Empfehlung einer Lösung (vgl. oben Kap. 3.3.1.3 und 3.3.1.4; Zinterer 2004: 288f.). Im Gegensatz zu Bündnis 90/Die Grünen, die große Hoffnung darauf setzen, mittels der Süssmuth-Kommission Teile ihrer Programmatik zu verwirklichen, sind die beiden großen Fraktionen des Bundestages bemüht, der Kommission gegenüber indifferent zu erscheinen – auch weil sie eigene Expertengremien mandatiert haben (vgl. auch Kap. 3.2.4.5). Sie bemühen sich lediglich darum, den Stand der Beratungen genau zu kennen (vgl. Interview Stiegler: 39). Für die SPD-Parteispitze bzw. die von ihr strategisch dominierte Kernexekutive wird die profunde Kenntnis der Vorgänge und Policy-Empfehlungen der Kommission besonders gegen Ende der Arbeit von Bedeutung, als es um die öffentlichmediale Inszenierung des Regierungshandelns und den parlamentarischen Fahrplan mit Blick auf einen parteipolitischen Konsens geht (vgl. Kap. 3.3.2.4 und 3.4.1.1). Über Innenminister Schily und seinen kurzen Draht zu Bundeskanzleramt und Parteivorstand ist dieser Austausch gewährleistet. Auch die Bundestagsfraktion von CDU/CSU pflegt nach Angaben des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Bosbach keine informellen Kontakte in die Kommission und verfolgt deren Arbeit nur über die Medienberichterstattung (vgl. Interview Bosbach: 13ff.). Dies ist jedoch unzutreffend. Das Kommissionsmitglied Horst Eylmann gab im Interview an, ein längeres persönliches Gespräch mit Bosbach geführt zu haben, nachdem dieser an der Sammelanhörung der Fraktionsvertreter aus terminlichen Gründen nicht habe teilnehmen können (vgl. Interview Eylmann: 42ff.). Das Büro Bosbachs steht daneben mit Christoph Kannengießer – Sprecher der Arbeitsgruppe II und neben Süssmuth und Eylmann ebenfalls CDU-Mitglied – zeitweilig im thematischen Kontakt.433 Auf indirektem Wege kommt es ohnehin zu einem Austausch der Ideen mit der Union, die lediglich nach außen Distanz wahrt. Denn einerseits sind Süssmuth und ihre Kollegen sehr am Fortgang der Arbeiten in der CDU-Zuwanderungskommission interessiert, andererseits greift die 433
dokumentierte Hintergrundinformation.
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Müller-Kommission direkt und nachhaltig auf die Fachkompetenz von Kannengießer und seiner Arbeitsgruppe in der Süssmuth-Kommission zurück: Ich hatte […] ein Gespräch mit Peter Müller. Da ging es zum einen darum, auch in diese Kommission den Input einzubringen, den wir seitens der Arbeitgeberverbände einzubringen hatten. Da hatte man im Grunde einen anderen Hut auf. Aber es ging natürlich […] auch darum, mal zu gucken: Wo laufen eigentlich unsere Überlegungen synchron? Ich habe dann auch an einer Sitzung der Kommission der Union teilgenommen und bin dort intensiv befragt worden (Interview Kannengießer: 23).
Auch auf der Spitzenebene der Kommissionen – zwischen den Parteikollegen Müller und Süssmuth – findet ein Austausch der Positionen statt.434 Darüber hinaus ist von einer Vielzahl weiterer Kontakte zum informativen Austausch innerhalb des migrationspolitischen Netzwerkes in Berlin – zwischen Kommission, Regierung, Ministerialbürokratie, Fraktionen, Parteien, Experten und Verbänden – auszugehen, die zu ihrem ganz überwiegenden Teil im persönlichen Gespräch stattfinden (vgl. Interviews Schnoor: 202, Sonntag-Wolgast: 28; Stadler: 33). Dabei kommt es auch zu unkonventionellen Berührungspunkten, etwa zwischen Bündnis 90/Die Grünen und der Müller-Kommission (vgl. Interview Özdemir: 54) oder zwischen dem Sprecher der AG II der Süssmuth-Kommission und den Wirtschafts- und Arbeitsmarktexperten der FDP-Fraktion im Bundestag (vgl. Interview Kannengießer: 23).
Vermeintlicher Konsens Die formelle Einbindung der Parteien verfolgt die Kommission über eine Anhörung der Bundestagsfraktionen, die an zwei Terminen Anfang April stattfindet. Für die Union nimmt der Stellvertreter im Fraktionsvorsitz Wolfgang Bosbach teil, die Interessen von Bündnis 90/Die Grünen vertritt die Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller, während auf Seiten der PDS Petra Pau und bei den Liberalen der innenpolitische Sprecher Max Stadler angehört werden. Um die Interessen der Länder (und der CSU) zu vertreten, dürfen sich außerdem die Innenminister von Bayern und NRW, Günther Beckstein und Fritz Behrens, äußern. Die SPD verzichtet auf ihre Teilnahme, da sie zu diesem Zeitpunkt gerade ihre eigenen Eckpunkte fertigstellt und diese noch nicht diskutieren will: »Struck schickte uns ein lapidares Fax, dass die SPD keinen Beratungsbedarf hat.« (Interview Bierhoff: 93)435 Für die Entscheidungsfindung innerhalb der Kommission sind die Anhörungen nachrangig bzw. kaum mehr relevant. Doch gerade weil zu diesem Zeitpunkt die Richtung der Politikempfehlungen bereits weitgehend feststeht, haben die Termine einen wichtigen Zweck: Sie dienen der Kommission dazu, ihr Konzept in einer vor-öffentlichen Phase bei den Parteien zu »testen«, und eine sachorientierte und von parteipolitischen Profilierungserfordernissen weitgehend befreite Reaktion zu erhalten. Gleichzeitig möchte die Kommission von sich aus bereits während ihrer Arbeit auf die Institutionen der Gesetzgebung einwirken, den Stand der Beratungen weitergeben, um den Gesetzgebungsprozess frühzeitig zu unterstützen; dazu führt Süssmuth u.a. zwei Gespräche mit Bundeskanzler Schröder und trifft auch mehrfach mit Innenminister Schily zusammen (vgl. Interview Bierhoff: 178). 434 Peter Müller betont bei der Vorstellung des von ihm verantworteten Kommissionsberichts, zwischen ihm und Rita Süssmuth gebe es keine tief greifenden Meinungsverschiedenheiten (vgl. SZ vom 30. April 2001: 12). 435 vgl. auch SZ vom 16. Mai 2001: 1 sowie FAZ vom 17. Mai 2001: 4.
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Zum Zeitpunkt der Parteienanhörungen der Kommission im April 2001 stehen die Zeichen stärker denn je auf einer parteipolitischen Konsenslösung, selbst Teile der CSU sind offenbar bereit, sich in Richtung der Regierung zu öffnen: Der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber nimmt öffentlich vom Junktim des Zuwanderungsgesetzes mit der Grundgesetzänderung beim Asyl Abstand, die angehörten Vertreter der Union halten sich mit negativen Äußerungen zu den Plänen der Kommission der Presse gegenüber merklich zurück. Als Bosbach bei der Kommission war: Eitel Freude, als man sich verabschiedete und man sagte: »Na ja, [...] was wir da vorschlagen, das wird ja doch auch in der Opposition auf Akzeptanz stoßen...« Ich hab selbst ja auch viel mit [Peter] Müller gesprochen und der war eigentlich immer der gleichen Auffassung von dem, was wir da niedergeschrieben hatten (Interview Bierhoff: 144).
3.3.3 Public Relations: »Wen müssen wir mitnehmen?« 3.3.3.1 Pressearbeit und Medieninteresse: »Praktisch in Konklave getagt« Zwischen dem 13. September 2000 und dem 3. Juli 2001 finden weder Pressekonferenzen statt, noch werden offizielle Mitteilungen herausgegeben. Dieser zurückhaltende Umgang mit Presse und Öffentlichkeit wird in den ersten Sitzungen im Plenum der Kommission intensiv diskutiert (vgl. Zinterer 2004: 277). Die Vorsitzende der Kommission legitimiert den damit verbundenen Mangel an Transparenz mit der Aussicht auf ungestörte und gründlichere Erörterungen – und damit höherer Output-Qualität: Wenn sie laufend vor die Öffentlichkeit treten, dann ist offenbar die Öffentlichkeit wichtiger als die Arbeit und da muss ich sagen: Es muss eine Zeit der Arbeit und eine Zeit der Öffentlichkeit geben, damit man auch mal in Ruhe unterschiedliche Konzepte durchdenken kann. (Interview Süssmuth: 129)
Paragraf 2 Abs. 2 der Geschäftsordnung (vgl. Anhang 6) verfügt dementsprechend: »Über die Beratungen und deren Ergebnis ist von allen Beteiligten Vertraulichkeit zu wahren.« Über den Stand der Arbeit soll gemäß der Absprache allenfalls die Vorsitzende Auskunft geben. Im Verlauf der Kommissionsarbeit wird ein hohes Maß an Geschlossenheit erreicht, dennoch wird der Grundsatz der Vertraulichkeit an verschiedener Stelle durchbrochen. Ralf Fücks will als Kommissionsmitglied den Kontakt zu Presse und Öffentlichkeit nutzen, um für ein einwanderungsfreundliches Klima zu werben und die progressiven Debatten innerhalb der Kommission transportieren. In einer frühen Phase der Arbeit wird er ausführlich in einem Beitrag der Zeitung »Die Welt« zitiert, u.a. mit der Aussage, die Kommission diskutiere eine Amnestieregelung für so genannte Illegale und werde sich bei deren Ausgestaltung von französischen und belgischen Erfahrungen leiten lassen.436 Die Kommission reagiert auf diesen Vorstoß mit Missgunst, die Vorsitzende sieht sich zu einer harschen und deutlichen Reaktion genötigt, die offenbar maßgeblich dazu beiträgt, dass die Disziplin im weiteren Verlauf der Arbeit gewahrt wird.437 »Wir haben […] bis zur Erstellung der Erstfassung der Endfassung praktisch in Konklave getagt« (Interview Bierhoff: 43). 436
vgl. Die Welt vom 17. Oktober 2000: 3. vgl. Interview Bierhoff: 43 sowie Die Welt vom 18. Oktober 2000, in der Süssmuth wiedergegeben wird: »Die […] Auffassungen von Ralf Fücks stellen nicht die Auffassung der Zuwanderungskommission dar. Die Behauptung, sie ziehe derartige Vorhaben in Erwägung, entspricht nicht dem Stand der Beratungen in der Kommission. Einzelmeinungen von Kommissionsmitgliedern sind nicht Auffassung der Kommission.« (ebd.: 4) 437
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Besonders im Frühjahr 2001 werden jedoch Informationen an die Presse weitergegeben, wobei als Quelle anonym auf »interne Kreise« bzw. die »Aussagen eines Teilnehmers« verwiesen wird.438 Eine im April 2001 vom DGB veranstaltete Pressekonferenz zum Thema Zuwanderung und Integration erregt abermals Unmut innerhalb der Kommission. Das Kommissionsmitglied Heinz Putzhammer erläutert in seiner Funktion als Präside des DGBBundesvorstandes die Vorstellungen der Gewerkschaften.439 Da Putzhammer in Personalunion für DGB und Kommission zu sprechen scheint, werden seine Aussagen in der Presse mit der Kommission verbunden.440 Das Vorgehen wird jedoch von Putzhammer intern gerechtfertigt und die Irritation ausgeräumt (vgl. Interview Putzhammer: 162).
Hintergrundgespräche und indirekte Pressearbeit Der von der Kommission gepflegte Kontakt zu den Medien beschränkt sich auf wenige Hintergrundgespräche mit ausgewählten, meinungsbildenden Redakteuren der überregionalen Zeitungen, an denen die Vorsitzende bzw. einzelne Mitglieder der Kommission sowie Süssmuths Büroleiter Bierhoff teilnehmen (vgl. Interviews Bierhoff: 63f.; Münz 2001: 11). In der Presse herrscht ein relativ zuwanderungsfreundliches Klima, durch ihre Nähe zur Wirtschaft setzen sich auch konservative Medien wie die FAZ wohlwollend mit der Kommission auseinander, eher linksliberale Blätter wie SZ oder FR unterstützen ihre Linie voll (vgl. Interview Schnoor: 250). Vereinzelt werden auch Namensartikel von Süssmuth formuliert oder einer der Vorsitzenden gibt ein Interview.441 Laut Bierhoff geht es dabei jedoch weniger um konkrete Inhalte als vielmehr darum, im Hintergrund für den Ansatz der Kommission zu werben und die groben Strukturen der notwendigen Veränderungen in der deutschen Zuwanderungspolitik zu benennen: Einerseits aus demographischen und arbeitsmarktpolitischen Gesichtpunkten Einwanderung zu befördern, andererseits – im Sinne eines psychologischen Gegeneffekts – in restriktiver Rhetorik klare integrationspolitische Anforderungen an Einwanderer, wie eine Spracherwerbspflicht, zu stellen (vgl. Interview Bierhoff: 53).
438 Im »Spiegel« werden u.a. Diskussionsstände der Kommission zum geplanten System der Aufenthaltstitel wiedergeben (vgl. Der Spiegel Nr. 16 vom 14. April 2001: 44ff.), die Berliner Zeitung berichtet über die Empfehlung, ein allzuständiges Bundesamt für Migration einzurichten (vgl. Berliner Zeitung vom 17. April 2001: 1ff.). 439 vgl. »Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die Regelung der Einwanderung«, Beschluss der Arbeitsgruppe Zuwanderung des DGB-Bundesvorstandes vom 13.03.2001 (http://www.dgb.de/themen/themen_a_z/abiszdb/abisz_search?kwd=Zuwanderung&showsingle=1, 16.12.2005) sowie »Einwanderung gestalten – Positionen des Deutschen Gewerkschaftsbundes für die Regelung der Einwanderung«, Zusammenfassung der Beschlüsse des DGB-Bundesvorstandes vom 3. April 2001 und der Arbeitsgruppe Zuwanderung vom 13. März 2001 (http://www.dgb.de/themen/themen_a_z/abiszdb/abisz_search?kwd= Zuwanderung&showsingle=1, 16.07.2009). 440 vgl. insb. Vera Gaserow, »Experten wollen Zahl der Zuwanderer klein halten«, FR vom 18. April 2001: 4. 441 vgl. etwa FR vom 2. November 2000: 1, 4; Die Welt vom 23. Dezember 2000; FAZ vom 1. Februar 2001: 2; SZ vom 28. April 2001: 5; Interview mit Süssmuth, taz vom 19.12.2000: 3; Interview mit Vogel im Deutschlandfunk, 30.10.2000.
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Die »Spiegel-Affäre« Rund sechs Wochen vor der geplanten Berichtsübergabe hat die Redaktionsgruppe des Arbeitsstabes eine Rohfassung des Gesamtberichts zusammengestellt, die nur in geringer Stückzahl vervielfältigt und an die Kommissionsmitglieder verteilt wird (vgl. Interview Holthey: 56). Doch wenige Tage später werden die Vorschläge der Kommission publik; der Grundsatz der Vertraulichkeit ist erneut jäh durchbrochen. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel sowie mehrere Zeitungen berichten am 28. und 29. Mai in Artikeln Details aus der Expertise, die offenbar zunächst dem »Spiegel«, am selben und nächsten Tag aber auch anderen Redaktionen zugespielt worden ist;442 Spiegel Online veröffentlicht am 30. Mai 2001 in einer eingescannten Fassung gar »exklusiv« den gesamten Berichtsentwurf, der das Datum vom 22. Mai trägt.443 In der Kommission sind »alle geplättet« (Interview Holthey: 60). Der für den Kontakt zur Presse zuständige stellvertretende Leiter des Arbeitsstabes Hartwig Bierhoff bemüht sich um Schadensbegrenzung und erwirkt im direkten Telefonat mit dem Leiter von Spiegel Online eine Unterlassung aufgrund der presse- bzw. urheberrechtlichen Brisanz (vgl. Interviews Bierhoff: 79; Holthey: 56). Nach kaum zwei Tagen Online-Präsenz verschwindet der Berichtsentwurf wieder aus dem Netz – Zeit genug für die politischen und gesellschaftlichen Akteure im Bereich der Migrationspolitik, die Details der Vorschläge wahrzunehmen und über ihre Netzwerke zu verbreiten. Auch im politischen Raum verfehlt das »Durchstechen« seine Wirkung nicht, scheint bei den Sozialdemokraten sogar vorab bekannt zu sein, wie die Tageszeitung vermutet: Denn just am Tag bevor der Spiegel die wichtigsten Inhalte des Kommissionsberichtes veröffentlicht, spricht sich SPD-Generalsekretär Müntefering in der Bild am Sonntag gegen zentrale Vorschläge der Kommission aus. Zuwanderung käme nur bei akutem Arbeitskräftemangel in Frage.444 Auch Schily kommt die Vorabveröffentlichung aus strategischen Gründen entgegen (vgl. dazu Kap. 3.3.2.3). Obwohl der Sachverhalt intern nicht aufgeklärt werden konnte (vgl. auch Zinterer 2004: 277f.), schien es auch einigen der interviewten Kommissions- bzw. Stabsmitgliedern wahrscheinlich, dass das BMI selbst – über die Geschäftsstelle oder ein Mitglied der Kommission – für die Lancierung der Rohfassung an den Spiegel gesorgt hatte, um einen medialen Testballon steigen zu lassen.445 Den Verdacht, dass entweder der Leiter der Geschäftsstelle von Holthey oder ein weiterer BMI-loyaler Stabsmitarbeiter das Papier weitergab, äußerte auch der stellvertretende Leiter der Geschäftsstelle:
442 Auf dem Titel der Spiegel-Ausgabe Nr. 22/2001 vom 28. Mai prangt ein Banner: »Konzept Einwanderung – Das 270-Seiten-Papier der Regierungskommission«. Vgl. auch die Artikel »Jedes Steinchen umgedreht« sowie »Zeigen die mich an?«, Der Spiegel Nr. 22 vom 28. Mai 2001: 22-25. Ferner: »Deutschland einwanderbar«, taz vom 28. Mai 2001: 1; »Einwanderung mit Quoten und Punkten«, Berliner Zeitung vom 29. Mai 2001: 2; »Mal mutig, mal unverbindlich«, FR vom 29. Mai 2001: 4; »Plädoyer für Gesetz«, taz vom 29. Mai 2001: 2. 443 Wegen der Datenmenge ist das eingescannte Dokument in sechs Dateien gestückelt, die insgesamt ein Downloadvolumen von fast 20 Megabite aufweisen (http://www.spiegel.de/politik/deutschland, 30.05.2001); von dort stehen die Dateien zum Download bereit. Am gleichen Tag dokumentieren auch taz und Frankfurter Rundschau zentrale Passagen des Textes; in der Bundestagsdebatte vom 31. Mai 2001 nimmt bereits ein Abgeordneter aus der SPD-Fraktion Bezug zu dem Dokument (vgl. »Punktesammeln bei der Zuwanderung«, FR vom 30. Mai 2001: 18 sowie »Vor allem junge, gut qualifizierte Menschen«, taz vom 30. Mai 2001: 3; MdB Rüdiger Veit, BT-Pl.Pr. 14/173 vom 31. Mai 2001: 16994C). 444 vgl. Lukas Wallraff, »Gut ist, was der CDU gefällt«, taz vom 28. Mai 2001: 1. 445 vgl. auch Fn. 61.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess Es gab aus dem Mitarbeiterstab auch nur einen, der diesen engen Draht dorthin zum Ministerium gehalten hat und der hat wahrscheinlich im Vertrauen auf die ihm gegebene Zusicherung, dass das nur den Minister erreicht oder […] den Abteilungsleiter, das Ding da liegen lassen. (Interview Bierhoff: 112)
Holthey selbst erläuterte indes die zweifache win-win-Situation für die Kommission, die sich aus der Vorveröffentlichung ergibt: Erstens ist schon diese Arbeitsfassung gelobt worden. Das war schon mal gut für das Klima in der Kommission. […] Aber diese Internetveröffentlichung durch den Spiegel bewirkte in gewisser Weise auch [...] eine Selbstbindung der Kommission, das heißt: […] grundsätzlich kam sie davon nicht mehr runter – wollte auch nicht mehr davon runter, weil das schon eine positive Resonanz gefunden hatte. (Interview Holthey: 58ff.)
3.3.3.2 Öffentlichkeitsarbeit: »Give it a face« Das massive going public der Kommission erfolgt erst bei Vorlage des Kommissionsberichtes, obwohl bereits der Monat Juni von einer öffentlichen Debatte um den erwarteten Entwurf des BMI und die Konsenschancen mit der Union bestimmt ist (vgl. Kap. 3.4.1.1). Am Tag der Berichtsübergabe an Innenminister Schily erscheint ein programmatischer Artikel der Vorsitzenden, der insbesondere Zuwanderungserfordernisse trotz Arbeitslosigkeit – eine der Hauptthesen der Kommission – propagiert.446 Die formale Arbeit der Kommission und ihres Arbeitsstabes ist jedoch mit der Berichtsübergabe beendet, so dass keinerlei strategische oder organisierte Öffentlichkeitsarbeit stattfinden kann. Neben dem 323-seitigen Kommissionsbericht wird lediglich eine 16seitige Broschüre mit der Kurzfassung veröffentlicht. Der Vertrieb (kostenloser Versand nach schriftlicher Bestellung) erfolgt über das BMI. Auf dessen statischer Website stehen der Abschlussbericht und die Gutachten zum Download bereit; andere Mittel der Öffentlichkeitsarbeit bleiben völlig ungenutzt. Auch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung orchestriert den Bericht nicht mit zusätzlichen Publikationen oder Kampagnen. Die Bemühungen um Akzeptanz in der Öffentlichkeit bleiben dem persönlichen Engagement der Kommissionsmitglieder anheim gestellt: Einige werben im Rahmen von Erklärungen, Interviews und Namensartikeln in überregionalen Medien für die Inhalte des Berichts,447 nehmen an öffentlichen Podiumsdiskussionen teil448 oder platzieren Beiträge in Fachzeitschriften (vgl. z.B. Bogai 2001, 2002, 2003). Die Chancen für breite Öffentlichkeitsarbeit sind günstig, da in Teilen der Gesellschaft eine engagierte Zuwanderungsdebatte läuft und die Kommissionaten zahlreiche Anfragen erhalten: Es ist rührend, wenn die Stadt Wilhelmshaven anruft und sagt: »Wir haben jetzt auch ein multikulturelle Woche und Sie sollen die eröffnen!« Ich hab vieles davon gemacht, weil ich gedacht habe, es ist wichtig die Botschaft der Kommission zu verkaufen [...] – give it a face. (Interview Münz: 141)
446
vgl. Rita Süssmuth, »Deutschland braucht Zuwanderung«, FAZ vom 4. Juni 2001: 14. vgl. z.B. Rainer Münz, »Wir müssen uns öffnen«, Die Zeit Nr. 28 vom 5. Juli 2001: 4, sowie ders. (2001a); »Niethammer sieht breiten Konsens bei Zuwanderung«, FR vom 10. Juli 2001: 5; Ralf Fücks, »Die Mängel des Schily-Papiers«, taz vom 14. August 2001: 12; ders., »Ausweg nach vorn«, Die Zeit Nr. 37 vom 6. September 2001: 6; Christoph Kannengießer, FTD vom 11. Juli 2001: 10 sowie vom 6. August 2001: 10; Putzhammer (2001); mit z.T. starken Vorbehalten: Hailbronner (2001) . 448 Zahlreiche Akademien und Stiftungen lassen auf Veranstaltungen die Politikvorschläge diskutieren; die Heinrich Böll Stiftung veranstaltet z.B. am 12. Juli 2001 eine ganztätige »Öffentliche Anhörung zu den Empfehlungen der Zuwanderungskommission«, an der u.a. fünf Kommissionsmitglieder als Diskutanten teilnehmen. 447
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Den Bemühungen der Kommissionsmitglieder, für die Ziele der Kommission und deren Umsetzung zu werben, werden jedoch durch die scharfe politische Debatte und das relativierende Handeln des BMI zunehmend konterkariert: Wir düsen durchs Land, wir sind sehr gefragt, aber wir fühlen uns immer mieser dabei, weil wir eigentlich nicht so richtig wissen: Verkünden wir etwas, das längst in der Mottenkiste verschwunden ist? (Interview Schmalz-Jacobsen: 240)
Bundesregierung und BMI wollen gar nicht ernsthaft für die Inhalte des Kommissionsberichtes werben, da sie ihn nur als einen Beitrag zur Politikformulierung sehen. Eine proaktive Vermittlungsfunktion in die Öffentlichkeit hinein bleibt dadurch aus. Aus gleicher Motivation verweigert sich die Bundesregierung einem Vorschlag der FDP in den Beratungen zum Bundeshaushalt 2001, den über das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung verwalteten Etat der Ausländerbeauftragten um 1 Million DM zu erhöhen, um durch Öffentlichkeitsarbeit die Akzeptanz in der Bevölkerung für ein Einwanderungsgesetz herzustellen: Im Haushaltsausschuss wird der Antrag gemeinsam von SPD, Grünen und Union abgelehnt.449 Die mangelhaften Anstrengungen der Bundesregierung in Sachen Öffentlichkeitsarbeit prangert im Nachhinein auch die Kommissionsvorsitzende an: Die Tatsache, dass sich die Bundesregierung nicht bereit gefunden hat, aufzuklären über den Gesetzesentwurf, auch während des Wahlkampfes, halte ich für einen großen Fehler. [...] bei einem so schwierigen und sensiblen Thema brauchen sie ganz viel Öffentlichkeitsarbeit. (Interview Süssmuth: 148)
Denn auch wenn die publizierten Reaktionen von Interessengruppen und zivilgesellschaftlichen Akteuren meist wohlwollend sind und seit der Einführung der Greencard ein öffentlicher Meinungswandel stattgefunden hat, bleibt ein großer Teil der Bevölkerung, an deren Meinung sich nicht zuletzt Union und SPD orientieren, zuwanderungsskeptisch (vgl. etwa die demoskopischen Ergebnisse in Abb. 10 und 11).450 Der Verzicht auf eine proaktive Kommunikation der Kommissionsergebnisse und Akzeptanz schaffende Maßnahmen können letztlich als gewichtige – freilich in ihrer letztendlichen Wirkung nicht genau taxierbare – Faktoren für die spätere Agonie des Zuwanderungsgesetzes gewertet werden.
3.3.4 Kommissionsprozess: Zusammenfassung und Zwischenfazit Die Analyse des Arbeitsprozesses der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« ergibt ein vielschichtiges Bild. Der Kommissionsauftrag ist in der durch das Ministerium vorgegebenen Arbeitsgrundlage zwar expliziert formuliert, über das interne Vorgehen entscheidet die Kommission jedoch autonom. Daraus ergibt sich für die Zuwanderungskommission auch eine mehr oder weniger »versteckte Agenda«: Die Konsensvorbereitung. Neben Arbeitsorganisation und der Allokation von Wissensressourcen spielen dabei Verfahrensfra449
vgl. Antrag der »AG Haushalt« der FDP-Bundestagsfraktion zum Entwurf des Bundeshaushalts 2001, Einzelplan 11 – Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Kapitel 1109, Titelgruppe 02, Titel 542 21 vom 23. Oktober 2000 (Ausschuss-Drs. 1974); Protokoll der 59. Sitzung des Haushaltsausschusses vom 9. November 2000 sowie BT-Pl.Pr. 14/133 vom 16. November 2000: 12808. 450 Zwar sprechen sich bei Meinungsumfragen 2001 über 60% der Bevölkerung für ein Einwanderungsgesetz aus. Weiterhin meint jedoch die jeweils deutliche Mehrheit, ein solches Gesetz sollte den Zuzug verringern bzw. müsse durch eine Neuregelung des Asylrechts begleitet werden, da die Grenze der Zuwanderung erreicht sei (vgl. dazu auch Abb. 10 und 11)
274
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
gen eine herausgehobene Rolle. Im Hinblick auf verallgemeinerungsfähige Thesen zur institutionellen Funktion und zum internen »Funktionieren« von Regierungskommissionen lassen sich folgende Ergebnisse festhalten:
Wissensmanagement, Zeitdruck und Arbeitsökonomie Unter Mithilfe eines kompetenten Sekretariats müssen unabhängige Regierungskommissionen einen Ablaufplan für ihre Arbeit entwickeln, der u.a. maßgeblich durch den Arbeitsauftrag und die Zeitvorstellungen von Seiten der Regierung mitbestimmt wird und sich grob in drei Phasen unterteilen lässt. Auf Grundlage der z.T. unterschiedlichen fachlichen Prädispositionen der Kommissionsmitglieder muss zunächst das verfügbare Wissen zusammengetragen werden (Bestandsaufnahme). In der zweiten Phase geht es darum, mit Blick auf den Kommissionsauftrag durch Gutachten und Anhörungen Wissens-Desiderate zu beheben und mögliche Reformfolgen abzuschätzen (Investigation und Auswertung). Der letzte Schritt besteht darin, auf der Grundlage des Policy-Wissens im Konsens ein Reformprogramm zu entwickeln und in einem Bericht niederzuschreiben (Empfehlungen). Das arbeitsökonomische Vorgehen entspricht damit einem im Zusammenhang mit der Arbeit parlamentarischer Enquete-Kommissionen beschriebenen »Grundsatz der Dreiteilung« (vgl. Gayl 1993: 68f.). Im Gegensatz zu den oft mehrere Jahre tätigen Enquetes erstellt die Kommission einen umfangreichen Bericht in nur neun Monaten, was auf mindestens drei Faktoren zurückzuführen sein könnte: höhere Sitzungsfrequenz, geringes Dissensaufkommen sowie bessere Arbeitseffizienz.
Führung, Entscheidung und Konsens in Gremien Durch den großen Kreis beteiligter Akteure und ihre interessenpolitische Herkunft ist die interne Konsensfindung dennoch nur unter großen Anstrengungen möglich. Sie bedarf zielgerichteter und konsistenter Führungsarbeit sowie vertraulicher Beratungsprozesse. Die Konsenschance wird durch die relative Abwesenheit verteilungspolitischer Fragen ebenso erleichtert wie durch einen konstruktiven Umgang mit Dissens durch prozedurales Verhandeln. Dies befördert gremieninternes Policy-Learning und damit den Wissenstransfer. Mit der Zusammenkunft als Gruppe unter weitgehend neutraler Leitung, der Verständigung auf Geschäftsordnung und Arbeitsplan, offener und arbeitsteiliger Deliberation sowie Entscheidungen und deren »Implementation« im Kommissionsbericht erfüllt der Kommissionsprozess der Süssmuth-Kommission nahezu mustergültig die Schritte eines Konsensbildungsprozesses (vgl. Susskind 2006: 284f.). Die scheinbar ausgewogenen Besetzung mit Personen, die in der Vergangenheit wichtige Funktionen für ihre jeweilige Partei wahrgenommen haben, ist eher als formale Maßnahme zu erkennen, um die überparteiliche Legitimationskraft nach außen zu stärken. In den kommissionsinternen Prozessen spielen parteipolitisch interpretierbare Konflikte keine herausragende Rolle, vielmehr stehen Auseinandersetzungen in der Sache im Vordergrund. Damit erweisen sich sowohl die strategischen Auswahlüberlegungen des BMI mit Betonung der Berufung von »Persönlichkeiten« als auch die dieser Explikation entsprechende Rollen- und Funktionenrezeption durch die Kommissionsmitglieder als konstitutiv für einen konsistenten Bericht.
3.3 Kommissionsprozess: Politikberatung im Policy-Netz
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Die Einhaltung der konstituierenden Geschäftsordnung sowie der Umgang mit Dissens innerhalb des Gremiums sind hingegen maßgeblich auf die Führungsarbeit durch die beiden Vorsitzenden zurückzuführen. Diese haben das Prinzip der Einhelligkeit für die Arbeit der Kommission verinnerlicht, um zu einem konsensualen Ergebnis im Kommissionsbericht zu kommen. Sind einhellige Entscheidungen nicht durch den Aufbau von Druck oder den Austausch von Argumenten zu erreichen (aber auch nur dann!), werden prozedurale Kompromisse geschlossen: Entweder in Form einer rhetorischen Würdigung der jeweiligen Minderheitenposition (Persuation, Majorisierung), durch Verzicht auf eine konkrete Empfehlung (Nicht-Entscheidung) oder durch Aussparen einer zur Entscheidung vorliegenden Frage (Nicht-Behandlung).
Netzwerk Für die Dauer ihres Mandates steht eine prominent besetzte und öffentlich installierte Regierungskommission im Zentrum des jeweiligen Policy-Netzes und wird damit Teil des Beratungsregimes. Politische, korporative, wissenschaftliche und gesellschaftliche Akteure sind entweder personell beteiligt, steuern – ungefragt oder im Auftrag der Kommission – Gutachten bzw. Stellungnahmen bei oder werden bei Anhörungen berücksichtigt. Dadurch ist die Kommission einer Vielzahl von Erwartungshaltungen, Forderungen und Einflussversuchen ausgesetzt. Ein großer Teil der dabei beobachtbaren Interdependenzen wird bereits mit der Berufung der Mitglieder und der Installation des Arbeitsstabes strukturell verankert. Auf der Ebene der Kommission können durch die mit der Arbeit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit sowie ihre Berichtstätigkeit Beteiligungen und Interesseneinfluss im prälegislativen, vorparlamentarischen Raum transparent und bis zu einem gewissen Grad auch nachvollziehbar werden. Eine zurückhaltende Pressearbeit durch Exklusivversorgung eines kleinen Netzwerks ausgewählter Journalisten kann deren Wohlwollen sichern und als Teil der Kommissions-PR die Akzeptanz der Vorschläge im öffentlichen Raum steigern. Im Falle der Zuwanderungskommission legt die Analyse des Einflusses der Sekretariatsmitarbeiter den Schluss nahe, dass es von Seiten der berufenden Regierungsinstitution durchaus berechtigt ist, die Besetzung der Posten in der Geschäftsstelle mit strategischen Überlegungen zu verknüpfen. Dies gilt sowohl im Binnenverhältnis auch im Kontakt nach außen; Einflusskanäle lassen sich hier insbesondere für das BMI und Bündnis 90/Die Grünen nutzen. Bei den Kommissionsmitgliedern selbst ist dagegen eher von einem reziproken Effekt auszugehen, der in ihre »Herkunftsinstitutionen« hinein wirkt.
Steuerungsrestistenz Eine unabhängige Regierungskommission, die den ihr verliehenen autonomen Status ernst nimmt, arbeitet und entscheidet nicht frei von externen Einflüssen, aber stets selbstbestimmt. Unmittelbare Steuerung durch die Kernexekutive bzw. die dort dominierende Partei ist ausgeschlossen. Zwar lassen sich bei der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« mehrere subtile kommunikative Kanäle belegen, über die externe Meinungen und Ideen – bis hin zu Textfragmenten – Eingang in ihre Arbeit finden, eine Beeinflussung im Sinne direkter Lenkung
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
lässt sich indes nicht nachweisen. An bestimmten, als Angriff auf ihre Unabhängigkeit empfundenen Punkten reagiert die Kommission Steuerungsversuchen des BMI gegenüber äußerst renitent. Sinnvoller Kooperation verweigert sie sich nicht, da sie auch auf Regierungsstellen angewiesen ist und auf die Akzeptanz ihrer Inhalte im ministeriellen Raum hofft.
Input-Legitimation und Authentizität Individuelle wie kollektive Anhörungstermine sind für einen Kommissionsprozess in mehrfacher Hinsicht bedeutungsvoll. Neben der Partizipation bzw. symbolischen Inklusion des »betroffenen« (auch parteipolitischen) Spektrums der organisierten Gesellschaft als Legitimationsstrategie dienen sie auch der Aggregation von Wissen, das von Verbänden und Experten durch ihre »informationelle Machtressource« (Wessels 1987: 289) bereitgestellt wird. Gegenüber der Einbringung schriftlicher Stellungnahmen und Expertisen können face-to-face-Begegnungen insbesondere eine Funktion erfüllen, die man mit der »Promotion von Impression und Authentizität« beschreiben könnte (vgl. Kap. 3.3.2.2). Nachhaltigkeit und Bedeutung der Anhörungen variieren jedoch naturgemäß stark. Auch die von der Kommission in Auftrag gegebenen Gutachten sind in punkto Funktion, Qualität und Wirkung sehr verschieden: Einige stellen der Kommission in zentralen Fragen Wissen als Entscheidungsgrundlage bereit. Andere dienen primär der Integration von Teilen der scientific community oder werden als ergänzende Gutachten vergeben, um eine Auswahl an verschiedenen Sichtweisen auf bestimmte Fragestellungen zu erhalten. Für den Einfluss eines Gutachtens auf den Kommissionsbericht sind darüber hinaus jeweils das Qualitätsniveau, der quantitative Umfang sowie das Eingangsdatum Ausschlag gebend.
Regierung als Agenda-Gestalter Auch wenn sie auf die Inhalte eines Kommissionsberichtes jenseits des ministeriell formulierten Arbeitsauftrages nicht steuernd einwirken kann, bleibt die Kernexekutive mit Blick auf den politischen Prozess ein machtvoller Agenda-Gestalter. Durch die infrastrukturelle Verankerung des Kommissionssekretariats innerhalb des Ressorts hat sie gegenüber allen anderen Akteuren einen informationellen Vorsprung. Sie entscheidet bereits während des Wirkens der Kommission, ob und inwieweit sie sich deren Vorschläge zu eigen macht und entsprechend öffentlich propagiert. In ihrer Kapazität, nachhaltig auf öffentliche Diskussionsprozesse einzuwirken, bleibt eine Kommission gegenüber der Exekutive, zu der finanzielle wie logistische Abhängigkeit besteht, in einer subordinativen Position. Dieses Ergebnis manifestiert sich im Falle der Zuwanderungskommission im strategischen Handeln des BMI, das den Bestrebungen des Expertengremiums z.T. sogar entgegenwirkt. Über das Sekretariat der Kommission stellt sie den Informationsfluss sicher, es gehört zu den expliziten Aufgaben des Geschäftsstellenleiters, die entsprechende Ministerialabteilung zu informieren. Zunächst strebt Innenminister Schily eine Vorveröffentlichung der Kommissionsergebnisse an, um sich mit einem eigenen Gesetzentwurf öffentlich positionieren zu können. Dies verweigert die Kommission. Dennoch kommt es bereits sechs Wochen vor Abschluss der Arbeiten zur Lancierung einer Entwurfsfassung des Berichtes.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
277
Nach Abschluss der Arbeit unterlässt es die Bundesregierung, offensiv für das Konzept zu werben. Verstärkt durch die zahlreichen konkurrierenden Konzepte der Parteien wird der Kommissionsbericht dadurch zu einer Position unter vielen degradiert, die zu einer allseits konsensfähigen Synthese zu verbinden Innenminister Schily sich aufschwingt. Aufgrund der Diskontinuität der Kommission obliegen Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für ihr Konzept dem persönlichen Engagement der Ex-Kommissionaten.
Zwischenfazit Legt man strenge Maßstäbe an, so kann die Süssmuth-Kommission nur schwerlich als wirklich »unabhängig« gelten. Es existierten zahlreiche personelle und thematische Berührpunkte und Überschneidungen mit anderen Akteuren der Migrationspolitik. Andererseits ist zu bedenken, dass eine Regierung bei der Installierung einer Kommission immer auf ihre eigenen Ressourcen zurückgreifen wird, insbesondere wenn es darum geht, Sachverstand und Infrastruktur von hoher Qualität für einen nur relativ kurzen Zeitraum bereit zu stellen. Unabhängig im Sinne von nicht institutionell eingebettet wären demnach nur solche Kommissionen, die formell vom Bundespräsidenten berufen würden und die – etwa nach dem Vorbild kanadischer Royal Commissions – über einen längeren Zeitraum arbeiten und mit ausreichendem Budget für einen festen, durch Planstellen gekennzeichneten Arbeitsstab ausgestattet sind (vgl. Schultze & Zinterer 1999, Zinterer 2004: 327f.). Auch in diesen Fällen ist absolute Unabhängigkeit nicht automatisch gewährleistet, da eine Vielzahl weiterer Faktoren Ausschlag geben können. Vielmehr sucht die Süssmuth-Kommission den Austausch mit dem politisch-gesellschaftlichen Umfeld, da sie die Chance sieht, dass ein von ihr konsensual beschlossenes Konzept zu einem Politikwechsel beitragen kann. Durch ihre »Eingebettetheit« in ministerielle Zusammenhänge sowie ihre Interaktion mit Wissenschaft und Parteipolitik gelangt sie ferner in Kenntnis dessen, was an Policy-Vorschlägen »möglich« und im politischen Bereich akzeptabel ist. Mit Blick auf das Abhängigkeits- und Interdependenzverhältnis zwischen der Kommission und dem BMI liegt es im Resultat nahe, von strukturell-logistischer Eingebettetheit bei inhaltlich-programmatischer Unabhängigkeit zu sprechen. Im Rahmen ihrer Möglichkeiten arbeitet die Kommission also autonom – jedoch keineswegs autark oder gar »autistisch«. Unter Beteiligung wissenschaftlicher, gouvernementaler, gesellschaftlicher, verbandlicher und parteipolitischer Akteure ist die Kommission über neun Monate Zentrum eines umfassenden Beratungsprozesses für eine Reform der Migrationspolitik. Über die Wirkungskraft und Nachhaltigkeit ihrer Arbeit ist damit jedoch keine Aussage zu tätigen. Diese offene Frage sucht das folgende Kapitel 3.4 zu klären. 3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus Dieses letzte Kapitel der Fallstudie widmet sich einerseits den politischen Vorgängen, die sich an die Präsentation des Kommissionsberichtes anschließen, andererseits Fragen der Programmimplementation. Die übergeordnete Fragestellung zur Untersuchung dieses »Post-Kommissionsprozesses« lautet: Was kann eine Regierungskommission bewirken? Dabei kommt man nicht umhin, einerseits die konkreten Ergebnisse des Kommissionsman-
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
dats zu betrachten, vor allem aber auch die Frage des Umgangs mit deren Programm zu ergründen: Verändern die Vorschläge den politischen Diskurs bzw. den legislativparlamentarischen Ablauf? Fließen sie in einen Gesetzentwurf ein? Und – wenn ja – erfüllen sie dabei die ihnen zugedachte Politikberatungs- bzw. Konsensfunktion oder werden sie durch Veto-Spieler relativiert? Aufgrund der Komplexität und Länge des Politikprozesses liegt der Schwerpunkt auf den zum Ausdruck kommenden institutionellen und akteursbezogenen Modi der Politikformulierung und Entscheidungsfindung, wie sie sich jeweils im Verhältnis zum Politikberatungsprozess qua Zuwanderungskommission darstellen.
3.4.1 Das erste Gesetzgebungsverfahren: »Im Papierkorb versenkt« 3.4.1.1 Referentenentwurf des BMI: »Plötzlich auf einem anderen Trip« Bei der Vorbereitung des Entwurfes sucht Schily die enge Kooperation mit dem Bundeskanzleramt, muss jedoch auf die SPD-Fraktion Rücksicht nehmen, in der die Pläne des Innenministeriums mit einigem Argwohn beobachtet werden (vgl. Kap. 3.2.1.2) und die eine eigene hochrangige Arbeitsgruppe, die sog. Stiegler-Kommission, mit den Politikinhalten beschäftigt (vgl. Kap. 3.2.4.5). Zunächst wird das strategische Vorgehen ohne den Koalitionspartner zwischen Minister, Kanzleramt und Fraktion abgestimmt. Dazu findet Anfang Mai ein erstes Treffen zwischen Bundeskanzler Schröder, Innenminister Schily, Kanzleramtschef Steinmeier und Fraktionsvize Stiegler statt. Daneben beschäftigt sich auch der SPD-Parteivorstand mit den Planungen. Zwischen Schily und der Fraktionsspitze besteht in der Folge ein enger Austausch.451 Wegen der unklaren Stimmenverhältnisse im Bundesrat wird die Erarbeitung eines »mehrheitsfähigen« Entwurfes – und damit ein Kompromiss zumindest mit Teilen der Union – als Ziel festgelegt.452 Bündnis 90/Die Grünen als kleiner Koalitionspartner müssen ähnlich wie bei der Installierung der Süssmuth-Kommission (vgl. Kap. 3.2.2.3) um ihren Einfluss kämpfen. Ihr grundsätzliches Dilemma bei der Gestaltung der Regierungspolitik: Ihre Ausgangsposition ist relativ schwach, da sie über keine potenzielle Koalitionsmöglichkeit jenseits der SPD verfügen; die Alternative zum Regieren besteht einzig im exiting in die Opposition (vgl. Kropp 2003: 29, Fn. 29; Patzelt 2004: 272). Da bereits Anfang Mai Gerüchte kursieren, nach denen Schily einen Alleingang plane und den zu diesem Zeitpunkt bereits weit fortgeschrittenen Gesetzentwurf unmittelbar nach der Süssmuth-Kommission veröffentlichen wolle, vereinbaren die Regierungspartner einen Termin für eine Koalitionsrunde beim Kanzler am 28. Mai, um das Vorgehen abzustimmen.453
451 Auch während der parlamentarischen Sommerpause hält Fraktionsvize Stiegler per Telefon eine derart intensive Kommunikation mit Schily in dessen Ferienhaus in der Toskana aufrecht, dass er danach angibt, nunmehr »jede Zikade in Italien« zu kennen (zit.n. Berliner Zeitung vom 4. August 2001: 2). 452 vgl. taz vom 16. Mai 2001: 7; FAZ vom 22. Mai 2001: 2 sowie SZ vom 22. Mai 2001: 5. 453 vgl. taz vom 22. Mai 2001: 6; SZ vom 19./20. Mai 2001: 5 sowie vom 28. Mai 2001: 6. Das weitgehend geheime Arbeiten am Gesetzentwurf ohne Vorabbeteiligung oder -inkenntnissetzung anderer Ressorts bildet eher eine Ausnahme (vgl. detailliert zum Vorlauf bei Gesetzgebungsvorhaben König, K. 2002: 406ff.).
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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»Müller-Bericht« und Inkantation des Konsenses Die Zuwanderungskommission des CDU-Präsidiums (vgl. Kap. 3.2.4.2) legt Ende April 2001 intern ihren umfangreichen und einstimmig verabschiedeten Bericht vor. Der schwierige parteiinterne Entscheidungsprozess lässt auf Abstimmung mit weiteren Akteuren schließen: Obwohl die CSU eine eigene Arbeitsgruppe berufen hatte (vgl. Kap. 3.2.4.2),454 habe sie »im Geiste mit am Tisch gesessen«.455 Das Müller-Konzept soll von Parteidelegierten gebilligt werden, wird jedoch auf dem Weg dort hin an unterschiedlichen Stellen verschärft.456 Zwischenzeitlich erfolgt zudem die Verständigung der Parteispitzen von CDU und CSU auf ein gemeinsames Positionspapier, das inhaltlich und terminologisch einen Kompromiss des Müllerschen CDU-Konzeptes mit den unter Leitung von Günther Beckstein erarbeiteten Eckwerten der CSU darstellt und – um den Druck auf die Bundesregierung zu erhöhen – als Antrag in den Bundestag eingebracht wird.457 Im Mai und Juni führt der Bundestag mehrere Debatten, die das Thema Zuwanderung betreffen. Innenminister Schily nutzt eine dieser Aussprachen, um bereits sechs Wochen vor Präsentation des Kommissionsberichtes an die Adresse der Union öffentlich für einen Konsens zu werben, obwohl sich CDU und CSU einer solchen Sichtweise bereits klar widersetzt hatten: Sie wissen, dass ich eine Kommission unter dem Vorsitz eines Mitglieds Ihrer Fraktion, einer herausragenden Persönlichkeit, Frau Professor Süssmuth, einberufen habe. […] Diese Kommission wird ihre Vorschläge demnächst vorlegen. Sie hat übrigens alles das, was etwa von Ihrer Parteikommission oder von anderen vorgelegt worden ist, in ihre Überlegungen einbezogen. […] Deshalb appelliere ich an alle, an diesem Konsens mitzuwirken.458
Bündnis 90/Die Grünen schließen sich dem Plan einer fraktionsübergreifenden Konsenssuche an. Nach der Präsentation des Süssmuth-Berichtes soll die SPD-Fraktion ihr Konzept vorstellen, dann Innenminister Schily Sondierungsgespräche mit der Union aufnehmen. Bundeskanzler Schröder begründet das Vorgehen der Regierung nachhaltig mit den Stimmenverhältnissen in der Länderkammer und relativiert gleichsam die Arbeit der SüssmuthKommission, in dem er sie rhetorisch auf eine Ebene mit den Parteipapieren bringt. Otto Schily wird auf der Basis der jetzt vorliegenden Konzepte, also des Müller-Papiers der CDU, dessen, was Frau Süßmuth und ihre Kommission vorlegen wird, dem, was die Grünen erarbeitet haben und dem, was die SPD-Fraktion in Vorbereitung hat, einen im Bundesrat mehrheitsfähigen Entwurf entwickeln. […]
454 Innerhalb der CSU etabliert sich im Laufe des Sommers 2001 das Diktum des bayerischen Innenministers Beckstein, das Zuwanderung normativ an rein utilitaristische Kriterien bindet und Migranten pauschal Schmarotzertum und Missbrauch unterstellt: »Wir müssen weniger von denen haben, die uns ausnutzen, und mehr von denen, die uns nützen.« (Dr. Günther Beckstein, BT-Pl.Pr. 14/99 vom 13. April 2000: 9249D). 455 vgl. SZ vom 30. April 2001: 12. 456 vgl. Kap. 3.2.4.2. Der »Abschlussbericht der Kommission ›Zuwanderung und Integration‹ der CDU Deutschlands« (fortan: Abschlussbericht der CDU-Zuwanderungskommission) stammt vom 28. April 2001. Das ursprüngliche, 87-seitige Papier wurde jedoch nicht breit veröffentlicht (Ausnahme: http://www.jum.badenwuerttemberg.de/servlet/PB/show/1142470/m_ller_kommission__abschlu_bericht_28.4.01_.doc.pdf, 13.10.2005). Erst die Beschlussfassung des Bundesausschusses vom 7. Juni 2001 in Berlin (»Kleiner Parteitag«) mit dem Titel »Zuwanderung steuern und begrenzen. Integration fördern« ist dauerhaft über die Internetseiten der CDU verfügbar (http://www.cdu.de/politik-a-z/zuwanderung/inhalt.htm#, 13.07.2009 bzw. http://www.cdu.de/db/ pabz.php?tid=83&sta=3, 07.12.2005). Zu den Änderungen im Einzelnen vgl. FAZ vom 7. Juni 2001: 4; SZ vom 14. Mai 2001: 6). 457 vgl. Antrag der CDU/CSU-Fraktion, BT-Drs. 14/6641 vom 3. Juli 2001 (s. Fn. 71). 458 BT-Pl.Pr. 14/171 vom 18. Mai 2001: 16738A/B.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess Wir sind in einer Situation, wo wir entweder ein Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates kriegen oder wir kriegen gar kein Gesetz.459
Auffällig ist zudem, dass nicht mehr von einem »gesellschaftlichen« bzw. »parteiübergreifenden Konsens« die Rede ist (die Positionen von FDP oder gar PDS werden nicht erwähnt), sondern von einem »mehrheitsfähigen Entwurf«. Die Union verweigert sich zwar offiziell gegenüber Konsensgesprächen im Vorfeld eines Gesetzentwurfes und verweist auf das parlamentarische Verfahren460 Dennoch beteiligen sich Unionsvertreter verschiedentlich an Gesprächen. Bereits in dieser prä-parlamentarischen Phase des Reformprojektes wird im parteipolitischen Raum ein grundsätzlicher Konsens beschworen, der sich insbesondere auf die weitgehende Kongruenz der Müller-, Süssmuth- und Stiegler-Konzepte gründet. Die beiden letzteren liegen zu diesem Zeitpunkt jedoch noch gar nicht vor.
Moderation und strategische Regierungspolitik Am 1. Juni 2001 kündigt Schily im Rahmen einer Pressekonferenz ein Artikelgesetz an und wiederholt seine Absicht, zu einem Konsens mit der Union unter weitgehender Berücksichtigung der Vorschläge der Müller-Kommission zu finden.461 Es entsteht der Eindruck, dass der politische Prozess auch ohne den offiziellen Bericht der Süssmuth-Kommission und die Position der SPD-Fraktion fortschreiten könnte. Sowohl gegenüber der von ihm eingesetzten Kommission, als auch gegenüber seiner eigenen Fraktion tritt Schily damit in eine Vorreiterposition. Er gedenkt das Gesetzgebungsverfahren zu dominieren und zwischen den Positionen zu moderieren. Gerade auf die SPD-Kommission unter der Leitung von Ludwig Stiegler übt Schily Druck aus und verweist gegenüber der Fraktion auf eine »bestimmte Rolle«, die er zu spielen habe.462 Dies ist deutlicher Ausdruck seiner Koordinierungsbemühungen: Wenn die Vorstellungen seiner eigenen Fraktion relativ nah bei denen der CDU liegen, kann der Minister mit seinem Entwurf die Brücke zur Opposition bauen. Nach der Berichtsübergabe der Zuwanderungskommission am 4. Juli 2001 bekennen sich nur Bündnis 90/Die Grünen und FDP in fast allen Punkten zu den Vorschlägen.463 Am gleichen Tag tritt der Bundestags-Innenausschuss unter Anwesenheit von Otto Schily zu einer Sondersitzung zusammen. Einziger Punkt der Tagesordnung: »Bericht der Vorsitzenden der Zuwanderungskommission, Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth, MdB, über das Ergebnis der Kommissionsarbeit«.464 Hier werden von den Ausschussmitgliedern Erwin Marschewski (CDU) und Hans-Peter Uhl (CSU) nahezu sämtliche von Süssmuth vorgetragene Vorschläge abgelehnt. Doch in der Union herrscht ein durchaus ambivalentes Meinungsbild, 459
Interview mit Bundeskanzler Gerhard Schröder, Berliner Zeitung vom 9. Juni 2001: 6. vgl. Fraktionsvorsitzender Friedrich Merz (SZ vom 30.05.2001: 1 sowie vom 1. Juni 2001: 5). 461 vgl. Berliner Zeitung vom 2. Juni 2001: 1; FR vom 2. Juni 2001: 1, 5; FAZ vom 2. Juni 2001: 2; vgl. auch das Interview mit Schily im »Spiegel« Nr. 23 vom 4. Juni 2001: 27ff. Bereits Mitte Februar wundert sich sogar der Vorsitzende der CDU-Zuwanderungskommission Peter Müller in einem Zeitungsinterview darüber, »in welchem Umfang der Minister mittlerweile die von der Bundesregierung selbst eingesetzte Zuwanderungskommission von Rita Süssmuth präjudiziert.« (SZ vom 17./18. Februar 2001: 8. In der Folge des Werbens durch Innenminister Schily für eine parteiübergreifende Verständigung prägen die Medien den Begriff der »Konsensfalle« (vgl. FR vom 26. Mai 2001: 3, vom 24. August 2001: 3; SZ vom 29. Mai 2001: 4). 462 vgl. dazu FR vom 27. Juni 2001: 3; vom 6. Juli 2001: 4; vom 7. Juli 2001: 5; Interview Stiegler: 103. 463 vgl. SZ vom 5. Juli 2001: 8; Interview Stadler: 39. 464 Protokoll der 65. Sitzung des Innenausschusses vom 4. Juli 2001. 460
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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das nicht zuletzt der Wortbeitrag der Abgeordneten Sylvia Bonitz verdeutlicht. Sie kritisiert Innenminister Schily explizit dafür, die Ergebnisse der Kommission in seine Überlegungen nicht ernsthaft einzubeziehen und sich auf Punkte festgelegt zu haben, die dem Bericht widersprechen.465 Koalitionspolitiker apellieren an die Union, die Kongruenzen zwischen Süssmuth- und Müller-Bericht zu erkennen. Obwohl die Gemeinsamkeiten mit dem eigenen Konzept tatsächlich bei Weitem überwiegen,466 gehen CSU und große Teile der CDU – einschließlich der Parteivorsitzenden Angela Merkel – öffentlich zunächst auf vollen Konfrontationskurs.467 Peter Müller versteigt sich sogar zu der dramatisierenden und deutlich an Überfremdungsängste appellierenden Einschätzung, im Falle seiner Umsetzung müsse man mit einer »Bruttozuwanderung« von bis zu 900.000 Menschen pro Jahr rechnen.468 In einer gemeinsamen Pressekonferenz der Unions-Innenpolitiker wird die Ablehnung jedoch relativiert. Obwohl es »keinen Konsens um des Konsenses willen« geben werde, deutet man Einigungsmöglichkeiten an: »[...] einige Vorstellungen der Süssmuth-Kommission, die zu einer Verschärfung des geltenden Rechts führen, stehen durchaus in Übereinstimmung mit der Konzeption der Union.«469 Innenminister Schily misst der Kommission zwar historischen Rang bei – Süssmuth habe sich »um unser Vaterland verdient gemacht«470 – meldet aber Vorbehalte gegen die skizzierten Zuwanderungsquoten an, widerspricht explizit einzelnen Überlegungen der Kommission und erklärt den Abgeordneten im Innenausschuss, er werde deren Empfehlungen zum Staatsangehörigkeitsrecht nicht unterstützen.471 Den Abgeordneten erläutert er, dass ein BMI-Entwurf bereits drei Wochen später in die Ressortabstimmung soll. […] wir haben natürlich nicht erst mal gewartet, wie das Kaninchen auf die Schlange, entschuldigen Sie Frau Süssmuth, das ist eine schlechte Methapher, also wir haben natürlich nicht die Hände in den Schoß gelegt. Wir haben uns schon darauf eingestellt, was in den unterschiedlichen Kommissionen erarbeitet worden ist, und haben versucht, das auch in die Gesetzgebungssprache einzupassen […].472
Nachdem sich quasi alle wichtigen Vertreter der Wirtschaftsverbände und die christlichen Kirchen kritisch gegenüber den ablehnenden Reaktionen der Union äußern und auch einzelne CDU-Landesverbände Nähe zu den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission andeu-
465
ebd.: 37. vgl. dazu die Bewertungen in der FAZ vom 5. Juli 2001: 3 sowie der SZ vom 5. Juli 2001: 4, 9 bzw. vom 9. Juli 2001: 4. 467 vgl. FAZ vom 5. Juli 2001: 1; SZ vom 5. Juli 2001: 1; vom 6. Juli 2001: 12; taz vom 5. Juli 2001: 1. Die durchaus auf der Linie der Union liegenden Kommissionsempfehlungen zur Aussiedlerpolitik werden öffentlich mit keiner Silbe erwähnt. In der gleichen Woche findet jedoch die zweite und dritte Beratung eines interfraktionell vorbereiteten Gesetzes zur Klarstellung des Spätaussiedlerstatus auf der Tagesordnung des Bundestages stehen. Hier bezieht sich der Abgeordnete Hartmut Koschyk (CDU/CSU) mehrfach positiv auf die Kommission und fordert die Bundesregierung auf, deren Vorschläge umzusetzen – allerdings nur in einer zu Protokoll gegebenen Rede (vgl. BT-Pl.Pr. 14/183 vom 6. Juli 2001: 18162D-18163A). 468 vgl. SZ vom 5. Juli 2001: 1. 469 Stellungnahme der Union zum Bericht der Regierungskommission zur Zuwanderungspolitik am 5. Juli 2001 von Peter Müller, Dr. Günther Beckstein und Wolfgang Bosbach, Pressekonferenz Nr. 120/2001 in der Bundespressekonferenz (http://www.cdu.de/politik-a-z/zuwanderung/inhalt.htm#, 15.10.2004); vgl. auch FAZ vom 6. Juli 2001: 4; taz vom 6. Juli 2001: 7. 470 zit.n. Berliner Zeitung vom 5. Juli 2001: 8. 471 vgl. 65. Sitzung des Innenausschusses (s. Fn. 464): 29ff. 472 65. Sitzung des Innenausschusses (s. Fn. 464): 33. 466
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
ten,473 korrigiert die CDU ihren Kurs. In der Präsidiumssitzung am 9. Juli warnen insbesondere Peter Müller, Volker Rühe, Jürgen Rüttgers, Wolfgang Schäuble und der Vorsitzende der Sozialausschüsse Hermann-Josef Arentz vor zu starker Konfrontationsrhetorik.474 Schilys Plan scheint zu greifen. Durch das strategische Vorgehen des Innenministers bei der öffentlichen Darstellung vermeintlich konsensfähiger Positionen und machtpolitische Erwägungen mit Blick auf ein Gesetzgebungsverfahren setzt sich die Abkehr vom PolicyKonzept der Zuwanderungskommission fort: »Eigentlich ist der Kommission gedankt worden und in dem Moment, wo ihr gedankt wurde, wurden die Ergebnisse auch schon – zumindest durch die Bundesregierung – im Papierkorb versenkt.« (Interview Pau: 54)475
Kompromissgesetz des Innenministers Als Otto Schily am 3. August 2001 seinen Gesetzentwurf präsentiert476 wird deutlich, dass Süssmuths Konzept darin nur als eines von vielen vorkommt. Der mit heißer Nadel gestrickte Referentenentwurf aus der Abteilung A versucht das scheinbar Unmögliche: es durch eine genuine Kompromisskonstruktion den relevanten politischen Akteuren recht zu machen.477 Im allgemeinen Teil der Begründung heißt es unter Verzicht auf die Nennung der »kleinen« Parteien, der Entwurf trage »sowohl den Empfehlungen der Unabhängigen Kommission ›Zuwanderung‹ als auch den von Parteigremien der SPD und der CDU erhobenen Forderungen […] in erheblichem Umfang Rechnung.«478 Mehrfach wiederholt Schily diese Darstellung öffentlich und nimmt damit endgültig Abschied vom zuvor propagierten, überparteilichen Konsensanspruch an die Unabhängige Kommission »Zuwanderung«: Nicht mehr deren Bericht, sondern der Ministerialentwurf erhebt den Anspruch, gewissermaßen Matrix und Symbiose der wichtigsten Positionen zu sein. 473 vgl. FR vom 9. Juli 2001; FAZ vom 10. Juli 2001: 39 sowie vom 11. Juli 2001: 5; SZ vom 11. Juli 2001: 4. Neben dem Vorsitzenden des CDU-Landesverbandes Nordrhein-Westfalen Jürgen Rüttgers (vgl. SZ vom 7./8. Juli 2001: 5) ist dies insbesondere der Landesverband Bremen, in dem sowohl der Fraktionsvorsitzende des Landtags Jens Eckhoff als auch der designierte Innensenator Kuno Böse das Konzept begrüßen (vgl. taz-Bremen vom 6. Juli 2001: 21). 474 vgl. FR vom 10. Juli 2001: 4; SZ vom 10. Juli 2001: 1. 475 Dies ganz im Gegensatz zu Schilys ursprünglicher Proklamation. »Für den Papierkorb soll die Kommission jedenfalls nicht arbeiten.« (Interview mit Otto Schily, Der Spiegel Nr. 24 vom 12. Juni 2000: 26) 476 Nach Bekanntwerden einzelner Überlegungen Schilys zum Asylrecht Ende Mai (s.o.) dringt von den Gesetzesvorbereitungen nichts mehr nach außen. Aus dem BMI heraus findet keinerlei Parlaments- oder Ressortkorrespondenz statt, so dass in der Koalition beklagt wird, man sollte beim Zuwanderungsgesetz nicht von einem Referentenentwurf, sondern von einem »Ministerentwurf« sprechen (Berliner Zeitung vom 3. August 2001: 3). Selbst der innenpolitische Sprecher der SPD Dieter Wiefelspütz ist nicht (bzw. fehl-)informiert: Eine Woche vor Entwurfspräsentation geht er davon aus, dass ein Punktesystem in dem Gesetzentwurf nicht enthalten sein werde (vgl. taz vom 25. Juli 2001: 1). Das Vorgehen steht im deutlichen Widerspruch zu den Vorschriften der Gemeinsamen Geschäftsordnung, nach der alle betroffenen Bundesministerien sowie Beauftragten frühzeitig in die Vorarbeiten und die Ausarbeitung eines Entwurfes einzubeziehen sind (vgl. § 45 Abs. 1 und 3 GGO-BM). 477 Diese Wahrnehmung spiegelt auch die Berichterstattung der Printmedien: »SPD + CDU + FDP + Grüne = Schily« (dpa, zit.n. FR vom 4. August 2001); »Otto Schily gibt jedem Zucker« (taz vom 4. August 2001: 3), »taktisches Bravourstück der Konsensdiplomatie« (FR vom 4. August 2001: 3), »taktisch […] eine Meisterleistung« (SZ vom 14. August 2001: 8). Im Hinblick auf zustimmungspflichtige Gesetze bei entgegenlaufenden Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat ist dieses Vorgehen in der These von der legislativen Autolimitation der Regierung theoretisiert worden (vgl. Burkhart & Manow 2006 sowie Kap. 1.1.2). 478 Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz – ZuwG) des BMI vom 3. August 2001: 117 (künftig: ZuwG-E/BMI).
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Der Entwurf bedeutet unter dem Titel »Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung« ein deutliches Zugeständnis an die Unionsparteien, denn sämtliche darin propagierten Ziele entsprechen CDU-Forderungen:
Zuwanderungserleichterung zum Zweck der Erwerbstätigkeit; Verbesserung der Steuerung und Begrenzung des Zuzugs von Ausländern; Verbesserung der Integration dauerhaft aufhältiger Ausländer; Vereinfachung des Ausländer- und Aufenthaltsrechts für Unionsbürger; Straffung und Beschleunigung des Asylverfahrens; Maßnahmen, die dem Missbrauch von Asylverfahren entgegenwirken.
Dennoch ist das Vorhaben ein Novum: Erstmals prospektiert ein Gesetzentwurf einer Bundesregierung arbeitsmarkt- und demographisch orientierte Zuwanderungstatbestände und regelt gleichzeitig die Integration von Immigranten – die Konstituierung der Bundesrepublik als Einwanderungsland. Dabei eröffnet Schilys Entwurf den Behörden durch »Kann«und »Soll«-Klauseln bei der Erteilung von Aufenthalts- bzw. Arbeitserlaubnistiteln große Ermessensspielräume, nicht nur im Bereich der Zuwanderung zur Erwerbstätigkeit.479
Erste Stellungnahmen Die ersten Bewertungen fallen durchweg positiv aus. Auf Seiten des Koalitionspartners sind Parteisprecherin Claudia Roth und die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck darum bemüht, die aus Sicht der Grünen begrüßenswerten Aspekte hervorzuheben; einige der geplanten Regelungen im Bereich Flucht und Asyl müssten jedoch noch überprüft werden.480 Auch die FDP begrüßt das Konzept; Schily sei ein »Quantensprung in der Zuwanderungspolitik gelungen.«481 In einer ersten Stellungnahme noch am Tag der Präsentation bewerten die Unionsparteien das Gesetz zwar als »ergänzungs- und veränderungsbedürftig und in der jetzt vorliegenden Form noch nicht akzeptabel«, loben aber die Distanz zum Süssmuth-Konzept und betonen deutlich ihre Anknüpfungspunkte, wobei noch vertiefender Prüfungsbedarf bestehe.482 Brandenburgs Innenminister und CDU-Präsidiumsmitglied Jörg Schönbohm betont, der Referentenentwurf könne »Basis für einen Kompromiss« sein; CSU-Generalsekretär Thomas Goppel übersendet Schily gar symbolisch einen Aufnahme479 In der Begründung wird mehrfach explizit auf behördliches Ermessen zur Wahrung der Flexibilität verwiesen, etwa bei der Erteilung der Niederlassungserlaubnis an Hochqualifizierte (vgl. Begr. zu § 19 ZuwG-E/BMI, s. Fn. 478: 143), bei der Grunderteilungsnorm für die Aufenthaltserlaubnis zur selbständigen Tätigkeit (Begr. zu § 21, ebd.: 146), bei der Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen (Begr. zu § 25 Abs. 5, ebd.: 151) oder beim sog. Kindernachzug (vgl. Begr. zu § 32, ebd.: 159). Auch Heribert Prantl sieht in diesem Zusammenhang rückwärtsgewandte Züge: Das Gesetz führe »zu einem kompletten Richtungswechsel: Das Schäuble-Gesetz von 1990 versuchte, an die Stelle von vagen Ermessensnormen klare Rechtsansprüche für Ausländer zu setzen […]. Schilys neues Ausländer- und Asylrecht geht den Weg zurück: Möglichst viel Ermessen für die Behörden, möglichst wenig fixe Ansprüche für weniger nützliche Ausländer und Flüchtlinge. Dieses Grundprinzip entspricht dem Ausländergesetz von 1965.« (SZ vom 3. September 2001: 4) 480 vgl. FR vom 4. August 2001: 5; PM der Beauftragten vom 3. August 2001 (http://archiv.integrationsbeauftragte.de/ gra/presse/presse_191.php.html; 05.07.2006). 481 Interview mit dem Parteivorsitzenden Guido Westerwelle, FR vom 9. August 2001: 4. Später kündigt Westerwelle sogar an, die Zustimmung der FDP sei sicher (vgl. FAZ vom 4. September 2001: 1). 482 vgl. PM Nr. 130/2001 von Peter Müller, Dr. Günther Beckstein und Wolfgang Bosbach »Gesetzentwurf greift teilweise Forderungen der Union auf. In der vorliegenden Form noch nicht akzeptabel« vom 3. August 2001.
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antrag seiner Partei und verweist dabei auf »für uns doch eher unerwartete Erklärungen zur Weiterentwicklung des Asyl- und Ausländerrechts«.483 Einzig die PDS lehnt den Entwurf als »Handreichung für die CSU« ab.484 Die ehemaligen Mitglieder von Otto Schilys unabhängiger Zuwanderungskommission freilich finden nur wenige ihrer Vorschläge im Referentenentwurf wieder, der sich deutlicher an dem Konzept der CDU-Kommission zu orientieren scheint.485 Man ist geschockt und enttäuscht über das Prozedere und den Umgang mit den Vorschlägen, die »für den eigentlichen politischen Willensbildungsprozess […] keine allzu große Rolle« spielen. (Interview Issen: 45ff.; vgl. Interviews Schmalz-Jacobsen: 180; Voß: 61). Aus der Schilderung der Akteurswahrnehmungen innerhalb des BMI wird die rein funktionale Wirkdimension der Kommission besonders deutlich: Es ist ja schon […] ziemlich einmalig, dass man – wenn man eine Gesetzgebung macht – gleichzeitig rückkoppelt mit einer Kommission, aber dann in wesentlichen Teilen etwas anderes macht, als die vorschlägt […], dass der Gesetzgebungsmechanismus so lief, zu sagen, diese und diese Dinge, die bringt zwar die Zuwanderungskommission, die machen wir aber auf alle Fälle nicht. Das war doch sehr deutlich. (Interview Sonntag-Wolgast: 24)
Reaktionen – second thoughts Die relativ unspezifischen Reaktionen der Parteienvertreter sollen einerseits den Spielraum der Parteien für etwaige Verhandlungen wahren, andererseits sind sie das Resultat des Komplexitätsniveaus des Entwurfes. Da es sich bei dem Artikelgesetz und der Gesetzesbegründung um insgesamt 250 Seiten Text handelt, der nur mit Hilfe von Synopsen und unter Hinzuziehung weiterer Gesetzestexte gelesen werden kann, sind fundierte Bewertungen zunächst kaum möglich; die Spitzfindigkeiten des Entwurfes erschließen sich erst nach einer Detailanalyse. Die Gesetzesbegründung stellt somit eine Art »Blendwerk« dar und führt selbst Fachleute zunächst zu Fehleinschätzungen.486 Innerhalb der Union nimmt von Beginn an der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber eine stark ablehnende Haltung
483
zit.n. Berliner Zeitung vom 6. August 2001; FR vom 4. August 2001: 1. zit.n. taz vom 4. August 2001: 3. 485 Aus rechtsmaterieller Sicht – so urteilt Kay Hailbronner (2001: 9f.) – zeige der Vergleich des BMI-Entwurfs mit dem CDU-Konzept »insgesamt im Bereich der Zuwanderung qualifizierter Arbeitnehmer ein erhebliches Maß an Übereinstimmung in Abgrenzung zu den Vorschlägen der Unabhängigen Kommission ›Zuwanderung‹, wie auch zu den Vorschlägen von Bündnis 90/Grüne«. Eine Implementationsanalyse der Vorschläge erfolgt in Kap. 3.4.3. 486 Auf diese Weise ist es zu erklären, dass selbst der Ressortleiter für Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung Heribert Prantl, engagierter Vertreter einer an liberalen Maximen ausgerichteten Ausländer- und Asylpolitik und als Ex-Richter zudem juristisch höchst sachkundig, Schily »auf den Leim geht«. In seinen prima-facie-Kommentar überwiegen trotz einiger Kritikpunkte wohlwollende, fast euphorische Einschätzungen: »Das Gesetz nimmt [...] radikal Abschied vom alten Recht. Es vereinfacht das Ausländerrecht auf erstaunliche Weise. Es ist praktisch und praktikabel. Es ist kein ausladendes, sondern ein eher einladendes Recht. Es ist kein Polizeirecht mehr, sondern ein Bürgerrecht […] und öffnet sich einer echten Einwanderungspolitik.« (SZ vom 4. August 2001: 4). Vier Wochen später korrigiert er diesen Eindruck nachhaltig; Schily habe das große Regelungsvolumen dazu genutzt, bereits erreichte Verbesserungen wieder zurückzunehmen. »Die Verwüstung des Ausländer- und Asylrechts kann aber nicht der Preis für eine geregelte Einwanderung sein.« (SZ vom 1. September 2001: 4). Unter dem Titel »Spektakulär in die falsche Richtung« zählt er zehn Gründe auf, »warum Otto Schilys Entwurf für ein Zuwanderungs- und Ausländerrecht sehr verbesserungsbedürftig ist« (SZ vom 6. September 2001: 12). 484
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zu dem Entwurf ein. Seine Kritikpunkte laufen darauf hinaus, dass der Charakter der Zuwanderungsbegrenzung nicht zum Ausdruck komme.487 Seine Partei schließt sich dieser Marschroute an – was zu einem offenen Richtungsstreit mit CDU-Vertretern führt, die für einen Konsens mit der Bundesregierung auf der Grundlage des Gesetzentwurfes werben und die Partei- und Fraktionsführung zur Positionierung aufrufen.488 Die Parteivorsitzende Angela Merkel entschließt sich nach langem Abwarten zu einem Mittelweg und signalisiert Einigungsmöglichkeiten gegenüber der rotgrünen Koalition – allerdings nur, wenn »sie in allen Bereichen auf unsere Kernforderungen eingehen.«489 Diese Kernforderungen kristallisieren sich wenig später in der von Bosbach, Müller und Beckstein erarbeiteten Stellungnahme der Union zu Schilys Referentenentwurf heraus: Man sehe »erheblichen Klärungsbedarf und keine Möglichkeit, [dem] derzeitigem Entwurf zuzustimmen«. Es werden mehrere Aspekte als »Beispiele« genannt, die größtenteils eine Adaption einzelner, zuvor von Stoiber geäußerten Kritikpunkte bedeuten; sie können als die von Merkel erwähnten Kernforderungen der Union interpretiert werden: Kostenübernahme für Integration durch den Bund; Entwurf ermögliche zu große (»unbegrenzte«) Zuwanderung von Hochqualifizierten, Selbstständigen und Studenten; zusätzliche Maßnahmen zur Beschleunigung der Asylverfahren; Senkung des maximalen Kindernachzugsalters bei Drittstaatern und Ablehnung der auf EU-Ebene geplanten Familiennachzugsregelungen. Die Kernbotschaft der Union lautet: »Ein politischer Konsens setzt voraus, dass das Ziel der Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung auch tatsächlich im Gesetzentwurf der Bundesregierung umgesetzt wird.«490 Die Orientierung an den eigenen Vorschlägen der Müller-Kommission spielt dabei so gut wie keine Rolle. Den Stellungnahmen der Union diametral gegenüber stehen die Positionen außerparlamentarischer Akteure. Die dezidierten und unter Hinzuziehung juristischen Sachverstandes erarbeiteten Analysen quasi aller gesellschaftlichen Gruppen491 kommen zu äußerst kritischen Gesamteinschätzungen des Schily-Entwurfes. Insbesondere die gemeinsamen Gutachten der beiden christlichen Kirchen und der Wohlfahrtsverbände sowie die Stellungnahme von pro asyl weisen Dutzende von Unwägbarkeiten und rechtsmateriellen Verschlechterungen gegenüber dem geltenden Recht nach und gelangen zu einem vernichtenden Urteil insbesondere über das asyl- und flüchtlingsrechtliche Kapitel.492 Die Position der 487
vgl. Interview mit Edmund Stoiber, SZ vom 4. August 2001: 6 sowie FR vom 6. August 2001: 1. vgl. etwa »Rüttgers wirbt für Zuwanderungskonsens«, SZ vom 8. August 2001: 5; Horst Eylmann, »Frau Merkel, jetzt sind Sie dran!«, Die Zeit Nr. 33 vom 9. August 2001: 4 sowie FR vom 8. August 2001: 4; vom 9. August 2001: 4; FAZ vom 9. August 2001: 2. 489 zit.n. FR vom 13. August 2001: 4. 490 PM Nr. 135/2001 »Stellungnahme der Union zum Entwurf eines Gesetzes des Bundesinnenministers zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung« vom 23. August 2001, Berlin (http://www.cdu.de/presse/archiv2001/pr135-01.htm, 25.11.2004). 491 Für eine Übersicht und deren zentrale Kritikpunkte vgl. ZAR 6/2001: 285ff. 492 vgl. »Schilys Entwurf, zerpflückt an zentralen Punkten«, FR vom 1. September 2001: 5. Im Einzelnen: Gemeinsame Stellungnahme des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Leiters des Kommissariats der deutschen Bischöfe zum Referentenentwurf eines Zuwanderungsgesetzes vom 14. September 2001, Berlin; Gemeinsame Stellungnahme zu den asyl- und flüchtlingsrechlichen Elementen des Referentenentwurfs eines Zuwanderungsgesetzes (ZuwGE) von amnesty international, Arbeiterwohlfahrt, Deutscher 488
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NGOs wird gestützt durch die Stellungnahmen der beiden wichtigsten Ministerien innerhalb der so genannten Ressortabstimmung:493 Sowohl BMJ als auch AA erheben in umfassenden Stellungnahmen erhebliche Bedenken gegen den Entwurf, den sie in verschiedenen Punkten für verfassungsrechtlich bedenklich, schwer vereinbar mit EU-Recht, nicht sachgerecht und praxiswidrig bezeichnen.494
3.4.1.2 Koalitionsabstimmung: »Die Tür müssen die Grünen einrennen« Mit der Entwurfspräsentation verbindet Innenminister Schily den revidierten, aber immernoch ehrgeizigen Plan, das Gesetzesvorhaben nunmehr innerhalb von knapp zwei Monaten in der Koalition abzustimmen und am 26. September vom Kabinett beschließen zu lassen – um noch vor Jahresende das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren abzuschließen. Obwohl die Union an verschiedenen Punkten betont, sie werde nur auf der Grundlage eines beschlossenen Regierungsentwurfes in Verhandlungen um einen Konsens treten,495 bemüht sich Schily im Vorfeld der Koalitionsgespräche um Absprachen mit der CDU/CSU. Dazu werden von Seiten der Regierung Initiativen auf drei Ebenen lanciert. Am 2. September findet ein informelles Treffen zwischen dem Innenminister und den Zuwanderungsexperten Peter Müller und Günther Beckstein statt.496 Auf parlamentarischer Ebene lädt der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion Peter Struck am 6. September die Vorsitzenden der anderen Fraktionen zu einem Gespräch ein, um über die Möglichkeit eines fraktionsübergreifenden Entwurfes zum Zuwanderungsgesetz zu sprechen. Friedrich Merz lehnt es jedoch ab, vor einem Gesetzentwurf der Koalition in Verhandlungen einzutreten.497 Auch auf Länderebene lotet Schily die Konsensmöglichkeiten aus: Bei einer außerordentlichen Tagung der Innenministerkonferenz in Magdeburg am 10. September wird eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Dissenspunkte ausräumen soll, so dass die Regierungsvorlage für die Mehrzahl der Länder zustimmungsfähig wird.498 Wegen der gravierenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Oppositionsparteien CDU und CSU über das taktische Vorgehen wie auch über die Inhalte des Gesetzes verweigert sich die Union einer konstruktiven Lösungssuche mit den Regierungsparteien. Caritasverband, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Neue Richtervereinigung, Pro Asyl, Bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, Raphaelswerk und Diakonisches Werk vom 3. September 2001; Stellungnahme von Pro Asyl zum Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes vom 29. August 2001. 493 vgl. dazu die Geschäftsordnung der Bundesregierung, nach dem »alle Angelegenheiten, die der Bundesregierung unterbreitet werden, […] vorher zwischen den beteiligten Bundesministerien zu beraten« sind (§ 16 Abs. 1 GO-BReg.). Ferner sind nach den Vorschriften der Gemeinsamen Geschäftsordnung alle betroffenen Bundesministerien sowie Beauftragten, frühzeitig in die Vorarbeiten und in die Ausarbeitung eines Entwurfes einzubeziehen (§ 45 Abs. 1, 3 GGO-BM). Schließlich ist ein Entwurf, bevor er der Bundesregierung zum Beschluss vorgelegt wird, »dem Bundesministerium der Justiz zur Prüfung in rechtssystematischer und rechtsförmlicher Hinsicht (Rechtsprüfung) zuzuleiten.« (§ 46 Abs. 1 GGO-BM) 494 vgl. FR vom 12. September 2001: 7; Die Zeit Nr. 38 vom 13. September 2001: 7. 495 vgl. FAZ vom 6. August 2001: 2 sowie vom 30. August 2001: 4. 496 Schily trifft die Parteibeauftragten zum Meinungsaustausch im bayerischen Kloster Metten (vgl. SZ vom 3. September 2001: 4). 497 vgl. FAZ vom 7. September 2001: 1. 498 vgl. FAZ vom 11. September 2001: 3; FR vom 11. September 2001: 4; SZ vom 11. September 2001: 6.
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Fraktionsinterner Streit soll aus übergeordneten Kohärenzerwägungen unbedingt vermieden werden. Bereits wenige Tage zuvor war es durch die von Seiten der Unionsführung erzwungenen Zustimmung der Fraktion zum Regierungsantrag auf Beteiligung der Bundeswehr beim NATO-Einsatz in Mazedonien zu großen Spannungen gekommen.499 Darauf hin zementieren insbesondere CSU-Vertreter mit dem stellvertretenden Parteivorsitzenden Horst Seehofer als Wortführer ihre Ablehnung gegen einen Zuwanderungskompromiss und werden vom Parteivorsitzenden Stoiber darin unterstützt.500
Koalitionskrise und Chefsache? Ab Mitte August 2001 mehren sich auf der anderen Seite die kritischen Stimmen bei Bündnis 90/Die Grünen gegen den Referentenentwurf, der an vielen Stellen noch den »Duktus Manfred Kanthers« enthalte.501 Insbesondere die ablehnenden Stellungnahmen von Kirchen, Wohlfahrtsverbänden und Flüchtlingslobbygruppen bleiben nicht ohne Einfluss auf die Koalitionsparteien,502 wo aufgrund der parlamentarischen Sommerpause erst verspätet juristische Detailprüfungen vorgenommen werden. In einem einstimmig gefassten Beschluss des Grünen-Parteirats vom 3. September unterstützt man die Kritik gesellschaftlicher Gruppen und nimmt ausdrücklich positiven Bezug zu den Parteikommissionen: »Uns geht es darum, [...] gewichtige Vorschläge der ›Süßmuth-Kommission‹, der ›Müller-Kommission‹, der SPD und der Grünen zur Verbesserung der Situation von hier lebenden Ausländern und Flüchtlingen zu berücksichtigten.«503 Die Grünen bemängeln vorrangig fünf Punkte: die vorgesehene Regelaltersgrenze für den Familiennachzug, die Nicht-Berücksichtigung geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgungsgründe, eine fehlende Härtefallregelung bei Auslaufen der Duldung, zu große Ermessensspielräume und die mangelnde parlamentarische Beteiligung bei der Feststellung von Zuwandererkontingenten. Auch innerhalb der SPD-Fraktion gibt es zahlreiche Kritikpunkte am Referentenentwurf, die mit denen der Grünen weitgehend deckungsgleich sind.504 Bereits im Vorfeld der konkreten Verhandlungen um einen gemeinsamen Regierungsentwurf geht es jedoch in hohem Maße auch um symbolische Politik. Daher nennt der stellvertretende SPDFraktionsvorsitzende Stiegler leicht abweichende Kritikpunkte, die seine Fraktion habe: Es 499
Denn nicht nur SPD und Grüne hatten in dieser Frage Probleme, ihre Fraktionen in ausreichender Mehrheit auf Kurs zu bringen; auch bei CDU/CSU gab es – freilich aus gänzlich anderen Beweggründen – mehr als 60 NeinStimmen; vgl. die persönlichen Erklärungen nach § 31 GO-BT zahlreicher Unions-MdB (BT-Pl.Pr. 14/184 vom 29. August 2001: 18213C-18228D). 500 Die CSU werde – so Seehofer – auf einem »strikten und eindeutigen Nein ohne Wenn und Aber« beharren. »Nach der Nummer jetzt lass ich mich auf nix mehr ein«. Notfalls müsse die CSU »die Reißleine ziehen« und einen Krach mit der Schwesterpartei riskieren (zit.n. Der Spiegel Nr. 37 vom 3. September 2001: 32). Am 4. September lehnt das bayerische CSU-Kabinett den Entwurf Schilys mit einem förmlichen Beschluss ab (vgl. FR vom 5. September 2001: 1). 501 Cem Özdemir, zit.n. FAZ vom 30. August 2001: 4; vgl. auch FR vom 17. August 2001: 1, 4; FR vom 24. August 2001: 4; FAZ vom 6. September 2001: 3; Die Zeit Nr. 37 vom 6. September 2001: 6. 502 vgl. den Artikel »Flüchtlingslobby setzt SPD und Grüne unter Druck« in der FAZ vom 16. September 2001: 9, in dem der Stimmungsumschwung bei Bündnis 90/Die Grünen und Teilen der SPD u.a. auf kritische Gutachtertätigkeit und Lobbyarbeit von Nichtregierungsorganisationen bei Partei- und Fraktionsvertretern zurückgeführt wird. 503 Beschluss »Einwanderungspolitik«, 23. ordentlicher Parteirat vom 3. September 2001, Berlin: 3. Der im Jahr 2000 geschaffene Parteirat stellt ein Parteigremium dar, das strukturell dem Präsidium der anderen Parteien vergleichbar ist (vgl. Raschke 2001: 21). 504 vgl. Interview Stiegler: 47; FAZ vom 6. September 2001: 3.
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handele sich vor allem um die Änderungen, nach denen die Sozialleistungen für Asylantragsteller dauerhaft auf das Niveau des Asylbewerberleistungsgesetzes gesenkt werden soll, sowie die Absicht, auch den Status anerkannter Asylbewerber nach drei Jahren überprüfen zu lassen.505 Einen Tag nach der offiziellen Absage der Grünen-Führung an den Gesetzentwurf beraumt Gerhard Schröder eine Koalitionsrunde zur Deeskalation an, woraufhin Innenminister Schily kurzfristig eine geplante Pressekonferenz zum Thema absagen muss – der Bundeskanzler macht die »Zuwanderung zur Chefsache«.506 Bei dem polemischen Meinungsaustausch im Kanzleramt zwei Tage später kann jedoch nur der Dissens in der Sache festgestellt werden. Die scheinbar hierarchische Intervention des Bundeskanzlers bedient lediglich den »Chefsachen-Mythos«.507 Schröder verzichtet darauf, mit Blick auf einzelne strittige Punkte koalitionsintern Dezisionsmacht – oder gar politische Richtlinienkompetenz – zu reklamieren sondern beschränkt sich vorerst auf Koordination und Moderation. Dennoch bleibt der Bundeskanzler im Streit mit den Koalitionsfraktionen »die Appellationsinstanz von Otto Schily« (Interview Stiegler: 101). Nachdem einerseits die Koalitionsrunde ohne Einigung bleibt (ein Novum in der Regierungszusammenarbeit von Rot-Grün), andererseits CDU und CSU kein Entgegenkommen signalisieren, eröffnen sich für Schily und Schröder theoretisch vier Optionen zum weiteren Umgang mit dem Gesetzgebungsverfahren: 1.
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Weitere Zugeständnisse an die Oppositionsparteien im Rahmen der bereits begonnenen informellen Gespräche, um die Zustimmung nicht nur der FDP, sondern auch der CDU/CSU zu erhalten – ohne zentrale Einwände der Grünen zu berücksichtigen. Solchen Erwägungen widersetzt sich in einem Fernsehinterview wirksam der Fraktionsvorsitzende Rezzo Schlauch, in dem er ankündigt, falls ein Gesetz ohne die Zustimmung der Grünen verabschiedet würde, »wäre die Koalition am Ende«.508 Den Gesetzentwurf ohne endgültige Abstimmung mit den Fraktionen als Regierungsentwurf von den Ressorts passieren und vom Kabinett beschließen zu lassen und sämtliche Verhandlungen mit den Koalitionsparteien und der Opposition auf die Ausschussphase verlagern. Doch einige der beteiligten Ressorts (besonders AA und BMJ) formulieren ungewöhnlich deutliche Kritik an dem Entwurf, so dass eine Beschlussfassung im Kabinett ohne gravierende Änderungen kaum möglich wäre.509 Einigung in der Koalition ohne weitere Rücksicht auf die Union, die dann aber sowohl im Bundestag als auch im Bundesrat geschlossen ablehnen würde, womit zwangsläufig ein Vermittlungsverfahren verbunden wäre. Kabinettsbeschluss über einen Entwurfstext, der die Einwände der Bündnisgrünen ausreichend berücksichtigt, gleichzeitig aber zentrale Kritikpunkte der Union aufgreift
vgl. FAZ vom 28. August 2001: 4. SZ vom 5. September 2001: 1; vgl. auch FR vom 5. September 2001: 1. vgl. auch Kap. 1.1.1.3. Die FAZ (vom 8. September 2001: 1) kommentiert die gescheiterte Koalitionsrunde beim Bundeskanzler: »Chefsache heißt nicht, der Chef entscheidet, sondern der Chef betrachtet sich den Streit seiner Helfer. [...] Erst wenn klar sein wird, daß die Grünen und die SPD nicht zu einer Einigung bis aufs letzte ITüpfelchen kommen [...], wird Schröder sein Wort in die Waagschale werfen.« 508 zit.n. FAZ vom 8. September 2001: 1. 509 vgl. »Note mangelhaft für Schilys Pläne«, FR vom 12. September 2001: 7; »Schwere Kritik an Schilys Zuwanderungsgesetz«, SZ vom 12. September 2001: 6 sowie »Zuwanderer rein, aber dalli«, Die Zeit Nr. 38 vom 13. September 2001: 7. 506 507
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und öffentlichkeitswirksam entkräftet, so dass Druck auf die Union aufgebaut wird und einzelne Bundesländer mit CDU-Mehrheit zur Zustimmung gebracht werden. Mit ihrem Beharren auf Änderungen des Entwurfs machen Bündnis 90/Die Grünen nachhaltig ihre Veto-Position deutlich. Da der Bundeskanzler eine Koalitionskrise über die Zuwanderung unbedingt vermeiden will, Schily aber den Gang in den Vermittlungsausschuss ausschließt,510 bleibt nur die letzte Variante. Am 4. September beginnen die Fachpolitiker und Fraktionsreferenten von SPD und Grünen gemeinsame Beratungen mit den Beamten der Abteilung A des BMI. Die zentralen »politischen« Streitpunkte werden jedoch den Partei- und Fraktionsführungen überlassen.511 Da der Termin für den Kabinettsbeschluss gehalten werden soll, wird für den 11. September 2001 eine erste Verhandlungsrunde zwischen SPD, Bündnis 90/Die Grünen und dem BMI anberaumt. Doch die weltgeschichtliche Zäsur durch die Ereignisse in den USA an diesem Datum verzögert den Plan und verändert den politischen Diskurs.
Zuwanderungsgesetz nach dem 11. September Mit den Terroranschlägen von New York und Washington wird die Kabinettsentscheidung über das Zuwanderungsgesetz zunächst verschoben. Doch in seiner Regierungserklärung unterstützt Bundeskanzler Schröder den Entwurf Schilys vom 19. September ausdrücklich, da er ein Mehr an Sicherheit schaffe.512 Darauf antwortet der Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz, die Union wolle auch bei der Zuwanderung noch in der laufenden Legislaturperiode zu einer Lösung kommen und biete hierzu die Zusammenarbeit an.513 Innenminister Schily sichert ebenfalls zu, das Zuwanderungsgesetz weiterzuverfolgen, schmälert allerdings die Aussichten auf Verbesserungen in der Asylpolitik.514 In der großen Bundestagsdebatte zur Inneren Sicherheit am 26. September 2001 bekennt sich Schily erneut zum Zuwanderungsgesetz, deutet allerdings eine gesonderte Behandlung einiger sicherheitsrelevanter Aspekte des Ausländer- und Aufenthaltsrechtes an515 – die Geburtsstunde der als »Otto-Kataloge« bezeichneten Sicherheitsgesetze. Für die darin geplanten Antiterror-Maßnahmen sichert die Union ihre volle parlamentarische Unterstützung zu, treibt jedoch die Kosten für eine Einigung in Sicherheits- und Zuwanderungsfragen nach oben.516 Schily stellt innerhalb der Koalition einen taktischen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Sicherheit her. Einige ausländerrechtlich relevante Punk-
510 Im Falle einer mehrheitlichen Ablehnung im Bundesrat will er das Gesetzesvorhaben für gescheitert erklären (vgl. FR vom 8. September 2001: 1). 511 vgl. FAZ vom 5. September 2001: 1; FR vom 7. September 2001: 4. 512 vgl. BT-Pl.Pr. 14/187 vom 19. September 2001: 18304B/C. 513 vgl. BT-Pl.Pr. 14/187 vom 19. September 2001: 18307A. Die CSU hingegen will – auch als Reaktion des Wahlerfolgs des Rechtspopulisten Ronald Schill in Hamburg – die innenpolitische Gangart verschärfen und stellt die Notwendigkeit einer Zuwanderungsregelung generell in Frage (vgl. SZ vom 29. September 2001: 10). 514 BT-Pl.Pr. 14/187 vom 19. September 2001: 18331A. 515 vgl. BT-Pl.Pr. 14/189 vom 26. September 2001: 18429C. 516 vgl. SZ vom 22. September 2001: 9. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU/CSU Wolfgang Bosbach konstatiert: »Ihr Gesetzentwurf löst keine Probleme, sondern schafft neue. Das ist der Grund, warum wir ihm unter keinem Gesichtspunkt zustimmen können.« (BT-Pl.Pr. 14/189 vom 26. September 2001: 18433D)
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te, die eigentlich Teil des Zuwanderungsgesetzes gewesen wären, werden in das AntiTerror-Gesetz ausgelagert, so dass eine indirekte Verschärfung ex ante stattfindet.517
»Kampf der Gewalten« I: Vom Referenten- zum Koalitionsentwurf Mitte September beginnt eine Arbeitsgruppe unter Beteiligung der Koalitionsfraktionen und des BMI mit der Kompromisssuche.518 Die aufwändigen Verhandlungen, die z.T. fast täglich stattfinden und sich über insgesamt rund 180 Stunden hinziehen,519 tragen nach außen Züge von Koalitionsverhandlungen bei der Regierungsbildung (vgl. dazu Kropp 2001: 119ff.). Sie werden hart und erbittert geführt.520 Teilweise drohen die Gespräche zu scheitern, nachdem Vertreter der Grünen öffentlich mit Abbruch drohen.521 Die tatsächlichen Akteurskonstellationen sind differenziert zu betrachten und reduzieren sich nicht auf den Antagonismus zweier Regierungsparteien. Vielmehr tritt die Kontrolle der Bundesregierung – verstanden als »Überprüfung von Handlungen und Entscheidungen mit dem Ziel, notfalls erforderliche Korrekturen durch Androhung von Sanktionen erwirken zu können« (Steffani 1971: 36) – als wichtiger Aspekt hervor. Aus den Experteninterviews mit den Beteiligten522 ergibt sich, dass die Verhandlungen eher im Lichte der wirksamen Vorabkontrolle der Bundesregierung durch die regierungstragenden Bundestagsfraktionen bzw. der indirekten parlamentarischen Mitsteuerung (vgl. Schwarzmeier 2001), denn vor dem Hintergrund eines ernsten Koalitionskonfliktes zu betrachten sind. Nach Einschätzung von Ludwig Stiegler erlaubt es eine Analyse der Printmedien in diesem Punkt nicht, »den Frontenverlauf [zu] rekonstruieren«, da die SPD in vielen Punkten derselben Meinung wie die Grünen gewesen sei (Interview Stiegler: 47). Vielmehr spielt sich ein Teil der Konfliktsituationen auch zwischen dem Innenminister und den Unterhändlern der SPD-Fraktion ab, die dabei auf die Unterstützung ihres Vorsitzenden bauen kann. Wir haben zwar gesagt: »Gut, das ist unsere Regierung, wir können sie nicht beleidigen«, aber […] im Zweifel haben wir uns das letzte Wort vorbehalten. Und Peter Struck hat mich da immer gedeckt. [...] Schily hat dann immer gesagt: »Ruf ich den Steinmeier an!« Dann hat er den nicht erreicht, sagt er: »Na, dann ruf ich den Kanzler an!« Dann hat er den nicht erreicht, dann haben wir gesagt: »Müssen wir eben weitermachen«, haben gesagt: »Kannst ruhig anrufen – wir sind der Gesetzgeber!« Der Kanzler hat auch mehrfach [...] mit mir geredet [...], wir wussten schon, dass es ein high-explosive-Thema ist (Interview Stiegler: 97ff.).
Da die Koalitionsrunde in ähnlicher Zusammensetzung auch über das Gesetzespaket zur Terrorismusbekämpfung berät, soll eine abschließende Einigung in beiden Fragen bis zum 517
vgl. FAZ vom 27. Oktober 2001: 1f. sowie ausführlich Marx (2002); Kugelmann (2003). Die Arbeitsgruppe wird von der Grünen-Fraktionsvorsitzenden Kerstin Müller und vom stellvertretenden SPDFraktionsvorsitzenden Ludwig Stiegler geleitet. Auf Seiten des BMI sind der zuständige Staatssekretär Klaus Henning Schapper und leitende Beamte der Abteilung A vertreten. Seitens der Grünen verhandeln der innenpolitische Sprecher Cem Özdemir, der justizpolitische Sprecher Volker Beck und die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck; die SPD nimmt ferner durch ihren innenpolitischen Sprecher Dieter Wiefelspütz und die Innenpolitiker Michael Bürsch und Rüdiger Veit teil (vgl. FAZ vom 12. September 2001: 4). 519 vgl. SZ vom 3. November 2001: 7. 520 »Da haben die Türen geknallt, da ist es teilweise bis nachts um vier und länger [gegangen]« (Interview Stiegler: 45). Später entschuldigt sich Schily gegenüber den Teilnehmern dieser Verhandlungen öffentlich dafür, »manchmal meine Stimmbänder überbeansprucht« zu haben (BT-Pl.Pr. 14/222 vom 1. März 2002: 22045C). 521 vgl. FAZ vom 13. Oktober 2001: 2; FAZamSo vom 14. Oktober 2001: 5. 522 vgl. insbesondere die Interviews mit dem Leiter der Arbeitsgruppe Ludwig Stiegler (SPD) und dem Unterhändler Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen). 518
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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letzten Oktober-Wochenende erreicht werden, so dass die Gesetzentwürfe am 5. November im Kabinett beschlossen werden können. In den mehrtägigen Abschlussverhandlungen gelingt erst kurz vor dem Scheitern die Einigung. Die Zustimmung der Bündnisgrünen zu einem leicht entschärften Anti-Terrorgesetz523 erreicht Schily u.a. durch ein unerwartetes Kompromissangebot beim Zuwanderungsgesetz:524 Nichtstaatliche und geschlechtsspezifische Verfolgungsgründe sollen jenseits der ohnehin bindenden Regelungen der Genfer Konvention explizit als Gründe für Abschiebeschutz und ein mögliches Bleiberecht im Gesetz festgeschrieben werden, das »Kindernachzugsalter« bei 14 (statt bei 12) Jahren liegen sowie der Aufenthaltsstatus vormals Geduldeter verbessert werden. Auch hier scheinen letztendlich taktische Motive den Ausschlag zu geben: Bundeskanzler Schröder gibt das Signal zum Einlenken, weil ein Scheitern in der Koalition großen Schaden angerichtet hätte525 – der Politikformulierungsmodus durch Koalitions- und Ressortverhandlungen hat funktioniert. Das zwischenzeitliche Ignorieren des unter den Koalitionsfraktionen gefundenen Konsenses sowie seine bis an den Rand des Verhandlungsabbruchs reichende Renitenz gegenüber inhaltlichen Zugeständnissen weisen deutlich auf Schilys Absicht eines gubernativen Präjudizes bei der Erarbeitung des Regierungsentwurfes hin, um dadurch ein übergeordnetes strategisches Ziel (die Einigung mit der Union im Bundestag) leichter erreichen zu können. Dieses Ziel wird jedoch von den Koalitionsfraktionen nicht bedingungslos geteilt, so dass auch die SPD-Fraktion in den Verhandlungen mit Verweis auf die parlamentarische Prärogative im Gesetzgebungsverfahren einen »Kampf der Gewalten« (vgl. Holtmann & Patzelt 2004) heraufbeschwört – und diesen gewinnt. Im Sinne darstellender Politik spielt daneben die öffentliche Inszenierung der Verhandlungen zwischen der Koalition und dem BMI eine wichtige Rolle. Ich hab den Prozess immer so gesteuert, dass ich gesagt hab: »Da ist die Tür markiert, die müssen die Grünen einrennen.« [...] Das ging [...] so weit, dass man auch mit Otto Schily in Vorgesprächen einfach deutlich gemacht hat, wo die Grünen einen Erfolg haben müssen. Das war manchmal sehr prekär, weil die eigenen [Leute] gesagt haben: »Oh Gott, wir möchten auch gern...« und ich gesagt hab: »Leute, bitte, diesen Erfolg müssen wir den Grünen gönnen im Interesse der Gesamtsache.« [...] Das war dann mit Volker Beck oder mit Claudia Roth auch so besprochen: dass die das dann in der Öffentlichkeitsarbeit und in dem Triumphgeschrei, nachdem man eine [gemeinsame] Position formuliert hat, erreichen. (Interview Stiegler: 47ff.)
Die Vorschläge der von Otto Schily eingesetzten Zuwanderungskommission spielen in den Verhandlungsrunden zwischen Regierungsfraktionen und BMI kaum eine direkte Rolle, zumindest nicht für die Verhandlungsposition des Innenministers. Paradoxerweise findet am ehesten von Seiten der Koalitionsfraktionen eine aktive Bezugnahme auf den SüssmuthBericht statt. (vgl. Interviews Stiegler: 89; Özdemir: 80).
523
vgl. FAZamSo vom 28. Oktober 2001: 2; FAZ vom 29. Oktober 2001: 1. Das mit der Parteispitze und den SPD-Vertretern in der AG abgesprochene Vorgehen Schilys ist folgendermaßen überliefert: »Verärgert über die Hartleibigkeit des Ministers signalisierten [Bündnis 90/Die Grünen], die Verhandlungen seien am Ende. Da ließ Schily einen französischen Rotwein sowie zwei Briefumschläge servieren. Mit gewichtiger Miene […] las er dann nacheinander den Inhalt der beiden Kuverts vor. Anschließend überreichte er das Schreiben an die Grünen-Delegation. Inhalt: weit reichende Zugeständnisse in den zentralen Kritikpunkten der Grünen.« (SZ vom 29. Oktober 2001: 2) 525 vgl. SZ vom 29. Oktober 2001: 4; vom 30. Oktober 2001: 4; FR vom 30. Oktober 2001: 1, 4. 524
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3.4.1.3 Opposition im Gesetzgebungsverfahren: »Flagrant ins Gesicht gespuckt« Im Anschluss an die Einigung in der Koalition setzt die Bundesregierung ihre Bemühungen um einen parteiübergreifenden Konsens fort. Unmittelbar nach dem Kabinettsbeschluss wirbt Schily am 7./8. November bei der Herbsttagung der IMK um die Zustimmung der Länder; hier zeichnet sich jedoch bei den meisten unionsgeführten Landesregierungen eine Ablehnung bzw. weiterer »Nachbesserungsbedarf« ab.526 Um den Prozess zu beschleunigen, wird das Zuwanderungsgesetz in doppelter Ausführung ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht: Den Entwurf der Bundesregierung erhält zunächst der Bundesrat zur Stellungnahme;527 parallel erfolgt die parlamentarische Initiative mit dem Signet der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen.528 Auf diese Weise kann bereits am 13. Dezember 2001 die erste Lesung im Bundestag stattfinden.529 Bei den anschließenden Beratungen des Innenausschusses kann die parallel erarbeitete Stellungnahme des Bundesrates bereits berücksichtigt werden.530 Im Verlauf der Beratungen in Bundestag und Bundesrat wird zunehmend die Ablehnung der Union zu dem Gesetzesvorhaben der Regierung deutlich, auch bei den Protagonisten der CDU, die sich zuvor ihrerseits um konsensfähige Vorschläge bemüht und die parteiübergreifenden Gemeinsamkeiten hervorgehoben hatten (vgl. Kap. 3.3.2.4, 3.4.1.1). Für die ehemaligen Mitglieder der Süssmuth-Kommission, die sich gerade mit Müller in Konkordanz wähnten, ist die Abkehr von dessen eigenen Positionen eine herbe Enttäuschung: Was ich outrageous fand, war, dass [Peter] Müller und [Wolfgang] Bosbach sich plötzlich von ihrem eigenen Papier abgewandt haben [...]. Sie haben sich nicht nur so ein bisschen davon geschlichen, sie haben flagrant ihrem eigenen Papier ins Gesicht gespuckt.« (Interview Schmalz-Jacobsen: 190; vgl. auch Interview Bierhoff: 142ff.)
526
vgl. FAZ vom 8. November 2001: 4; vom 9. November 2001: 5 sowie SZ vom 9. November 2001: 6. Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BR-Drs. 921/01 vom 8. November 2001; Stellungnahme des Bundesrates vom 20. Dezember 2001, BT-Drs. 14/7987 vom 14. Januar 2002: 6-38 (Anlage 2). 528 Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BT-Drs. 14/7387 vom 8. November 2001. 529 Ein großer Teil der durch die Mehrheitsfraktionen in den Bundestag eingebrachten Gesetzesinitiativen sind in Wirklichkeit solche der Bundesregierung, die nur aus Zeitgründen in die Form parlamentarischer Initiativen gekleidet werden (vgl. Rudzio 2003: 273; Beyme 1997: 176). Nach Art. 76 Abs. 2 GG muss eine Gesetzesvorlage der Bundesregierung zunächst dem Bundesrat zugeleitet werden, dem – je nach dem, ob durch die Bundesregierung besondere Eilbedürftigkeit bzw. durch den Bundesrat ein wichtiger Grund reklamiert werden – drei bis neun Wochen Zeit zur Stellungnahme bleiben. Anschließend kann der Entwurf (ggf. mit der Bundesratsstellungnahme und einer Gegenäußerung der Bundesregierung) über den Bundestagspräsidenten zur Beschlussfassung dem Parlament zugeleitet werden. Wird die Gesetzesvorlage jedoch zeitgleich über die Fraktionen im Bundestag lanciert (Parallelführung identischer Initiativen), kann er hier bereits in erster Lesung beraten werden, bevor der Bundesrat Stellung genommen hat. Bei den Ausschussberatungen zwischen erster und zweiter Lesung werden die bis dahin formal getrennt behandelten Entwürfe zusammengeführt. Zu den verfassungsrechtlichen Problematiken dieses Verfahrens vgl. Schulze-Fielitz (1998: 38ff.). 530 Gesetzentwurf der Bundesregierung und Stellungnahme des Bundesrates vom 20. Dezember 2001, BT-Drs. 14/7987 vom 14. Januar 2002; Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BTDrs. 14/8046 vom 23. Januar 2002 sowie Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 14/8395 vom 27. Februar 2002. 527
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In der Tat sind die Widersprüche in der Argumentation frappierend, betrachtet man nur die Aussagen zur arbeitsmarkt- bzw. demographisch orientierten Zuwanderung. So antwortet z.B. der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion Wolfgang Bosbach noch Anfang 2001 auf die Frage nach dem allgemeinen Zuwanderungsbedarf; man solle sich an einer Nettozuwanderung von 200 000 Ausländern pro Jahr orientieren.531 Die CDU will nach dem maßgeblich durch Peter Müller erarbeiteten Bericht ihrer Kommission » auf der Basis eines Punktsystems über die Gewährung von Daueraufenthaltsbefugnissen« entscheiden.532 Beide Politiker schwenken jedoch im Herbst und Winter 2001 auf die stark durch die CSU dominierte, zuwanderungsskeptische Linie ein, zu der sie sich zunächst im Widerspruch befinden.533 Denn bereits Anfang Dezember kündigt die CSU-Führung an, im Falle einer Kandidatur Edmund Stoibers zur Bundestagswahl 2002 könne die Einwanderungspolitik als wichtige Streitfrage nicht aus dem Wahlkampf ausgespart werden.534 Nach einer Sitzung der Unionsfraktion im Bundestag verdeutlicht deren Vorsitzender Friedrich Merz, der Gesetzentwurf der Bundesregierung sei nach übereinstimmender Haltung der Fraktion »an keiner Stelle zustimmungsfähig«.535 Besonders nach dem Verzicht durch Angela Merkel und der Proklamation Stoibers als Herausforderer von Bundeskanzler Schröder im Januar 2002 verfügen Müller und Bosbach innerhalb der Union über »kein Mandat mehr« (Interview Bierhoff: 144) – und betätigen sich als quick change artists. Im Bundesrat sorgt Peter Müller sogar für einen Antrag der saarländischen Landesregierung, das Auswahlverfahren mit einem Punktesystem (§ 20 ZuwG-E) ersatzlos zu streichen.536 Die Bekämpfung dieses fast ausschließlich nutzenorientierten Instrumentariums zur Zuwanderungssteuerung entlarvt die primär parteitaktisch motivierte Opposition gegen das Zuwanderungsgesetz. Auch Müllers früherem Plädoyer für eine quantitativ unbeschränkte Aufnahme aus humanitären Gründen steht nun plötzlich die Forderung nach einer Quotierung der Fallzahlen nach der geplanten Härtefallregelung gegenüber.537 Selbst innerhalb der CDU/CSU-Fraktion entsteht der Eindruck, »dass die Union in dem ganzen Prozess […] ziemlich isoliert« bleibt (Interview Helm: 20). Zu diesem Zeitpunkt geben also implizit wahltaktische Überlegungen eine Richtung vor, in der die CDU sich »wie einbetoniert […] artikuliert« und auch nach außen wirkt, obwohl sich »im Innenverhältnis in der Union […] ja mancher schon anders positioniert« (Interview Zylajew: 9).
Süssmuth revisited – by Schily Die Süssmuth-Kommission erfährt im politischen Diskurs der parlamentarischen Beratungen wieder stärkere Bezugnahme. Sie dient dem Bundesinnenminister als öffentlichkeitswirksame Legitimationsfigur für das Vorhaben Zuwanderungsgesetz im Allgemeinen. 531
FR-Interview vom 15. Januar 2001: 4. Peter Müller war knapp ein Jahr vorher sogar von noch höheren Zahlen ausgegangen: »Nach seriösen Schätzungen etwa 300 000 Personen im Jahr.« (SZ-Interview vom 10. Mai 2000: 6) 532 Abschlussbericht der CDU-Zuwanderungskommission (s. Fn. 456): 67. 533 vgl. etwa die dissonanten Einschätzungen Müllers (»Einigung möglich«) und Beckstein (»sehr pessimistisch«) im Rahmen der offiziellen Stellungnahme der Union zu Schilys Entwurf (FR vom 24. August 2001: 1, 3). 534 vgl. FAZ vom 10. Dezember 2001: 2. 535 zit.n. FAZ vom 12. Dezember 2001: 5. 536 vgl. Antrag des Saarlandes, BR-Drs. 157/3/02 vom 20. März 2002. 537 vgl. BT-Pl.Pr. 14/222 vom 1. März 2002, S.137D; im Frühjahr 2001 hatte Müller in einem Interview noch apodiktisch verlauten lassen: »Menschlichkeit ist nicht quotierbar« (Das Parlament Nr. 18-19 vom 27. April/4. Mai 2001: 4.
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Schily eröffnet die Aussprache im Bundestag mit Worten des Dankes, die er »zuallererst an Frau Professor Dr. Süssmuth richte[t], die […] hervorragende Arbeit für unser Land geleistet hat.«538 In einem offenen Brief an die CDU-Vorsitzende Merkel ist die Zuwanderungskommission für Innenminister Schily inhaltlich willkommener Bezugspunkt und dient ihm als Garant für vermeintlich objektive, wissenschaftlich abgesicherte, vernünftige Fakten. Dabei verweist er sogar auf die entsprechenden Seitenzahlen im Kommissionsbericht.539 Auch die kleinen Oppositionsparteien stellen im Bundestag positive Allgemeinbezüge zur Süssmuth-Kommission her. Mehr als die meisten anderen Parteien richtet die FDP ihre eigene Programmatik inhaltlich daran aus: Man benutzt natürlich die Autorität einer solchen Kommission, um den Bericht dann als Kronzeugen für die eigenen politischen Vorstellungen zu verwenden. [...] Ich habe es bei uns selber beobachtet, dass wir in der Folgezeit auch bei Einzelfragen in dem Bericht nachgeschlagen haben, um unser eigenes Wissen, unsere eigene Position gewissermaßen – ja nicht nur abzusichern, sondern auch – weiterzuentwickeln [...]. Er diente uns […] als Nachschlagewerk« (Interview Stadler: 50).
Die PDS versucht, ihre Kritik an einzelnen Vorhaben der Koalition im Flüchtlingsbereich mit Verweis auf die Vorschläge der Süssmuth-Kommission zu stärken, die ihren eigenen entsprechen.540 Selbst bei der CDU/CSU ist – trotz aller Ablehnung der Kommissionsarbeit im Ganzen – ein Muster zu beobachten, einzelne inhaltliche Aspekte oder Mitglieder der Kommission unter opportunistischen Gesichtpunkten öffentlich zu zitieren, wenn sie der Politik der Regierungskoalition widersprechen, mit den eigenen aber positiv korrespondieren: so etwa als Kronzeugen für absehbare Integrationsprobleme,541 um die Ablehnung gegenüber geschlechtsspezifischer und nichtstaatlicher Verfolgung im Wortlaut des Gesetzestextes zu stärken542 oder um die Kontinuität in der Spätaussiedlerpolitik zu legitimieren (vgl. Fn. 467).
Mehrheitsmanagement Der Koordinationsbedarf erreicht während der parlamentarischen Beratungen zwischen Dezember 2001 und März 2002 ein hohes Maß an Komplexität. Innenminister Schily verfolgt in Abstimmung mit Bundeskanzler Schröder zwei alternative strategische Ziele: Nach Möglichkeit soll es über Peter Müller zu einem Kompromiss mit Vertretern der Union kommen, durch den Teile der Fraktion im Bundestag bzw. das Saarland oder andere Bundesländer mit CDU-Regierungen im Bundesrat dem Gesetz zustimmen könnten. Dazu führt Schily am 5. Dezember 2001 erneut ein Gespräch mit Müller und
538
BT-Pl.Pr. 14/208 vom 13. Dezember 2001: 20510C. Diesen Dank wiederholt er auch in seiner Rede anlässlich der zweiten und dritten Beratung (vgl. BT-Pl.Pr. 14/222 vom 1. März 2002: 22045B). 539 Brief von Bundesinnenminister Otto Schily an die Vorsitzende der CDU Deutschlands Angela Merkel (http://www.bmi.bund.de/dokumente/Artikel/ix_72942.htm?nodeID=6837, 23.10.2003). 540 vgl. Roland Claus, BT-Pl.Pr. 14/208 vom 13. Dezember 2001: 20524C sowie BT-Pl.Pr. 14/222 vom 1. März 2002: 22037A; Petra Pau, ebd.: 22029B. 541 MdB Michael Glos, BT-Pl.Pr. 14/222 vom 1. März 2002: 22033A. 542 Ministerpräsident Peter Müller, BR-Sten.Ber. 774 vom 22. März 2002: 137C).
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signalisiert Entgegenkommen bei dessen vier Kernforderungen.543 Wenig später wird Müller jedoch durch die Unionsfraktion quasi das Verhandlungsmandat entzogen (s.o.). In der ersten Aussprache im Bundesrat, in der Schily nach Müller redet, geht er an mehreren Stellen auf dessen – nunmehr neun – Forderungen ein,544 bietet an, klärende Formulierungswünsche zu berücksichtigen und versucht, Müller rhetorisch als Verbündeten zu gewinnen.545 Andererseits will man den Änderungswünschen der Landesregierung von Manfred Stolpe entgegenkommen. Dieser kündigt im Bundesrat an, Brandenburg sei bereit, das Gesetz mitzutragen, wenn vier innerhalb der Großen Koalition abgesprochene Bedingungen erfüllt würden.546
Beteiligung des Bundesrates In der Länderkammer herrscht bereits zu Beginn des parlamentarischen Verfahrens faktisch ein Patt: Die von der SPD allein (Niedersachsen, 6 Stimmen; Sachsen-Anhalt, 4) oder in Koalitionen mit Grünen (Nordrhein-Westfalen, 6; Schleswig-Holstein, 4), FDP (RheinlandPfalz, 4) bzw. PDS (Berlin, 4; Mecklenburg-Vorpommern, 3) regierten Länder verfügen nicht über die Beschlussmajorität von 35 Stimmen, um dem Gesetz zuzustimmen. Dazu werden mindestens die vier Stimmen des von einer Großen Koalition aus SPD und CDU regierten Landes Brandenburg benötigt. Koalitionsregierungen in den Ländern sehen jedoch im Falle unterschiedlicher parteipolitischer Auffassungen zu Gesetzentwürfen i.d.R. in ihren Koalitionsvereinbarungen die (negative) Stimmenthaltung im Bundesrat vor.547 Somit muss die rot-grüne Bundesregierung auch Interessen von PDS und FDP berücksichtigen, die andernfalls eine Stimmenthaltung der Länder Rheinland-Pfalz, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern erwirken können.
543 Sie lauten: Festschreibung einer Zuwanderungsbegrenzung, keine Orientierung der Arbeitsmarktzuwanderung nur am regionalen Bedarf, Senkung des »Kindernachzugsalters« sowie strikte Orientierung »humanitärer« Zuwanderung an den Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention (vgl. SZ vom 6. Dezember 2001: 8). 544 Zusätzlich nennt der saarländische Ministerpräsident: Verzicht auf das Anwerbeverfahren nach einem Punktesystem, Beteiligung der Länder an Entscheidungen über Arbeitsmigration, restriktive Praxis bei der Umwandlung von Duldungen in Aufenthaltstitel, Aufnahme einer Härtefallklausel mit Regelungsspielraum für die Länder, durchgängige Anwendung des AsylbLG bei allen Asylarten, Regelung der Integrationskostenverteilung (vgl. BRSten.Ber. 771 vom 20. Dezember 2001: 732ff.). 545 vgl. BR-Sten.Ber. 771 vom 20. Dezember 2001: 738Bff.; insb. 740B/C: »[Ich bin] Herrn Ministerpräsidenten Müller dafür dankbar, dass er [bei den humanitären Fragen] nicht schwankt. Manchmal ist man Zwängen ausgesetzt, die einen vielleicht in eine schwierige Lage bringen. Aber ich finde es sehr anerkennenswert, dass Herr Ministerpräsident Müller in der Frage der nichtstaatlichen Verfolgung seinen Überzeugungen treu bleibt.« 546 Sie umfassen – fast gleich lautend mit denen von Peter Müller (s. Fn’n. 543, 544): Zielvorstellung der Zuwanderungsbegrenzung in einem eigenen Paragrafen festschreiben, Auswahlverfahren zur Arbeitsmarktzulassung erheblich stärker am Bedarf orientieren, Gründe nichtstaatlicher Verfolgung grundsätzlich ausschließen, Nachzugsalter auf höchstens zwölf Jahre festschreiben (vgl. BR-Sten.Ber. 771 vom 20. Dezember 2001: 724B/C; Interview mit Jörg Schönbohm, Der Tagesspiegel vom 28. Dezember 2001). Im internen Sprachgebrauch wird fortan auch von der »Stolpe-Liste« gesprochen (vgl. z.B. MdB Michael Bürsch im Haushaltsausschuss, Kurzprotokoll der 99. Sitzung vom 27. Februar 2002: 42). 547 Eine Ablehnung bzw. Stimmenthaltung (die im Bundesrat einer Ablehnung gleich kommt) wird von den Ländern Baden-Württemberg (CDU/FDP, 6 Stimmen), Bayern (CSU, 6), Bremen (CDU/SPD, 3), Hamburg (CDU/Partei Rechtsstaatlicher Offensive/FDP, 3), Hessen (CDU/FDP, 5), Saarland (CDU, 3), Sachsen (CDU, 4) und Thüringen (CDU, 4) erwartet.
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Ausschussberatungen Derweil bereitet der Innenausschuss des Bundestages eine Anhörung von Sachverständigen vor, deren Ergebnis Eingang in die Ausschussberatungen zwischen erster und zweiter Lesung im Bundestag nehmen soll. Innenminister Schily lädt noch vor der Beschlussfassung im Innenausschuss zu fraktionsübergreifenden Spitzengesprächen ein, um die Kompromisschancen zu wahren. Auf der parlamentarischen Ebene des Bundestags-Innenausschusses entwickelt sich neben der inhaltlichen Auseinandersetzung um den Gesetzentwurf ein heftiger Verfahrensstreit zwischen den Vertretern der Regierungsfraktionen und der Opposition um die Anberaumung der öffentlichen Anhörung.548 Zum Hearing am 16. Januar 2002 liegen insgesamt 13 schriftliche Stellungnahmen von 17 geladenen Sachverständigen sowie 31 zusätzliche, nicht angeforderte Stellungnahmen vor.549 Mehrere Sachverständige befürworten den Gesetzentwurf im Allgemeinen, wobei besonders von Vertretern der Kirchen und Flüchtlingsorganisationen Mängel im asyl- und menschenrechtlichen Teil Verbesserungen angemahnt werden. Andererseits lehnen einige der von der Union benannten Experten den Entwurf grundsätzlich ab, so dass die Anhörung von einem nicht untypisches Muster geprägt wird: Der Inszenierung eines »Stellvertreterkrieges« der Sachverständigen.550 Nach der Entscheidung zu Gunsten von Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat am 12. Januar verhärten sich die Fronten auch auf der politischen Meta-Ebene. Die Union legt in informellen Verhandlungen nunmehr 16 »ausgewählte Kritikpunkte« vor,551 die sie als gleichwertige Forderungen erfüllt sehen will. Entsprechend scheitert das erste »Spitzengespräch« bei Innenminister Schily am 24. Januar, woraufhin die eigentlich bereits für Ende Januar geplante abschließende Beratung im Bundestag verschoben wird.552 Auch beim zweiten Gespräch findet keine parteiübergreifende Einigung statt. Im Vorfeld des dritten – und letzten – Termins für ein Kompromissgespräch auf höchster Ebene am 20. Februar spitzt sich die Verhandlungssituation innerhalb der Koalition kurzzeitig wieder zu: Auf der Grundlage von Äußerungen des Bundeskanzlers, Qualifizierung und Bildung müssten Einwanderung vorgezogen werden, fordern 548
vgl. i.E. Kurzprotokolle der 81. und 82. Sitzung des Innenausschusses vom 14. Dezember 2001; Antrag auf Ausschuss-Drs. 14/671. 549 vgl. Anlagen 1 und 2 zum Protokoll der 83. Sitzung des Innenausschusses, s. Fn. 413 (Ausschuss-Drsn. 14/67414/647 L, 14/675-14/675 Z sowie 14/681-14/681 E); Stellungnahmen auf Ausschuss-Drsn. 14/690, 14/691, 14/716, 14/745, 14/754, 14/755, 14/759 und 14/762. 550 Insbesondere die Sachverständigen Professoren Herwig Birg und Klaus Bade treten mehrfach als Opponenten im Dienste von Regierung bzw. Opposition in Erscheinung; so sagt Bade: »Ich möchte natürlich vermeiden, dass hier ein Stellvertreterkrieg unter den Sachverständigen ausbricht oder inszeniert wird. Aber ich muss klar sagen: Die von Ihnen angeführten Argumente sind klassische Argumente der CDU/CSU.« (83. Sitzung des Innenausschusses, s. Fn. 549: 70f.) 551 vgl. »Ausgewählte Kritikpunkte am Zuwanderungsgesetz-Entwurf der Bundesregierung und der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen« vom 25. Januar 2002 (http://www.cdu.de/politik-a-z/zuwanderung/ kritik250102.htm, 27.05.2004). 552 vgl. FAZ vom 25. Januar 2002: 4 sowie vom 26. Januar 2002: 4; FR vom 30. Januar 2002: 1. Drei Mal steht das Zuwanderungsgesetz bereits zur abschließenden Beratung im Innenausschuss auf der Tagesordnung und muss wieder gestrichen werden; vgl. die Tagesordnungen des Ausschusses gemäß der Kurzprotokolle der 84., 85. und 87. Sitzung des Innenausschusses vom 23. Januar 2002 (Anlage 1: 36-39); vom 30. Januar 2002 (Anlage: 53-58) bzw. vom 20. Februar 2002 (Anlage: 83-86).
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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Vertreter der SPD die Grünen zu weiteren Zugeständnissen auf, um doch noch einen Kompromiss mit der Union zu erreichen.553 Daraufhin skizziert die Parteivorsitzende Claudia Roth die Möglichkeit eines Vetos durch die rot-grünen Landesregierungen im Bundesrat, die grüne Ausländerbeauftragte Marieluise Beck regt eine »Auszeit« an.554 Gleichzeitig führt eine Äußerung des stellvertretenden SPD-Fraktionsvorsitzenden zum Eklat. Im Rahmen des zu dieser Zeit betriebenen NPD-Verbotsverfahren appelliert Ludwig Stiegler an die besondere Verantwortung von Union und FDP in diesem Verfahren, da »deren Vorläuferparteien am 23. März 1933 Hitler ermächtigt haben«.555 CDU/CSU fordern darauf eine öffentliche Entschuldigung. Mit Verweis auf deren Ausbleiben und die Weigerung Schilys, bereits im Vorfeld einen neuen Entwurf vorzulegen, sagt die Union ihre Teilnahme am fraktionsübergreifenden Gespräch ab.556 Der Dialogfaden im Bundestag ist damit endgültig gerissen. Als Folge des gescheiterten Treffens ist eine Einigung zwischen Regierung und Opposition in den Ausschussberatungen am 28. Februar von vorne herein ausgeschlossen. Erst wenige Tage davor fällt die Entscheidung, mit Blick auf die Zustimmung im Bundesrat nochmals Änderungen vorzunehmen, wobei am Abstimmungstermin 1. März festgehalten wird, um weitere Verzögerungen im Gesetzgebungsverfahren zu vermeiden. Die Bundesregierung entscheidet sich gegen ein Vermittlungsverfahren und stellt in einer mehrtägigen Koalitionsrunde einen Entwurf zusammen, der die essentials der Grünen nicht preisgibt und die Forderungen von FDP und PDS ausreichend berücksichtigt, gemessen an den vier Forderungen Stolpes und Schönbohms aber dem Land Brandenburg die Zustimmung im Bundesrat ermöglicht. Dazu schaltet sich auch Bundeskanzler Schröder in den Koordinationsprozess ein und führt separate Gesprächen sowohl mit der Führung der Bündnisgrünen als auch mit PDS-Mitgliedern der Landesregierungen Mecklenburg-Vorpommerns und Berlins.557 Im Innenausschuss besteht die Union erwartungsgemäß auf ihre 91 Ziffern fassenden Änderungsanträge, die von der Ausschussmehrheit en bloc abgelehnt werden.558 Die Fraktionen von SPD und Grünen lassen ihrerseits über insgesamt 140 Veränderungen im Gesetzestext abstimmen, die sie unter Missachtung der üblichen Fristen erst wenige Tage vor der abschließenden Beratung vorlegen. Ferner sorgen sie dafür, dass auch die mitberatenden Ausschüsse abschließend votieren. Ein solches Vorgehen der Koalition hatte bereits bei den Beratungen zum Terrorismusbekämpfungsgesetz für Unmut gesorgt und führt zu Kritik von allen Seiten.559 Neben redaktionellen Korrekturen und rechtsförmlichen Anpassungen enthält der von der Ausschussmehrheit beschlossene Koalitionsentwurf auch einige Vorschläge der Unionsfraktion im Bundestag bzw. des Bundesrates, berücksichtigt aber insbesondere die 553
vgl. FR vom 7. Februar 2002: 4; FAZ vom 11. Februar 2002: 1. vgl. SZ vom 8. Februar 2002: 5; SZvom 12. Februar 2002: 1, FAZ vom 14. Februar 2002: 4. 555 zit.n. FAZ vom 14. Februar 2002: 4. 556 vgl. FR vom 20. Februar 2002: 4; Die Welt vom 20. Februar 2002: 1f. 557 vgl. SZ vom 26. Februar 2002: 1; FAZ vom 26. Februar 2002: 1f. U.a. droht die PDS mit Zustimmungsverweigerung im Innenausschuss (vgl. 88. Sitzung, s. Fn. 557: 43), erreicht jedoch kaum gesetztesmaterielle Zugeständnisse. 558 vgl. Ausschuss-Drs. 14/699 vom 25. Januar 2002; 88. Sitzung des Innenausschusses vom 28. Februar 2002: 57ff.; Bericht des Innenausschusses vom 28. Februar 2002, BT-Drs. 14/8414: 8-40. 559 vgl. die Dispute im Innenausschuss (88. Sitzung, s. Fn. 558: 55-62) und im Wirtschaftsausschuss (Kurzprotokoll der 75. Sitzung vom 27. Februar 2002: 48-55) sowie im Haushaltsausschuss (vgl. Werner Hoyer, Kurzprotokoll der 99. Sitzung des Haushaltsausschusses vom 27. Februar 2002: 39f.) 554
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Wünsche Brandenburgs (vgl. Kap. 3.4.1.1 sowie Fn. 546). Zwischenzeitlich koppelt Jörg Schönbohm seine Zustimmung jedoch an die Erfüllung der von Peter Müller ergänzend vorgebrachten Forderungen (s.o.) und propagiert das Motto: »Stolpe plus Müller gleich Schönbohm.«560 Die Ausschussempfehlung schlägt auch einige Maßnahmen vor, die wiederum den Interessen der Union direkt widersprechen.561 Ebenso finden vereinzelt Anregungen aus der Expertenanhörung Eingang in die Änderungen der Koalition, ohne dass sich der Innenausschuss mehrheitlich auf das Hearing bezieht. Für den rechtsmateriellen Gehalt des Gesetzes sind sie von relativ geringer Bedeutung. Anregungen der Kirchen, Flüchtlingsorganisationen und Wohlfahrtsverbände werden mit explizitem Verweis auf die parteipolitischen Verhältnisse im Bundesrat nicht aufgenommen.562 Direkte Bezüge zu den Erkenntnissen aus der Sachverständigenanhörung stellt einzig die Fraktion der PDS her.563 Unter dem Eindruck der gescheiterten Einigungsversuche wird die abschließende Debatte im Bundestag von Union, SPD und Bündnis 90/Die Grünen bereits voll im Lichte des Wahlkampfes geführt. Bundeskanzler Schröder, der sich spontan in die Debatte einschaltet, versucht, nochmals die Bedeutung des Reformprojektes hervorzuheben und appelliert in Antizipation der parteitaktischen Auseinandersetzungen im Vorfeld der Abstimmung in der Länderkammer, das Verfahren im Bundesrat nicht in den Wahlkampf zu ziehen.
3.4.1.4 Scheitern des Zuwanderungsgesetzes: »Politische Kampfsituation auf die Spitze getrieben« Bezüglich der vier ursprünglichen von Ministerpräsident Stolpe und seinem Stellvertreter Schönbohm geäußerten Wünsche (vgl. Kap. 3.4.1.3) ist der im Bundestag beschlossene Gesetzentwurf deutlich geändert: Die Forderung, das Ziel der Zuwanderungsbegrenzung in einem eigenen Paragrafen festzuschreiben, ist erfüllt: § 1 wird um eine konkrete Zweckbestimmung im Sinne der Union erweitert (vgl. BT-Drs. 14/8395 vom 27. Februar 2002: 10). Das Auswahlverfahren zur Arbeitsmarktzulassung wird stärker am Bedarf orientiert, u.a. dadurch, dass die Beschränkung auf eine nur regionale Überprüfung des Arbeitsmarktes gestrichen und die Prüfung des gesamten, nationalen Arbeitsmarktes vorgeschrieben wird (vgl. § 39 Abs. 2 Nr. 1 a, ebd.: 30). Das Auswahlverfahren wird zwar nicht komplett gestrichen, die zu seiner Ingangsetzung vorgesehene Rechtsverordnung der Bundesregierung jedoch an die Zustimmung des Bundesrates und des Bundestages gebunden (vgl. § 20 Abs. 3; ebd.: 20). Ferner wird die Vergabe einer Niederlassungserlaubnis an zusätzliche Bedingungen geknüpft (vgl. § 21 Abs. 1, ebd.: 21).
560
BR-Sten.Ber. 774 vom 22. März 2002: 146D. vgl. i.E. die begründeten Änderungsanträge Nr. 9, 16, 19 und 47 der Koalitionsfraktionen zu den §§ 12 Abs. 5, 26, 31 und 81 AufenthG, BT-Drs. 14/8414 (s. Fn. 558): 51ff. 562 vgl. die Aussagen der Abgeordneten Max Stadler und Rüdiger Veit im Innenausschuss; 88. Sitzung (s. Fn. 557): 41, 45. 563 vgl. die entsprechenden, im Bericht des Innenausschusses enthaltenen Änderungsanträge der PDS-Fraktion (BT-Drs. 14/8414, s. Fn. 558: 41, 44f. und 48; Ausschuss-Drsn. 14/700 und 14/700A), die zur Steigerung der öffentlichen Wahrnehmung leicht erweitert auch in der abschließenden Beratung im Plenum des Bundestages eingebracht werden (BT-Drs. 14/8407 vom 28. Februar 2002). 561
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Der im Hinblick auf die Bindungswirkung der Genfer Flüchtlingskonvention unrealistischen Forderung, beim Abschiebungsschutz Gründe nichtstaatlicher Verfolgung grundsätzlich auszuschließen, kommt die Koalition im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach. Die Flüchtlingskriterien Geschlecht und nichtstaatliche Verfolgung werden zwar genannt, sollen aber nur dann vor Abschiebung schützen, wenn die Verfolgung im Sinne eines der im Wortlaut der Konvention genannten Kriterien stattfindet (vgl. § 60 Abs. 1; ebd.: 44). Auch beim regulären Kindernachzug erfüllt man die Forderung Brandenburgs und schreibt als Höchstalter zwölf Jahre fest. Allerdings wird mit Blick auf verfassungsrechtliche Bedenken (Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG) die in § 32 enthaltene Ermessensklausel erweitert, nach der in Ausnahmefällen auch ein Nachzug bis zur Volljährigkeit möglich ist (vgl. § 32 Abs. 4, ebd.: 27). Gemessen an den relativ vage formulierten Forderungen entsprechen diese Überarbeitungen durchaus den Wünschen Brandenburgs. Aus einer prinzipiellen Verweigerungshaltung heraus bleibt jedoch auch eine Enthaltung Brandenburgs im Bundesrat begründbar. Daher spitzt sich die Auseinandersetzung genau wie von Bundeskanzler Gerhard Schröder befürchtet zu. Der mittlerweile personalisierte Wahlkampf zwischen Schröder und Stoiber wird auf die brandenburgischen Protagonisten Stolpe und Schönbohm, die eine prinzipiell gut funktionierende Koalitionskooperation praktizieren, projiziert. Die Wochen bis zur Abstimmung im Bundesrat sind von taktischem Handeln der Parteispitzen von SPD und Union geprägt, die einzig dem Ziel dienen, eine Zustimmung Brandenburgs zu erreichen bzw. zu verhindern.564
»Kampf der Gewalten« II: Inszenierung im Bundesrat Am Vorabend der Entscheidung im Bundesrat scheitert bei getrennten Besprechungen die Intention Brandenburgs, in acht Einzelfragen den Vermittlungsausschuss anzurufen: Die SPD lehnt unter maßgeblichem Druck von Bündnis 90/Die Grünen ein Verfahren des gemeinsamen Ausschusses generell ab, die Union lässt sich durch Schönbohm nicht davon abbringen, das Gesetz als Ganzes auf den Prüfstand zu stellen;565 folglich scheitern tags darauf die Anträge auf Anrufung des Vermittlungsausschusses.566 In beiden politischen Lagern, aber auch zwischen Stolpe und Schönbohm, werden die möglichen Szenarien eines Abstimmungskonfliktes antizipiert und Handlungsoptionen für dessen öffentliche Darstellung eruiert.567 Schönbohm holt sogar ein verfassungsrechtliches Gutachten des Staatsrechtlers Josef Isensee ein, das die Position vertritt, ein in Beratung und Abstimmung geäußerter Widerspruch mache die Stimmen eines Landes ungültig.568 564 vgl. zur Chronologie FAZ vom 15. Februar 2002: 1; vom 26. Februar 2002: 1f.; FR vom 28. Februar 2002: 4; SZ vom 5. März 2002: 6; FR vom 21. März 2002: 1; Der Spiegel Nr. 13 vom 25. März 2002: 23 sowie Nr. 14 vom 30. März 2002: 28, 30. 565 vgl. SZ vom 23./24. März 2002: 2. 566 vgl. BR-Drsn. 157/2/02 und 157/3/02 vom 20. März 2002 sowie BR-Sten.Ber. 774 vom 22. März 2002: 171B/C. 567 vgl. dazu die minutiöse Chronologie der Ereignisse im »Spiegel« Nr. 14 vom 30. März 2002: 26-33. 568 vgl. dazu die ausführlichen Zitate Schönbohms aus dem Rechtsgutachten (BR-Sten.Ber. 774 vom 22. März 2002: 148B/C) sowie die Dokumentation in der FAZ vom 25. März 2002: 3.
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Mehr denn in allen Debatten zuvor dient der mehrstündige Schlagabtausch im Bundesrat der Perpetuierung eines parteipolitischen Dissenses. Im Zentrum der inszenierten Auseinandersetzung steht die Stimmabgabe des Landes Brandenburg. Da laut Art. 51 Abs. 3 Satz 2 GG die vier Stimmen nur einheitlich abgegeben werden dürfen, kommt eine Zustimmung durch den Stimmführer dem Bruch des Koalitionsvertrages gleich, der bei Meinungsverschiedenheiten der Partner eine Enthaltung vorsieht. Beide Protagonisten sind jedoch mit dem ihnen »aufgezwungenen« Konflikt nicht einverstanden, sondern vielmehr an der Fortsetzung ihrer Koalition interessiert. Sie verabreden einen Weg, mit dem dies öffentlich legitimiert werden kann. Die absehbare Zustimmung von Ministerpräsident Stolpe, der in der Debatte symbolisch weitere Zugeständnisse und mündliche Zusagen der Bundesregierung einfordert (– und diese erhält),569 kontert Schönbohm in seinem Redebeitrag mit militärischer Rhetorik und staatspolitischem Pathos: [F]ür die Abstimmung über das Gesetz brauchen Sie [...] die vier Stimmen unseres geschundenen, alten Bundeslandes Brandenburg [...] Die gesamte Operation ist auf den heutigen Tag hin angelegt. Sie kann nur Erfolg haben, wenn das Bundesland Brandenburg erpresst wird und zustimmt oder die Koalition auseinander geht. [...] Wollen Sie auf den Trümmern der Brandenburger Koalition ein Gesetz verabschieden, das dem Bedürfnis und der Notwendigkeit des deutschen Volkes nicht entspricht? [...] [Ich werde] bei diesem Gesetz mit Nein stimmen. […I]ch kann nicht anders entscheiden, als ich es hier dargestellt habe. Meine Verantwortung gegenüber unserem Vaterland gebietet mir das. Ich möchte schließen mit dem Bekenntnis von General von der Marwitz, […] der gesagt hat: »Wählte Ungnade, wo Gehorsam keine Ehre brachte.« (ebd.: 147B-149A; Herv.i.Orig.)
Als das Land Brandenburg zur Stimmabgabe aufgerufen wird, antwortet der stimmführende Minister Alwin Ziel mit »Ja«, Schönbohm jedoch unmittelbar darauf mit »Nein«. Bundesratspräsident Klaus Wowereit weist auf das Gebot der einheitlichen Stimmabgabe nach dem Grundgesetz hin und richtet die Frage, wie das Land Brandenburg abstimme, direkt an Manfred Stolpe. Auf dessen Zustimmung »als Ministerpräsident des Landes Brandenburg« wiederholt Schönbohm sein »Nein« nicht mehr explizit, woraufhin Wowereit feststellt, Brandenburg habe zugestimmt (vgl. den genauen Wortlaut in Anhang 11). Die Ministerpräsidenten der Union interpretieren diese Wertung Wowereits unter lautstarken Zwischenrufen als Bruch der Verfassung, provozieren einen Eklat und verlassen schließlich den Saal, so dass die restlichen Tagesordnungspunkte ohne sie abgehandelt werden.570 Ebenso wie das Vorgehen des Präsidenten Wowereit aus vorherigem Kalkül und unter Einbeziehung verschiedener Szenarien erfolgte,571 ist auch die Reaktion der Ministerpräsidenten im Bundesrat keineswegs authentisch. Saarlands Ministerpräsident Müller berichtet zwei Tage später von der internen Vorbesprechung der Union und entlarvt die »colère publique politique« (Fischer-Lescano & Spengler 2002) als taktische Inszenierung: »Die dort geäußerte Empörung […] entstand nicht spontan. Die Empörung haben wir verabredet. Und ich sage, das war Theater, aber es war legitimes Theater.«572 569 vgl. die acht Forderungen Stolpes, die er mit Passus beendet: »Herr Bundesinnenminister, Sie haben es jetzt in der Hand, mit klaren Aussagen meine Entscheidung zu beeinflussen.« (BR-Sten.Ber. 774 vom 22. März 2002: 153B-D) sowie die präzisen Einlassungen auf diese Forderungen in der Replik Schilys (ebd.: 169C-161C). 570 vgl. BR-Sten.Ber. 774 vom 22. März 2002: 175Dff.; SZ vom 25. März 2002: 41. 571 Für den Fall einer uneinheitlichen Stimmabgabe eines Landes liegt vor der Abstimmung sogar ein interner juristischer Vermerk des Direktoriums vor, den er jedoch nicht vollständig berücksichtigt. 572 Peter Müller »Politik und Theater – Darstellungskunst auf der politischen Bühne«, Vortrag gehalten am 24. März 2002 im Staatstheater Saarbrücken (zit.n. SZ vom 27. März 2002: 17); vgl. Sarcinelli (2002); Schicha (2007).
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Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht Mit dem Abstimmungskonflikt im Bundesrat scheint das Bemühen um eine parteiübergreifende Lösung zur Regelung der Zuwanderungsfrage in einem Gesetz endgültig gescheitert. Denn der sachpolitische Dissens wird nun zusätzlich von einem ungleich größeren und wesentlich stärker parteipolitisch aufgeladenen Verfahrensstreit um die Grundgesetzkonformität der Abstimmung überlagert, der in Anbetracht des begonnenen Wahlkampfes mit Nachdruck geführt wird. Nach der durch seinen Präsidenten festgestellten Zustimmung des Bundesrates hat der Bundespräsident gemäß Art. 82 Abs. 1 GG das Gesetz gegenzuzeichnen, auszufertigen und im Bundesgesetzblatt zu verkünden. Ob er das tun soll, ist höchst umstritten. Bis zum Jahresende 2002 kommt der Diskurs um die Inhalte des Zuwanderungsgesetzes darüber fast vollständig zum Erliegen.573 Johannes Rau nutzt seine Freiheit, das Gesetz und sein Zustandekommen vor der Unterzeichnung ohne zeitliche Begrenzung durch seine Justiziare zu prüfen. Die Ministerpräsidenten der Union stellen in getrennten, jedoch weitgehend gleichlautenden Briefen an das Staatsoberhaupt fest, die Stimmen Brandenburgs seien ungültig gewesen;574 von einzelnen Parteivertretern wird Rau zum Teil massiv unter Druck gesetzt, nicht zu unterschreiben.575 Mitte Juni führt er ein Gespräch mit den beiden Protagonisten der Bundesratsentscheidung, Ministerpräsident Stolpe und Innenminister Schönbohm, um zusätzliche Erkenntnisse zu gewinnen.576 Am 20. Juni – dem vom UNHCR deklarierten »Tag des Flüchtlings«, und damit nicht ohne Symbolkraft – paraphrasiert er das Zuwanderungsgesetz und veröffentlicht dazu eine ausführliche Stellungnahme. In seiner »Erklärung zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes« rügt Johannes Rau mit ungewöhnlicher Schärfe und Direktheit das Verhalten der beteiligten Parteipolitiker und spricht von einem Ansehensverlust, der Staat und Politik zugefügt worden sei.577 Das Zuwanderungsgesetz erlangt Gesetzeskraft.578 Daraufhin beantragen das Saarland, Baden-Württemberg, Bayern, Hessen, Sachsen und Thüringen gemeinsam ein Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht. Auch nach der Bestätigung der Regierungskoalition bei der Wahl am 27. September betreibt die Union das Verfahren engagiert weiter, um das Inkrafttreten des rot-grünen Prestigeprojektes zu Beginn der neuen Legislaturperiode zu verhindern. In der mündlichen Verhandlung am 23. Oktober und den folgenden Erörterungen des Zweiten Senats des BVerfG wird der Konflikt im Bundesrat nüchtern als Verfahrensproblem dahingehend diskutiert, ob und wann der Sitzungsleiter eine formell korrekte Abstimmung wiederholen darf. Die Richter verneinen dies in ihrem Urteil vom 18.
573 Die Diskussion, ob die Zustimmung des Bundesrates zum Zuwanderungsgesetz grundgesetzkonform zu Stande gekommen ist, soll jedoch hier nicht weiter ausgeführt werden, da sie für die Fragestellung dieser Arbeit von geringer Relevanz ist. Vgl. dazu die erschöpfende juristische Literatur bei Meyer (2003); Dörr und Wilms (2002), Gröschner (2002), Schenke (2002) sowie – bereits unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes – Gusy (2003), Lang (2003), Starck (2003) und Tetzlaff (2003). Im folgenden Exkurs sollen lediglich die zur Rekapitulation der politischen Entscheidungsmodi notwendigen Eckpunkte skizziert werden. 574 vgl. SZ vom 27. März 2002: 1; FAZ vom 28. März 2002: 1. 575 vgl. etwa »CSU-Appell an Rau«, taz vom 23. April 2002; »SPD und Union setzen Rau unter Druck«, taz vom 22. Mai 2002; »Beckstein droht Rau mit ›massiven Fragen‹«, SZ vom 31. Mai 2002. 576 vgl. SZ vom 29. Mai 2002: 8; WamS vom 2. Juni 2002. 577 »Erklärung von Bundespräsident Johannes Rau zur Ausfertigung des Zuwanderungsgesetzes am 20. Juni 2002 im Schloss Bellevue in Berlin«, (http://www.bundespraesident.de, 21.06.2002). 578 vgl. BGBl. I 2002: 1946ff.
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Dezember. Wegen der Unvereinbarkeit seines Zustandekommens mit Art. 79 GG sei das Zwanderungsgesetz daher nichtig. An einer Zustimmung des Landes Brandenburg zum Zuwanderungsgesetz fehlt es, weil bei Aufruf des Landes die Stimmen nicht einheitlich abgegeben wurden. [...] Der nachfolgende Abstimmungsverlauf ist nicht mehr rechtserheblich, weil er sich außerhalb der verfassungsrechtlich gebotenen Form des Abstimmungsverfahrens bewegte. [...]. Der sitzungsleitende Bundesratspräsident hatte in diesem besonderen Fall kein Recht zur Nachfrage.579
3.4.2 Das zweite Gesetzgebungsverfahren: »Geheimverhandlungen! Am Parlament vorbei!« 3.4.2.1 Rituelle Polemik: »Conditio sine qua non« Nach der Bundestagswahl beschließt das neue rot-grüne Kabinett 15. Januar 2003, den alten Gesetzentwurf unverändert in das legislative Verfahren einzubringen.580 Strategisch wird damit bereits eine Auseinandersetzung im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat antizipiert,581 in dessen Vorfeld sich die Debatte des Vorjahres in ähnlicher Weise und unter Beteiligung der gleichen Akteure wiederholt. Der Bericht der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« spielt darin faktisch kaum mehr eine Rolle; der zeitliche Abstand scheint bereits zu groß.582 Bei der Union geraten die Ergebnisse der Müller-Kommission, die schon im ersten Gesetzgebungsverfahren nicht zur Grundlage des politischen Handelns gemacht worden waren, weiter in Vergessenheit. Bezugspunkt sind vielmehr die bereits formulierten Änderungswünsche zum Koalitionsentwurf, die noch einmal um einige für Rot-Grün inakzeptable Punkte erweitert werden.583 Die sich weiterhin konstruktiv verhaltenden FDP verhindert zwar zunächst im Bundesrat durch ihr Veto den federführend von der Union erarbeiteten Katalog von Beschlussempfehlungen;584 im Bundestags-Innenausschuss bezeichnet die Union die inhaltliche Umsetzung von 128 fast gleichlautenden Änderungsanträgen hinge579
BVerfG-E, 2 BvF 1/02 vom 18. Dezember 2002, Abs. 134-141. Gemäß § 31, Abs. 2 BVerfG-G erlangt die Entscheidungsformel Gesetzeskraft und wird im Bundesgesetzblatt veröffentlicht (BGBl. I 2003: 126). Die Richterinnen Gertrude Lübbe-Wolf und Lerke Osterloh formulieren eine abweichende Meinung. Zur Urteilskritik vgl. ferner Robert Leicht, »Sieg der Rituale« (Die Zeit Nr. 1 vom 23. Dezember 2002: 8); Reinhard Müller, »Mehr als eine Formsache« (FAZ vom 19. Dezember 2002: 3); Andreas Zielcke, »Spielball. Das Karlsruher Urteil beschädigt das Gericht« (SZ vom 20. Dezember 2002: 13) sowie Karlheinz Niclauß, »Urteilsschelte über das Abstimmungsverhalten im Bundesrat« (Das Parlament Nr. 51-52 vom 23./30. Dezember 2002: 3). 580 vgl. Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), BR-Drs. 22/03 vom 16. Januar 2003 sowie BT-Drs. 15/420 vom 7. Februar 2003 (fortan: ZuwG-E). Im Koalitionsvertrag hatten die Grünen noch einen Prüfauftrag dahingehend durchgesetzt, »welche humanitären Vorschläge aus dem Bericht der Süssmuth-Kommission umgesetzt werden können« (vgl. »Erneuerung – Gerechtigkeit – Nachhaltigkeit. Für ein wirtschaftlich starkes, soziales und ökologisches Deutschland. Für eine lebendige Demokratie«, Koalitionsvereinbarung vom 16. Oktober 2002: 57). 581 vgl. PM der Bundesregierung vom 15. Januar 2003: »…ist zu erwarten, dass es zu einem Vermittlungsverfahren kommen wird.« (http://www.bmi.bund.de/dokumente/Pressemitteilung/ix_91331.htm, 11.02.2003). 582 vgl. Interview Stadler: 52 sowie ders., BT-Pl.Pr. 15/44 vom 9. Mai 2003: 3652D. 583 vgl. etwa Empfehlung zu § 4 StAG (Ziffer 107), Empfehlungen der Ausschüsse, BR-Drs. 22/1/03 vom 25. Februar 2003: 94. 584 vgl. BR-Drs. 22/1/03 vom 25. Februar 2003; »Bei der Zuwanderung versucht sich die FDP als Blockierer der Blockade«, FR vom 14. Februar 2003: 1 sowie »Ein wackeliges Unentschieden«, FAZ vom 15. Februar 2003: 6.
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gen als »conditio sine qua non«.585 Raum für einen öffentlichen und vor allem öffentlichkeitswirksamen Diskurs ist dennoch vorhanden – und wird in erster Linie zu einem Schlagabtausch genutzt. Gerade im Parlament sind die beiden mehrstündigen Plenar-»Beratungen« vom parteipolitischen Streit (nicht von sachpolitischer Auseinandersetzung) geprägt. Von Seiten der Union wird der Entwurf kaum mit sachlichen Argumenten, sondern mit Verweis auf die Meinung der Bevölkerung abgelehnt.586 Inhaltlich gibt es hingegen für die parteipolitischen Kontrahenten offenbar keinen weiteren Klärungsbedarf: Ein Antrag der FDP, im Innenausschuss des Bundestages erneut eine Anhörung von Sachverständigen durchzuführen wird dort durch Ablehnung der SPD bei Enthaltung der Grünen verhindert; der als Kompromissvorschlag eingebrachte eigene FDP-Entwurf bleibt in der parlamentarischen Beratung ebenfalls chancenlos.587
Plan B der Grünen: Gesetzespartition Bereits nachdem sich das Scheitern des Gesetzes in Karlsruhe ankündigt, gibt es bei Bündnis 90/Die Grünen zahlreiche Stimmen, die sich gegen eine Neueinbringung und die damit verbundene Kompromisssuche mit der Union aussprechen und stattdessen für eine Zurückstellung bzw. die Umsetzung lediglich der Regelungen aussprechen, die nicht der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. In einer Koalitionsrunde unmittelbar vor dem Karlsruher Richterspruch sichert Bundeskanzler Schröder den Grünen jedoch zu, diese im Rahmen eines Vermittlungsverfahren zu beteiligen und keine Nebenabsprachen Schilys mit der Union zuzulassen.588 Daneben besteht seitens der Grünen die Hoffnung, über die Richtlinienvorschläge der EU-Kommission, deren Verhandlung im Europäischen Rat aufgrund der Kompromisssuche von Bundesinnenminister Schily blockiert bzw. verzögert werden (vgl. Musekamp 2004), zu besseren Politikergebnissen zu gelangen, als durch eine Einigung mit der Union im nationalen Rahmen. Auch auf Seiten der CDU gibt es Bestrebungen, ein umfassendes Zuwanderungsgesetz durch abgekoppelte Regelungen zu konterkarieren.589 Obwohl die Parteivorsitzende Angela Merkel die Initiative nicht verhindern kann, setzt sie intern einen kooperativen Kurs mit dem Ziel eines Vermittlungsverfahrens durch. Für die SPD kommt ein Aufschnüren nur als worst-case-Szenario in Frage, zu viel hängt an dem Vorhaben als Ganzes, das der Innenmi-
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BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 49. BT-Pl.Pr. 15/31 vom 13. März 2003: 2321C/D. Der Bezug auf die vox populi wird in zahlreichen Äußerungen hergestellt, so etwa auch in der abschließenden Debatte bei dem Abgeordneten Reinhard Grindel, der dem Appell von Bundesinnenminister Schily »Versuchen Sie, aus Ihrer Ecke herauszukommen!« entgegnet: »Dann steht die ganze Bevölkerung in der Ecke!« (BT-Pl.Pr. 15/44 vom 9. Mai 2003: 3666C). Michael Glos und Volker Kauder reklamieren explizit, es gehe um die Berücksichtigung der Meinung »des deutschen Volkes«. 587 vgl. BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 5f. sowie »Entwurf eines Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungssteuerungs- und Integrationsgesetz – ZuwStIG), BT-Drs. 15/538 vom 11. März 2003. 588 vgl. FR vom 19. Dezember 2002: 3. 589 vgl. den durch Niedersachsen im Bundesrat eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Integration von Ausländern (Integrationsförderungsgesetz), BR-Drs. 457/03 vom 2. Juli 2003, der auf einem älteren Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg basiert; vgl. »Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Integration von auf Dauer bleibeberechtigten Ausländern (Integrationsgesetz – IntegG)«, BR-Drs. 616/00 vom 12. Oktober 2000. 586
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
nister zu seinem persönlichen Projekt gemacht hat.590 Den Grünen bleibt mit Blick auf das Vermittlungsverfahren nur die »opt out« – mit dem Risiko einer Koalitionskrise.
3.4.2.2 Parteienwettbewerb im Bundesstaat: »StGB ins BGB umschreiben« Nach dem Beschluss durch die Koalition im Bundestag erhält das Gesetz im Bundesrat erwartungsgemäß nicht die notwendige absolute Stimmenmehrheit, woraufhin die Bundesregierung den Vermittlungsausschuss anruft.591 Aufgrund der bevorstehenden Landtagswahl in Bayern am 21. September 2003 wird der Auftakt der Verhandlungen um mehrere Monate verschoben, da die CSU im Wahlkampf das Zuwanderungsgesetz weiterhin vehement ablehnt und die Parteien davor nicht mit einer konstruktiven Gesprächsatmosphäre rechnen:592 Im Sommer 2003 verschwindet das Thema Zuwanderungsgesetz praktisch aus der öffentlichen Wahrnehmung. Das Verfahren im Vermittlungsausschuss ist klar auf das Erreichen eines für alle Beteiligten parteipolitisch vertretbaren Kompromisses ausgerichtet. Selbst Bündnis 90/Die Grünen geben sich nüchtern dieser Logik hin. Als Kriterium für die Zustimmung gilt nunmehr lediglich, dass der erarbeitete Kompromiss »besser als der jetzige Rechtszustand ist.«593 Auf der anderen Seite macht nach ihrem Erfolg bei der Landtagswahl die CSU ihr Gewicht deutlich, gibt in einem Papier des Innenministeriums eine besonders harte Verhandlungslinie vor und benennt unverzichtbare Kernforderungen.594 Der Berücksichtigung von Praktikabilitätserwägungen und konzeptioneller Stringenz bei der Formulierung eines Kompromissgesetzes sind somit bereits vorab enge Grenzen gesetzt. Bei der Fraktion der CDU/CSU geht man quasi von einer Unvereinbarkeit der Positionen aus: Das Zuwanderungsgesetz ist ein Stapel und die Änderungsanträge der Union sind der andere Stapel – […] das mit den Änderungsanträgen ist genauso, als wenn Sie das StGB ins BGB umschreiben wollen. Die Änderungsanträge waren dicker als das Gesetz. (Interview Helm: 18)
Marathon im Vermittlungsausschuss: »Das Spiel ist aus!« In seiner Sitzung am 24. September 2003 beschließt der Vermittlungsausschuss die Bildung einer Arbeitsgruppe, die in einem gesonderten Verfahren einen Einigungsvorschlag erarbeiten soll. Die eigentlichen Deliberationen sind also ausgelagert. Das Mandat zur Verhandlung erhalten 20 Vertreter der Länder, Parteien und Fraktionen, wobei Grüne und FDP numerisch äußerst schwach in der Arbeitsgruppe vertreten sind: Der parlamentarische Geschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen Volker Beck wird entsandt, von Seiten der FDP nimmt Max Stadler an den Sitzungen teil. Neben Bundesinnenminister Schily verhandeln
590 Innenminister Schily äußert in einem Zeitungsinterview, er »werde das Gesetz nicht aufspalten lassen« (zit.n. SZ vom 10./11. Mai 2003: 9). 591 vgl. vgl. BT-Pl.Pr. 15/44 vom 9. Mai 2003: 3670B/C sowie BR-Sten.Ber. 789 vom 20. Juni 2003: 182A; BTDrs. 15/1365 vom 3. Juli 2003. 592 vgl. FAZ vom 21. Mai 2003: 1 sowie SZ vom 21. Mai 2003: 6. 593 MdB Volker Beck, BT-Pl.Pr. 15/44 vom 9. Mai 2003: 3652C. 594 vgl. SZ vom 24. September 2003: 6.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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ferner jeweils neun Sozialdemokraten und Unionsvertreter um einen Kompromiss.595 Unter diesen 20 Akteuren sind nur zwei ordentliche Mitglieder des Vermittlungsausschusses (Hans-Joachim Hacker, Peter Müller); drei weitere sind stellvertretende Mitglieder (Volker Beck, Wolfgang Bosbach, Dieter Wiefelspütz). Die Gruppe tagt zwar im Auftrag des Vermittlungsausschusses, de facto dominieren jedoch Verhandlungsmuster, die deutlich durch externe Positionen sowie das Vorhandensein informeller Kommunikationskanäle geprägt sind. Auf Regierungsseite agieren der Innenminister und der Koalitionsausschuss, bei der Opposition die Parteiführungen.596 Ähnlich wie während des Mandats der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« fungiert das BMI als logistisch-infrastruktureller »Gastgeber«. Konferiert wird in den Räumen des Ministeriums auf der Grundlage von ad-hocTerminierungen. Obwohl sämtliche Sitzungen der Arbeitsgruppe unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden, dringen zahlreiche Details aus den Gesprächen nach außen. Denn einerseits flammt mit Beginn des Vermittlungsverfahrens das Medieninteresse wieder auf, zum anderen treten einzelne Vertreter bewusst an die Öffentlichkeit, um damit Druck auf die beteiligten Akteure aufzubauen.597 So versucht etwa Volker Beck von Bündnis 90/Die Grünen mit zahlreichen Zeitungsinterviews öffentlichen Druck auf die Unionsseite aufzubauen und seine schwache Ausgangsposition im Kampf um die Berücksichtigung der Interessen seiner Partei zu kompensieren.598 Vertreter der Union äußern die Option, sich gegen Bündnis 90/Die Grünen mit der SPD einigen zu können.599 Während bei den Konfliktthemen Härtefallregelung, Kindernachzugsalter und Integrationsmaßnahmen Einigungsmöglichkeiten signalisiert werden, bleiben Anwerbestopp sowie nichtstaatliche bzw. geschlechtsspezifische Verfolgung hoch kontrovers. Auch das Punktesystem lehnt die Union mehrheitlich kategorisch ab. Bündnis 90/Die Grünen bezeichnen es hingegen als essenziell für das Gesetz. Doch ihr Widerstand gegen den Verzicht auf das Auswahlverfahren im Punktesystem ist zu diesem Zeitpunkt rein symbolischer bzw. instrumenteller Natur, um Verhandlungsspielraum bei anderen Streitpunkten zu wahren. Das »grüne Herz« hängt nicht daran.600 Nachdem auch die vierte Gesprächsrunde am 16. Januar gescheitert ist, stehen die Verhandlungen kurz vor dem Abbruch. Ihre Fortsetzung wird mehrfach verschoben und die Ar595
Für die »A-Seite« sind die Innenminister bzw. -senatoren von Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin, Fritz Behrens, Klaus Buß, Walter Zuber, Gottfried Timm und Ehrhart Körting sowie die Abgeordneten Hans-Joachim Hacker, Dieter Wiefelspütz, Rüdiger Veit und Michael Bürsch vertreten. Ihnen stehen auf der »B-Seite« der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, der den Vorsitz übernimmt, die Innenminister Bayerns, Baden-Württembergs, Niedersachsens und Thüringens, Günther Beckstein, Thomas Schäuble, Uwe Schünemann und Andreas Trautvetter sowie die Abgeordneten Wolfgang Bosbach, Hartmut Koschyk, Thomas Strobl und Erwin Marschewski gegenüber. 596 So bemüht sich Bundesinnenminister Schily in kleineren Vorab-Runden mit der B-Seite, »die letzten Stolpersteine beiseite zu räumen« (FAZ-Interview mit Otto Schily vom 29. Januar 2004: 4). Innerhalb der Koalition wird eigens zur Koordination im Vermittlungsverfahren ein kleiner Koalitionsausschuss zusammengestellt, der als »Begleitgruppe« bezeichnet wird (ebd.). 597 Mittels Printmedienauswertung lässt sich der chronologische – bedingt auch der inhaltliche – Verlauf der Verhandlungen gut rekapitulieren. So tagt die Arbeitsgruppe in verschiedenen Konstellationen am 25. Oktober, 14. November, 5. Dezember 2003 sowie am 16. Januar, 27. Februar, 8. März, 12. März, 21. März, 1. April, 30. April/1. Mai 2004 für insgesamt über 70 Stunden, ohne zu einem Kompromiss zu gelangen. 598 vgl. etwa die Interviews mit Volker Beck: Die Welt vom 13. Februar 2004: 3; FR vom 6. März 2004; SZ vom 8. März 2004: 6; FAZamSo vom 14. März 2004: 2. 599 vgl. Peter Müller, Welt-Interview vom 9. Februar 2004: 4 sowie Toralf Staud: »Ein Reförmchen. Union und SPD könnten sich beim Zuwanderungsgesetz einigen – auf Kosten der Grünen«, Die Zeit Nr. 4 vom 15. Januar 2004. 600 vgl. Ausländerbeauftragte Marieluise Beck (FAZ vom 23. Oktober 2003: 1).
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beitsgruppe temporär auf sieben Personen verkleinert, um innerhalb einer konzentrierten Diskursarena die Einigungschancen für einen groben Kompromiss zu erhöhen.601 Der Streit um das Zuwanderungsgesetz koinzidiert zu diesem Zeitpunkt mit weiteren innerkoalitionären Konflikten, weswegen Bündnis 90/Die Grünen am 16. Februar einen Sonder-Parteirat, bestehend aus dem Bundesparteivorstand und den Landesvorsitzenden, einberufen.602 Hier wird vor allem die grüne Verhandlungsposition zu den flüchtlingspolitischen Streitthemen gestärkt, während man konzediert, dass die Aufhebung des allgemeinen Anwerbestopps und die Einführung eines Punktesystems nicht durchsetzbar seien.603 Auf dieser Basis soll im März der Durchbruch der Verhandlungen gelingen. Die Logik des bargaining für compromise, ein Vermittlungsergebnis rücke dadurch näher, dass nunmehr auch die Union Abstriche von ihren Maximalpositionen anbieten werde, wird durch die Terroranschläge in Spanien vom 11. März jäh durchkreuzt: Sicherheits- und Gefahrenabwehraspekte nehmen Eingang in die Verhandlungen der Arbeitsgruppe; der bayerische Innenminister Beckstein formuliert ein Junktim, indem er die Zustimmung der Union zu dem Gesetz an die Nachbesserung seiner sicherheitsrelevanten Inhalte knüpft, die als klar verfassungswidrig gelten.604 Bereits ab Mitte März verhandelt Otto Schily in einem gesonderten Verfahren mit vier Länderinnenministern um eine Reform der Sicherheitsarchitektur in Deutschland.605 Mehr denn zuvor zeigt sich, dass die in Zuwanderungsfragen stark durch die Position der Innenminister geprägte Position der SPD leichter mit den Vorstellungen der Union zu vereinen ist, als mit denen des Koalitionspartners. Nach Angaben des Verhandlungsführers der CDU/CSU-Fraktion Wolfgang Bosbach hätten bei der Frage der Inneren Sicherheit nicht nur die Union zusätzliche Forderungen »draufgesattelt«, sondern auch die SPD: »Auf einmal wollte die Koalition Sicherheit ganz oben auf der Tagesordnung haben und Schily und Wiefelspütz kamen mit Vorschlägen, die weitergingen als unsere.« (Interview Bosbach: 73) Obwohl Peter Müller als Vorsitzender der Arbeitsgruppe ein Punktesystem in abgewandelter Form als Kompromissvorschlag beibehält, bleibt die stark von der CSU geprägte Position der Unionsgruppe hart.606 Wegen seiner fortgesetzten Bemühungen um einen Kompromiss gehen wichtige Teile der CSU-Landesgruppe deutlich auf Distanz zu ihrem Verhandlungsbevollmächtigten Beckstein.607 Auf der anderen Seite steht die Parteiführung von Bündnis 90/Die Grünen bereits vor der Sicherheitsdebatte in den eigenen Reihen unter Druck und schaltet sich mit skeptischen Äußerungen wieder stärker in die Verhandlungen ein, stets unter Androhung eines Abbruches des Kompromisssuche.608 Nach einem vermeintlich letzten, zweitägigen Verhandlungsanlauf ohne konkrete Einigung proklamiert der Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer im Anschluss an eine Sitzung von Parteirat und vorstand den Beschluss der Parteiführung: »Das Spiel ist aus«.609 601 Vertreten sind nunmehr Schily, Müller, Bosbach, Beck, Wiefelspütz, Stadler und Beckstein. Die eher liberalen, grünen-nahen SPD-Abgeordneten Bürsch und Veit sind damit ebenso ausgeschlossen wie die rechtskonservativen Innenpolitiker der CDU/CSU-Fraktion Koschyk, Marschewski und Strobl. 602 vgl. FAZ vom 17. Februar 2004: 2. 603 vgl. SZ vom 28. Februar 2004: 7. 604 vgl. SZ vom 13. März 2004: 1 sowie vom 17. März 2004: 35; Tagesspiegel am Sonntag vom 14. März 2004. 605 vgl. SZ vom 16. März 2004: 6; taz vom 16. März 2004: 4. 606 vgl. FAZ vom 5. Februar 2004: 2. 607 vgl. Die Welt vom 31. März 2004: 4. 608 vgl. taz vom 28. Januar 2004: 7; SZ vom 4. Februar 2004: 5.; SZ vom 9. Februar 2004: 6. 609 zit.n. SZ vom 4. Mai 2004: 1; vgl. FR-Interview mit Reinhard Bütikofer vom 5. Mai 2004: 4. Kurz darauf bestätigt der »Kleine Parteitag« diese Linie (vgl. Beschluss zur Zuwanderung »Blockadestrategie der Union
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Auf den Kanzler kommt es an Mit dem unilateralen Ausstieg der Grünen aus den Verhandlungen verengt sich die Diskursarena abermals: auf die Kabinetts-, Koalitions- und Parteispitzen. Sowohl Innenminister Schily als auch Bundeskanzler Schröder und der erst wenige Wochen zuvor gewählte neue SPD-Vorsitzende Franz Müntefering sprechen sich deutlich für eine Weiterführung der Gespräche aus und missbilligen die Linie des Koalitionspartners.610 Gerade für Schily wäre nach dem von ihm initiierten und vor dem BVerfG gescheiterten NPDVerbotsverfahren ein Scheitern des Gesetzgebungsprozesses eine weitere politische Niederlage gewesen. In der Kabinettssitzung am 5. Mai sowie im Koalitionsausschuss am 7. Mai zieht Schröder das Verfahren an sich, um die Konflikte innerhalb der Koalition zu überwinden; nach zahlreichen informellen Gesprächen zwischen Schröder, Außenminister Fischer, Schily und den Koalitionsspitzen wird ein einvernehmliches Vorgehen vereinbart: Der Bundeskanzler klärt in Gesprächen mit der Opposition, ob eine Einigungschance besteht; in diesem Fall muss der Vermittlungsausschuss noch im Juni zu einem Ergebnis kommen. Die Grünen erhalten das Zugeständnis, dass andernfalls Teile des Gesetzes im Alleingang von der Koalition durchgesetzt werden; die Arbeiten dazu sollen ggf. noch vor der Sommerpause aufgenommen werden.611 Von Seiten der Union wird prinzipiell fortgesetzte Gesprächsbereitschaft signalisiert, denn eine Fundamentalblockade lehnt die CDU-Vorsitzende aus taktischen Gründen ab, um nicht für ein Scheitern verantwortlich gemacht zu werden.612 Nach der Logik wechselseitiger Schritte der Annäherung bleibt es nun dem Verhandlungsführer der CDU Peter Müller vorbehalten, die Forderungen der Union öffentlich zu reduzieren.613 Während er die bereits erfolgten Zugeständnisse gegenüber der Koalition bei der humanitären Zuwanderung explizit nicht mehr in Frage stellt, formuliert Müller lediglich vier Kernforderungen, die CDU und CSU in einem Kompromiss erfüllt sehen wollen: Ausweisungsregelung für Schleuser oder sog. Hassprediger; Regelausweisung ausländischer Straftäter bei Freiheitsstrafe ohne Bewährung von mehr als zwei Jahren; Regelanfrage beim Verfassungsschutz vor Erteilung eines Daueraufenthaltsrechtes; Warndatei zur Sammlung von Informationen über gefährliche Personen. Bundeskanzler Schröder bemüht sich in den folgenden Tagen erfolgreich um Moderation und Kompromissmanagement. Er macht die Zuwanderung erneut zur Chefsache; das Ziel einer »politischen Einigung« wird bewusst auf der Spitzenebene der Parteivorsitzenden und relativ unbelastet von den Akteurskonstellationen in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses gesucht. Abgeleitet aus dem reduzierten Forderungskatalog der Union und nach Vorabstimmungen mit den Vorsitzenden der Koalitionsparteien Müntefering und Bütikofer legt er Merkel und Stoiber am 25. Mai 2004 ultimativ einen Kompromissvorschlag vor, zu dem er zunächst auch die persönliche Zustimmung des FDP-Vorsitzenden durchbrechen – zustimmungsfreie Möglichkeiten nutzen« des 1. Ordentlichen Länderrates am 8. Mai 2004 in Berlin). 610 vgl. FAZ vom 5. Mai 2004: 1; SZ vom 4. Mai 2004: 1 sowie vom 6. Mai 2004: 3. 611 vgl. SZ vom 6. Mai 2004: 3; vom 7. Mai 2004: 6 sowie vom 8. Mai 2004: 2. 612 vgl. SZ vom 5. Mai 2004: 1 sowie Der Spiegel Nr. 23 vom 29. Mai 2004: 22f. 613 vgl. SZ-Interview vom 17. Mai 2004: 5.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Westerwelle einholt.614 Bei dem Gespräch zwischen Schröder, Merkel und Stoiber wird das Papier der ebenfalls schriftlich fixierten Position der Union gegenübergestellt – es ergeben sich weit reichende Kongruenzen, die in weniger als einer Stunde die Formulierung eines Kompromisses in einem acht Punkte umfassenden Papier ermöglicht (vgl. Anhang 12). Die rechtstechnische Ausgestaltung – die Formulierung des eigentlichen Gesetzes – wird auf die fachliche Ebene einer dreiköpfige Arbeitsgruppe, bestehend aus Schily, Müller und Beckstein, zurückverlagert wird. Als weiteres Zugeständnis an die Union bleiben Bündnis 90/Die Grünen außen vor. Auf diese Weise erhalten Schily und sein Ministerium die Federführung im Gesetzgebungsverfahren zurück. Sowohl die Arbeiten der beiden vom Vermittlungsausschuss beauftragten Verhandlungskommissionen als auch der Einsatz der Parteivorsitzenden und des Bundeskanzlers – ohne dessen Mitwirkung »der Kompromiss nicht zustande gekommen wäre«615 – sind damit hingegen beendet. Schließlich fasst der Vermittlungsausschuss in der 2. Fortsetzung seiner 9. Sitzung am 30. Juni 2004 einstimmig Beschluss über den von Schily, Müller und Beckstein erarbeiteten Einigungsvorschlag.616 Unverzüglich wird diese Beschlussempfehlung auch durch Bundestag (bei nur vier Gegenstimmen) und Bundesrat angenommen.617 Die Vertreter des Volkes bzw. der Länder fungieren nur noch als nachträgliche Ratifikationsinstanz. Mit Ausnahme von Peter Müller sind keine Mitglieder des Vermittlungsausschusses an der finalen Erarbeitung des Gesetzes direkt beteiligt. Faktisch wird der relevante Teil des Kompromissverfahrens also fast ausschließlich auf informellen, teils arkanen Wegen bestritten. Dies verdeutlicht – in humoristischer Weise – auch ein Auszug aus dem Plenarprotokoll zur abschließenden Debatte im Bundestag während der Rede von Peter Müller: Der Bundeskanzler hat [...] dafür gesorgt, dass am Ende [...] diejenigen verhandelt haben, die schon vor drei Jahren in bayerischen Klöstern zusammen waren, um über dieses Thema zu reden: (Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Das ist mir neu!) Es war das Trio Beckstein, Müller und Schily. ([…] Dr. Dieter Wiefelspütz [SPD]: Geheimverhandlungen! Am Parlament vorbei!) Dieses Trio hat erfolgreich gearbeitet. Die Grünen waren nicht mit am Tisch, auch nicht – ich habe mich vergewissert – unter dem Tisch.618
3.4.3 Policy-Vorschläge und -Implementation: »Die Kommission empfiehlt…« In diesem Abschnitt geht es um die konkreten Policy-Inhalte des Kommissionsberichtes. Es soll nachvollzogen werden, was mit den Kommissionsempfehlungen im Laufe des Gesetzgebungsprozesses geschah, ob und inwieweit sie sich in dem 2004 von Bundestag und 614 Hinter den Kulissen die FDP eine wichtige Rolle. Sowohl Westerwelle als auch der Bevollmächtigte Max Stadler führen vermittelnde Gespräche mit Angela Merkel und Peter Müller (vgl. FAZ vom 26. Mai 2004: 2). 615 Bundesinnenminister Otto Schily, BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10718C. 616 Die Erarbeitung des Gesetzestextes dauert unvorhergesehen weitere vier Wochen. Einerseits muss Einigung über ungenaue Formulierungen im Kompromisspapier des Kanzlers hergestellt werden (vgl. Interview mit Peter Müller, Der Spiegel Nr. 24 vom 7. Juni 2004: 41f.). Andererseits gibt es auf Seiten der Grünen und bei Teilen der CSU heftige Widerstände gegen das Verfahren sowie Teile des Kompromisses (vgl. etwa »Tumult am Telefon«, Der Spiegel Nr. 23 vom 29. Mai 2004: 24; »Unmut in der CSU über Kompromiss«, FR vom 16. Juni 2004). 617 vgl. Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses (BT-Drs. 15/3479 vom 30. Juni 2004; BR-Drs. 528/04 vom 1. Juli 2004) sowie die Debatten in Bundestag und Bundesrat (BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10707C10723B; BR-Sten.Ber. 802 vom 9. Juli 2004: 337D-346A; BR-Drs. 528/04 [Beschluss] vom 1. Juli 2004). 618 BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10722A.
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Bundesrat beschlossenen Zuwanderungsgesetz wiederfinden. Dabei erscheint eine quantifizierende Bilanz der Sache wenig angemessen: Erstens können nicht alle Handlungsvorschläge als in gleichem Maße bedeutsam gelten. Der Abschlussbericht enthält ebenso abstrakte Meta-Empfehlungen, die sich auf die grundsätzliche Richtung der Politik beziehen,619 wie detaillierte Einzelmaßnahmen für ganz bestimmte Rechtssegmente. Darunter finden sich Aufforderungen, einen bestimmten Sachverhalt lediglich näher zu prüfen, Maßnahmen probeweise zu implementieren oder zu befristen (Sunset-Klauseln) sowie NichtEmpfehlungen (Affirmationen). Zweitens sind zahlreiche Policy-Inhalte bereits Bestandteil früherer Gesetzentwürfe oder Konzepte aus Politik und Wissenschaft gewesen (vgl. Kap. 2.3.4.3, 3.2.2.1, 3.2.4). Dies leitet über zu den allgemeinen methodisch-analytischen Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Einflusses von Expertise auf den politischen Prozess. Sie ähneln dem bereits genannten Grundsatzproblem in der akteurs- und institutionenorientierten, interaktionistischen Policy-Forschung, das es nach Scharpf unverzichtbar macht, möglichst alle unabhängigen und intervenierenden Variablen und Variablenketten in die Analyse einzubeziehen (vgl. Scharpf 2000: 59f.; Schneider, V. 2003: 292). Auch die Politikberatungsforschung hat darauf aufmerksam gemacht, dass sich zwar zahlreiche Empfehlungen eines Politikberatungsgremiums in einer Reform wiederfinden können, ein Kausalzusammenhang jedoch nur selten hergestellt werden kann (vgl. z.B. Süß 2004: 341ff.). Die parlamentarische Resonanz auf Politikberatung ist eher in indirekten problem- und politikbezogenen Funktionen zu verorten, als in unmittelbarer Auswirkung auf Gesetzgebungsprozesse (vgl. Brown, Lentsch & Weingart 2006: 148f.).
Output und Outcome Die nachfolgende Gegenüberstellung der Kommissionsvorschläge mit der seit 1. Januar 2005 geltenden Rechtslage – unter Einbeziehungen von zwischenzeitlichen Novellierungen – dient keiner erschöpfenden rechtsvergleichenden Erörterung. Vielmehr geht es darum, wichtige Policy-Empfehlungen der Kommission über den parteipolitisch-parlamentarischen Diskurs hinaus bis zu dem von Regierungs- und Oppositionsfraktionen gemeinsam getragenen Gesetz weiterzuverfolgen. In Adaption der in der Policy-Forschung gängigen Termini (vgl. Schmidt 2004: 506; Schubert & Bandelow 2003: 79f.; Windhoff-Héritier 1987: 19; Prittwitz 1994: 59ff.) kann hier einerseits vom Policy-Programm der Kommission – also dem Produkt oder Ertrag ihrer Arbeit – gesprochen werden. Andererseits sind der Policy-Output sowie der Policy-Impact bzw. der Policy-Outcome zu betrachten. Als Output soll hier die materielle Ergebnisbilanz im Sinne tatsächlich implementierter Komponenten des Policy-Programms der Kommission im deutschen Migrationsrecht verstanden werden. Der Impact bezeichnet hingegen die unmittelbaren Wirkungen des Zuwanderungsgesetzes, die u.a. maßgeblich vom Handeln der an seiner Umsetzung und Ausgestaltung beteiligten Akteure (z.B. Regierung, Behörden, Gerichte) bestimmt werden. Der Outcome schließlich nimmt die längerfristige Wirkdimension in den Blick. Hier geht es 619 In diesem Zusammenhang sind etwa die Empfehlungen zu nennen, »durchgreifende Reformen der Familienpolitik in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, dass vorhandene Kinderwünsche auch realisiert werden« (UK ZU 2001: 36) oder »die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass das Potenzial der einheimischen Bevölkerung für den Arbeitsmarkt besser ausgeschöpft wird als bisher.« (ebd.: 58)
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insbesondere darum, inwieweit die vor der Programmformulierung identifizierten Probleme gelöst und sonstige Ziele erreicht bzw. verfehlt werden. Nicht immer lassen sich die beiden wirkungsbezogenen Dimensionen klar differenzieren. Mittel- und langfristige Auswirkungen sind u.a. aufgrund der kurzen Zeitspanne seit Inkrafttreten der Reform schwer zu bestimmen. Fragen des Policy-Impact bzw. -Outcome migrationspolitischer Programme gelten zudem als hochgradig unsicher und umstritten, da intendierte und proklamierte Wirkungen nicht notwendigerweise korrespondieren und häufig Gegenstand fortgesetzter politischer Auseinandersetzungen sind (vgl. Birsl 2005: 51). Folglich ist der subjektive Eindruck der beteiligten politischen Akteure für eine Ergebnisbilanz nur bedingt aussagekräftig. Ohnedies divergieren die Einschätzungen recht deutlich. Sie reichen von herber Enttäuschung und der Feststellung, es seien so gut wie keine Konsequenzen aus dem Kommissionsbericht gezogen worden (vgl. Interviews Schmalz-Jacobsen, Bierhoff, Issen, Öger) bis zu der Einschätzung, er habe als Grundkonzept Eingang gefunden und den Paradigmenwechsel befördert (Interview Süssmuth). Zu einer in komparativer Hinsicht interessanten Einschätzung gelangt Horst Eylmann, der grundsätzlich von geringer Nachhaltigkeit von Kommissionsberichten ausgeht: Im Vergleich zu den ihm bekannten Kommissionen der letzten zehn Jahre gehöre die SüssmuthKommission »noch zu den Kommissionen […], von denen relativ viel übernommen worden ist.« (Interview Eylmann: 134) Welches nun sind die Politikinhalte, die »übernommen« worden sind? Um zu einer empirisch begründeten Einschätzung zu gelangen, ist im Folgenden eine Detailanalyse angezeigt. Insgesamt heißt es im Bericht des Expertengremiums 73-mal: »Die Kommission empfiehlt…«, die Anzahl klar differenzierbarer Handlungsanregungen beläuft sich sogar auf mindestens 160.620 In den Abschnitten 3.4.3.1 bis 3.4.3.5 werden aus den zentralen Bereichen des Berichtes die jeweils wichtigsten Empfehlungen in rechtsmaterieller Hinsicht weiterverfolgt. Kriterien sind dabei, dass diese a. b.
prinzipiell sachlogisch in einem Zuwanderungsgesetz geregelt werden können; solche Aspekte der Migrationspolitik betreffen, zu denen sich auch andere Akteure konzeptuell geäußert haben und die in politischen und öffentlichen Debatten als relevante issues kommuniziert werden.
Daher wird nicht detailliert auf die »untergesetzliche« Ebene spezifizierender Regelungen zum Zuwanderungsgesetz eingegangen; punktuell werden Bezüge zu den einschlägigen Rechtsverordnungen,621 den Anwendungshinweisen des BMI bzw. der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz622 hergestellt. Lediglich die sicherheitsorientier620
Eigene Erhebung des Verfassers nach dem Kommissionsbericht (UK ZU 2001). Primär sind dies: Aufenthaltsverordnung (AufenthV), BGBl. 2004 I vom 25. November: 2945ff.; Verordnung über die Zulassung von neueinreisenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung (Beschäftigungsverordnung – BeschV), BGBl. I 2004 vom 22. November: 2937ff.; Verordnung über das Verfahren und die Zulassung von im Inland lebenden Ausländern zur Ausübung einer Beschäftigung (Beschäftigungsverfahrensverordnung – BeschVerfV), BGBl. I 2004 vom 22. November: 2934ff.; Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung – IntV), BGBl. I 2004 vom 13. Dezember 2004: 3370ff. 622 Die »Vorläufigen Anwendungshinweise« (VAH AufenthG) des BMI vom 22. Dezember 2004 (GZ: PG ZU – 128 406) haben informellen Charakter und sind seitens des Ministeriums eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Sie sollen einheitliches Verwaltungshandeln der Ausländerbehörden gewährleisten, sind aber keineswegs verbindlich und justiziabel im Sinne von Rechtsvorschriften. In Ihrem Koalitionsvertrag vom November 621
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ten Aspekte der Zuwanderungspolitik bleiben in dieser Implementationsanalyse außen vor, da sie ursprünglich in der migrationspolitischen Beratung keine besondere Rolle spielten.623 Hingegen werden die Novellierungen durch das sog. EU-Richtlinienumsetzungsgesetz von 2007 und das sog. Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz von 2008 inhaltlich berücksichtigt.624 Diese beiden Artikelgesetze implizierten für Teile des Migrationsrechts maßgebliche Veränderungen und sind in engem Zusammenhang mit dem ursprünglichen Gesetzgebungsverfahren und den Vorarbeiten durch die Süssmuth-Kommission zu betrachten.
3.4.3.1 Einwanderung und Arbeitsmigration: »Das Herz herausgerissen« »Deutschland braucht Zuwanderinnen und Zuwanderer.« – Bereits der erste Satz des Süssmuth-Berichts spricht eine deutliche Sprache (UK ZU 2001: 11). Die darauf folgenden knapp 300 Seiten sollen aus Sicht der Kommission einerseits verdeutlichen, dass die Bundesrepublik de facto bereits seit langem Einwanderungsland ist und zum anderen dazu beitragen, »den Paradigmenwechsel vom Anwerbestopp zur gesteuerten Zuwanderung von Arbeitskräften« (ebd.: 64, 84, 114) zu vollziehen. Im quantitativ umfangreichsten Kapitel ihres Berichts (»Langfristig Wohlstand sichern«; ebd.: 23-121) empfiehlt die Kommission materiell nichts anderes, als Zuwanderung stärker an utilitaristischen Gesichtspunkten auszurichten und sie dabei transparent zu gestalten. Der Schwerpunkt liegt auf der Schaffung bzw. gesetzlichen Festschreibung von Zuwanderungsmöglichkeiten für qualifizierte, innovative und hoch spezialisierte Arbeitskräfte aus dem Ausland, und zwar sowohl mit befristeter als auch mit dauerhafter Aufenthaltsperspektive; gering qualifizierte Arbeitskräfte sollen nicht gezielt angeworben werden (selektive Aufhebung des Anwerbestopps). Der tatsächliche Umfang der Zuwanderung sei 2005 (s. Fn. 733: Zeilen 5757f.) vereinbaren CDU, CSU und SPD, »schnelltsmöglich« Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz auszuarbeiten. Doch erst zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses des vorliegenden Buches im Sommer 2009 lag dem Bundesrat eine durch das BMI weiterentwickelte Fassung der VAH AufenthG als Entwurf einer »Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz« (VwV AufenthG) zur Beschlussfassung vor (BR-Drs. 669/09 vom 27. Juli 2009; s. auch Fn.’n 670, 678). 623 So sind synoptische Betrachtungen zwischen den Kommissionsvorschlägen und der Gesetzeslage ab 2005 deswegen kaum möglich, weil die Kommission ihre Arbeit abschließt, bevor infolge der terroristischen Anschläge am 11. September 2001 in den USA bzw. am 11. März 2004 in Spanien Sicherheits- und Gefahrenabwehraspekte den Diskurs prägen. Nach den im Herbst 2001 verabschiedeten »Sicherheitspaketen« (vgl. dazu Kap. 3.4.1.2 sowie Denninger 2002, Haubrich 2003, Busch 2003: 322ff.) verlagert sich auch die Zuwanderungsdebatte in Richtung auf Sicherheitsaspekte und die Abwehr möglicher terroristischer Gefahren. Dies schlägt sich insbesondere in den ausweisungsrechtlichen Instrumenten des Zuwanderungsgesetzes nieder, die jedoch hier nicht näher diskutiert werden (vgl. dazu Marx 2002, 2004; Schneider & Tuchan 2005: 70-74). 624 Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I, S. 1970) sowie Gesetz zur arbeitsmarktadäquaten Steuerung der Zuwanderung Hochqualifizierter und zur Änderung weiterer aufenthaltsrechtlicher Regelungen vom 20. Dezember 2008 (BGBl. I, S. 2846). Das bereits 2005/2006 erarbeitete Richtlinienumsetzungsgesetz dient vorrangig der Implementation von elf EURechtsakten, darunter die sog. Familiennachzugsrichtlinie, die sog. Freizügigkeitsrichtlinie sowie die sog. Qualifikationsrichtlinie und die sog. Anerkennungsrichtlinie (vgl. als Überblick Maaßen 2006). Das BMI nutzt jedoch die Gelegenheit, gleichzeitig auch verschiedene andere Tatbestände des Aufenthaltsrechts zu novellieren. Am 28. August 2007 treten die Neuregelungen in Kraft. Knapp ein Jahr später, am 16. Juli 2008, legt die Bundesregierung ein Aktionsprogramm vor, um die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte zu erleichtern und damit einem drohenden Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Sie präsentiert den Entwurf eines Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes. Das Gesetz wird zügig beraten, nach Anrufung des Vermittlungsausschusses am 18. Dezember 2008 vom Bundestag und am 19. Dezember 2008 vom Bundesrat gebilligt und tritt zum 1. Januar 2009 in Kraft.
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vielmehr auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und statistischer Daten zu ermitteln und flexibel zu steuern. Für das erste Jahr schlägt Süssmuths Gremium äußerst moderate Zahlen vor, die allerdings weniger das Produkt »wissenschaftlich errechneter« Zuwanderungsbedarfe, als vielmehr das Ergebnis kommissionsinterner bargaining-Prozesse sind (vgl. Kap. 3.3.1.3). Addiert man alle genannten Zahlen in den von der Kommission empfohlenen Tatbeständen, ergibt sich eine Immigration von 50.000 Menschen, wobei für einige Zuwanderungswege noch der nicht näher zu quantifizierende Umfang des Familiennachzugs hinzu gerechnet werden muss.
Einwanderung qua Punktesystem Innovatives Kernstück des Berichts ist die Empfehlung, möglichst rasch ein bundeseinheitliches Verfahren einzuführen, durch das im ersten Jahr bis zu 20.000 Einwanderer zzgl. ihrer Familienangehörigen unabhängig von der Arbeitsmarktlage und ohne zwingendes Arbeitsplatzangebot ausgewählt, mit Daueraufenthaltsrecht und der Perspektive baldiger Einbürgerung ausgestattet werden sollen. Das dafür anzuwendende Punktesystem soll an bestimmten, ausschließenden Mindestvoraussetzungen sowie den Kriterien Alter, Qualifikation, Deutschkenntnisse, Familienstand, konkrete Aussicht auf einen Arbeitsplatz und frühere Deutschlandaufenthalte orientiert sein; Behörden sollen einen Bewertungsspielraum bezüglich des persönlichen Eindrucks eines Bewerbers erhalten. Auch alle Zuwanderergruppen, für die man zunächst nur befristeten Aufenthalt prospektiert (Studenten, Auszubildende, Hochqualifizierte, Engpassarbeitskräfte; s.u.) sowie bereits rechtmäßig in Deutschland lebende Migranten sollen sich – bei entsprechender Qualifikation – bewerben können. Später soll das jährliche Kontingent für das Auswahlverfahren durch einen »Zuwanderungsrat« vorgeschlagen werden (vgl. UK ZU 2001: 87ff.). Das Punktesystem weist erhebliche Kongruenzen mit dem Konzept der CDU-Kommission auf, das quasi die gleichen Kriterien beschreibt, jedoch ein konkretes Arbeitsplatzangebot als Voraussetzung nennt und zunächst die Erteilung lediglich befristeter Arbeits- und Aufenthaltserlaubnisse vorsieht.625 Das BMI orientiert sich in etwa am Kommissionsmodell, stellt die entsprechende, in § 20 des Aufenthaltsgesetzes vorgesehene Regelung aber unter den Vorbehalt einer noch zu erlassenden Rechtsverordnung. Obwohl der Opposition bereits im Gesetzentwurf durch die Koalition Zugeständnisse gemacht werden (Erfordernis gemeinsamer Quantifizierung durch BAMF, BA und Zuwanderungsrat; Zustimmungspflicht von Bundestag und Bundesrat zur Rechtsverordnung),626 erhebt die Union einen gänzlichen Verzicht auf das Punktesystem zur Grundvoraussetzung für eine Einigung im Vermittlungsausschuss.627 Von der Initiative der Süssmuth-Kommission bleibt folglich nichts übrig, das Auswahlverfahren nach § 20 wird komplett gestrichen, dem Zuwanderungsgesetz – pathetisch formuliert – »das Herz herausgerissen«.628
625 vgl. Abschlussbericht der CDU-Zuwanderungskommission (s. Fn. 456): 73. Doch bereits unionsintern lässt sich dieses Konzept insbesondere bei der CSU nicht durchsetzen (vgl. Kap. 3.2.4.2, 3.4.1.1). 626 vgl. Art. 1, § 20 Abs. 3 und 4 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 11f., 76. 627 vgl. 3.4.2.2; Änderungsantrag Nr. 18, BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 13. 628 So die damalige Stellvertretende Europapolitische Sprecherin der SPD-Fraktion Lale Akgün im Rahmen der Veranstaltung »Tragfähiger Kompromiss oder Mogelpackung? Das neue Zuwanderungsgesetz« der FriedrichEbert-Stiftung am 19. Oktober 2004 in Berlin (Aufzeichnung d.Verf.).
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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Erst im Laufe des Jahres 2007 entwickelt sich vor dem Hintergrund des Wirtschaftsaufschwungs bei gleichzeitigem Fachkräftemangel eine Debatte um eine weitere Öffnung des Arbeitsmarktes. Obwohl die Einführung eines Punktesystems nicht mehr kategorisch ausgeschlossen wird,629 beschließt das Bundeskabinett auf seiner Klausurtagung Ende August 2007 lediglich, die Zuzugsmöglichkeiten von Ingenieuren aus den neuen mittel- und osteuropäischen EU-Staaten zu verbessern und ausländischen Absolventen deutscher Hochschulen die Arbeitsaufnahme in Deutschland zu erleichtern.630 Weitere Schritte auf dem Weg zur Flexibilisierung der arbeitsmarktbezogenen Zuwanderung erfolgen mit dem EURichtlinienumsetzungsgesetz und vor allem dem sog. Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz (s. Fn. 624). Mit der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 kommen Überlegungen zur weiteren Liberalisierung der Wirtschaftsmigration wieder zum Stillstand; ein Punktesystem wird frühestens im Laufe der 17. Wahlperiode wieder auf der Agenda stehen.
Zuwanderung von Arbeitskräften und Zulassung zur Beschäftigung Generell ist die Kommission der Überzeugung, die Zulassung von Drittstaatsangehörigen müsse flexibler ermöglicht werden. Insbesondere bei Bedarfslagen am Arbeitsmarkt sollen Ausländer erleichterten Zugang zur Erwerbstätigkeit in Deutschland erhalten. Der Aufenthalt für qualifizierte Engpassarbeitskräfte in Sektoren mit Arbeitskräftemangel soll auf fünf Jahre befristet und nicht verlängert werden (ein Daueraufenthalt über das Punktesystem jedoch ermöglicht werden), denn ähnlich wie beim Fachkräftemangel in der Informationstechnologie setzt man mittelfristig auf Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen von Inländern. Auch hier empfiehlt die Kommission ein Kontingent von 20.000 Arbeitskräften im ersten Jahr, die mit zwei unbürokratischen Steuerungsinstrumenten zur parallelen Erprobung ermittelt werden sollen (vgl. UK ZU 2001: 101ff.). Als Novum soll das Vorrangprinzip für Inländer bzw. EU-Bürger nicht mehr durch individuelle Prüfung jedes einzelnen Arbeitsplatzes gewährleistet werden, sondern mittels einer statistisch gestützten Mängeldiagnose der Teilarbeitsmärkte durch die BA (Modell 1) bzw. durch ein marktwirtschaftliches Abgabeverfahren für solche Unternehmen, die Ausländer beschäftigen wollen (Preissteuerung durch Gebührenfestlegung; Modell 2). Innenminister Schily und die Regierungskoalition übernehmen zumindest die Grundidee einer Abkehr vom allgemeinen Anwerbestopp und sehen ein neues Verfahren der Entscheidung über Zuwanderungsmöglichkeiten vor. Über Aufenthalt und Arbeitsaufnahme soll nicht mehr zweispurig durch Arbeitsagenturen und Ausländerbehörden entschieden werden. Vielmehr soll eine Aufenthaltserlaubnis eingeführt werden, die gleichzeitig den Arbeitsmarktzugang regelt und von den Ausländerbehörden erteilt wird. Allgemeine Erteilungsbeschränkungen bei der Genehmigung von Erwerbstätigkeit sind nicht vorgesehen; die Beurteilung einer Beschäftigungsmöglichkeit für einen Ausländer soll – »erwerbspolitisch neutral«631 – der zu konsultierenden Arbeitsverwaltung obliegen, sofern die allgemei629 vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der FDP »Konsequenzen der Auswanderung Hochqualifizierter aus Deutschland«, BT-Drs. 16/5417 vom 23. Mai 2007: 32; Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, BT-Pl.Pr. 16/103 vom 14. Juni 2007: 10595D; FAZ vom 4. Juni 2007: 21; SZ vom 9./10. Juni 2007: 26. 630 »Meseberger Beschlüsse«; vgl. http://www.bmas.de/portal/19492/2007_09_12_zuwanderung_gestalten.html (19.07.2009); Verordnung über den Zugang ausländischer Hochschulabsolventen zum Arbeitsmarkt vom 9. Oktober 2007 (BGBl I, S. 2337) sowie Maier-Borst (2008). 631 Begründung zu Art. 1, § 18 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 74.
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nen Erteilungsvoraussetzungen für einen Aufenthaltstitel erfüllt sind. Insbesondere die regionalen Verwaltungsausschüsse der BA sollen flexibel agieren können,632 wobei generelle Regelungen für bestimmte Berufe und Wirtschaftszweige jenseits einer Einzelfallprüfung ermöglicht werden sollen. Von den Kommissionsvorschlägen findet sich im Aufenthaltsgesetz zunächst einzig die gebündelte Erteilungskompetenz von Aufenthaltstitel und Aufenthaltszweck zur Erwerbstätigkeit durch die Ausländerbehörden wieder (§§ 18, 39 und 42 AufenthG; sog. onestop-government; vgl. dazu Renner 2005: 12; Feldgen 2006: 172). Von der Absicht, den ohnehin bereits seit Jahren umgangenen allgemeinen Anwerbestopp durch ein flexibles und vereinfachtes, von der Arbeitsverwaltung durchzuführendes Genehmigungsverfahren zu ersetzen, bleibt kaum etwas übrig. Vielmehr wird er explizit nicht nur aufrechterhalten,633 sondern punktuell »wesentlich verstärkt«.634 Es entsteht ein grundsätzliches Beschäftigungsverbot mit Erlaubnisvorbehalt (Feldgen 2006: 173), das der ursprünglichen Intention fast diametral entgegensteht. Die Frage, ob Zuwanderung im Einzelfall ermöglicht wird, muss weiter normiert an den Vorgaben der Beschäftigungsverordnungen durch die BA beantwortet werden. »Die konkreten Bedingungen der Arbeitsmigration werden also nicht durch den parlamentarischen Gesetzgeber festgelegt, sondern durch exekutive Rechtsetzung, der regelmäßig keine öffentliche Diskussion vorausgeht.« (Groß 2006: 34) Für jede Beschäftigung muss grundsätzlich ein verbindliches Stellenangebot nachgewiesen werden (§ 18 Abs. 5 AufenthG) und bundesweit der Vorrang deutscher Arbeitnehmer bzw. sonstiger bevorrechtigter Bürger beachtet werden. Neben der individuellen Nachweisprüfung, steht der BA auch ein generelles Prüfungsverfahren für einzelne Berufsgruppen oder Wirtschaftszweige zur Verfügung. Hier finden sich zumindest Ansätze des von der Kommission empfohlenen flexiblen Verfahrens wieder.635 Maßgebliche Flexibilisierungsschritte erfolgen erst rund sieben Jahre nach Erscheinen des Süssmuth-Berichtes durch das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz. Parallel novelliert man auch die einschlägigen Rechtsverordnungen zur Beschäftigung von Ausländern, die auch den Bereich der gering oder nicht qualifizierten Arbeitsmigranten betreffen. Am 1. Januar 2009 treten u.a. folgende Regelungen in Kraft: Durch Einführung eines § 18a AufenthG sollen insbesondere die Potenziale von qualifizierten Geduldeten besser genutzt werden. Ausreisepflichtige, aber geduldete Ausländer können unter bestimmten Voraussetzungen (Nachweis einer Ausbildung, eines Studiums oder einer mindestens dreijährigen Beschäftigung als Fachkraft sowie ausreichende Sprachkenntnisse, Wohnraum und weitgehende Straffreiheit) mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit eine Aufenthaltserlaubnis zur Aufnahme einer Beschäftigung erhalten, die ihrer beruflichen Qualifikation entspricht; eine Vorrangprüfung findet dabei nicht statt. Gemäß der Beschäftigungsverfahrensverordnung kann Geduldeten ferner auch die Ausübung einer Beschäftigung in sonstigen Arbeitsmarktsektoren erlaubt werden, 632
Begründung zu Art. 1, § 39 ZuwG-E, ebd.: 86. vgl. § 18 Abs. 3-5 AufenthG sowie die Darstellung von Peter Müller in der Aussprache zum Abschluss der Verhandlungen über das Zuwanderungsgesetz im Bundestag, BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10711. 634 Zu dieser Einschätzung gelangt Renner, Kommentar zum Ausländerrecht (s. Fn. 419), § 18 AufenthG, Rn. 2. 635 vgl. § 39 Abs. 2 AufenthG. Die Regelung markiert »eine Art Kompromiss zwischen der individuellen Vorrangprüfung und einer flexiblen Zulassung« (Hailbronner 2006: 56; Herv.i.Orig.); vgl. auch Feldgen 2006: 174; Kay Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht (Stand: 47. Aktualisierung, Juni 2006), A 1, § 39, Rn.’n 34-48. 633
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wenn sie sich seit einem Jahr erlaubt, geduldet oder mit einer Aufenthaltsgestattung im Bundesgebiet aufgehalten haben; bei mindestens vierjährigem, ununterbrochenem Aufenthalt bzw. für eine Berufsausbildung in einem staatlich anerkannten oder vergleichbar geregelten Ausbildungsberuf wird dabei auf die Vorrangprüfung seitens der Bundesagentur verzichtet (§ 10 BeschVerfV). Geduldete können nun durch das Bundesausbildungsförderungsgesetz unterstützt werden, wenn sie sich seit mindestens vier Jahren ununterbrochen rechtmäßig, gestattet oder geduldet im Bundesgebiet aufhalten (§ 8 Abs. 2a BAföG). Die maximale Beschäftigungsdauer von nicht oder gering qualifizierten Saisonbeschäftigten (z.B. in der Land- oder Forstwirtschaft) wird von vier auf sechs Monate pro Jahr verlängert (§ 18 BeschV). Weitere Liberalisierungen durch das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz betreffen ausländische Spezialisten, leitenden Angestellte und Hochqualifizierte sowie Existenzgründer und Hochschulabsolventen (s.u.).
Erleichterung für Wissenschaftler und Spitzenkräfte der Wirtschaft Bei der Aufnahme von Spitzenpersonal aus Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung (Hochqualifizierte) sieht die Kommission keinerlei zahlenmäßige Beschränkung vor. Hier argumentiert sie vielmehr mit dem »Wettbewerb um die besten Köpfe«. Hoch- und Höchstqualifizierte sollten ein zunächst auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsrecht bei Familiennachzug bzw. Arbeitsmarktzugang für Ehegatten ohne Wartefristen erhalten, das bei fortgesetzter Beschäftigung in ein Daueraufenthaltsrecht übergehen soll. Bereits in Deutschland lebende Hochqualifizierte dieser Kategorie soll ein erleichterter Übergang zum Daueraufenthaltstitel ermöglicht werden (vgl. UK ZU 2001: 96ff.). Als Kriterium für high potentials der Wirtschaft nennt die Kommission den Nachweis eines Arbeitsplatzes mit einem Gehalt, das mindestens doppelt so hoch sein »sollte« wie die Bemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung, zu diesem Zeitpunkt gut 80.000 Euro. Bindendes Kriterium für den Zugang von Wissenschaftlern an Universitäten und Forschungseinrichtungen soll dagegen ein »Gütesiegel der Wissenschaft« sein. Die schließlich eingeführte Niederlassungserlaubnis für Hochqualifizierte soll zur Schaffung attraktiver Aufenthaltsbedingungen (»roter Teppich«) beitragen und bildet eine der wenigen Vorschriften des Zuwanderungsgesetzes, die materiellrechtlich sogar großzügiger ausgestaltet sind, als der entsprechende Vorschlag der Kommission. Mit § 19 des AufenthG wird die Möglichkeit geschaffen, Hochqualifizierten, an denen ein besonderes wirtschaftliches und gesellschaftliches Interesse besteht, sofort einen Daueraufenthaltstitel zu erteilen, wenn ein Gehalt in o.g. Höhe gezahlt wird. Hochqualifizierte werden spezifiziert als Wissenschaftler mit besonderen fachlichen Kenntnissen, Lehrpersonen oder wissenschaftliche Mitarbeiter in herausgehobenen Funktionen, Spezialisten und leitende Angestellte mit besonderer Berufserfahrung. In der Rechtspraxis legen BMI und Behörden die Regelung eng aus.636 Die Zahl der neu eingereisten Hochqualifizierten steigt zwar an, befindet sich absolut jedoch auf niedrigem Niveau: 2005 erhalten nur 71 Ausländer den Titel, 2006 sind es 80 und 2007 151. Die 636
vgl. VAH AufenthG (s. Fn. 622), Nrn. 19.2.1 bis 19.2.3.
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Erteilung einer Niederlassungserlaubnis an Hochqualifizierte bleibt somit tatsächlich eine sehr selten genutzte Ausnahme. Nach Zählungen des BAMF besitzen am Jahresende 2007 insgesamt nur 1.302 Ausländer diesen Aufenthaltstitel, von denen ein großer Teil bereits unter der Rechtslage des Ausländergesetzes eingereist war (vgl. BAMF 2008: 90). Insbesondere das für Spezialisten und leitende Angestellte geforderte Mindestgehalt in der Höhe des Doppelten der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Krankenversicherung wird als zu hoch angesehen; so weist der BDA in einer Stellungnahme darauf hin, dass die Einkommensanforderung von 84.600 Euro im Jahr 2005 dem mehr als Dreifachen des deutschen Durchschnittseinkommens entspreche. Obwohl das BMI eine weitere Prüfung vorsieht und sich der Bundesrat für eine Halbierung der Einkommensanforderung ausspricht, scheitert das Vorhaben zunächst bei der Novellierung des Aufenthaltsrechts 2007 – u.a. am Widerstand des Arbeitsministeriums.637 Erst mit dem Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz vom 20. Dezember 2008 wird das geforderte Mindesteinkommen um rund ein Drittel reduziert.638 Damit bleibt man immernoch weit über dem Mindesteinkommen, welches – vom BMI mitverhandelt – der Europäische Rat Mitte 2009 im Rahmen der sog. Blue-CardRichtlinie für die Zuwanderung Hochqualifizierter aus Drittstaaten beschließt.639 Bereits das EU-Richtlinienumsetzungsgesetz von 2007 sorgt für eine neue Zuwanderungskategorie Hochqualifizierter; die sog. EU-Forscher-Richtlinie wird implementiert und eigens ein neuer § 20 im Aufenthaltsgesetz geschaffen.640 Die Zuwanderung ausländischer Wissenschaftler erleichtert der Paragraf indes nicht grundlegend; die speziellen Bedingungen und das administrativ aufwändige Verfahren wirken wenig attraktiv. Zwar haben sich in den ersten zwei Jahren mehr als einhundert Forschungseinrichtungen vom BAMF zum Abschluss spezieller Aufnahmevereinbarungen mit Forschern aus Drittstaaten anerkennen lassen, die Zuwanderungszahlen blieben jedoch hinter den Erwartungen zurück. Am 31. Dezember 2008 waren lediglich 101 Drittstaatsangehörige im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis für Forscher (vgl. Schneider & Parusel 2009: 36).
Daueraufenthalt für Existenzgründer Auf Grundlage der Erkenntnis, dass der wirtschaftliche Nutzen aus der Zuwanderung von Selbständigen als besonders hoch zu veranschlagen sei, empfiehlt die Kommission eine flexible Regelung zur Erleichterung von Existenzgründungen ausländischer Selbständiger 637 vgl. Evaluierungsbericht (s. Fn. 671): 32; MuB 9/2006: 1; SZ vom 24. Oktober 2006; Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, Nr. 7 (zu § 19 AufenthG) BR-Drs. 224/07 (Beschluss) vom 11. Mai 2007: 5ff. 638 s. Fn. 624. Das Mindestgehalt wird in der Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der allgemeinen Rentenversicherung festgesetzt; bezogen auf die westlichen Bundesländer bedeutet dies eine Senkung von 86.400 Euro auf 64.800 Euro (Referenzjahr 2009). 639 Hier gilt als Mindestverdienst das 1,5-fache des nationalen Jahresbruttodurchschnittslohnes (für Deutschland waren dies 2006 rund 42.000 Euro), in Mangelberufen sogar nur das 1,2-fache des Jahresbruttodurchschnittslohnes (Art. 5 Abs. 3 und 5, Richtlinie 2009/50/EG des Rates vom 25. Mai 2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl. EU Nr. L 155 vom 18. Juni 2009: 17ff.); vgl. dazu auch die Einwände der Ländervertreter im Bundesrat, die Grenzen im Bereich des Doppelten des jährlichen Durchschnittseinkommens fordern (BR-Sten.Ber. 851: 400C-401D). 640 s. Fn. 624; Richtlinie 2005/71/EG des Rates vom 12. Oktober 2005 über ein besonderes Zulassungsverfahren für Drittstaatsangehörige zum Zwecke der wissenschaftlichen Forschung (ABl. EU Nr. L 289 vom 3. November 2005: 15ff.).
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(»Personen mit guten Geschäftsideen«; ebd.: 97f.). Unter Heranziehung eines transparenten Mindestkriterienkataloges (Höchstalter 45 Jahre, Eigenkapital oder Kreditzusage, gesundheitliche Eignung und »guter Leumund«) sieht sie die Auswahl anhand des Businessplanes und unter Beteiligung sachkundiger örtlicher Stellen nach Ermessen vor. Die Auswahl soll mit sofortigem Daueraufenthaltsrecht verbunden werden. Von der Nennung einer Mindestinvestitionssumme und der Berücksichtigung der allgemeinen (regionalen) Beschäftigungssituation sieht die Kommission ab. Auswirkungen auf die Beschäftigung seien »zu berücksichtigen, doch sollten sie kein formalisiertes Ausschlusskriterium darstellen wie etwa in den USA, wo mindestens zehn Arbeitsplätze geschaffen werden müssen.« (ebd.: 97) Das BMI übernimmt den Vorschlag zwar als Ermessensnorm ins Gesetz, verbindet den Anspruch auf einen dauerhaften Aufenthaltstitel jedoch mit einer erfolgreichen Verwirklichung der Geschäftsidee und der Sicherung des Lebensunterhaltes binnen drei Jahren (vgl. Art. 1, § 21 Abs. 4 ZuwG-E). Im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses wird das flexible Verfahren auf Initiative der Union weiter normiert und scheinbar an feste Voraussetzungen gebunden.641 In seiner endgültigen Fassung weicht § 21 AufenthG in entscheidenden Punkten vom Konzept der Kommission ab – ja, widerspricht ihm sogar: Als Grundvoraussetzungen für die Auswahl werden Finanzierungssicherheit, eine positive Prognose bezüglich der Auswirkungen auf die Wirtschaft sowie ein übergeordnetes wirtschaftliches Interesse festgesetzt (Abs. 1, Satz 1). Die beiden letztgenannten Kriterien sollen von den Behörden »in der Regel« als gegeben angesehen werden, wenn mindestens eine Million Euro investiert und 10 Arbeitsplätzen geschaffen werden – Kriterien, welche die UK ZU explizit verneint hatte. In der Praxis werden die Regelbeispiele von den Ausländerbehörden z.T. irrtümlich als generelle Voraussetzung für die Zulässigkeit einer selbständigen Tätigkeit interpretiert,642 obwohl sie als solche »in erheblich restriktiverer Weise als im bisher geltenden Ausländerrecht die Erteilung von Aufenthaltstiteln an Selbständige ins Bundesgebiet regeln.«643 Im Rahmen der Novelle 2007 wird der Fehlschlag der Regelung insofern anerkannt, als dass die Mindestanforderungen an die Investitionssumme auf 500.000 Euro und die Zahl der zu schaffenden Arbeitsplätze auf fünf beschlossen werden – Voraussetzungen, die der Bundesrat mehrheitlich immer noch für zu hoch hält.644 Doch auch in den Beratungen zum Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz gut anderthalb Jahre später wird dieses Petitum weder vom BMI noch vom Deutschen Bundestag aufgenommen; erst im Vermittlungsverfahren setzen die Länder eine weitere Absenkung durch.645 Ab 1. Januar 2009 müssen nur noch 250.000 Euro investiert werden.
641 vgl. die zwischenzeitlichen Fassungen von § 21 AufenthG laut BT-Drs. 14/8414, s. Fn. 558 (Änderungsanträge der Union): 14f.; 14/8395 vom 27. Februar 2002 (Beschlussempfehlung des Innenausschusses): 20f.; 15/420 vom 7. Februar 2003 (neu eingebrachter Gesetzentwurf der Bundesregierung): 12. 642 So die Analyse des DIHT (vgl. dessen Stellungnahme im Anlagenband I zum Evaluierungsbericht, s. Fn. 757: 7). Laut BMI haben die »Regelvoraussetzungen […] nur die Funktion von ermessenslenkenden Topoi und sind somit kein strikter Bewertungsmaßstab« (Evaluierungsbericht, s. Fn. 671: 30). 643 Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht (s. Fn. 635), A 1, § 21, Rn. 4. Die Regelung wird hier als »nicht ganz eindeutig« bezeichnet. 644 Der Bundesrat forderte eine Senkung auf 250.000 Euro; vgl. Nr. 8, Stellungnahme des Bundesrates zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union, BR-Drs. 224/07 (Beschluss) vom 11. Mai 2007: 8. 645 vgl. den Gesetzentwurf der Bundesregierung (BR-Drs. 634/08 vom 29. August 2008) sowie die Beratungen im Bundesrat (BR-Sten.Ber.’e 851 vom 28. November 2008: 400C-401D; 853 vom 19. Dezember 2008: 453A/B).
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Öffnung für Studenten und Auszubildende Zur Strategie, Deutschland für junge Menschen als Zuwanderungsland attraktiv zu machen, gehören Reformvorschläge in den Bereichen Studium und Ausbildung. Die Vorteile des differenzierten dualen Ausbildungssystems gedenkt die Kommission mit einem besonderen Programm (»18-Plus«) zu nutzen, das einem Kontingent von 10.000 jungen Ausländern die Ausbildung in Deutschland ermöglichen und insbesondere als Vorbereitungshandlung für die prognostizierte Schrumpfung der Ausbildungsjahrgänge dienen soll. Ein späterer Übergang zum Daueraufenthalt über das Punktesystem wird vorgesehen. Als Voraussetzungen sollen ein Arbeitsplatzangebot (Anwerbung durch Unternehmen) sowie freie Arbeitsplatzkapazitäten (Inländervorrang) gelten; als Planungs- und Steuerungsinstitutionen werden die regionalen Ausbildungskonferenzen vorgesehen (vgl. ebd.: 109ff.). Auch die Bemühungen, junge Ausländer für ein Studium zu gewinnen, will die Kommission verstärken. Als zentrale rechtliche Neuerung soll der Aufenthaltstitel nicht mehr mit Abschluss des Studiums erlöschen, sondern die Möglichkeit zum fortgesetzten Aufenthalt eröffnen: Jeder Absolvent soll die Option erhalten, im Zeitraum von einem Jahr eine adäquate Stelle zu finden und – bei gleichberechtigtem Arbeitsmarktzugang – für zunächst maximal zwei Jahre in Deutschland zu arbeiten. Danach soll bei guter Integration über das Punktesystem ebenfalls ein Niederlassungsrecht erreichbar sein (vgl. ebd.: 111ff.). Das Aufenthaltsgesetz sieht in § 17 die Möglichkeit vor, Ausländern eine Aufenthaltserlaubnis zur beruflichen Aus- oder Fortbildung zu erteilen. Gesonderte Programme werden aber nicht aufgelegt. Vielmehr muss die BA nach den allgemeinen Voraussetzungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt eine Vorrang- bzw. Bedarfsprüfung durchführen (s.o.). Aufgrund der fortgesetzt desolaten Lage auf dem Ausbildungsmarkt, gerade auch bei Bildungsinländern,646 reisen nur wenige Ausländer zum Zweck einer Ausbildung neu ein. Nach Angaben der BMI übersteigen die Zahlen für 2005 kaum die Zahl von 300; zudem ist die Regelung – entgegen den Intentionen der UK ZU, dadurch junge Einwanderer zu rekrutieren – von vornherein befristet und der Aufenthalt der ausländischen Auszubildenden auf die Rückkehr in ihr Heimatland angelegt.647 Die Bundesregierung prospektiert im Zuwanderungsgesetz flexible Regelungen, um ausländische Studenten und Studienbewerber unter erleichterten Bedingungen und besseren Perspektiven für einen Aufenthalt im Bundesgebiet zu gewinnen. Drittstaater sollen studienbegleitend einer Beschäftigung von maximal 90 ganzen bzw. 180 halben Tagen pro Jahr nachgehen oder prinzipiell unbegrenzt studentische Nebentätigkeiten ausüben können; Absolventen sollen für ein Jahr die Möglichkeit erhalten, eine Stelle zu suchen.648 Der Ausschlag gebende § 16 AufenthG wird im Vermittlungsverfahren bzw. im Rahmen der ersten
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vgl. dazu Gemeinsame Erklärung der Partner des »Nationalen Paktes für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs in Deutschland« mit der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration zur Sitzung des Lenkungsausschusses am 16. Oktober 2006 (http://www.migration-info.de/dum_doks/Ausbildungspakt.pdf, 09.11.2006) sowie die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke »Ausbildungssituation von Jugendlichen mit Migrationshintergrund« vom 16. Juni 2006, BT-Drs. 16/1848. 647 vgl. Evaluierungsbericht (s. Fn. 671): 44; VAH AufenthG (s. Fn. 622), Nr. 17.2: 95; Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht (s. Fn. 635), A 1, § 17, Rn. 6. 648 vgl. Art. 1, § 16 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 11, 74.
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Novellierung des Aufenthaltsgesetzes im Frühjahr 2005 etwas enger gefasst als ursprünglich vorgesehen, im Kern aber beibehalten.649 Die Attraktivität Deutschlands für junge, gebildete Ausländer mit Studienwunsch und Perspektive eines Daueraufenthaltes kann vorerst nicht wie von der Zuwanderungskommission dringend empfohlen verbessert werden; die Anzahl der Bildungsausländer650 steigt laut BMI zunächst nicht signifikant.651 Ironischerweise wirken möglicherweise die 2007 erfolgten Änderungen des Aufenthaltsgesetzes zur Umsetzung der sog. Studenten-Richtlinie652 der Anziehungskraft Deutschlands für ausländische Studieninteressenten weiter entgegen: So wird bei Studierenden aus Drittstaaten nun auch im AufenthG pauschal der Bedarf zum Lebensunterhalt, der für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zwingend zu decken ist, mit dem Förderungshöchstsatz des BAFöG angesetzt653 und die zuvor bestehende Möglichkeit zur begleitenden Beschäftigung bei lediglich studienvorbereitendem Aufenthalt zurückgenommen.654
3.4.3.2 Flucht und Asyl: »Vom Innenminister als zu weit gehend empfunden« Der zweite Teil des Berichtes beschäftigt sich unter dem Titel »Humanitär handeln« mit den rechtlichen Aspekten der humanitär und asylrechtlich begründeten Migration (vgl. UK ZU 2001: 123-198). Die Kommission will ausdrücklich keine Änderung oder Rücknahme des Grundrechts auf Asyl nach Art. 16 bzw. der Rechtswegegarantie nach Art. 19 des Grundgesetzes (vgl. ebd.). Dafür erarbeitet sie zahlreiche Vorschläge zur Effektivierung und Beschleunigung des Asylverfahrens, die sich insbesondere auf die Arbeitsabläufe bei Bundesamt und Gerichten beziehen und gewährleisten sollen, dass die Masse der Fälle innerhalb eines Jahres (inklusive etwaiger Verfahren vor den Verwaltungsgerichten) durchführbar wird (vgl. ebd.: 132ff.). Ein Kernargument der Kommission besteht ferner darin, dass die gesamte Asylpraxis diskreditiert würde, wenn negative Bescheide nicht auch zur Ausreise führten; nur wenn Rückführungen gelängen, mache die Beschleunigung der Asylverfahren überhaupt Sinn (vgl. ebd.: 150).
649 vgl. § 16 Abs. 2 und 4 AufenthG; Änderungsantrag Nr. 14, BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 12; Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, BT-Drs. 15/4870 vom 16. Februar 2005, Änderung zu Art. 1, Nr. 2: 2; ursprünglich wollte die Union zusätzlich den Zeitraum der Arbeitsplatzsuche auf sechs Monate beschränken (vgl. den entsprechenden Änderungsantrag im ersten Gesetzgebungsverfahren, BT-Drs. 14/8414, s. Fn. 558: 13f.). 650 Ausländer, die ihre Hochschulzugangsberechtigung im Ausland erworben haben und in der Regel zum Zweck des Studiums einreisen. 651 vgl. Evaluierungsbericht (s. Fn. 671); die Zahlen sind weiter rückläufig: Seit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes studieren Jahr für Jahr weniger Ausländer an deutschen Universitäten (Wintersemester 2004/2005 sowie 2005/2006 jeweils rund 184.000, 2006/2007 knapp 180.000, 2007/2008 sowie 2008/2009 jeweils knapp 168.000; vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 4.1, WS 2008/2009; https://www-ec.destatis.de; 23.09.2009). 652 Richtlinie 2004/114/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 über die Bedingungen für die Zulassung von Drittstaatsangehörigen zwecks Absolvierung eines Studiums oder Teilnehme an einem Schüleraustausch, einer unbezahlten Ausbildungsmaßnahme oder einem Freiwilligendienst (ABl. EU Nr. L 375 vom 23. Dezember 2004: 12ff.). 653 so riet bereits zuvor das BMI in seinen unverbindlichen Anwendungshinweisen, vgl. VAH AufenthG (s. Fn. 622), Nrn. 16.0.8.ff. 654 vgl. Art. 1, Nr. 3 (neuer § 2 Abs. 3 AufenthG) und Art. 1, Nr. 13 (Ergänzung zu § 16 Abs. 3 AufenthG), Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 23. April 2007 (BT-Drs. 16/5065).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Beschleunigung der Asylverfahren Materiell bedeutsam im Bereich des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG) ist die bereits lange debattierte Empfehlung der Kommission, die vormals unabhängigen Asyl-Einzelentscheider behördlichen Weisungen zu unterstellen und das Amt des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten abzuschaffen. Der Vorschlag wird ins Gesetz übernommen, auch wenn sich die Union zunächst dagegen ausspricht.655 Um die Praxis der sukzessiven Asylantragstellung innerhalb von Familien zur Verzögerung der Verfahren zu beenden, soll laut Kommission für ledige, unter 16 Jahre alte Kinder der Asylantrag von Amts wegen fingiert, also als gestellt betrachtet werden (vgl. ebd.: 148f.). Auch dieser Vorschlag findet Eingang ins ZuwG (§ 14a AsylVfG). Sogar der umstrittenen Anregung der Kommission, »gesetzlich missbilligte Verhaltensweisen« im Asylverfahren »arbeits- und sozialrechtlich zu sanktionieren« (schon die »Verletzung von Mitwirkungspflichten« soll dazugehören; UK ZU 2001: 149), kommen Bundesregierung und Vermittlungsausschuss nach – zumindest soweit dies verfassungsrechtlich noch vertretbar erscheint.656 Das BMI sieht jedoch weitere restriktive Regelungen zur Beschleunigung der Asylverfahren vor, die weit über die Kommissionsvorschläge hinausreichen: Das sog. Einzelrichterverfahren, nach dem im Asyl-Erstverfahren eine Spruchkammer den Rechtsstreit fakultativ einem einzelnen Richter übertragen kann, wird als obligatorisch vorgesehen;657 »Automatischer« Verweis durch die Behörde auf das Asylfolgeverfahren, wenn ein Ausländer nach der Erstantragstellung »vorsätzlich oder grob fahrlässig« seine Mitwirkungspflichten im Verfahren vernachlässigt.658 Formale Erleichterung der Möglichkeiten aufenthaltsbeendender Maßnahmen in solchen Fällen, in denen ein Asyl-Folgeantrag erst nach Eintritt der Vollziehbarkeit einer einmal ergangenen Abschiebungsandrohung oder -anordnung gestellt wird: ein erneuter Erlass der Abschiebungsandrohung ist dann nicht mehr nötig – selbst wenn der Folgeantrag (mehr als zwei) Jahre später gestellt wird (Art. 3, Nr. 44 ZuwG-E, s. Fn. 580: 43f., 111f.; § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG). Ausdehnung der Ausschlussgründe für eine Asylanerkennung i.S.d. Art. 16 GG bei subjektiven Nachfluchtgründen auf sog. Konventionsflüchtlinge: Verfolgungsgründe, die nach Verlassen des Herkunftslandes aus eigenem Entschluss geschaffen und nach Rücknahme oder Ablehnung eines früheren Asylantrages vorgebracht werden, schlie-
655 vgl. Art. 3, Nr. 4 und 5 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 40. Zum Problem im Detail vgl. die Gesetzesbegründung, ebd.: 106f.; zur Position der CDU/CSU-Fraktion vgl. deren Änderungsanträge Nr. 83 und 84, BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 33. 656 vgl. die jetzige Fassung des § 2 Abs. 1 AsylbLG sowie Art. 8, Nr. 3 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 50, 121. Die Vorschläge der CDU/CSU gingen freilich gar soweit, allen Asylbewerbern, Geduldeten und Kriegsflüchtlingen dauerhaft die Sozialleistungen des Existenzminimums nach dem SGB vorzuenthalten und den Bezug nach AsylbLG zur Regel zu machen (vgl. Änderungsantrag Nr. 128, BT-Drs. 15/955, s. Fn. 583: 48f.). 657 so die geplante Änderung des § 76 AsylVfG (vgl. Art. 3, Nr. 47 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420, s. Fn. 580: 44, 112). Bei dieser Frage vertritt die CDU/CSU-Fraktion punktgenau die Position der Kommission [!] und setzt sie im Vermittlungsverfahren durch (vgl. Änderungsanträge Nr. 47 und 92, BT-Drs. 15/955, s. Fn. 583: 36f.; Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses, BT-Drs. 15/3479 vom 30. Juni 2004: 14, Ziffer 11). 658 Art. 3, Nr. 13ff. ZuwG-E, BT-Drs. 15/420, s. Fn. 580: 41, 108; §§ 20 Abs. 2, 22 Abs. 3, 23 Abs. 2 AsylVfG.
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ßen eine Asylanerkennung aus. I.d.R. ist nun auch eine Flüchtlingsanerkennung nach Maßgabe der GFK nicht mehr möglich.659 Festschreibung einer obligatorischen Überprüfungspflicht für das Bundesamt nach spätestens drei Jahren dahingehend, ob die Voraussetzung für die Flüchtlings- bzw. Asylanerkennung noch vorliegen; ggf. beschleunigte Aberkennung bzw. Widerruf.660 Lediglich die erste dieser fünf Maßnahmen wird im Zuwanderungsgesetz nicht berücksichtigt. BMI, Regierungskoalition, Opposition und Vermittlungsausschuss als Gesetzgeber setzen also im Bereich des materiellen Asylverfahrensrechts nicht nur das Gros der durch die UK ZU vorgeschlagenen Änderungen um, sondern gehen in mindestens vier Punkten in restriktiver Hinsicht darüber hinaus.
Identitätsfeststellung und Rückkehrvollzug Nicht nur bezüglich des Asylverfahrensrechts trägt die Süsmuth-Expertise restriktive Züge. Auch in anderen Bereichen empfiehlt die Kommission aus pragmatisch-akzeptanzorientierten Erwägungen solche Maßnahmen, von denen offenbar nicht immer die Mehrheit ihrer Mitglieder inhaltlich überzeugt ist (vgl. Kap. 3.3.1.4). Dazu gehören Vorschläge zur effizienteren Übermittlung und Nutzung vorhandener Daten, um auf diesem Wege Identifizierungen bzw. ggf. Rückführungen und Abschiebungen erleichtern zu können. Daneben empfiehlt die Kommission, die zentrale Speicherung der Fotos aller illegal eingereister Ausländer sicherzustellen und den beteiligten deutschen Behörden unmittelbaren Zugriff darauf zu gewähren sowie die gewonnenen Erkenntnisse aus Sichtvermerksverfahren durch erweiterte Zugriffsmöglichkeiten von Behörden auf die Visadatei des AZR stärker zu nutzen (vgl. UK ZU 2001: 147f., 154f.). Einige dieser Vorschläge finden sich im Abschnitt zu Datenübermittlung und Datenschutz des Aufenthaltsgesetzes umgesetzt.661 Im Bereich des Rückkehrvollzuges sieht die Kommission die Möglichkeiten im damals geltenden Ausländer- und Asylrecht materiellrechtlich offenbar weitgehend ausgeschöpft. Anreiz für viele Asylbewerber, in Deutschland Asyl zu beantragen, sei die »nicht ausreichend konsequente Rückführungspraxis« (ebd.: 150). Die Handlungsvorschläge beziehen sich daher überwiegend auf Verbesserungen im operativen Bereich (vgl. ebd.: 151ff.). Die im ZuwG 2004 festgeschriebenen Maßnahmen zur Aufenthaltsbeendigung und Ausweisung sind somit größtenteils eine Adaption der Vorschriften des AuslG (vgl. Jacober 2005; Renner 2004: 270). In Einzelbereichen werden sie diesem gegenüber jedoch auch erweitert, z.B. durch die Schaffung einer Rechtsgrundlage für die Länder zur Einrichtung von zentralen Ausreiseeinrichtungen (§ 61 Abs. 2 AufenthG).
659 Art. 3, Nr. 18 ZuwG-E, s. Fn. 580: 42, 109f.; § 28 Abs. 2 AsylVfG. Mit dieser Vorschrift wird nicht nur der restriktive Spielraum der sog. EU-Qualifikationsrichtlinie voll ausgeschöpft, sondern auch das refoulment-Verbot der GFK in fragwürdiger Weise umgangen (vgl. Duchrow 2004: 341f.). Anders argumentiert Groß (2006: 40f.): Er findet die implizierte Missbrauchsvermutung gegenüber exilpolitischem Engagement im Rechtsstaat, der andererseits die Integration im Sinne verfassungsdemokratischer Grundwerte fördere und einfordere, unerträglich. 660 Art. 3, Nr. 46b ZuwG-E, s. Fn. 580: 44, 112; § 73 Abs. 2a AsylVfG. 661 vgl. §§ 86-91b AufenthG sowie die Begründungen in BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 97f. Die Einrichtung einer so genannten Fundpapier-Datenbank wird mit der ersten Überarbeitung Anfang 2005 in das AufenthG eingefügt; vgl. §§ 49a und b, 89a AufenthG (BGBl. I 2005: 721ff.)
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Verbesserung des Flüchtlingsschutzes Gerade vor dem Hintergrund ihrer eher restringierenden Vorschläge zur Verfahrensbeschleunigung, erleichterten Identitätsfeststellung und Rückführung hält es die Kommission »für angezeigt«, im Kernbereich ihrer Empfehlungen zur humanitären Zuwanderung »auch auf bestehende Schutzlücken und Benachteiligungen von anerkannten Schutzsuchenden oder von Flüchtlingen hinzuweisen, die aus von ihnen nicht zu vertretenen Gründen nicht abgeschoben werden können.« (UK ZU 2001: 159). Dies resultiert in zahlreichen konkreten Vorschlägen, um den Schutz von Flüchtlingen zu verbessern (ebd.: 162ff.): Angleichung der Rechtsfolgen der Schutzgewährung nach der GFK an die des grundgesetzlichen Asylrechts (Familiennachzug, Verbesserung des Aufenthaltsstatus und regelmäßiger Übergang zu Daueraufenthaltsrecht nach drei Jahren); Erleichterung der Erteilung eines Aufenthaltstitels für Geduldete, indem eine Überführung in eine Aufenthaltsbefugnis nicht mehr zwingend an die Sicherung des Lebensunterhaltes geknüpft ist; Schaffung eines verpflichtenden Prüfmechanismus für die Ausländerbehörden, bei anstehender Verlängerung einer Duldung die Möglichkeit der Überführung in eine Aufenthaltsbefugnis zu prüfen und eine Belehrung des Ausländers hierüber festzuschreiben; Normative Fixierung einer angemessenen Berücksichtigung der Tatsache, dass die Verlängerung der Duldung aus humanitären Gesichtspunkten »umso bedenklicher wird, je länger dieser Zustand anhält«; Klarstellung in den Verwaltungsvorschriften, dass bei Nichtabsehbarkeit eines Wegfalls von Abschiebungshindernissen die Duldung in eine Aufenthaltsbefugnis überführt werden »soll«; Sofortiger, unbeschränkter Arbeitsmarktzugang für Zuwanderer mit der Perspektive dauerhaften Aufenthaltes (z.B. Feststellung zwingender Abschiebungshindernisse). Auf eine konkrete Empfehlung zur Berücksichtigung geschlechtsbezogener und nichtstaatlicher Verfolgungsgründe können sich die Kommissionsmitglieder nicht einigen. Schutzbedürftigkeit und Schutzgewährung werden jedoch bejaht (vgl. Kap. 3.3.1.3 sowie UK ZU 2001: 161f.). Mit Blick auf so genannte Illegale empfiehlt die Kommission, von einer Meldepflicht an die Ausländerbehörden durch Schulen bzw. Lehrer abzusehen sowie deren Unterstützung aus humanitärer Motivation nicht mehr unter Strafe zu stellen. Von diesen Positionen der Kommission, die »vom zuständigen Innenminister als zu weit gehend empfunden worden sind« (Interview Putzhammer: 68), wird bereits im Referentenentwurf nur ein kleiner Teil berücksichtigt. Obwohl die Kommission aufgrund äußeren Drucks und der allgemeinen Tabuisierung des Themas mit ihren Vorschlägen zum Themenkomplex »Illegale« weit hinter ihren eigenen Vorstellungen und Debatten zurückbleibt, finden sich die beiden Anregungen der Kommission (vgl. Kap. 3.3.1.3, 3.3.1.4) in den Gesetzentwürfen des BMI bzw. der Koalition mit keinem Wort wieder. Einzig der mitberatende Ausschuss für Menschenrechte empfiehlt ihre Aufnahme in das Zuwanderungsgesetz.662 Obwohl es in den Folgejahren nicht zu Verurteilungen wegen Unterstützung irregulär aufhältiger Migranten aus humanitären Gründen bzw. wegen nicht erfolgter Mel662 vgl. Kurzprotokoll der 81. Sitzung des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe vom 20. Februar 2002: 11f. sowie BT-Drs. 8414 (s. Fn. 558): 5.
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dungen durch Schulen und Lehrer kommt, fordert ein breites Bündnis aus Menschenrechtsgruppen, Kirchen und Teilen der Politik eine rechtliche Klarstellung.663 Eine Änderung des Aufenthaltsgesetzes in diesem Punkt ist in der großen Koalition nicht mehrheitsfähig. Hinter den Kulissen bemühen sich jedoch Politiker von SPD und CDU um pragmatische Lösungen, die schließlich ansatzweise im Entwurf einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift gefunden werden.664 Demnach können Papierlose künftig medizinisch behandelt werden, ohne dass die Sozialämter als Kostenträger die Ausländerbehörden informieren müssen. Ferner wird klargestellt, dass sozial anerkannte Ehrenamtliche oder sozial Engagierte Berufstätige bestimmter Branchen keine Beteiligung am unerlaubten Aufenthalt eines illegal Aufhältigen leisten, wenn sie diesen im Rahmen ihrer rechtlich festgelegten bzw. anerkannten Pflichten beraten oder helfen. Die erfolgte Aufnahme der geschlechtsspezifischen Verfolgung ist hingegen aus Sicht von Menschenrechtsorganisationen »eine der grundlegenden Verbesserungen des deutschen Flüchtlingsrechts durch das ZuwG« (Duchrow 2004: 339) und wird als Beispiel für die Möglichkeit bezeichnet, bei der Umsetzung einer EU-Richtlinie in nationales Recht die in der Richtlinie festgeschriebenen Mindeststandards zu überschreiten (ebd.). Die deutlichste Orientierung an den Kommissionsvorschlägen ergibt sich bei der Angleichung des Status von GFK-Flüchtlingen an den von Asylberechtigten nach Art. 16 GG: Beide Gruppen erhalten sofort eine Aufenthaltserlaubnis (vgl. § 25 Abs. 1 und 2 AufenthG) und nach drei Jahren (wenn die Voraussetzungen für die Anerkennung nicht entfallen sind) einen unbefristeten Aufenthaltstitel (§ 26 Abs. 3 i.V.m. § 73 Abs. 2a AsylVfG); Ehegatten und minderjährige Kinder von GFK-Flüchtlingen werden den Familienangehörigen von Asylberechtigten nach Art. 16 gleichgestellt: Sie erhalten einen Anspruch auf Familiennachzug und damit einen abgeleiteten Flüchtlingsstatus, sofern der Lebensunterhalt gesichert ist. Auf die Voraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes kann jedoch explizit im Wege des Ermessens verzichtet werden (§ 29 Abs. 2 AufenthG).
Duldung revisited Mit der Abschaffung des Duldungsstatus will die Regierungskoalition im Gesetzentwurf erklärtermaßen einer wichtigen Anregung der Süssmuth-Kommission folgen (s.o.) und »der bislang verbreiteten Praxis, die Duldung nicht als Instrument der Verwaltungsvollstreckung, sondern als ›zweitklassigen Aufenthaltstitel‹ – häufig in Form von sog. Kettenduldungen – einzusetzen«, entgegentreten.665 Aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen bzw. aufgrund wichtigen öffentlichen Interesses soll bisher Geduldeten eine Erlaubnis zum vorübergehenden Aufenthalt gegeben werden. Auch für sog. vollziehbar Ausreisepflichtige, d.h. Personen, die alle Rechtswege ausgeschöpft haben, wird prinzipiell die Option einer befristeten Aufenthaltserlaubnis vorgesehen.
663 vgl. dazu die Arbeit des Katholischen Forum Leben in der Illegalität, insbesondere das von zahlreichen Akteuren unterzeichnete »Manifest Illegale Zuwanderung – für eine differenzierte und lösungsorientierte Diskussion« (http://www.forum-illegalitaet.de/ManifestUnterzeichnerPublikation.pdf; 28.07.2009) sowie die Positionen in dem Band von Alt & Bommes (2006). 664 vgl. etwa die Aussagen des MdB Reinhard Grindel, MuB 3/2008: 5 sowie insbesondere die Erläuterungen zu § 87 AufenthG in den Randbezeichnungen 87.1.1.2ff. sowie Vor 95.1.4 der Allg. VwV AufenthG (s. Fn. 622). 665 so die Begründung im Referentenentwurf, ZuwG-E/BMI (s. Fn. 478): 152.
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Im Regierungsentwurf soll entsprechend der Empfehlung der Kommission die eigenständige Sicherung des Lebensunterhaltes dafür nicht mehr unbedingt vorausgesetzt werden.666 Die Vergabe des Aufenthaltstitels ist jedoch nur als Kann-Vorschrift ausgestaltet. Hingegen soll ein Bleiberecht ausgeschlossen sein, »wenn der Ausländer die Ausreisehindernisse selbst zu vertreten hat«.667 Von Beginn an ist man sich bei Rot-Grün des breiten Ermessensspielraumes gewahr, den die mit Innenminister Schily gefundene Konsensformulierung den Ausländerbehörden eröffnen würde. Denn der Gesetzentwurf verfügt in seinem § 60 Abs. 11 AufenthG weiter: Einem Ausländer, dem keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird, der de facto aber auch nicht zurückgeführt werden kann oder darf, sei über die Aussetzung der Abschiebung »eine Bescheinigung auszustellen« – prinzipiell ein Euphemismus zur Duldung. Die Koalitionsfraktionen befürchten, dass die Behörden die alte Praxis fortführen werden. In einer ergänzenden Erklärung heben sie daher das Ziel, Kettenduldungen abzuschaffen, als besonders wichtig hervor; in der Begründung des 2003 wieder eingebrachten Gesetzentwurfes findet sich dieser Passus aber nur abgeschwächt und zudem in juristisch verwundener Form wieder.668 Der Vermittlungsausschuss führt die Intentionen der Süssmuth-Kommission und der rot-grünen Innenpolitiker schließlich weiter ad absurdum. Einerseits kommt es zur expliziten Wiederaufnahme der Duldung (§ 60a AufenthG). Andererseits wird die Aufenthaltserlaubnis für Personen, die eigentlich zur Ausreise verpflichtet sind, nochmals an engere Voraussetzungen geknüpft: Ihre Erteilung ist nur dann möglich, wenn rechtliche oder tatsächliche Ausreisehindernisse unverschuldet entstanden sind und nach Ansicht der Behörde auf absehbare Zeit fortbestehen. In diesem Fall »soll« sie nach 18 Monaten vergeben werden. Sie darf nicht erteilt werden, wenn die Hindernisse z.B. durch falsche Angaben oder Täuschung des Ausländers über seine Identität oder Staatsangehörigkeit (mit)verursacht worden sind oder wenn er nicht an deren Beseitigung mitwirkt (vgl. § 25 Abs. 5 AufenthG). In der flüchtlingsrechtlichen Fachliteratur wird noch vor Inkrafttreten des Gesetzes deutlich prognostiziert, die Regelung werde »nicht den gewollten Zweck der Abschaffung der Praxis der ›Kettenduldungen‹ erfüllen« (Duchrow 2004: 345). Ob in Fällen der »nicht vollziehbaren« Ausreisepflicht ein Aufenthaltstitel vergeben wird oder die Abschiebung repetitiv ausgesetzt wird (Kettenduldung), ist dem Ermessen der zuständigen Ausländerbehörde oder – sofern es Regelungen dazu erlassen hat – dem jeweiligen Bundesland anheim gestellt. An dieser Stelle rächt sich, dass die während des Vermittlungsverfahren geänderten Paragraphen durch den Gesetzgeber nicht ergänzend erläutert werden (etwa in einer überarbeiteten Gesetzesbegründung), um dessen Intentionen zu verdeutlichen. Den Ausländerbehörden werden auf diese Weise weitgehende Möglichkeiten eingeräumt, auf die Vergabe eines Aufenthaltstitels zu verzichten und Flüchtlinge in ihrem rechtlichen Schwebezustand zu belassen. Kernpunkt der unklaren Gesetzeslage ist die Interpretation des Begriffs »tatsächliche Ausreisehindernisse«. Während die ursprüngliche Gesetzesbegründung verfügt, bei der Prüfung einer Ausreisemöglichkeit sei »auch die subjektive Möglichkeit – und damit implizit auch die Zumutbarkeit – der Ausreise zu prüfen«,669 zieht das BMI in seinen Anwendungshinweisen enge Grenzen und hebt die objektiven Hindernisse hervor: Ein Aus666
vgl. Art. 1, § 25 Abs. 4 und 5 i.V.m. § 5 Abs. 3 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580). Art. 1, § 25 Abs. 5 ZuwG-E, BT-Drs. 14/7387 vom 8. November 2001: 11 bzw. Art. 1, § 25 Abs. 6 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 13. 668 vgl. BT-Drs. 14/8414 (s. Fn. 558): 75; Begr. zu Art. 1, § 25 Abs. 6 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 80. 669 BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 80. 667
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reisehindernis liege nicht vor, »wenn zwar eine Abschiebung nicht möglich ist, [...], eine freiwillige Ausreise jedoch möglich und zumutbar«.670 Im Evaluierungsbericht macht das BMI letztlich politische Gründe für seine Auslegung in den Anwendungshinweisen geltend.671 Einige Bundesländer versuchen, bei der Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an Ausreisepflichtige eine einheitliche und großzügige Verwaltungspraxis zu erreichen,672 andere gehen in restriktiver Hinsicht sogar über die Auslegungen des BMI hinaus.673 Ferner soll laut BMI die lex specialis des § 25 Abs. 4 zur Erteilung einer Erlaubnis zum vorübergehenden Aufenthalt aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen bzw. aufgrund wichtigen öffentlichen Interesses auf Menschen beschränkt bleiben, die noch nicht vollziehbar ausreisepflichtig sind.674 Aus dem Wortlaut des Gesetzes geht dies jedoch zunächst nicht hervor. Vielmehr liegt aus verschiedenen Gründen nahe, dass die Regelung auch dann anwendbar ist, wenn die Verpflichtung zur Ausreise unanfechtbar festgestellt wurde.675 Seitens des BMI wird diese Sichweise jedoch mit dem Hinweis verworfen, andernfalls »bekäme die Vorschrift den Charakter einer allgemeinen Härtefallregelung«;676 mit dem Richtlinienumsetzungsgesetz wird die Norm im Sinne des BMI explizit auf »nicht vollziehbar Ausreisepflichtige« beschränkt.677 Im Hinblick auf die Erteilung von Aufenthaltstiteln an vollziehbar ausreisepflichtige tragen die für Ausländer- und Asylangelegenheiten zuständigen Ministerialbeamten der Abteilung M unter Innenminister Schily also zu einer restriktiven Auslegungspraxis durch die Ausländerbehörden ebenso bei wie verschiedene Landesregierungen bzw. deren Innenressorts – ein offenkundiges Beispiel ministerialbürokratischer de-facto-Rechtsetzung, das 670 VAH AufenthG (s. Fn. 622), Nr. 25.5.1.2. Diese Formulierung taucht jedoch in dieser Form in den Entwürfen der einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift nicht mehr auf. Die VwV AufenthG liegen zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses dem Bundesrat vor (s. Fn. 622). Dabei handelt es sich um den fünften, mit den Ländern weitgehend abgestimmten Entwurf, in den auch Stellungnahmen von Nichtregierungsorganisationen wie Caritas, Pro Asyl, Evangelischen Kirche und Kommissariat der Deutschen Bischöfe eingeflossen sind. Nach einer Stellungnahme des Caritasverbandes Osnabrück haben sich hinsichtlich der Regelungen des § 25 AufenthG im Laufe der Beratungen überwiegend Verbesserungen im Sinne von Ausreisepflichtigen darin niedergeschlagen; vgl. Caritasverband für die Stadt und den Landkreis Osnabrück, Stellungnahme zu den Entwürfen der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz (letzter Sachstand: 18.06.2009), soweit sie die gesetzliche Altfallregelung betreffen, vom 20. Juni 2009, S. 7ff. (http://www.nds-fluerat.org/aktuelles/stellungnahme-zum-entwurfder-allgemeinen-vv/, 05.07.2009). 671 vgl. Bericht zur Evaluierung des Gesetzes zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz), herausgegeben vom Bundesministerium des Innern, Berlin, Juli 2006 (fortan: »Evaluierungsbericht«): 76. 672 Der rheinland-pfälzische Innenminister schreibt seinen Ausländerbehörden: »Es wird gebeten, die sich bei der Erteilung von Aufenthaltsrechten ergebenden Ermessenspielräume unter besonderer Berücksichtigung integrationspolitischer und humanitärer Gesichtspunkte soweit vertretbar zugunsten des Ausländers zu nutzen.« (Erlass vom 17.12.2004: 2; GZ: 19 300-7:316 0). 673 So betont Hessen in Abgrenzung zu den VAH AufenthG, dass es lediglich auf die objektive Möglichkeit der freiwilligen Ausreise ankomme (vgl. Erlass des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 07. Februar 2005: 2; GZ: II 4 23 d). 674 VAH AufenthG (s. Fn. 622), Nr. 25.4.1.1. 675 so bereits zahlreiche VG- und OVG-Entscheidungen (vgl. Benassi 2006: 398). Vgl. dazu ausführlich Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht (s. Fn. 635), A 1, § 25, Rn.’n 59-63. 676 Evaluierungsbericht (s. Fn. 671): 69. An dieser Stelle zeigt sich, dass nur eine gesetzliche Klarstellung durch das Parlament einer restriktiven Anwendungspraxis entgegen wirken könnte. Denn die Auslegung des BMI deckt sich weder mit den ursprünglichen Intentionen der Koalition noch – folgt man den Schilderungen eines Beteiligten – der Kompromissmeinung in der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses (vgl. MdB Rüdiger Veit beim Praktiker-Erfahrungsaustausch, Anlagenband I zum Evaluierungsbericht, s. Fn. 757: 383). 677 Art. 1, Nr. 17 c (Ergänzung zu § 25 Abs. 4 AufenthG), BT-Drs. 16/5065 (s. Fn. 654).
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zudem die Intentionen des Gesetzgebers unterminiert.678 Die Bilanz des Projektes »Abschaffung der Kettenduldung« fällt daher bereits nach einem Jahr vernichtend aus: (Selbst-) kritisch äußert der innenpolitische Sprecher der SPD Dieter Wiefelspütz, mit dem Zuwanderungsgesetz sei »nicht einmal im Ansatz« das erreicht worden, was der Gesetzgeber ursprünglich geplant habe.679 Die Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes offenbart sehr niedrige (vorläufige) Fallzahlen für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen an vormals Geduldete.680 Das Ziel, die Praxis der Kettenduldungen abzuschaffen oder entscheidend einzudämmen, wird glatt verfehlt. Eine aufgrund der Fallzahlen als überragend wichtig zu erachtende Anregung der Süssmuth-Kommission läuft damit weitgehend leer. Erst nach dieser dramatischen Erkenntnis einigen sich die Innenminister von Bund und Ländern im Rahmen der IMK am 17. November 2006 auf eine Regelung zum Bleiberecht für langjährig Geduldete. Danach können »wirtschaftlich und sozial integrierte ausreisepflichtige ausländische Staatsangehörige« eine zunächst auf zwei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn sie zum Stichtag 17. November 2006 seit mindestens acht Jahren in Deutschland lebten. Für Familien mit minderjährigen Kindern soll ein verkürzter Zeitraum von sechs Jahren gelten. Hauptbedingung ist ferner ein dauerhaftes Beschäftigungsverhältnis, mit dem der Lebensunterhalt der Person bzw. der Familie gedeckt wird, ohne dass auf ergänzende Sozialleistungen zurückgegriffen wird. Personen, die dies nicht erfüllen, können eine bis zum 30. September 2007 befristete Duldung erhalten, um einen dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Anträge müssen bis zum 17. Mai 2007 gestellt werden.681 Aufgrund massiver Kritik an der Reichweite dieser Maßnahme,682 die wegen der Koppelung an einen festen Arbeitsplatz nur sehr wenige Geduldete begünstigt hätte, einigt sich die Große Koalition im Rahmen der Verhandlungen um die Novellierung des Aufenthaltsgesetzes Anfang 2007 auf eine etwas großzügigere Regelung. Im Rahmen einer gesetzlichen Altfallregelung (§ 104a AufenthG) erhalten Geduldete, die sich am 1. Juli 2007 seit mindestens acht Jahren, falls sie in häuslicher Gemeinschaft mit minderjährigen Kindern leben seit sechs Jahren, die ein Mindestmaß an Integrationswilligkeit und Sprachkompetenz zeigen und die Ausländerbehörden nicht vorsätzlich getäuscht haben, eine bis zum 31. Dezember 2009 befristete Aufenthaltserlaubnis und einen gleichrangigen Arbeitsmarktzugang. Diese Aufenthaltserlaubnis kann nur über den 31. Dezember 2009 hinaus verlängert werden, wenn der Betroffene seinen Lebensunterhalt bzw. den seiner Familie überwiegend eigenständig sichern kann. Minderjährigen ledigen Kindern über 14 Jahren, deren Eltern die Voraussetzungen der gesetzlichen Altfallregelung nicht erfüllen und aus dem Bundesgebiet ausreisen, kann ein eigenständiges Aufenthaltsrecht gewährt werden, wenn sie eine Integrationsperspektive haben und ihre Personensorge gesichert ist (§ 104b AufenthG).
678 Mit dem geplanten Beschluss einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift (s. Fn.’n 622, 670) wird voraussichtlich ab Ende 2009 bzw. Anfang 2010 ein einheitlicher und verbindlicher Katalog an Spezifikationen für die Umsetzung des Aufenthaltsrechts vorliegen, der den Ermessens- und Interpretationsspielraum der Bundesländer bzw. der Ausländerbehörden wieder deutlich einschränkt. 679 zit.n. SZ vom 30. Januar 2006. 680 Obwohl die genaue Zahl der Personen, die eine Aufenthaltserlaubnis erhalten haben, bis Ende 2006 nicht erhoben werden kann, steht zum Zeitpunkt der Gesetzesevaluierung fest, »dass jedenfalls nicht mehr als 20% der geduldeten Ausländer auf diesem Wege eine Aufenthaltserlaubnis erhalten konnten« – am 31. Dezember 2005 lebten immernoch fast 200.000 Ausländer mit einer Duldung in Deutschland (Evaluierungsbericht, s. Fn. 671: 83). 681 vgl. Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüssse der 182. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 17. November 2006 in Nürnberg vom 20. November 2006: 18-22. 682 vgl. dazu MuB 10/2006: 1f.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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Nach Angaben der Bundesländer sind zwischen dem Tag des Inkrafttretens des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 und 31. Dezember 2008 insgesamt 33.693 Aufenthaltserlaubnisse nach der gesetzlichen Altfallregelung erteilt worden, während sich zum Stichtag 28. Februar 2009 (35.040 erteilte Titel nach der Altfallregelung) immernoch mehr als 100.000 Ausländer mit einer Duldung in Deutschland aufhalten, davon knapp zwei Drittel (63.218) bereits länger als sechs Jahre.683 Unter den erteilten Aufenthaltstiteln sind jedoch etwa drei Viertel lediglich »auf Probe« erteilt und stehen unter dem Vorbehalt der Prüfung der überwiegend eigenständigen Lebensunterhaltssicherung zum 1. Januar 2010. Da eine kurzfristige Novellierung der Altfallregelung zum Abschluss der 16. Wahlperiode bzw. unmittelbar nach den Bundestagswahlen am 27. September 2009 äußerst unwahrscheinlich ist,684 warnen insbesondere alle drei Oppositionsparteien vor der Gefahr dahingehend, dass viele der von der Altfallregelung Begünstigten mit Ablauf der Befristung wieder in die Duldung »zurückfallen« und von Abschiebung bedroht sein könnten, da sie ihren Lebensunterhalts aufgrund der angespannten Arbeitsmarktsituation nicht ausreichend eigenständig sichern können.685 Die Bundesregierung wird zu gegebener Zeit unter Einbeziehung aller relevanten Gesichtspunkte entscheiden, ob sie im Hinblick auf die gesetzliche Stichtagsregelung […] dem Parlament einen Regelungsvorschlag unterbreitet. […] Die Bundesregierung sieht keine Veranlassung, zum zeitlichen Ablauf eines möglichen Gesetzgebungsverfahrens in der kommenden Legislaturperiode Stellung zu nehmen.686
Harte Fälle in den Ländern (Rechtsweg ausgeschlossen) Vor dem Hintergrund der restriktiven Praxis bei der Erteilung von Aufenthaltsrechten aus humanitären Gründen an formal ausreisepflichtige Ausländer sollen an dieser Stelle auch die sog. Härtefallkommissionen der Bundesländer erwähnt werden. Sie scheinen für die aufgeworfenen Fragestellungen dieses Buches von Bedeutung, weil mit ihnen ein Sonderfall der Kollegialgremien zur Beratung und Vorbereitung migrationspolitischer Entscheidungen im deutschen Aufenthaltsrecht legalisiert wurde. Die Süssmuth-Kommission sieht nach intensiver Diskussion von der Empfehlung einer allgemeinen Härtefallklausel im Gesetz ab, die ausreisepflichtigen Ausländern einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis eingeräumt hätte. Auch eine gesetzliche Ermächtigung der Exekutive, durch »Gnadenrecht« in Einzelfällen ein Aufenthaltsrecht nach Ermessen zu gewähren, lehnt die Kommission ab. Die Empfehlung lautet, länderspe683 vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, BT-Drs. 16/12029 vom 23. Februar 2009: 11 sowie Antworten des Parlamentarischen Staatssekretärs Peter Altmaier auf die Schriftlichen Fragen der Abgeordneten Ulla Jelpke, BT-Drs. 16/12247 vom 13. März 2009: 6f. 684 vgl. die Ausführungen des MdB Rüdiger Veit, BT-Pl.Pr. 16/230 vom 2. Juli 2009: 25987C. 685 Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke, »Bilanz der gesetzlichen Altfallregelung zum 31. März 2009 – drohendes Desaster zum 1. Januar 2010«, BT-Drs. 16/12932 vom 4. Mai 2009. Sowohl Die Linke, Bündnis 90/Die Grünen als auch die FDP setzen sich parlamentarisch für eine Verlängerung bzw. Änderung der Altfallregelung ein (vgl. BT-Drsn. 16/12415 vom 24. März 2009, 16/12434 vom 25. März 2009 sowie 16/13160 vom 26. Mai 2009). Insbesondere bei der Union und seitens Innenminister Schäuble gibt es jedoch keine Neigung, die Vorschläge ernsthaft zu diskutieren. Die parlamentarischen Initiativen werden zwar auf die Tagesordnung gesetzt, jedoch ohne Debatte von den Regierungsfraktionen abgelehnt; die Reden werden lediglich zu Protokoll gegeben (vgl. BT-Pl.Pr’le. 16/214 vom 26. März 2009: 23274C-23279B sowie 16/230 vom 2. Juli 2009: 25985B-25990A). 686 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke (s. Fn. 685), BT-Drs. 16/13163 vom 27. Mai 2009: 2, 14.
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zifisch die bereits bestehenden Formen der Beratung über Härtefälle – in den Petitionsausschüssen der Landtage oder in ressortnahen Gremien – beizubehalten bzw. je nach Bedarf zu schaffen und weiterzuentwickeln (vgl. UK ZU 2001: 168ff.).687 Der ursprüngliche Gesetzentwurf des BMI übernimmt die zurückhaltende Linie der Süssmuth-Kommission. Der Koalitionsentwurf eröffnet hingegen auf Betreiben der Grünen eine weitergehende Möglichkeit zur Berücksichtigung von Härtefällen durch eine allgemein gehaltene Klausel.688 Da auch Teile der CDU eine Härtefallregelung befürworten,689 einigen sich die Unterhändler im Vermittlungsverfahren auf einen Kompromiss. Laut dem eingefügten § 23a AufenthG darf nun die oberste Landesbehörde nach einem Härtefallersuchen einer entsprechenden Kommission anordnen, dass einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird – und zwar abweichend von den eigentlichen gesetzlichen Bestimmungen. Keineswegs muss sie dem Ersuchen folgen. Der Ausnahmecharakter der Regelung wird zusätzlich durch eine sunset-Klausel betont, die den Härtefallparagrafen nach fünf Jahren, am 31. Dezember 2009, außer Kraft treten lässt (Art. 15 Abs. 4 ZuwG). Die Möglichkeit zur Einrichtung von Härtefallkommissionen liegt allein bei den Landesregierungen, eine Verpflichtung besteht nicht. Weder der § 23a AufenthG noch die AufenthV enthalten Vorgaben darüber, wie eine Kommission besetzt werden und arbeiten soll. Die Länder haben freie Hand. Dies ist insofern bedenklich, als dass je nach politischer Ausrichtung und Zielsetzung damit unterschiedliche Verhältnisse zwischen den Bundesländern entstehen können. Tatsächlich variiert die Besetzung der Gremien von Land zu Land. Sie verfügen auf der Grundlage von Ministerialverordnungen meist über sechs bis zehn Mitglieder und einer ebenso großen Zahl von Stellvertretern, die durch den zuständigen Innenminister berufen oder bestätigt werden. Die Mitglieder entstammen überwiegend der Ministerialbürokratie, den beiden großen christlichen Landeskirchen, den kommunalen Spitzenverbänden, der Landeswohlfahrtsverbände und in den meisten Fällen dem Landesflüchtlingsrat. In Einzelfällen werden auch weitere NGOs der Flüchtlingsarbeit, Wissenschaftler oder Einzelpersonen benannt.690 Insbesondere die Regelungen in Hamburg und Hessen, wo die Petitionsausschüsse der Landesparlamente bzw. entsprechende Unterausschüsse die Rolle des Härtefallgremiums übernehmen, sind zunächst politisch hart umkämpft.691 Hier werden Vertreter gesellschaftlicher Gruppen lediglich angehört oder gutachterliche Stellungnahmen eingeholt. Die Entscheidung darüber, ob ein Ersuchen an die oberste Landesbehörde bejaht wird, fällt der Ausschuss nach parlamentarischer Geschäftsordnung. Eine Prüfung von Einzelfällen in sachlicher Weise und ohne Solidarisierungseffekte mit der Landesregierung scheint dabei nur schwer möglich (vgl. Groß 2006: 43f.).
687 vgl. etwa zur Arbeit der Kommission in NRW Weber (2005; in ZAR: 203ff.) In einigen Bundesländern wurden auch sog. Härtefallgespräche unter Konsultation von Beiräten institutionalisiert; so etwa in Sachsen (vgl. Elfter Jahresbericht des sächsischen Ausländerbeauftragten, LT-Drs. 4/44 vom 21. Oktober 2004: 53ff.). 688 vgl. Art. 1, § 25 Abs. 5 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420, s. Fn. 580: 13. 689 So heißt es im Abschlussbericht der CDU-Zuwanderungskommission, den Innenministern und Innensenatoren der Länder »muss […] auf gesetzlicher Grundlage die Möglichkeit gegeben werden, ohne Schaffung von Rechtsansprüchen im Einzelfall flexible Lösungen zu finden.« (s. Fn. 456: 74) 690 Eine durch amnesty international erstellte synoptische Gegenüberstellung aller Gremien, ihre Rechtsgrundlagen und ihrer Besetzung publiziert der Flüchtlingsrat NRW auf seiner Website (vgl. »Die Härtefallkommissionen der Länder«, Stand: Dezember 2008, zusammengestellt von Andreas Schwantner; http://www.fluechtlingsratnrw.de/2081/index.html, 03.07.2009). 691 So kam es im hessischen Landtag bei der Debatte um die Härtefallkommission fast zu einem Eklat (vgl. LTPl.Pr. 16/48 vom 6. Oktober 2004: 3203-3207).
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Ferner wird vermutet, Landtagsabgeordnete verfügten nicht über die nötige Expertise bzw. Zeitkapazitäten, um sachverständige Entscheidungen zu treffen.692 Die Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes Mitte 2006 bestätigt die o.g. Bedenken mit Blick auf mangelnde Rechtsgleichheit. Auch wenn verlässliche Statistiken noch nicht vorliegen scheint die Möglichkeit »politischer Willkürentscheidungen« zu bestehen: Einige Härtefallkommissionen und Innenminister handhaben die Härtefallregelung deutlich großzügiger als andere.693 Doch obwohl anfänglich von einigen Beobachtern aufgrund der Beteiligung von Nicht-Regierungsorganisationen bzw. ungewählter Organe in Verwaltungsprozessen Zweifel über die Verfassungs- und Rechtmäßigkeit der Härtefallkommissionen geäußert wurden (vgl. Schönenbroicher 2004), unterstützt die Mehrheit der am Praktikererfahrungsaustausch teilnehmenden Experten die Vorschrift. Die herrschende Rechtsmeinung geht davon aus, dass die bislang praktizierten und in den Ländern etablierten Verfahrensweisen die Bestimmung des Gesetzes gewährleisten: Die Entscheidungskraft liegt in jedem Fall bei der obersten staatlichen Behörde, da die Härtefallkommission nur ein Ersuchen bezüglich einer Entscheidung dieser Behörde stellen kann (vgl. Groß 2006: 44; Kluth u.a. 2008: 636; Storr u.a. 2008: 192-194). Eine bessere Harmonisierung des Härtefallrechts will das BMI durch Klarstellungen in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG erreichen; gesetzgeberischer Handlungsbedarf wird nicht gesehen.694 Im Zuge der am 20. Dezember 2008 erfolgten Änderungen durch das Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz wurde immerhin die Befristung der Härtefallregelung aufgehoben.695 Am Stichtag 31. Dezember 2008 besaßen bereits insgesamt 4.567 ausländische Personen in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis nach der Härtefallregelung des § 23a AufenthG.696
3.4.3.3 Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion: »Tabuthema«, »…im Bewusstsein der historischen Verantwortung« In der Aussiedlerpolitik spricht sich die UK ZU dafür aus, die pauschale Vermutung eines Kriegsfolgenschicksals für Spätaussiedler aus den früheren Sowjetrepubliken aufrechtzuerhalten (vgl. Kap. 3.3.1.3). Deutschland solle »auch künftig seine historische Verantwortung 692 vgl. Groß 2005: 65; in Hessen MdL Sabine Waschke (LT-Pl.Pr. 16/36 vom 12. Mai 2004: 2350; LT-Pl.Pr. 16/48 vom 6. Oktober 2004: 3197). Nach längerer Debatte entschließt sich Hessen zu einer kompletten Neuregelung seines Härtefallrechts: Am 21. November 2008 nimmt das auf der Grundlage eines Härtefallkommissionsgesetzes völlig neu zusammengesetzte Gremium, das nunmehr aus 17 nicht-parlamentarischen Mitgliedern von Behörden, Vereinen und Verbänden, Kirchen und Migrantenorganisationen besteht, in Wiesbaden seine Arbeit auf (Gesetz zur Einrichtung einer Härtefallkommission – HFKG vom 30. September 2008, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Hessen, Teil I, Nr. 18 vom 6. Oktober 2008: 842ff.). 693 Die Kommission in NRW stellt bei ca. 1.000 Anträgen 2005 in nur 92 Fällen ein Ersuchen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an die oberste Landesbehörde, die diesem in 74 Fällen (betreffend ca. 300 Personen) folgt. In Berlin hingegen befasst sich die Härtefallkommission mit insgesamt 430 Fällen (= 1.398 Personen) von denen 249 Fälle (= 790 Personen) tatsächlich zur Erteilung eines Bleiberechts führen (z.T. eigene Berechnungen; Zahlen aus dem Evaluierungsbericht, s. Fn. 671: 86 sowie Anlagenband I zum Evaluierungsbericht, s. Fn. 757: 72, 229). Statistische Auswertungen bis einschließlich 31. Dezember 2007 finden sich bei Schwantner (s. Fn. 690). 694 vgl. Evaluierungsbericht (s. Fn. 671): 88. Sowohl in den Vorläufigen Anwendungshinweisen als auch im Entwurf der Verwaltungsvorschrift vom Juli 2009 bleiben die Landesregierungen regelungsbefugt und können »die Aufgabe der Härtefallkommission auch auf bestehende Einrichtungen übertragen« (23a.2 VAH AufenthG; 23a.2 VwV AufenthG, s. Fn. 622). 695 vgl. Art. 2 (Streichung des Passus’ im Zuwanderungsgesetz), Arbeitsmigrationssteuerungsgesetz (s. Fn. 624). 696 vgl. BT-Drs. 16/12029, s. Fn. 683: 8.
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gegenüber dieser Zuwanderungsgruppe wahrnehmen« (UK ZU 2001: 183). Im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) soll zum einen klar gestellt werden, dass Sprachkenntnisse als Bestätigungsmerkmal der deutschen Volkszugehörigkeit erforderlich sind. Zur Erleichterung der Integration sollen auch einbezogene Familienangehörige, die nicht selbst den Status als Spätaussiedler haben, vor der Einbürgerung in einem – allerdings mehrfach wiederholbaren – Test deutsche Sprachkenntnisse nachweisen. Nicht zuletzt weil die Kommission radikale Änderungen verwirft und einen Kompromiss über geringe Anpassungen erzielt, folgt die Bundesregierung ihren Vorschlägen. Wie in keinem anderen Teilbereich des Zuwanderungsgesetzes bezieht sie sich explizit auf die Süssmuth-Kommission.697 Im Vermittlungsverfahren bleiben lediglich das Maß der erforderlichen Sprachkenntnisse und deren Erhebung umstritten. Die Union setzt durch, dass unter bestimmten Bedingungen auch dann die Anerkennung als Spätaussiedler möglich bleibt, wenn ausreichende Sprachkenntnisse nicht erbracht werden können, sonst aber die Abstammungsvoraussetzungen gegeben sind.698 Ehegatten und Abkömmlinge können nur noch dann in den Aufnahmebescheid einbezogen werden, wenn sie »Grundkenntnisse der deutschen Sprache« beherrschen.699 Außerdem können die Verhandlungsführer der Union erreichen, dass der Beirat für Vertriebene, Flüchtlinge und Spätaussiedler nicht wie von der Regierungskoalition geplant abgeschafft wird (vgl. dazu Kap. 3.4.3.5). Alles in allem bleiben Rechtsstatus und Aufnahmebedingungen der Spätaussiedler also unverändert, was dem parteipolitischen Konsens im Bundestag entspricht, das Thema weitgehend zu tabuisieren.700 Das befristete Wohnortzuweisungsgesetz, nach dem die Länder den Spätaussiedlern und ihren in den Aufnahmebescheid einbezogenen Ehegatten oder Abkömmlinge einen vorläufigen Wohnort zuweisen können, wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend selbst sichern können, läuft in Absprache zwischen Bund und Ländern zum Jahresende 2009 aus (vgl. BAMF 2008: 51).
Von »Kontingentflüchtlingen« zu jüdischen Einwanderern Trotz des unsicheren Forschungsstandes zur Zuwanderung und Integration von Juden aus Osteuropa (vgl. Haug & Schimany 2005: 3) kommt die Süssmuth-Kommission hier zu eindeutigen Empfehlungen. Sie folgt explizit den Vorschlägen des Zentralrates der Juden in Deutschland und koppelt diesen Einwanderungstatbestand eng an die Interessen des konservativen Judentums (vgl. dazu Spiegel 2003). Die Zuwanderungsmöglichkeit soll zur Stärkung der jüdischen Gemeinden beibehalten werden, die Beurteilung der Zugehörigkeit zum berechtigten Personenkreis soll jedoch orientiert an den jüdischen Religionsgesetzen 697 Zur Begründung der Änderungen im BVFG heißt es, damit »sollen in erster Linie die Empfehlungen der Unabhängigen Kommission ›Zuwanderung‹ […] zur zukünftigen Gestaltung des Spätaussiedlerzuzugs umgesetzt werden« (BT-Drs. 15/420, s. Fn. 580: 117); vgl. dazu auch Entwurf eines Gesetzes zur Klarstellung des Spätaussiedlerstatus vom 19. Juni 2001, BT-Drs. 14/6310 sowie Erste Beschlussempfehlung und Erster Bericht des Innenausschusses vom 4. Juli 2001, BT-Drs. 14/6573). 698 Änderungsantrag Nr. 117 zu Artikel 6 Nr. 2 ZuwG-E (§ 6 BVFG), BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 44, Ziffer 117. 699 vgl. § 27 Abs. 1 Satz 2 BVFG. Der Regierungsentwurf hingegen verlangt – dem Wortlaut der SüssmuthKommission folgend – immerhin »ausreichende Kenntnisse« (Art. 6 Nr. 6b ZuwG-E, BT-Drs. 15/420, s. Fn. 580: 49; vgl. UK ZU 2001: 184). Zu den Sprachanforderungen vgl. auch ausführlich BAMF (2008: 47f.). 700 Im Bundestags-Innenausschuss weist die Ausländerbeauftragte Marieluise Beck auf ein »heikles Thema« hin, bei dem »alle dazu tendierten, eher ein Tabu daraus zu machen.« (88. Sitzung des Innenausschusses, s. Fn. 557: 54)
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der Halacha erfolgen – d.h. nur solche Personen, die von einer jüdischen Mutter abstammen oder nach den Regeln des Rabbinatsgerichts zum Judentum konvertiert sind, sollen eine Berechtigung erhalten. An der Nachweisprüfung soll der Zentralrat der Juden beteiligt werden. Die Verteilung neu zuwandernder Juden in den einzelnen Bundesländern soll nur an Orte mit Anbindung an eine jüdische Gemeinde erfolgen (vgl. UK ZU 2001: 187f.).701 Einvernehmlich wird mit § 23 Abs. 2 AufenthG ein neuer Basisrahmen geschaffen, nach dem auf Anordnung des BMI bei besonders gelagerten politischen Interessen eine Aufenthalts- oder Niederlassungserlaubnis für bestimmte Ausländergruppen erteilt werden kann. Ansonsten bemühen sich das BMI und die parteipolitischen Akteure nach Kräften, eine Thematisierung oder gar einen offenen Diskurs zur jüdischen Zuwanderung zu vermeiden; lediglich der Innenausschuss des Bundestages stellt in seinem Bericht (grammatikalisch fehlerhaft, aber dennoch unmissverständlich) klar, »dass sich im Hinblick auf die Aufnahme jüdischer Emigrantinnen und Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion die jetzige Rechtslage und Aufnahmepraxis durch das AufenthG nichts ändert.«702 Aus rechtswissenschaftlicher Sicht sowie von Seiten der Bundesländer wird reklamiert, dass es dringend einer verbindlichen Ausgestaltung dieser Regelung bedürfe, um die Aufnahme nach einheitlichen Kriterien zu regeln.703 Tatsächlich bleibt die Rechtsgrundlage unzureichend, da formal die Länder zuständig sind und de facto kaum Anträge bearbeitet werden. Auch weil die Innenminister eine strikte Begrenzung beschließen (s.u.), kommt in den Jahren 2005 und 2006 die jüdische Zuwanderung fast gänzlich zum Erliegen.704 Erst im Frühjahr 2007 beschließen Bundestag und Bundesrat auf Bemühen des Bundestags-Innenausschusses und im Zuge einer Änderung des Vertriebenenrechts einen klarstellenden Passus in § 23 Abs. 2 AufenthG, der das Verfahren einheitlich dem BAMF zuweist.705
Revival des Punktesystems Die Innenminister und -senatoren der Länder legen zusammen mit Bundesinnenminister Schily am 29. Dezember 2004 in einem nicht veröffentlichten Umlaufbeschluss fest, die jüdische Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion deutlich zu begrenzen.706 Zwischen Politik und jüdischen Verbandsvertretern entwickelt sich daraufhin ein Disput um die Kriterien der Aufnahme. Sowohl Bundesregierung und Bundesländer als auch die liberale Union Progressiver Juden wenden sich gegen die vom Zentralrat der Juden bzw. von der Süssmuth-Kommission empfohlene strikte Orientierung an der Halacha. Insbesondere Län701 vgl. dazu kritisch »Wer ist richtiger Jude?«, taz vom 16. Juli 2001: 6; »Jude sein«, SZ vom 13. Dezember 2001: 17 sowie »Einwanderung nach Halacha?« (Runge 2001). 702 BT-Drs. 14/8414 (s. Fn. 558): 74. 703 vgl. Stellungnahme des Bundesrates zum ZuwG-E, Ziffer 21, BT-Drs. 14/7987: 11; Raabe (2004: 416). 704 Im Jahr 2006 reisen nur rund 600 Personen ein (vgl. MdB Josef Philip Winkler, BT-Pl.Pr. 16/82 vom 1. März 2007: 8294B); der Zentralrat der Juden in Deutschland spricht von einem faktischen Zuzugsstopp (vgl. Jüdische Allgemeine Nr. 17 vom 26. April 2007). 705 vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses zum Entwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Bundesvertriebenengesetzes, BT-Drs. 16/4444 vom 28. Februar 2007: 3f.; BT-Pl.Pr. 16/82 vom 1. März 2007: 8294D; BR-Sten.Ber. 832 vom 30. März 2007: 106C; BGBl. I 2007: 748ff. 706 vgl. Die Welt vom 7. Januar 2005: 2; SZ vom 5. Januar 2005: 1. Innerhalb von nur fünf Monaten habe sich damit die Haltung des Bundesinnenministers radikal verändert: »Die Bedingungen, die den Juden derzeit vorgeschlagen werden, bedeuten das Ende der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland.« (Pavel Polian, »Sprecht mit uns! Zur Zuwanderung osteuropäischer Juden«, SZ vom 8. Januar 2005: 13).
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der und Kommunen wollen Sprachkenntnisse, eine positive Integrationsprognose und die Unabhängigkeit von sozialstaatlichen Transferleistungen zur Voraussetzung für einen Aufenthalt machen. Im Bundestag, der das Thema lediglich außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung in den Ausschüssen diskutiert, vertreten auch Union und SPD diese Position, während sich Bündnis 90/Die Grünen gegen jegliche Restriktionen aussprechen.707 Eine Arbeitsgruppe unter ständiger Beteiligung des Zentralrates bei Bundesinnenminister Schily verständigt sich bis Sommer 2005 auf Eckpunkte, die von der IMK beschlossen und zur Umsetzung in den Ländern spezifiziert werden.708 In harten Verhandlungen erreichen die Vertreter der jüdischen Gemeinden die Rücknahme einiger der durch die Innenminister geplanten Restriktionen und stimmen der Lösung nolens volens zu.709 Eine Orientierung an den jüdischen Religionsgesetzen zur Bestimmung der Zugehörigkeit zum Judentum setzt sich indes nicht durch. In beiden Beschlüssen der IMK findet sich eingangs ein Passus, nach dem die neue Regelung »im Bewusstsein der historischen Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland« getroffen werde. Abgesehen von einer Härtefallklausel für unmittelbare Opfer nationalsozialistischer Verfolgung – bei ihnen wird auf spezielle Aufnahmevoraussetzungen verzichtet – orientiert sich die Regelung jedoch primär an haushalterischen und integrationspolitischen Interessen der Bundesrepublik und führt zu einer Beschränkung der Zuwanderungsmöglichkeiten.710 Danach dürfen Juden bzw. Personen, die von mindestens einem jüdischen Elternteil abstammen und dies mit staatlichen, vor 1990 ausgestellten Personenstandsurkunden nachweisen, nur zuwandern, wenn sie zum Lebensunterhalt nicht dauerhaft auf Sozialleistungen angewiesen sind, über Grundkenntnisse der deutschen Sprache verfügen und sich zu keiner anderen als der jüdischen Religionsgemeinschaft bekennen und eine Aufnahmemöglichkeit in einer Gemeinde durch Stellungnahme der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) bescheinigt wird (vgl. detailliert BAMF 2008: 94f.). Die Durchführung des Aufnahmeverfahrens erfolgt – ebenfalls ein Novum – nicht mehr in Verantwortung der Länder, sondern in eigener Zuständigkeit durch das BAMF,711 bei dem zusätzlich ein neues Beratungsgremium institutionalisiert wird: Der Beirat »Jüdische Zu707 Der Innenausschuss debattiert Anfang Januar ergebnislos zum Thema (vgl. Tagesordnung der 52. Sitzung am 19. Januar 2005: 9; Die Welt vom 20. Januar 2005: 4; MuB 1/2005: 1 sowie MuB 3/2005: 2). 708 vgl. Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 178. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 24. Juni 2005 in Stuttgart: 41 sowie im Folgenden: Umlaufbeschluss der Innenministerkonferenz vom 18. November 2005, »Aufnahme jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion – mit Ausnahme der baltischen Staaten« (GZ: IV E 3.10). 709 vgl. »Jüdische Zuwanderung aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion: Verständigung über Eckpunkte erzielt«, PM des Zentralrates der Juden in Deutschland vom 24. Juni 2005 (www.zentralratjuden.de, 01.12.2006) sowie »Union progressiver Juden begrüßt Einigung zur jüdischen Zuwanderung«, PM vom 24. Juni 2005 (www.liberale-juden.de, 05.12.2006). 710 Nicht zuletzt sind diese Maßnahmen auch auf den diplomatischen Dialog mit Israel zurückzuführen – dem daran liegt, die bevölkerungspolitisch gewollte jüdische Einwanderung nach Israel nicht durch eine »Alijah nach Deutschland« zu reduzieren (vgl. zu den Hintergründen und Einzelheiten: »New Rules for Jews immigrating to Germany«, San Francisco Chronicle vom 31. Juli 2005; »Ausgerechnet Deutschland«, FR vom 28. September 2005 sowie – äußerst differenziert – Polian, s. Fn. 706). 711 Dies bedeutet eine Zentralisierung des Verfahrens unter Federführung des BMI. Im Aufenthaltsgesetz wird ihm dazu verspätet eine besondere Befugnis erteilt (vgl. Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen »Zukunft der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland«, BT-Drs. 16/2097 vom 30. Juni 2006: 5 sowie BT-Drs. 16/4444, s. Fn. 705: 3).
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wanderung« (vgl. Kap. 3.4.3.5). Bereits in seinen ersten Sitzungen verständigt sich der Beirat auf ein Punktesystem, mit Hilfe dessen die Integrations- und Sozialprognose von Antragstellern durch das BAMF gestellt werden soll. Danach soll nur Aufnahme finden, wer von maximal 105 erreichbaren Punkten nach folgendem Schema mindestens 50 erreicht: Bis zu einem Lebensalter von 30 Jahren erhalten die Zuwanderer 15 Punkte. Für jedes weitere Lebensjahr ist der Abzug eines Punktes vorgesehen. Ein Hochschulabschluss soll mit 20 Punkten, allgemeine Berufserfahrung mit zehn Punkten bewertet werden. Mitarbeit in einer jüdischen Organisation wird mit zehn Punkten honoriert, ein Arbeitsplatzangebot mit fünf Punkten. In Deutschland lebende Verwandte sollen ebenfalls mit fünf Punkten bewertet werden. Gute Deutschkenntnisse sollen mit bis zu 25 Punkten in die Wertung eingehen. Das BAMF kann über die Vergabe weiterer Punkte nach Ermessen entscheiden. Durch einen Bericht des Nachrichtenmagazins Der Spiegel werden die Pläne publik; erst nach einer Kleinen Anfrage im Bundestag, in der die augenfälligen Gemeinsamkeiten mit dem von Süssmuth-Kommission und der rot-grünen Koalition vorgeschlagenen Punktemodell der arbeitsmarktorientierten Zuwanderung im Auswahlverfahren (vgl. Kap. 3.4.3.1) angesprochen werden, bestätigt die Bundesregierung den Medienbericht und erteilt weitere Auskünfte zu den Plänen.712 Sie versichert zwar, es handele sich lediglich »um ein Hilfsmittel zur Ermessensausübung«, dennoch bedeutet die Zuwanderungssteuerung mit Hilfe eines Punktesystems eine Abkehr vom bisherigen Charakter jüdischer Zuwanderung in die Bundesrepublik: Nach den darin festgelegten Qualitätskriterien erfolgt die Aufnahme eben nicht mehr uneingeschränkt »im Bewusstsein der historischen Verantwortung«. Durch die Überprüfung einer Einbindungsmöglichkeit in eine religiöse Gemeinde erhält zudem der vormals rein politisch-humanitäre, an der Zuschreibung einer »jüdischen Nationalität« durch das Sowjetregime orientierte Aufnahmetatbestand eine stark religiöse Prägung, Einwanderung wird dadurch »gewissermaßen konfessionalisiert« (Runge 2007: 665). Zu einer Zeit, da bereits über 200.000 Jüdinnen und Juden aus der Ex-Sowjetunion nach Deutschland immigriert sind und damit die Mitgliederzahlen der Gemeinden in Deutschland binnen 15 Jahren nahezu vervierfacht haben,713 wird der Zuwanderungstatbestand nur in reduziertem Umfang aufrechterhalten. Die von zahlreichen Einschränkungen geprägte Neuregelung folgt weder den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission noch einer uneingeschränkt wahrgenommenen »historischen Verantwortung«.
3.4.3.4 Integration: »Der eigentlich populäre Teil ist untergegangen« Unter der Hauptüberschrift »Miteinander leben« propagiert die Zuwanderungskommission im dritten Teil ihres Berichtes »eine neue Integrationspolitik«. Die »bisherige Politik des 712
vgl. Der Spiegel Nr. 30 vom 24. Juli 2006: 16; Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen »Einführung des Punktesystems zur Steuerung der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland«, BT-Drs. 16/2516 vom 5. September 2006. 713 Seit Beginn des geregelten Aufnahmeverfahrens bis zum 31. Dezember 2008 sind 202.127 Antragsteller einschließlich Familienangehörige als jüdische Zuwanderer nach Deutschland eingereist. Weitere 8.535 Personen kamen vor Beginn bzw. außerhalb des geordneten Verfahrens, d.h. insgesamt sind 210.662 jüdische Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion eingereist (vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke »Zahlen in der Bundesrepublik Deutschland lebender Flüchtlinge zum Stand 31. Dezember 2008«, BT-Drs. 16/12029 vom 23. Februar 2009). Nach Angaben der ZWST ist die Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden von 29.089 im Jahr 1990 auf 107.677 im Jahr 2005 angestiegen (Zahlen jeweils per 31.12. des Jahres; schriftliche Auskunft der ZWST an den Verf. vom 8. Januar 2007).
334
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
›pragmatischen Improvisierens‹« müsse abgelöst werden durch eine »systematische und übergreifende Herangehensweise« und ein »integrationspolitisches Gesamtkonzept« (UK ZU 2001: 199). Die Kommission kommt zu rund 50 Einzelempfehlungen. Sie definiert Integration als »politische Aufgabe«, die darauf abziele, »Zuwanderern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unter Respektierung kultureller Vielfalt zu ermöglichen.« (UK ZU 2001: 200). Für Neuzuwanderer und solche, die bereits länger ohne ausreichende Kenntnisse im Land leben, empfiehlt die Kommission nach einheitlichen Grundsätzen für alle Migrantengruppen Integrationskurse von mindestens 600 Unterrichtsstunden, in denen neben dem Primärziel Spracherwerb auch eine Einführung in die Grundzüge des rechtlichen und politischen Systems sowie berufliche Orientierungshilfen gegeben werden sollen. Die Teilnahme soll mittels eines Systems von Anreizen und bedingt Sanktionen gefördert werden, das dem Grundsatz »fördern und fordern« entspricht. Die Kosten für die geschätzten rund 200.000 benötigten Kursplätze pro Jahr sollen zur Entlastung der Kommunen Bund und Länder zu je 50 % übernehmen. Umfang und Struktur des Kursangebotes ist keineswegs neu: Explizit bezieht sich der Kommissionsbericht auf die von der Ausländerbeauftragten vorgeschlagenen »Willkommen-Integrationsschecks für Neuzuwanderer« (WIN) innerhalb ihres Konzeptes für ein Integrationsgesetz,714 Eckpunkte der Bundesregierung zur Neustrukturierung der Sprachkurse715 sowie die Integrationskursmodelle Schwedens und der Niederlande, an denen sich bereits beide orientiert hatten. Außerdem werden zusätzliche Deutschkurse empfohlen, die sich gezielt und ausschließlich an Mütter richten (vgl. UK ZU 2001: 228). Im Staatsangehörigkeitsrecht soll die Frage der Mehrstaatigkeit großzügiger gehandhabt werden, um »den Erwerb politischer Rechte […] zu garantieren«. Das im Parteienkompromiss von 2000 festgelegte Optionsmodell lehnt die Kommission zumindest implizit ab (ebd.: 249). Beim Familiennachzug soll es in den Augen der Kommission Erleichterungen bei der Kernfamilie sowie eine Anhebung des maximalen Alters, bis zu dem Kinder in die Bundesrepublik nachziehen können, von 16 auf 18 Jahre geben;716 in Deutschland geborene bzw. aufgewachsene Jugendliche aus Migrantenfamilien sollen einen vollständigen Ausweisungsschutz erhalten (vgl. ebd.: 195, 250f.). Das »Kindernachzugsalter« entwickelt sich während der Gesetzesberatungen zum symbolischen Streitpunkt zwischen Rot-Grün und Union. Die Unionsparteien bezeichnen den frühen Kindernachzug als besonders integrationsrelevant und fordern ein Höchstalter von zehn Jahren.717
714 vgl. Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen: »Anstöße zum Thema Integration II – Eckpunkte für eine Integrationsgesetzgebung«, Berlin, Dezember 2000. 715 Bereits am 12. Oktober 2000 hatte die Bundesregierung beschlossen, alle Sprachkurssysteme zu einem Gesamtsprachkonzept zusammenzuführen. Vorgesehen waren ein Basissprachkurs mit 600 Stunden sowie ein Aufbausprachkurs von 300 Stunden; vgl. dazu im Einzelnen BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 20. 716 Damit folgt man zumindest in Teilen dem damaligen Richtlinienvorschlag der EU-Kommission, der unter bestimmten Bedingungen jedoch auch für volljährige Kinder und die Verwandten in aufsteigender Linie die Nachzugsmöglichkeit vorsah (vgl. dazu Kap. 3.3.1.3). 717 vgl. Änderungsantrag Nr. 38 zu § 32 AufenthG, BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 18; Kurzprotokoll der 88. Sitzung des Innenausschusses, (s. Fn. 557): 50-55.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
335
Integration im Aufenthaltsgesetz Das vom Vermittlungsausschuss erarbeitete Kompromissgesetz räumt beim Kinder- und Familiennachzug der Einheit der Familie einen relativ hohen Stellenwert ein. Das Nachzugsalter bleibt – auch in Anlehnung an die zwischenzeitlich beschlossene EURichtlinie718 – für den Regelfall bei 16 Jahren. Bei Kindern von Asylberechtigten, anerkannten Flüchtlingen, Einreise im Familienverbund und in Sonderfällen gilt ein Nachzugsanspruch bis zum 18. Lebensjahr. Damit können sich CDU und CSU mit ihren restriktiven Vorstellungen nicht durchsetzen, allerdings folgt das Gesetz auch nicht den Vorschlägen der Süssmuth-Kommission oder den teils liberaleren Vorstellungen von Bündnis 90/Die Grünen oder FDP (vgl. die Synopse bei Wilamowitz-Moellendorff & Wolffs 2001: 10). Die Förderung der Integration wird in einem eigenen Kapitel des Aufenthaltsgesetzes verankert.719 Im Kern orientiert sich die Politik an den Anregungen der Süssmuth-Kommission und sieht einen Integrationskurs für ausländische Neuzuwanderer vor, deren Aufenthalt auf Dauer angelegt ist. Der Kurs umfasst einen Deutschkurs und einen Orientierungskurs zur Vermittlung von Grundkenntnissen über die deutsche Rechtsordnung, Kultur und Geschichte. Berechtigt sind Arbeitsmigranten, Selbständige, Familienangehörige, Asylberechtigte, GFK-Flüchtlinge sowie jüdische Zuwanderer. Damit stellt die Integrationspolitik nach dem Aufenthaltsgesetz in ihrer Substanz durchaus ein Kontinuum zu ihrer vorherigen Ausgestaltung dar; sie bringt allenfalls einen Ausbau mit sich (vgl. Bommes 2006: 10). Das Zuwanderungsgesetz führt die Verantwortung für öffentliche Angebote zur Sprachvermittlung beim BAMF zusammen und macht aus vormals freiwillig erbrachten Leistungen Regelangebote, die erstmals materiell festgeschrieben sind.720 Verankert sind einerseits klare Rechtsansprüche für Neu-Immigranten auf einen Kurs. Andererseits sind bestimmte Zuwanderergruppen unter Einschluss gravierender Sanktionsmöglichkeiten auch dazu verpflichtet, an Deutschkursen teilzunehmen und sich Kenntnisse des Rechts- und Wirtschaftslebens anzueignen. Zudem »sollen« Ausländer grundsätzlich an den Kosten der Integrationskurse beteiligt werden (vgl. § 43 Abs. 3 AufenthG). Dies ist u.a. ein Resultat der Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition im Vermittlungsverfahren. Während ein grundsätzlicher Konsens über die Notwendigkeit der Integrationsanforderungen besteht (vgl. dazu die Gegenüberstellung bei Krause 2004: 267f.), drängen CDU und CSU in ihren Änderungsanträgen darauf, von Zuwanderern klare Integrationsleistungen zu verlangen, sie oder ihre Arbeitgeber verpflichtend an den Kurskosten zu beteiligen und die Nicht-Teilnahme am Kurs zu sanktionieren.721 Neben den Kursangeboten enthält das Gesetz auch eine Klausel für ein bundesweites Integrationsprogramm, das vom BMI bzw. einer von ihm benannten Stelle in Kooperation mit Ländern, Kommunen, den Integrationsbeauftragten der drei Gebietskörperschaften, den Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, den Wohlfahrtsverbän718 Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. EU Nr. L 158 vom 30. April 2004: 77ff.). 719 vgl. Art. 1, Kap. 3, §§ 43-45 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 18f. sowie die strukturell nur leicht veränderten, aktuell geltenden Vorschriften des AufenthG in seinen §§ 43-45. 720 vgl. § 43 Abs. 3 AufenthG, §§ 1, 10ff. IntV. Auf die Entwicklung und den Inhalt der Kurse kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Eine sehr kritische Auffassung zum System der Sprachkurse vertritt Gutmann (2005). Für eine ebenfalls kritische Analyse der Orientierungskurse vgl. Schneider und Tuchan (2005: 62f.). 721 vgl. Änderungsanträge Nrn. 42-49 zu Artikel 1, §§ 43-45 ZuwG, BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 19ff.
336
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
den und sonstigen gesellschaftlichen Interessenverbänden zu entwickeln ist (vgl. § 45 AufenthG). Es soll insbesondere die Migrationsberatung konzeptionieren und die Integrationsangebote weiterentwickeln. Für zahlreiche, von der Kommission angesprochene drängende Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bietet das Zuwanderungsgesetz hingegen kaum einen Fortschritt. Gerade in den Bereichen schulische Bildungsbenachteiligung, Ausbildung und Beruf, Wohnen sowie der zivilgesellschaftlichen Integration bleiben gravierende Aufgaben zu lösen. Die Implementationsbilanz fällt also auch bei der Integration ambivalent aus: »Von dem umfangreichen Wunschkatalog der Unabhängigen Kommission ›Zuwanderung‹« sei, so bilanziert Hailbronner (2003: 123), »nur ein Teil übernommen worden.« Der Bericht der Integrationsbeauftragten führt dagegen positiver aus: Obwohl das ursprünglich vorgesehene Modell der geteilten Finanzierungsverantwortung für die Integrationskurse […] nicht durchzusetzen war, blieben das Gesetzgebungsverfahren und der ihm vorangestellte Bericht der ›Unabhängigen Kommission Zuwanderung‹ nicht ohne Auswirkungen auf die bundesdeutsche Förderlandschaft. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Beratung, Erstorientierung und Sprachförderung.« (Beauftragte 2005: 199).
Die Entwicklung der Integrationsmaßnahmen ist jedoch mit Inkrafttreten des Aufenthaltsgesetzes keineswegs abgeschlossen. So erweitert die Bundesregierung durch Änderungen der Integrationskursverordnung722 Anfang Dezember 2007 das Spektrum. Ergänzend zum regulären Integrationskurs bestehend aus 600 Stunden Deutschkurs und 45 Stunden Orientierungskurs gibt es nun spezielle Integrationskurse für bestimmte Zielgruppen: Personen mit erhöhtem Förderbedarf können einen Integrationskurs im Umfang von 945 Stunden besuchen; für Teilnahmeberechtigte mit entsprechenden Vorkenntnissen gibt es einen verkürzten Integrationskurs von 430 Stunden (§ 13 IntV). Auf Antrag ist es zudem möglich, einmalig 300 Stunden Sprachkurs zu wiederholen, so dass sich im Einzelfall ein Umfang von bis zu 1.245 Stunden Kursdauer ergeben kann.723 Integrationspolitisch äußerst strittig sind zudem zwei weitere Schritte, die von der Großen Koalition in den Jahren 2007 und 2008 durchgesetzt werden. Sie verändern integrationspolitisch relevante Regelungen, die zunächst in ihrem Grundsatz unverändert aus dem Ausländergesetz übernommen bzw. im Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 niedergelegt worden waren. Auf ihrer Frühjahreskonferenz im Mai 2006 erarbeiteten die Innenminister einen Katalog von z.T. fordernd-restriktiven Standards, die »für die Einbürgerung bundesweit grundsätzlich […] gelten sollen«. Einbürgerung wird als »Schlussstein gelungener Integration« bezeichnet, wo trotz staatlichen Förderangebotes die Bereitschaft zum Besuch eines Integrationskurses nicht besteht »müssen Sanktionen verstärkt werden«.724 Eine zentrale Forderung betrifft die Einführung eines Mechanismus zur Vermittlung 722
Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen für Ausländer und Spätaussiedler (Integrationskursverordnung – IntV) vom 13. Dezember 2004 (BGBl. I S. 3370), zuletzt geändert durch die Erste Verordnung zur Änderung der Integrationskursverordnung vom 5. Dezember 2007 (BGBl. I, S. 2787). 723 Zur Bilanz der Integrationskurse bis Ende 2008 vgl. BAMF (2009). 724 Sammlung der zur Veröffentlichung freigegebenen Beschlüsse der 180. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 5.5.2006 in Garmisch-Partenkirchen: 10ff. Wenige Wochen später fasst der Bundesrat Beschluss über ein fast wortgleiches »Integrations- und Einbürgerungskonzept« (vgl. Entschließung des Bundesrates zur Integration und Einbürgerung, BR-Drs. 460/06 [Beschluss] vom 7. Juli 2006).
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
337
und Überprüfung staatsbürgerlichen Grundwissens sowie der Grundsätze und Werte der Verfassung. Mit Beschluss des Richtlinienumsetzungsgesetzes Ende August 2007 (s. Fn. 624) wird die Einbürgerung in mehrfacher Hinsicht erschwert, u.a im Hinblick auf Sprachkenntnisse, Einkommensnachweis und die außer Betracht bleibenden strafrechtlichen Verurteilungen. Am 1. September 2008 wird außerdem das Bestehen eines bundesweit gültigen Einbürgerungstests zur Voraussetzung für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Rechtsgrundlage ist § 10 Abs. 7 des Staatsangehörigkeitsgesetzes; die Details regelt die neue »Einbürgerungstestverordnung« vom 5. August 2008.725 Einführung und Inhalt des Tests werden insbesondere von Migrantenverbänden und den Oppositionsparteien dahingehend kritisiert, dadurch sollte Einbürgerung erschwert werden.726 Durchgeführt wird der Test, der pro Teilnehmer 25 Euro kostet und wiederholt werden kann, vom BAMF in Zusammenarbeit mit rund 500 Volkshochschulen. Dort werden auch Vorbereitungskurse angeboten. Statistisch wird in der Folge einerseits deutlich, dass der Test offenbar nicht zu schwierig konzipiert ist bzw. ausreichende Vorbereitung stattfindet: In den ersten sieben Monaten nach Einführung der Testverpflichtung absolvieren von über 45.000 Teilnehmern fast 99 % den Test erfolgreich.727 Andererseits sinkt die Zahl der Einbürgerungen im Jahr 2008 trotz Einbürgerungsinitiativen deutlich (2006: 124.566; 2007: 113.030; 2008: 94.470).728 Somit liegt es nahe, dass die Einführung des Tests und die Anhebung der Spracherfordernisse eine abschreckende Wirkung auf Ausländer hat, die ansonsten die rechtlichen Voraussetzungen zur Erlangung der deutschen Staatsangehörigkeit erfüllen. Aufgrund der Vorgaben der sog. Familiennachzugsrichtlinie729 (und z.T. darüber hinaus) initiiert das BMI im Rahmen des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes eine Reihe von Änderungen des Nachzugsrechts. Nunmehr gelten Scheinehen oder Scheinverwandtschaftsverhältnisse sowie missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen ausdrücklich als Ausschlussgründe für den Familiennachzug. Eingeführt wird auch die Möglichkeit, den Familiennachzug für Personen zu versagen, die für den Unterhalt von anderen deutschen Familienangehörigen auf Sozialhilfeleistungen angewiesen sind. Weitere Maßnahmen sollen Zwangsverheiratungen bekämpfen: das Mindestalter beim Ehegattennachzug wird dahingehend erhöht, dass nunmehr beide Partner das 18. Lebensjahr vollendet haben müssen; das Vorliegen einer Zwangsehe schließt den Nachzug künftig aus. Auf harsche Kritik von Opposition und Migrantenverbänden stößt ferner die Pflicht zum Nachweis einfacher Deutschkenntnisse bei der Familienzusammenführung mit Ausnahme von Ausländern aus bestimmten Staaten, die visumfrei in das Bundesgebiet einreisen können (§ 30 Abs. 1 Satz 3 Nr. 4 AufenthG i.V.m.
725
Verordnung zu Einbürgerungstest und Einbürgerungskurs (Einbürgerungstestverordnung) vom 5. August 2008 (BGBl. I, S. 1649). 726 vgl. MuB 6/2008: 1. 727 vgl. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke »Ursachen für den massiven Rückgang der Einbürgerungszahlen im Jahr 2008 und Fehlinformationen der Integrationsbeauftragten« (BT-Drs. 16/13707 vom 2. Juli 2009: 9) 728 Im gleichen Zeitraum sinkt die Einbürgerungsquote – der Quotient aus der Anzahl der Einbürgerungen und der Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer – von 1,8 (2006) auf 1,4 (2008); vgl. Statistisches Bundesamt, Fachserie 1, Reihe 2.1, 2008. 729 Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung, ABl. L 251 vom 3.10.2003: 12-18.
338
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess § 41 AufenthV); gegenüber dieser Maßnahme, die Integration erleichtern soll, bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Zweifel.730
Während die Änderungen bei den Integrationskursen weitgehend dem entsprechen, was auch die Süssmuth-Kommission vorgeschlagen hat, laufen die Maßnahmen der Bundesregierung und der Großen Koalition in punkto Einbürgerung und Familiennachzug ihren Intehtionen z.T. deutlich entgegen.
Integration als Zukunftsaufgabe Die materiell verankerten Regelungen im AufenthG können als Grundstein wesentlich weiter reichender Integrationskonzepte gelten, wie sie die Süssmuth-Kommission skizziert hatte und wie sie erst in den Jahren nach Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes diskutiert werden. Seit März 2005 operiert auf Regierungsebene eine Interministerielle Arbeitsgruppe, deren Aufgabe es ist, »die integrationspolitischen Vorhaben des Bundes zu koordinieren, um eine konsistente Darstellung der Integrationspolitik der Bundesregierung zu erreichen, die Aktivitäten der Ressorts zu vernetzen und in einem Gesamtkonzept weiterzuentwickeln.«731 Die Arbeit am bundesweiten Integrationsprogramm beginnt bereits im Jahr 2003 (vgl. Hauschild 2004: 85). Ziel des Programms ist es, bereits bestehende Integrationsangebote von Bund, Ländern, Kommunen und freien Trägern zu erfassen, durch bessere Koordinierung dieser Angebote Synergien zu ermöglichen, weitere Angebote zur Deckung von Lücken zu entwickeln und gleichzeitig die Entstehung unnötiger Parallelstrukturen zu verhindern.732 Im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005 wird die »Integration von Ausländern und Aussiedlern in die deutsche Gesellschaft« folgerichtig als »Querschnittsaufgabe vieler Politikbereiche« bezeichnet.733 Neben dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das als zentrale Behörde die verschiedenen organisatorischen Prozesse der Integrationsförderung sowie Forschung und Statistik koordiniert, schafft die Bundesregierung im Jahr 2006 eine Reihe weitere Foren der Beratung für die Integrationspolitik: Öffentlichkeitswirksam werden der Integrationsgipfel und die Deutsche Islamkonferenz einberufen; zur organisatorisch-finanziellen Evaluierung der Integrationskurse wird eine Beratungsfirma beauftragt.734 Parallel ist seit Frühjahr 2005 eine beim
730 vgl. etwa den Offenen Brief von 21 Vertretern von Migrantenorganisationen an Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vom 27. März 2007 (http://www.tgd.de/index.php?name=News&file=article&sid=662; 28.01.2008) sowie die Beratungen im Deutschen Bundestag (z.B. BT-Pl.Pr’le. 16/94 vom 26. April 2007: 9553B, 9556C, 9560A; 16/103 vom 14. Juni 2007: 10600C). 731 »Integrationsaktivitäten des Bundes. Bestandsaufnahme im Rahmen der Interministeriellen Arbeitsgruppe Integration«, herausgegeben vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Stand: 4. August 2005 (www.bamf.de, 07.04.2009): 3. 732 vgl. Antwort des StS. Dr. August Hanning vom 6. Oktober 2006 auf eine Schriftliche Frage der Abgeordneten Sibylle Laurischk, BT-Drs. 16/2924 vom 13. Oktober 2006: 15. 733 »Gemeinsam für Deutschland – mit Mut und Menschlichkeit«, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005: 117, Zeilen 5732f. Dazu umfassend: Beauftragte (2005: 180ff.). 734 Im AufenthG ist festgeschrieben, Durchführung und Finanzierung der Integrationskurse umfassend zu evaluieren und dem Parlament zum 1. Juli 2007 einen Erfahrungsbericht vorzulegen (vgl. § 43 Abs. 5). Den Zuschlag erhält Anfang 2006 die Firma Rambøll Management; vgl. deren Bericht »Evaluation der Integrationskurse nach dem Zuwanderungsgesetz« vom Dezember 2006 (www.bamf.de; 29.06.2007)
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
339
BAMF eigens dafür geschaffene Bewertungskommission kontinuierlich mit deren inhaltlicher Evaluierung und Fortentwicklung beschäftigt (vgl. zu diesen Foren Kap. 3.4.3.5). Mitte Juli 2007 wird der im Rahmen des ersten Integrationsgipfels avisierte »Nationale Integrationsplan« (vgl. Bundesregierung 2007) fertiggestellt, dessen Einzelteile eine Reihe von plural aus Vertretern von Staat, Wirtschaft, Kirchen und Gesellschaft zusammengesetzten Arbeitsgruppen sowie Bund, Ländern und Kommunen innerhalb weniger Monate erarbeiten.735 Das Werk ist allerdings weder ein kohärentes und implementierbares Konzept zur Verbesserung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenlebens bzw. zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, noch ein programmatischer Ansatz der Bundes- und Landesregierungen zur planvollen Steuerung des Politikfeldes Integration. Vielmehr handelt es sich um eine Kompilation unterschiedlicher Positionen und Zielvorstellungen, die eine Reihe von Selbstverpflichtungen und Absichtserklärungen der beteiligten Akteure umfassen; konkrete Änderungen des Rechts sind darin nicht vorgesehen. Die (vorerst) geringe Reichweite des Integrationsplans verdeutlicht auch der ein Jahr später beim dritten Integrationsgipfel am 6. November 2008 vorgelegte Fortschrittsbericht (vgl. Bundesregierung 2008). Darin wird insbesondere in den Stellungnahmen der »Bürgergesellschaft« (gemeint sind Migrantenorganisationen, Wohlfahrtsverbände, Sozialpartner und Sportverbände) kritisch auf den Bedarf an einer führenden Rolle staatlicher Institutionen unter Nutzung ihrer finanziellen und legislativen Mittel hingewiesen, um Integrationspolitik wirkungsvoll weiterzuentwickeln – so etwa im Beitrag der Migrantenorganisationen (MSO): Alle Selbstverpflichtungen der MSO können ihre Wirksamkeit nur dann vollständig entfalten, wenn gleichzeitig die Selbstverpflichtungen der deutschen »Institutionellen Größen« im Nationalen Integrationsplan eine quantitative und schnelle Umsetzung erfahren. Diese Institutionen sind, im Gegensatz zu den MSO, mit enormen finanziellen und politischen Umsetzungsmöglichkeiten ausgestattet. Sie werden letztendlich die nötige Wende in der Integrationspolitik in Deutschland einleiten müssen. (ebd.: 214)
Welche tatsächlichen Resultate im Hinblick auf die materielle Integrationspolitik der Nationale Integrationsplan hervorbringt, wird erst in den kommenden Jahren feststellbar sein. Eine öffentlichkeitswirksame Form der Programmentwicklung scheint damit offenbar gefunden, auch wenn sich im korporatistischen Beratungsformat der Integrationsgipfel und Arbeitsgruppen zum Nationalen Integrationsplan ein Beteiligungsmangel der parlamentarischen Ebene abzeichnet.
3.4.3.5 Beratung, Verwaltung und legislative Ausgestaltung: »Ganzheitliche, transparente und flexible Konzeption« Im letzten Teil birgt der Kommissionsbericht dezidierte Vorschläge zur rechtlichen, organisatorischen und institutionellen Verfasstheit der deutschen Zuwanderungspolitik sowie zum migrationspolitischen Beratungssystem. So solle eine klare Zieldefinition von Zuwanderung vorgenommen und die mittelfristige strategische Zielplanung in einem jährlich zu erstellenden Zuwanderungsprogramm an demographischen und gesellschaftlichen Entwick735 vgl. etwa die gut dokumentierte Arbeit des beim BMAS angesiedelten Arbeitsgruppe 3 »Gute Bildung und Ausbildung sichern, Arbeitsmarktchancen erhöhen«, Abschlussbericht und Dokumentation des Beratungsprozesses, 2 Bände vom 23. März 2007, Berlin. Eine knappe Analyse zum Integrationsplans bietet Zinterer (2007).
340
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
lungen, der Lage der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes sowie am sonstigen Zuwanderungsgeschehen ausgerichtet werden (vgl. UK ZU 2001: 270f.). Das Zuwanderungsprogramm der Bundesregierung soll maßgeblich auf beratende Tätigkeiten eines dauerhaft einzurichtenden Zuwanderungsrates zurückgreifen, dem »Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Gruppierungen und Experten« angehören und dessen ausdrückliche Aufgabe es ist, zuwanderungs- und integrationsprogrammatische Empfehlungen abzugeben und »einen gesellschaftlichen Konsens über die Frage der weiteren Zuwanderung« vorzubereiten (ebd.: 272; vgl. dazu auch Kap. 3.2.2.1). Auf administrativer Ebene drängt sich für die Kommission eine zentrale Bundesoberbehörde zur gebündelten Bewältigung sämtlicher Verwaltungsaufgaben förmlich auf. Das vorgeschlagene Bundesamt für Zuwanderung und Integration (BZI) soll in Fragen der befristeten Zuwanderung in den Arbeitsmarkt eng mit der BA als arbeitsmarktpolitischer Leitbehörde kooperieren. Gleichzeitig sollen die Ämter der Ausländer- bzw. Aussiedlerbeauftragten als regierungsunabhängige und Ressort übergreifend wirkende Institutionen gestärkt sowie ergänzend ein Bundesforschungsinstitut für Zuwanderung und Integration eingerichtet werden. Letzteres soll zwar dem Bundesamt zugeordnet, jedoch unabhängig ausgestaltet sein (vgl. UK ZU 2001: 286). Herausragend ist daneben das Plädoyer zur »Schaffung eines Zuwanderungs- und Integrationsgesetzes des Bundes« (ebd.: 276), um den »Paradigmenwechsel« zu einer neuen Zuwanderungspolitik zu verankern und das Gros der in dem Bericht prospektierten Innovationen darin umzusetzen. Dabei geht die Kommission nicht von einer Gesamtlösung aus, vielmehr sei »das ordnungspolitisch orientierte Ausländergesetz neben einem Zuwanderungs- und Integrationsgesetz unverzichtbar« (ebd.: 275). Sie macht jedoch einige Vorschläge zur Rechtsvereinfachung, etwa durch die Reduzierung der zahlreichen Aufenthaltstitel des AuslG. Mit der Empfehlung einer gänzlich neuen Rechtsgrundlage rennt die Kommission beim BMI offene Türen ein, dessen Beamten bereits länger ein »großer Wurf« vorschwebt (vgl. Kap. 3.2.1.1). Mit der vollständigen Ablösung des Ausländer- zu Gunsten eines Aufenthaltsgesetzes gehen Innenminister Schily und die Regierungskoalition sogar über die Kommissionsvorschläge hinaus. Die Reduzierung der Aufenthaltstitel auf nur zwei korrespondiert im Grunde mit den Ideen der Kommission. Die (stets befristete) Aufenthaltserlaubnis und die (grundsätzlich unbeschränkte) Niederlassungserlaubnis sind unmittelbar am jeweiligen Aufenthaltszweck orientiert, wobei letztere im Vergleich zur unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Aufenthaltsberechtigung allgemein an höhere Voraussetzungen gebunden ist. Zur Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 9 AufenthG werden nämlich die Voraussetzungen zur Erteilung der verschiedenen unbefristeten Aufenthaltstitel aus dem AuslG zusammengefasst und um zusätzliche Anforderungen an Sprach- und Landeskenntnis erweitert (vgl. Schneider & Tuchan 2005: 56; Gutmann 2005: 46). In institutionell-beratender Hinsicht wird gemäß den Vorstellungen der Kommission ein weisungsunabhängiger Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat) zur Begutachtung des Migrationsgeschehens ebenso in den Gesetzentwurf aufgenommen wie ein Bundesinstitut für Bevölkerungs- und Migrationsforschung als unabhängige wissenschaftliche Forschungseinrichtung. Es soll aus dem bereits bestehenden Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung hervorgehen.736 Der Zuwanderungsrat soll laut Entwurf keinerlei Weisungen unterworfen sein und mittels eines jeweils zum 15. Juni zu 736
vgl. Artikel 1, §§ 75 Abs. 2, 76 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 29.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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erstattenden Jahresgutachtens die Aufnahme- und Integrationskapazitäten sowie die Entwicklung der Wanderungsbewegungen begutachten. Er soll aus sieben Mitgliedern bestehen, die vom BMI für die Dauer von je vier Jahren ernannt werden und die über besondere Kenntnisse im Bereich der Bevölkerungswissenschaft, der Arbeitsmarktpolitik, der Migration oder der Integration verfügen müssen. Auch bezüglich der Schaffung einer Migrationsbehörde des Bundes mit gesammelter Zuständigkeit bei der Zuwanderungssteuerung, Konzeptentwicklung im Bereich Integration und weiteren Aufgaben folgen Innenminister Schily und die rot-grüne Regierungskoalition weitgehend den Blaupausen der Kommission. Das alte Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) in Nürnberg soll unter dem neuen Signet Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zu einer »zentralen migrationspolitischen Steuerungsstelle mit umfassenden Kompetenzen ausgebaut« werden.737
Ungenehme Beratung, dominante Politik – Der Zuwanderungsrat als missglückte Institutionalisierung von Migrationspolitikberatung Die Pläne der Koalition müssen jedoch im Laufe des doppelten Gesetzgebungsverfahrens besonders mit Blick auf das Beratungswesen Federn lassen, nicht zuletzt weil der geplante Zuwanderungsrat eng mit dem Auswahlverfahren nach § 20 assoziiert wird, das die Union kategorisch ablehnt. Im Vorgriff auf das Gesetz ruft Innenminister Schily bereits am 9. Juli 2002 das neue Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ins Leben738 und benennt am 16. September 2002 vorab vier Mitglieder des Zuwanderungsrates: Rita Süssmuth, den Wirtschaftswissenschaftler Gert G. Wagner, den Migrationshistoriker Klaus J. Bade sowie den Geschäftsführer des DStGB Gerd Landsberg.739 Trotz der zwischenzeitlich festgestellten Nichtigkeit des Zuwanderungsgesetzes durch das BVerfG hält Schily scheinbar an der Idee einer permanenten unabhängigen Beratungskapazität fest und setzt den Zuwanderungsrat mit den im Gesetzentwurf prospektierten Aufgaben im April 2003 offiziell per Organisationserlass ein (vgl. Anhang 10); am 26. Mai nimmt der Rat seine Arbeit auf.740 Die Kosten des Rates sollen zunächst aus dem Titel für »Sachverständige« des Haushaltes des Bundesamtes gedeckt und später gesondert etatisiert werden. Die Ratsmitglieder und die Vorsitzende erhalten neben ihren Aufwendungen und ggf. nötigen Bürokapazitäten eine pauschale Entschädigung, »die sich in ihrer Höhe an den Entschädigungen für Mitglieder vergleichbarer Gremien orientiert«.741 Mitglieder Nummer 737
Begründung zu Art. 1, § 75 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 95. vgl. PM des BMI vom 9. Juli 2002 (http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/artikel/12/88012/multi.htm, 19.12.2006). 739 vgl. FR vom 17. September 2002: 1; taz vom 17. September 2002: 1. 740 vgl. »Erlass über die Errichtung eines Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration« vom 2. April 2003 (GZ: Z 2 – M 125 000/7), GMBl Nr. 20 vom 15. Mai 2003: 406; »Neuer Rat soll Zuwanderungsdebatte versachlichen«, SZ vom 27. Mai 2003: 7. 741 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion der CDU/CSU »Finanzielle und rechtliche Folgen aus der Verfassungswidrigkeit des Zuwanderungsgesetzes«, BT-Drs. 15/1045 vom 26. Mai 2003: 8f. Auf Nachfrage konkretisiert die Bundesregierung diese Aufwandsentschädigung auf 32.000 Euro für die Vorsitzende und 28.000 Euro für die Ratsmitglieder, wobei die entsprechenden Summen dreier etablierter Sachverständigenräte als Vergleichsmaßstab angegeben werden (vgl. Antwort des PStS. Fritz Rudolf Körper vom 26. Juni 2003 auf eine Schriftliche Frage des Abgeordneten Wolfgang Zeitlmann, BT-Drs. 15/1279 vom 27. Juni 2003: 10). Im Einzelplan des BMI für 2004 werden 545.000 Euro für das Jahresgutachten des Zuwanderungsrates vorgesehen, 738
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
fünf und sechs werden Heinz Putzhammer für die Gewerkschaften und Christoph Kannengießer für die Arbeitgeber. Der siebte Sitz in dem Gremium bleibt frei und soll nachträglich durch einen Vertreter der IMK besetzt werden (vgl. Haberland 2004: 379). Mit dem Sachverständigenrat findet die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« personell ein Kontinuum, denn vier der sechs Mitglieder des Sachverständigenrates hatten bereits dem temporären Regierungsgremium angehört – der Zuwanderungsrat als eine Art Süssmuth-Kommission en miniature. Der Rat beginnt mit Hochdruck an den Arbeiten zum ersten Jahresgutachten, das laut § 4 des Einrichtungserlasses gut ein Jahr später, am 15. Juni 2004, vorliegen soll. Ähnlich wie bereits die Zuwanderungskommission bemüht sich auch der Zuwanderungsrat um eine breite Berücksichtigung wissenschaftlicher und praxisrelevanter Erkenntnisse. Er holt 22 Einzelgutachten ein und hört insgesamt 121 Persönlichkeiten an. Die Zusammensetzung der angehörten Persönlichkeiten nach ihrer institutionellen Herkunft ähnelt deutlich der Praxis der Süssmuth-Kommission (vgl. Abb. 8).742 An der Erstellung des Jahresgutachtens sind neben den Ratsmitglieders zehn wissenschaftliche Mitarbeiter beteiligt; im Sekretariat der Geschäftsstelle arbeiten weitere sieben Personen (vgl. Zuwanderungsrat 2004: 6). Die zähen Verhandlungen um das ZuwG auf der Ebene des Vermittlungsausschusses (vgl. Kap. 3.4.2.2) befördern indes den Prozess der graduellen Delegitimierung und Demissionierung des Rates. Um die politische Debatte während der Schlussverhandlungen des Gesetzes nicht zusätzlich anzuheizen, wird die Vorstellung des Berichts durch das BMI auf die Zeit nach der parlamentarischen Sommerpause verschoben. Mit dem letztendlichen Verzicht auf die Zuwanderung im Auswahlverfahren im Kompromiss des Vermittlungsausschusses werden die rechtlichen Grundlagen für den Rat und für das neue Bundesinstitut für Bevölkerungs- und Migrationsforschung endgültig aus dem AufenthG gestrichen.743 Besonders nach der Vorlage des 480-seitigen Jahresgutachtens »Migration und Integration – Erfahrungen nutzen, Neues wagen« vom 15. Oktober (vgl. Haberland 2004; Zuwanderungsrat 2004) wächst sich das Störfeuer gegen das Sachverständigengremium zu einer regelrechten Kampagne aus. Die Empfehlungen bauen quasi auf den Ratschlägen der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« auf, insistieren vorsichtig auf sektorspezifischem Zuwanderungsbedarf trotz hoher Arbeitslosigkeit und reklamieren die Notwendigkeit, innerhalb eines transparenten Systems Instrumente zur Auswahl von Zuwanderern zu schaffen. Auch wendet sich der Rat gegen die gerade bei den politischen Parteien »verbreitete Vorstellung von einem bestimmbaren Grenzwert, bis zu dem die Aufnahme von Zuwanderern problemfrei erfolgen könne« (Zuwanderungsrat 2004: 23). Der Schwerpunkt aber liegt auf der Notwendigkeit einer aktiven und nachholenden Integrationspolitik, wobei der Rat einen Mittelweg zwi-
im Regierungsentwurf 2005 ein Ansatz von 1,125 Mio. Euro ausgewiesen. Die de facto-Kosten für zuarbeitendes Personal und Infrastruktur beziffert die Bundesregierung später auf rund 521.000 Euro für 2004 bzw. ca. 291.000 Euro für 2003 (vgl. Antwort des StS. Lutz Diwell vom 5. November 2004 auf die Schriftliche Frage des Abgeordneten Albrecht Feibel, BT-Drs. 15/4211 vom 12. November 2004: 9). 742 Die Expertisen werden größtenteils mit dem Jahresgutachten auf einer provisorisch eingerichteten Internetseite für den Zuwanderungsrat innerhalb des Webangebotes des BAMF veröffentlicht (www.zuwanderungsrat.de, 27.10.2004). Nach Auflösung des Rates bleiben sie auf den Seiten des BAMF verfügbar (vgl. www.bamf.de; 11.07.2007). 743 vgl. jedoch die ursprünglich weniger weit gehenden Forderungen in den Änderungsanträgen Nrn. 67ff. der CDU/CSU, BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 29f.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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schen den im parteipolitischen Raum vertretenen assimilationistischen bzw. eher multikulturalistischen Sichtweisen wählt (vgl. Boswell 2004). Nichtsdestotrotz wird in der politisch-medialen Debatte nahezu ausschließlich auf das zum Ausgleich von Engpässen auf dem Arbeitsmarkt vorgeschlagene Kontingent von 25.000 Zuwanderern für 2005 (vgl. Zuwanderungsrat 2004: 225f.) Bezug genommen, das Christoph Kannengießer im Rahmen der Berichts-Pressekonferenz auch explizit thematisiert.744 Innenminister Schily reagiert äußerst zurückhaltend: die »interessante Idee« einer Kontingentierung müsse »sehr, sehr sorgfältig« geprüft werden; der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Dieter Wiefelspütz wird hingegen deutlicher und kündigt an, die Koalition werde die Empfehlung des Zuwanderungsrates nicht aufgreifen, da weitere Zuwanderung in den Arbeitsmarkt »zu großem inneren Unfrieden in Deutschland führen« würde.745 Bündnis 90/Die Grünen hingegen warnen vor einer vorschnellen Zurückweisung der Konzepte.746 Vertreter der CDU/CSU-Opposition appellieren ebenso wie Wiefelspütz an Zuwanderungsängste und bezeichnen das Gutachten als »politisch weitgehend wertlos«. Es enthalte »keine Lösungsansätze« und sei »von dem Willen durchzogen, die Zuwanderung nach Deutschland massiv auszuweiten.«747 Wenngleich die wissenschaftlich gestützten Ratsempfehlungen nicht im Verdacht stehen, parteipolitische Gefälligkeiten zu produzieren oder Unabhängigkeit vermissen zu lassen, scheint vielmehr die gewählte Art ihrer Darstellung unter strategischen Erwägungen politisch unklug zu sein. Dies geht nicht zuletzt auch aus den Analysen von Beobachtern hervor (vgl. z.B. Haberland 2004: 380). Die Strategie des Rates, noch vor In-Kraft-Treten des ZuwG ein erneutes Aufschnüren des darin verankerten »langwierig und mühsam errungenen parteiübergreifenden Konsens« zu fordern, bezeichnet Dagmar Feldgen (2006: 169f.) als »untauglichen und kontraproduktiven Versuch«, die Debatte über erleichterte Möglichkeiten der Arbeitsmigration wieder aufzunehmen. Die offensive Positionierung des Rates kommt also zur Unzeit und birgt Gefahr, das parteipolitische Equilibrium im Policyspezifischen Diskurs zu stören. Im Hinblick auf sein Fortbestehen wirkt sie sich indes fatal aus. Denn der Wegfall einer gesetzlichen Grundlage wird in der Darstellung der CDU/CSU-Opposition mit dem Entzug praktisch jeglicher politischen Legitimität des Sachverständigenrates gleichgesetzt. Sie mündet in der Aussage: »Für ein Gremium ohne gesetzliche Grundlage sollte kein Geld ausgegeben werden. Dies gilt erst recht in Zeiten knapper Kassen.«748 Trotz aller Kritik hätte die Bundesregierung das Gremium auf der Grundlage des ursprünglichen Einrichtungserlasses als Beirat natürlich bestehen lassen können. Doch der 744 Die FAZ (vom 20. Oktober 2004: 2, 12) stellt die Berichterstattung über das Gutachten unter die Titel »›Arbeitserlaubnis für 25 000 Ausländer nötig‹« bzw. »Einwanderung von 25 000 Fachkräften«; die SZ (vom 20. Oktober 2004: 6) überschreibt ihren Artikel mit »Deutschland soll 25 000 Ausländer anwerben«. Innenminister Schily räumt bei der Präsentation des Berichtes sogar offen ein, die sonstigen Ausführungen und Vorschläge seien weitgehend ungelesen geblieben (vgl. FAZ vom 19. November 2004: 14). 745 zit.n. taz vom 20. Oktober 2004: 6 sowie vom 21. Oktober 2004: 1. 746 vgl. SZ vom 21. Oktober 2004: 6. Auch die FDP begrüßt die Vorschläge; vgl. PM des innenpolitischen Sprechers der FDP-Fraktion Max Stadler vom 19. Oktober 2004 (www.fdp-bundestag.de, 22.10.2004). 747 »Süssmuth-Gutachten enthält alte Parolen und keine Konzepte für Integration«, PM der MdB Reinhard Grindel und Hartmut Koschyk vom 19. Oktober 2004 (www.cducsu.de, 31.10.2004); vgl. auch »Vorschläge des Zuwanderungsrats grenzen an Zynismus«, PM des Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe MdB Michael Glos vom 20. Oktober 2004 (www.cducsu.de, 31.10.2004). 748 »Zuwanderungsrat abschaffen«, PM des MdB Wolfgang Zeitlmann vom 19. Oktober 2004 (www.cducsu.de, 31.10.2004).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Rückhalt – in Schilys Ministerium ohnehin nur schwach ausgeprägt – schwindet darüber weiter. Der im Rahmen der Berichtsübergabe geäußerte Wunsch der Ratsvorsitzenden Rita Süssmuth, ähnlich wie drei Jahre zuvor die Inhalte des Gutachtens im Innenausschuss des Deutschen Bundestages vorzustellen und zu diskutieren, wird seitens des BMI »sanft aber entschieden verhindert« (Interview Sonntag-Wolgast: 94).749 Doch auch für das von Bündnis 90/Die Grünen dominierte Amt der Bundesintegrationsbeauftragten ist der Zuwanderungsrat Konkurrenz: Seit dem Jahr 2000 hatte es ihr oblegen, neben dem alle zwei Jahre erscheinenden »Lagebericht« (vgl. z.B. Beauftragte 2002, 2005) auch jährlich einen im Auftrag der Bundesregierung zu erstellenden »Migrationsbericht« vorzulegen (vgl. Beauftragte 2001, 2003). Diese Kompetenz wird ihr zunächst durch das BMI zu Gunsten des Sachverständigenrates entzogen, der 2004 erstmals eine überarbeitete Version verantwortet (Zuwanderungsrat 2004a). Als Ergebnis des Vermittlungsverfahrens wird jedoch eine grundsätzlich mit dem Migrationsbericht vergleichbare Beratungsleistung vielmehr dem BAMF zugeordnet. In Anbetracht dieser Aufgabenkonzentrierung kann es für die Grünen kaum mehr eine Motivation geben, neben dem Arbeitsstab der Integrationsbeauftragten und dem Bundesamt noch eine dritte Beratungskapazität für das Berichtswesen in Sachen Migrationspolitik zu dulden. Auch sie versagen dem Zuwanderungsrat daher die Zustimmung und besiegeln im Rahmen der Beratungen zum Bundeshaushalt 2005 am 10./11. November 2004 gemeinsam mit der SPD durch Streichung der Mittel sein Ende.750 Die offizielle Begründung der Koalition lautet: »Ein drittes Gremium wird nicht gebraucht«, es gebe schon genug Beratung zum Thema Zuwanderung.751 Die Vorsitzende Süssmuth kündigt zwar an, man sei bereit »ehrenamtlich weiterzuarbeiten«,752 jedoch fehlt dem Rat für ein wirksames Tätigwerden die Basis. Das »offizielle« Ende lässt indes noch einige Wochen auf sich warten: Innenminister Schily besorgt es still und leise, indem er kurz vor Weihnachten 2004 einen Aufhebungserlass unterschreibt. Darin wird die Existenz des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration zum 1. Januar 2005 beendet.753 Somit währt die erste unabhängige Beratungskapazität für migrationspolitische Fragen in Deutschland nicht einmal zwei Jahre – zu bedrohlich wirkt offenbar ihre Arbeit auf das subtile Gefüge des Regierungssystems: Weder dem Ministerium noch den Parteien kommt der Rat gelegen, weil er sie scheinbar in ihrer (Mit)-Entscheidungsmacht einschränkt. In den Worten der damaligen Vorsitzenden des Innenausschusses: »Die haben’s fallen gelassen wie ’ne heiße Kartoffel!« (Interview Sonntag-Wolgast: 96)
Zentralistische Steuerung Ganz im Zentrum der neuen Zuwanderungs- und Integrationspolitik sowie quasi sämtlicher assoziierter Beratungs- und Vorbereitungsprozesse steht nach dem Beschluss des ZuwG 749 Die Ausschussmitglieder der Regierungsfraktionen stehen dem Vorhaben hingegen durchaus offen gegenüber; der Vorgang bedeutet also eine weitreichende, formale Satzungsvorrechte überschreitende Ausnutzung gubernativer Agenda-Setzer-Macht im Hinblick auf den Ablauf parlamentarischer Ausschussarbeit (vgl. dazu Döring, H. 2005: 140f.). 750 vgl. MuB 9/2004: 3. 751 MdB Klaus Hagemann (SPD), zit.n. FAZ vom 19. November 2004: 14. 752 zit.n. MuB 9/2004: 3. 753 Veröffentlicht erst vier Monate später; vgl. »Erlass zur Auflösung des Sachverständigenrates für Zuwanderung und Integration« vom 22. Dezember 2004 (GZ: Z 2 – M 125 000/7), GMBl Nr. 34 vom 27. April 2005: 730.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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nunmehr das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Neben der Durchführung der Asylverfahren und der Verwaltung des Ausländerzentralregisters ist es laut § 75 des Aufenthaltsgesetzes u.a. für folgende Aufgaben verantwortlich: Koordinierung zentraler Fragen der Arbeitsmigration, Konzeptualisierung und Koordination der Integrationskurse, fachliche Zuarbeit bei der Integrationsförderung, wissenschaftliche Forschung über Migrationsfragen und zur Zuwanderungssteuerung,754 Maßnahmen zur Förderung der freiwilligen Rückkehr sowie Aufnahme und Verteilung jüdischer Zuwanderer (vgl. Kap. 3.4.3.3). Damit entsteht auf Bundesebene eine quasi allzuständige Oberbehörde, die mit zahlreichen operativen und konsultativen Kompetenzen aus dem gesamten Spektrum der Migrationspolitik ausgestattet ist – und die der direkten Weisungsbefugnis des Bundesinnenministeriums untersteht. Mit Blick auf den Output dieser Konstellation kommt Günter Renner (2005: 10) zu einer äußerst negativen Einschätzung: Der Gesetzgeber verzichtet […] weiterhin auf eine von der Verwaltung und von den Parteien unabhängige Bewertungs- und Beratungsinstanz und wird daher (mit den aus der Vergangenheit bekannten wenig befriedigenden Ergebnissen) auf politische Eigendiagnosen angewiesen bleiben. Eine in die weisungsabhängige Verwaltung integrierte Begleitforschung […] vermag einen vollwertigen Ersatz hierfür nicht zu bieten. (vgl. auch das nahezu identische Urteil bei Bade 2007: 37)
Nach der Bundestagswahl 2005 baut die Große Koalition die behördliche Monopolstellung von BAMF und BMI aus. Im Koalitionsvertrag wird festgelegt, die Integrationsmaßnahmen beim BAMF weiter zu bündeln.755 Mit Blick auf die Gesetzesfolgenabschätzung wird eine Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes anhand der Anwendungspraxis vorgesehen.756 Diese oben bereits mehrfach zitierte Auswertung wird scheinbar einer ergebnisoffenen, unter Beteiligung aller relevanten Akteure erarbeiteten und somit objektiven Evaluierung gerecht. Ausgangspunkt ist ein umfassender, so genannter Praktiker-Erfahrungsaustausch: Am 30. und 31. März 2006 versammeln sich im BMI-eigenen Bundeshaus – dem Ort, an dem auch die Süssmuth-Kommission tagte (vgl. Fn. 369) – mehr als 120 Experten aus Regierung, Bundestag, Länderministerien, Verbänden, kommunalen Ausländerbehörden, Nichtregierungsorganisationen, Arbeitsverwaltung und Justiz zu einem rund 20-stündigen Kolloquium, um sämtliche Vorschriften des ZuwG und ihre Praxistauglichkeit zu bewerten. Abgeordnete des Bundestages beurteilen den Expertenaustausch im Vergleich zu parlamentarischen Ausschuss-Hearings sehr positiv.757 754 Hier kann nur bedingt von der Möglichkeit zu unabhängiger Migrationsforschung ausgegangen werden. Hailbronner setzt sich in seinem Kommentar ausführlich mit dieser gesetzlichen Aufgabe auseinander und kommt zu dem Schluss, das BAMF fungiere hier als Einrichtung der »Ressortforschung«. Die Forschungsfreiheit sei von vornherein dadurch beschränkt, dass bestimmte Forschungsaufgaben zugewiesen werden könnten und zudem von »Begleitforschung« zum allgemeinen Forschungsgegenstand der Migration die Rede sei (vgl. Hailbronner, Kommentar zum Ausländerrecht, s. Fn. 635, A 1, § 75, Rn’n 10f.). 755 Mit dem »EU-Richtlinienumsetzungsgesetz« (s. Fn. 624) werden dem BAMF weitere Aufgaben zugewiesen, u.a. bei der Behördenkoordinierung sowie bei der Zertifizierung von Forschungseinrichtungen (vgl. § 75 AufenthG sowie die dazugehörige Begründung in BT-Drs. 16/5965: 203; Evaluierungsbericht, s. Fn. 671: 227f.). 756 vgl. Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 (s. Fn. 733): 117f., Zeilen 5733ff., 5760. Allgemein zur Evaluation als Gesetzgebungskontrolle vgl. König, K. (2002: 429ff.). 757 Z.B. der Abgeordnete Michael Bürsch: »Es ist ausgesprochen informativ, von den Praktikern zu hören, wie dieses Gesetz wirkt. […] Es ist auch deutlich ein Unterschied zu den Anhörungen, die wir im Bundestag zum Teil haben. Praktiker sprechen eben doch anders als Professoren und wissen mehr, wie Gesetze wirken.« (Wortprotokoll des Praktiker-Erfahrungsaustausches im Rahmen der Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes am 30. und 31. März 2006 im Bundesministerium des Innern in Berlin, Anlagenband I zum Bericht zur Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes: 349).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Abbildung 9:
Teilnehmende Akteure beim »Praktiker-Erfahrungsaustausch«
Sonstige Justiz 3%
Parlament
6%
Ausländerbehörden 6%
Bundesministerien
20% 35% 7% 20%
3%
NGO's, Kirchen Landesministerien
Verbände
Analysiert man den Kreis der Experten näher, so fällt jedoch auf, dass unter den Praktikern ein deutliches Übergewicht zu Gunsten der »staatlichen Anwender« des Aufenthaltsrechts besteht: Mehr als 60 Prozent der Teilnehmer gehören entweder einer Bundes- bzw. Landesministerialbürokratie oder einer Ausländerbehörde an. Ein weiteres Fünftel sind Abgeordnete des Deutschen Bundestages bzw. Fraktionsmitarbeiter, nur gut zehn Prozent entstammen nichtstaatlichen Stellen wie Kirchen, Verbänden oder NGOs (vgl. Abb. 9). Außerdem sind die Wortbeiträge und Diskussionen des Praktiker-Erfahrungsaustausches nicht die einzige Grundlage der Auswertung. Zusätzlich fließen 67 schriftliche Dokumente in die Gesetzesevaluation ein.758 Während der Praktiker-Erfahrungsaustausch trotz dieser Einschränkungen als ein relativ ergebnisoffenes Deliberationsforum von Experten mit z.T. kontroversem Meinungsaustausch interpretiert werden kann, obliegt die Produktion des zu veröffentlichenden Berichtes allein dem BMI. Dies schließt einen neutralen Evaluationsbefund quasi von vorne herein aus. Im Vergleich zur Berichtsarbeit einer unabhängigen Kommission oder eines Sachverständigenrates bedeutet dieses Verfahren einen Rückschritt. Denn ein offenes, plurales Beratungsverfahren bei der Auswertung wird lediglich suggeriert. Tatsächlich sichern die Dominanz ministerieller und behördlicher Stellungnahmen bei dem Evaluierungssymposion sowie die Auswertung der Veranstaltung durch Beamte des BMI die staatliche Interpretationshoheit. Dies wird in einer Auskunft der Bundesregierung indirekt auch bestätigt: Bei der Erarbeitung des Evaluierungsberichtes seien alle Stellungnahmen berücksichtigt worden, doch könne sich das BMI »naturgemäß nicht allen Auffassungen anschließen«.759 758 vgl. Anlagenband I zum Evaluierungsbericht, s. Fn. 757: 14-308, sowie Stellungnahmen der Innenministerien der Länder, von Ressorts sowie Verbänden und Kirchen im Rahmen der Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes, Anlagenband II zum Bericht zur Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes: 13-554. 759 Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion die Linke »Evaluierungsbericht zum Zuwanderungsgesetz und die Berücksichtigung von Forderungen der Kirchen, von Verbänden und anderer Nichtregierungsorganisationen«, BT-Drs. 16/3747 vom 6. Dezember 2006: 2.
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
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Dennis Cernota gelangt in einer Analyse des Evaluierungsberichtes sogar zu dem Schluss, »dass über das eigentliche Evaluationsziel hinausgehend, der Bericht auch genutzt wurde, um Positionen zu vertreten, zu deren Erörterung der Praxiserfahrungsaustausch keinen oder nur geringen Anlass gegeben hat« (Cernota 2006: 392). Einige Darstellungen seien damit geeignet, »die gesamte Arbeit in ein falsches Licht zu rücken« (ebd.). Zugespitzt formuliert: Welche Schlüsse aus der Evaluierung des Zuwanderungsgesetzes auf politischer Ebene mit Blick auf eine Novelle zu ziehen sind, bestimmt letztlich allein die Redaktion des Berichtes – die Projektgruppe Zuwanderung in der Abteilung M des BMI. In Personalunion ist sie auch Autorin des Referentenentwurfes des EU-Richtlinienumsetzungsgesetzes (s. Fn. 624) und kann den teilweise parallel fertig gestellten Evaluierungsbericht daher umfassend zu dessen Legitimierung nutzen.760 Der Evaluierungsprozess zum Zuwanderungsgesetz und der Prüfbericht »Illegalität« bieten somit Anschauungsmaterial für eine zentrale Prämisse der argumentativen Policy-Analyse, nach der stets die »politischen« bzw. interessegeleiteten Absichten evaluierender Akteure zu hinterfragen sind: »Astute players of the evaluation game will […] attempt to produce facts and images that suit their aims.« (Bovens, T’Hart & Kuipers 2006: 323) Dies stützt die These, nach der Migrationspolitik zunehmend zentralistisch beraten, gesteuert und (vor)entschieden wird und weniger im Einflussbereich solcher Bewertungsund Beratungsinstanzen liegt, die einen von der Verwaltung und von den Parteien unabhängigen, öffentlichkeitsorientierten Diskurs führen bzw. ermöglichen könnten. Auch die medienwirksame Einrichtung von Meta-Institutionen wie Integrationsgipfel und Deutsche Islamkonferenz durch die Bundesregierung lassen sich in diesem Zusammenhang interpretieren. Denn die Zielsetzung dieser Foren deutet mehr auf abstrakte Vereinbarungen zum gesellschaftlichen Zusammenleben im Sinne symbolischer Politik, denn auf Beratungs- und Vorentscheidungsprozesse im Bereich konkreter Integrationspolitik (vgl. Schneider 2006). Dietrich Thränhardt kommt zu dem Schluss, mit dem Integrationsgipfel und der Islamkonferenz sei lediglich eine erste symbolische Einbeziehung von Migranten in die bundesdeutsche Verbändelandschaft zu konstatieren, materiell bleiben die Einflussmöglichkeiten aber gering. Im Gegenteil: Bei der Entscheidungsfindung ist ein neuer zentralistischer Etatismus zu erkennen, der in einem merkwürdigen Kontrast zum deutschen Föderalismus und Pluralismus steht. (Thränhardt 2009: 166f.)
Korporatistische Beratung in spezialisierten Gremien Innerhalb des weitgehend zentralisierten institutionellen Beratungsregimes der Migrationspolitik ist jedoch eine Tendenz zur neokorporatistisch-pluralen Einbindung der jeweils betroffenen Akteure bei Spezialfragen zu erkennen. Einerseits erinnert diese Beteiligung an die Modi zur Ausgestaltung der Integrationspolitik für ausländische Arbeitnehmer und ihre Familien in den 1970er und 1980er Jahren, andererseits weist sie deutliche Züge eines ministeriellen »Beirätewesens« auf, ist dabei jedoch nicht direkt bei einem Bundesressort, sondern einer dem BMI zugeordneten Oberbehörde angesiedelt. Anders als etwa bei der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« wird hier – weitgehend außerhalb medialer 760 Der Nachweis kann hier aus Kapazitätsgründen im Einzelnen nicht geführt werden. Die Analyse der rund 1.000 Seiten Stellungnahmen im Rahmen des Praktiker-Erfahrungsaustausches und der durch das BMI gezogenen Schlüsse im 250-seitigen Evaluierungsbericht böte Material für eine eigene umfangreiche Studie.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
und öffentlicher Wahrnehmung – ein primär interessenpolitisch motiviertes Beteiligungsund Beratungsmuster kultiviert (Beiräte als »Interessenparlament«; vgl. Dietzel 1978: 123ff.; 170ff.). Beirat »Jüdische Zuwanderung« Dem Gremium unter Vorsitz des Bundesinnenministers gehören Vertreter des BMI, des AA, des BAMF, aller Bundesländer, des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie der Union der Progressiven Juden an. Der Beirat soll die Aufnahme von Juden aus der Ex-Sowjetunion steuern und evaluieren und zwei bis drei Mal pro Jahr tagen. Er ist berechtigt, allen am Aufnahmeverfahren beteiligten Stellen fachlich-beratende Empfehlungen zu geben und unterliegt dabei keiner gesetzlichen Rechenschafts- oder Berichtspflicht. Laut Geschäftsordnung sind Meinungsbildung und Beschlussfindung des Gremiums vertraulich.761 Das exekutive Übergewicht gegenüber den Vertretern des Judentums ist immens. Vertreter anderer gesellschaftlicher Gruppen und Verbände sowie Wissenschaftler sind nicht vertreten. In der Beratung geht es somit nicht um reflexive und zukunftsgerichtete Ideen zur Politikgestaltung, sondern um anwendungsorientierte Konzepte für einen Verfahrensablauf. Letztlich kann das Gremium damit keine unabhängige Politikberatungsfunktion ausüben, sondern lediglich die Feinsteuerung politischer Grundsatzentscheidungen übernehmen. So besteht die erste konkrete Aufgabenstellung des Beirates in der Ausgestaltung der durch das BMI und die Landesinnenminister beschlossenen, weder durch Bundes- oder Landtage bestätigten Einwanderungsbeschränkungen.762 Später werden im Haushalt des BAMF erhebliche Mittel für Sachverständige bereitgestellt, die sich auf »Kosten im Zusammenhang mit der Neuregelung des Aufnahmeverfahrens für jüdische Zuwanderer« beziehen.763 Beirat für Spätaussiedlerfragen Der vormals im Bundesvertriebenengesetz verankerte Beirat für Vertriebenen-, Flüchtlings- und Spätaussiedlerfragen (§§ 22-24 BVFG a.F.) soll zunächst laut Regierungsentwurf abgeschafft werden und der Zuwanderungsrat als übergeordnetes Beratungsgremium dessen Aufgaben übernehmen.764 Im Vermittlungsverfahren setzt sich aber die Union auf der Grundlage ihrer Änderungsanträge insoweit durch, als dass er unter dem Namen »Beirat für Spätaussiedlerfragen« erhalten bleibt, obwohl die entsprechenden Paragrafen des Bundesvertriebenengesetzes entfallen.765 Bundesinnenminister Schily installiert ihn im Mai 2005 per Ministererlass, seine konstituierende Sitzung findet allerdings erst im April 2006 statt.766 Im Gegensatz zu seinem rund 50 Köpfe 761
vgl. IMK-Umlaufbeschluss vom 18. November 2005 (s. Fn. 708): 5; BT-Drs. 16/1318 (s. Fn. 711): 6f. vgl. dazu Kap. 3.4.3.3, insb. Fn. 711. Bestünde das Ziel in einem möglichst unabhängigen Beratungsforum über Gegenwart und Zukunft der jüdischen Zuwanderung nach Deutschland, wäre insbesondere die Berücksichtigung von Wissenschaftlern, Persönlichkeiten des Judentums und evtl. sonstiger Religionsgemeinschaften in Deutschland sowie ggf. Vertretern aus Israel und der GUS angezeigt. 763 Im Bundeshaushaltsplan 2008 sind dies 794.000 Euro, im Bundeshaushaltsplan 2009 noch 136.000 Euro (jeweils im Titel F 526 02 –219). 764 vgl. Begründung zu Art. 6, Nr. 5 ZuwG-E, BT-Drs. 15/420 (s. Fn. 580): 119. 765 vgl. »Marschewski: Beirat für Spätaussiedlerfragen ist wichtiger Beitrag für erfolgreiche Integration«, PM der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom 15. Juni 2005 (www.cducsu.de, 22.06.2005); Änderungsantrag Nr. 122 zu Artikel 6, Nr. 5 ZuwG (§§ 22-24 BVFG), BT-Drs. 15/955 (s. Fn. 583): 47. 766 vgl. Erlass über die Errichtung eines Beirates für Spätaussiedlerfragen vom 3. Mai 2005 (GZ: M II 1 – 9302013/0), GMBl Nr. 37 vom 10. Juni 2005: 782f.; Info Dienst. Informationen des Beauftragten der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Nr. 50/2006: 7. 762
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umfassenden Vorgänger besteht der Beirat aus lediglich 16 Mitgliedern unterschiedlicher Provenienz767 und soll »die Bundesregierung sachverständig in Fragen der Aufnahme und Integration von Spätaussiedlern« beraten, »mit Ausnahme wissenschaftlicher Fragestellungen« – diese sind Sache der mit Begleitforschung betrauten Abteilung des BAMF (s.o.). Ferner heißt es lapidar: »Er soll zu allgemeinen Regelungen und Maßnahmen gehört werden.« Die Modalitäten seiner Arbeit in punkto Rechtsstellung der Mitglieder, Weisungsunabhängigkeit, Geschäftsordnung und Verschwiegenheitspflicht ähneln deutlich denen des 2003 eingerichteten und 2004 wieder aufgelösten Zuwanderungsrates (vgl. dazu Anhang 10). Der Beirat tagt jedoch nur selten, wirkt nicht öffentlich, verfügt über kein Arbeitsprogramm und es werden keine Aufwandsentschädigungen gezahlt.768 Dies verdeutlicht seinen Charakter als »meso-korporatistisches« Gremium. Bewertungskommission Integrationskurse Trotz seiner eigenen wissenschaftlichen Kapazitäten bedient sich das BAMF auch externer Beratung. Zur Evaluation der Integrationskursmaßnahmen wird eigens eine Bewertungskommission eingesetzt. Sie arbeitet auf der Grundlage von § 21 IntV mit dem Ziel der fachlichen Begleitung und Bewertung der Kursdurchführung. Die am 8. April 2005 konstituierte Kommission soll die Lehrpläne, die Lehr- und Lernmittel der Integrationskurse sowie die Inhalte der Abschlusstests evaluieren, Verfahren der Qualitätskontrolle erarbeiten und das Kurskonzept fortentwickeln. Unter den zunächst mehr als 30 Mitgliedern aus Wissenschaft und Praxis sind auch zahlreiche Vertreter der Bundesregierung, des BAMF, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände sowie die Bundesintegrationsbeauftragte beteiligt; Ende 2008 umfasst die Kommission nur noch 18 Mitglieder.769 Die Mitglieder werden vom BMI jeweils für drei Jahre berufen. Das Plenum tagt unter dem Vorsitz des BMI zwei bis drei Mal pro Jahr (zwölf Sitzungen zwischen 2005 und 2008), daneben gibt es gesonderte Treffen in Arbeitsgruppen und Workshops. Damit ist die Kommission ein Forum mit pluraler Beteiligung zur transparenten Beratung integrationspolitischer Fragen im Bereich der Entwicklung. Durch diesen Spezialauftrag und die entsprechende Agendagestaltung durch Innenministerium und BAMF bleibt sie allerdings ein rein implementationsorientiertes Gremium, das im Rahmen der anderswo beratenen und entschiedenen Ausgangsbedingungen wenig originären Handlungsspielraum im Hinblick auf die Policy-Gestaltung hat. Steuerungs- und Arbeitsgruppen zur Entwicklung des Integrationsprogramms Breiter scheinen dagegen die Gestaltungsmöglichkeiten der beratenden Akteure bei der Entwicklung des in § 45 AufenthG verankerten bundesweiten Integrationsprogramms (vgl. dazu Kap. 3.4.3.4), der zweiten institutionalisierten Form externer Konsultation. An dem Entwicklungsprozess sind laut Gesetz die Länder, Kommunen, die Ausländerbeauftragten von Bund, Ländern und Kommunen, der Aussiedlerbeauftragte 767 Im Einzelnen: Fünf Vertreter der Flüchtlingsverwaltungen der Länder, vier Vertreter der Vertriebenen- und Spätaussiedlerverbände, je ein Vertreter der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege, des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge sowie der beiden christlichen Kirchen, ein Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und jeweils ein Vertreter von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. 768 Im Bundeshaushalt 2006 werden die Kosten für den Beirat im BMI-Titel F 526 03 -011 (»Ausgaben für Mitglieder von Fachbeiräten und ähnlichen Ausschüssen«) mit 2.000 Euro veranschlagt. 769 vgl. die Teilnehmerlisten der Ergebnisprotokolle der Workshops am 5. und 6. April 2006 in Berlin, Anlagen 1 und 2 des Protokolls der 4. Sitzung der Bewertungskommission (www.bamf.de; 08.12.2006): 6, 10 sowie die Liste der Mitglieder der Bewertungskommission mit Stand 24. November 2008 (www.bamf.de; 24.08.2009).
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
sowie Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände, die Träger der freien Wohlfahrtspflege und sonstige gesellschaftliche Interessenverbände beteiligt. Die Bundesregierung möchte nach eigenen Angaben die Entwicklung des Integrationsprogramms »in Form eines offenen Dialogs« organisieren.770 Auf dieser Grundlage bildet sich ab Mitte 2006 beim BAMF eine mehrstufige Beratungsarchitektur aus Facharbeitsgruppen und einer übergeordneten, mit stärkeren Entscheidungskompetenzen ausgestatteten Steuerungsgruppe heraus. Die Steuerungsgruppe wird auf Verbandsebene besetzt, um die organisierten Einzelinteressen in Entscheidungsfragen zu wahren, die Facharbeitsgruppen hingegen auf Arbeits- bzw. Expertenebene. Die endgültige Entscheidung über die teilnehmenden Verbände und Organisationen trifft jedoch das BAMF,771 dem auch die Letztentscheidung darüber obliegt, welche der von der Steuerungsgruppe im Konsens anzunehmenden Vorschläge zur Umsetzung kommen. Für Kosten im Zusammenhang mit dem bundesweiten Intregrationsprogramm werden im Haushalt des BAMF außerdem nennenswerte Mittel für Sachverständige etatisiert.772 Es ist davon auszugehen, dass die von der Steuerungsgruppe letztlich beschlossenen Empfehlungen eine hohe Bindungswirkung entfalten und Bundesamt bzw. BMI ihnen weitgehend folgen werden, sofern nicht haushalterische Restriktionen dagegen sprechen. Beirat für Forschungsmigration Mit der Umsetzung der so genannten EU-Forscher-Richtlinie im Aufenthaltsgesetz wird ein gesonderter Beirat für Forschungsmigration eingerichtet (§§ 75 und 99 AufenthG). Das Gremium hat die Aufgabe, Empfehlungen für Richtlinien zur Anerkennung von Forschungseinrichtungen abzugeben, allgemein und im Einzelfall zu beraten, den Bedarf an ausländischen Forschern zu erheben und ggf. Fehlentwicklungen, Missbrauchsphänomene und Anwerbungshindernisse festzustellen (vgl. § 38d AufenthV). Es besteht aus neun ehrenamtlichen Mitgliedern, die jeweils für drei Jahre mandatiert sind. Neben dem durch den Präsidenten des BAMF zu bestimmenden Beiratsvorsitzenden werden auf Vorschlag folgender Körperschaften sieben weitere Mitglieder berufen: BMBF, Bundesrat, HRK, DFG, AA, BDA bzw. BDI, DGB sowie DIHT. Der Beirat muss dem Präsidenten des BAMF mindestens einmal pro Jahr über die Erfüllung seiner Aufgaben berichten.773 »Arbeitskräfteallianz« Ein genuines Instrument zur interministeriellen und neokorporatistischen Beratung der Arbeitsmigration stellt die so genannte Arbeitskräfteallianz dar. In Fortführung ihrer Beschlüsse zum Arbeitsmarktzugang für Ausländer von August 2007 (vgl. Kap. 3.4.3.1) verabschiedet die Bundesregierung am 16. Juli 2008 das Aktionsprogramm »Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland«,774 770
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion Die Linke »Entwicklung des Integrationsprogramms des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge«, BT-Drs. 16/3411 vom 14. November 2006: 3. 771 vgl. BT-Drs. 16/3411 (s. Fn. 770): 2ff. 772 Im Bundeshaushaltsplan 2008 sind dies beispielsweise 120.000 Euro, im Bundeshaushaltsplan 2009 136.000 Euro (jeweils im Titel F 526 02 -219). 773 vgl. Jahresbericht gem. § 38d Abs. 3 Aufenthaltsverordnung des Beirates für Forschungsmigration beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, November 2008; enthält Namen und Funktionen der benannten Mitglieder. 774 Bundesministerium des Innern/Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Aktionsprogramm der Bundesregierung »Beitrag der Arbeitsmigration zur Sicherung der Fachkräftebasis in Deutschland« vom 16. Juli 2008, Berlin (http://www.bmas.de/portal/26948/property=pdf/2008__07__16__aktionsprogramm__fachkraefte.pdf; 12.05.2009).
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das auch die Grundlage des Ende 2008 beschlossenen Arbeitsmigrationssteuerungsgesetzes bildet. Das Programm sieht vor, ein Gremium einzuberufen, das als Teil eines Arbeitsmarkt-Monitorings die Bundesregierung bei Entscheidungen zur arbeitsmarktadäquaten Zuwanderung beraten soll. Nach den Vorstellungen der federführenden Ministerien für Arbeit und Soziales sowie Inneres soll die Arbeitskräfteallianz Engpassanalysen vornehmen und einen transparenten Diskurs über künftige Arbeitskräftebedarfe und das Arbeitsangebot nach Branchen, Regionen und Qualifikationen ermöglichen. Allzu große Handlungsspielräume im Hinblick auf die Weiterentwicklung der Zuwanderungsoptionen spricht die Bundesregierung der Allianz freilich bereits ex ante ab, in dem sie klarstellt: »Aufgabe der Allianz ist es nicht, ein ZuwanderungsPunktesystems oder ein Konzept zur Potenzialzuwanderung zu entwickeln«.775 Zusammensetzung und Aufgabenstellung des Beratungsforums entsprechen »den in der Gesellschaft gegebenen Verantwortlichkeiten für die Sicherung der Arbeitskräftebasis in Deutschland«:776 Unter dem Vorsitz des Arbeitsministers nehmen am 30. März 2009 fast 50 »Alliierte« an der Auftaktveranstaltung teil, darunter Vertreter der Bundesressorts, der Länder, der Gewerkschaften und Arbeitsgeberverbände sowie Angehörige verschiedener Betriebe, Sachverständige aus wissenschaftlichen Instituten und – beratend – Repräsentanten nachgeordneter Bundesbehörden.777 Der erste Bericht der Arbeitskräfteallianz liegt zum 31. Dezember 2009 vor; im Anschluss wird jährlich ein weiterer Report erstellt. Neben den genannten Kommissionen und Beiräten existieren unter maßgeblicher Beteiligung von BMI und BAMF noch eine Reihe weiterer inter- und intra-behördlicher Arbeitsgruppen, die mehr oder minder fest institutionalisiert sind. Für sich genommen stellen sie ebenfalls Foren der Beratung migrationspolitischer Fragen dar, lassen sich aber weniger als Politikberatungsgremien im engeren Sinne qualifizieren.778 Es bleibt abzuwarten, wie sich das Verhältnis zwischen zentralistischer Steuerung der Politikberatung und Verwaltung auf der einen Seite, und dem parlamentarisch-gesellschaftlichen Interesse an Transparenz, Öffentlichkeit und Einbindung in Beratungs- und Entscheidungsprozesse auf der anderen Seite weiter entwickelt. Angesichts der oben beschriebenen 775
Aktionsprogramm der Bundesregierung (s. Fn. 774): 8. Aktionsprogramm der Bundesregierung (s. Fn. 774): 7. 777 vgl. dazu Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Teilnehmerliste Allianz für Arbeitskräfte, 30. März 2009 (http://www.bmas.de/portal/32716/2009__03__30__arbeitskraefteallianz__teilnehmer__auftaktveranstaltung.html; 12.05.2009). 778 Daher wird an dieser Stelle analytisch nicht näher auf sie eingegangen. Zu nennen wären z.B. das Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration (GASiM), in dem seit Mitte 2006 mehr als 30 Beamte verschiedener Behörden Aufgaben im Bereich Verhinderung der illegalen Migration wahrnehmen (vgl. Antworten der Bundesregierung auf die Kleinen Anfragen der Fraktion Die Linke »Das Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten und das Gemeinsame Analyse- und Abwehrzentrum illegale Migration in Berlin-Treptow«, BT-Drs. 16/2420 vom 18. August 2006: 2 sowie »Das Gemeinsame Analyse- und Abwehrzentrum illegale Migration in Berlin-Treptow«, BT-Drs. 16/2432 vom 23. August 2006: 2ff.). Auch die »AG Status« für sog. »statusrechtliche Begleitmaßnahmen« bei der Terrorbekämpfung bildet einen Teil dieses erweiterten Beratungsregimes (vgl. Antworten des StS. Dr. August Hanning vom 5. Oktober 2006 auf die Schriftlichen Fragen der Abgeordneten Ulla Jelpke, BT-Drs. 16/2873 vom 6. Oktober 2006: 9). Darüber hinaus werden regelmäßige Sitzungen unter Beteiligung von Bund und Ländern zur koordinierten Anwendung und Auslegung des Ausländerrechts veranstaltet. Hier sind zu nennen die regelmäßigen Besprechungen der Ausländerreferenten sowie der institutionalisierte Erfahrungsaustausch der Ausländerbehörden großer Städte, in dem rund 25 Behörden der größten deutschen Städte (die für rund zwei Drittel der in Deutschland aufhältigne Ausländer zuständig sind) vertreten sind. 776
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Aufgabenfelder und Arbeitsmodalitäten der zahlreichen Spezial-Beratungsgremien drängt sich allerdings der Verdacht auf, dass letztere nunmehr just solche Aufgaben übernehmen, für die eigentlich umfassend der unabhängige Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration (Zuwanderungsrat) vorgesehen war. Jedoch gelingt es innerhalb des nunmehr fragmentierten und intransparenten Systems von Konsultations- und Evaluationsgremien den staatlichen Akteuren BAMF und BMI in Kooperation mit den Innenverwaltungen der Länder möglicherweise besser, die Verfahren im Sinne ihrer Entscheidungsinteressen zu steuern und damit die Hoheit über das migrationspolitische Beratungsregime zu behalten. Bemühungen des Parlaments, stärker an migrations- und integrationspolitischen Beratungen im wissenschaftlichen Diskursfeld zu partizipieren, nehmen sich während der Großen Koalition eher verhalten aus.779 Dem dominanten gubernativen und administrativen Beratungsregime setzt Ende des Jahres 2008 ein Konsortium großer deutscher Stiftungen auf maßgebliches Betreiben Klaus Bades, des früheren stellvertretenden Vorsitzenden des Zuwanderungsrates der Bundesregierung, eine Neugründung entgegen: Der Sachverständigenrat für Integration und Migration soll als unabhängiges, wissenschaftliches Gremium Jahresberichte, Gutachten und Stellungnahmen zur Entwicklung von Integration und Migration sowie zur Einschätzung von Integrations- und Migrationspolitik veröffentlichen.780 Neben den federführenden Stiftungen Mercator und VolkswagenStiftung sind die Bertelsmann Stiftung, die Freudenberg Stiftung, die Gemeinnützige Hertie-Stiftung, die Körber-Stiftung, die Vodafone Stiftung und die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie auf Projektebene die BoschStiftung beteiligt und unterstützen den Rat, der die Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH erhält, mit insgesamt rund 1,7 Millionen Euro in den ersten drei Jahren. Ideell bedeutet der neunköpfige Sachverständigenrat der Stiftungen durch seinen spiritus rector Bade eine Fortsetzung des Zuwanderungsrates, jedoch ohne die Einbindung von Politikern oder Interessenvertretern – ihm gehören ausschließlich Wissenschaftler an, die im Bereich der Migrations- und/oder Integrationsforschung als ausgewiesene Experten gelten; die Geschäftsstelle umfasst vier wissenschaftliche Mitarbeiter.781 Seinen ersten Jahresbericht, »ein möglichst lesbares Kompendium […] mit klaren Thesen und Perspektiven – also wissenschaftlich fundiert, aber in menschenfreundlicher Prosa« will der Rat gemeinsam mit einem jährlich fortzuschreibenden »›Integrationsbarometer‹, eine Art Integrationsklima-Index« im Jahr 2010 vorlegen.782 Inwieweit der Sachverständigenrat seinem eigenen Anspruch eines »zivilgesellschaftlichen« Beratungsgremiums gerecht werden und Anerkennung bei stake779 Lediglich die Fraktion Die Linke fordert in einem Entschließungsantrag zum Nationalen Integrationsplan die Bundesregierung auf, »ein unabhängiges Gremium zu schaffen, das dem Bundestag Vorschläge für eine aufeinander abgestimmte Integrationspolitik unterbreitet. Dieses Gremium soll ohne zeitlichen Druck und mit Hilfe von themenbezogen heranzuziehenden weiteren Sachverständigen ein Integrationskonzept erarbeiten. Alle Bundestagsfraktionen sind bei der Frage der personellen Zusammensetzung des Gremiums zu beteiligen, in jedem Fall müssen Mitglieder von Migrantinnen- und Migrantenselbstorganisationen und von Flüchtlingsorganisationen sowie renommierte Expertinnen und Experten der Sozialwissenschaften vertreten sein.« (BT-Drs. 16/6976 vom 7. November 2007: 2) 780 vgl. »Die Neugeburt des Sachverstands«, Die Zeit Nr. 43 vom 16. Oktober 2008; Hintergrundpapier zum Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), dokumentiert in IMIS-Beiträge, Heft 34/2008: 117-120. 781 vgl. www.svr-migration.de (22.07.2009). 782 Statement von Klaus J. Bade bei der Pressekonferenz zur Begründung des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration, WissenschaftsForum, Berlin, 15. Oktober 2008, dokumentiert in IMISBeiträge, Heft 34/2008: 121-125, hier: 123.
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holdern, Medien und gesellschaftlichen Akteuren gewinnen kann, wird sich erst danach herausstellen. Dann entscheidet sich auch, ob er das etatistische Beratungsregime aufbrechen und nachhaltig auf die materielle Migrations- und Integrationspolitik wirken kann.
3.4.4 Post-Kommissionsprozess: Zusammenfassung und Zwischenfazit Was kann eine Regierungskommission bewirken? Wie gestaltet sich während und nach ihrem Mandat das politikfeldspezifische Beratungsregime? In Rekurs auf die Ausgangsfrage fasst der folgende Abschnitt die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen zusammen und abstrahiert zentrale Erkenntnisse des »Post-Kommissionsprozesses« zu allgemeinen Hypothesen. Vereinzelt werden dabei auch Aussagen aus den Experteninterviews herangezogen.
Gubernatives Interdependenzmanagement Die Einsetzung einer Kommission entbindet die Bundesregierung keineswegs davon, im Hinblick auf ein Gesetzgebungsverfahren mühsame Einigungsprozesse auf unterschiedlichen formalen wie informalen Ebenen in Gang zu setzen. Auch wenn sich innerhalb der Kommission ein Grundkonsens unterschiedlicher Akteure des politischen und gesellschaftlichen Raumes Bahn bricht, bleiben je nach Ausprägung parteipolitischer Mehrheitsverhältnisse in den Kammern bundesstaatlich-föderaler Gesetzgebung auch die tendenziell restringierenden strukturellen Parameter des Regierungssystems relevant. Innerhalb von Koalitionsregierungen muss zunächst ein gemeinsamer Umgang der Partner (insbesondere der Fraktionen) mit den Kommissionsergebnissen gefunden, parallel jedoch bereits ein Einigungskorridor mit sonstigen »Veto-Spielern« (im Falle von Zustimmungsgesetzen meist der Mehrheit des Bundesrates) gewahrt werden. Die Kommission und ihr PolicyProgramm fungieren dabei für die Kernexekutive bzw. den im Gesetzgebungsverfahren federführenden Ressortminister von Anfang an als strategisch-funktionales Werkzeug des Regierungshandelns. Die wissensorientierte Politikberatungsfunktion gerät demgegenüber in den Hintergrund. Die Bezugnahme auf das von der Kommission erarbeitete PolicyProgramm erfolgt in den verschiedenen Stadien des Politikprozesses in Abhängigkeit von situativ-taktischen Erwägungen und den Positionierungen sonstiger Akteure hochgradig selektiv. Durch die Verbreiterung des Akteursspektrums innerhalb der Kommission und in ihrem Umfeld wächst dabei die Bedeutung knapper Zeitressourcen und -fenster im Rahmen der Kontingenzen politischen Entscheidungshandelns (vgl. Rüb 2006) zusätzlich. Das Policy-Programm der Süssmuth-Kommission ist nur ein (allenfalls gleichwertiger) Bezugspunkt neben den Konzepten der Müller-Kommission, der Stiegler-Kommission und des BMI. Der nützliche Beitrag der Süssmuth-Kommission und der Zuwanderungsgremien der Parteien besteht für die Regierung primär darin, eine Situation befördert zu haben, in der kein Akteur ein wirkliches Interesse daran hat, ein Zuwanderungsgesetz gänzlich zu verhindern. Gerade vor dem Hintergrund des Zustimmungserfordernisses der unionsregierten Bundesländer hätte es naiv angemutet zu glauben, dass die Opposition die Regierung allein deswegen hätte gewähren lassen, weil sie im Prinzip inhaltlich weitgehend mit deren Entwurf einverstanden ist, und nicht weitere Änderungen in ihrem Sinn eingefor-
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dert hätte. Ebenso vermessen wäre es gewesen, von einem Plazet des grünen Koalitionspartners für den in vielen Punkten von grünen Positionen abweichenden Referentenentwurf auszugehen. Es kann als gesichert gelten, dass Innenminister Schily der multiplen Koordinierungserfordernisse stets gewahr ist. Insbesondere gegenüber dem Koalitionspartner unterschätzt Schily offenbar die extensiven Koordinationserfordernisse, so dass an verschiedener Stelle Einigungsprozesse auf der Ebene des Koalitionsausschusses und unter Beteiligung des Bundeskanzlers initiiert werden müssen. Schilys Vorgehen stellt den Versuch einer Marginalisierung von Bündnis 90/Die Grünen zu Gunsten »mehrheitsfähiger« Politik dar, wie er auch in zahlreichen anderen Zusammenhängen der rot-grünen Koalition beobachtet worden ist (vgl. Sturm 2004). Möglicherweise führt erst die unerwartet starke und nicht antizipierte Verweigerungshaltung großer Teile der Union gegenüber einem Vorab-Kompromiss zu einem taktischen Wechsel: Zugeständnisse an die Grünen bei gleichzeitiger Betonung größerer Distanz zur CDU/CSU (vgl. Angenendt 2002: 47). Sicherlich zu weit geht in diesem Zusammenhang jedoch die Einschätzung, die Grünen seien »zu einem ihrer wichtigsten Kernthemen […] vom eigenen Koalitionspartner auf die Zuschauerbänke verwiesen« worden (Langguth 2004: 148). Zumindest bleiben sie dort nicht sitzen, sondern steuern den Prozess nachweislich mit. Allenfalls im finalen Akt der Ausformulierung des Zuwanderungsgesetzes durch Schily, Müller und Beckstein wird ein symbolischer Ausschluss vorgenommen. Aus Sicht der SPD-dominierten Gubernative bildet die von ihr selbst eingesetzte Kommission im Regierungsprozess lediglich ein beschränkt nutzbares Instrument zur Legitimierung des »Vorhabens Zuwanderungsgesetz«.
Oppositionstaktik: Meinungsresponsive Politik Die Arbeit einer externen und unabhängigen Kommission im Auftrag der Bundesregierung oder eines Ressorts hat deutliche Auswirkungen auf das taktische Verhalten des politischen Gegners im Politikprozess. Die Taktik der Opposition während der Kommissionsarbeit und in einem anschließenden Gesetzgebungsverfahren konstituiert im Sinne der political constraints die wesentlichen Grenzen des »Regierens mit Kommissionen«. Wenn institutionell verankerte Veto-Möglichkeiten und entsprechende Mehrheitsverhältnisse potentiell genutzt werden können, führt Kommissionsregieren nicht zwangsläufig zur Beschneidung des gestaltend-kontrollierenden Spielraumes der Opposition. Wenn jedoch eine Kommission erfolgreich arbeitet und dadurch einem gesetzgeberischen Reformvorhaben der Regierung in der Öffentlichkeit zu höherer Legitimation verhilft, verringert dies die Möglichkeiten für die Opposition, das Vorhaben total zu blockieren. Eher wird sie zwischen den Polen Kooperation und Widerstand taktieren. Parteitaktisch sind beim Thema Zuwanderung auch die Konstellationen innerhalb der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU bedeutsam: Die Analyse verdeutlicht, dass sich die Union unter starkem Einfluss der CSU und des späteren Kanzlerkandidaten Stoiber nicht responsiv zum Meinungswandel in der Öffentlichkeit verhält, sondern kongruent mit der Mehrheitsmeinung des »Volkes«. Nicht dem Konsens unter Kirchen, Verbänden und Organisationen wird gefolgt, sondern der vermeintlichen vox populi und somit Aspekten des vote seeking. Die CDU scheint zunächst den öffentlichen Meinungswandel aufzunehmen: Nach der positiven Rezeption der Greencard erkennt sie einen Zuwanderungsbedarf
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an, beruft eine eigene Kommission und schlägt ein Punktesystem zur Auswahl von Zuwanderern vor. Nach der Einbringung des Koalitionsentwurfes richtet sie ihre Segel im Konzert mit der CSU jedoch primär an der – weitere Zuwanderung ablehnenden – Mehrheitsmeinung aus.783 In seiner diskursanalytischen Studie des ersten Gesetzgebungsverfahrens kommt Matthias Hell (2005) zu dem Ergebnis, dass die taktische Richtungsvorgabe einer harten Ablehnung des Regierungskurses durch die Union sehr stark auf die Person Stoiber und dessen Kanzlerkandidatur 2002 zurückzuführen sei.784 Andererseits existieren auch starke Indizien für eine breite Blockadehaltung beim Meinungsbildungsprozess innerhalb der gesamten CSU. Anders ist nicht zu erklären, dass ausgerechnet Mitglieder der CSU-Landesgruppe während des späteren Vermittlungsverfahrens 2003/2004 – fernab jeglichen Wahlkampfes – gegen den die Linie Stoibers vertretenden Günther Beckstein aufbegehren, als dieser am Ziel eines Kompromisses festhält (vgl. Kap. 3.4.2.2). Ferner verdeutlicht allein die Tatsache, dass die Beteiligung des bayerischen Innenministers Beckstein in sämtlichen Phasen des Politikprozesses eine conditio sine qua non ist, eine nicht zuletzt durch die CDU-Spendenaffäre ausgelöste unionsinterne Machtverschiebung, in der die CSU »im Binnenverhältnis der Union zu einem klaren Übergewicht zur am Boden liegenden CDU gelangt« (Kießling 2004: 307) und die mit der Kanzlerkandidatur Stoibers noch verstärkt wird. Das meinungsresponsive Verhalten der Union äußert sich auf der Politics-Ebene insbesondere in der Tatsache, dass gerade keine Totalopposition betrieben wird – alternativlose »Blockadepolitik« ist unpopulär und provoziert den Vorwurf der Handlungs- bzw. Entscheidungsunfähigkeit (vgl. Benz 2003a: 218); ein dadurch erlittener Verlust politischer Reputation kann elektorale Einbußen bedeuten. Nahezu sämtliche Änderungsanträge der Union akzeptieren zwar die durch die Bundesregierung vorgesehenen Zuwanderungstatbestände (mit der wichtigen Ausnahme des Auswahlverfahrens in § 20 AufenthG), sind jedoch darauf ausgerichtet, ihre Anwendung dahingehend auszugestalten, dass die Zahl der Ausländer, die sich befristet oder dauerhaft auf Bundesgebiet aufhalten, möglichst minimiert wird.785 Das Verhalten von CDU/CSU konstituiert damit einen Oppositionstyp, der variabel zwischen kooperativer und kompetetiver Opposition pendelt (vgl. Beyme 1997: 263, 365f.), vor dem Hintergrund parteipolitischer Profilierung de facto zu letzterem tendiert und mit Blick auf die Implementationsbilanz der später umgesetzten Änderungsanträge als äußerst erfolgreich zu bewerten ist.786 783 vgl. Kap. 3.4.1.3, 3.4.2.1. Frank Brettschneider (1996) unterscheidet zwischen der zu einem Zeitpunkt messbaren Mehrheitsmeinung und dem über einen Zeitraum vollzogenen Meinungswandel in der Bevölkerung als Variablen, an denen sich das Handeln parteipolitischer Akteure orientieren kann. Dabei scheint »die Mehrheitsmeinung für Politiker im Durchschnitt verhaltensrelevanter zu sein als der Meinungswandel« (ebd.: 124), und es erweist sich im Parteienvergleich und über Zeit die CDU/CSU-Fraktion als die »unresponsivste« Fraktion gegenüber Meinungswandel in der Öffentlichkeit (vgl. ebd.: 121). Zu den Meinungen und dem Meinungswandel in der Bevölkerung hinsichtlich Zuwanderung vgl. beispielhaft die Zahlen in den Abb. 10 und 11). 784 Horst Eylmann, langjähriger Vorsitzender der Rechtsausschusses für die Unionsfraktion im Deutschen Bundestag und Mitglied der Unabhängige Kommission »Zuwanderung« urteilte über Stoiber: »Für ihn war allein die Machtfrage entscheidend: Schröder sollte scheitern.« (zit.n. SZ vom 4. April 2002: 5) 785 Bezüglich der Oppositionstaktiken im legislativen Prozess hat Wolfgang Ismayr darauf hingewiesen, dass »weitgehende Änderungswünsche und Vorschläge einer Überarbeitung einer Ablehnung gleichkommen« können (Ismayr 2001: 265). 786 Heribert Prantl sieht im Zuwanderungsgesetz gar »die Umkehrung fast aller mit diesem Gesetz ursprünglich verfolgten Werte« und zitiert den bayerischen Innenminister Günther Beckstein, der bei der Beschreibung des Verhandlungsergebnisses gesagt haben soll: »So ein Gesetz hätte die Union in der Regierungszeit Kohl, zusam-
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Kommission und parlamentarischer Prozess Aus einer parlamentszentrierten Perspektive auf den legislativen Prozess markiert die Arbeit einer Regierungskommission keine nachweisbar charakteristische Manipulation der im Grundgesetz fundierten und durch politischen Brauch etablierten Usancen der Gesetzgebung im Bundestag. Keine Station des parlamentarischen Prozesses wird obsolet. Einige erhalten u.U. sogar stärkere Emphase. Die Schritte der Entscheidungsfindung erweisen sich auch (und möglicherweise gerade) dann, wenn das Agendasetting bzw. die gubernative Entscheidungsvorbereitung unter Beteiligung einer Kommission erfolgen, als in hohem Maße pfadabhängig. Relevant sind bei entsprechenden Mehrheitsverhältnissen insbesondere jene institutionellen Arrangements, die als Folge des Parteienwettbewerbs im Bundesstaat Einigungsmöglichkeiten zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien ermöglichen – denn gerade die Befassung einer Kommission in der vorparlamentarischen Beratungsphase deutet auf parteipolitisches Konfliktpotential des Reformvorhabens hin und hat damit meist auch eine hohe Relevanzzuschreibung durch die Parteien zur Folge.787 Das Beispiel der Migrationsgesetzgebung zeigt, dass eine Kommission die parlamentarische Auseinandersetzung durchaus intensivieren kann: Zum einen dadurch, dass die Bildung eigener Kommissionen und Arbeitsgruppen der Fraktionen bzw. Parteien ausgelöst wird (vgl. Kap. 3.2.4, 3.2.5), zum anderen, indem (durch den Ältestenrat, die Fraktionsführungen bzw. die Obleute im Ausschuss) einem höheren Deliberationsbedarf im parlamentarischen Prozess Folge geleistet wird. Im Beispiel des parlamentarischen Verfahrens zum Zuwanderungsgesetz bedeutet die hohe Beratungsfrequenz und Dauer migrations- und integrationspolitischer Vorgänge – gerade im Innenausschuss – ein wichtiges Indiz für diese These. Verallgemeinernd kann durchaus auch von einer »parlamentsermunternden« Funktion von Regierungskommissionen ausgegangen werden. Daneben spricht die schiere Dauer des doppelten Gesetzgebungsverfahrens von November 2001 bis Juli 2004 (mit ca. neunmonatiger Unterbrechung während der Prüfphase des BVerfG bzw. im Zuge der Bundestagswahl) gegen eine durch die Zuwanderungskommission beförderte Machtverschiebung von der Legislative zur Exekutive beim politischen Entscheidungsprozess. Auch wenn man einen »Kampf der Gewalten« nur zwischen der Regierung und den sie tragenden Fraktionen betrachtet, kann eine Einschränkung deren Mitsteuerungsfunktion zu Gunsten der durch den Innenminister dominierten Regierungsposition am Wirken der Kommission nicht nachgewiesen werden. Eher könnte das Gegenteil zutreffen: Beim Sonderfall eines Innenministers, der eine wesentlich restriktivere Linie verfolgt als die beiden Regierungsfraktionen, nutzen deren Vertreter die Kommission viel deutlicher als Referenzpunkt ihrer programmatischen Arbeit, als die Regierung selbst. Eine zentrale Erkenntnis aus der Forschungsperspektive des informalen Koalitionsmanagements ist die Bedeutung von Grenzstellenakteuren in den Regierungsfraktionen, die am Beispiel des SPDFraktionsvize Ludwig Stiegler deutlich wird.
men mit der FDP, nicht hingekriegt« (SZ vom 18. Juni 2004: 4; vgl. auch das von Walter Zuber im Bundesrat identisch wiedergegebene Bonmot Becksteins, BR-Sten.Ber. 802 vom 9. Juli 2004: 341A). 787 Auf das ungebrochene parteipolitische Polarisierungspotenzial, das letztlich auf dem jahrzehntelangen Streit in der »Ausländerfrage« gründet, deuten auch kommunikationswissenschaftliche Analysen hin, die einen hohen medialen Inszenierungsgrad der Auseinandersetzung um das Zuwanderungsgesetz feststellen (vgl. Schicha 2007; Hell 2005).
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Bezüglich der politischen Letztentscheidungskompetenz bietet der analysierte Fall hingegen Anhaltspunkte für eine Machtverschiebung vom parlamentarisch-formalen in einen informalen, »para-parlamentarischen« Raum, und zwar im Zuge der Einigungsversuche im ersten Gesetzgebungsverfahren und später innerhalb des Vermittlungsverfahrens. Bereits das aus festen Mitgliedern bestehende Kerngremium zur Kompromissfindung zwischen zwei eigentlich legislativ befugten demokratischen Organen (der 32 Mitglieder zählende Vermittlungsausschuss) gilt unter Staatsrechtlern als in hohem Maße de facto entscheidungskompetent und geeignet, als politischer Machtfaktor einer partiellen Entparlamentarisierung Vorschub zu leisten (vgl. Kluth 2005: 1006f.). Beim Zuwanderungsgesetz sind mit Blick auf das Institut Vermittlungsausschuss und die von ihm eingesetzte, in ihrer Zusammensetzung später veränderte Arbeitsgruppe weder die Grenzen zwischen formalen und informalen Verfahren, noch zwischen internen und externen Beratungsprozessen gewahrt. Sie verschwimmen vollends, als für eine »politische Einigung« die Entscheidungsprärogative auf Seiten der Regierungskoalition der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers und bei den parlamentarisch repräsentierten Oppositionsparteien deren Parteispitzen anheim gestellt wird – und anschließend durch sie mandatierte Repräsentanten von CDU, CSU und Bundesregierung (Müller, Beckstein und Schily) mit operativer Kompetenz zur rechtsförmigen Ausformulierung des Kompromisses ausgestattet werden.
Implementation mangelhaft? Der materielle Einfluss einer Kommission auf die Rechtslage in einem Politikfeld – die Implementation ihres politischen Programmes – lässt sich nicht mit Bestimmtheit feststellen. Vergleicht man die einzelnen vorgenommenen Empfehlungen mit dem Resultat einer anschließenden Reform, so werden sich stets wichtige Teile darin wiederfinden, nicht zuletzt weil die Policy-Vorschläge der Kommission in der einen oder anderen Form oder Variation auch bereits davor im politischen Raum »gespielt« waren. Auch auf die Süssmuth-Kommission trifft keineswegs zu, dass sie nach ihrer Konstituierung völlig losgelöst von Prädispositionen, Netzwerken und Einflüssen ab- und nach neun Monaten mit dem »Stein des Weisen« wieder auftaucht – wie es ein Kommissionsmitglied ausdrückte.788 Die Gegenüberstellung ihrer Empfehlungen mit der aktuellen Rechtslage macht dagegen vor allem eines deutlich: Der Kommissionsbericht ist materiellrechtlich nur sehr bedingt als Konstituante des 2004 beschlossenen Zuwanderungsgesetzes zu interpretieren. Die Analyse verdeutlicht, dass bereits der Referentenentwurf keineswegs als Kontinuum des Policy-streams der Kommission zu werten ist, und mitnichten – wie etwa Krause (2004: 282) oberflächlich schließt – »zu großen Teilen auf der Arbeit der SüssmuthKommission basiert«. Vielmehr missachten Schily und das BMI bereits bei der Erarbeitung des Entwurfes zahlreiche der Kommissionsempfehlungen, folgen aber zumindest einer grundlegenden, von der UK ZU vertretenen Maxime, dass nur ein flexibles System Gewähr dafür biete, Zuwanderung angemessen zu gestalten und aktuellen wie zukünftigen Bedarfslagen gerecht zu werden. Diese Flexibilität geht im Vermittlungsverfahren fast vollständig verloren; Kriterien werden normiert, starre Voraussetzungen eingeführt, der Anwerbestopp explizit aufrechterhalten und ein System von Ausnahmen bei den entsprechenden Rechtsverordnungen ge788
vgl. Ralf Fücks, zit.n. taz vom 14. September 2000: 7.
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3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
schaffen. Sowohl die gesteuerte Anwerbung für Arbeitsmarktsektoren mit Engpässen als auch das Auswahlverfahren werden – später auch von Regierungsseite – »mit dem ebenso allgegenwärtigen wie robusten Hinweis auf die hohe Arbeitslosigkeit verworfen«, hingegen der »von Politik und Öffentlichkeit verdrängte Mißstand der dauerhaften Anwerbung von in aller Regel nicht besonders qualifizierten ausländischen Arbeitskräften […] festgeschrieben« (Renner 2005: 15). Mit Ausnahme der sofortigen Niederlassungserlaubnis für Hochqualifizierte ist der Zugang zum dauerhaften Aufenthaltstitel sogar tendenziell erschwert. Auch wenn man weitere, von der Süssmuth-Kommission intensiv diskutierte Fragestellungen dem Resultat im ZuwG gegenüberstellt, werden Diskrepanzen offenbar, so bei den Themen Härtefallregelung, Illegalisierte, Kettenduldungen und Bleiberecht sowie Ausgestaltung der Policy-Beratungsregime. Das Zuwanderungsgesetz erfüllt damit zweifellos nicht den von der Süssmuth-Kommission konzipierten »Paradigmenwechsel« bzw. die von Innenminister Schily proklamierte »historische Zäsur«. Denn weder die deutsche Migrationspolitik noch das damit verbundene Beratungsregime werden grundsätzlich neu buchstabiert. In weite Teile des Aufenthaltsgesetzes wirkt das Erbe des Ausländergesetzes nach, an das es sich deutlich anlehnt und dessen Instrumentarium und Kapitelstrukturen es ganz im Sinne rechtspositivistisch-inkrementeller Gesetzesfortentwicklung übernimmt.789 Die Arbeitsmigration ist nach wie vor vom prinzipiellen Anwerbestopp geprägt, die Einführung eines Auswahlverfahrens für geregelte Einwanderung bis auf weiteres unwahrscheinlich. Verschiedene Beobachter kommen zu dem Ergebnis, das Zuwanderungsgesetz verlange den Behörden »keine grundlegenden Abweichungen von den alten Verwaltungsroutinen« ab (Groß 2006: 31), stehe »eher in der Kontinuität der Politik vergangener Jahrzehnte als am Beginn einer neu konzipierten Einwanderungspolitik« (Schönwälder 2004: 1214), habe »den notwendigen ausländerpolitischen Paradigmenwechsel nicht verwirklicht« (Renner 2005: 24) und »Deutschland hinter Einwanderungsländer Europas zurückgeworfen, in denen es eine konzeptorientierte Zuwanderungspolitik […] gibt« (Bade 2007: 37). Dem Kommissionsprozess Folgenlosigkeit zu attestieren wäre indes ebenso unzutreffend, kommen doch beteiligte Akteure ex post auch zu positiven Einschätzungen: Die Arbeit der Kommissionsmitglieder habe sich gelohnt, da sie den Boden dafür bereitet habe, dass es das Gesetz überhaupt gebe.790 Auf dieser Grundlage deutet sich ab etwa 2006 an, was man als »nachholende Implementation« der Kommissionsempfehlungen bezeichnen könnte. Sowohl in der Arbeitsmigrationspolitik als auch bei Thema Duldung und Altfallregelung entwickelt sich die Politik in Richtung auf das, was die Kommission vorgeschlagen hatte. Selbst ihr zentrales Anliegen hinsichtlich irregulärer Migranten wird offenbar im BMI aufgegriffen. Obwohl von offizieller Seite im Rahmen der Novellierungen des Aufenthaltsgesetzes 2007 und 2008 keinerlei Verweis auf eine Urheberschaft der SüssmuthKommission hinsichtlich bestimmter Maßnahmen erfolgt, ist der thematische Fortklang ihrer Empfehlungen evident. Verdeutlicht wird dies nicht zuletzt durch fortgesetzte verbale Bezugnahme in Medien, Wissenschaft und Politik.791 789
vgl. auch Hailbronner (2006: 11). Die Vaterschaft des Ausländergesetzes für das Aufenthaltsgesetz wird nicht zuletzt in Dutzenden von Formulierungen und Tatbeständen deutlich, die wortgleich übernommen worden sind. 790 vgl. MdB Dr. Max Stadler, BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10713A/B (Herv.d.Verf.); vgl. auch die identische Einschätzung bei einem erfahrenen Mitarbeiter des BMI (Interview Holthey: 149). Klaus Bade (2007: 37) schreibt: »Der Staat […] ist bei der konzeptorientierten Integrationsförderung erst […] mit den vorbereitenden Überlegungen der Unabhängigen Kommission Zuwanderung […] aus einem langen […] Tiefschlaf erwacht.« 791 So wird die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« selbst im Laufe der 16. Wahlperiode – bis zu acht Jahre nach ihrem Mandat – im Deutschen Bundestag häufig zitiert; etwa in parlamentarischen Debatten zu irregulär
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
359
Politikberatung und Konsens Eine Effizienzevaluation einer Regierungskommission kann nur schwerlich allein auf die Implementationsbilanz ihrer einzelnen Policy-Empfehlungen reduziert werden. Vielmehr ist auch ihre »klimatische« Wirkung, d.h. ihr Beitrag zur Agendagestaltung, zu einem allgemeinen Bewusstseins- und Politikwandel innerhalb der jeweiligen Policy und zur Qualität des fachlich-politischen Beratungsdiskurses zu berücksichtigen, die jenseits der Pole Konflikt und Kompromiss im Sinne eines äußerst basalen Konsens’ gesetzgeberische Reformmaßnahmen erst ermöglicht (vgl. auch Chapman 1973: 186). Diese Effekte sind nicht konkret messbar, sondern nur mittels extensiver Fallstudien abstrakt-argumentativ überprüfbar. Ausgehend von der Analyse des Post-Kommissionsprozesses bei der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« ist davon auszugehen, dass gubernative Kommissionen, sofern sie öffentlichkeitswirksam eingesetzt sind, in dieser Hinsicht tatsächlich »wirken«. Reduziert man die Reichweite der Paradigmenwechsel-Terminologie auf einen mehrheitlichen Wandel bezüglich der prävalenten Grundauffassung zum Thema Zuwanderung, erschließen sich insbesondere aus Sicht der am Politikprozess Beteiligten positive Folgen der Kommission: Sie habe einen »Umdenkungsprozess« gefördert (Interview Eylmann: 183), in Kombination mit den Ergebnissen der Müller-Kommission nicht mehr revidierbare kognitive Veränderungen in der Grundeinstellung – »jedenfalls der politischen Elite« – erzeugt (Interview Kannengießer: 30), öffentliche Diskussion »extrem beeinflusst«, das »Klima bewegt und verändert«, »neue Akteure und Allianzen« und damit eine »Grundlage geschaffen für die weiteren Gesetzesberatungen« (Interview Özdemir: 80ff.). Die Förderung gesellschaftlich-öffentlicher Akzeptanz sei im Grunde der »strategische Auftrag« der Süssmuth-Kommission, sie selbst der »Eisbrecher voraus« gewesen (Interview Stiegler: 71, 75). Diesen Auftrag sieht auch der SPD-Abgeordnete Wiefelspütz erfüllt: Die Kommission habe schon gewirkt, »ohne dass sie überhaupt irgendwelche Ergebnisse vorgelegt hat«.792 Dabei wird ein echter, geschweige denn nachhaltiger Policy-Konsens in der Öffentlichkeit keineswegs hervorgerufen, was nicht zuletzt der Blick auf demoskopische Umfragen deutlich macht. Die Meinungsforschung zeigt, dass die Bevölkerung relativ gespalten bleibt, wobei kurzfristiger Meinungswandel festgestellt werden kann, der wohl z.T. auch auf das Wirken der Kommission zurückzuführen ist (vgl. Abb. 10 und 11). In der Analyse der Experteninterviews fällt auf, dass diese von Regierungsseite intendierten Funktionen offenbar ganz überwiegend als legitim und sogar notwendig angesehen werden, auch von Abgeordneten der Bundestagsopposition.793
Aufhältigen (vgl. BT-Drs. 16/16 vom 9. Februar 2006: 1191), zu Kettenduldungen (vgl. BT-Drs. 16/25 vom 16. März 2006: 2023), zum Richtlinienumsetzungsgesetz (vgl. BT-Drs. 16/103 vom 14. Juni 2007: 10590), zur Emigration von Hochqualifizierten (vgl. BT-Drs. 16/119 vom 12. Oktober 2007: 12381), zum Migrationsbericht der Bundesregierung (vgl. BT-Drs. 16/161 vom 9. Mai 2008: 16993) oder zur Einführung eines Punktesystems (vgl. BT-Drs. 16/163 vom 29. Mai 2008: 17176, 17183). 792 65. Sitzung des Innenausschusses (s. Fn. 464): 11. 793 z.B. Max Stadler: Es sei ein »Erfordernis der politischen Führung, den Boden zu bereiten«, dass in der Gesellschaft ein solches Projekt überhaupt akzeptiert werde (Interview Stadler: 60; vgl. auch dessen Einschätzung im BT-Innenausschuss, 65. Sitzung, s. Fn. 464: 19 sowie Interviews Pau: 58ff. und Bosbach: 22).
360
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Abbildung 10: Bevölkerungsmeinung zu einem Einwanderungsgesetz (in Prozent)794 80
69 60
60
55
57
54
53 47
Befürworter
40
40 37
35
20
28
30
Gegner
30 25
22 17
0 Sept. 1993
Nov. 1994
Aug. 1995
Aug. 1996
Apr. 2000
Nov. 2000
Juni 2001
Dez. 2001
Abbildung 11: Bevölkerungsmeinung zur Zuwanderung in den Arbeitsmarkt (in Prozent; nur Westdeutschland)795 Oktober
63,8
September
36,2
67,3
August
32,7
69,8
30,2
Juli
73,4
26,6
Juni
73,6
26,4
0%
10%
20%
bei Bedarf
30%
40%
50%
60%
70%
80%
90%
100%
keine Erleichterung
794 Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach. Gefragt wurde: »Ganz grundsätzlich gefragt: Sind Sie für ein Einwanderungsgesetz, ich meine dafür, daß man jedes Jahr eine bestimmte Anzahl von Einwanderern – nach Quoten festgelegt – ins Land läßt, oder sind Sie gegen ein Einwanderungsgesetz?« 795 Quelle: Politbarometer. Gefragt wurde: »Was meinen Sie, sollte ausländischen Arbeitskräften in Zukunft der Zuzug erleichtert werden 1. wenn sie in Deutschland gebraucht werden, oder sollte 2. der Zuzug nicht erleichtert werden?«
3.4 Post-Kommissionsprozess: Der doppelte Politikzyklus
361
Eine weitere Ebene schließlich tangiert die Entscheidungsmechanismen des politischen Systems und die Bedeutung von Konsens bzw. Kompromiss. Die Einhelligkeit von Kommission, Wissenschaft und gesellschaftlichen Gruppen führt nicht zu einem Konsens im politisch-parlamentarischen Raum. Denn von Anbeginn wird hier seitens der Regierung nicht etwa für einen gesellschaftspolitischen Konsens, sondern für einen parteipolitischen Kompromiss geworben, infolgedessen die Konsensexpertise der Kommission vom politischen Gegner als »nicht praxistaugliches«, »konsensuales Ergebnis der Edelmenschen« wahrgenommen (Interview Zylajew: 42). Darüber entwickelt sich eine mehrstufige und zeitintensive Auseinandersetzung, in die alle politischen Akteure massiv investieren und die durch Kompromisse gelöst wird, in denen alle Beteiligten »ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt [haben], von ihnen vertretene Positionen im Interesse einer gemeinsamen Lösung im Einzelfall zurückzustellen.«796 Und auch die Analyse der Entscheidungsprozesse beim Policymaking kennzeichnet das Zuwanderungsgesetz – beschrieben aus der Sicht eines beteiligten Akteurs und ganz im Sinne von Lehmbruchs (2000) Parteienwettbewerb im Bundesstaat – somit als typisches Produkt deutscher Politik. Es ist das Ergebnis eines politischen Systems, das, wenn es funktionieren soll, zum Kompromiss, zum Konsens zwingt. Wenn wir uns fragen, wie viele Kompromisse in dem Gesetz stecken, sind folgende zu nennen: die Einigung innerhalb der Bundesregierung, die zu dem Entwurf im Jahr 2001 geführt hatte, Kompromisse innerhalb von Bündnis 90/Die Grünen, der SPD und der Union, zwischen der bayerischen Staatskanzlei und der CSU-Bundestagsgruppe, zwischen den Ländern Bayern, Saarland und Hessen, um nur einige zu nennen. (Walter Zuber, BR-Sten-Ber. 802 vom 9. Juli 2004: 342B)
Die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« erwähnt Zuber mit keiner Silbe. Diese Leerstelle mag einerseits symptomatischer Ausdruck für die geringe Nachhaltigkeit wissenschaftlicher Migrationspolitikberatung in Deutschland sein, ist gleichzeitig aber auch ein Indiz dafür, dass die Pfadabhängigkeit des Regierens und Komplexität der parlamentarischen Gesetzgebung in einem kontroversen Politikfeld durch die Zuwanderungskommission keine merkliche Ablenkung erfahren haben.
Zwischenfazit Aus der Analyse des Post-Kommissionsprozesses der Süssmuth-Kommission ergibt sich die These, dass Regierungskommissionen für Gesetzgebungsprozesse in umstrittenen oder heiklen politischen Themenbereichen eine ermöglichende Funktion haben können. Bezüglich der legislativ-parlamentarischen Abläufe scheinen sie jedoch keine materiell nachhaltigen Einflüsse auf Entscheidungsprozesse zu zeitigen. Nicht ihren inhaltlichen Vorschlägen im Sinne einer Implementation ihres Policy-Programms wird seitens des Gesetzgebers gefolgt, sondern eher einer allgemeinen Intention der Reformierung des Politikfeldes an sich, die auch durch andere Akteure bereits zuvor vertreten wird oder die diese anderen Akteure durch die Initiierung der Kommission sich zu Eigen machen.
796 Peter Müller, BR-Sten-Ber. 802 vom 9. Juli 2004: 338C; vgl. auch Jörg Schönbohm, ebd.: 343D. Wenn dabei im parlamentarischen Raum auch von »Konsens« die Rede ist (so etwa bei Otto Schily, BT-Pl.Pr. 15/118 vom 1. Juli 2004: 10718B und Peter Müller, BR-Sten-Ber. 802 vom 9. Juli 2004: 338C), bezieht sich dies stets auf die Einigkeit aller Beteiligten darüber, dass ein Reformvorhaben mit bestimmten Regelungsinhalten im Politikfeld durchgeführt werden soll (vgl. zur ursprünglichen Reichweite dieses »Grundkonsenses« Hailbronner 2001: 7).
362
3 Die Zuwanderungskommission im Politikprozess
Der materielle »Politikberatungseffekt« der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« ist mithin äußerst begrenzt, eine direkte Programm-Implementation, abgesehen von einzelnen z.T. kontingenten Parallelen zwischen Kommissionsreport und Gesetzestext, nicht feststellbar. Der abstrakte »Erfolg« der Süssmuth-Kommission – und damit gleichsam der Erfolg des Regierens – ist zunächst vielmehr jenseits rechtsförmiger Politikinhalte zu verorten: Im öffentlichkeitswirksamen Thematisieren, »Besetzen« und »Nach-vorne-bringen« eines politisch umstrittenen Themas (Agendasetting), in der Einbeziehung eines breiten Interessen- bzw. Wissensspektrums im Stadium prä-parlamentarischer Diskussionssprozessse (Partizipation, Artikulation, Deliberation), in der Prägung und Rahmung der weiteren Beratung durch einen vergleichsweise innovativen Bericht auf erhöhtem Wissensniveau (Expertise), in der impliziten »Verpflichtung« aller beteiligten Akteure, zu dem Beratungsprozess bei der Gesetzgebung beizutragen und zu einem Kompromiss zu finden (Investition) – ohne dabei den Prozess der demokratischen Willensbildung in formaler Hinsicht zu korrumpieren. Auf eine griffige, wenn auch sehr verallgemeinernde Funktionsbeschreibung reduziert: Die Kommission dient der Spedition von Politik.
4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Ausgehend von den in der Einleitung sowie am Beginn eines jeden Kapitels formulierten Fragestellungen erfolgt die Darstellung und Interpretation der wesentlichen Ergebnisse auf zwei Analyseebenen. Im Zentrum des ersten Abschnittes stehen politikfeldspezifische Beratungprozesse und die Einordnung des konkreten Untersuchungsgegenstandes in deren historisch-institutionellen Verlauf. Auf der Grundlage des in Kapitel 1.2.3 entwickelten, breiten Verständnisses von Policy-Beratung wird hier in sechs Einzelbefunden insbesondere dargestellt, welchem qualitativen Wandel die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse im Politikfeld Migration gegenwärtig unterliegen und ob bzw. inwieweit die Zuwanderungskommission nachhaltig auf das migrationspolitische Beratungsregime gewirkt hat. Der zweite Abschnitt nimmt den abstrakten Untersuchungsgegenstand in den Blick, wobei zehn Ergebnisthesen zum Regieren mit Kommissionen aufgestellt werden. Im Wirken von Regierungskommissionen diagnostizierten kritische Beobachter nicht zuletzt ein Spannungsverhältnis zur Entscheidungshoheit des Parlaments, so dass im Rahmen der empirischen Studie u.a. die These der »Entparlamentarisierung« überprüft wird. Ausgehend von den abstrahierten Befunden der Fallstudie zur Zuwanderungskommission wird also einerseits diskutiert, ob und inwieweit diese kritischen Zuschreibungen tatsächlich zutreffen, andererseits, welche instrumentell-strategischen und normativen Dimensionen modernen Regierens mittels gubernativer Kommissionen ins Werk gesetzt werden. Zusätzlich werden die aus der Fallstudie in Kapitel 3 erarbeiteten Thesen punktuell mit den Ergebnissen parallel entstandener Forschungsarbeiten zu Regierungskommissionen kontrastiert.797 Das Kapitel endet mit der Skizzierung des weiteren Forschungsbedarfs sowie einem subjektiven Fazit. 4.1 Die Zuwanderungskommission und das Beratungsregime der Migrationspolitik: Zentrale Befunde 4.1 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde 1. Die Befassung einer unabhängigen Kommission bedeutet im Vergleich zu früheren Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsvorbereitung eine transparente, öffentlichkeitswirksame und unabhängige Form der regierungsseitigen Migrationspolitikberatung. Durch die tendenziell verbreiterte Beteiligung von Wissenschaft, Verbänden und gesellschaftlichen Gruppen an einem intensiven Beratungsprozess wurde die Kommission temporär zu einem aktiven Bestandteil des migrationspolitischen Beratungsregimes, dessen diskursivöffentlichkeitswirksame Potentiale jedoch bei weitem nicht voll genutzt wurden. 797 Insbesondere zu den in ähnlicher Weise wie die Zuwanderungskommission wirkenden sog. Hartz- und RürupKommissionen liegen dahingehend verwertbare Analysen vor (vgl. v.a. Brede 2006; Dyson 2005; Fleckenstein 2004; Krick 2006; Lamping 2006; Schmid, G. 2003a; Siefken 2006a, 2007; Weimar 2004).
364
4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Die Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in der deutschen Migrationspolitikberatung waren ursprünglich in hohem Maße auf Regierung und Ministerialbürokratie in Bund und Ländern konzentriert. Neben der Arbeitsverwaltung wurden stellenweise auch gewerkschaftliche und unternehmerische Interessen berücksichtigt. Als kennzeichnendes Element der frühen deutschen Ausländerpolitikformulierung wurde von verschiedenen Autoren der Ausschluss des Parlaments als Diskurs- und Entscheidungsarena erkannt. Die Asylpolitik war aufgrund föderaler Zuständigkeiten ebenfalls eine Domäne der Länder-Innenministerialbürokratien und verschiedener interministerieller und Bund-LänderKommissionen. Im Zuge polemischer Asylrechtsdebatten und der »Zuwanderungskrise« der frühen 1990er Jahre gelangten Beratungsprozesse wesentlich stärker in den parlamentarischen Fokus, wurden dort aber wenig sachlich und überlagert von Parteienstreit geführt und endeten in Kompromissen. Die tatsächlichen Willensbildungs- und Beratungsprozesse im Politikfeld Migration waren also stets eng auf gouvernementale bzw. parteipolitischparlamentarische Ebenen bezogen. Struktur, Arbeitsmodus und Interaktionsformen der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« bildeten dazu eine deutliche Weiterentwicklung. Sie garantierten eine unabhängigere, stärker wissensbasierte, auf Konsens aller gesellschaftlichen Interessengruppen ausgerichtete und öffentlichkeitsorientierte Politikberatung, die den entscheidungsrelevanten Beratungsprozessen unmittelbar vorgeschaltet war. Erstmals standen nicht kollektive Akteure im Vordergrund eines Beratungsgremiums in der Migrationspolitik, sondern Individuen. In früheren Kommissionsberichten waren häufig die Namen der Teilnehmer gar nicht aufgetaucht, es wurde vom »Vertreter des Landes Hessen« oder vom »Bevollmächtigten der evangelischen Kirche« gesprochen; die Kommissionsmitglieder blieben gesichtslos und ersetzbar. Dies führte zum einen dazu, dass diese Beratungsgremien nicht sichtbar verantwortlich (im Sinne von accountability) für das waren, was sie in ihren »anonymen« Bericht schrieben. Der Report der Süssmuth-Kommission war ihren teilweise prominenten Mitgliedern hingegen unmittelbar zuzurechnen und implizierte ein höheres Maß an Verbindlichkeit, Wirkmächtigkeit und Diskutierbarkeit der Beratungsleistung. Zum zweiten wirkte die Arbeit des Gremiums als »Katalysator einer breiten Debatte unter den politischen, wirtschaftlichen und religiösen Eliten der Bundesrepublik« (Münz 2001: 11). Wegen ihrer hochkarätigen Besetzung und ihrer über Medien und Organisationen in die Gesellschaft vermittelten Ideen wurde die Kommission zu einem ernst genommenen Akteur im Beratungsnetzwerk. Ein großer Teil ihrer Mitglieder wirkte aufklärend und werbend in die Öffentlichkeit. In einem fragmentierten und umstrittenen Politikfeld, dessen Facetten durch die übergreifende Bedeutung des hoheitsstaatlichen Ausländerrechts und die damit verbundene Dominanz des BMI gelegentlich überlagert werden, sorgte die Zuwanderungskommission kausal für öffentliche Diskussion und parteipolitischen Diskurs. Ausdruck einer intentional vollzogenen Wende seitens der Regierung zu einem Paradigma deliberativ-partizipativer Policy-Beratung in der Migrationspolitik ist die Zuwanderungskommission hingegen nicht. Zu klar treten in der Analyse die Steuerungsabsichten der Regierung zu Tage, zu deutlich fiel beim Zuwanderungsgesetz der Rekurs auf herkömmliche Politikberatungs- und -entscheidungsprozesse durch föderale und parteipolitische Verhandlungen aus, zu wenig hielten BMI und Regierungsparteien an einer Verbreiterung des migrationspolitischen Beratungsregimes fest. Zentrales Versäumnis guten Regierens im Hinblick auf die beratenen Policy-Inhalte war es jedoch, keine größeren Anstrengungen unternommen zu haben, den erreichten Elitenkonsens durch werbende, aufkläreri-
4.1 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde
365
sche und edukative Maßnahmen in einen breiten, gesamtgesellschaftlichen Basiskonsens zu überführen. Eine Reihe von Möglichkeiten hätte sich dafür angeboten: Die »Verbreiterung« des Kommissionsmandates dahingehend, dem Gremium im letzten Drittel ihrer Arbeit größere Nähe zur Gesellschaft zu erlauben und beispielsweise Ortstermine der Kommissionsarbeitsgruppen zur Legitimation und Überprüfung ihrer Konzepte oder zentrale, regionale und virtuelle öffentliche Foren zur Diskussion durchzuführen; Die »Verlängerung« des Kommissionsmandates durch zusätzliche Mittel und Zeitbudgets für breit organisierte Öffentlichkeitsarbeit im Anschluss an die Programmarbeit. Die konzertierte, nicht als parteipolitische Profilierung zu missbrauchende Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit durch die Bundesregierung. Hier hätte man sich beispielsweise an der Kampagne zum neuen Staatsangehörigkeitsrecht orientieren können, bei der mittels einer Agentur eine eigene »Marke« kreiert und mittels Informationsbroschüren, Anzeigen und Plakataktionen sowie einem eigenen Internetauftritt www.einbuergerung.de verbreitet wurde.798 Auf diese Weise hätten Ängste abgebaut, der Realitätssinn der Bürger geschärft und Akzeptanz für gesteuerte Einwanderung und humanitär begründete Aufnahme geschaffen werden können. Der erreichte Elitenkonsens reichte indes nicht aus um breite Legitimation für eine umfassende Reform im Sinne der Süssmuth-Kommission zu schaffen.
2. Die Zuwanderungskommission hat nicht zur nachhaltigen Installierung eines unabhängigen Faktors innerhalb des Beratungsregimes zur Entscheidungsvorbereitung in der Migrationspolitik übergeleitet – ein dauerhafter »Zuwanderungsrat« scheiterte. Stattdessen sind in der Beratung migrationspolitischer Sachverhalte die Innenministerialbürokratien von Bund und Ländern, das BAMF als para-ministerielle Oberbehörde mit weitreichenden Steuerungsfunktionen unter der Ägide des BMI sowie die Parteien machtvolle Akteure. Sie bedienen sich externer Expertise und diskursiver Beratungsformen äußert selektiv. Darüberhinaus werden partizipative, aber hochgradig symbolische und nicht unmittelbar entscheidungsrelevante Beratungsformen geschaffen. Dietrich Thränhardt (2009) erkennt gar einen »neuen zentralistischen Etatismus in der Entscheidungsfindung«. Die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« kann vor diesem Hintergrund allenfalls als temporäres, öffentlichkeitswirksames Gegengewicht zur traditionell machtvollen Stellung des BMI interpretiert werden. Insbesondere die von ihr vorgeschlagene Institutionalisierung einer neuen unabhängigen Beratungsinstanz hätte dieses Gegengewicht verstetigt – in dem es gesetz- und verordnungsmäßig legalisiert und damit dauerhaft legitimiert worden wäre. Diesen Schritt zu tun waren insbesondere die parteipolitischen Veto-Spieler nicht bereit; die politikgestaltenden Kapazitäten (und der politische Wille!) der Regierung reichten demgegenüber nicht aus, um an dem Konzept festzuhalten und einen fortgesetzten Dissens in einem Teilbereich der Migrationspolitik zu riskieren. 798 Der Einbürgerungs-Website, die über ein eigenes Logo und Webdesign verfügte, wurde allerdings 2008 vom Netz genommen und ihre Inhalte modifiziert in das normale Webangebot der Bundesregierung übernommen.
366
4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Insbesondere bei CSU, CDU und Sozialdemokraten ist offenbar weiterhin mehrheitlich die Auffassung vorherrschend, Migrationspolitik sei in erster Linie hoheitliche Ordnungspolitik, die primär innenpolitisch zu kontrollieren und zu begrenzen ist. In diesem Zusammenhang spielt auch die sprichwörtliche Rolle der Innenminister von Nationalstaaten als Hüter territorialer Sicherheit und ordnungspolitischer Maximen eine Rolle, dem sich deutsche Innenminister über Jahrzehnte verpflichtet fühlten. Auch Schily hatte bereits vor seinem Ministeramt die »Metamorphose vom bürgerrechtsorientierten Liberalen zum sicherheitsfixierten Konservativen abgeschlossen« (Reinecke 2003: 323). Spätestens durch die Gefährdungslage nach den Ereignissen von New York, Washington und später Madrid wurde Schily in einem solchen Rollenverständnis gestärkt. Die Terroranschläge zwangen ihn zu responsivem Verhalten gegenüber einem höheren Sicherheitsbedürfnis der Öffentlichkeit. Das seit 2004 herausgebildete institutionelle Beratungsregime der Migrationspolitik jedoch als Backlash im Sinne einer »Re-Gouvernementalisierung« von Politikberatungsprozessen zu bezeichnen, würde indes zu weit führen. Denn faktisch war die Beratungslandschaft zu keiner Zeit »ent-gouvernementalisiert«. In der Migrationspolitik verfügten (und verfügen weiterhin) die Ausländerverwaltungen über erhebliche Handlungsspielräume, wie nicht zuletzt der Konflikt um die Anwendung des § 25 AufenthG deutlich macht. Hier bestätigt sich eine zentrale Erkenntnis der modernen Verwaltungsforschung, nach der für die Verwaltung »Gesetze eher Landkarten als Zügel« sind (Jann 1998: 259) und deren Rechtsanwendung nicht zwingend dem Willen des Gesetzgebers entspricht. Inwieweit die Inszenierung von Foren im Rahmen der Integrationsgipfel und der Deutschen Islam-Konferenz eine Entwicklung zu einem eher deliberativen Beratungsregime andeutet, lässt sich noch nicht absehen. Jedenfalls bedeuten diese Veranstaltungen eine stark öffentlichkeitswirksame und regierungszentrierte Form der Konsultation. Es drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass sie nur geringe Auswirkungen auf die materielle Politik mit sich bringen und in erster Linie in der Beratung integrationspolitischer Aufgaben »zweiter Ordnung« verharren. Denn die rechtlich bedeutsamen Entscheidungen fallen zur gleichen Zeit eher im ministeriellen, föderalen und parteipolitischen Raum. Zunächst ist die ungebrochene Beratungsmacht der IMK zu nennen. So veränderten beispielsweise mehrere Beschlüsse der Konferenz vom Mai 2006 die Grundausrichtung der deutschen Einbürgerungs- und Integrationspolitik wahrnehmbar (vgl. Kap. 3.4.3.4). Und erst als die Innenminister sich auf eine Minimallösung beim Bleiberecht geeinigt hatten, wurde der Weg für eine bundesgesetzliche Lösung gangbar. Zum Zweiten muss auf die starke Position der Union innerhalb der Bundesregierung und im Deutschen Bundestag verwiesen werden. Innenminister Schäuble schlug aus Anlass der Umsetzung von elf EURichtlinien »nebenbei« verschiedene Verschärfungen im Aufenthaltsrecht vor, die weder Inhalt des Koalitionsvertrages, noch mit der SPD abgestimmt worden waren, und verhalf damit innerhalb der Bundesregierung der CDU/CSU-Fraktion zu stärkerem Gewicht.799
799 Verdeutlicht wurde diese Dominanz nicht zuletzt durch die Tatsache, dass fast 90 der 221 SPD-Abgeordneten dem großkoalitionären Verhandlungsergebnis zum EU-Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 nicht oder nur unter größten Vorbehalten zustimmten. In persönlichen Erklärungen nach § 31 GO-BT verwiesen die Abgeordneten u.a. darauf, dass die Chancen und Möglichkeiten zur Umsetzung der elf EU-Richtlinien »zugunsten der Betroffenen nicht annähernd ausgeschöpft, sondern hart an der Grenze des nach EU-Recht gerade noch Zulässigen umgesetzt worden« seien, und dass rund die Hälfte der Regelungen mit der Richtlinienumsetzung im engeren Sinne »nichts zu tun« hätten, sondern Rechtsänderungen aufgrund der Evaluierung des Zuwanderungskompromisses, der Wün-
4.1 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde
367
Auch das Amt der Integrationsbeauftragten ging in den Koalitionsverhandlungen 2005 an die CDU. Was zunächst nach einer Stärkung der advokatorischen Position der Beauftragten für die Belange von Migrantinnen und Migranten innerhalb der Bundesregierung aussah (das Amt wurde von Angela Merkel beim Kanzleramt angesiedelt und die neue Beauftragte Maria Böhmer wurde zur Staatsministerin für Integration ernannt), entwickelte sich aus Sicht von Kritikern dahingehend zu einer Enttäuschung, dass Böhmer die parteipolitischen Positionen des Innenministers bzw. ihrer Fraktion in leicht abgeschwächter Form sekundierte. Innerhalb der Koalition wurde z.T. offene Kritik laut. So äußerte der Vorsitzende des Innenausschusses Sebastian Edathy, Böhmer fülle ihre Rolle als Brückenbauerin nicht richtig aus; ein SPD-Abgeordneter kritisierte, sie dürfe nicht nur »Vollstreckungsbeauftragte ihrer Partei« sein.800 Auch ihr Verhältnis zu den Migrantenorganisationen ist alles andere als spannungsfrei; insbesondere der Vorwurf der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), Böhmer sei mit ihrem Amt überfordert, und Böhmers darauf erfolgte Entscheidung, ihre bereits zugesagte Teilnahme am Bundeskongress der TGD abzusagen, erregten negatives Aufsehen.801 Dennoch gelang es Böhmer, im kritischen Dialog mit den Verbänden zu bleiben; am dritten Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt nahmen auch jene Vertreter wieder teil, die den vorherigen Gipfel aus Protest gegen die von der CDU/CSU favorisierten Restriktionen beim Ehegattennachzug aus dem Ausland boykottiert hatten.802 Während der Großen Koalition zwischen 2005 und 2009 nehmen sich Beratungsprozesse im Politikfeld Migration im Hinblick auf die Einbeziehung unabhängigen, wissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Sachverstandes nur wenig verändert aus. Weiterhin sichern sie den staatlich-exekutiven und parteipolitischen Akteuren ein hohes Maß an Beratungsmacht. Die Zentralisierung migrationspolitischer Entscheidungsprozesse im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge geht tendenziell mit einer Reduzierung des pluralistischen Prozesses einher, was – so Dietrich Thränhardt – aus der Sicht der vergleichenden Policy-Forschung bemerkenswert sei. Im Gegensatz zur weltweiten Tendenz, staatliche Aufgaben zu privatisieren oder zu kommerzialisieren, werde »eine neue Integrationsbürokratie mit einem assimilativen Programm aufgebaut« (Thränhardt 2009: 167).
3. Das Wirken der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« hat vor dem Hintergrund des doppelten Gesetzgebungsverfahrens zum Zuwanderungsgesetz in prozessualer Hinsicht keinen nachhaltig manipulierenden Einfluss auf die regelgeleiteten Politikberatungs- und Policymaking-Modalitäten innerhalb des politischen Entscheidungsprozesses ausgeübt.
sche des Bundesministeriums des Innern, zahlreicher Länderinnenminister und der CDU/CSU-Fraktion beinhalteten (Anlagen 4-8, BT-Pl.Pr. 16/103 vom 14. Juni 2007 10640A-10651C). 800 zit.n. FR vom 8. April 2006. 801 vgl. »Nur bedingt integrierbar. Maria Böhmer und der Nationale Integrationsplan«, www.sueddeutsche.de vom 17. Juli 2008 (http://www.sueddeutsche.de/politik/696/448430/text/; 23.04.2009). 802 vgl. MuB 6/2007: 3. In dieser Frage nahm Böhmer jedoch keine Partei für die Verbände und wies im weiteren deren Kritik an der Umsetzung des Nationalen Integrationsplans zurück, wie sie auch die Forderung nach der Einrichtung eines Bundesbeirats ergänzend zum Dialog der Bundesregierung ablehnte (vgl. »Böhmer weist Kritik von Migrantenverbänden an Umsetzung des Nationalen Integrationsplanes zurück«, PM Nr. 376 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 27. Oktober 2008).
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Vielmehr folgten diese Prozesse tradierten Mustern, wie sie auch schon in den mehr als fünfzig Jahren bundesdeutscher Ausländer- und Asylpolitik davor prävalent waren. Zu diesen Beratungsmustern gehören informelle Verhandlungen über einen präparlamentarischen Kompromiss zwischen den Parteien, koalitionsinterne und ressortübergreifende Abstimmungsprozesse, parlamentarische Plenardebatten und Ausschussberatungen inklusive eines umfassenden Sachverständigen-Hearings, Versuche des parteipolitischen Bargaining im Vorfeld der Abstimmung des Bundesrates, eine Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht, Kompromissverfahren in verschiedenen Gremien des Vermittlungsausschusses sowie exekutive Dominanz bei der Interpretation, Evaluierung und Weiterentwicklung des Gesetzes. Seit Gründung der Bundesrepublik ergibt sich ein heterogenes Bild: Von einer äußerst ungleichgewichtigen Ausgangslage bezüglich des ausländerpolitischen Beratungsregimes hat sich ein Einflusswettbewerb herausgebildet, der zwar Konjunkturen unterliegt, aber keine dauerhafte Dominanz bestimmter Akteure oder Akteursgruppen erkennen lässt. Nach Phasen der Regierungsdominanz bei weitgehend außerparlamentarischer Beratung erhielten aufgrund der steigenden parteipolitischen Bedeutung des Themas die Innenpolitiker der Bundestagsfraktionen eine wichtigere Rolle. Bei divergierenden Mehrheiten zwischen Bundestag und Bundesrat führte der Parteienwettbewerb zu Verhandlungskompromissen. In zahlreichen entscheidenden Fragen der Durchführung des Ausländer- und Asylrechts behielt aufgrund der allgemeinen Länderzuständigkeit die IMK nahezu ein Entscheidungsmonopol. Die Analyse des Gesetzgebungsverfahrens zum Zuwanderungsgesetz verdeutlicht, dass sich durch die Zuwanderungskommission daran nachhaltig nichts geändert und insbesondere die Rolle des Parlaments keinerlei Schwächung im Hinblick auf seine Beratungsund Entscheidungskompetenz erfahren hat – auch weil es jegliche Tendenzen zur »Entmachtung« offensiv konterte. Bereits die Etablierung eigener Politikberatungsgremien durch alle Fraktionen bzw. Parteien legte davon erstes Zeugnis ab (vgl. Kap. 3.2.4). Auf sie wirkte die Einsetzung der Kommission initialisierend – und dies zu einem Zeitpunkt eines Gesetzgebungsprozesses, in dem sich dieser für gewöhnlich weniger auf parlamentarischer, denn auf Fachreferentenebene beteiligter Ministerien abspielt. Bereits hier wird das Projekt der Regierung durch Parteien und Fraktionen aktiv begleitet und beraten. Die geäußerte Vermutung, Kommissionen könnten seitens der Gubernative mit dem vorrangigen Ziel installiert werden, Widerstände in den eigenen Reihen des Parlaments argumentativ zu schwächen, findet keine Bestätigung. Der Fall der Zuwanderungskommission offenbart in diesem Punkt einen scheinbar paradoxen Zusammenhang: Die inhaltliche Bezugnahme auf das von ihr erarbeitete Policy-Programm erfolgt generell hochgradig selektiv, und zwar durch Regierungsspitze, Regierungsfraktionen und Opposition. Die größte Übereinstimmung jedoch besteht dabei nicht etwa zum einsetzenden (und durch die Auswahl der Mitglieder auch die Ergebnisse präjudizierenden) Ressort, sondern zu den Fraktionen der Regierungskoalition. Die interfraktionelle Koordinierung erfolgte in informellen Koalitionsgesprächen und -runden mit Ressortminister Schily, in denen aufgrund inhaltlicher Kongruenzen vorrangig die Vertreter der Grünen versuchten, Vorschläge der Zuwanderungskommission zur Stärkung ihrer Position zu instrumentalisieren. Die Einigungsversuche mit der den Bundesrat dominierenden Opposition fanden sowohl in formellen als auch informellen Räumen zwischen Bundestag, Bundesrat bzw. den Innenministerialbürokratien der Länder, BMI und Parteien statt. Der politische Entschei-
4.1 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde
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dungsprozess zeigte aber auch in diesem Punkt keine auffallenden Unterschiede zum Verlauf früherer Gesetzgebungsverfahren, zumal die Union mehrmals darauf verwies, nur auf der Grundlage eines Kabinettsbeschlusses in den dafür vorgesehenen Gremien über einen parlamentarischen Kompromiss zu verhandeln. Vielmehr gestaltete er sich intensiver und langatmiger als bei sonstigen Gesetzgebungsverfahren.803 Einschätzungen, nach denen die Zuwanderungskommission ein Beispiel für die »weitgehende Auslagerung des legislativen Diskurses« in ein außerparlamentarisches Forum gewesen sei (Voßkuhle 2005: 454), sind daher gänzlich unzutreffend.
4. Die konkreten Policy-Empfehlungen der Kommission, dokumentiert in ihrem Abschlussbericht, fanden kaum Eingang in die unmittelbare Gesetzgebung. In einem monodirektionalen Verständnis von Politikberatung als Formulierung eines zur Umsetzung geeigneten PolicyProgramms muss von mangelhafter Implementation gesprochen werden. Die in rechtsmaterieller Hinsicht schlechte Implementationsbilanz der Kommission hat verschiedene Ursachen. Sie kann grundsätzlich mit einer herkömmlichen Begründung für die Nichtberücksichtigung von beratender Expertise im politischen Prozess erklärt werden: den unterschiedlichen Handlungs- bzw. Ziellogiken der Systeme Wissenschaft (Wahrheit, Erkenntnis) und Politik (Macht). Obwohl die Kommission entsprechende Zusammenhänge antizipiert und versucht, ihre Vorschläge pragmatisch daran auszurichten, sorgen »Hintergrundkontingenzen« des politischen Prozesses, nicht zuletzt aber auch der ungünstige Zeitraum im letzten Drittel der Wahlperiode für eine starke parteipolitische Polarisierung. Dabei ist sicher auch zu berücksichtigen, dass Fragen der Ausländerpolitik in der Vergangenheit regelmäßig politisiert und für parteipolitische Auseinandersetzungen instrumentalisiert wurden, was besonders am Handeln der Akteure der CSU deutlich wird. Zum zweiten spielte dabei auch die Kanzlerkandidatur des CSU-Vorsitzenden Stoiber für die Union eine wesentliche Rolle. Doch der parlamentarische Entscheidungsprozess markiert erst die zweite Hürde für die Inhalte des Süssmuth-Berichtes. Denn im Vorfeld versuchen die Bundesregierung und insbesondere Innenminister Schily ihrerseits, den Widerstand der für die Verabschiedung eines Gesetzes benötigten Opposition punktgenau zu antizipieren. Bereits bei der Erstellung des Referentenentwurfes wird daher weniger auf die Inhalte des Kommissionsberichtes als vielmehr auf einen »Abtausch« parteipolitisch umstrittender Policy-Inhalte (hauptsächlich zwischen dem Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen und der CDU/CSU) geachtet und der Versuch eines Vorab-Kompromisses unternommen. Die Kommission fungiert für das federführende Ressort als eine Art »Gemischtwarenladen«, aus dem punktuell legitimitätsbzw. akzeptanzsteigernde Produkte übernommen werden können. Während das BMI also bereits lediglich einzelne Empfehlungen aus dem Kommissionsbericht selektiv in seinen Gesetzentwurf übernimmt, stellt sich die Implementationsbilanz am Ende des Gesetzgebungsverfahrens hochgradig kontingent dar: Im Vermittlungsverfahren »fallen« zentrale Inhalte der übernommenen Empfehlungen – in Abhängigkeit 803 Ein Kommentator stellte gar fest, die Reform des Zuwanderungsrechts habe »die kurioseste Achterbahnfahrt hinter sich, die ein Gesetz in Deutschland je absolvieren musste« (Markus Feldenkirchen, »Der lange Streit um die Zuwanderung«, Das Parlament vom 30. Juni 2003: 16).
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
vom Verhandlungsverlauf bzw. von den Prioritäten und Strategien weniger beteiligter Akteure. Auf dieser Tatsache gründen voreilige Einschätzungen, die Kommission sei zwar demokratietheoretisch unbedenklich gewesen, aber eben politisch auf das Abstellgleis manövriert worden und daher wirkungslos gewesen (vgl. Meister 2004: 33). Die Einsicht in die Wirkungslosigkeit der Kommissionsempfehlungen kann sich indes nur auf die unmittelbare Policy-materielle Implementation beziehen. Eines der Mitglieder der Zuwanderungskommission verband im Experteninterview damit die hoffnungsvolle Erwartung einer mittelfristigen Berücksichtigung: »Unter Umständen blüht noch mal der Walz für diese Ergebnisse« (Interview Schmalz-Jacobsen: 257; vgl. dazu unten Nr. 6).
5. Die Zuwanderungskommission hat jedoch zu einem grundlegenden Wandel im Beratungsdiskurs des Politikfeldes beigetragen. Ihre Einsetzung hat ein politisch »vermintes« Thema enttabuisiert und geöffnet. Dadurch wurde einem basaler Problemkonsens über die Notwendigkeit, Zuwanderung gesetzlich zu regeln, zur Durchsetzung verholfen und der Weg für ein Zuwanderungsgesetz erst gebahnt. Dieses Minimum an grundsätzlichem Ziel- oder Problem-Konsens (issue consensus; vgl. Kap. 1.1.3.1, Nr. 5.) fand seinen Ausdruck erstmals zum Zeitpunkt der Einsetzung eigener Beratungsgremien sämtlicher im Bundestag vertretener Parteien bzw. Fraktionen. Damit anerkannten diese die Notwendigkeit einer Regelung der Zuwanderung und akzeptierten gleichsam mehr oder minder umwunden, dass sich die Bundesrepublik als Einwanderungsland zu verstehen hat. Dies bedeutete den Abschied von einem jahrzehntelangen Tabu. Insbesondere auf die Unionsparteien, die migrationsrelevante Themen in der Vergangenheit wiederholt parteipolitisch instrumentalisiert hatten, wirkte die Kommission damit versachlichend. Um im Parteien- und Beratungswettbewerb bestehen zu können, mussten auch sie konzeptuell arbeiten. So ist u.a. zu erklären, dass bereits während der Arbeit der Müller-Kommission die bis dahin häufig und lautstark vertretene Forderung nach einer Abschaffung des Art. 16 GG verschwand – und seitdem nicht wieder aufgetaucht ist. Auf der anderen Seite wurden auch potenziell problematische Aspekte von Migration benannt und diskutiert, weil einzelne parteipolitischen Akteure vor dem Hintergrund eines allgemein höheren Aufmerksamkeits- und Wissensniveaus bei einer ausschließlich »rosaroten« Betrachtung ebenso unglaubwürdig geworden wären. Für den zentralen Akteur der CDU/CSU-Fraktion bei den Verhandlungen um das Zuwanderungsgesetz bedeutete dies gar das wichtigste Ergebnis der ganzen Kommissionsarbeit: Eine Enttabuisierung des Themas […]. Jeder hatte ja gedacht, wenn wir jetzt über Ausländerpolitik sprechen, dann wird wieder an Ressentiments appelliert, dann gibt es wieder Tumulte und Pogrome – alles falsch!« (Interview Bosbach: 34)
Der durch die Kommission katalysierte Basiskonsens – Klaus J. Bade sprach von einem »Minimalkonsens«804 – führte auf dem Wege politischer Prozessdynamiken zu großen Investitionen und einer impliziten »Verpflichtung« sämtlicher Akteure (auch der »VetoSpieler«), ein Gesetz nicht scheitern zu lassen (vgl. Kap. 3.4.4). Daher liegt die Einschät804
»Einwanderung und die Angst davor«, FAZ vom 16. November 2000: 12.
4.1 Die Zuwanderungskommission: Zentrale Befunde
371
zung eines erfahrenen ministeriellen Beobachters der parteipolitischen Frontstellung in der Migrationspolitik durchaus nahe, nach der »dieser ganze Prozess der Zuwanderungsgesetzgebung ohne diese Zuwanderungskommission nicht möglich gewesen« wäre (Interview Holthey: 149). Hier ist von einer Initialisierungs- und Agenda-Mitbestimmungsfunktion auszugehen, die zu einer positiv besetzten Debatte über Zuwanderung geführt hat – ohne dass man dafür das weitreichende Wort vom Paradigmenwechsel benutzen sollte. Einen breiten Konsens über ein konkretes Policy-Programm konnte die Regierung mittels der Kommission nur im beschränkten Raum der beteiligten Verbände, Kirchen und gesellschaftlichen Organisationen erreichen. Die Frage, ob jenseits dieses »Elitenkonsenses« ein Konsens in der Bevölkerung erreicht werden konnte, lässt sich nicht positiv beantworten. Je nach Fragestellung förderten demoskopische Umfragen zwar einen Meinungswandel mit einem gesteigerten Maß an Akteptanz für zusätzliche Einwanderung hervor. Stets verblieb jedoch ein hohes Maß an Skepsis und Ablehnung gegenüber Ausländern bzw. einem Mehr an Einwanderung.805 Durch intensive Debatten in Öffentlichkeit, gesellschaftlichen Gruppen und Parteien ist jedoch ein Klima entstanden, in dem vollzogene Immigrationsprozesse nicht mehr negiert werden (»Deutschland ist ein Einwanderungsland«), Integration als zentrale Aufgabe betrachtet wird (»miteinander leben auf der Basis des Grundgesetzes«) und die Ermöglichung selektiver Zuwanderung ins kollektive Bewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten gerückt ist (»Zuwanderer können einen Beitrag zur Sicherung ›unserer‹ Renten leisten«). Die Kommission hat also maßgeblichen Anteil am vielfach als überraschend wahrgenommenen Abklingen der traditionellen parteipolitischen Kontroversen hin zu einer Versachlichung der Diskussion, deren Frontenverlauf kaum mehr einem ideologischen LinksRechts-Muster folgt (vgl. Thränhardt 2006: 156f.). Die Befunde der empirischen Untersuchung zur Kommission legen nahe, das Gremium als Vehikel zum »Anpacken« einer relativ grundlegenden Reform zu verstehen, zu der es in dem hoch kontroversen und für wahlkampfbedingten Populismus anfälligen Politikfeld sonst nicht gekommen wäre.
6. Das Policy-Programm der Unabhängigen Kommission Zuwanderung zeitigt mittel- und langfristige Effekte. Der durch die Kommission angestoßene, grundsätzliche Basiskonsens sowie der gefundene Parteienkompromiss haben den Übergang zu einer pragmatischen Beratung des Themas Migration innerhalb der Großen Koalition erleichtert. Dabei werden verschiedene, ursprünglich unberücksichtigte Inhalte des Kommissionsberichtes aufgegriffen und z.T. implementiert. Der durch die Kommission initiierte Politikwandel vollzieht sich also über mehrere Jahre. Trotz vorheriger Instrumentalisierung des Zuwanderungsstreits zur parteipolitischen Profilierung kam es zu einem quasi parteiübergreifenden Beschluss des Zuwanderungsge805 Ausgehend von rund 40% (Deutschland-Ost) bzw. 50% (Deutschland-West) Zustimmung zur GreencardInitiative des Kanzlers im Frühjahr 2000 ermittelte beispielsweise die Forschungsgruppe Wahlen zunächst wachsende Akzeptanz für »utilitaristische« Zuwanderung: Zum Zeitpunkt der Berichtsvorlage der Zuwanderungskommission im Juni/Juli 2001 sprachen sich mehr als 70% der Westdeutschen und mehr als 60% der Ostdeutschen dafür aus, ausländischen Arbeitskräften den Zuzug zu erleichtern, wenn sie in Deutschland gebraucht werden. Diese Werte sanken bis Oktober 2001 wieder auf knapp 50% (Ost) bzw. gut 60% (West). Weitere Befunde der Umfrageforschung finden sich in den Abbildungen 10 und 11.
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
setzes. Bereits die dominante Rolle von Union und SPD im Vermittlungsverfahren und nicht zuletzt die Zustimmung fast aller Abgeordneten von CDU, CSU und SPD zu dem von der Arbeitsgruppe des Vermittlungsausschusses erarbeiteten Kompromissvorschlag symbolisierten ein vorweggenommenes Bündnis, das auch in anderen Politikfeldern als eine Art »informelle Große Koalition« beobachtet worden ist (vgl. Trampusch 2005: 2f.). Als Thema für den vorgezogenen Bundestagswahlkampf nur ein knappes Jahr später bot sich die Zuwanderung daher nicht an. Vielmehr konnte bei den Koalitionsverhandlungen im Herbst des Jahres 2005 direkt auf den Zuwanderungskompromiss aufgebaut werden, weil das neue Aufenthaltsgesetz als zwar veränderbarer (und veränderungsbedürftiger!), aber prinzipiell unverrückbarer Fixpunkt deutscher Innenpolitik von allen Beteiligten anerkannt war. Auf dieser Grundlage konnten sich die Akteure der Großen Koalition relativ problemlos auf ihre migrationspolitische Agenda verständigen. Die leftovers aus dem Vermittlungsverfahren zum Zuwanderungsgesetz erweisen sich dabei größtenteils als Policy-Inhalte, die bereits im Bericht der Zuwanderungskommission enthalten gewesen waren. In diesem Zusammenhang ist sowohl die vereinbarte Evaluierung des Gesetzes nur ein Jahr nach seinem Inkrafttreten zu nennen, als auch die Erörterung des Problems der »Kettenduldungen« und die Überprüfung der Situation der nicht-dokumentierten Migranten.806 Auch wenn das BMI aus dem Prüfbericht »Illegalität« zunächst nur marginalen Änderungsbedarf der Rechtslage schließt, ist die neue Sensibilität für das vormalige Tabu-Thema nicht zuletzt eine Spätfolge des sachten Agendasettings durch die Süssmuth-Kommission – bis hin zur Berücksichtigung ihrer beiden zentralen Anliegen in der Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz 2009. Der Beschluss einer Altfallregelung für langjährig Geduldete, zunächst durch die IMK und schließlich durch den Gesetzgeber, markiert wohl die wichtigste »verspätete« Implementation aus dem Süssmuth-Bericht. Auch im Bereich der Öffnung des Arbeitsmarktes für Zuwanderung zeigen sich spätestens spätestens seit dem Arbeitmigrationssteuerungsgesetz deutliche Orientierungen am Konzept der Kommission. Theoretische Annahmen über die Wirksamkeit von beratenden Regierungskommissionen, nach denen sich häufig erst verzögert Einflüsse auf die Politik ergeben, finden dadurch Bestätigung: Die Umsetzung neuer Erkenntnisse in praktisches politisches Handeln braucht ihre Zeit. […] Die Aufnahme des Gutachtens durch wichtige gesellschaftliche Gruppen und die durch diese Gruppen ausgelöste Diskussion können für die Durchsetzung von Empfehlungen mittelbar von größerer Bedeutung sein als die unmittelbare Aufnahmebereitschaft der Regierung.« (vgl. Kohn 1984: 387f.)
Neben der Tatsache, dass die Policy-Empfehlungen des Süssmuth-Reports offenbar anschlussfähig für die großkoalitionäre Migrationspolitik sind, haben der durch die Kommission mit ausgelöste parteipolitische Zielkonsens einer Regelung der Zuwanderung sowie der parteiübergreifende Kompromiss auch eine »klimatische« Wirkung für die Bearbeitung offener Policy-issues innerhalb der Großen Koalition: Die Novellierungen des Aufenthaltsgesetzes seit 2006 gestaltete sich zwar nicht ohne Konflikte und enthielt zahlreiche Verschärfungen, die den Intentionen der Kommission z.T. widersprachen. Die politische Debatte blieb aber nicht nur wegen des erzwungenen Gleichklangs von SPD und Union von abstrakt-polemischen Grundsatzdebatten im Parlament frei. Auf der Basis einer allgemeinen Akzeptanz migrationspolitischer Grundsätze verlagerten sich Politikprozesse eher auf das pragmatisch-lösungsorientierte »Bearbeiten« offener Problemstellungen, vorrangig im 806
vgl. Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 (s. Fn. 733): 118, Zeilen 5753ff.
4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen
373
Bereich Integration. Die Möglichkeit, Migrationspolitik populistisch und an xenophobe Reflexe appellierend zu instrumentalisieren oder »Ausländerwahlkämpfe« zu führen, scheint seit Anfang des neuen Jahrtausends erheblich eingeschränkt. Ohne dass die Süssmuth-Kommission darauf einen direkten Einfluss gehabt hätte, kann dieses »Clearing« doch als eine Spätfolge ihres Wirkens interpretiert werden. 4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen 1. Die Einsetzung gubernativer Kommissionen ist Ausdruck eines Bemühens um zeitgemäßes Regieren und politische Führung bei inhaltlich und machtpolitisch komplexen PolicyReformen. Die Regierungsspitze sucht damit Einbußen gubernativer Handlungsautonomie zu begegnen, die als Beschränkungen der Regierungsfähigkeit wahrgenommen werden. Allgemein dienen Kommissionen damit der Meta-Aufgabe des Regierens, Konsens zu beschaffen. Konkret stehen sie in Zusammenhang mit unterschiedlichen, strategisch motivierten Intentionen und Erwartungshaltungen, die sich auf machtpolitische, darstellerische und Policy-materielle Ziele konzentrieren. Öffentlichkeitswirksame Kommissionen können als unmittelbarer Ausdruck der Bestrebungen seitens der Gubernative interpretiert werden, Konsens über ihren »Kurs« als Meta-Aufgabe des Regierens herzustellen. Konsens wird in diesem Zusammenhang nicht verstanden im Sinne einer vollständigen Übereinkunft als Resultat vernunfts- und wissensgeleiteter Diskurse, sondern als ein komplexer Begriff, der verschiedene Einzeldimensionen und Handlungsräume umfasst. Dazu gehört das Management von Dissens ebenso wie die Organisation von Kompromissen oder die symbolische Konsensfiktion unter politischen Akteuren bzw. in der Öffentlichkeit. Die Ziele gubernativer Konsensorganisation sind die Erreichung grundsätzlicher Zustimmung zum programmatischen Führungshandeln im Politikfeld (consent), die Förderung politischer Mehrheiten zur Durchsetzung von Regierungspolitik bzw. ihre Legitimierung und die Sicherung elektoraler Bestätigung (Wahlkonsens). Damit können gubernative Kommissionen ein Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit und der Agendagestaltung der Regierung gelten, die der Darstellung von Politik und Regierungshandeln dienen. Hier können sie als Ausdruck verschiedener Regierungstechniken gesehen werden – als Strategien für das Interdependenzmanagement in der Publikumsgesellschaft. In der Konstellation gegengerichteter parteipolitischer Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat sind Kommissionen hingegen nicht unmittelbar darauf gerichtet, den Parteienwettbewerb durch eine dem politischen Prozess vorgeschaltete »informelle Große Koalition«, zu überkommen. Ihre Funktion ist vielmehr in der Beförderung eines Elitenkonsenses der am Beratungsprozess Beteiligten sowie deren Repräsentation für die Gesellschaft zu sehen. Auf der Grundlage dieses Konsenses kann die Findung politischer Entscheidungen auf den etablierten institutionalisierten Wegen sichergestellt oder erleichtert werden. In einer solchen persuasiven und manipulativen Zielfunktion sind sie eine Form des soft government. Im Hinblick auf die konkreten gubernativen Intentionen und Erwartungshaltungen ist die Einsetzung einer Kommission zu einer im Grunde als dringlich empfundenen Fragestellung im Kontext des politischen Tagesgeschäftes zunächst stets ein Zeitgewinn; die Zeit-
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
takte der Politik werden verändert (vgl. Lamping 2006: 236). Für die Monate der Kommissionstätigkeit ergibt sich die Möglichkeit, Handlungsoptionen innerhalb der Exekutive zu erörtern, die auch die öffentlichen Reaktionen auf zwischenzeitlich publik gewordene Policy-Inhalte der Kommission berücksichtigen können. Wie die Süssmuth-Kommission hatten zwar auch die Kommissionen von Peter Hartz und Bert Rürup klare Regelungen zur Vertraulichkeit der Beratungen und ihrer Ergebnisse getroffen (vgl. Siefken 2007: 194; Brede 2006: 270), doch gelangten in beiden Fällen die wesentlichen Inhalte im Vorfeld an die Öffentlichkeit und wurden von den Medien rezipiert – im Falle der Hartz-Kommission durch ein gesteuertes »going public« des Vorsitzenden in den meinungsbildenden Printmedien Spiegel und Frankfurter Allgemeine (vgl. Siefken 2007: 202f.), bei Rürup durch mehrfaches, anscheinend hemmungsloses Durchbrechen des Vertraulichkeitsgrundsatzes durch einzelne Kommissionsmitglieder (vgl. Brede 2006: 270) bzw. die durch die Bundesregierung angeregte schrittweise Vorlage vorläufiger Ergebnisse der drei inhaltlichen Arbeitsgruppen (vgl. ebd.: 276ff.). Auf der Darstellungsebene von Politik ist mit der Befassung einer öffentlichkeitswirksamen Kommission auch die Demonstration von Handlungsfähigkeit im Sinne politischer Führung verbunden.807 Dem einem Thema zugeschriebenen Maß an Relevanz und Komplexität wird auf zweifacher Weise begegnet: durch die Beauftragung von Experten und durch die gleichzeitige, evtl. nur scheinbar gegebene Ausgewogenheit bei der Besetzung mit Wissenschaftlern, Interessenvertretern und überparteilich akzeptierten Persönlichkeiten – Kenneth Dyson spricht von der »dualen Legitimität von Expertise und Konsens« (Dyson 2005: 225). Erwartet werden kann ein auf fachlicher Expertise basierendes PolicyProgramm, dessen Inhalte in ihren Auswirkungen auf gesellschaftliche Interessenlagen bereits ein gewisses Maß an Balance aufweisen und damit akzeptanzfördernd bzw. legitimierend wirken können. Damit kann ein Thema in der Öffentlichkeit vorangebracht bzw. dem grundlegenden Gegenstand einer Reform mehr Nachdruck und Bedeutung verliehen werden, insbesondere wenn ein Politikwechsel vollzogen werden soll. Die differenzierte Auswahl der Kommissionsmitglieder soll die Grundrichtung des erhofften Ergebnisses mitbestimmen. Ebenso wie die Nichtberücksichtigung tatsächlicher Meinungsträger der Opposition in der Süssmuth-Kommission entspricht dem im Falle der Hartz-Kommission der Verzicht auf die sonst übliche Drittelparität in sozialpolitischen Beratungsgremien (Siefken 2006a: 376). Neben zwei Wissenschaftlern, je einem Vertreter der Länder, der Kommunen und der BA saßen nicht etwa die Spitzenvertreter der Sozialpartner am Tisch, sondern der Generalsekretär des Zentralverbandes des Deutschen Handwerkes HannsEberhard Schleyer, der Bezirksleiter der IG-Metall NRW Peter Gasse und Isolde KunkelWeber als Mitglied des ver.di-Bundesvorstandes. Die übrigen Kommissionsmitglieder neben Hartz selbst waren drei Repräsentanten des Managements wichtiger Unternehmen sowie drei Vertreter kommerzieller Beratungsfirmen.808 Hilfreich ist offenbar auch die »adpersonam«-Berufung grundsätzlich kompromissbereiter Akteure, die innerhalb der Kommission kooperative Interaktion ermöglicht. 807
Jedoch ist dies nie die ausschließliche Funktion. Die Einsetzung von Kommissionen erfolgt zwar häufig in Reaktion auf externe Ereignisse, geht i.d.R. aber über reine Symbol- oder Placebo-Politik hinaus (vgl. Siefken 2007: 288f., 315f.). 808 Die Gruppe der sechs Letztgenannten entwickelte jedoch offenbar eine gewisse Meinungs- bzw. Vermittlungsführerschaft dahingehend, dass sie als dominant für den Kommissionsprozess wahrgenommen wurde. So schreibt der Sozialwissenschaftler Günther Schmid (2003a: 76): »Ganz eindeutig überwogen die Unternehmensvertreter, darunter Interessenvertreter des professionellen und kommerziellen Change Managements.«
4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen
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Im Fall der Rürup-Kommission wurde eine stärker »korporatistische« Mitgliederauswahl unter Beteiligung der höchsten Ebenen der Sozialpartner getroffen, auch weil die Besetzungsliste ein vergleichsweise ernster Streitgegenstand innerhalb des gubernativen Verantwortungsbereichs zwischen Kanzleramt und dem neu zugeschnittenen Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung (BMGS) unter Ulla Schmidt war. Die Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme sollte in den Planungen des Kanzleramtes wie die Hartz-Kommission zunächst nur 15 Mitglieder umfassen, schwerpunktmäßig Wissenschaftler. Ihr Vorsitzender Rürup wurde de facto von Bundeskanzler Schröder berufen (vgl. Brede 2006: 256). Das BMGS bestand jedoch – vermutlich unter starkem Einfluss der SPD-Fraktion809 – auf die Ansiedlung in seinem Verantwortungsbereich und wollte seine Interessen u.a. durch die Vollmitgliedschaft eines beamteten Staatssekretärs in angemessener Weise vertreten sehen (vgl. dazu unten Nr. 4). Daneben berief Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ihren politischen Berater in Gesundheitsfragen Karl Lauterbach in das Gremium, der in verschiedenen Fragen bekanntermaßen mit Bert Rürup dissentierte.810 Dieser Sachverhalt verweist gleichzeitig auf machtpolitische Intentionen des Regierens mit Kommissionen, die wiederum in zwei Hauptrichtungen zielen können. Zum einen kann das Ziel in der Disziplinierung, Steuerung oder Vorfestlegung der Regierungsfraktionen oder der Ressortführungen auf eine bestimmte »Linie« bestehen, also in der Schwächung der Opponenten einer Reform in den eigenen Reihen. Ein solches Motiv, was für die Süssmuth-Kommission eher nachrangig war, bestand insbesondere im Fall der HartzKommission (vgl. Dyson 2005; Lamping 2006: 236) und wurde bei der Rürup-Kommission erfolgreich ex ante gekontert (s.o.): Schmidt was resistant to what she perceived as the clear effort of the Federal Chancellor’s Office to bind her hands through the Rürup Commission […]. Hence she aimed to undermine its capacity to bind her hands by an active role in appointing the members of the commission (Dyson 2005: 240).
Die zweite Zielrichtung ist der politische Gegner. Im Vorfeld von Wahlen oder politischen Entscheidungen erhofft sich die Regierung einen öffentlich vermittelten Imagegewinn gegenüber den Oppositionsparteien, der sich insbesondere im Wahlkonsens als der Zustimmung zur politischen Linie niederschlagen soll. So hat etwa die Arbeit der SüssmuthKommission zu einem kurzzeitigen öffentlichen Meinungswandel hinsichtlich der migrationspolitischen Agenda geführt (vgl. Abb. 10 und 11). Bestimmender war dieser Aspekt im Falle der Hartz-Kommission. Wenngleich die Themen »Oder-Hochwasser« und »IrakKrieg« als entscheidend für die Bundestagswahl 2002 galten, spielte auch die Kommission eine bedeutende Rolle (vgl. i.E. Siefken 2007: 217ff.). Aus staatsrechtlicher Sicht ist die 809 so das Kommissionsmitglied Frank Nullmeier im Vortrag »Sozialstaatsreform und Expertenrat – Die Arbeit der Rürup-Kommission aus politikwissenschaftlicher Sicht«, gehalten am 30. Juni 2004 im Rahmen des Sozialpolitischen Kolloquiums an der Justus-Liebig-Universität Gießen. 810 vgl. Dyson (2005: 241), Lamping (2006: 241); »Der Ministerin-Flüsterer«, Rheinischer Merkur Nr. 19 vom 8. Mai 2003; »Ein Freund der SPD-Linken«, FAZamSo vom 20. April 2003: 33. Zum Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen vgl. insb. Brede (2006: 204ff.). Falko Brede interpretiert die Besetzung der Kommission als »Musterbeispiel für die stark von neokorporatistischen Aushandlungsmustern geprägte deutsche Politikberatungstradition« (Brede 2006: 257), wobei das Ziel der verantwortlichen Akteure darin bestand, »durch die Einbeziehung von Praktikern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens neben wissenschaftlichen Experten möglichst die Breite des gesellschaftlichen Meinungsbildes zu berücksichtigen […]. Einige Mitglieder der Kommission kamen zwar aus Verbänden und Gewerkschaften, berufen wurden sie jedoch nicht wegen ihrer beruflichen Funktion; sie wurden als Persönlichkeiten ausgewählt.« (Rürup & Tiemann 2006: 393)
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Instrumentalisierung der Kommission u.a. aufgrund eines Verstoßes gegen implizit verfassungsrechtliche Normen der Zurückhaltung sogar als unzulässige Wahlkampfhilfe beurteilt worden (vgl. Meßerschmidt 2004).
2. Das Regieren »mit« Kommissionen ist ein hochgradig komplexes Unterfangen. Es dispensiert die Regierung nicht von den mühsamen Einigungsprozessen in formellen und informellen Räumen des politischen Systems. Die Einsetzung einer Kommission schafft ein zusätzliches Institut mit zahlreichen Akteuren, die in einem meist ohnehin bereits hochgradig interdependenten Policy-Netzwerk neue Dynamiken und Unwägbarkeiten entfalten können und deren Handeln und Ergebnisse koordiniert bzw. für die Ziele der Regierung »nutzbar« gemacht werden müssen. Mit der Installierung eines »unabhängigen« Gremiums und dessen konstituierender Sitzung gewinnt die Regierungsspitze einerseits Freiräume, da sie ein heikles politisches Thema für einen gewissen Zeitraum einer anderen Instanz überantwortet. Gleichzeitig gibt sie im Hinblick auf den Verlauf der politischen Debatte aber auch das Heft des Handelns (zumindest symbolisch) weitgehend aus der Hand: Während die Kommission agiert, ist der Ressortminister in seinem Handlungsspielraum eingeschränkt. Alle Möglichkeiten des Austausches und des Einflusses auf Inhalt und Arbeitsweise der Kommission müssen im Prinzip vorher überlegt sein. Insbesondere besteht die Gefahr des »Selbstläufertums« der Kommission, des Beharrens auf »zu« große Eigenständigkeit, des inhaltlichen »Entgleitens« oder des offen ausgetragenen Streits, weswegen die Kommission von Seiten des einsetzenden Ressorts, aber auch des Bundeskanzleramts mit Argusaugen beobachtet wird. Deutlich wird dies an der Rürup-Kommission: Da sich das Gremium in der zweiten Hälfte seines Mandats im Frühjahr 2003 in einem fortgesetzten Dissens über das Grundmodell einer zukünftigen Krankenversicherung befand und die Regierung durch negative publicity in die Gefahr brachte, öffentlich in Misskredit zu geraten (vgl. Lamping 2006: 245), fühlte sich diese laufend dazu genötigt, prämatur lancierte Aussagen von Kommissionsmitgliedern zu kommentieren und ihre eigenen Grundsätze darzustellen (vgl. Brede 2006: 270ff.). Außerdem folgte eine öffentlich gemachte Drohung durch den Bundeskanzler, die Kommission vorzeitig zu beenden.811 Aus den Umständen der Kommissionsarbeit und externen politischen Faktoren erwuchs das taktische Vorgehen, bereits vor Abschluss der Kommissionsarbeit mit der Union Konsensgespräche über eine kurzfristige Gesundheitsreform einzuleiten. Dazu wurde die Kommission angehalten, entgegen ursprünglicher Zeitpläne ihre Arbeit noch vor der parlamentarischen Sommerpause abzuschließen und bereits Anfang April 2003 Empfehlungen zur Finanzierungsreform der Krankenversicherung vorzulegen (vgl. ebd.: 272f.). Noch vor Abschluss der Kommissionsarbeit kam es bei Spitzenverhandlungen auf informeller Ebene zwischen Gesundheitsministerin Schmidt und dem Sozialexperten der Union Horst Seehofer am 21. Juli 2003 zu einer politischen Einigung,
811 Im Hinblick auf unabgestimmte Einzelvorschläge aus der Kommission erklärte er angeblich vor dem SPDParteivorstand: »Wenn das nicht zu stoppen ist, wird die Kommission aufgelöst« (zit.n. HB vom 28. März 2003) – eine Option, die nach Angaben des Kommissionsvorsitzenden und des Staatssekretärs im Ministerium jedoch nie ernsthaft erwogen wurde (vgl. Brede 2006: 275).
4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen
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über die bereits im September parlamentarisch Beschluss gefasst wurde (vgl. Trampusch 2005: 15). Regieren verstanden als das Management von Komplexität, Kontingenzen und Interdependenzen beim Policymaking wird durch das »Zwischenschalten« einer Kommission also nicht per se vereinfacht. Im Hinblick auf die Koordination der Regierungsarbeit bleibt die Regierungsspitze auch nach Abschluss der Kommissionsarbeit zunächst auf die Herstellung eines Konsenses unter den politischen Partnern angewiesen. Beim Entwurf eines Gesetzes kann ein Kommissionsbericht als Bezugspunkt zwar hilfreich sein, in informellen Verhandlungen können parteipolitische Positionen jedoch unvermindert aufeinanderprallen und – wie im Falle des Zuwanderungsgesetzes – koalitionsgefährdend wirken. In der Folge der Hartz-Kommission fand diese Auseinandersetzung über Policy-Inhalte vor allem im innerparteilichen Bereich der SPD statt, die in einen sozialpolitischen Richtungsstreit eintrat. Auch mit Blick auf die Opposition bedeuten Kommissionen und ihre Arbeit beim konkreten Policymaking zunächst materiell kein stärkeres Präjudiz der Regierung, als ein auf dem »normalen« Wege vorbereiteter Gesetzentwurf. Über die Einsetzung einer Kommission vergrößern sich u.U. sogar die Imponderabilien. Die taktischen Handlungswege der anderen am Gesetzgebungsprozess beteiligten Akteure sind nur schwer auszurechnen, da sie in sich hochkomplex sind. Kontrollabsichten und Einflusswege der Opposition müssen als kaum antizipierbar gelten; auch mit einer Kommission »im Rücken« steht die Regierung »vor einem komplexen Gegenüber, das sich schlecht ausrechnen lässt und mit dem man immer rechnen muß.« (Stadler 1984: 308). Im Hinblick auf die »Sozialstaatskommissionen« à la Hartz und Rürup sind zudem besondere Risiken erkannt worden. Kenneth Dyson (2005) weist dabei insbesondere auf jene Gefahren hin, die seitens der Regierung zu kalkulieren sind, wenn sie eine »Strategie der gebundenen Hände« verfolgt und – wie im Falle der Hartz-Kommission – eine Umsetzung »eins zu eins« ankündigt. Zum einen könne es durch solche Festlegung zum ernsten Konflikt mit machtvollen parteipolitischen Akteuren im eigenen Lager kommen, deren ideologische Überzeugungen dadurch herausgefordert werden. Zum zweiten könnten durch zu starke Vorfestlegung kurzfristig nötige Anpassungsleistungen auf unvorhergesehene Veränderungen im Politikfeld eingeschränkt werden. Schließlich bestünde für die Regierung das Risiko erhöhter Kosten durch elektorale Einbußen, da kurz- und mittelfristig für die Wähler negative Folgen einer Strukturreform bemerkbar werden (wie etwa Leistungskürzungen), positive (wie etwa Abbau der Arbeitslosigkeit) hingegen erst langfristig bzw. jenseits der Legislaturperiode (vgl. ebd. 227). Das Regieren mit Kommissionen bedeutet also keine pauschale »Erleichterung« des gubernativen Steuerungsprozesses, sondern kann sogar mit erhöhten Folgekosten im Bereich der internen Regierungsorganisation, der parlamentarischen Gesetzgebung oder der öffentlichen, wahlentscheidenden Politikdarstellung verbunden sein. Als risikobehaftete Komponente regierungsseitigen Chancenmanagements soll es ein strategischer Beitrag zur Vergrößerung der Handlungsoptionen sein und kann daher auch als Ausdruck »experimentellen Regierens« (Lamping 2006: 248) verstanden werden.
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3. Die Einsetzung einer Kommission wirkt initialisierend auf den öffentlichen und parlamentarischen Meinungsbildungsprozess, unter den politischen Parteien entsteht ein programmatischer Policy-Wettbewerb. Einen umfassenden Policy-Konsens kann eine Kommission in einem in ideologischer, parteipolitischer oder redistributiver Hinsicht kontroversen Politikfeld nicht herbeiführen. Auf der Grundlage ergebnisoffener interner Deliberation und der Berücksichtigung der betroffenen gesellschaftlichen Gruppen kann jedoch ein Elitenkonsens im Policy-Netzwerk erreicht werden, der medial vermittelt auch Meinungswandel und Zustimmung in der Öffentlichkeit befördern kann. Für die Opposition sind gubernative Kommissionen höchst suspekt und unberechenbar – und damit relevant. Für sie ist zum Zeitpunkt der Planungen nicht absehbar, wie die Initiative öffentlich aufgenommen wird, inwieweit sich das Gremium als fähig erweist, konsistent und überzeugend zu arbeiten und welche konkreten Ziele die Regierung damit verfolgt. Daher wird einer Kommission seitens der Opposition ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit zuteil. Es bestehen grundsätzlich drei Möglichkeiten der Reaktion: Die Unterstützung des Regierungsprojektes in inhaltlicher und prozessualer Sicht (Affirmation), die explizite Ablehnung der mit der Kommission verbundenen inhaltlichen Policy-Ziele (Agendaboykott) sowie die Schaffung eigener Kapazitäten zur Beratung des Policy-Issues unter Anerkennung von Handlungsbedarf (Agendaadaption). Der Agendaboykott birgt das Risiko, öffentlich als »rückwärtsgewandt« dazustehen, im elektoralen Wettbewerb abgestraft zu werden und scheidet daher im Prinzip aus. Ebenso wenig scheint akkomodierendes Verhalten durch pure Affirmation der Regierungspolitik für das vote seeking hilfreich zu sein. Es käme aus praktischen Gründen lediglich dann in Frage, wenn eine Überzahl von allseits anerkannten Persönlichkeiten bzw. einzelne Autoritäten, von denen sich die Opposition inhaltlich voll vertreten fühlt, von der Regierung für die Kommission gewonnen werden.812 Sinnvollerweise wird in den meisten Fällen nur die Agendaadaption in Frage kommen; selbst wenn keine öffentlichkeitswirksame »Gegenkommission« installiert wird, wird jedenfalls irgendeine Art von Positionsbestimmung in Gang gesetzt oder forciert werden. Das für politische Reformen notwendige Minimum an issue- oder Problemkonsensus, das meist ohnehin bereits latent vorhanden ist, wird offenbar. Dies konnte im Falle der Süssmuth-Kommission für alle im Bundestag vertretenen Parteien nachgewiesen werden. Dass darüber Verfahrens- und Beteiligungsrechte sowie Stimmenvielfalt und Kontrolle auf Seiten der Opposition verblassen, wie dies Kube (2003: 584) unterstellt, ist hingegen nicht ersichtlich. Eher ist auf der Grundlage verbreiterter Wissensbestände und Argumentationskompetenzen von gegensätzlichen Effekten auszugehen: Je nach Funktionsschwerpunkt (vgl. Abb. 6) tragen verschiedene Gremien zum internen Policy-Learning bei; Parteien bzw. Fraktionen munitionieren sich auf diese Weise für eine politische Auseinandersetzung, die im Parlament – zumindest theoretisch – auf höherem Wissens- und Diskursniveau stattfinden kann. Für die Öffentlichkeit werden die Positionen durch meist verständlich verfasste und z.T. synoptisch darstellbare Texte nachvollziehbar (vgl. z.B. Wilamowitz-Moellendorff 812 Es bliebe beispielsweise nur zu mutmaßen, ob die CDU von der Installierung einer eigenen Zuwanderungskommission abgesehen hätte (vgl. Kap. 3.2.4.2), wenn der in den Medien als Kandidat kolportierte Roman Herzog als Vorsitzender der Regierungskommission angefragt und gewonnen worden wäre (vgl. Fn. 309). Bei der Wehrstrukturkommission unter dem Vorsitz Richard von Weizsäckers (vgl. Kap. 1.2.5) könnte just dieser Aspekt ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass die Union auf ein eigenes öffentlichkeitswirksames Gremium verzichtete.
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& Wolffs 2001). Diese These lässt sich auch aus den Beobachtungen zu anderen Kommissionen ableiten: Obwohl ein anerkannter Repräsentant aus ihren Reihen der Wehrstrukturkommission der Regierung vorsaß (s. Fn. 812), hielt dies CDU und CSU nicht davon ab, jeweils eigene Standpunkte zu erarbeiten. Sie wurden ebenso wie die Positionspapiere, Eckwerte und Grundlinien zahlreicher anderer Akteure im Vorfeld oder kurz nach der Berichtsübergabe der Weizsäcker-Kommission veröffentlicht und diskutiert.813 Im Falle der Hartz-Kommission verpassten es die Oppositionsparteien hingegen, bereits parallel zur Arbeit der Regierungskommission an eigenen Konzepten zu arbeiten. Sie waren auf die medienwirksame Vorabveröffentlichung der Ergebnisse im Juni 2002 nicht vorbereitet und reagierten überrascht und z.T. widersprüchlich – wohl auch, weil sich Einsetzung und Arbeit der Kommission weitgehend außerhalb der medialen Öffentlichkeit vollzogen und die Kommissionsergebnisse zahlreichen ihrer Forderungen entsprachen (vgl. Siefken 2006a: 378f.; 2007: 201ff., 213ff.). Die Erarbeitung von Policy-Alternativen vollzog sich überwiegend im parlamentarischen Prozess zu den vier Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt bzw. – was die innerparteilichen Diskussionsprozesse der SPD in Folge der umstrittenen »Agenda 2010« betrifft – in Parteigremien und eigens einberufenen Konferenzen. Vor dem Hintergrund des »Publicity-Coups« der HartzKommission, auf den die Parteien programmatisch nicht ausreichend vorbereitet waren, kann die Installation einer prominent besetzten CDU-»Sozialstaatskommission« in Folge der Nominierung der Rürup-Kommission als politischer Lernprozess gedeutet werden. Parallel oder im Anschluss an die Arbeit von Kommissionen artikulieren auch Betroffene und gesellschaftliche Gruppen ihre Positionen, entweder indem sie an Anhörungen oder – wie im Fall der Hartz-Kommission – an relativ eng begrenzten »StakeholderDialogen« teilnehmen (vgl. Siefken 2007: 198; Weimar 2004: 21, 52ff.), sich öffentlich über die Medien äußern oder Petitionen hinsichtlich personeller oder inhaltlicher Mitsprache direkt an die Kommissionen richten. So erreichte eine Fülle von Anregungen und Initiativen die Süssmuth-Kommission (vgl. Kap. 3.3.2.2; Heisele 2002: 61). Die Verantwortlichen der Rürup-Kommission hielten fest: »Von interessierten Bürgern wurden mehrere hundert Schreiben mit Vorschlägen und Meinungsäußerungen an die Kommission gerichtet.« (Rürup & Tiemann 2006: 395). Die initiierende Funktion von Kommissionen im Hinblick auf gesellschaftliche Meinungsbildung scheint eng mit ihrer Publizität in Zusammenhang zu stehen.
813 Der Bericht der Weizsäcker-Kommission wurde am 23. Mai 2000 in Berlin vorgelegt. Vgl. dazu Positionspapier der Bundestagsfraktion der FDP vom 16. März 1999; Positionspapier der CDU Deutschlands »Zukunft der Bundeswehr« vom 21. März 2000; Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, »Grundlinien zur Zukunft der Bundeswehr« vom 16. Mai 2000; Arbeitsgruppe Sicherheitsfragen der SPD-Bundestagsfraktion, »Zur Reform der Bundeswehr – Positionspapier« vom 18. Mai 2000; Positionspapier der CSU vom 19. Mai 2000; Generalinspekteur der Bundeswehr Hans-Peter von Kirchbach, »Eckwerte für die konzeptionelle und planerische Weiterentwicklung der Streitkräfte« vom 23. Mai 2000; Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, »Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf« vom 1. Juni 2000 (sämtlich in Auszügen dokumentiert in: ZEIT Punkte Nr. 4/2000, s. Fn. 58: 60-84). Zwei Wochen nach Vorlage der Kommissionsergebnisse debattierte der Bundestag »zur Zukunft der Bundeswehr« (vgl. BT-Pl.Pr. 14/107 vom 7. Juni 2000: 10016D-10045A); eine erneute Debatte fand nach dem Beschluss von Eckwerten durch die Bundesregierung statt (vgl. BT-Pl.Pr. 14/124 vom 12. Oktober 2000: 11869C11900B).
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
4. Das ehrgeizige Ziel einer öffentlichkeitswirksamen Kommission wird es stets sein, intern zu einem möglichst hohen Maß an Übereinstimmung bzw. einem konsensual verfassten Abschlussbericht zu gelangen. Für die Erreichung dieses Ziels wirken primär drei Variablenkomplexe mitbestimmend: die Zusammensetzung der Kommission, die Modalitäten und Umstände ihrer Arbeit sowie die Führungsfunktion des Kommissionsvorsitzes. Die Berufung in eine gubernative Kommission, mehr noch die Betrauung mit deren Leitung, bedeuten für die beteiligten Akteure eine hohe Wertschätzung. Die erfolgreiche Arbeit in einer Kommission führt zu weiterer öffentlicher Profilierung. Ein Erfolg wird in der Regel bereits dann erkannt werden, wenn die Kommission zu einem überzeugenden und konstistenten Ergebnis gelangt, möglichst zu einem Konsens über die Handlungsempfehlungen. Eine Reihe von Grundvoraussetzungen, Interaktionsmerkmalen und Handlungsmaximen auf der Ebene der Mikro-Politics der Kommission können zu diesem Ziel beitragen. Jenseits der quantitativen Größe814 scheint insbesondere die individuelle »Eignung« der Kommissionaten für deliberative Beratungs- und Kompromissfindungsprozesse entscheidend zu sein. Personen mit einer entsprechenden »Persönlichkeit« und »Gremienerfahrenheit«, die nicht (oder nicht mehr) in das polarisierte Tagesgeschäft der Politik involviert sowie parteiübergreifend anerkannt sind bzw. Interessenvertreter, die im Innen- und Außenverhältnis ihrer Organisation als gemäßigt und kompromissbereit bzw. fortschrittlich und innovativ gelten, wirken konsensförderlich; mit Blick auf die antizipierte Richtung der Ergebnisse dürfen keine Akteure mit echter Veto-Intention oder »Außenseiter« vertreten sein. Es empfiehlt sich unbedingt, die personell-biografische Dimension der Kommission in den Blick zu nehmen (vgl. oben Nr. 1).815 Die Arbeitsmodalitäten wirken sich ebenfalls aus: Die Pflege eines argumentativdeliberativen Stils, der offene Diskurse zulässt, ermöglicht in vielen Punkten Einvernehmen unter den Kommissionsmitgliedern im Sinne eines vernunfts- und wissensgeleiteten Konsenses unter Berücksichtigung verallgemeinerungsfähiger Interessen (vgl. Kap. 1.1.3.1, Nr. 5. sowie Kap. 3.3.1.2). Der Verzicht auf Mehrheitsabstimmungen in wichtigen Fragen sowie die Anwendung von »Verfahrenstricks« und prozeduralen Kompromissen zur Vermeidung dissentierender Voten tragen maßgeblich zur Einmütigkeit bei (vgl. Kap. 3.3.1.3). Im Fall der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die den Hauptteil ihrer Berichtsarbeit in fünf »Teilprojekten« erledigte, wurde der Arbeitsmodus als unkonventionell beschrieben. Weder sei er offen bargaining-orientiert, noch einem Modell strikt rationaler Problemlösung verhaftet gewesen (vgl. Schmid, G. 2003; Weimar 2004: 92ff.). Sven Siefken sieht in dem Beratungsprozess ein »kreatives Brainstorming« (Siefken 2007: 205f.). Daneben ist hier die Funktion von »impliziten Tauschgeschäften«, bei denen die »Steckenpferde« aller Kommissionsmitglieder berücksichtigt wurden (vgl. Schmid, G. 2003a: 74, 78), ebenso hervorgehoben worden wie die Bedeutung von informellen Einzelgesprächen und Sachdiskussionen des Kommissionsvorsitzenden Hartz außerhalb der regu814
vgl. dazu Fn. 341 sowie Siefken (2006: 568ff.; 2007: 291ff., 308). Es ist davon auszugehen, dass die interne Konsenschance steigt, je mehr der Kommissionsvorsitzende auf die Zusammensetzung Einfluss nehmen kann. In diesem Zusammenhang ist verschiedentlich berichtet worden, Peter Hartz habe seitens der Bundesregierung freie Hand bei der Auswahl der Mitglieder seiner Kommission gehabt (vgl. Dyson 2005: 234; Krick 2006: 23). Dies ist jedoch unzutreffend. Zwar wurden seine Vorschläge berücksichtigt, die Kandidatenliste jedoch zwischen dem Kanzleramt und Arbeitsminister Walter Riester abgestimmt (vgl. Siefken 2007: 189). 815
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lären Termine. Ein Teilnehmer berichtete: »Er hat sozusagen Mund-zu-Mund-Beatmungen jedes einzelnen Kommissionsmitgliedes gemacht« (zit.n. Siefken 2007: 206). Besonders im Hinblick auf die Erstellung des Abschlussberichts ist auf die Abtauschmöglichkeiten dieses konfliktreduzierenden Verfahrens hingewiesen worden, die es ermöglicht hätten, dass dieser auch Policy-Vorschläge enthielt, für die es im Falle formaler Abstimmungen keine Mehrheit gegeben hätte (vgl. ebd.: 207). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang der Führungsstil des Kommissionsvorsitzes. Als »Statthalter« des gubernativen Interesses an einem konsensualen Arbeitsergebnis und auf die Wahrung bzw. Mehrung des persönlichen Ansehens und Prestiges bedacht, wird er (ggf. in Kooperation mit dem stellvertretenden Vorsitz) unter Ausnutzung persönlicher Charakter- und Führungseigenschaften große Anstrengungen im Hinblick auf einen erfolgreichen Gremienabschluss unternehmen. Durch gesteuerte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ist die Kommission zudem darauf bedacht, Akzeptanz für ihre Vorstellungen zu befördern. Was Rita Süssmuth und Hans-Jochen Vogel im Falle der Zuwanderungskommission im Duett gelang, bewerkstelligte Peter Hartz für die Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt allein. Seine ausgezeichneten Führungs- und Moderationsqualitäten wurden als unerlässlich für die Konsensfindung bezeichnet (vgl. Fleckenstein 2004: 668); ein offenbar geradezu betörend wirkender persönlicher Stil habe den Zusammenhalt und das Team-Denken befördert (vgl. Krick 2006: 25). Die von Teilnehmern und Beobachtern nicht selten mit dem Attribut charismatisch beschriebene Ausstrahlung des Vorsitzenden spielte hinsichtlich der einstimmigen Beschlussfassung über den Abschlussbericht eine wichtige Rolle (vgl. ebd.; Dyson 2005: 235; Fleckenstein 2004: 668; Schmid, G. 2003a: 76; Weimar 2004: 124). Eine genaue Handlungs- und Interaktionsanalyse der Kommissionsführung unter Einbezug der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit (vgl. dazu Siefken 2007: 192ff.) lässt auf ein strategisch wie taktisch optimales und durch Fortune begleitetes Konsensmanagement durch Peter Hartz schließen. Wie bei der Süssmuth-Kommission entwickelten auch HartzKommissionaten eine tiefe Überzeugung dahingehend, ein einmütiges Ergebnis ohne explizit gemachte abweichende Meinungen erhöhe die Wirkmächtigkeit des Abschlussberichts. So wird ein Kommissionsmitglied zitiert: »Was wir hier ’rausbekommen, das soll nun wirklich einen Unterschied machen, und das erreichen wir nur, wenn wir einstimmig sind.« (zit.n. Siefken 2007: 194). Gepaart mit der Führungskompetenz und Begeisterungsfähigkeit des Vorsitzenden, der den durch die Bundesregierung erteilten Arbeitsauftrag eigenmächtig erweiterte und damit der gesamten Arbeit des Gremiums eine erhöhte Bedeutung zumaß,816 entstand auch unter den Kommissionsmitgliedern ein hoher Grad an Identifikation und Corporate Identity (vgl. ebd.: 205; Krick 2006: 25). Die Rürup-Kommission bietet in mehrerlei Hinsicht Anschauungsbeispiele für die Kehrseite dieser Erkenntnisse. Dem 26-köpfigen Gremium für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme schlug bereits im Vorfeld große Skepsis im Hinblick auf die Chance für ein einhellig getragenes Konzept entgegen;817 Kritikern galt sie 816 Der Auftrag der Bundesregierung an die Kommission hatte auf der Grundlage des Skandals um die Vermittlungsstatistiken der Bundesanstalt für Arbeit Anfang 2002 darin bestanden, die Behörde zu einer modernen Dienstleistungseinrichtung am Arbeitsmarkt umzubauen (»Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, s. Fn. 59: 14). Hartz ergänzte in einer Kommissionssitzung am 29. April 2002 einen beschäftigungspolitischen Ansatz und markierte das Ziel, »dass ein entscheidendes Ergebnis der Kommissionsarbeit die Rückführung der Arbeitslosigkeit auf das volkswirtschaftliche Niveau der Vollbeschäftigung sein müsse.« (Weimar 2004: 51) 817 vgl. etwa »Darf’s ein Experte mehr sein?«, FR vom 22. November 2002: 4.
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im Nachhinein als »herausragendes Beispiel für das Durcheinander, das entsteht, wenn man Wissenschaftler mit offensichtlich festgelegten Interessenvertretungen in einer Kommission zusammenspannt und dann von allen Beteiligten verlangt, dass sie vor dem Beratungsergebnis nicht an die Öffentlichkeit gehen.« (Biedenkopf 2006: 24) Zu nicht weniger als 17 Kommissionsempfehlungen wurden im Abschlussbericht Minderheitenvoten abgedruckt (vgl. Brede 2006: 410f.). Kenneth Dyson identifiziert drei Umstände als kausal für das gemeinhin als »Scheitern« wahrgenommene Arbeitsergebnis der Kommission: »Partly because of political circumstances, partly because of the composition of the commission, and partly because of his own qualities, Rürup proved less effective chair than Hartz.« (Dyson 2005: 240) Die im Hinblick auf ein Konsensergebnis »ungünstigere« Zusammensetzung des Gremiums sowohl in quantitativer wie in qualitativer Hinsicht ist oben bereits erörtert worden (vgl. Nr. 1; vgl. auch Krick 2006: 22f.; Brede 2006: 255ff.). Auch auf den Führungsstil Rürups soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Als grundlegend ist hier insbesondere der nicht offen ausgetragene intra-gubernative Interessenkonflikt zwischen dem Bundeskanzler und der Bundesgesundheitsministerin anzusehen, bei dem sich Ulla Schmidt im Hinblick auf ihr Mitbestimmungsrecht bei der Besetzung eines innerhalb ihrer Ressorthoheit arbeitenden Gremiums durchsetzen konnte. Insbesondere die Platzierung des BMGS-Staatssekretärs Heinrich Tiemann als volles Kommissionsmitglied erweist sich dabei als Lerneffekt aus dem begrenzten Handlungsspielraum, den der reine BeobachterStatus eines Regierungsmitgliedes in einer Kommission bedeutet. Nach eigenen Aussagen Tiemanns habe das Ministerium seine Nominierung »als ›Link‹ in die Leitung des Ministeriums […] für richtig gehalten, nachdem das BMA bei der Hartz-Kommission, die ich auf Seiten des Kanzleramtes in meiner damaligen Funktion als Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt betreut habe, sozusagen ›Gast-Status‹ hatte. Wir wollten auf keinen Fall diese Situation wiederholen.«818 Während die Kommission als Folge des BMGS-Einflusses von der seitens des Kanzleramtes geplanten »schlagkräftigen« Größe von 15 auf 26 Mitglieder fast verdoppelt und in ihrer internen Einungsvielfalt »verbreitert« wurde, schrumpften die Ausgangsbedingungen für einen internen Policy-Konsens. Dazu trug auch das globale Mandat der Kommission bei (»Vorschläge für eine nachhaltige Finanzierung und Weiterentwicklung der Sozialversicherung zu entwickeln«),819 das von Beteiligten ironisch als Auftrag zur Rettung der Welt bezeichnet wurde (vgl. Krick 2006: 22). Während die Kommission Bundeskanzler Schröder Argumente für seine parallel vorbereitete »Agenda 2010« liefern sollte, war die Gesundheitsministerin stärker auf ihre eigene Rolle und die Verhandlungen mit der den Bundesrat dominierenden Opposition um ein kurzfristiges Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung bedacht (vgl. Dyson 2005: 237ff.; Lamping 2006: 242f.). Beide Ausgangssituationen implizierten unterschiedliche Rationalitäten und Intentionen des Regierens. Beide Akteure minderten daher in der Folge die »Implementationsrelevanz« des Rürup-Berichtes, noch bevor dieser endgültig vorlag.820 Die intern zerstrittene, politisch als wenig hilfreich erachtete und öffentlich gescheitert 818
StS. Heinrich Tiemann, zit.n. Brede (2006: 261). Auftrag der Kommission, PM des Bundesministeriums für Gesundheit und soziale Sicherung vom 21. November 2002 (http://www.bmgesundheit.de/inhalte-frames/inhalte_presse/presse2002/m/183.htm, 29.01.2003). 820 Die Gesundheitsministerin äußerte in einem frühen Stadium der Kommissionsarbeit vor dem Hintergrund des »eins-zu-eins«-Umsetzungsanspruchs des Kanzlers bei den Hartz-Vorschlägen: »Hartz ist Hartz und Schmidt ist Schmidt« (zit.n. FAZ vom 6. Januar 2003: 4). Schröder äußerte am Vorabend der Präsentation, man werde den Rürup-Bericht »nicht als Bibel« betrachten (zit.n. SZ vom 27. August 2003: 1). 819
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wirkende Kommission »aufzugeben« (oder gar aufzulösen) wagte die Gubernative hingegen nicht – sondern versuchte jeweils das Beste aus ihrer Arbeit zu machen. Bei den Kommissionsmitgliedern ist es schließlich offenbar Profilierungsbedarf bzw. die subtile Angst vor Reputationsverlust, der sie vor der zwischenzeitlich durchaus im Raume stehenden Selbstauflösung abhält.821 Insgesamt gilt: Kommissionen stehen unter allseitigem »Druck des Gelingens«, der auch auf die Regierung wirkt. Zwar hat sie prinzipiell jederzeit die Möglichkeit des »opting out«, falls der Politikberatungsprozess der Kommission nicht in ihrem Sinne verläuft. Je höher aber das öffentliche Interesse am Wirken der Kommission ist, desto unberechenbarer wäre eine vorzeitige Beendigung, da das Scheitern auch der Regierung zugeschrieben werden könnte. In der gleichen Ausgangslage wird jedoch auch die Kommission(sführung) aus Prestige- und sachorientierten Gründen einen solchen Schritt unbedingt vermeiden wollen. Wenn eine Kommission seitens der Regierung »hoch aufgehängt« ist, d.h. prominent besetzt, medienwirksam präsentiert und mit »Vorschusslorbeeren« ausgestattet, ihre Mitglieder entsprechend »gremiengeeignet« und kompromissbereit sind und gleichzeitig ihre Prestigewahrnehmung und ihr Profilierungsbedarf, stark ausgeprägt sind, bieten diese kumulativen Faktoren gute Ausgangsbedingungen für einen »Erfolg« des Projektes im Sinne eines für die Regierung zur Konsensbildung in verschiedenen Zusammenhängen nutzbaren Ergebnisses.
5. Eine unabhängige Kommission, deren Mitglieder ihre Aufgabe ernst nehmen und engagiert betreiben, ist seitens der Regierung oder der politischen Parteien nur begrenzt steuerbar. Einflusskorridore ergeben sich weniger über die Kommissionsmitglieder als über einzelne Mitarbeiter der Geschäftsstelle. Einmal offiziell installiert, empfinden unabhängige Kommissionen Einmischungsversuche als Anmaßung und stellen ihren Status dementsprechend klar. Als vorteilhaft kann sich dabei auswirken, wenn zwischen dem Kommissionsvorsitz und dem Auftraggeber kein persönliches Loyalitätsverhältnis bzw. eine unterschiedliche Parteimitgliedschaft besteht. Solchermaßen »eingekaufte« Kommissionsvorsitzende können für die Regierung nützlich sein, indem sie parteiübergreifende Konsensoptionen öffentlich demonstrieren. Umgekehrt haben sie es leichter, die Unabhängigkeit ihres Gremiums von der Regierung bereits in der Planungsphase zu betonen. Sie verfügen über alle Optionen, sich Steuerungsversuchen aus der Gubernative zu widersetzen. Die einzelnen Kommissionsmitglieder sind ebenfalls als weitgehend steuerungsresistent anzusehen. Unabhängigkeit ist jedoch nicht gleichbedeutend mit Abschottung. Selbst wenn ein Kommissionsprozess nicht öffentlich ist, herrscht innerhalb des interessierten Netzwerks ein informationeller Austausch, an dem sowohl die Kommissionsmitglieder und die Mitarbeiter des Sekretariates, als auch ihr Umfeld in Politik, Interessengruppen und Medien partizipieren können; als besonders relevant ist dabei der Austausch von Standpunkten zwischen Kommissionsmitgliedern und den ihnen affinen bzw. den sie »entsendenden« Organisationen anzusehen. 821
Zur Option der Auflösung der Kommission vgl. SZ vom 26. April 2003: 21 sowie Brede (2006: 283f.).
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Gemeinhin wird jedoch die Rolle von Arbeitsstäben im Kommissionssekretariat unterschätzt. Nicht nur das »technisch-organisatorisch-verwaltende«, sondern auch das inhaltliche Wirken von Mitarbeitern der Geschäftsstelle ist von hoher Relevanz. Der Mitarbeiterstab als »zweite Reihe« bzw. im Schatten der medial inszenierten und beobachteten Kommission kann u.U. stärker externe Einflüsse in das Gremium transportieren und das Ergebnis beeinflussen als die Kommissionsmitglieder selbst. Durch den »verdeckten Zugriff« auf die Substanz der Kommissionsarbeit kann ein (intern) hart umkämpfter Einflusskorridor entstehen, in dem es etwa um die Platzierung von Themen für die Kommission, die Vergabe von Gutachten oder die Formulierung von »Textbausteinen« für den Abschlussbericht geht; seine tatsächliche Policy-materielle Reichweite bleibt jedoch begrenzt. Denn in der Entscheidungsfindung bleibt das Kerngremium der Kommission autonom; Änderungen von Textentwürfen stehen nicht nur unter Beschlussvorbehalt, sondern auch unter genauer inhaltlicher Kontrolle. Auch für die Hartz-Kommission finden diese Thesen in ihrer Grundrichtung Bestätigung. Das Ministerium verfügte über allenfalls begrenzten Einfluss (vgl. Siefken 2007: 201) und auch das Kanzleramt hatte keine direkte Steuerungsoption. So resümierte das Mitglied Günther Schmid (2003a: 78): »Zwischen Kanzleramt und Hartz gab es im Hintergrund immer wieder Abstimmungsgespräche, aber Hartz und die Kommission blieben in ihren Gestaltungsvorschlägen jederzeit autonom.« Fraglich scheint eher, ob die Kommissionsmitglieder im Stande waren, ihre eigene Unabhängigkeit innerhalb des Gremiums gegenüber dem zielorientierten Steuerungsgeschick des Vorsitzenden zu wahren bzw. ob dadurch ein im Einzelfall möglicherweise vorhandenes »verstecktes imperatives Mandat« ausgehebelt wurde.822 Interessant bei der Hartz-Kommission ist zudem eine durch den Vorsitzenden der Kommission etablierte »zweite Geschäftsstelle«, die dazu beitrug, auch auf der Arbeitsebene die Unabhängigkeit des Gremiums von Einflüssen seitens der Bundesregierung oder der Bundesanstalt für Arbeit (BA) zu erhalten. Hartz baute einen eigenen Stab um seine Person auf, der weitgehend unabhängig von der beim BMA eingerichteten, aus 15-20 Mitarbeitern des Ministeriums bzw. der BA bestehenden Geschäftsstelle agierte (vgl. Fleckenstein 2004: 653; Krick 2006: 24). Hinzu kamen weitere personelle Ressourcen, die auf Anregung Hartz’ durch die einzelnen Kommissionsmitglieder in den Prozess eingebracht wurden. Auf diese Weise trat neben der »offiziellen« Geschäftsstelle des BMA und dem aus zwei eigens engagierten Beratern sowie weiteren Mitarbeitern des VolkswagenKonzerns bestehenden persönlichen Stab des Vorsitzenden eine weitere Gruppe in Erscheinung: eine nach Schätzungen mehrere Dutzend Personen umfassende Arbeitsgruppe innerhalb der Unternehmensberatung McKinsey, die über dessen Direktor, das Kommissionsmitglied Peter Kraljic, installiert wurde und offenbar nicht frei von Privatinteressen agierte (vgl. Siefken 2007: 195-200). Auch aufgrund von Beeinflussungsversuchen aus der BMAGeschäftsstelle, die zu Spannungen zwischen dem Vorsitzendem und dem Ministerium führten, verlagerte sich gegen Ende der Kommissionsarbeit Prozesssteuerung und -koordinierung weitgehend auf den Hartz-Stab (Fleckenstein 2004: 653). Insbesondere beim Verfassen der 13 »Module« für den Abschlussbericht, die im Entwurfsstadium an die Presse lanciert wurden, kam den »Persönlichen« des Vorsitzenden eine kreative Rolle zu (vgl. Krick 2006: 24). 822 Hier wäre vor dem Hintergrund, dass der Hartz-Bericht bei gewerkschaftsnahen Autoren besonders kritisch aufgenommen wurde (vgl. dazu Gerntke, Klute, Troost u.a. 2002) vor allem an die Gewerkschafter in der Kommission zu denken.
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Hingegen waren beim Rürup-Gremium die Steuerungsambitionen der Politik größer und wirkten sich im Unterschied zu Hartz- und Süssmuth-Kommission offenbar auch stärker direkt auf die Arbeitsgruppen der Kommission aus. Auch hier konnte allerdings – jenseits der Besetzung der Kommission – offenbar kein weitreichender inhaltlicher Einfluss genommen werden. Kritisch wurde die Publikation eines Positionspapiers des Bundeskanzleramtes sowie weitere Äußerungen der Bundesregierung aufgenommen, die noch vor Arbeitsaufnahme durch die Kommission die Grundrichtung der geplanten Sozialreformen absteckten und zu dem Eindruck führte, »die Kommission solle lediglich bereits beschlossene Maßnahmen der Bundesregierung wissenschaftlich fundieren bzw. legitimieren« (Brede 2006: 266; vgl. ebd.: 271). Merklichen Einfluss nahmen Bundeskanzler Schröder und Gesundheitsministerin Schmidt auf Struktur, Ablauf und öffentliche Darstellung des Beratungsprozesses. Sie »regierten […] wiederholt in die Rürup-Kommission hinein« (Lamping 2006: 242). Der Termin der Berichtsvorlage wurde von Oktober auf Juli 2003 vorverlegt und eine Vorveröffentlichung der Vorschläge zur Finanzierungsreform der Krankenversicherung bereits für Anfang April 2003 angefordert (vgl. ebd. 272ff.). In diesem Zusammenhang wurde offenbar die Grenze zu einer auch inhaltlichen Einflussnahme erstmals erreicht. Der am 9. April von der Kommission präsentierte Zwei-Stufen-Plan (auch als »YModell« bezeichnet; vgl. dazu Brede 2006: 276ff.) ging nach Angaben eines Kommissionsmitgliedes wesentlich auf ein im Februar 2003 erarbeitetes Eckpunktepapier des Gesundheitsministeriums zurück, das der Kommission mit der impliziten »Maxime ›Zustimmung‹« vorgelegt worden sei und eine Instrumentalisierung der Kommission durch das BMGS bedeutet habe.823 Obwohl dessen Inhalte in der Kommission strittig waren, habe jenseits der AG Krankenversicherung (eine der drei inhaltlichen Arbeitsgruppen der Kommission) kaum ein Diskurs darüber stattgefunden. Das Beispiel der Rürup-Kommission zeigt, dass die Unabhängigkeit eines Beratungsgremiums keine scharf konturierte Größe ist. Der Schwelle einer Einflussnahme kann auch bereits dann erreicht werden, wenn die formale Unabhängigkeit in inhaltlichen Fragen unangetastet bleibt.
6. Die Einsetzung einer Kommission bedeutet keinerlei Selbstbindung der Bundesregierung an das Policy-Programm dieser Kommission, wohl aber eine implizite Stärkung der Selbstverpflichtung politischer Akteure auf den Abschluss eines Reformvorhabens. Das Gremium wirkt als Movens für zielorientierte Policy-Beratungen bei Regierung und Opposition. Eine Kommission berufen zu haben, signalisiert ein high-priority-issue, das nicht ohne weiteres als »ungelöst« in die Ergebnisbilanz einer Regierung eingehen darf – es sei denn, der politischen Opposition kann öffentlich und überzeugend eine Total-Blockade zum Vorwurf gemacht werden. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss: Unter der Voraussetzung parteipolitisch relevanter Veto-Positionen besteht auch für die Opposition erhöhter Druck 823 Frank Nullmeier, »Sozialstaatsreform und Expertenrat« (s. Fn. 809). Der als Kommissionsmitglied fungierende Staatssekretär im BMGS Tiemann merkte in einem wissenschaftlichen Interview dazu an, das Y-Modell sei keine »Auftragsarbeit« gewesen und erläuterte: »Wir, die Ministeriumsspitze, haben gesagt: wenn ihr als Kommission Einfluss nehmen wollt, dann müsst ihr euch dazu verhalten, was wir als Ministerium in Bezug auf die Leistungsseite der Gesundheitssysteme planen.« (zit.n. Brede 2006: 281)
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zur konstruktiven Mitarbeit an einem Reformvorhaben, zur »Lösung eines PolicyProblems«. Dieser Druck geht auf den ursprünglichen Impuls der Bundesregierung zurück, im Stadium der einem Gesetzgebungsprozess vorgelagerten Policy-Beratung beim politischen Gegner interne Positionsbestimmungen und Meinungsbildungsprozesse zu provozieren (s.o. Nr. 3), die wiederum in der Folge zu der Verpflichtung führen, an der Lösung des Problems mitzuwirken. Reflektiert man diesen möglichen Zusammenhang vor dem Hintergrund der vermeintlich »konsensstiftenden« Wirkung von Regierungskommissionen, so ist sie genau in diesem Punkt zu verorten: Kommissionen tragen zunächst nicht zu einem Konsens darüber bei, wie ein Thema inhaltlich behandelt wird, wohl aber zu einem Konsens darüber, dass es bearbeitet werden muss. Dieser Konsens kann als Problem-, Ziel- oder minimaler issue-Konsens bezeichnet werden (vgl. Kap. 1.1.3.1, Nr. 5.). Somit ist weniger das konkrete Ergebnis der Kommissionsarbeit in ihrem Bericht als konsensrelevant zu erachten, sondern die »Ermunterung« des Politikprozesses durch ihre pure Existenz und Inszenierung. Diesem Zweck können prinzipiell auch andere Formen des Agendasettings dienen, womit nicht zuletzt die Bedeutung der Kommission als wissenschaftliches Expertengremium geschmälert wird. Um die Politik in einem Politikfeld »voran zu bringen« und Reformen zu ermöglichen, sind zunächst keine Feinkonzepte nötig, sondern die groben Linien einer neuen Politik, die überzeugend und nachhaltig an die Öffentlichkeit gebracht werden. Mit dem Gesetzgebungsprozess selbst hat die Kommission meist nicht mehr viel zu tun – bzw. der Gesetzgebungsprozess nicht mehr viel mit der Kommission. Ob mit oder ohne »vorgeschalteter« Kommission sind hier die über Jahrzehnte eingeübten und weiterentwickelten Pfade des Policymaking zwischen Kernexekutive, Ministerialbürokratie, Fraktionen, Parteien und sonstigen (Veto)-Spielern relevant und prägen den Policy-Output des politischen Systems als Ganzem nicht selten im Sinne eines verhandlungsdemokratischen Kompromisses. Im Zuwanderungsrecht machen dies die Reformen von 2004 und 2007 ebenso deutlich wie in der Arbeitsmarktpolitik die nach dem Vorsitzenden der sie stimulierenden Kommission benannten Modernisierungsgesetze I-IV (2002-2004). Im Sozialrecht folgten der Rürup-Kommission zwei Gesundheitsreformen (2003 und 2006), eine Rentenreform (2006) sowie die Reform der Pflegeversicherung (geplant 2005, wegen der vorgezogenen Bundestagswahl erst 2007).824
7. Gubernative Kommissionen bedeuten keine Informalisierung oder Verschleierung von Interessenwahrnehmung im politischen Prozess. Vielmehr können sie im prä-parlamentarischen Stadium der Politikberatung für eine (Re-)Formalisierung und Systematisierung des Einflusses von Wissen(schaft) und partikularen Interessen sorgen und damit einen Beitrag zu Strukturierung und Transparenz des jeweiligen Policy-Beratungsregimes leisten. Wolfgang Ismayr hat zur Gesetzgebung im Deutschen Bundestag äußerst kritisch angemerkt, nur selten erfahre man, »mit welchen Interessengruppen im Vorfeld kooperiert wurde; Stellungnahmen von Fachkreisen und Verbänden bleiben meist unerwähnt. Es entsteht der Eindruck, dass die Spuren der Informationsbeschaffung und regierungsinternen 824 vgl. allgemein zur kritischen Bewertung der Sozialstaatsreformen unter Berücksichtigung der Großen Koalition: Butterwegge (2006: 307ff.).
4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen
387
Materialselektion und Entscheidungsfindung oft mehr oder weniger bewusst im Dunkeln gelassen werden.« (Ismayr 2001: 263). Gerade die Intransparenz der Interessen- und Einflusswahrnehmung in der »Referentenphase« von Gesetzen wird also unter demokratiepolitischen Gesichtspunkten als heikel angesehen – und dies nicht erst seit vermehrt unlautere Formen des Lobbyismus analysiert werden.825 Werden die Inhalte von Reformgesetzen hingegen von »Koalitionsrunden« für das zuständige Ressort präjudiziert (»Parteipolitisierung« exekutiver Entscheidungsprozesse), vollzieht sich die Interessenvermittlung nicht minder verdeckt.826 Vor dem Hintergrund dieses negativen Input-demokratischen Ist-Zustandes bedeuten Einsetzen und Wirken einer Kommission faktisch keine zusätzliche Informalisierung des Politikprozesses im Sinne einer Verschleierung von Interesseneinfluss oder gar »Arkanisierung« der Beratung. Eher trifft das Gegenteil zu: Da Kommissionsprozesse im Vorfeld der ansonsten weitgehend intransparenten »Referentenphase« von Gesetzgebungsprozessen – oder parallel dazu – stattfinden und oftmals das Medieninteresse auf sich ziehen, tragen sie zu höherer Publizität des prä-parlamentarischen Politikprozesses bei. Gubernative Kommissionen arbeiten in der Regel institutionalisiert auf der Grundlage von Geschäftsordnungen oder äquivalenten Absprachen ihrer Mitglieder. Das jeweilige Prozedere hinsichtlich der Außenkommunikation (Pressekontakte, Gutachtenvergabe, Modalitäten von Anhörungen etc.) ist ebenfalls geregelt oder als Vereinbarung dokumentiert, meist in ausführlichen Ergebnisoder Wortprotokollen der Kommissionssitzungen. Die Beteiligung von Akteuren aus verschiedenen Bereichen des Politikfeldes (Politik, Wissenschaft, private bzw. verbandliche Interessen) folgt also bestimmten Regelhaftigkeiten, die Abschluss- und häufig auch die Zwischenberichte einer Kommission werden publiziert und nicht zuletzt erzeugen sie eine mediale Resonanz. Auch wenn keine unmittelbare Sitzungspublizität herrscht, wirken Kommissionen somit öffentlich und dadurch regelnd und ordnend auf den WillensbildungsBeratungs- und Interessenrepräsentations-Prozess im Vorfeld der parlamentarischen Gesetzgebung. Geht man also für das »reguläre« Gesetzgebungsverfahren von einer weitgehend intransparenten und verfahrensmäßig nicht kodifizierten (und somit informalen) Einflusswahrnehmung durch private Akteure bei der Erarbeitung eines ministeriellen Entwurfes aus, so werden durch vorgeschaltete Kommissionen diese informalen Prozesse in geregeltere prozessuale Bahnen gelenkt. Hier weiß man wenigstens nach dem ersten Blick auf die Liste der Kommissionaten, wer verhandelt oder berät (vgl. Kuhlmann 2002: 28f.). Beratungsleistungen können später den Akteuren dieses meso-korporatistischen Netzwerkes verantwortlich zugeschrieben werden (accountability); eine Diffusion der zuordnungsfähigen Verantwortlichkeiten findet nicht statt. Beratungsprozesse werden durch diese ReFormalisierung »erwartbarer«, erhalten eine gewisse regelhafte Struktur. Kommissionen als »institutionalisierte Formen der informalen Inklusion privater Akteure« (Helms 2005: 88) können somit auch als eine Art Formalisierung des Informellen gedeutet werden.827 825
Der so genannte Immediatzugang der zentralen Verbände und Fachkreise zur Ministerialverwaltung ist in der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien geregelt, steht hinsichtlich Umfang und Auswahl allerdings gänzlich im Ermessen des federführenden Ressorts (vgl. § 47 Abs. 3, 4 GGO-BM). 826 Freilich ist für diesen Fall regelmäßig von einem Einflussverlust der Verbände bei den Ressorts auszugehen (vgl. Manow 1996: 104, 107). Im Umkehrschluss wird allerdings der Zugang der organisierten Interessen zu den Fraktions- und Parteispitzen zum dezisiven Faktor. 827 Sven Siefken kommt in seiner Analyse verschiedener Kommissionen zwischen 1998 und 2005 ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Expertenkommissionen gegenüber »anderen nicht-institutionalisierten Formen einen ver-
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
Regieren mit Kommissionen ist somit zwar para- oder extra-konstitutionell (im Sinne von: verfassungsrechtlich nicht fixiert), aber nicht informell im Sinne von ungeregelt. Auch im Hinblick auf die zweite grundlegende Ebene informellen Regierens (den innerstaatlichen Bereich) leisten solche Gremien nicht unbedingt weiterer Informalisierung Vorschub. Letztere wird gemeinhin in »parteipolitisiertem« bzw. »stillem« Regieren verortet und u.a. als Auslöser einer Art »Pervertierung« des Gesetzgebungsprozesses dahingehend analysiert, dass unter gubernativer Führung erst politische Kompromisse zwischen Fraktions- und Parteienvertretern der Regierungskoalition ausgehandelt werden, bevor das zuständige Ressort einen entsprechend konformen Entwurf vorlegt. Dies führe zu einer Schwächung des Kabinetts bzw. der Bundesminister (vgl. Schreckenberger 1994: 340). Arbeiten jedoch im prä-legislativen Verfahren Kommissionen an einem politischen Programm, werden Parteien und Fraktionen mitunter viel eher dazu gebracht, ihre Vorstellungen öffentlich zu beraten, gleichsam »formal« in einer schriftlichen Position zu fixieren und dem Ministerium damit auf offenem Wege zu übermitteln. Was sonst im arkanen oder durch gesteuerte Presseberichterstattung allenfalls mäßig transparenten Raum zwischen Spitzenvertretern der Regierung und der Regierungsfraktionen – ggf. auch der Opposition – informell vorverhandelt wird, ist nunmehr (gezwungenermaßen) Gegenstand eines stärker formalisierten Beratungsprozesses. Dieser ersetzt zwar nicht notwendigerweise die informelle Koordination, schränkt sie aber tendenziell ein. Gubernativen Kommission sind somit kein Instrument des »stillen Regierens«. In der Forschung zur nicht rechtlich formalisierten Entscheidungs- und Koordinierungspraxis der Regierung böte sich in Anlehnung an Schulze-Fielitz (vgl. Fn. 32) die Differenzierung an zwischen einem informell-pluralisierten Bereich der Steuerung (in dem – landläufig gesprochen – ein unübersichtlicher Wildwuchs informeller Entscheidungsstrukturen und -prozesse anzutreffen ist) und einem informal-institutionalisierten Bereich der Koordination (der von zwar verfassungsmäßig oder rechtsförmig nicht vorgesehenen, aber in sich regelhaften bzw. »erwartbaren« Prozessen und Strukturen gekennzeichnet ist).
8. Das Wirken von Kommissionen führt nicht notwendigerweise zu einer Entparlamentarisierung des Politikprozesses im Sinne einer Verlagerung der inhaltlichen Entscheidungsfindung aus dem Deutschen Bundestag heraus. Gubernative Kommissionen bergen im Hinblick auf das System der verschränkten Gewalten im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik in doppelter Hinsicht eine latente Gefahr für eine »Machtverschiebung« von der Legislative zu Exekutive. Eine zweifache Differenzierung scheint hier primär deswegen angebracht, weil die Legislative keineswegs als Handlungseinheit der Exekutive gegenüber steht, sondern funktional in parlamentarische Opposition und »Regierungsmehrheit« zerfällt. Latent ist die Gefahr der gleichsweise formalen Kanal der Politikberatung« darstellen (Siefken 2007: 317). Renate Mayntz hat in diesem Zusammenhang außerdem darauf verwiesen, dass durchaus »nützliche informale Gremien später institutionalisiert« (d.h. verrechtlicht) werden können (Mayntz 1998: 63). Im Zusammenhang mit der Einrichtung von Regierungskommissionen sprechen mehrere Autoren explizit oder implizit deren institutionelle »Verwandlung« in formalisierte Gremien nach dem Vorbild englischer oder kanadischer Royal Commissions an (vgl. Lompe, Rass & Rehfeld 1981; Murswieck 2003: 124; Schultze & Zinterer 1999; Zinterer 2004: 321ff.). Als aktuelles Musterbeispiel für eine erfolgte Institutionalisierung kann der »Deutsche Ethikrat« gelten (vgl. Fn. 834).
4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen
389
Machtverschiebung insofern, als dass die durch das Grundgesetz vorgegebenen Formen stets unangetastet bleiben. Der Deutsche Bundestag verfügt über die alleinige Beschlusshoheit, die unmittelbar im Sinne direkter Repräsentation durch das Staatsvolk legitimiert ist. Der Letztentscheidung durch das Parlament kann allerdings das »materielle Substrat entzogen« werden, wenn »die politische Weichenstellung früher und außerhalb des Parlaments erfolgt« (Ruffert 2002: 1149) und eine so genannte Ratifikationslage entsteht. Nun ist es aus der hier vertretenen Perspektive einer demokratischen Regierungslehre geradezu eine normative Verpflichtung der – ebenfalls durch Wahl legitimierten – Regierung, die Weichen in Richtung auf die Lösung politischer Probleme zu stellen. Die spezifischere Fragestellung muss sich also darauf richten, inwieweit der Souverän im Einzelfall faktisch in seiner Entscheidungsfindung beeinträchtigt ist – ob also Parlamentarier der Regierungs- wie der Oppositionsseite durch das Wirken einer Kommission in ihrem Handeln in stärkerem Maße beschränkt sind, als sie es sonst wären. Im Hinblick auf die parlamentarische Minderheit ist zu fragen, inwieweit diese infolge gemeinsamer »Nutzung« einer Kommission durch Exekutive und die sie tragende parlamentarische Mehrheit in ihrer oppositionellen Kritik- und Kontrollfunktion beschränkt wird. Für den untersuchten Fall der Zuwanderungsgesetzgebung ist eine solche Beschränkung klar zu verneinen. Der Bundestag wurde in ausführlichen Debatten zur Kritik der Regierung sowie zur Darstellung von Alternativen ebenso genutzt wie der Bundesrat und der Vermittlungsausschuss zur Abänderung der Regierungspolitik. Ähnlich intensive und langwierige Beratungsprozesse fanden im Rahmen der legislativen Verfahren zu den Gesetzen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt 2002-2004, zur Reform der Finanzierung der Krankenversicherung 2003 und zur Rentenanpassung 2003/2004 statt. Bezüglich der die Regierung tragenden parlamentarischen Mehrheit ist im Einzelfall festzustellen, inwieweit diese »Regierungsmehrheit« in ihrer internen Mitbestimmungsund Kontrollfunktion sowie ihrer Entscheidungsautonomie begrenzt wird; ferner, ob mögliche Widerstände innerhalb der Fraktion(en) gegen einzelne Policy-Inhalte unterdrückt werden, wenn die Gubernative sie mittels der Ergebnisse einer durch sie installierten Kommission vor scheinbar »vollendete Tatsachen« stellt. Im empirisch untersuchten Beispiel konnte hingegen in allen Schritten des Politikprozesses die parlamentarische Mitsteuerung beider Koalitionsfraktionen nachgewiesen werden, wenngleich diese im Vermittlungsverfahren grundsätzlich in stärkerem Maße beschränkt ist. Ohne dass dies explizit untersucht wurde (als Ausnahme vgl. Kropp 2002), deuten Studien darauf hin, dass auch in Folge der Arbeit anderer Kommissionen die Wege des parlamentarischen Gesetzgebungs- und Entscheidungsprozesses geradezu »lehrbuchartig« eingehalten wurden (vgl. z.B. Siefken 2007: 224). Solange der Entscheidungsprozess in Gänze im staatlichen Hoheitsbereich und damit Gegenstand der dynamischen Kooperation und Konfrontation seiner Organe verbleibt, wird auch die allgemeine Geltungskraft des Prinzips der Gewaltenteilung nicht verletzt (vgl. Holtmann 2004: 316). Auch im Anschluss an die Arbeit von gubernativen Kommissionen scheinen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages über wirksame Optionen der Mitsteuerung zu verfügen, scheint das Parlament über ausreichend prägende Typen zu verfügen, um sich Bevormundungsversuchen wirkungsvoll zu widersetzen. Symptomatisch dafür scheint auch die Tatsache, dass just parallel zur kontroversen Debatte um die »Entmachtung« des Bundestags durch außerparlamentarische Kommissionen unter Rot-Grün das im Parlamentsund Pressejargon als »Strucksches Gesetz« bezeichnete Diktum des SPD-Fraktionsvor-
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
sitzenden zum viel zitierten Bonmot avancierte, nachdem kein Gesetz den Bundestag so verlässt wie es hineinkommt (vgl. Thränhardt 2003: 221).
9. Regierungskommissionen zeitigen demokratietheoretisch positive Effekte, wenn durch sie ein breiter politischer, wissenschaftlicher und öffentlicher Diskurs ausgelöst und die Transparenz von Konsultationsprozessen im Vorfeld einer Gesetzgebung erhöht wird. Sie erfüllen dann die Funktion gesellschaftlich-politischer Artikulation. Erneut kann an dieser Stelle ein Bezug zu der oben wiedergegebenen normativen Kritik Ismayrs hergestellt werden. Im »normalen« Ressortverfahren bleibt bei der Erarbeitung eines Policy-Programms häufig nicht nur unklar, welche Akteure konsultiert wurden, sondern auch, was sie gesagt haben. Zu einer demgegenüber merklich verbesserten Transparenz können Kommissionen beitragen a. b. c.
d.
mittels ihrer Verlautbarungen und Abschlussberichte sowie ggf. veröffentlichter Gutachten oder Zwischenberichte; durch das hohe Medieninteresse und die damit gesteigerte Berichterstattung über Inhalte, Akteure und deren Positionen; durch die Artikulation ggf. nicht berücksichtigter wissenschaftlicher, gesellschaftlicher oder politischer Akteure bzw. deren Kanalisierung in den »Gegenkommissionen« der Opposition828 sowie indem sie einen subtilen Druck auf die politikgestaltenden Akteure in der Bundesregierung ausüben, auch das parlamentarische Folgeverfahren unter stärkerer Betonung von Publizitätsgesichtspunkten zu führen.
Im Idealfall kann durch diese genuin politikbezogenen Funktionen des Beratungsprozesses qua Kommission die demokratische Repräsentation gesteigert werden – nämlich indem Politikberatung als »gesellschaftliche Artikulation« fungiert (vgl. Brown, Lentsch & Weingart 2006: 56f.). Auf diese Weise würde eine dem demokratischen Regieren normativ zuzuschreibende Aufgabe politischer Führung erfüllt. Denn Regieren durch Diskussion und deliberative Streitkultur gelten als Merkmale demokratischer Politik. Nur wenn PolicyInhalte sichtbar werden und der politische Streit über sie öffentlich ausgetragen wird, können zumindest minimale Demokratieansprüche einer partizipationswilligen Öffentlichkeit gewährleistet werden. Das Aufsehen, welches prominent besetzte gubernative Kommissionen häufig nicht nur bei ihrer Einsetzung, sondern auch in ihrem Verlauf bzw. bei der Vorstellung ihrer Ergebnisse erregen, kann dabei ein speditives Moment sein. Medientaugliche »Persönlichkeiten« im Kommissionsvorsitz wie der als charismatisch geltende Optimist Hartz, die aufrechte ehemalige Präsidentin des Bundestages Süssmuth als moralische Instanz, der dynamisch-streitbare Wissenschaftler Rürup oder Alt-Bundespräsident von 828 vgl. das Beispiel der Professoren Birg und Münz, die auf der Grundlage bevölkerungswissenschaftlicher Forschungen zu relativ gegensätzlichen Empfehlungen bei der Frage gelangten, ob das sich abzeichnende demografische Defizit durch Zuwanderung bekämpft werden kann und soll. Während Münz der Süssmuth-Kommission angehörte und maßgeblich an dem Konzept demografischer Zuwanderungsoptionen beteiligt war, avancierte Birg zum Hofberater der bayerischen Staatsregierung, für die er Gutachten erstattete, die maßgeblich in die Arbeitsgruppen der Union einflossen.
4.2 Regieren mit Kommissionen: Zehn Thesen
391
Weizsäcker als Inbegriff des elder statesman garantieren per se eine hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Auch wenn es zu »medientauglichen« Auseinandersetzungen in einer Kommission oder zwischen Kommission und anderen Akteuren kommt, entstehen Publizitätseffekte. Kommissionen tragen so zur Ausfüllung des grundlegenden demokratischen Gedankens bei, der Öffentlichkeit Einblick in Policy-Beratungsprozesse zu ermöglichen, sie zu informieren und ansatzweise zu beteiligen (vgl. Krick 2006: 27ff.). In diesem Punkt ist der mindeste demokratische Mehrwert gubernativer Kommissionen zu verorten.
10. Die Empfehlungen einer Kommission sind Gegenstand intensiver politischer Auseinandersetzungen. Da sie unter dem Vorbehalt legislativer Entscheidungsfindung stehen, werden sie aber nur bedingt direkt in Gesetze oder Verordnungen implementiert. Selbst wenn die Expertise unmittelbar wenig Berücksichtigung findet, wird aber stets eine mittel- und langfristige Auswirkung auf die Beratungsprozesse im jeweiligen Politikfeld bestehen. Im Gesetzgebungsverfahren wird je nach Einschätzung der Durchsetzungschancen und der Kooperation der daran beteiligten Akteure selektiv auf Kommissionsvorschläge zurückgegriffen werden. Im Falle der Süssmuth-Kommission wird deutlich, dass etliche ihrer Vorschläge zunächst unberücksichtigt blieben, aber Jahre später wieder aufgegriffen wurden. Kommissionsempfehlungen können sich also aufgrund ihrer z.T. erst spät erkannten Rationalität oder Gemeinwohlförderlichkeit auch als mittel- und langfristig wirksam erweisen. Überträgt man diese Erkenntnis auf effizienzorientierte Ansprüche an modernes Regieren, so erhöht sich für diese Fälle die demokratische Output-Legitimität von Kommissionsregieren nachträglich. Sie produzieren möglicherweise »bessere« Ergebnisse, als es die unmittelbare Implementationsbilanz darzustellen vermag, sind also nicht unmittelbar effizient, aber nachhaltig effektiv. Im Fall der Hartz-Kommission stellt sich die Situation scheinbar anders dar. Deren Bericht wurde gut einen Monat vor der Bundestagswahl 2002 öffentlichkeitswirksam präsentiert. Mehrmals betonten der Bundeskanzler und Vertreter der Regierungskoalition, die Vorschläge sollten im Sinne eines Gesamtkonzeptes eins zu eins umgesetzt werden (vgl. Siefken 2007: 211ff., 219f.). Zwischen dem 1. Januar 2003 und dem 1. Januar 2005 traten insgesamt vier Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt in Kraft, die nicht nur im Volksmund, sondern quasi offiziell als »Hartz I-IV« bekannt wurden und die eine »historische Zäsur für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates« markierten (Butterwegge 2006: 192). Doch entspricht der Inhalt der vier Gesetze bei weitem nicht den Kommissionsempfehlungen, was deren Vorsitzender enttäuscht kommentierte mit den Worten: »Nicht überall, wo Hartz draufsteht, ist auch Hartz drin.«829 Detailanalysen beteiligter Wisenschaftler ergaben in einer Zwischenbilanz 2004, dass ein gutes Drittel der Vorschläge in teils veränderter Form umgesetzt sei, ein weiteres Drittel sich zur Umsetzung in Vorbereitung befinde und das letzte Drittel nicht oder in anderer Form berücksichtigt würde. Deutlich machen Analysen auch, dass gerade in distributiven Fragen die Spannweite dessen, was als Implementation zu bezeichnen ist, erheblich ist. So weist Christoph Butterwegge darauf hin, dass die Hartz-Kommission die Höhe des Arbeitslosengeldes II offen gelassen hatte, der Gesetzgeber es aber am Sozialhilfesatz orientierte (vgl. Butterwegge 2006: 193f.). 829
Peter Hartz, zit.n. FAZ vom 16. August 2004: 16.
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
In der Analyse des Policy-Outputs kommen Beobachter zu dem Ergebnis, dass die Kommissionsvorschläge zwar zu substanziellen Veränderungen, Lern- und Anpassungsleistungen geführt haben (vgl. Fleckenstein 2004: 647; Schmid, G. 2003a, 2006); bislang habe die deutschen Arbeitsmarktpolitik jedoch keinen »regime shift« erlebt (Kemmerling & Bruttel 2006: 109), was insbesondere auf institutionelle Pfadabhängigkeiten zurückgeführt wird, die sich beschränkend auf die Reformfähigkeit auswirken: »Der Mensch denkt und die Institution lenkt.« (Schmid, G. 2006: 375) Zudem bietet das Beispiel der Hartz-Kommission – wie auch das der SüssmuthKommission – einen Ansatzpunkt für »Beratungskontinuität« bzw. das Aufgreifen und die Weiterentwicklung des durch die Kommission initiierten Beratungsdiskurses im staatlichministeriellen und wissenschaftlichen Bereich. Bereits zu Beginn der legislativen Verfahren in der Arbeitsmarktpolitik beauftragte der Bundestag die Bundesregierung mit der Evaluierung der Maßnahmen für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, die für die Gesetze »Hartz I-III« in zwei Schritten bis Ende 2006 abgeschlossen wurde.830 An der durch Vergabe externer Aufträge geleisteten Evaluierung waren mehr als 20 Forschungseinrichtungen mit rund 100 Wissenschaftlern beteiligt, die zu äußerst differenzierten Ergebnissen und Handlungsempfehlungen kommen.831 Die sog. Hartz-Evaluation als bislang größtes eigenständiges Projekt im Bereich der Arbeitsmarktforschung wird im Rahmen einer kurzfristigen Bewertung als Ausdruck eines gewandelten Verhältnisses von Politik und Wissenschaft interpretiert, mit dem eine neue Qualität in der deutschen Arbeitsmarktforschung erreicht werde (vgl. Heyer 2006: 475f.). Ähnlich wie der Süssmuth-Report attestierte man auch der Weizsäcker-Kommission eine eher geringe Reichweite hinsichtlich der Policy-Implementation. Optimistisch wurde zwar in einer ersten Analyse behauptet, das Kabinett habe mit dem Beschluss eines Eckwertepapiers des Verteidigungsministers, das dieser unmittelbar nach dem Kommissionsbericht vorlegte (vgl. Fn. 813), »die Anregungen der Kommission zu 90 Prozent übernommen.«832 Eine genauere Analyse verdeutlichte, dass zwar ein »auffällig hoher Übereinstimmungsgrad« (Werkner 2002: 58) zwischen Kommission und Ministereckwerten bestand und die Bundesregierung der Kommission in relativ wenigen Punkten nicht folgte. Die nicht akzeptierten Kommissionsempfehlungen, u.a. Reduzierung der Truppenstärke und Halbierung der Standorte, gehörten aber »gerade zu den zentralen Punkten der Bundeswehrreform« (ebd: 62). Dennoch stellen sich auch bei der Reform der Bundeswehr offenbar »Spätfolgen« der Kommission ein; ein Beobachter sah die rot-grüne Bundesregierung nach der Bundestagswahl 2002 und dem Stabswechsel im Verteidigungsministerium von Rudolf Scharping zu Peter Struck auf dem Weg »zurück zur Weizsäcker-Kommission« (Finckh 2003). Entgegen dem weit verbreiteten Eindruck des »Scheiterns« der Rürup-Kommission (vgl. Krick 2006: 6, 19) ist gerade bei dem Gremium zur Nachhaltigkeit in der Finanzie830 vgl. BT-Drsn. 15/98 vom 14. November 2002; 16/505 vom 1. Februar 2006 sowie »Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht 2006 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Wirkung der Umsetzung der Vorschläge der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt« vom 20. Dezember 2006. 831 vgl. dazu i.E. »Die Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht 2006 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales« (s. Fn. 830): insb. 206-213 sowie das Themenheft 3-4/2006 der Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung (ZAF) »Evaluation aktiver Arbeitsmarktpolitik in Deutschland«. 832 so der stellvertretende Kommissionsvorsitzende Theo Sommer, »Jeder vierte, wegtreten!«, Die Zeit Nr. 29 vom 13. Juli 2000; für eine ähnliche Einschätzung vgl. Fleckenstein, B. (2000).
4.3 Ausblick: Ergänzende Forschungsfragen
393
rung der Sozialen Sicherungssysteme von verschiedenen Autoren ein mittel- bis langfristiger Einfluss der Vorschläge ausgemacht worden (vgl. Dyson 2005: 238; insb. Brede 2006: 298ff.). So resummiert Falko Brede, die Reformvorschläge des Teilgremiums zur Rentenversicherung seien weitgehend umgesetzt worden (ebd.: 300; vgl. auch Butterwegge 2006: 211). Und für die über Jahre aufgeschobene und erst durch Verhandlungen im Koalitionsausschuss zwischen CDU, CSU und SPD im Juni 2007 angestoßene Reform der Pflegeversicherung boten die Kommissionsempfehlungen Anschlussmöglichkeiten. Im Hinblick auf Policy-Wandel bzw. die Umsetzung konkreter Policy-Programme deutet sich an, dass die Arbeit von regierungsseitig installierten Reformkommissionen keineswegs rein kurzfristig zu analysieren ist, sondern dass durchaus nachhaltige Beratungseffekte feststellbar sind. »Ad-hoc«-Kommissionen sind sie somit lediglich im Hinblick auf die ihnen zugedachten kurzfristigen, strategisch-taktischen Aufgaben. 4.3 Ausblick: Ergänzende Forschungsfragen Sowohl in Bezug auf das in dieser Studie untersuchte Beratungsregime der deutschen Migrationspolitik, als auch auf Regierungskommissionen zur Policy-Beratung im Allgemeinen bieten sich eine Reihe von Fragestellungen für die weitere Forschung an.
1. Die deutsche Migrationspolitik kann frühestens seit den späten 1980er Jahren als ein »eigenes« Politikfeld verstanden werden; seit dem so genannten Migrationskompromiss von 1992 wird sie zunehmend holistisch beraten. Eine Forschungslücke bezieht sich auf die in diesem Politikfeld prävalenten Modalitäten der Willensbildung, Beratung und Entscheidung aus der Perspektive eines »historischen Institutionalismus«. Während die Formulierung der Anwerbepolitik in der »Gastarbeiterära« vielfältig erforscht ist, liegen für den Zeitraum ab 1973 trotz der deutlichen Herausbildung einer politik- und geschichtswissenschaftlich dominierten Migrationsforschung relativ wenig dokumentengestützte Studien zu migrationspolitischen Fragestellungen vor. Dies ist vermutlich zum Teil auf die 30-jährige Sperrfrist für einen Großteil des Archivguts der Ministerien zurückzuführen. In Kapitel 2 dieser Studie wurden u.a. ministerielle und Bund-Länder-Kommissionen sowie der Vermittlungsausschuss als Foren der Beratung analysiert. Diese böten sich zur vertiefenden Forschung ebenso an wie die innerparteilichen Entscheidungsprozesse als Vorstufen der Entscheidungen im politischen Prozess. Welche Akteure erlangten über diese Kanäle zu Beratungs-, Gestaltungs- oder Entscheidungsmacht? Wie vollzogen sich Kontakte zu externen Akteuren, Wissenschaft und gesellschaftlichen Gruppen im Einzelnen?
2. Daran schließt sich ein weiteres Desiderat an. Während in der gegenwärtigen Migrationspolitikforschung den europäischen Willensbildungs-, Beratungs- und Entscheidungsprozessen erhöhte Aufmerksamkeit gilt, scheinen Aspekte der nationalstaatlichen und vor allem der
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
föderalen Administration der Migrationspolitik sowie ihrer über mehrere Ebenen verflochtenen Implementation unterbelichtet. Es fehlt an systematischen Ansätzen zur Untersuchung des Einflusses der (Ministerial-)Bürokratie bei der Migrationspolitikberatung im nachgesetzlichen Stadium – auf Bundes-, auf Landes- und auf kommunaler Ebene. Eine mögliche Hypothese lautet, dass Implementation in vielen Fällen nicht konform mit den Vorgaben der höheren Ebene verläuft. Dies würde nichts anderes bedeuten als dass der Fokus der Forschung auf nationalstaatliche oder supranationale Policy-Beratung aufgrund reduzierter faktischer Relevanz möglicherweise verfehlt ist.833 In dieser Untersuchung wurde versucht, für diese Art administrativer Politikbeeinflussung, die Kai-Uwe Schnapp (2004: 336) treffend als »bürokratischen Drift in der Implementationsphase« bezeichnet hat, einige empirische Beispiele herauszuarbeiten (vgl. Kap. 3.4.3). Wegen des Schwerpunktes auf Regieren im Bund konnten diese Ansätze jedoch nicht systematisch vertieft werden. Das Fallbeispiel deutscher Migrationspolitikberatung legt jedoch nahe, dass gerade bezüglich der Anwendung von Migrationspolitik und den implementationsorientierten Konsultationen und Verhandlungen auf den verschiedenen Ebenen eine solche Forschungsperspektive lohnend ist.
3. Auch im Umfeld des Wirkens der hier aus Regierungsperspektive untersuchten Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« blieben einige interessante Fragen zu klären. Eine davon betrifft die Oppositions- bzw. Parteienforschung. In Kapitel 3.2.4 wurden Formen und Funktionen parteipolitischer »Gegengremien« zur Süssmuth-Kommission dargestellt und diskutiert. Deutlich wurde, dass Fraktionen und Parteien einerseits in der Öffentlichkeit in eine Art Beratungskonkurrenz zur Gubernative treten, ihre Kommissionen und Arbeitsgruppen jedoch auch dezidierte Binnenwirkung entfalten. Hier scheint insbesondere die Programm- und Integrationsfunktion der sog. Müller-Kommission des CDU-Präsidiums ein lohnender Forschungsgegenstand, da in ihr ursprünglich ein für das Selbstverständnis der Partei fundamentaler Politikwechsel vollzogen werden sollte. Beruht ein solcher Wandel auf Akteuren innerhalb der Partei (vgl. dazu Fn. 376) oder ist er eher reaktiv im Sinne elektoraler Responsivität zu erklären? Warum wurde er im konkreten Fall nicht vollzogen? Ist dabei die antizipierte Einbuße von Veto-Macht ausschlaggebend? Welche Rolle spielte die spezifische Konstellation zwischen CDU und CSU? Ähnliche Fragen stellen sich im Hinblick auf die parteipolitische Agendagestaltung auch für die anderen Parteien, aus deren Analyse sich auch grundlegende Rückschlüsse auf oppositionelle Arbeit im Deutschen Bundestag ziehen ließen.
833 Von einer ähnlichen Warte hat etwa Thomas Ellwein seine (Selbst-)Kritik der Regierungslehre der 1960er Jahre begründet: Sie habe zu stark eine bestimmte Art von Einheit staatlichen Handelns herausgestellt und die »Verflechtung von zentraler und dezentraler Problembewältigung« sowie die erkennbaren Autonomien der Verwaltungen nicht ausreichend beachtet. »Die Regierung […] verfügt nicht über ein gefügiges Instrumentarium.« (Ellwein 1990: 38; vgl. auch Nehls 2002: 66)
4.3 Ausblick: Ergänzende Forschungsfragen
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4. Was mit Konsens als Mittel-/Zielkriterium des Regierens inhaltlich gemeint ist, darauf konnte im Rahmen dieser Arbeit in Kapitel 1.1.3 sowie in den Kapiteln 2.5 (unter 5.) und 4.2 (unter 1.) jeweils nur knapp eingegangen werden. Weder die »klassische« (»moderne«) Regierungslehre der 1960er Jahre noch die neuere Regierungsforschung geben darauf eine befriedigende Antwort. Der Terminus bleibt gleichermaßen diffus wie uneinheitlich gebraucht. Die Auseinandersetzung mit dem Konsensbegriff beim Regieren bildet daher aus Sicht des Verfassers eine lohnende empirische wie theoretische Forschungsaufgabe, und zwar in dreierlei Hinsicht. Zum einen bezüglich einzelner Politikfelder und dem reklamierten bzw. tatsächlichen Stellenwert von Konsens für eine zu reformierende Policy. In der bundesdeutschen Ausländerpolitik, die seit je her seitens der Regierenden mit großem Konsensbedarf belegt ist, endeten zahlreiche Reformvorhaben tatsächlich vielmehr eben nicht in einem breit akzeptierten Konsens, sondern förderten neuen politischen Dissens zu Tage – ohne dass gleichzeitig fundamentale Akzeptanzprobleme in der öffentlichen Meinung deutlich geworden wären. Wie viel Konsens ist also überhaupt vorhanden bzw. nötig? Inwieweit spiegeln politische Konsense gesellschaftliche Konsense, also inwieweit verhält sich Politik responsiv zur Mehrheitsmeinung? Müsste dort, wo fast immer von »Konsens« die Rede ist, nicht viel eher von »befriedendem Kompromiss als Ziel eines Dissenses« bzw. »zustimmender Akzeptanz« die Rede sein, die sich dann – so sie sich als stabil erweisen – in einen Konsens verwandeln können? Zum Zweiten ist nach der Rolle und Stabilität von gesellschaftlichem Grundkonsens zu fragen. Wie verhält es sich, wenn solche übergeordneten Konsense über grundlegende Werte, die das Überzeugungssystem der Gemeinschaft prägen, durch Regierungshandeln tangiert werden? Zu denken ist dabei etwa an politische Programme wie die »Agenda 2010«, die in den Augen von Kritikern den Weg in eine andere Republik wiesen (vgl. Butterwegge 2006: 202). Wie gelingt es einerseits der Regierung, die »Ablösung« von einem »alten« Konsens zu befördern und gleichzeitig ein neues konsensuales Leitbild zu verankern? Welche Folgen werden andererseits für die Regierung oder auch das politische System als Ganzes deutlich, wenn ein solcher Prozess »misslingt«? Oder sind gar keine Konsequenzen zu erwarten, weil die soziale Nachfrage nach Konsens im Allgemeinen viel größer ist als der für ein spannungsfreies Zusammenleben der Gesellschaft nötige Bedarf? Zum Dritten böte sich an, das Verständnis von Konsensorganisation als Meta-Aufgabe politischer Führung beim Regieren theoretisch-konzeptuell und empirisch gestützt zu konkretisieren. Seit Rudolf Wildenmanns Studie über Macht und Konsens (1963) wird dieses gubernative Konsensziel von vielen Vertretern der Politikwissenschaft als reiner Wahlkonsens im Sinne des englischen consent, der Zustimmung der Wählerschaft zum politischen »Kurs« der Regierung, verstanden. Doch die Koordination von Konsens beim Regieren ist ein vielschichtiges Phänomen, was aus der empirischen Analyse in Kapitel 3 ebenso hervorgeht wie aus der theoretischen Erörterung in Kapitel 1.1.3.1. Die hier aufgezeigten Konsensdimensionen sind bislang allenfalls deskriptiv hergeleitete Größen, die der begrifflichen wie der inhaltlichen Konkretisierung bedürfen und auch hinsichtlich anderer Fallbeispiele mit den deklamatorischen Konsensansprüchen regierender Politiker kontrastiert bzw. normativ in Einklang gebracht werden müssten.
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
5. In dieser Studie wurde an den normativen Anspruch einer konsensbildenden Funktion von öffentlichkeitswirksamen Regierungskommissionen angeschlossen. Dies provoziert die Frage, inwieweit andere regierungsseitige Institute eine ähnliche Aufgabe wahrnehmen. Hier ist an die über einen längeren Zeitraum und meist ohne engen Untersuchungs- oder Beratungsauftrag eingesetzten Räte834 ebenso zu denken, wie an die unter der Großen Koalition seit Anfang 2006 in verschiedenen Politikfeldern und unter pluraler Beteiligung organisierten Gipfel.835 Eingerichtet um – wie im Falle des Integrationsgipfels – »eine Diskussion an[zu]stoßen«, an »deren Ende […] ein abgestimmtes Konzept stehen« soll,836 könnten diese Gipfel ein funktionales Äquivalent der Großen Koalition zu den Regierungskommissionen unter Rot-Grün sein, in dem gesellschaftliche und politische Interessen mit dem Ziel eines Konsenses vorverhandelt werden. Legitimationsbeschaffung würde hier weniger über vermeintlich überparteilichen, rationalen Expertenrat, sondern stärker über symbolische Inklusion erfolgen. Grundsätzliche Überlegungen in diese Richtung (vgl. Schneider 2006a, 2009) sowie Fallbetrachtungen (vgl. Zinterer 2008; Thränhardt 2009) legen weiteren Forschungsbedarf nahe.
6. Neuere Bemühungen zur grundlegenden Typologisierung politikberatender Gremien im Bereich der Bundesregierung (vgl. dazu insb. Schneider 2004; Sebaldt 2004: 190, Siefken 2003: 493f.; Unkelbach 2001: 20f.) sollten in der Zukunft ergänzt werden um empirisch gestützte Analysen ihrer tatsächlichen Wirkungsweise und Beratungspraxis. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Studie von Sven Siefken (2007), in der er einerseits alle 834 Als prominente Beispiele sind hier der Nachhaltigkeitsrat und der Ethikrat zu nennen, die beide im Jahr 2001 vom damaligen Bundeskanzler Schröder berufen wurden. Dem Rat für Nachhaltige Entwicklung gehören 15 Personen des öffentlichen Lebens an. Er soll Nachhaltigkeit zu einem wichtigen öffentlichen Anliegen machen, Beiträge für die Umsetzung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie entwickeln und konkrete Handlungsfelder und Projekte für Nachhaltigkeit benennen. Im Mai 2007 berief Angela Merkel seine Mitglieder für die dritte Amtsperiode bis 2010, die mit der konstituierenden Sitzung am 12. Juni 2007 begann (vgl. »Konstituierende Sitzung des Rates für Nachhaltige Entwicklung für die Periode 2007 bis 2010«, PM Nr. 229 des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 13. Juni 2007). Der von Schröder so genannte »Nationale Ethikrat« wird nach mehrjähriger intensiver Debatte über das Besetzungsverfahren (vgl. dazu Brede 2005; Riedel 2004; Schneider 2006a: 787f.) und einem Bundestagsbeschluss mit dem im Herbst 2007 in Kraft tretenden »Gesetz zur Einrichtung des Deutschen Ethikrates« leicht abgewandelt fortgeführt und um einen Ethikbeirat beim Deutschen Bundestag ergänzt – vor allem aber demokratisch legitimiert und institutionalisiert (vgl. BT-Drsn. 16/2856 vom 4. Oktober 2006; 16/5128 vom 25. April 2007). 835 Neben dem Integrationsgipfel, dessen zweite und dritte Plenarveranstaltung am 12. Juli 2007 sowie am 6. November 2008 stattfanden, veranstaltete die Bundesregierung der Großen Koalition u.a. einen Energiegipfel zur Vorbereitung eines integrierten Programms für Energie- und Klimaschutz (mit Tagungen am 3. April 2006, am 9. Oktober 2006 und am 3. Juli 2007), eine »Wertegipfel« genannte Tagung eines von Familienministerin von der Leyen einberufenen »Bündnis für Erziehung« am 20. April 2006 sowie einen Bildungsgipfel am 22. Oktober 2008, der die fragmentierten Kompetenzen von Bund und Ländern systematisieren, zusätzliche Bildungsinitiativen generieren und einen ersten Schritt auf dem Weg zu der von Bundeskanzlerin Merkel propagierten »Bildungsrepublik« darstellen sollte. 836 »Bundesregierung plant Integrationskonferenz«, PM des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 10. April 2006 (http://www.bundesregierung.de/nn_774/Content/DE/Artikel/2006/04/2006-04-10-bundes regierung-plant-integrationskonferenz.html; 24.06.2007).
4.4 Fazit: Modernes Regieren?
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25 in der 14. und 15. WP wirkenden Expertenkommissionen der Bundesregierung näher untersucht und zu einer Typenbildung gelangt (vgl. auch Siefken 2006 sowie Kap. 1.2.5), andererseits drei Fallbeispiele aus dem gleichen Zeitraum qualitativ vergleicht. Die Erkenntnisse und Hypothesen seiner Studie, die durch regelmäßige wissenschaftliche Kontakte mit dem Verfasser auch in diese Arbeit eingeflossen sind, bieten eine gute Ausgangsbasis für die weitere Forschung zur Rolle und Struktur von Expertenkommissionen. Siefken kann insofern beigepflichtet werden, als dass sich insbesondere eine Erweiterung der Perspektive auf entsprechende Gremien der Landesregierungen anbietet (vgl. Siefken 2007: 322). Weithin offen bleiben Fragen nach der Möglichkeit, Beratungsgremien der Regierung auch unter normativen und demokratiepolitischen Kriterien zu gruppieren und zu bewerten. An anderer Stelle wurden dazu vom Verfasser bereits erste forschungsmethodische Überlegungen in Richtung auf eine Politologie der Beratungsgremien angestellt (vgl. Schneider 2006: 123-129). Sie gehen davon aus, dass der bisherige Stand der Forschung die Aufstellung einer elaborierten Typologie (noch) nicht erlaubt, da es sich um einen zu komplexen und heterogenen Betrachtungsgegenstand handelt, als dass er durch oberflächliche Beschreibung anhand weniger Variablen hinreichend erfasst bzw. entlang primärer, eindimensionaler Typologisierungsmerkmale normativ befriedigend und analytisch gehaltvoll kategorisiert werden könnte. Vorgeschlagen wird ein mehrstufiger Forschungsansatz zur Einordnung eines Gremiums, der auch die Abschätzung seiner demokratie- und effizienzpolitischen Implikationen auf verschiedenen Ebenen umfasst. Eine solche Taxonomie der Kommissionen würde neben Erkenntnissen zu Gestalt und Performanz somit auch Rückschlüsse auf die »Demokratieverträglichkeit« eines Beratungsgremiums und damit seiner im weitesten Sinn verstandenen demokratischen Legitimität erlauben (vgl. ebd.: 129). Eine ähnliche Perspektive skizziert auch Eva Krick (2006) auf der Grundlage ihrer Vergleichshypothesen zur Arbeit der Hartz- und der Rürup-Kommissionen. Sie empfiehlt die »Entwicklung von Gütekriterien an Hand eines Vergleichs verschiedener Organisationsformen und Funktionstypen« (ebd.: 29), bei dem der tatsächliche Einfluss von Beratung auch mittelfristig berücksichtigt wird und »mit deren Hilfe sich good-practice-Beispiele einer Verbindung von Effektivität und Transparenz identifizieren lassen« (ebd.). Die vorliegende extensive Studie zur Süssmuth-Kommission hat im Hinblick auf das Beratungsregime der Migrationspolitik in Deutschland einen Beitrag zur kurz-, mittel- und langfristigen Untersuchung der komplexen »Güte« von Politikberatungsprozessen geleistet und dabei die Perspektive einer normativ wie analytisch orientierten Regierungsforschung gewählt. Weitere Studien zu Politikfeldern, in denen ähnliche Gremien innerhalb eines breiten Konsortiums der Policy-Beratung wirken oder gewirkt haben, könnten hieran anschließen. Die Tatsache, dass hier die Policy- und die Politics-Dimension gleichermaßen wichtige Rollen spielen, sollte im forschungspraktischen Design solcher weiterführenden Studien jedenfalls unbedingt Berücksichtigung finden. 4.4 Fazit: Modernes Regieren? Das unter Bundeskanzler Gerhard Schröder betriebene Regieren mit Kommissionen und Räten zeigt gewisse Parallelen zu den beratungsinstitutionellen Komponenten der Planungspolitik der Regierung Brandt in den frühen 1970er Jahren. Mit der Verwissenschaftlichung von Politik durch die Einbindung von Experten in der Programmvorbereitung ging
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4 Ergebnisse und Schlussfolgerungen
damals die Erwartung einher, dass Parteitaktiken und der Einfluss von Interessengruppen tendenziell nicht mehr die Hauptrolle bei politischen Entscheidungen spielen würden, sondern Politik – orientiert am Kriterium der Rationalität – gemeinwohlförderliche und damit demokratische Ergebnisse zu Tage fördern könnte (vgl. Metzler 2005: 209ff.; Süß 2004). Gerade die Einrichtung von heuristischen Stäben oder »Suchkommissionen« von Parlament und Regierung sollte »neue Möglichkeiten und Chancen der Politik« eröffnen (Scharpf 1970: 84) – und stieß dabei auf ganz ähnliche Vorbehalte wie das »Kommissionswesen« unter der rot-grünen Bundesregierung.837 Die Hoffnungen dieser Politikberatungsstrategie erfüllten sich allenfalls partiell, nicht zuletzt aus der Erfahrung der Politisierung von Expertise (die sich in dem Phänomen der stets verfügbaren, wissenschaftlich »gleichwertigen« Option von Gegenexpertise treffend widerspiegelt), der Planungsernüchterung durch die Erkenntnisse der Evaluations- bzw. Implementationsforschung, den gewachsenen Ansprüchen von politischer Beratung an Transparenz und Partizipation sowie der »Enttechnokratisierung« politischer Fragen dahingehend, dass neben technische oder rechtsmaterielle Sachkomplexität zunehmend auch wert- und ethikbasierte Entscheidungskomplexität getreten ist. In der Variante der Schröder-Regierung und im Zeitalter der gubernativen Kommissionen hat sich lediglich das abstrakte Zielkriterium verschoben. Nicht mehr wissenschaftliche Rationalität, sondern gesellschaftlicher Konsens lautete die Leitvokabel. Denn Konsensvorbereitung bzw. Konsensschaffung als zentraler Bestandteil reformorientierten Regierens ergibt sich in wesentlich stärkerem Maße als noch vor 30 bis 40 Jahren als immanente Notwendigkeit des politischen Systems (vgl. Hesse & Ellwein 2004: 394). Von der Gubernative gesteuerte Politik im Sinne der Herbeiführung gesellschaftlich verbindlicher Entscheidungen ist voraussetzungsvoller geworden. Als Faktoren sind zu nennen: Komplexe Koordinationserfordernisse mit Koalitionspartnern bei der Regierungsorganisation, die Verschränkung der stärker föderalen Politikverflechtung mit einem ausgeprägten Parteienwettbewerb (gerade bei Zustimmungsgesetzen und gegengerichteten Mehrheiten in Bundestag und Bundesrat), die Existenz über Jahre geformter Policy-Netzwerke im vor- und para-parlamentarischen Raum sowie wesentlich stärker »veröffentlichte« und mediatisierte Beratungsprozesse. Daraus resultieren höhere Ansprüche hinsichtlich der Legitimierung von Regierungspolitik, die etwa durch aufklärerische und konsensfördernde Öffentlichkeitsarbeit befriedigt werden können. Eine anspruchsvolle Konzeptualisierung von modernem Regieren muss jedoch auch die »Gütekriterien« gubernativen Handelns, die Demokratieverträglichkeit seiner Instrumente und Verfahren, berücksichtigen. Der in den Ergebnisthesen des Kapitels 4.2 nur oberflächlich gezogene Vergleich der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« mit ähnlichen Gremien lädt zu dem Schluss ein, die Süssmuth-Kommission könne im Hinblick auf normativ formulierte Ansprüche an modernes Regieren vielleicht als die »beste aller Kommissionen« gelten. Eine solche Qualifizierung soll jedoch nicht explizit vorgenommen oder begründet werden – dies zum einen, weil es nicht Teil der Fragestellung dieser Studie war, zum anderen, weil die Nähe des Forschers zu seinem Betrachtungsgegenstand stets das 837 So fragte die Zeit besorgt: »Werden in Bonn die Politiker von den Experten entmachtet? Werden politische Entscheidungen durch wissenschaftliche Gutachten ersetzt? Wird die Regierung von Planern und nicht mehr vom Parlament kontrolliert?« (Claus Grossner, »Wenn Zukunft verplant wird«, Die Zeit Nr. 15 vom 9. April 1971: 8); vgl. auch die Diskussion der machtpolitischen Vorbehalte gegenüber regierungsseitigen Planungsinstrumenten bei Böhret (1970: 244ff.).
4.4 Fazit: Modernes Regieren?
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Risiko birgt, ihn zu wohlwollend (oder zu kritisch!) zu evaluieren. Zum Dritten müsste ein solchermaßen wertendes Urteil auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die Zuwanderungskommission als Modell nur eine (knapp einjährige) Episode in einer insgesamt eher kontingent und »adhocratisch« sich vollziehenden Entwickung des migrationspolitischen Beratungsregimes der Bundesrepublik darstellt, dessen elementare Mechanismen weitgehend pfadabhängig und veränderungsresistent bleiben. Vielmehr kann als zentrales Ergebnis festgehalten werden: Aus nahezu sämtlichen politisch-institutionellen wie politikfeldspezifischen Perspektiven auf die Anforderungen an demokratisches Regieren erweisen sich gubernative Kommissionen nach dem Modell der Zuwanderungskommission nicht nur als demokratietheoretisch unbedenklich (keine negative Beeinflussung demokratischer Input- und Output-Legitimität), sondern sogar in einem pragmatischen Sinn als demokratiepolitisch nützlich und progressiv. So ist mit Blick auf Reformen und die Durchsetzbarkeit eines Gesetzgebungsverfahrens von einer »speditiven«, ermöglichenden Funktion auszugehen – Kommissionen können also die grundsätzliche Reformkompetenz oder -kapazität der Regierung in einem Politikfeld stärken und einen Beitrag dazu leisten, dass es überhaupt zu Policy-Wandel kommt, der über inkrementelles muddling through hinausgeht. Auch wenn sie dabei die Input-Legitimität politischer Beratungen nicht radikal zu steigern vermögen, wie es insbesondere partizipative und deliberative Verfahren der Konsultation verheißen, so systematisieren sie immerhin Einfluss und Mitsprache gesellschaftlicher Interessen bei politischen Entscheidungen im Politikfeld durch geregelte Beteiligung eines breiteren Spektrums von Organisationen im präparlamentarischen Raum. In Ansätzen vollzieht sich der Politikberatungsprozess damit im Sinne des assoziativen Demokratiemodells.
Demokratischer Mehrwert? »Regierungskommissionen«, so drückt es Rita Süssmuth, die Vorsitzende der in dieser Studie untersuchten Unabhängigen Zuwanderungskommission aus, »ersetzen weder Regierungshandeln noch Parlamentshandeln. Sie sind eine Zuarbeit. Der Entscheider bleibt. Sie sind ein Element kooperativen Regierens und nicht nur repräsentativen – kooperativ insbesondere dann, wenn ich nicht nur die Experten einbeziehe, sondern auch die civil society. Das ist noch eine ganz vernachlässigte Dimension.« (Interview Süssmuth: 156) Da gubernative Kommissionen prinzipiell den demokratischen Kern des Policymaking in der Bundesrepublik – den parteipolitisch-parlamentarischen Entscheidungsprozess – weder obsolet machen noch nachweislich schwächen, sondern ihn vielmehr mit-initiieren, begleiten und befördern, können sie als ein im pragmatischen Sinn demokratiepolitisch wertvolles Supplement wettbewerbsdemokratischer Entscheidung interpretiert werden. Denn wenn der Bundestag kontrovers über Kommissionen und deren Empfehlungen debattiert, letztere also nicht lediglich durch Beschluss »umsetzt« oder ablehnt, wirkt er den vermuteten Tendenzen seiner »Selbst-Entparlamentarisierung« (Ruffert 2002: 1154) entgegen. Indem Beratungsgremien durch ihre Vorverhandlungen parlamentarischen Diskurs provozieren, vermeiden sie indirekt sog. »Ratifikationslagen« der Volksvertretung und stärken tendenziell deren Repräsentationsfunktion. Durch ihr potentiell aufklärerisches und diskursförderndes Wirken im (para-)parlamentarischen Raum begegnen Kommissionen zudem einem zentralen Vorbehalt gegenüber
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der Konkurrenzdemokratie. Dieser besagt, dass demokratische Selbstbestimmung eines Gemeinwesens nicht bereits allein deswegen als gegeben angesehen werden kann, weil frei gewählte Repräsentanten im Parlament ein Gesetz mehrheitlich beschließen oder in einem nicht-öffentlichen Verfahren einen Kompromiss aushandeln. Denn gerade wenn parlamentarische Beratungsprozesse kurz sind und die entscheidungsbezogene Beratung in exklusiven, repräsentationsdemokratisch nur schwach legitimierten Zirkeln (wie »Koalitionsrunden« oder Arbeitsgruppen des Vermittlungsausschusses) erfolgen, ergibt sich stets ein mehr oder weniger stark übergangener Akteurskreis der Politik, der dann gewissermaßen oligarchisch fremdbestimmt ist (vgl. Scharpf 1993: 31). Haben jedoch diskursive Beratungs- und Vorverhandlungsprozesse sowie darauf aufbauend kontroverse parlamentarische Debatten stattgefunden, scheint dieser Akteurskreis, zu dem etwa die Abgeordneten der Fraktionen, nicht beteiligte Ressorts oder auch in parlamentarischen bzw. ministeriellen Hearings unberücksichtigte gesellschaftlichen Gruppen gehören können, zumindest besser aufgeklärt und beteiligt. Durch den per Kommission beförderten grundlegenden issue-Konsens, so die These, kann die Akzeptanz verhandlungsbasierter, im »kleinen Kreis« gefundener Parteienkompromisse und durch einfache Mehrheiten erreichter Entscheidungen steigen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen sind gubernative Kommissionen auch aus der Perspektive einer normativ als »Demokratiewissenschaft« verstandenen Politologie relevant. Dass die identifizierten vorteilhaften Potentiale bezüglich Funktion und Wirkung regierungsseitig angesiedelter, aber unabhängiger Beratungskommissionen nicht zwangsläufig auch deckungsgleich mit den strategisch-funktionalen Intentionen der sie installierenden Gubernative sind (sprich: nicht im Sinne ihrer Erfinder!), sollte dabei nicht überbewertet werden.838 Wenn aber die Einrichtung von Kommissionen primär und intentional an Kriterien des Machterhaltes bzw. der Wiederwahl, der hierarchischen Durchsetzung gubernativer Absichten gegenüber widerstreitenden Interessen oder der Implementation »obrigkeitsstaatlich verordneter« Policies orientiert ist, scheint normative Kritik angebracht: Denn mit dem Attribut »modern« im Sinne verantwortlicher und demokratischer politischer Führung kann solcherart Kommissionsregieren jedenfalls nicht belegt werden. Optimistische Einschätzungen, nach denen die Arbeit von Kommissionen per se Zugewinne auf der Inputwie der Output-legitimatorischen Seite des Regierens verspreche, erweisen sich als ebenso unzutreffend wie das pauschale Urteil, diese Gremien trügen zu einer Entformalisierung des Beratungsprozesses bei und schwächten die Rolle des Parlaments. Doch auch die gemeinhin postulierte Logik, demokratietheoretisch unbedenkliche Regierungskommissionen erwiesen sich als weitgehend wirkungslos, während reformeffiziente Gremien tendenziell mit Input-legitimatorischen Gefahren verbunden seien, gehört weiterhin auf den Prüfstand empirischer Fallanalyse.
838 Auch in anderen Zusammenhängen ist verdeutlicht worden, dass die tatsächliche Wirkung von institutionalisierten Politikberatungsprozessen von den ursprünglichen Motiven und Absichten abweichen, gleichwohl aber normativ wünschenswert bzw. demokratisch wertvoll sein kann. So sieht Frank Hampel die Funktion parlamentarischer Enquete-Kommissionen darin, das »regelgeleitete Prozessieren von Dissens generell zu arrangieren bzw. dissensgeleitete Formen der Verständigung bei Bedarf bzw. Konflikten zu organisieren und auf diese Art – quasi hinter dem Rücken der Beteiligten – integrative und legitimative Wirkung zu entfalten« (Hampel 1991: 130). Dieses »sozietale Verhandlungssystem« entspreche mitnichten den Motiven und Absichten seiner Initiatoren; »es war sozusagen die List der Geschichte, die negative Dialektik, die es zu dem werden ließ, was es jetzt vielleicht ist.« (ebd.: 133)
4.4 Fazit: Modernes Regieren?
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Nicht nur das Beispiel der Zuwanderungskommission, sondern auch Beratungsprozesse in anderen Politikfeldern zeigen jedenfalls, dass durch die Kernexekutive initiierte, vorparlamentarische Beratungskommissionen zu einem manifesten – wenn nicht akzeptierten so doch hingenommenen – Bestandteil des Regierungs- und Policymaking-Prozesses in der Bundesrepublik geworden sind; ein Bestandteil, dessen konkrete Ausformung je Politikfeld sehr spezifisch erfolgt, dessen machtstrategischer Nutzen beschränkt ist, dessen demokratiepolitische Risiken bekannt (und weitgehend gebannt) sind und dessen Wirkmächtigkeit sich nur qua Einzelfalluntersuchung politikwissenschaftlich analysieren lässt. Auf der empirischen Grundlage dieser Studie kann daher die einleitend formulierte Frage nach der Relevanz des Untersuchungsgegenstandes nur folgendermaßen beantwortet werden: Commissions do matter, but they don’t matter too much.
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Anhang Anhang
Anhang 1: Liste der geführten Interviews Interviewpartner
Funktion im Hinblick auf die UK ZU
Datum
Ort
Lale Akgün
Leiterin des LZZ Solingen
10.07.2003
Berlin
Hartwig Bierhoff
Stellv. Leiter der Geschäftsstelle UK ZU
02.05.2005
Berlin
Wolfgang Bosbach
Stellv. Vorsitzender, CDU/CSU-Fraktion
22.10.2004
Berlin
Horst Eylmann
Kommissionsmitglied
13.09.2004
Stade
Kay Hailbronner
Kommissionsmitglied
22.11.2004
Berlin
Thomas Helm
Referent für Inneres, CDU/CSU-Fraktion
19.07.2004
Berlin
Stefan von Holthey
Leiter der Geschäftsstelle UK ZU
01.03.2004
Berlin
Roland Issen
Kommissionsmitglied
19.04.2004
Hamburg
Christoph Kannengießer
Kommissionsmitglied
26.07.2004
Berlin
Gerold Lehnguth
Abteilungsleiter M, BMI
29.07.2003
Berlin
Rainer Münz
Kommissionsmitglied
26.11.2002
Berlin
Vural Öger
Kommissionsmitglied
25.08.2005
Hamburg
Cem Özdemir
Innenpolitischer Sprecher, Bündnis 90/ Die Grünen
02.03.2004
Berlin
Petra Pau
Stellv. Vorsitzende, PDS-Fraktion
04.03.2004
Berlin
Heinz Putzhammer
Kommissionsmitglied
19.10.2004
Berlin
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Kommissionsmitglied
26.11.2003
Berlin
Herbert Schnoor
Kommissionsmitglied
23.09.2004
Werder
Cornelie Sonntag-Wolgast
Parlamentarische Staatssekretätin im BMI
19.04.2005
Berlin
Max Stadler
Innenpolitischer Sprecher, FDP-Fraktion
26.11.2003
Berlin
Ludwig Stiegler
Stellv. Vorsitzender, SPD-Fraktion
22.04.2005
Berlin
Ingrid von Stumm
Mitarbeiterin der Geschäftsstelle UK ZU
03.03.2004
Berlin
Rita Süssmuth
Vorsitzende der Kommission
02.03.2004
Berlin
Malti Taneja
Mitarbeiterin der Geschäftsstelle UK ZU
10.07.2003
Berlin
Hans-Jochen-Vogel
Stellv. Vorsitzender der Kommission
27.05.2004
Berlin
Josef Voß
Kommissionsmitglied
24.03.2004
Münster
Willi Zylajew
Stellv. Mitglied des Innenausschusses, CDU/CSU-Fraktion
04.03.2004
Berlin
438
Anhang
Anhang 2: Interviewleitfaden (Muster) Kurzes Vorstellen des Exposes Im Rahmen eines Forschungsprojektes möchte ich mich gerne mit Ihnen über die Unabhänge Kommission Zuwanderung und Ihre Rolle vor, während und nach der Arbeit dieser Kommission unterhalten. Außerdem würde ich gerne etwas über die Funktion einer solchen Kommission im Prozess der Formulierung von Ausländer- oder Migrationspolitik erfahren und Ihre Einschätzung zum »Kommissionsprozess« im Falle der »SüssmuthKommission« hören. x Studie über die Zuwanderungskommission aus der Sicht der Regierungslehre und Politikberatung x Es geht um die Rolle der Kommission im Politikprozess x Wahl der Interviewpartner aus den Bereichen Kommission, Regierung/Ministerialverwaltung und Parlament
A. Experteninterview (strukturierter Teil) Rahmenbedingungen / Vorlauf x Entstehungszusammenhang der Zuwanderungskommission - Zeitpunkt der Kenntnisnahme der Idee bzw. schließlichen Einberufung - Umstände der persönlichen Berufung, ggf. vorherige Versuche der Beteiligung - Mitbestimmung bei weiterer Besetzung der Kommission bzw. Sekretariat x Ihre Funktion und Rolle in der Kommission x Fachexpertise/Beratung oder Mitbestimmung Arbeitsweise / »Regeln« innerhalb der Kommission / Kontrolle x Geschäftsordnung - Vertraulichkeit: Warum? Wie kontrolliert? x Arbeitsgruppen - Vorsitz und Arbeitsweise / Rückkopplung an Gesamtkommission x Abstimmungen/Entscheidungsfindung - »Problematische« / »neuralgische Punkte« in den Beratungen der Kommission - Verhältnis von »arguing« und »bargaining«; Eingehen von Kompromissen vs. argumentative Suche nach dem »best one way« - »Mehrheitsentscheidungen« / »Überstimmen« / Diskussion von Minderheitenvoten x Fertigung des Endberichts - Wiederfinden eigener eingebrachter Vorstellungen und Standpunkte im Abschlussbericht
B. Zuwanderungskommission in der Migrationsgesetzgebung (offener Teil) Einschätzung aus der Retrospektive Wechselwirkung mit dem Parlament Wechselwirkung mit der Exekutive (Ministerialbürokratie / Regierung) x Kanzleramt x Parallelen zu Ressortabstimmungen bei Referentenentwurf Wechselwirkung / Einfluss sonstigen Akteuren und Öffentlichkeit x Einzelgutachten x Mitarbeiter der Geschäftsstelle x Anhörungen x Öffentlichkeitsarbeit
Anhang Formale und informale Kommunikationsmuster x innerhalb der Kommission x in den »intermediären Bereich« (Ministerien, Regierung, BMI) x nach außen Einsetzung und Wirken der Zuwanderungskommission mit Blick auf Migrationspolitik in Deutschland x »Paradigmenwechsel« x demokratische Legitimitätsaspekte x Konsensfindungsinstrument x Politikberatungsinstrument Beurteilung: Regierungskommissionen allgemein x Demokratische Aspekte x Politikgestaltung / Effektivität x Grenzen und Gefahren
439
440
Anhang
Anhang 3: Kategorien-/Codesystem nach Kodierung Legende der Memos
Überschriften
Politisch-administrativer Vorlauf Motiv- und Ausgangslage Regierungspolitik Parteipolitische Positionen Arbeitsmarktorientierte Zuwanderung Ideengebung & Planung Koalitionsmanagement Interministerielle Abstimmung Berufung der Kommission Entscheidungsprozess Arbeitsstab Kommissionsmitglieder Kommissionsvorsitz Migranten- und Frauenrepräsentation Interne Arbeitsweise Grundlagen der Kommissionsarbeit Arbeitsklima Organisation der Geschäftsstelle Organisation der Kommissionsarbeit Leitung durch den Vorsitz Vertraulichkeit Arbeitsgruppen Bildung & Vorgehen der AGs Integration der Mitarbeiter Willensbildung Gruppendynamik Argumentieren Verhandeln/Bargaining Dissenspunkte Rollen und Funktionen der Mitglieder Expertise Repräsentanz Unabhängigkeit/Sachorientierung »Politische Funktion« Akteurs-/Interessenkoalitionen Bericht Redaktion und Produktion Kommissionsempfehlungen
Anhang Interaktionen Unabhängigkeit Exekutive/BMI Parteien/Fraktionen »Stiegler«-Kommission »Müller«-Kommission Verbände/Organisationen Gutachten und Fachgespräche Vergabe und Auswahl Funktion und Qualität Anhörungen Auswahl & Legitimation Erkenntnisgewinn Pressearbeit und Medienöffentlichkeit Formale/informale Kommunikation Funktionen Paradigmenwechsel/Politikwandel Legitimationsbeschaffung Konsensfindungsinstrument Deliberation/Diskurs Politikberatungsinstrument Beratungskonkurrenz Stellung des Parlaments Kommissions-Regieren Implementation Referentenentwurf Koalitionsentwurf Parteienwettbewerb Politikinhalte des ZuwG
441
442
Anhang
Anhang 4: Arbeitsauftrag der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«839
Die Kommission soll insbesondere untersuchen 1.
welche legislativen, administrativen, organisatorischen oder sonstigen Maßnahmen erforderlich sind, um Zuwanderung zu steuern und zu begrenzen,
2.
nach welchen Kriterien und Grundsätzen in welchem institutionellen oder organisatorischen Rahmen der Zuwanderungsbedarf ermittelt werden sollte,
3.
ob und ggf. welche Änderungen im Asylverfahren – unter Wahrung der humanitären Verpflichtungen Deutschlands zur Aufnahme politisch Verfolgter und zur vorübergehenden Aufnahme von Flüchtlingen in Bürgerkriegs- oder anderen Notsituationen – erforderlich sind, um die Dauer der Verfahren zu straffen,
4.
ob die Zuwanderungsregelungen für Spätaussiedler beibehalten, beendet oder modifiziert werden sollen,
5.
wie Zuwanderung und Integration aufeinander abgestimmt werden sollen und wie ein Integrationskonzept inhaltlich ausgerichtet sein sollte,
6.
wie sich einen künftige Zuwanderungspolitik in das geplante gemeinsame europäische Asylsystem sowie das geplante europäische Gesamtkonzept zur Zuwanderung entsprechend den Schlussfolgerungen von Tampere einordnen lässt,
7.
welche Elemente der Einwanderungspolitiken und des Einwanderungsrechtes anderer Staaten für Deutschland Vorbild sein können,
8.
ob das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge künftig einen erweiterten Aufgabenbereich im Rahmen einer künftigen Zuwanderungspolitik erhalten soll, ob Veränderungen in den Verfahren zur Visa-Erteilung erforderlich sind und welche sonstigen organisatorischen Veränderungen bei der Erteilung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen notwendig sind.
Die Kommission soll abschließend die Frage beantworten, ob sie zur Umsetzung ihrer Empfehlungen eine vollständige Neuordnung des Zuwanderungsrechtes für erforderlich hält oder ob bereichsspezifische Änderungen des geltenden Rechtes ausreichend erscheinen, um künftig die Transparenz, Praktikabilität und Flexibilität des Zuwanderungsrechtes und der Zuwanderungsverfahren zu gewährleisten.
839
http://archiv.bundesregierung.de/artikel,-24391/Aufgaben-der-Zuwanderungskommi.htm; Zugriff: 20.01.2006.
Anhang
443
Anhang 5: Mitglieder der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«840 Kommissionsvorsitzende
Prof. Dr. Rita Süssmuth, MdB
Präsidentin des Deutschen Bundestages a.D.
Stellvertretender Vorsitzender
Dr. Hans-Jochen Vogel
Bundesminister der Justiz a.D.
Weitere Kommissionsmitglieder
Dr. Horst Eylmann
Früherer Vorsitzender des Rechtsausschusses des Bundestages
Ralf Fücks
Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung
Prof. Dr. Kay Hailbronner
Lehrstuhl für öffentliches Recht, Völker und Europarecht, Universität Konstanz
Dr. Hans-Olaf Henkel
Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie e.V.
Hans-Joachim Hoffmann
Oberbürgermeister der Stadt Saarbrücken, Präsident des Deutschen Städtetages
Roland Issen
Vorsitzender des Bundesvorstandes der Deutschen Angestellten Gewerkschaft
Christoph Kannengießer
Leiter der Abteilung Arbeitsmarkt bei der BDA/ Alternierender Vorsitzender der Bundesanstalt für Arbeit
Bischof Karl Ludwig Kohlwage
Vorsitzender der Kirchenleitung der Nordelbischen EvangelischLutherischen Kirche
Dr. Gerd Landsberg
Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes
Prof. Dr. Rainer Münz
Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der HumboldtUniversität zu Berlin
Dr. Frank Niethammer
Vizepräsident des Deutschen Industrie- und Handelstages
Vural Öger
Mehrheitsgesellschafter von Öger-Tours und Vorsitzender der »Deutsch-Türkischen Stiftung«
Heinz Putzhammer
Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstandes des DGB
Roland Schilling
Stellvertretender Leiter des UNHCR Deutschland
Cornelia Schmalz-Jacobsen
Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen a.D.
Dr. Jürgen Schmude
Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bundesminister der Justiz a.D.
Herbert Schnoor
Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen a.D.
Paul Spiegel
Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland
Weihbischof Dr. Josef Voß
Vorsitzender der Kommission für Migrationsfragen der Deutschen Bischofskonferenz
840
Die genannten Funktionen beziehen sich auf die Angaben des BMI zum Zeitpunkt der Berufung.
444
Anhang
Anhang 6: Geschäftsordnung der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung« §1 Gegenstand der Arbeit der Kommission ist der vom Bundesminister des Innern mit Datum vom 12. September 2000 erteilte Auftrag. Die Kommission berät und beschließt in Unabhängigkeit. Sie entscheidet selbst über Arbeitsplan und Vorgehensweise.
§2 (1)
Die Vorsitzende bereitet die Sitzungen der Kommission vor, beruft sie ein und leitet sie. Die Vorsitzende hat einen Stellvertreter.
(2)
Die Sitzungen sind nicht öffentlich. Über die Beratungen und deren Ergebnis ist von allen Beteiligten Vertraulichkeit zu wahren.
(3)
Vorbereitende Unterlagen für die Sitzungen der Kommission sollen den Mitgliedern spätestens eine Woche vor dem Sitzungstag zugehen.
(4)
Die Vorsitzende ist verpflichtet, eine Sitzung einzuberufen, wenn 7 Mitglieder der Kommission dies schriftlich wünschen.
§3 Die Arbeit der Kommission wird durch eine Geschäftsstelle unterstützt.
§4 (1)
Die Kommission ist beschlussfähig, wenn mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder anwesend ist.
(2)
Die Sitzungen der Kommission können nur von den berufenen Mitgliedern wahrgenommen werden, eine Vertretung ist nicht möglich.
(3)
Über den Bericht der Kommission oder Teile des Berichts entscheidet die Kommission mit absoluter Mehrheit. Abweichende Voten werden auf Antrag in den Bericht aufgenommen. Im übrigen entscheidet die Kommission mit einfacher Mehrheit der Anwesenden.
§5 Die Geschäftsstelle fertigt über jede Sitzung der Kommission ein Ergebnisprotokoll. Die Mitglieder der Kommission erhalten eine Abschrift. Die Protokolle unterliegen der Vertraulichkeit.
§6 Änderungen der Geschäftsordnung bedürfen der absoluten Mehrheit der Mitglieder der Kommission und treten nicht vor Ablauf von 7 Tagen nach Beschlussfassung in Kraft.
Berlin, den 12.09.2000
Anhang
445
Anhang 7: CDU-Präsidiumskommission »Zuwanderung und Integration«841 Kommissionsvorsitzender
Peter Müller, MdL
Ministerpräsident des Landes Saarland
Stellvertretender Vorsitzender
Wolfgang Bosbach, MdB
Innenpolitischer Sprecher und stellv. Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
Weitere Kommissionsmitglieder
Bülent Arslan
Mitglied Deutsch-türkisches Forum NRW
Dr. Christian Bäumler
Mitglied Bundesvorstand der Christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft Deutschlands (beratendes Mitglied der Kommission)
Ole von Beust, MdHB
CDU-Fraktions-Vorsitzender in der Hamburgischen Bürgerschaft
Volker Bouffier, MdL
Staatsminister des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport
Klaus Hardraht
Staatsminister des Inneren des Freistaates Sachsen
Dr. Thomas Jakobs Volker Kauder, MdB
Generalsekretär des CDU-Landesverbandes Baden-Württemberg
Günsel Gül Keskinler
Vorstandsmitglied Deutsch-türkisches Forum NRW
Ewa Klamt, MdEP
Mitglied im Ausschuss für die Freiheiten und Rechte der Bürger, Justiz und innere Sicherheit
Christian Köckert, MdL
Staatsminister des Inneren
Eva-Maria Kors, MdB
Aussiedlerbeauftrage des Bundesvorstandes der CDU
Wolfgang Kramer Dr. Albrecht Magen
Stadtrat der Stadt Frankfurt
Hildegard Müller
Bundesvorsitzende der Junge Union Deutschlands
Doris Pack, MdEP
Stellv. Bundesvorsitzende der Frauenunion
Ruprecht Polenz, MdB
ehem. Generalsekretär der CDU Deutschlands
Dr. Thomas Schäuble, MdL
Minister des Innern Baden-Württemberg
Prof. Dr. Kurt Schelter, MdL
Minister der Justiz und für Bundes- und Europaangelegenheiten Brandenburg
Dr. Christian SchwarzSchilling, MdB
Stellv. Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestages
Rudolf Seiters, MdB
Bundesminister a.D., Vizepräsident des Deutschen Bundestages
Dr. Eckart Werthebach
Bürgermeister und Senator für Inneres des Landes Berlin
Dr. Gertrud Witte
Beigeordnete, Deutscher Städtetag
841
Die genannten Funktionen beziehen sich auf die Angaben des CDU-Präsidiums zum Zeitpunkt der Berufung.
446
Anhang
Anhang 8: Mitglieder der SPD-Querschnittsarbeitsgruppe Integration und Zuwanderung842 Vorsitzender
Ludwig Stiegler, MdB
Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion
Ständige Mitglieder
Eckhardt Barthel, MdB
AG Inneres
Klaus Brandner, MdB
Sprecher der AG Arbeit und Sozialordnung
Dr. Michael Bürsch, MdB
AG Inneres
Detlef Dzembritzki, MdB
AG Wirtschaftliche Zusammenarbeit
Sebastian Edathy, MdB
AG Inneres
Jelena Hoffmann, MdB
AG Wirtschaft und Technologie
Hans-Peter Kemper, MdB
AG Inneres
Ernst Küchler, MdB
AG Bildung und Forschung
Christine Lehder, MdB
AG Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Christa Lörcher, MdB
AG Demographischer Wandel
Leyla Onur, MdB
Sprecherin der AG Migration
Johannes Pflug, MdB
AG Auswärtige Politik
Dr. Mathias Schubert, MdB
Sprecher AG Neue Länder
Dr. Ditmar Staffelt, MdB
Sprecher der AG Wirtschaft und Technologie
Rüdiger Veit, MdB
AG Inneres
Hans-Georg Wagner, MdB
Sprecher der AG Haushalt
Hedi Wegener, MdB
AG Angelegenheiten der Europäischen Union
Dieter Wiefelspütz, MdB
Sprecher Sprecher der AG Inneres
Beratende Mitglieder
Gerd Andres, MdB
Parlamentarischer Staatssekretär BMAS
Fritz Rudolf Körper, MdB
Parlamentarischer Staatssekretär BMI
Franz-Josef Lersch-Mense
SPD-Parteivorstand
Dr. Ursula Mehrländer
Friedrich-Ebert-Stiftung
Markus Priesterach
Büro Jochen Welt, Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung, Bundesministerium des Innern
Dr. Ute Schaefgen
SPD-Parteivorstand
Bettina Schattat
Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung
842
Die genannten Funktionen beziehen sich auf die Angaben des SPD zum Zeitpunkt der Berufung.
Anhang
447
Günther Schultze
Friedrich-Ebert-Stiftung
Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast
MdB Parlamentarische Staatssekretärin BMI
Georgios Tsapanos
Büro PStS Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast, MdB, BMI
Jochen Welt, MdB
Aussiedlerbeauftragter der Bundesregierung, BMI
Sachverständige
Jörg Alt
Jesuiten Flüchtlingsdienst, München
Wilderich von Boeselager
Malteser Beauftragter für die Flüchtlingsbetreuung, Köln
Schwester Cornelia Bührle
Erzbischöfliche Beauftragte für Migrationsfragen, Berlin
Wolf-Michael Catenhusen, MdB
Parlamentarischer Staatssekretär für Bildung und Forschung
Dr. Thomas Giegerich
Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Bernd Jagoda
Präsident der Bundesanstalt für Arbeit
Dr. Edith Niehuis, MdB
Parlamentarische Staatssekretärin im BMFSFJ
Dr. Albert Schmid
Präsident des BAFl
Prof. Dr. Rüdiger Wolfrum
Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Ständige Gäste
Ozan Ceyhun, MdEP
Europäisches Parlament
Ernst Hüper
Bundeskanzleramt
Stephan Kassel
Bundeskanzleramt
Dr. Christian Raskob
Bundeskanzleramt
Dr. Angelica Schwall-Düren, MdB
Parlamentarische Geschäftsführerin der SPDBundestagsfraktion
Dr. Margaretha Sudhof
Bundeskanzleramt
Dorothee Zwiffelhoffer
NRW-Landesvertretung
Arbeitsstab
Johanna Malz
Projektleitung, Referentin für Innenpolitik, Kultur-, Medien- und Sportpolitik Büro Ludwig Stiegler, MdB
Ulrike Fleischer
Referentin, Pressestelle
Dr. Heike Hagedorn
Referentin für Zuwanderung und Integration Büro Ludwig Stiegler, MdB
Michael Niemeier
Referent für Innenpolitik, AG Inneres
448
Anhang
X
25.04.2001
X
10.04.2001
X X X
X
X AG III
X X
12.09.2000 (Konstituierende Sitzung)
X
Sitzungen der Gesamtkommission (Plenum) und der drei Arbeitsgruppen
Plenum
23./24.09.2000 (Klausurtagung)
AG II
11.10.2000
X
01.11.2000
X
29.11.2000
X
10.01.2001
X
24.01.2001
AG I
X
14.02.2001
X
X
28.02.2001
X
X
01.03.2003 (Sondertermin)
X
X
06.03.2001 (Sondertermin)
20.12.2000
X
X
14.03.2001
X
X
28.03.2001
X
X
X
05.04.2001 04.04.2001
8
X
11.04.2001
X
X
X
28.04.2001 26./27.04.2001 (Sondertermin)
10
9
X X
X
01.05.2001
X
02.05.2001
X
30.05.2001
X
13.06.2001
X
27.06.2001
X
Gesamtzahl der Termine
13
Anhang 9: Zeitplan der Unabhängigen Kommission »Zuwanderung«
Anhang Anhang 10: Organisationserlass »Zuwanderungsrat«843
843
GMBl Nr. 20 vom 15. Mai 2003, S. 406.
449
450
Anhang
Anhang 11: Abstimmung zum Zuwanderungsgesetz im Bundesrat (Stenografischer Bericht)
Anhang
451
Anhang 12: Vereinbarungen im »Acht-Punkte-Papier« von Gerhard Schröder, Angela Merkel und Edmund Stoiber vom 25. Mai 2004844
1.
soll eine Abschiebungsanordnung aufgrund einer »tatsachengestützten Gefahrenprognose« verfügt werden können. Die Regelzuständigkeit sollen die Innenminister der Länder haben, das Bundesinnenministerium erhält ein Zugriffsrecht bei »Sachverhalten besonderer Bedeutung«. Der Rechtsschutz wird in einer Instanz beim Bundesverwaltungsgericht gewährleistet. Falls der Vollzug der Abschiebung an Abschiebungshindernissen scheitert (Folter, Todesstrafe), sollen Meldeauflagen, Einschränkungen der Freizügigkeit und strafbewehrte Kommunikationsverbote erhöhte Sicherheit bringen.
2.
ist vorgesehen, die Regelanfrage über verfassungsfeindliche Erkenntnisse vor der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis als zeitlich unbefristeter Aufenthaltstitel und vor der Entscheidung über eine Einbürgerung einzuführen.
3.
sollen Ausländer im Einbürgerungsverfahren verpflichtet werden, Vorstrafen im Ausland bekanntzugeben. Es muß allerdings gewährleistet sein, daß die Vorstrafen in einem rechtsstaatlichen Verfahren ausgesprochen wurden.
4.
soll künftig eine Ermessensausweisung für »geistige Brandstifter«, zum Beispiel Hetzer in Moscheen, möglich sein.
5.
ist künftig die Verurteilung eines Schleusers ein zwingender Ausweisungsgrund, wenn dieser zu einer Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist.
6.
soll es eine Warndatei für das Visumverfahren auf nationaler Ebene geben, falls eine solche Datei auf europäischer Ebene bis zum Jahr 2006 keinen Erfolg haben sollte.
7.
haben Einwanderer einen Anspruch, einen Sprachkurs zu besuchen, wobei der Bund die Kosten der Integrationskurse übernimmt. Bei nicht ordnungsgemäßer Teilnahme drohen Sanktionen, zum Beispiel kann die Verbesserung des ausländerrechtlichen Status aufgeschoben werden.
8.
wird beim humanitären Flüchtlingsrecht die »geschlechtsspezifische Verfolgung« anerkannt. Dabei gilt die Formel: »Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.«
844
Quelle: FAZ vom 26. Mai 2004, S. 2.
452
Anhang
Anhang 13: Gutachten für die Unabhängige Kommission »Zuwanderung« Kurztitel
Titel
Verfasser / Bearbeiter
S.
Auftrag
Lieferung
Themenbereich Asylrecht / Asylverfahren
1
Alleweldt u.a. 2001
Rechtliche Möglichkeiten zur Beschleunigung von Asylverfahren
Dr. Ralf Alleweldt, LL.M. (EUI); Prof. Dr. Stefan Oeter (Universität Hamburg); PD Dr. Andreas Zimmermann, LL.M.
148
k.A.
Feb. 2001
2
Klein 2001
Gutachten zu ausgewählten Fragen des Asylrechts
Prof. Dr. Eckart Klein (Universität Potsdam); Dr. Andreas Haratsch (Universität Potsdam, Mitarbeit); Dr. Stefanie Schmahl, LL.M. (Universität Potsdam, Mitarbeit)
260
30. Nov. 2000
k.A.
Themenbereich Struktur des Migrationswesens
3
Bade 2001
Konzeptionsentwurf zur institutionellen Strukturierung des Migrationswesens unter besonderer Berücksichtigung der Organisation der Migrationsforschung in Deutschland
Prof. Dr. Klaus J. Bade (Universität Osnabrück, IMIS)
42
k.A.
Apr. 2001
4
Bothe 2001
Die verfassungsmäßige Aufteilung der Verantwortung für Zuwanderung und Integration auf Bund und Länder und Gemeinden und Folgerungen für ein Organisationsmodell
Prof. Dr. Michael Bothe (Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main)
36
k.A.
12. Apr. 2001
5
KPMG 2001
Institutionelle Optimierung im Bereich der Zuwanderung
KPMG Consulting AG, Berlin; Dr. Volker Hauff; Torsten Grall
53
15. Feb. 2001
16. Mai 2001
6
Eridion 2001
Die zukünftige Bevölkerungsstruktur Deutschlands nach Staatsangehörigkeit, Geburtsort und ethnischer Herkunft
Dr. Ralf E. Ulrich (Eridion GmbH)
41
k.A.
Apr. 2001
7
HWWA 2001
Fachkräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit
Hamburgisches WeltWirtschafts Archiv; Elmar Hönekopp (IAB); Karl Wolfgang Menck (HWWA); Thomas Straubhaar (HWWA)
34
k.A.
29. Juni 2001
Themenbereich Arbeitskräftezuwanderung
Anhang
453
8
ifo 2001
Fachkräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit
Institut für Wirtschaftsforschung (ifo), Forschungsbereich Sozialpolitik und Arbeitsmärkte; Sonja Munz; Wolfgang Ochel
166
k.A.
März 2001
9
IW 2001
Fachkräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit
Institut der deutschen Wirtschaft, Köln (IW); Dr. Hans-Peter Klös; Dipl.-Ök. Holger Schäfer
143
k.A.
März 2001
10
IZA 2001
Fachkräftebedarf bei hoher Arbeitslosigkeit
Institut zur Zukunft der Arbeit, Bonn (IZA); Klaus F. Zimmermann; Thomas K. Bauer; Holger Bonin; Rene Fahr, Holger Hinte
278
Dez. 2000
März 2001
11
prognos 2001
Zuwanderung und Wohlstandswirkungen
Europäisches Zentrum für Wirtschaftsforschung und Strategieberatung, Basel (prognos); Stefan Eitenmüller; Kai Gramke; Sönke Jens
67
k.A.
März 2001
12
efms 2001
Integrationsmaßnahmen der Wohlfahrtsverbände
europäisches forum für migrationsstudien (efms) an der OttoFriedrich-Universität Bamberg; Wolfgang Bosswick; Veit Bronnenmeyer; Prof. Dr. Friedrich Heckmann
175
k.A.
30. März 2001
13
Esser 2001
Integration und ethnische Schichtung
Prof. Dr. Hartmut Esser (Universität Mannheim)
66
k.A.
k.A.
14
Häußermann u.a. 2001
Soziale Integration und ethnische Schichtung
Prof. Dr. Hartmut Häußermann (Humboldt-Universität zu Berlin); Prof. Dr. Walter Siebel (Carl von Ossietzky-Universität, Oldenburg)
104
k.A.
März 2001
15
Nauck u.a. 2001
Intergeneratives Verhalten und Selbstethnisierung von Zuwanderern
Bernhard Nauck (Institut für Soziologie, TU Chemnitz); Anja Steinbach (Institut für Soziologie, TU Chemnitz)
113
k.A.
k.A.
16
RWI 2001
Berufliche Integration von Zuwanderern
Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Essen (RWI); Dr. H.D. von Loeffelholz (Projektleitung); Dipl.-Ök. P. Hernold (Bearbeitung)
83
21. Dez. 2000
März 2001
17
Seifert 2001
Berufliche Integration von Zuwanderern in Deutschland
Dr. (habil.) Wolfgang Seifert
45
k.A.
März 2001
18
ZfT
Intergeneratives Verhalten und (Selbst-)Ethnisierung von türkischen Zuwanderern
Zentrum für Türkeistudien, Essen (ZfT); Faruk en; Martina Sauer; Dirk Halm
138
k.A.
März 2001
Themenbereich Integration
Personenregister Personenregister
Akgün, Lale
221f., 256, 447
Edathy, Sebastian
367, 446
Altun, Kemal
153
Ehrenberg, Herbert
129
Apel, Günter
151
Engholm, Björn
156
Arendt, Walter
124, 126, 128
Engelhard, Hans Arnold
148
Arentz, Hermann-Josef 288 Bade, Klaus J.
161, 179, 219, 262ff., 341, 356
Baum, Gerhart-Rudolf 128, 133, 146ff. Beck, Marieluise
208, 259, 270, 287, 301
Beck, Volker
231, 295, 308ff.
Beckstein, Günther
221, 236, 268, 279ff., 305ff., 354ff.
Behrens, Fritz
268, 305
Blens, Heribert
93
Blüm, Norbert
148
Böhmer, Maria
367
Böse, Kuno
279
Bötsch, Wolfgang
139
Bohl, Friedrich
152
Eylmann, Horst
160, 211, 240ff., 253, 262, 267, 285, 310, 355, 359, 437
Fellner, Hermann
136
Fischer, Joschka
307
Fröhlich, Siegfried
132
Fücks, Ralf
207, 266ff., 443
Funcke, Liselotte
130, 134, 137, 139f., 200
Geißler, Heiner
137, 175, 211, 223
Genscher, Hans-Dietrich
134
Gerhardt, Wolfgang
165, 210
Gerster, Johannes
136
Glos, Michael
211, 294, 303, 343
Goppel, Thomas
211, 283
Grindel, Reinhard
303, 323, 343
Bonitz, Sylvia
277
Bosbach, Wolfgang
188, 198, 205, 223ff., 267ff., 281, 283, 285, 289, 292f., 305f., 370, 445
Brandt, Willy
120, 398
Brüderle, Rainer
165
Bühling, Reinhard
130, 143f.
Bütikofer, Reinhard
306f.
Buhlman, Edelgard
167
Herzog, Roman
204, 378
Bürsch, Michael
166, 229, 290, 295, 305f., 345, 446
Hirsch, Burkhard
134ff.
Buß, Klaus
305
Hundt, Dieter
203, 213
Claus, Roland
226, 294
Issen, Roland
214, 241, 244, 264, 443
Cohn-Bendit, Daniel
206
Jann, Werner
255
Jelpke, Ulla
199, 219, 225, 327, 351
Däubler-Gmelin, Herta 145, 166 Dregger, Alfred
152
Hacker, Hans-Joachim 305 Hailbronner, Kay
215, 242f., 247ff., 255, 259, 262, 345, 249, 358, 443
Hanf, Petra
226
Hanning, August
338, 351
Henkel, Hans-Olaf
203, 213, 241, 251, 443
456 Kannengießer, Christoph
Personenregister Pau, Petra
267f., 282, 294, 359
202f., 212, 214, 241ff., 254ff., 267f., 342f., 359, 443
Penner, Willfried
129, 197
Polenz, Ruprecht
225, 445
Kanther, Manfred
160, 196
Prantl, Heribert
158, 283f., 355
Kinkel, Klaus
136
Putzhammer, Heinz
Koch, Roland
450
197, 207, 213, 241f., 253, 259, 262ff., 270, 322, 342, 443
Körper, Fritz-Rudolf
209, 240, 341, 446
Rau, Johannes
170, 203f., 301
Körting, Ehrhart
305
Reermann, Olaf
219
Kohl, Helmut
109, 132ff., 140, 153, 156, 159f., 173f.
Renner, Günter
242, 255, 345, 358
Riester, Walter
380
Roth, Claudia
226ff., 283, 291, 297
Rühe, Volker
155, 282
Kohlwage, Karl Ludwig 214, 241f., 443 Koschnick, Hans
204
Koschyk, Hartmut 1
88, 281, 305f., 343
Kramer, Stephan
239
Kühn, Heinz
128ff., 172
Landsberg, Gerd
214, 249, 341, 443
Laurischk, Sibylle
338
Lehnguth, Gerold
182, 219, 262ff.
von der Leyen, Ursula 397
Rüttgers, Jürgen
223, 282, 285
Schäfer, Hans
142, 175
Schapper, Claus-Henning
265, 290
Scharping, Rudolf
101, 393
Schäuble, Thomas
305, 446
Schäuble, Wolfgang
111, 136ff., 151ff., 282, 313, 327, 366 289
Lübbe-Wolf, Gertrude 302 Lummer, Heinrich
52
Schill, Ronald B.
Maihofer, Werner
125, 127, 128
Schilling, Roland
214, 443
Marschewski, Erwin
162, 188, 197, 280, 305f., 348
Schily, Otto
Merkel, Angela
203, 211, 224, 281, 285, 293f., 303, 307f., 338, 367, 397, 451
Merz, Friedrich
198, 203, 211, 223f., 286, 289, 293
5, 25, 69, 164ff., 188, 195ff., 203ff., 213ff., 220ff., 225, 229, 232, 237, 240, 263ff., 271f., 276ff., 286ff., 293ff., 303ff., 313, 324f., 331f., 340ff., 348, 354, 357f., 366, 368f.
Schlauch, Rezzo
288
Müller, Kerstin
207, 226, 268, 290
Müller, Peter
203, 223f., 268, 280ff., 293ff., 300, 305ff., 314, 361, 445, 450
Schmalz-Jacobsen, Cornelia
160, 200, 210, 213, 215ff., 239, 239ff., 250, 254, 260ff., 267, 273, 292, 379, 443
Müntefering, Franz
197, 271, 307
Münz, Rainer
215f., 238ff., 260f., 272, 443
Schmid, Albert M.
240, 448
Schmidt, Helmut
125, 128, 152
Neumann, Ursula
258
Neusel, Hans
136f.
Schmidt-Jortzig, Edzard
98
213f., 272, 443
Schmitt, Carl
65
Öger, Vural
217ff., 241
Schmude, Jürgen
Özdemir, Cem
197, 201f., 206f., 215, 217, 226, 268, 287, 290f., 359
129, 204, 210, 212, 242, 443
Schnoor, Herbert
Osterloh, Lerke
302
210, 212, 230, 240ff., 247, 251f., 254, 256, 258, 261, 443
Niethammer, Frank
Personenregister
457
von Schoeler, Andreas 130, 143
Uhl, Hans-Peter
265, 280
Schöfberger, Rudolf
144
Veit, Rüdiger
Schönbohm, Jörg
283, 295, 297ff., 361, 450
197, 271, 290, 298, 305f., 325, 327, 447
Schröder, Gerhard
25f., 36, 47, 64, 97, 154, 167, 197, 201ff., 228, 268, 278f., 288ff., 294ff., 303, 307f., 375, 382, 385, 397ff., 451
Vogel, Bernhard
130
Vogel, Hans-Jochen
127, 137, 205f., 210, 212, 216, 238, 245, 249f., 251, 254, 256, 258, 264, 267, 270, 381, 443
Schünemann, Uwe
305
Voß, Josef
202, 214, 241ff., 255, 443
Schulte, Dieter
168, 213
Waffenschmidt, Horst
152
Schwarz-Schilling, Christian
224, 446
von Weizsäcker, Richard
31, 101, 378, 391
Seehofer, Horst
287, 376
Westerwelle, Guido
160, 165, 222, 283, 308
Seiters, Rudolf
153, 160, 196, 446
Wiefelspütz, Dieter
Solms, Hermann-Otto
154
175, 197, 199, 210, 282, 290, 305f., 308, 326, 343, 359, 447
Sommer, Theo
393
Wowereit, Klaus
211, 300, 450
Sonntag-Wolgast, Cornelie
67, 164, 166, 196ff., 205, 210, 212f., 217f., 227f., 284, 344, 448
Zeitlmann, Wolfgang
211, 341, 343
Ziel, Alwin
300, 450
Späth, Lothar
148
Zimmermann, Friedrich
132, 134ff., 140, 199
Spiegel, Paul
214, 239, 330, 443
Zuber, Walter
305, 356, 361
Spranger, Carl-Dieter
132, 143, 145, 152
Zylajew, Willi
188, 211, 293, 361
Stadler, Max
210, 212, 222, 267f., 280, 294, 298, 302, 304, 306, 308, 343, 358f.
Steinmeier, Frank Walter Stiegler, Ludwig
26, 103, 230, 237, 278, 290 197, 203, 210, 212, 227ff., 267, 278, 280, 287f., 290f., 297, 356, 359, 446
Stihl, Hans Peter
203, 213
Stoiber, Edmund
137, 164, 269, 284ff., 293, 296, 299, 307f., 354f., 369, 451
Strobl, Thomas
305f.
Struck, Peter
210, 227ff., 268, 286, 290, 390, 393
Süssmuth, Rita
5, 21ff., 25, 204ff., 210ff., 220, 238, 243, 248, 250ff., 258, 262ff., 268ff., 272f., 279ff., 280f., 294, 310, 341, 344f., 381, 391, 399, 443
Trautvetter, Andreas
305
Trenz, Erika
135