Konversionen Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive
Studien zur Interkulturellen Philosophie Studies in Intercultural Philosophy Etudes de philosophie interculturelle
13
Series Editors
Heinz Kimmerle & Ram Adhar Mall
Amsterdam - New York, NY 2004
Konversionen Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive
Herausgegeben von
Iris Därmann Steffi Hobuß Ulrich Lölke
Cover design: Pier Post The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706: 1994, Information and documentation - Paper for documents Requirements for permanence”. ISBN: 90-420-1953-0 ©Editions Rodopi B.V., Amsterdam - New York, NY 2004 Printed in The Netherlands
Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG Fremderfahrungen und Fremddarstellungen: Von hier nach dort und zurück Ste ffi Ho b u ß ..................................................................... 7 ETHNOGRAP HISCHE UND LITERARISCHE INVERSIONEN „Are you Hitler’s son?“ Bilder der Fremden im Spiegel der HopiRitualclowns Han s-Ul ri ch San ner .........................................................35 “White Aboriginals”: White Australian Literary Responses to the Challenge of Indigenous Histories Ru s sel l W est ....................................................................79 East, West: The Dislocation of Culture Mad el en a Go n zal ez ..........................................................99 Symbolische und pikturale Wirksamkeit bei Lévi-Strauss und Lacan Iri s Därm ann .................................................................. 123 Personen: Ein Kulturvergleich Mar ia-Sib ylla L otter ....................................................... 145 KRISE UND KONVERSION DES EUROZENTRISMUS Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie Hei nz Ki m merl e ............................................................ 171 Endogene Wissenstraditionen als Herausforderung der Philosophie: Die Praxis interkultureller Philosophie in Afrika Ul r i ch Lö l k e ................................................................. 191
6
Konversionen
Die Griechen, die Barbaren und Wir: Kontinuität und griechischer Ursprung in westlichen Identitätsdiskursen Hel mu t He i t ................................................................... 211 Depp im globalen Dorf? Lokales Wissen und das Wissen der Wissenschaft Leo Kreut zer .................................................................. 231 AUT ORINNE N UND AUTORE N .................................................... 245 TEXTNACHW EISE ............................................................................. 251 REGISTER .............................................................................................. 253
Einleitung Fremderfahrungen und Fremddarstellungen: Von hier nach dort und zurück Steffi Hobuß Das Symptom kann eine seiner Bedeutungen oder seine Hauptbedeutung im Laufe der Jahre ändern [...]. (Sigmund Freud, Bruchstück einer Hysterie-Analyse, 1905) Ich möchte eine Umkehrung, nicht eine kulturrelativistische Auflösung des Ethnozentrismus demonstrieren. (Fritz Kramer, Verkehrte Welten, 1977)
1. Fremderfahrungen und der Blick aus der Ferne „Zu meinem grenzenlosen Unbehagen erschien ein Kind mit einem einzigen Klappstuhl, den es mitten in den Hof stellte. Ich sollte mich setzen. Es blieb mir nichts anderes übrig; und so saß ich in einsamer Größe da und fühlte mich ungefähr wie eine von jenen steifen, urbritischen Figuren, die man auf Fotos aus der Kolonialzeit findet.“1
So beschreibt Nigel Barley, Ethnologe und Autor populärer Buchveröffentlichungen, seinen Erstkontakt bei der Ankunft in einem kamerunischen Dorf. Nach vorheriger Begeisterung über den gelungenen Aufbruch zu seinem Feldforschungsaufenthalt fühlt er nun „grenzenloses Unbehagen“. Bemerkenswerterweise benutzt er einen Vergleich zu fotografischen Abbildungen aus der Kolonialzeit. Dadurch stellt er sich erstens in eine Tradition, mit der sich ein zeitgenössischer Ethnologe normalerweise nicht so einfach identifiziert, und zweitens ist der Einfall mit dem Foto nicht zufällig, denn Barley imaginiert sich selbst in dieser fremden Situa-
1
Nigel Barley, The Innocent Anthropologist, New York 1986, dt. Traumatische Tropen. Notizen aus meiner Lehmhütte, 5. Aufl., München 2001, S. 61.
8
Konversionen
tion als von außen dargestellt, was mit der Beobachtung und Handlungsanweisung durch die anwesenden Fremden zusammenhängt. Um Fremderfahrungen in interkultureller und ethnologischer Perspektive geht es in den Beiträgen dieses kulturwissenschaftlichen Bandes. Es sind hier also sowohl ethnologische Debatten und materiale ethnographische Untersuchungen als auch philosophische Fragen zur Interkulturalität sowie Beiträge aus dem Zusammenhang der postkolonialen Theorie für die kulturwissenschaftliche Behandlung des Themas von Interesse. Aber was ist damit gesagt, wenn man von einer interkulturellen und ethnologischen Perspektive spricht? Obwohl schon seit Herder2 und dann wieder seit Malinowski3 durchaus Ansätze für andere Perspektiven möglich gewesen wären, wurden bis vor nicht allzu langer Zeit Fremderfahrungen in der Regel als etwas gedacht, das in einer Richtung verläuft. „Ethnologische Fremderfahrungen“, das hieß meistens: Die anderen werden beobachtet; „interkulturell“ bedeutete häufig in ähnlicher Weise: den Kontakt mit dem Fremden in einer anderen Kultur betreffend. Aber es wäre eine stark verkürzende Reduktion, Fremderfahrungen auf die Wahrnehmung des Fremden „da draußen“ als eines passiven Gegenstands der Beobachtung zu beschränken, so die gemeinsame Überzeugung der Autorinnen und Autoren dieses Bandes. Richard Rottenburg hat im Anschluss an Fritz Kramer darauf hingewiesen, dass es gerade in Deutschland, wo die Ethnologie „keines der brisanten Themen des Zeitgeschehens bediene“4 und seit 1965 im Vergleich zur angloamerikanischen Ethnologie eine harmlose Entwicklung genommen und sich wenig auf die Debatten um ihre Konstitutionsbedingungen eingelassen habe5, schwerfällt, ein Abgrenzungskriterium für eine spezifisch ethnologische Perspektive im Unterschied zu denen der anderen Geistes- und Sozialwissenschaften anzugeben. Dabei ist es keine Lösung,
2
3 4
5
Vgl. Johann Gottfried Herder, „Über Bild, Dichtung und Fabel“ (1787), in: Werke in 10 Bänden, Bd. 4, Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. v. Jürgen Brummack und Martin Bollacker, Frankfurt a. M. 1994, S. 631–677. Vgl. Bronislaw Malinowski, „Introduction“, in: J.E. Lips, The Savage Hits Back or the White Man through Native Eyes, London 1937. Richard Rottenburg, „Marginalität und der Blick aus der Ferne“, in: Heike Behrend (Hg.), Geist, Bild und Narr. Zu einer Ethnologie kultureller Konversionen. Festschrift für Fritz Kramer, Berlin/ Wien 2001, S. 37–44, hier: S. 37f. Einen guten Überblick über die Debatten geben die mittlerweile klassischen Sammelbände von James Clifford und George E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley 1986, und von Eberhard Berg und Martin Fuchs (Hg.), Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation, Frankfurt a. M. 1993.
Hobuß, Einleitung
9
wie Kramer schreibt6, das Kriterium im Gegenstandsbereich der Ethnologie zu suchen. Denn mögliche Kandidaten für Gegenstände ethnologischer Untersuchungen seien dann stets nichtmoderne, primitive, traditionale oder indigene Gesellschaften, also diejenigen, die in der Ethnologie als einem Projekt der europäischen Geistesgeschichte gerade als außerhalb dieser europäischen Geistesgeschichte wahrgenommen wurden. Zusammen damit, dass die Verfahrensweise der Ethnologie darin bestand, „Material“ zu erheben und es als „Text“ zu interpretieren, ließ sich gegen sie der Alterisierungsvorwurf erheben, solche Gesellschaften seien in ihrer zeitlichen und räumlichen Abgeschlossenheit erst ein Produkt dieser Ethnologie.7 Kramer spricht von einer „inhumane[n] Bindung an die Philologie“8, in der sich die Ethnologie befunden habe; wie lässt sich also diese Inhumanität überwinden und zugleich die Bestimmung einer ethnologischen Perspektive gewinnen? Die Versuche, das Spezifikum einer ethnologischen Perspektive durch eine Verschiebung weg vom Gegenstandsbereich hin zu einer zentralen Problemstellung, nämlich Kommunikationserfahrungen der Differenz, oder hin zu einer zentralen Methode, nämlich der des Blicks von innen, zu bestimmen, scheitern, weil im ersten Fall schon die Philosophie und im zweiten die Soziologie mit dem Problem und der Methode befasst sind.9 Aber im Anschluss an Fritz Kramers Projekt der umgekehrten Ethnologie lässt sich eine Antwort skizzieren; ich muss mich hier auf kurze Hinweise beschränken. Kramer misst dem „Blick der anderen“ als lange vernachlässigter Instanz entscheidende Wichtigkeit bei. Die Situation der ethnologischen Feldforschung mit ihrer Erfahrung des passiven Beobachtetwerdens sei viel zu lange ausgeklammert worden. Zunächst sei es das Verdienst der ursprünglich britischen social anthropology gewesen, die inhumane Bindung der Ethnologie an die Philologie durch differenziertere Feldforschung überwunden zu haben, die begann, „andere Kulturen wenigstens 6
7
8 9
Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, in: Fritz Kramer und Christian Sigrist (Hg.), Gesellschaften ohne Staat, Bd. 1, Gleichheit und Gegenseitigkeit, Frankfurt a. M. 1978, S. 9–28, hier: S. 9. Ebd. Während der Phase des Kolonialismus sei es noch plausibel gewesen, dass die Fremden oder Wilden „den minimalen und ursprünglichen Zustand der Menschen und ihrer Gesellschaft“ sichtbar werden ließen (ebd., S. 11). Inzwischen sei durch die postkoloniale Kritik deutlich geworden, dass diese Einstellung auf einer „ethnozentrischen Ausgrenzung“ beruhe: Der Gegenstandsbereich der Ethnologie wurde durch die negative Bestimmung der „Wilden“ oder „Naturvölker“ oder „Primitiven“ konstituiert (ebd., S. 12). Ebd., S. 9. Richard Rottenburg, „Marginalität und der Blick aus der Ferne“, a.a.O., S. 39–41.
10
Konversionen
marginal als eigene zu erfahren“10. Die Erfahrungen des Feldforschungsprozesses konnten nicht nur im Laufe der Entwicklung der Ethnologie wenigstens der Möglichkeit nach ethnozentrisch verzerrte Vorstellungen verändern, sondern „auch die Werte, das Erkenntnisinteresse und die Persönlichkeit des Ethnographen selbst“.11 Denn für seine Feldforschung verabschiedet sich die/der EthnographIn für eine gewisse Zeit von der eigenen Kultur, und dann „wird es ihm nicht möglich sein, eine distanzierte Beobachterrolle durchzuhalten“.12 Wer am Leben einer fremden Kultur (wenn auch gleichzeitig beobachtend) teil hat, um sie so weit wie möglich „als eigene zu erfahren“, der kann nicht durchgehend eine Haltung der Distanz einnehmen. Selbst E. E. Evans-Pritchard, der bei seinem Versuch, die Logik des Denkens der Zande zu rekonstruieren, letztlich doch bei ethnozentristischen Vorurteilen stehenblieb, hat sich dieser Teilhabe nicht verschließen können, wenn er beinahe als Geständnis formuliert, auch er habe während seines Aufenthalts bei den Zande deren Orakel angewendet.13 Und in dieser Teilnahme sind Erfahrungen des Beobachtetwerdens unvermeidlich. Wenn nun im Verlauf des weiteren Forschungsprozesses ethnographische Texte entstehen, um die Erfahrungen der Feldforschung für LeserInnen zu Hause verständlich zu machen, verweist Kramer auf die Möglichkeit einer doppelten Perspektive: Zum 10 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 9. 11 Ebd., S. 14. 12 Ebd., S. 15. In seinem ein Jahr zuvor erschienenen Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977, war Kramer noch von einem „unvermittelte[n] Durchblick auf das Andere [...] durch die Teilhabe am Leben einer alternativen Kultur“ (S. 8), ausgegangen; in diesem Buch vertritt er freilich bereits die These, dass das Interessante an der Ethnographie, wie an ihrer Geschichte im 19. Jahrhundert abzulesen sei, „nicht in ihrem Gegenstand begründet war, sondern in dessen Beziehung auf die Gesellschaft, die ihn zu ihrem Negativbild verfremdet hat“ (ebd., S. 7). Aber in dieser historischen Untersuchung beschäftigt ihn die Umkehrung eher als Konstruktionsfigur; die Darstellung der wirklichen Erfahrung bei den anderen bleibt hier im Vergleich schematischer, weil es in erster Linie um die Aussagekraft der Entwürfe geht, die die Ethnographie des 19. Jahrhunderts von den anderen gemacht hat. 13 Vgl. E.E. Evans-Pritchard, Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1976; dt. Hexerei, Orakel und Magie bei den Zande, Frankfurt a. M. 1978. Zur Interpretation vgl. Peter Winch, „Understanding a Primitive Society“, in: American Philosophical Quarterly 1 (1964), S. 307–324, dt. „Was heißt ‚Eine primitive Gesellschaft verstehen‘?“, in: Rolf Wiggershaus (Hg.), Sprachanalyse und Soziologie. Die sozialwissenschaftliche Relevanz von Wittgensteins Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 1975, S. 59–102, hier: S. 60–77, und Ulrich Lölke, Zur Lokalität von Wissen. Die Kritik der local-knowledge-Debatte in Anthropologie und internationaler Zusammenarbeit, Hamburg 2002, S. 21.
Hobuß, Einleitung
11
einen hat der Feldforscher die andere Gesellschaft von ihrem eigenen Selbstverständnis und ihren Idealen her kennengelernt, zum anderen kann er sie als von außen kommender Beobachter mit „ihrer Wirklichkeit“14 konfrontieren, d.h. damit, wie sie von außen erkennbar ist15. Die Umkehrung, die einsetzt, wenn die Ethnologie sich von der Erfahrung des Beobachtetwerdens leiten lässt und den von außen kommenden Blick wahrnimmt, beschreibt Kramer in der folgenden Passage: „Bei der Vertauschung von Subjekt und Objekt der interkulturellen Beobachtung, der Übernahme des anderen Ethnozentrismus, wiederholt sich die Unterscheidung von Ideal und Wirklichkeit [...] nicht spiegelbildlich, sondern mit einer bedeutsamen Verschiebung: Uns selbst so zu sehen, wie andere uns sehen – wäre dies im gleichen Sinn objektiv wie unsre, d.h. die wissenschaftliche Betrachtung der Anderen, so könnte es nur die wissenschaftliche Analyse unserer Gesellschaft sein und also unserem Selbstverständnis nichts hinzusetzen. Wenn aber der zu uns von außen kommende Beobachter uns so sieht, wie wir wirklich sind, wie wir uns selbst aber nicht sehen, auch und gerade nicht in wissenschaftlicher Betrachtung, so bietet der Andere uns eine vermittelte Weise der Selbsterkenntnis sui generis. Diese enthält Momente, die den Kreis der Selbstreflexion überschreiten [...].“16
Es reicht nicht aus, uns in der Vorstellung in die Lage zu versetzen, wir könnten uns selbst so sehen, wie andere uns sehen – denn ohne den Blick des anderen zu erfahren, hieße das nur, uns selbst als von außen kommende Beobachter unserer selbst zu denken und könnte unserem Selbstverständnis tatsächlich nichts Neues hinzufügen. Die Erschütterung dieses Bei-sich-selbst-Bleibens erfolgt in der Umkehrung der interkulturellen Beobachtung dadurch, dass wir merken, dass nur der uns Beobachtende uns so sehen kann, wie wir außerhalb unseres kulturellen Selbstverständnisses und unserer Ideale aussehen, d.h. wie wir uns prinzipiell selbst nicht sehen können.17 Modelle der Selbstreflexion gehen dagegen vom eigenen Standpunkt aus und imaginieren uns bloß als von außen kommende Beobachter. 14 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 21. 15 „Von außen“ heißt dabei natürlich „vom Standpunkt einer anderen Gesellschaft aus“ und nicht, von einem kulturunabhängigen Standpunkt. 16 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 21. 17 Vgl. Ulrich Lölke, Kritische Traditionen. Afrika. Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt a. M. 2001, als Versuch, philosophische Debatten in Afrika als eine solche Möglichkeit zur Umkehrung des Blicks wahrzunehmen.
12
Konversionen
Rottenburg betrachtet Kramers Entwurf der umgekehrten Perspektive als Antwort auf die Diskussionen um ein realistisches oder aber sozialkonstruktionistisches Verständnis der Möglichkeiten, Fremdes zu übersetzen und damit verständlich darzustellen, wobei er beide Verständnisse mit Hilfe des Settings von Platons Höhlengleichnis zu illustrieren sucht: Die Vertreter eines realistischen Verständnisses der Darstellung und Übersetzung des Fremden glichen einem Ethnologen, der sich vor der Höhle befindet und die Höhlenbewohner beobachtet, die die Schatten für real halten. Die Vertreter eines sozialkonstruktionistischen Verständnisses gingen davon aus, dass der Beobachter bemerkte, wie die Höhlenbewohner die Schatten für real halten, aber ein Beobachterbeobachter seinerseits könne bemerken, wie der Beobachter die Höhlen für real halte, usw. Kramers Projekt, so Rottenburg, sei eine dritte Perspektive, die dann auch ein Kriterium für das Spezifikum der ethnologischen Perspektive liefere: „Der aktiven Beobachtung wird das passive Beobachtetwerden als komplementäre Operation hinzugefügt.“18 Dass Rottenburg auch diese Perspektive mit dem Höhlengleichnis erläutern möchte, ist dabei freilich weniger gelungen. Denn die Erinnerung an die Wichtigkeit des lange vernachlässigten Beobachtetwerdens ist etwas anderes als der Hinweis, die Höhlenbewohner könnten sich „sehr wohl umdrehen und zurückblicken“19! Letzteres suggeriert, die Höhlenbewohner als Gruppe könnten sich aus eigenen Kräften ihrer Fixierung entledigen. Der entscheidende Unterschied zwischen Höhlensetting und ethnologischer Feldforschung liegt in der Anwesenheit und im Blick des anderen, ohne die die Erfahrung des Beobachtetwerdens nicht zustande kommen kann20: „Die elementare Grunderfahrung ethnologischer Feldforschung besteht darin, entgegen der eigenen Intention und Selbstwahrnehmung als Beobachter und Lernender zunächst zum Objekt der Beobachtung gemacht zu werden.“21 Dies ist zunächst eine Kränkung des eigenen Selbstverständnisses und bedeutet das Scheitern der vielleicht anfänglichen Intention, als souveräner Beobachter etwas über die anderen lernen zu können. Insofern bedeute es eine „oftmals destabilisierende Erfahrung“ und zeige, dass das eigene Verstehen des Fremden nicht so sehr über aktive Beobachtung funktioniere, sondern um die Erfahrung des passiven Beobachtetwerdens
18 Richard Rottenburg, „Marginalität und der Blick aus der Ferne“, a.a.O., S. 42. 19 Ebd. 20 Die dritte Perspektive löst also nicht das erkenntnistheoretische Problem im ethnologischen Übesetzungsdilemma, wie es bei Rottenburg scheint; zur Bestimmung des Spezifikums der Ethnologie ist sie aber trotzdem geeignet. 21 Richard Rottenburg, „Marginalität und der Blick aus der Ferne“, a.a.O., S. 42.
Hobuß, Einleitung
13
nicht herumkommt.22 Diese aus der ethnologischen Erfahrung gewonnene Erinnerung kann als Vorbild für andere disziplinäre Perspektiven dienen, wie in diesem Band exemplarisch gezeigt werden soll. Die Situation des passiven Beobachtetwerdens könnte an das psychoanalytische Setting erinnern, in dem es das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung ermöglicht, dass die/der AnalytikerIn das Fremde, nämlich die psychische Verfasstheit der/des zu Analysierenden, durch die Wahrnehmung der eigenen Gegenübertragung versteht, die aus der Erfahrung der Anwesenheit der/des anderen resultiert. Die/der zu Analysierende überträgt Affekte aus vergangenen Situationen, typischerweise aus der Beziehung zu seinen/ihren Eltern, in die Analysesituation, worauf die/der AnalytikerIn mit einer Gegenübertragung in Form von Affekten reagiert, die sie/er gezielt wahrnehmen, in der Analyse zur Verfügung stellen und als therapeutisches Instrumentarium nutzen kann. Rottenburg betont, dass es sich bei der ethnologischen Erkenntnis um einen „perspektivischen Erkenntnisvorgang“23 handelt, der ethnographische Texte, jedenfalls diejenigen der wünschenswerten Sorte, in doppelter Weise bestimmt sein lasse, nämlich einmal durch das, was man aus ihnen über das Fremde erfahre, und zum anderen dadurch, dass sie fraglos gegebene Grundannahmen der LeserInnen bewusst machten und zur Disposition stellten. Solchen Texten ginge es darum, die „bewußte Selbstauslegung im Anderen zu betreiben“.24 Bewusste Selbstauslegung im Anderen – diese Formulierung kann aber missverständlich sein, wenn man sie so auffasst, dass diese Form der Selbstauslegung vom Eigenen ausgeht, und vergisst, dass sie mit der Erfahrung des Blicks des Anderen einsetzt. Manche Auffassungen, die mit dem schon bei Kramer kritisierten Konzept der Selbstreflexivität oder verwandten Figuren arbeiten, neigen zu dieser Vergesslichkeit. Zum Beispiel schreibt Paul Michael Lützeler, Herausgeber eines Sammelbandes mit Texten von Schriftstellern über Fremderfahrungen, die „postmoderne“ Literatur sei durch ein besonderes Verhältnis zur Distanz und zur Fremde gekennzeichnet, dergestalt dass „das Einschreiben der Subjektivität in die Geschichte wäh22 Hier wäre eingehender die Beziehung zu Sartres Analyse des Blicks zu untersuchen, derzufolge „meine fundamentale Verbindung mit dem Subjekt-Andern auf meine permanente Möglichkeit zurückgeführt werden können [muss], durch Andere gesehen zu werden“. Jean Paul Sartre, L’ être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943; dt. Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 1993, S. 463. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 43.
14
Konversionen
rend des Erzählvorganges thematisiert“25 werde. Dieses Verfahren, das natürlich nicht erst in der sogenannten postmodernen Literatur auftritt, bezeichnet Lützeler dann als „selbstreflexiv“26. Aber auf welche Weise dieses Einschreiben der Subjektivität erst möglich wird, wird verschleiert, wenn man es allein als aktives Vermögen einer schreibenden Selbstreflexivität denkt. Uwe Timm schreibt in seinem in vielerlei Hinsicht beispielhaften Text über die Osterinseln: „Allein die Neugier auf das Fremde reicht nicht aus. Die Gier, Neues zu sehen und zu hören, garantiert noch keineswegs eine Sichtweise, die Verstehen ermöglicht. Das setzt etwas anderes, Grundsätzlicheres voraus: das Staunen. Ein Staunen darüber, wie die Menschen, wie die Dinge beschaffen sind, das heißt, anders sein können, als man selbst ist. Die Wahrnehmung dieser Differenz erst läßt eine Reflexion der eigenen Wahrnehmung zu und damit die Möglichkeit der eigenen emanzipatorischen Veränderung im Verstehen. Ein Verstehen, das sich bemüht, die eigene Wahrnehmung als vorläufig und geschichtlich bedingt anzunehmen, also auch sich selbst als fremd und abhängig zu erfahren, um so den anderen, Fremden in seiner Würde wahrzunehmen.“27
Timms Ziel ist eine Verstehen ermöglichende Sichtweise; auf der Suche nach den Bedingungen dafür unterscheidet er hier zwischen Formen des Interesses am Fremden. Nicht Neugier, sondern Staunen ermögliche Verstehen. Indem Timm damit aber beim beobachtenden Reisenden bleibt, lässt er eine Lücke zwischen der Wahrnehmung des Fremden als Abweichendem und der Reflexion der eigenen Wahrnehmung als Voraussetzung der Veränderung im Verstehen. Durch das bloße Unterschiedensein des Fremden vom Wahrnehmenden folgt noch nicht so einfach die Erschütterung dieser Wahrnehmung. Timm stimmt dort mit Kramer überein, wo es ihm darum geht, „auch sich selbst als fremd und abhängig zu erfahren“, aber es ist fraglich, ob dies allein durch die aktive Beobachtung des anderen möglich wird. Aussichtsreicher erscheint da Kramers Programm, den Blick aus der Ferne ernst zu nehmen. Dann muss auch die „Würde“ des Fremden nicht erst in der Wahrnehmung durch den Beob25 Paul Michael Lützeler, „Multikulturelles, Postkoloniales und Europäisches in der Postmoderne: Zur Internationalität der deeutschsprachigen Gegenwartsliteratur“, in: Horst Turk, Brigitte Schultze und Roberto Simanowski (Hg.), Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen: Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus, Göttingen 1998, S. 104–121, hier: S. 113. 26 Ebd. 27 Uwe Timm, „Das Nahe, das Ferne. Schreiben über fremde Welten“, in: Paul Michael Lützeler (Hg.), Der postkoloniale Blick. Deutsche Schriftsteller berichten aus der Dritten Welt, Frankfurt a. M. 1997, S. 34–48, hier: S. 42.
Hobuß, Einleitung
15
achter zustandegebracht werden. Für Rottenburg stellen Lévi-Strauss’ Der Blick aus der Ferne und Fritz Kramers Der rote Fes in dieser Hinsicht gelungene Texte dar, an denen sich die Legitimation des Interesses auch anderer Wissenschaften an der Ethnologie gewinnen lasse: Weil die Ethnologie nämlich „einen Blick aus der Ferne auf das Eigene ermöglicht, den man sich innerhalb des Eigenen nicht hätte ausdenken können.“28 Dass man innerhalb des Eigenen, aus sich selbst, diesen distanzierten Blick auf sich selbst nicht hervorbringen kann, ist dabei die zentrale Figur und zugleich Gegenargument gegen die Figuren der Selbstreflexivität. Innerhalb des Eigenen könnte die „reflektierte“ Perspektive immer eine Selbsttäuschung sein, die erst durch den anderen aufgedeckt und korrigiert werden kann, genauso wie man sich ohne Korrektur durch den Blick und die Meinung der anderen darüber täuschen kann, dass man eine Regel befolgt, oder wie es ohne den Blick oder die Meinung der anderen, also privat, nicht möglich ist, einen sprachlichen Empfindungsausdruck mit Bedeutung zu gebrauchen.29 Diese Figur – dass der Blick aus der Ferne auf das Eigene nicht durch so etwas wie Selbstreflexivität ersetzbar ist – ist auch ein zentrales Element von interkulturellen Dialogen, wie sie Heinz Kimmerle beschreibt: Dass Dialoge uns etwas sagen, worauf wir nicht von selbst hätten kommen können, auch dazu braucht es die Anwesenheit des anderen. Der „Durchbruch“ zur interkulturellen Philosophie, der bisher erst ansatzweise vollzogen sei, bestehe darin, „dass 1. nicht nur die Verschränkung des ethnographischen mit dem kolonialen Blick, sondern auch die notwendigerweise objektivierende Blickrichtung des empirischen Beobachtens und Beschreibens überwunden werden und dass 2. die Begrenzung der vergleichenden Philosophie auf Kulturen mit einer geschriebenen Geschichte sowie aufgrund unklarer Auswahlkriterien und die Begrenzung durch die äußerlich bleibende Methode des Vergleichens überschritten werden.“30
Die Zurücknahme der Beschränkungen mit dem Ziel einer interkulturellen Ausrichtung in der Philosophie ist in vielen Aspekten den genannten Ansprüchen an ethnologische Erkenntnis verwandt. Die Verschränkung 28 Richard Rottenburg, „Marginalität und der Blick aus der Ferne“, a.a.O., S. 43. 29 Vgl. Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, in: ders.: Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, Nr. 222–237 und 258. Zur Interpretation vgl. Peter Winch, The Idea of a Social Science, London, New York 1958, p. 28; dt. Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt a. M. 1974, S. 43. 30 Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie zur Einführung, Hamburg 2002, S. 79.
16
Konversionen
des ethnographischen mit dem kolonialen Blick zu lösen bedeutet auch, den ethnographischen Blick nicht länger nur in einer Richtung verlaufen zu lassen; die objektivierende Blickrichtung des empirischen Beobachtens soll durch ein dialogisches Verhalten überwunden werden, in dem eben nicht nur eine Seite beobachtet und objektiviert; außerdem reicht eine bloß vergleichende Philosophie nicht aus, weil diese ihren Gegenstandsbereich in unzureichender Weise willkürlich einengt. Kimmerle führt zahlreiche Beispiele für Dialoge zwischen Philosophien aus vielen Teilen der Welt an.31 Diese Ansprüche an ethnologische Erkenntnis und an interkulturelle Philosophie sind zugleich Argumente gegen drei von Dieter Mersch genannte Weisen, das Fremde abzuwehren: die analytische Abwehr (nach dem Muster: „ein Anderes des Denkens lässt sich nicht denken“), die hermeneutische („Eigenes und Fremdes bedarf einer gemeinsamen Grundlage, auf der sie allererst aufgewiesen werden können“), und die anthropologisch-normative („die Einheit der Menschheit ist die Wurzel der vielen Kulturen“).32 Denn die reale Erfahrung des passiven Beobachtetwerdens und Angesprochenwerdens könnte sich den Abwehrversuchen gegenüber als resistent erweisen. Sie ist eine schwer abweisbare Dezentrierungserfahrung, die durch das Fremde ausgelöst wird: „Nicht länger kann sich das Denken von seiner Zentrierung durch das Selbst, die Sprache, das Symbolische oder irgendeiner anderen Form von Mitte her verstehen; vielmehr entzieht ihm das Andere jede Zentrik, drängt es an den Rand des Sagbaren, die Peripherie des Diskurses, außerhalb seines Rahmens. Das Fremde gewinnt dann unversehens eine andere Note: Es sprengt das Fundament des Eurozentrismus von innen her“33.
Steht bei Kramer die Umkehrung der Beobachtungsrichtung und damit der ethnologischen Perspektive im Vordergrund, wird hier die Dezentrierung betont, die die Erfahrung des anderen, Fremden auslösen kann – es wäre hinzuzufügen: wenn die Erfahrung des Beobachtet- oder Angesprochenwerdens nicht verleugnet wird. Während der aktive Beobachter oder der souveräne Sprecher sich im Zentrum ihrer Welt verstehen, wird diese Zentrierung als Täuschung sichtbar, wenn der andere blickt oder spricht. Daraus folgt bei Mersch: „Das konkrete Verhältnis zum Anderen [...] ist
31 Ebd., S. 87–124. 32 Vgl. Dieter Mersch, „Vom Anderen reden“, in: Manfred Brocker und Heino Heinrich Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997, S. 27–45, hier: S. 29–33. 33 Ebd., S. 43.
Hobuß, Einleitung
17
vor allen Dingen ein performativer Akt.“34 Dass sich das konkrete Verhältnis nicht auf die Darstellung des anderen beschränkt, sondern ein Sprechhandeln ist, ist ein wichtiger Hinweis, es aber als performativen Akt zu bezeichnen, erweckt gleichzeitig den irrenführenden Eindruck, es ginge um die Alternative, den anderen – konstativ – zu beschreiben oder aber – performativ – anzusprechen; die wichtige Umkehrung der Perspektive ist damit noch nicht vollzogen. Die Umkehrung der Perspektive durch die Fremderfahrung in der Wahrnehmung des Blicks der anderen liefert darüber hinaus Hinweise für den Umgang mit der Frage nach einer angemessenen Darstellung der anderen. Wie oben schon angesprochen, kann ein/e FeldforscherIn nach Kramer die andere Gesellschaft damit konfrontieren, wie sie von außen erkennbar ist; Kramer hatte von der Konfrontation mit „ihrer Wirklichkeit“35 gesprochen. Und es ging um die doppelte Bestimmung ethnographischer Texte, dass man aus ihnen etwas über das Fremde erfährt und dass sie eigene Grundannahmen zur Disposition stellen können. Nach den Erfahrungen der Feldforschungen stellt sich für jede/n FeldforscherIn die Aufgabe, die Beobachtungen und Erfahrungen auszuwerten, zu analysieren und für LeserInnen zu Hause darzustellen. Wie aber lässt sich Fremdes darstellen, wenn es einerseits übersetzt und verständlich gemacht werden soll, andererseits aber weder vereinnahmt und seiner Fremdheit beraubt noch instrumentalisierend exotisiert werden soll? Oder: Woran soll eine Darstellung der anderen gemessen werden, wenn sie weder naiv realistisch-abbildend aufgefasst werden soll (das setzte die nicht gegebene Möglichkeit der Bezugnahme auf einen „objektiven“ Standpunkt voraus36) noch als bloße Konstruktion (das wäre unbefriedigend, denn dann wäre sie keine Darstellung der anderen).37 Auch jeglicher Verzicht auf Darstellungen wäre keine Lösung, denn alle Gesellschaften machen sich Vorstellungen von anderen: „Die Selbstinterpretation, das Bild, das eine Kultur sich von sich selbst macht, wird durch Vorstellungen von anderen Kulturen not34 Ebd., S. 44. 35 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 21. 36 Vgl. Peter Winch, „Was heißt ‚Eine primitive Gesellschaft verstehen‘?“, a.a.O., S. 73–75. 37 Für einen Entwurf, wie sich die schlechte und scheinhafte Alternative von („realistischer“) Abbildung oder bloßer Konstruktion, die die Logik der Abbildung letztlich nicht überschreitet, vermeiden lässt, sind Wittgensteins Überlegungen zur Logik und Kritik des Abbilddenkens hilfreich. Das kann ich hier nur behaupten; die ausführliche Begründung bleibt einer umfassenderen Arbeit vorbehalten. Vgl. Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, a.a.O., Nr. 518–523.
18
Konversionen
wendig ergänzt, die als Vor- oder Gegenbilder eine Präzisierung der eigenen kulturellen Identität erst ermöglichen.“38
In allen Gesellschaften würden Vorstellungen von „den anderen“ gestaltet, weil so etwas wie kulturelle Identität auf der Vorstellung einer Differenz39 zwischen „uns“ und „den anderen“ beruht. Es werden nach dieser Auffassung keine Gemeinschaften anzutreffen sein, die keine Fremddarstellungen vornehmen. Dabei können diese Fremddarstellungen freilich unterschiedlichste Formen annehmen und in unterschiedlichen Graden projektiv, abwertend, idealisierend oder verkehrend ausfallen. Insofern sind Darstellungen der anderen stets Darstellungen der Vorstellungen vom Eigenen. Aber darüber hinaus geben die Darstellungen der anderen in ethnographischen Texten auch Auskunft darüber, wie oder wie weit die/der EthnographIn die Selbstdarstellung der anderen verstanden hat: „Die Darstellung des Fremden ist ein Ausdruck des Verständnisses der fremden Selbstdarstellung.“40 Die Neuerung und der Vorzug z.B. an Malinowskis Darstellungsweise habe darin gelegen, dass sie nicht durch eine abstrakte Systematik organisiert sei, sondern durch Gebiete der Assoziation, „die teils dominanten Werten der Trobriander folgen, teils der rekonstruktiven Erinnerung des Ethnographen“.41 Dadurch ist für die LeserInnen die Erfahrung der Feldforschung mit dem Blick der anderen nicht ausgeblendet. Wenn aber der ethnographische Text nicht die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck bringen kann, mit der die andere Kultur gelebt wird, weil er sich ja an zu Hause gebliebene LeserInnen richtet, dann kann es zu Überraschungen führen, wenn jemand ethnographische Berichte studiert und danach die dargestellte Gesellschaft mit eigener Erfahrung selbst kennenlernt: „es ist tatsächlich ungefähr so, wie er es gelesen, aber anders, als er es sich vorgestellt hatte. [...] ‚Fremde Gesellschaften‘ sind nicht in dem Sinne fremd, in dem man sich ihre Fremdheit vor38 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 19. 39 Vgl. dazu Heinz Kimmerle, Philosophien der Differenz. Eine Einführung, Würzburg 2000. Aus dem Zusammenhang der Cultural Studies vgl. die zahlreichen Texte von Stuart Hall, einführend z. B. „Ethnicity: Identity and Difference“, in: Radical America 23 (1989), S. 9–20; dt. „Ethnizität: Identität und Differenz“, in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt a. M. 1999, S. 83–98; sowie Lawrence Grossberg, „Cultural Studies in/and New Worlds“, in: ders., What’s going on? Cultural Studies und Popularkultur, Wien 2000, S. 194–230, hier: S. 203, wo Grossberg zwischen „Differenztheorien“ und „Theorien der Andersheit“ unterscheidet. 40 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 16. 41 Ebd., S. 17.
Hobuß, Einleitung
19
stellt.“42 Und selbst die „verkehrte Welt“ höchst projektiver ethnographischer Darstellungen hat nach Kramer ihre Wahrheit, die freilich nicht im Vergleich mit der angeblich dargestellten Gesellschaft aufgesucht werden kann, „sondern in dem mit der eigenen, an deren Verfremdung sie gewonnen“43 wurde. Lassen sich nun überhaupt, und wenn ja, wie, Anforderungen an nicht-ethnozentrische ethnographische Darstellungen formulieren? Kramer beschreibt die Grundfigur des Ethnozentrismus, in deren Vermeidung oder „Auflösung“ man einen Ausweg sehen könnte, folgendermaßen: „Die Reduktion der vielfältigen sozialen Wirklichkeit der ‚Anderen‘ auf eine einfache Struktur, die sich eindeutig auf die eigene Gesellschaft beziehen läßt, ist die Grundform des bürgerlichen Ethnozentrismus, besonders wenn sie mit einer Beteuerung der Fremdartigkeit verbunden wird.“44
Eine Reduktion der bei der Feldforschung erlebten vielfältigen sozialen Wirklichkeit in der Weise, dass eine Struktur hergestellt wird, die man anschließend eindeutig auf das Eigene beziehen kann, womöglich noch verbunden mit einer Exotisierung der anderen Lebensweise, erweist überdeutlich die Wahrnehmung der anderen als abhängig von der des Eigenen und umgekehrt. Der Versuch der Vermeidung dieser Figur muss aber scheitern, weil Eigen- und Fremdwahrnehmung und -darstellung immer aufeinander bezogen sind. Wenn auch in der Erfahrung des Blicks der anderen während der Feldforschung der Ethnozentrismus ausgeschaltet ist, kehrt er in der Darstellung immer wieder zurück. Was hilft dann gegen den Ethnozentrismus? Kramer deutet einen Ausweg an, wenn er schreibt: „Gegen das Dogma der Homogenität und Unwandelbarkeit ‚primitiver‘ Kulturen könnte man einwenden, daß auch diese oft nicht Synthesen, sondern Kompromisse sind, Mischungen von inkompatiblen Elementen und Strukturen, die in den verschiedenen Gesellschaften verschiedene Verbindungen eingehen.“45
42 Ebd., S. 20. 43 Ebd. In seinem Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, a.a.O., hatte Kramer die europäische Ethnographie des 19. Jahrhunderts gerade auf die Frage hin untersucht, was die Darstellung der anderen über die Vorstellung des Eigenen aussagt. 44 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 20. 45 Ebd., S. 22.
20
Konversionen
Unsere Darstellung der anderen und deren Darstellung von uns sind immer und unausweichlich ethnozentrisch; der Ausweg aus dem „bürgerlichen Ethnozentrismus“ bestünde hier darin, die Vielfältigkeit der Mischungen widersprüchlicher Elemente in dargestellten Gesellschaften wahrzunehmen und auch in der Analyse und Darstellung gerade nicht im Hinblick auf die Lesbarkeit vor dem Hintergrund der Folie des Eigenen zu reduzieren. Das bedeutet, Verunsicherungen in Kauf zu nehmen. Wie Wittgensteins „Denk nicht, sondern schau!“46 gegen unangemessene und verzerrende Ordnungsversuche gerichtet ist, warnt Kramer vor Vereinheitlichungen, Naturalisierungen und Essentialisierungen. Die Ethnologie ist es, die an die Verunsicherung durch das Fremde in der Fremddarstellung erinnert und den viel zu lange vernachlässigten Hinweis auf die Wichtigkeit des Blicks des anderen in der Fremderfahrung liefert; die philosophische Perspektive auf interkulturelle Dialoge liefert den Hinweis auf die Wichtigkeit des Sprechens des anderen. Aus diesen Hinweisen ergeben sich Ansprüche an ethnographische und literarische Texte und an andere wissenschaftliche Disziplinen sowie an eine angemessene Lektürepraxis. Die Texte des vorliegenden Bandes versuchen, sich von diesen Ansprüchen leiten zu lassen. 2. Konversionen Der Begriff der Konversionen ist im Titel dieses Bandes erstens mehrdeutig und zweitens mit unterschiedlicher Reichweite verwendet. Die unterschiedliche Reichweite ergibt sich daraus, dass zum einen die jeweiligen Beiträge einzelne Fälle der Umkehrung von Blickrichtungen erproben und erkunden, und es geht zum anderen um das Prinzip der Kritik und Erweiterung einer eurozentristischen Philosophie und die Vorteile der Einführung einer ethnologischen Perspektive in die Kulturwissenschaften. Die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Konversionen im Überblick über unterschiedliche Disziplinen wird deutlich an den Einträgen in Fremdwörterbüchern; z.B. verzeichnet die Ausgabe des DudenFremdwörterbuchs von 198247 folgende Bedeutungen des Ausdrucks „Konversion“: „1. der Übertritt von einer Konfession zu einer anderen“, nach katholischem Verständnis nur derjenige zum Katholizismus; „2. a) Übergang von einer Wortart in eine andere ohne formale Veränderung“ (z.B. vom 46 Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, a.a.O., Nr. 66. 47 Artikel „Konversion“, in: Duden-Fremdwörterbuch, hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, 4. Aufl., Mannheim 1982.
Hobuß, Einleitung
21
Substantiv „Dank“ zur Konjunktion „dank“); „b) zwischen zwei Konversen bestehendes Bedeutungsverhältnis“ (z.B. zwischen „der Lehrer gibt dem Schüler ein Buch“ und „der Schüler erhält vom Lehrer ein Buch“); „3. sinngemäße, der Absicht der Vertragspartner entsprechende Umdeutung eines nichtigen Rechtsgeschäftes“; „4. Schuldumwandlung zur Erlangung günstigerer Bedingungen“; „5. a) grundlegende Einstellungs- od. Meinungsänderung; b) Umwandlung unbewältigter starker Erlebnisse in körperliche Symptome“; „6. Erzeugung neuer spaltbarer Stoffe in einem Reaktor“; „7. Veränderung einer Aussage durch Vertauschen von Subjekt und Prädikat“. In dieser Begriffserklärung fallen neben der Vielzahl der angesprochenen Disziplinen (Religion, Sprachwissenschaft, Rechtswesen, Finanzwesen, Kernphysik, Logik) zunächst mehrere Auslassungen auf: Die Konversion militärischer Liegenschaften in zivile wird nicht erwähnt; ein Beispiel wäre der Campus der Universität Lüneburg, der sich auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne befindet. Die Konversion als Übertritt aus einer Herkunftskultur in eine andere kommt ebensowenig vor wie die Konversion im Sinne der (erzwungenen) Umwandlung kultureller Strukturen während der Kolonisierung. Schließlich fehlt die religiöse Konversion als Übertritt von einer Religion zu einer anderen (und nicht nur innerhalb der Konfessionen des Christentums). Neun Jahre später, 2001, findet sich eine der Auslassungen behoben und eine weitere interessante Modifikation: Als achte Bedeutung wurde nun die „Umwandlung von militärischer in zivile Nutzung“48 neu aufgenommen, und die sprachwissenschaftliche Erklärung unter 2.b) lautet nun: „Gegensätzlichkeit der Bedeutung, die sich ergibt, wenn ein Vorgang von zwei verschiedenen Standpunkten aus betrachtet wird.“49 Die Verwendung des Begriffs der Konversion in der Semantik wird nun mit einem Akzent auf den beiden Standpunkten der Betrachtung beschrieben, so dass eine Strukturanalogie zum ethnologischen Begriff sichtbar wird. Allerdings ist der semantische Begriff nicht hinreichend für die Beschreibung der ethnologischen Situation: Es besteht ein konverses Bedeutungsverhältnis schon zwischen den Sätzen „A beobachtet B“ und „B wird von A beobachtet“, während das ethnologische Beobachtetwerden wie dargestellt erst mit der radikaleren Umkehrung „A wird von B beobachtet“ beschrieben wäre. Von Interesse für das Thema im oben umrissenen ethnologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Feld ist außer der Verwendung
48 Artikel „Konversion“, in: Duden-Fremdwörterbuch, hg. vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenredaktion, 7. Aufl., Mannheim 2001. 49 Ebd.
22
Konversionen
von „Konversion“ im Sinne von „Übertritt“ in zahlreichen Variationen zunächst die unter 5b) ziemlich versteckt angeführte psychologische Gebrauchsweise des Begriffs. Sigmund Freud hat ihn in der Zeit seiner ersten Forschungen über Hysterie als Bezeichnung eines psychoökonomischen Mechanismus der Symptombildung eingeführt50; er gebraucht ihn zuerst 1894 in Die Abwehr-Neuropsychosen und 1895 bei der Darstellung des Falles der Emmy v. N. in den Studien über Hysterie. Hier beschreibt er den Mechanismus der Konversion als „die Umsetzung psychischer Erregung in körperliche Dauersymptome“51. Für den vorliegenden Zusammenhang sind die folgenden Aspekte von Freuds Konversionsbegriff wichtig52: Erstens handelt es sich für Freud sowohl um einen ökonomischen als auch einen symbolischen Begriff. Psychische Erregung, die als so heftige Energie begriffen wird, dass sie zur Bewältigung einer Umwandlung bedarf, wird konvertiert, also in etwas anderes, nämlich körperliche Symptome, eingetauscht. Dieser Tausch hat zugleich eine symbolische Dimension, denn in den körperlichen Symptomen „spricht“ etwas mit, nämlich die (durch weitere Mechanismen wie Verdichtung und Verschiebung entstellten) unbewussten psychischen Prozesse. Zweitens ist dieser Tausch eine Umkehrung, insofern die psychische Erregung, die nach Abfuhr drängt, nicht weiter nach außen gerichtet bleibt, sondern sich als körperliches Symptom des jeweiligen Menschen gegen ihn selbst richtet. Drittens handelt es sich um einen symbolischen Begriff mit einer zeitlichen, prozesshaften Struktur. Die Prozessualität der Symptombedeutung wird daran deutlich, dass für Freud ein gleichbleibendes körperliches Symptom seine Bedeutung im Lauf der Zeit ändern kann; die Bedeutung eines Symptoms muss nicht im Sinne des Ausdrucks von etwas Gleichbleibendem gedacht werden. Und viertens gibt es interessante Strukturähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich zum Begriff der kolonialen Konversion bei Frantz Fanon und Homi K. Bhabha. Den Aspekt der Zeitlichkeit der Symptombedeutung erläutert Freud in seinem Text Bruchstück einer Hysterie-Analyse von 1905:
50 Freuds nosographische Klassifikationen verschieben und verändern sich in seinem Werk wie auch in der zeitgenössischen klinischen Psychologie ständig; diese Veränderungen können hier nicht dargestellt werden. 51 Sigmund Freud, „Krankengeschichte der Frau Emmy v.N...., vierzig Jahre, aus Livland“, in: Sigmund Freud und Josef Breuer, Studien über Hysterie, Frankfurt a. M. 1970, S. 40–85, hier: S. 70. 52 Dem Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Theorie des hysterischen Symptoms und der Entwicklung der Verführungstheorie bei Freud kann ich hier nicht nachgehen.
Hobuß, Einleitung
23
„Das Symptom kann eine seiner Bedeutungen oder seine Hauptbedeutung im Laufe der Jahre ändern [...]. Es ist wie ein konservativer Zug im Charakter der Neurose, daß das einmal gebildete Symptom womöglich erhalten wird, mag auch der unbewußte Gedanke, der in ihm seinen Ausdruck fand, seine Bedeutung eingebüßt haben. Es ist aber auch leicht, diese Tendenz zur Erhaltung des Symptoms mechanisch zu erklären; die Herstellung eines solchen Symptoms ist so schwierig, die Übertragung der rein psychischen Erregung ins Körperliche, was ich Konversion genannt habe, an soviel begünstigende Bedingungen gebunden, ein somatisches Entgegenkommen, wie man es zur Konversion bedarf, ist so wenig leicht zu haben, daß der Drang zur Abfuhr der Erregung aus dem Unbewußten dazu führt, sich womöglich mit dem bereits gangbaren Abfuhrweg zu begnügen.“53
Im Kontext der zitierten Passage ist das von Freud untersuchte Beispiel Doras Husten. Der gewöhnliche Husten, der zunächst keine psychosomatische Ursache hatte, stellt hier das „somatische Entgegenkommen“ dar, aufgrund dessen es bei Dora zum Konversionssymptom des hysterischen Hustens kommt. Der Drang zur Abfuhr der psychischen Erregung ist nach Freud so stark, dass er sich einen gangbaren vorgebildeten Weg sucht; Freud scheint an einen Fluss zu denken, der sich einen Lauf durch ein vorgebildetes Tal sucht. Diese von Freud „mechanisch“ genannte Erklärung gilt für den Fall, dass ein bestimmtes körperliches Verhalten zum hysterischen Symptom wird. Nun kann auf diese Weise auch ein hysterisches Symptom über längere Zeit beibehalten werden, ohne dass seine Bedeutung die gleiche bleiben muss, d.h. die zugrunde liegende psychische Erregung im Lauf der Zeit eine andere geworden ist. Eine für einen Menschen qualitativ neue Form psychischer Erregung kann also ein altvertrautes Symptom benutzen. Dann ist das Symptom etwas, was kontinuierlich Bedeutung besitzt, aber nicht als Ausdruck von etwas gleich Bleibendem, zugrunde Liegendem. Die Ausdrucksform kann älter sein als der ausgedrückte Inhalt; die Beziehung zwischen unbewusstem Gedanken und seinem Ausdruck im Symptom ist keine der simplen Darstellung, Abbildung oder Abfolge. In gewisser Weise ist das Symptom zuerst da, bevor es mit der jeweiligen Bedeutung verknüpft wird, wodurch es einen komplizierten Status54 erhält: Einerseits verweist es auf die 53 Sigmund Freud, „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“, in: ders., Studienausgabe, Bd. VI, S. 83–186, hier: S. 127f. 54 So wie auch die Konzeption des (Traum-) Symbols in der Traumdeutung in charakteristischer Weise zwischen einer Symbolkonzeption im Sinne einer eindeutigen und festen Zuordnung von Symbol und Symbolisiertem und einer anderen Symbolkonzeption schwankt, derzufolge die Bedeutung der Symbole kontext- und deutungsabhängig variiert, ist es bei Freud mit der symbolischen Konzeption des Konversions-
24
Konversionen
zugrunde liegende psychische Erregung, deren Ausdruck es ist, andererseits ist es dem Ausgedrückten gegenüber nicht sekundär55. In dieser Komplikation liegt das Potential des freudschen Begriffs, der sich darin als dem Begriff der Mimikry, wie Homi K. Bhabha ihn verwendet56, verwandt erweist: „colonial mimicry is the desire for a reformed, recognizable Other, as a subject of a difference that is almost the same, but not quite. Which is to say, that the discourse of mimicry is constructed around an ambivalence; in order to be effective, mimicry must continually produce its slippage, its excess, its difference.“57
Bhabha versteht hier unter kolonialer Mimikry den besonderen Charakter der kolonialen Konversion, die ihm zufolge dadurch gekennzeichnet ist, dass den Kolonialisierten als den vom kolonialen Begehren hervorgebrachten Anderen eine besondere Ambivalenz zukomme. Indem sie eine Mimikry vollführen, seien sie die der Kolonisation Unterworfenen und doch zugleich nicht vollständig durch sie konstituiert, weil Mimikry im-
symptoms daher vielleicht nicht ganz so klar, wie es z.B. bei Laplanche/Pontalis erscheint: „Mechanismus der Symptombildung [...]. Er besteht aus der Umsetzung eines psychischen Konflikts – und einem damit einhergehenden Lösungsversuch dieses Konflikts – in somatische, motorische (z.B. Lähmung) oder sensible (z.B. umschriebene Anaesthesien oder Schmerzen) Symptome. Für Freud besteht eine Korrelation zwischen der Konversion und einer ökonomischen Konzeption: Die von der verdrängten Vorstellung abgetrennte Libido wird in Innervationsenergie umgewandelt. Aber was die Konversionssymptome kennzeichnet, das ist ihre symbolische Bedeutung: Sie drücken verdrängte Vorstellungen durch den Körper aus.“ (Jean Laplanche und J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, 10. Aufl., Frankfurt a. M. 1991, S. 271) Diese Erläuterung ist etwas zu einfach, weil sie die Vorstellung einer eindeutigen und festen symbolischen Beziehung zwischen Ausgedrücktem und Symptom nahelegt und die genannten Komplikationen vermeidet. 55 1909 kennzeichnet Freud die „hysterische Konversion“ in der Einleitung zu den Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose schließlich als „Sprung aus dem Seelischen in die somatische Innervation“: Sigmund Freud, „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“, in: ders., Studienausgabe Bd. VII, S. 31-103, hier: S. 36. Im Kontext dieser Formulierung geht es um die Unterschiede der Konversionshysterie zur Zwangsneurose, die verständlicher, weil dem Ausdruck des bewussten Denkens verwandter sei. Das Bild des Sprungs, „den wir mit unserem Begreifen doch niemals mitmachen können“ (ebd.), beschreibt hier die Kluft zwischen der Vorstellung des somatischen Symptoms als Ausdruck und Entsprechung des Seelischen einerseits und der Beobachtung andererseits, dass das Somatische ein eigener Geltungsbereich mit eigenen Regeln ist, der schon konstituiert sein muss, um dann als Ausdruck des Seelischen dienen zu können. 56 Homi K. Bhabha, „Of Mimicry and Man“, in: ders., The Location of Culture, London/ New York 1994, S. 85–92. 57 Ebd., S. 86.
Hobuß, Einleitung
25
mer bedeute, sich etwas anderem zum Verwechseln anzuähneln und ihm doch nicht vollständig gleich zu werden. Und deshalb sei die Wirkung der Mimikry auf die koloniale Autorität tief und verstörend58; das koloniale Begehren lasse die kolonialen Subjekte durch die Ambivalenz der Mimikry stets als „unangemessen“ erscheinen, was aber die koloniale Herrschaft gleichzeitig untergrabe: „A desire that, through the repetition of partial presence, which is the basis of mimicry, articulates those disturbances of cultural, racial and historical difference that menace the narcissistic demand of colonial authority.“59
Die koloniale Konversion als Mimikry wird durch das Begehren der kolonialen Autorität hervorgebracht, unterworfene Subjekte zu erzeugen, und ist doch nicht auf einen bloßen Effekt der Autoritätsausübung reduzierbar; sie ist sowohl Effekt des Anpassungsdrucks als auch Widerstand gegen ihn.60 Das hysterische Konversionssymptom, wie Freud es denkt, ist ebenfalls Ergebnis eines Anpassungsdrucks, da das Unbewusste nicht unverwandelt zum Vorschein kommt, es wird vom Bedürfnis nach Spannungsabfuhr hervorgebracht und doch nicht von ihm determiniert, sondern bedarf zugleich eines „somatischen Entgegenkommens“61. Über die 58 Ebd. 59 Ebd., S. 88. 60 Vgl. auch Ulrich Lölke, Kritische Traditionen, a.a.O., vor allem Kap. II, in dem es um die négritude als Protestliteratur und um den Zusammenhang von Mimikry und Widerstand geht. 61 Freud schreibt auf die als Selbsteinwand geäußerte Frage, ob die Symptome psychischen oder somatischen Ursprungs seien: „Soviel ich sehen kann, bedarf jedes hysterische Symptom des Beitrages von beiden Seiten. Es kann nicht zustande kommen ohne ein gewisses somatisches Entgegenkommen, welches von einem normalen oder krankhaften Vorgang in oder an einem Organe des Körpers geleistet wird. Es kommt nicht öfter als einmal zustande – und zum Charakter des hysterischen Symptoms gehört die Fähigkeit, sich zu wiederholen -, wenn es nicht eine psychische Bedeutung, einen Sinn hat. Diesen Sinn bringt das hysterische Symptom nicht mit, er wird ihm verliehen, gleichsam mit ihm verlötet, und er kann in jedem Falle ein anderer sein [...]. Allerdings wirkt eine Reihe von Momenten darauf hin, daß die Beziehungen zwischen den unbewußten Gedanken und den ihnen als Ausdrucksmittel zu Gebote stehenden somatischen Vorgängen sich minder willkürlich gestalten und sich mehreren typischen Verknüpfungen annähern.“ (Sigmund Freud, „Bruchstück einer Hysterie-Analyse“, a.a.O., S. 116.) Einerseits, so Freud hier, bringt das hysterische Symptom seinen Sinn nicht mit, d.h. es hängt nicht von der Beschaffenheit des Symptoms ab, als Ausdruck welcher psychischen Vorgänge es geeignet ist. Andererseits aber spricht Freud von einer „minder willkürlichen“ Verknüpfung zwischen unbewussten Gedanken und den Ausdrucksmitteln, so dass er tastend eine mögliche Annäherung an typische Verknüpfungsweisen formuliert. Diese Komplexität seines Symbolbegriffs habe ich schon dargestellt. Darüber hinaus ist diese Passage interessant, weil
26
Konversionen
mögliche Charakterisierung Freuds als eines der Theoretiker der Fremderfahrung bei sich selbst (erstens durch das Konzept der Übertragungswahrnehmung als methodischem Instrument der Psychoanalyse und zweitens durch die Dezentrierungswirkung der Anerkennung des Unbewussten, nicht Herr im eigenen Hause zu sein) hinaus62 wird Freud in den genannten Passagen als Denker der Konversion als eines in seinem Charakter schillernden Vorgangs sichtbar. Der Konversionsprozess ist einerseits ein Transformationsvorgang von der Ebene des Unbewussten zur Ebene des Körperlichen, und andererseits wird die Ebene des körperlichen Ausdrucks nicht als vollständig determiniert gedacht. Konversionen im interkulturellen, ethnologischen und postkolonialen Kontext sind vielfältige Weisen von Umkehrungsprozessen, in denen Ausgangs- und Zielpunkt der jeweiligen Umkehrung ebenfalls nicht immer einzeln individuierbar sind und sich nicht spiegelbildlich zueinander verhalten. So greift es zu kurz, wenn Dieter Haller die Konversion als Verhaltenstypus vom situationalen Identitätsmanagement einerseits und kulturellem Überläufertum andererseits scharf abgrenzt. Konversionen seien in der Regel unumkehrbar, weil der Übertretende mit der Herkunftsgruppe breche; während kulturelle Überläufer eher Grenzgänger seien, die durch das permanente Übertreten von Grenzen „gelebte Interkulturalität“ praktizierten.63 Dagegen handelt es sich wohl eher um einen fließenden Übergang mit Zwischengliedern; es gibt solche und solche Konversionen. Freuds psychologischer Konversionsbegriff entspräche in seiner Struktur eher dem, was Haller „Überläufertum“ nennt. Der Unterschied zwischen den beiden Bereichen besteht darin, dass es sich bei sie auf den Zusammenhang zwischen der Wiederholbarkeit des Symptoms und dem Entstehen symbolischen Sinns hinweist: Um öfter als einmal zustande zu kommen, benötigt das Symptom einen Sinn, d.h. der Sinn ist die Voraussetzung für die Wiederholbarkeit, obwohl ohne Wiederholbarkeit gar nicht von Sinn gesprochen werden kann. Nach Derrida kann ja ohne die prinzipielle Wiederholbarkeit noch nicht einmal von einem Zeichen im Sinne einer Markierung die Rede sein. Vgl. Jacques Derrida, „Signature, Evènement, Contexte“, in: ders., Marges de la Philosophie, Paris 1972, S. 365–393; dt. „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291–314. Freud schwankt hier zwischen der Festlegung des Sinns durch die Bindung an das ausgedrückte Unbewusste und der anderen Bestimmung, das hysterische Symptom gewinne seinen Sinn erst durch den Vorgang des „Verlötens“ in der Wiederholung. 62 Das kann ich hier nur behaupten; für eine ausführliche Untersuchung vgl. z.B. Jean Laplanche, Die unvollendete kopernikanische Revolution in der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1996. 63 Dieter Haller, „Seminar: Konvertiten, kulturelle Überläufer, Going-Native – Identität und Wandel aus ethnologischer Perspektive“, http://amor/rz.hu-berlin.de~ho920cyt/ HD2003.html (verifiziert 16.09.2003).
Hobuß, Einleitung
27
Freud um eine Relation zwischen dem Psychischen und dem Somatischen handelt, während im Falle der kulturellen Konversion ein Mensch die Seiten wechselt. Aus der Perspektive der kulturellen Konversion ist dann fraglich, was bei Freuds Begriff das der Umwandlung zugrunde Liegende oder sich Durchhaltende64 sein könnte; dass es das gerade nicht gibt, hat die Betrachtung seines Symbolbegriffs gezeigt. Aber wie bei Freud eine unbewusste psychische Erregung in ein körperliches Symptom eingetauscht wird, das wiederum in der psychoanalytischen Behandlung in einer Umkehrung auf die Spur des Unbewussten führen kann, bedarf sowohl die Erfahrung als auch die Darstellung des Fremden des Blicks der anderen, um die ethnozentrische Perspektive durch den dauernden wechselseitigen Abgleich vor Verkürzungen, Projektionen und Verkehrungen zu bewahren. 3. Zu den Beiträgen Entsprechend dem Programm der Umkehrung des Blicks enthält dieser Band zuerst fünf Beiträge, die sich mit ethnographischen und literarischen Inversionen nicht nur beschäftigen, sondern selbst inversive Bewegungen durchführen. Der Beitrag von Hans-Ulrich Sanner über Fremde im Spiegel der HopiRitualclowns ist ein Ergebnis der Feldforschung des Autors bei den Hopi, der dem Erlebnis des Beobachtet- und Dargestelltwerdens durch die anderen viel Raum gibt. Indem Sanner seinen Text mit Prolog und Epilog zu seinen eigenen Erfahrungen des Beobachtetwerdens versieht, stellt er dar, wie diese Erfahrungen den prägenden Rahmen seiner Feldforschung bilden. Wie Kramer betont hatte, ergeben sich in der textuellen Darstellung der anderen stets Verzerrungen, die daraus resultieren, dass die LeserInnen die fremde Lebensform nicht aus eigener Anschauung kennen. Daher muss der berichtende Ethnograph Vergleiche bemühen, die bei einer Rückübersetzung in die Kultur und Sprache der anderen überflüssig, fremdartig und seltsam anmuten würden; er „hat nicht die Möglich64 Die zugrunde liegende Problematik des Identitätsbegriffs kann hier nicht in der gebotenen Ausführlichkeit diskutiert werden; verwiesen sei auf Bhabhas Versuch, mit seinem Begriff des „third space“ eine passende Kategorie zu entwickeln, vgl. Homi K. Bhabha, „The Commitment to Theory“, in: ders., The Location of Culture, London, New York 1994, S. 19–39, hier: S. 36–39. Bhabhas Begriff des Dritten Raums wäre noch in seiner Beziehung zu Donald W. Winnicotts Begriffen der „Übergangsphänomene“ und des „potential space“ oder „intermediären Raums“ als psychologischer und kultureller Kategorie zu untersuchen, vgl. Donald W. Winnicott, Playing and Reality, London 1971; dt. Vom Spiel zur Kreativität, 5. Aufl., Stuttgart 1989, S. 10–16 und 116f.
28
Konversionen
keit, die Selbstverständlichkeit zum Ausdruck zu bringen, mit der die andere Kultur gelebt wird“.65 Die Verzerrungen enthielten jedoch stets auch Wahres; die Satire, die genauso wie die Umkehrung der Beobachtungsrichtung von der Ethnologie vernachlässigt worden sei, sei ein Beispiel dafür. Sanner beschäftigt sich in seinem Beitrag mit dem Humor der Hopi-Ritualclowns, die Fremde in satirischer Weise überzogen darstellen. Dabei untersucht er die Fälle, in denen er selbst als Deutscher und andere, die aus der Hopi-Perspektive Fremde sind, zum Gegenstand der Satire werden, auf die Funktion des Humors hin und löst den Anspruch auf eine wirklich umgekehrte Blickrichtung ein. Die beiden folgenden Beiträge sind Beispiele für literarische Inversionen, indem sie die Frage nach der umgekehrten Perspektive für literaturwissenschaftliche Untersuchungen nutzbar machen und Figuren der Umkehrung in den betrachteten Texten aufsuchen. Russell B. West untersucht den Topos des „weißen Ureinwohners“ in Werken von weißen Schriftstellern in der neueren australischen Literatur aus den Jahren 1976 bis 2001. Beim „weißen Ureinwohner“ oder white Aboriginal handelt es sich um literarische Figuren, die Konversionserfahrungen durchmachen wie z.B. als ursprünglich Weiße in der Gesellschaft der Aborigines aufzuwachsen. Das Auftreten solcher Konversionsbeispiele in der Literatur könnte man als Zeichen der Annäherung und Verständigung der beiden Bevölkerungen Australiens deuten, aber der Beitrag zeigt unter Rückgriff auf den kulturhistorischen Kontext des untersuchten Zeitabschnitts, dass es sich bei der Figur des white Aboriginal im Gegenteil um eine Strategie zur Stabilisierung der weißaustralischen Identität handelt, die auf Herausforderungen wie die verfassungsgerichtliche Feststellung der Unantastbarkeit schwarzer Landrechte abgrenzend reagiert. Hier liegen also in der Literatur politisch instrumentalisierte fiktionale Konversionsdarstellungen vor, die nur scheinbar den Blick der anderen ernstnehmen, sondern vielmehr der Abgrenzung dienen. Die von Madelena Gonzalez untersuchte Kurzgeschichtensammlung East, West von Salman Rushdie erweist sich im Gegensatz als Tableau von Variationen der Ort- und Heimatlosigkeit, in denen Rushdie seine Figuren Konversionserlebnisse durchstehen lässt, die ihnen Unbehagen bereiten, aber zugleich Möglichkeiten eröffnen. Zudem zeigt der Beitrag, wie Rushdies Kurzgeschichten zahlreiche geographische, ästhetische, sprachphilosophische, genrelogische und andere Kategorien aufrufen, um sie sogleich wieder zu destabilisieren. Darin liegt eine zweite Ebene der Konversion in Gonzalez’ Bei65 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 19.
Hobuß, Einleitung
29
trag: Er führt vor, wie die Schemata, die Rushdie scheinbar benutzt, die Bindung an ihre scheinbar feste Bedeutung verlieren. Ein weiteres Moment zeigt der Beitrag in Rushdies Umgang mit der Sprache auf; in seinen Texten gibt es auffällig viele Beispiele für Übersetzungs-, Sprachund Sprechfehler, also Fehlleistungen, die darauf verweisen, dass es bei allen geschilderten kulturellen Konversionen keinen Zielpunkt im Sinne einer Heimat gibt, denn Rushdies Figuren sind durch das Fehlen eines Ortes in der Sprache zu dauerhafter Mobilität gezwungen. Während Wests Beitrag auf die Frage nach Möglichkeiten der Darstellung der untersuchten Konversionstypen durch die weiße Literatur Australiens zu einem kritisch-negativen Ergebnis kommt, zeigt Gonzalez Rushdies vielfältige Weisen der literarischen Darstellung von kulturellen Konversionen und Strategien der Umkehrung auf semantischen und strukturellen Ebenen. Iris Därmann legt in ihrem Beitrag über Symbolische und pikturale Wirksamkeit bei Lévi-Strauss und Lacan mehrere Ebenen der Umkehrung an. Lévi-Strauss vergleicht in seinem Aufsatz über Die Wirksamkeit der Symbole den Schamanen mit dem Psychoanalytiker und erklärt (versuchsweise) das schamanische Ritual psychoanalytisch. Kramers Bemerkung, an Lévi-Strauss’ Interpretation scheine eine ganze Reihe von Korrekturen und Erweiterungen erforderlich66, wird im Beitrag mehr als eingelöst, indem es nicht nur um die Korrektur des Lévi-Strauss’schen Blicks auf die anderen aus der Perspektive einer westlichen Psychologie geht. Vielmehr führt Därmann vor, wie Lacan von Lévi-Strauss zentrale Gedanken für seinen Text über das „Spiegelstadium“ bezogen hat und zeigt, dass sich auch die schamanische Perspektive nutzen lässt, um die Wirksamkeit der Psychoanalyse zu erklären. Der umgekehrte Blick erweist diese als kulturbedingte Praktik, aus deren Perspektive sich zwar außereuropäische Praktiken betrachten lassen, die aber auch selbst dem Blick der anderen unterworfen werden kann. Maria-Sibylla Lotter stellt in ihrem „Kulturvergleich“ zu unterschiedlichen Personbegriffen den europäischen Begriff der Person als universalen Maßstab in Frage. Statt andere Kulturen aus seiner Perspektive zu sehen, schlägt Lotter vor, nach der allgemeinen Funktion von Personbegriffen zu fragen, was die Möglichkeit eröffne prüfen zu können, auf welche kulturelle Weise diese Funktion jeweils erfüllt werde. Aus der Blickrichtung zweier Fallbeispiele aus dem tibetischen Buddhismus und dem indischen Hinduismus wird die Historizität und der Status des nordamerikanisch66 Fritz Kramer, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, a.a.O., S. 117.
30
Konversionen
westlich-aristotelischen Personbegriffs als einer möglichen Fassung unter anderen erkennbar. Die Umkehrung liegt hier darin, nicht nur danach zu fragen, was wir als fremdartig empfinden, sondern danach, was uns im Blick der anderen zu Fremden macht. Nach der exemplarischen Umsetzung des Programms der umgekehrten Blickrichtung in unterschiedlichen disziplinären Gebieten enthält der zweite Teil des Bandes Beiträge zur Krise und Konversion des Eurozentrismus. Das eurozentristische Denken ist schon lange in der Krise; die hier vertretenen Autoren stimmen in ihrer Einschätzung überein, dass die Überwindung des Eurozentrismus nicht darin bestehen kann, die Anderen zu idealisieren. Das wäre die Alienisierungsfalle, die nicht aus der eigenen Perspektive herausführt. Stattdessen bedarf es einzelner Konversionen jeweils einzelner eurozentristischer Praktiken und Denkweisen. Heinz Kimmerle plädiert in seinem Beitrag für „Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie“. Gegen die Begrenzung des Philosophiebegriffs auf westliche (oder noch westliche und östliche) Philosophien argumentiert er für die Anerkennung von Philosophien als Reaktionen auf „Anlässe der Selbstvergewisserung“ in jeder Kultur. Im Anschluss an eine Analyse der sokratischen Gesprächsführung entwirft er Merkmale interkulturell dialogischen Philosophierens. Unter anderem hebt er hervor, dass sich die Personen in Dialogen etwas sagen können, „das sich nicht ein jeder von ihnen auch selbst hätte sagen können“, wie es die genannten Modelle der Selbstreflexivität oder solche der allgemeinen Vernunft implizit unterstellen. Kramer hatte die Auffassung vertreten, die Toleranzidee, mit der vor allem die so genannten kulturrelativistischen Vertreter der ursprünglich US-amerikanischen cultural anthropology glaubten, dem Ethnozentrismus begegnen zu können, sei selbst ethnozentristisch: „sie verharmlost die Herausforderung, als welche die andere Gesellschaft der modernen erscheint“67. Kimmerle zieht den Begriff der „Achtung“ dem Toleranz- und dem Respektbegriff vor, wenn es darum geht, das Angesprochensein durch den anderen und nicht bloß das eigene Sprechen in einer Gesprächssituation wahrnehmbar werden zu lassen. Ulrich Lölke schlägt in seinem Beitrag vor, die Philosophie selbst in einem umfassenden Sinne als ein interkulturelles Geschehen zu begreifen: Mit dem Blick auf frühe interkulturelle Debatten führt er vor, wie die Philosophiegeschichte insgesamt unter einer interkulturellen Perspektive gesehen werden kann, und er fragt, ob es in der aktuellen Philosophie 67 Fritz Kramer, „Die social anthropology und das Problem der Darstellung anderer Gesellschaften“, a.a.O., S. 15.
Hobuß, Einleitung
31
etwa gemäß Bhabhas Bestimmung des „Dazwischen“ hybride Standpunkte gibt, die denen Rushdies und anderer in der Literatur vergleichbar wären. Als Beispiel erweist sich ein inner-afrikanischer Dialog, der in den 1970er Jahren in Kenia als ein interkulturelles Geschehen stattgefunden hat. Daran zeigt sich, dass die Orte interkultureller Dialoge stets Regionen sind. Der Blick von außen erweist, dass interkulturelle Verhandlungen von Wissenstraditionen gerade nicht „dazwischen“, sondern immer in Kontexten stattfinden, die sich natürlich ihrerseits wieder von außen betrachten lassen, aber niemals aus einer kulturunabhängigen Perspektive. Der eigene, eurozentrische Blick lässt sich nicht aus sich selbst heraus korrigieren. Helmut Heit kommt in seiner Untersuchung der Berufungen auf Kontinuität und auf den griechischen Ursprung in westlichen philosophischen Diskursen zum Ergebnis, dass die Griechen in solchen Kontexten soziokulturelle Konstruktionen im Dienste der Selbstvergewisserung seien. Wie die Untersuchung von Russell B. West zeigt der Beitrag von Heit, dass die scheinbare Annäherung an die anderen oder die Betonung der Herkunft von den anderen eine Strategie darstellt, die wirklichen Eigentümlichkeiten anderer Kulturen zu übersehen und sich der eigenen Blickrichtung zu vergewissern und eurozentrische Universalitätsansprüche zu sichern. In seinem abschließenden Beitrag plädiert Leo Kreutzer für eine „Weltwissenschaft“ als Forum, auf dem durchaus in der Tradition eines humanistischen Denkens „ein lokales Wissen aller Weltgegenden repräsentiert wäre“. Dies stehe im Gegensatz zum universalen Begriff der Wissenschaft, die sich ihrer lokalen Kontexte entledigt habe, und für den deshalb der Präfix „Welt-“ zunächst unpassend erscheinen mag. Kreutzer entwirft in einer Lektüre der Reiseberichte Forsters und Humboldts ein Konzept des „writing nature“, das die Dinge reden lasse68, anstelle der Praxis der wissenschaftlichen Verfahrensweisen seit Beginn der europäischen Neuzeit, in der ihre Gegenstände methodisch zum Verstummen gebracht würden. Wenn „der ethnografische Blick, der eine fremde, exotische Kultur von außen trifft und befremdet wahrnimmt, was von innen gesehen als selbst68 Dieser Entwurf ließe sich mit Donna Haraways „situated knowledges“ vergleichen: Donna Haraway, „Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of a Partial Perspective“, in: dies., Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 183–202; dt. „Situiertes Wissen: Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive“, in: dies., Die Neuerfindung der Natur: Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M./ New York 1995, S. 73–97.
32
Konversionen
verständlich erscheint, [...] auf die Welt seiner Erfinder“69 zurückfällt, dann ist der umgekehrte Blick die einzige Chance wie auch die Nötigung, den eurozentristischen Blick durch eine andere Wahrnehmung des Fremden zu ersetzen. Den anderen als einen wahrzunehmen, der etwas zu sagen hat, bedeutet sich dem infragestellenden Gehalt auszusetzen, den die Erfahrung des Fremden wie auch die Darstellung70 der anderen besitzt. Nur eine dadurch gezeichnete Ethnologie und Philosophie entkämen der schlechten Alternative von naiv realistischer Abbildung oder bloßer Konstruktion des Fremden. Dieser Sammelband ist aus der Ringvorlesung „Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive“ hervorgegangen, die im Wintersemester 2002/2003 am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg stattgefunden hat. Das Zustandekommen der Ringvorlesung und der Publikation wurde mit Hilfe der finanziellen Unterstützung durch den Fachbereich Kulturwissenschaften, den Präsidenten der Universität Lüneburg und die Lüneburger Universitätsgesellschaft e.V. ermöglicht. Zum Erfolg der Ringvorlesung haben auch die weiteren Mitwirkenden, Tobias Döring, Michael Harbsmeier und Ulla Haselstein, deren Beiträge in die Publikation nicht aufgenommen werden konnten, und vor allem die Lüneburger StudentInnen der Kulturwissenschaften beigetragen. Heinz Kimmerle und Ram Adhar Mall waren freundlicherweise bereit, den Band in die von ihnen herausgegebene Reihe „Studien zur interkulturellen Philosophie“ aufzunehmen, und Fred van der Zee vom Rodopi Verlag hat mit viel Geduld unsere Fragen zur Herstellung der Druckvorlage beantwortet. Hilmar Schäfer hat bei der Redaktion der Beiträge wertvolle Mitarbeit geleistet und die technische Umsetzung verantwortlich betreut. Ihnen allen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Lüneburg, im Mai 2004
69 Fritz Kramer, „Der Blick aus der Ferne: Zeichnungen von kyung-hwa choi-ahoi“, in: Kyung-Hwa Choi-Ahoi. Fern und Nah, Hamburg 2001, S. 8. 70 Vgl. dazu auch Iris Därmann, „Fremderfahrung und Repräsentation“, in: dies. und Christoph Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist 2001, S. 7–46, hier: S. 14–17.
Teil I
Ethnographische und literarische Inversionen
This page intentionally left blank
„Are you Hitler’s son?“ Bilder der Fremden im Spiegel der Hopi-Ritualclowns1 Hans-Ulrich Sanner Die Clownzeremonie der Hopi-Indianer in Arizona ist eine Dramatisierung des HopiMenschenbildes. Die Ritualclowns werfen in pointiert-aktuellen Sketchen, Satiren und witzigen Kommentaren einen kritischen Blick auf die eigene Gesellschaft und reflektieren Vorstellungen der Hopi über die Fremden. Die Porträts anglo-amerikanischer Charaktere, indianischer Nachbarvölker oder schwarzer Amerikaner vereinen ethnischen Humor und indigene Ethnographie; sie erfüllen Bedürfnisse der Hopi nach Abgrenzung, psychosozialer Entlastung und Sinngebung. Ausgehend von der scherzhaften Konzeptualisierung des Autors/Feldforschers als „Hitlers Sohn“ durch einen Hopi-Clown betrachtet der Aufsatz auch das Deutschen-Bild der Hopi und das Verhältnis von Fremderfahrung, Stereotypisierung und ethnographischer Repräsentation in den ethnischen Porträts der HopiClowns. The clown ceremony of the Hopi Indians of Arizona dramatizes the Hopi conception of humanity. In trenchant, up-to-the-minute skits, satires, puns, and quips, the ritual clowns critically reflect upon the ethical condition of Hopi society and reveal Hopi images of the Other. Combining ethnic humor and indigenous ethnography, the ritual portraits of Anglo-American characters, adjoining Native American groups, or black Americans, serve Hopi needs of boundary-maintenance, psycho-social relief, and making sense of the Other. Using as a point of departure a Hopi clown’s joking reference to the author/fieldworker as “Hitler’s son”, the paper briefly examines Hopi images of Germans and the relationship between experiencing, stereotyping, and ethnographically representing the Other in the ethnic portraits of Hopi clowns.
Prolog Ein Sonntagmittag im April, die Sonne brennt vom Himmel über der Hochwüste Nord-Arizonas. Groteske Gestalten schlurfen über den staubigen Tanzplatz im Zentrum von Shongopavi, dem Hauptdorf auf Second 1
Für wertvolle Kommentare, Kritik und Fragen danke ich meinem Freund und Kollegen Richard Bielefeldt, Hamburg, sowie den Hörern meines Beitrags zur Ringvorlesung Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg, Dezember 2002. Den Veranstalterinnen der Ringvorlesung, Iris Därmann und Steffi Hobuß, danke ich zusätzlich für ihre Gastfreundschaft.
36
Konversionen
Mesa. Es sind acht Männer verschiedenen Alters, spärlich bekleidet, am ganzen Körper mit gelber Tonfarbe beschmiert, die Haare seitlich zu Zöpfen hochgebunden, schwarze Linien um die Augen und den Mund. Die heiligen Clowns der Hopi, die das Leben zeigen, alles kommentieren und karikieren, ihren Finger in jede Wunde legen und trotzdem alle zum Lachen bringen. Sie schlendern an den Rändern der Plaza entlang und mustern die Zuschauer: Hopi-Familien, einige Dutzend weißer Touristen, ein paar Indianer vom Nachbarvolk der Navajo. Das Oberhaupt der Clowns, ein älterer Mann, sucht die flachen Hausdächer ab, wo weitere Zuschauer stehen. Als er mich sieht, ruft er: „Hey you there, Whiteman, come down!“ Ich gehorche sofort, obwohl ich gehört habe, was die Clowns mit ihren Opfern alles anstellen können. Aber sie sind der Gegenstand meiner ethnologischen Feldforschung2, und ich will mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ihre Bühne einmal selbst zu betreten. Mit weichen Knien klettere ich die Leiter herunter und gehe auf die Plaza. Der ClownAnführer kommt zusammen mit einem jungen Clown auf mich zu und bleibt vor mir stehen. Er reißt Mund und Augen auf, tritt einen Schritt zurück, und ruft: „Boy, you are so tall!“ „Yes I am“, antworte ich verlegen. „Where did you get so tall?“ fragt er mit übertriebener Neugier. „In Germany“, sage ich. „In Germany!“ wiederholt er laut, damit es alle Zuschauer hören können. Der junge Clown verzieht angewidert das Gesicht und ruft: „Germmany. Lots of germs!“ Ich habe das Wortspiel noch nicht richtig kapiert, da fragt mich der Anführer völlig unvermittelt: „Are you Hitler’s son?“ Ich bin völlig perplex. Dann ringe ich mir ein Lächeln ab und antworte: „No, I’m not. I’m not even his grandson.“ Die Bekräftigung ist mir in diesem Moment wichtig. Der ClownAnführer lacht und wiederholt meinen Satz laut fürs Publikum. Dann lädt er mich zum Essen ein und führt mich zu der Stelle der Plaza, wo die Clowns zwischen Linien aus Asche ihr symbolisches Haus eingerichtet haben. Die Fläche ist jetzt angefüllt mit Speisen, alles mögliche, vom traditionellen piiki-Brot aus blauem Mais bis zum American Fastfood. Die Clowns bewirten die Fremden: vor allem Anglo-Amerikaner, aber auch einige Navajo. Mein Clown-Gastgeber drückt mir eine Dose Coca-
2
Hans-Ulrich Sanner, Tsukulalwa. Die Clownzeremonie der Hopi als Spiegel ihrer Kultur im Wandel, Dissertation, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt a. M. 1992.
Sanner, Bilder der Fremden
37
Cola und einen in Plastik verpackten Hamburger in die Hand: „Eat! Hamburger. That’s good Hopi food.“ Dann sitzen wir im Kreis um das Clownhaus, essen und machen Smalltalk. Mein Clown füttert mich mit Rührei, dann gibt es Hühnchen mit Kartoffelsalat und Maiskolben, „Kentucky Fried Chicken! Good traditional Hopi food!“ Die Anglo-Amerikaner müssen nebenbei einiges über sich ergehen lassen. Ein Clown reißt einem älteren Mann die Baseball-Kappe vom Kopf und klärt ihn mit gespielter Empörung über gutes Benehmen auf: „You’re supposed to take off your hat when you sit down for lunch. That’s the Hopi way!“ Die Clowns sind wirklich frech, einer kündigt den Anglos ganz besondere Gastfreundschaft an: „Eat! And afterwards you can fuck our women!“ Pure Ironie, aber den Amerikanern bleibt fast der Bissen im Hals stecken. Ein paar ältere Männer haben es bald ziemlich eilig, die Plaza zu verlassen. Einer entschuldigt sich bei den Clowns, er müsse dringend weg. Als die Anglos gehen, werden sie mit ironischen Mahnungen verabschiedet: „No drugs, no alcohol! Just wine and beer!“ Ich bleibe mit den Navajo zurück und esse weiter. Als das Geklapper und Gebimmel von Tanzrasseln die Rückkehr der katsinam ankündigt, werde ich unruhig. Muss ich verschwinden? Mein Clown-Gastgeber beruhigt mich, sagt, ich solle in Ruhe aufessen, und packt mir Hühnchen und Kartoffelsalat zum Mitnehmen ein. Während ich die Plaza verlasse, formieren sich die katsinam für die nächste Tanzrunde. Es sind Tasapkatsinam, „Navajo-katsinam“. Manches in ihrem Aussehen und Gebaren karikiert - aus Hopi-Sicht - Eigenschaften dieser indianischen Nachbarn, aber wie alle katsinam sind sie Boten der Götterwelt, heilige Wesen, die mit ihren Liedern und Tanzschritten die Regenwolken anlocken und für das gute Leben sorgen. 1. Hopi und Clowns: Einige ethnographische Bemerkungen Die Hopi sind ein Volk von heute etwa 10 000 Menschen im Südwesten der USA. Etwa drei Viertel von ihnen leben nach wie vor in einer Reihe von Dörfern auf der Hopi-Reservation am Südrand des ColoradoPlateaus, der Rest lebt und arbeitet in Städten wie Phoenix, Tucson oder Los Angeles. Linguistisch gehören die Hopi zur uto-aztekischen Sprachfamilie, kulturell zu den sogenannten Pueblo-Völkern von Arizona und Neu-Mexiko. Die spanischen Kolonisatoren bezeichneten die sesshaften, Bodenbau treibenden Völker der Region, mit ihrer imposanten Lehmzie-
38
Konversionen
gelarchitektur, als Pueblo- („Dorf“) Indianer, zur Unterscheidung von den umherschweifenden Jägervölkern wie den Apache und Navajo. Als Maispflanzer überleben die Hopi seit Jahrhunderten erfolgreich in einer niederschlagsarmen, knapp 2000 Meter hoch gelegenen Trockensteppe. Die Risikofaktoren Dürre, Frost, Sandstürme, Gewitterfluten und Schädlinge führten bis ins späte 19. Jahrhundert periodisch zu Ernteausfällen und Hungersnöten, aber niemals zur Aufgabe des uralten Siedlungsraums. Die Hopi überstanden die von den Weißen eingeschleppten Seuchen ebenso wie die wiederkehrenden Überfälle der Nomaden. Interne Konflikte zwischen Verwandtschaftsgruppen (Klanen) bedrohten immer wieder den Zusammenhalt der autonomen Dorfgemeinschaften und sorgen bis zur Gegenwart für politische Spaltungen. In kreativer Auseinandersetzung mit den Bedingungen einer rauen Umwelt entwickelten die Hopi über die Jahrhunderte ein reiches Kulturerbe, das seinen vollendeten Ausdruck in einem großen Jahreszyklus religiöser Zeremonien findet. Stärker als jedes andere indianische Volk in Nordamerika haben die Hopi grundlegende Strukturen ihrer Kultur bis zur Gegenwart bewahren können. Als vermeintlich ahistorisches Relikt einer früheren Stufe der Menschheitsentwicklung wurden sie schon Ende des 19. Jahrhunderts zum begehrten Gegenstand wissenschaftlicher Forschung und literarischer Betrachtung – ein Interesse, das bis heute anhält und sich in einem enormen Korpus von Publikationen unterschiedlichster Qualität widerspiegelt.3 Dass die Oberhäupter und Denker der Hopi-Klane und Geheimbünde seit jeher aktiv und mit ausgeprägtem kulturellen Selbstbewusstsein „Geschichte machen“, um ihr Land, ihre Lebensart und Religion gegen die weißen Eroberer zu behaupten, ist erst in der jüngeren HopiForschung deutlich herausgearbeitet worden.4 Von den Spaniern (Kastiilam)5, die sich im 16. Jahrhundert gewaltsam in der Pueblo-Region festsetzten, übernahmen die Hopi alles, was ihnen nützlich erschien: Geräte und Werkzeuge aus Metall, domestizierte Tiere 3
4 5
W. David Laird, Hopi Bibliography. Comprehensive and Annotated, Tucson, Az. 1977; Peter M. Whiteley, Rethinking Hopi Ethnography, Washington/ London 1998, S. 6ff. Eine gute deutschsprachige Synopse der „klassischen“ Hopi-Ethnographie liefert Horst Hartmann („Die Hopi-Indianer in Arizona“, in: ders., Kachina-Figuren der Hopi-Indianer, Veröffentlichungen des Museums für Völkerkunde Berlin, Neue Folge 36, Berlin 1978, S. 15–79). Peter M. Whiteley, Deliberate Acts. Changing Hopi Culture Through the Oraibi Split, Tucson, Az. 1988; ders., Rethinking Hopi Ethnography, a.a.O. Von span. Castilla. Als ethnische Bezeichnung umfasst Kastiila(m) Spanier, Mexikaner und andere Hispano-Amerikaner, siehe: Hopi Dictionary Project (Comp.), Hopi Dictionary. Hopìikwa Lavàytutuveni. A Hopi-English Dictionary of the Third Mesa Dialect, Tucson, Az. 1998, S. 134.
Sanner, Bilder der Fremden
39
und Nahrungspflanzen. Die (selektive) Übernahme christlicher Ideen scheiterte weniger an der generellen Ablehnung durch die Pueblo als an der Rücksichtslosigkeit der Missionare. Die brutalen Maßnahmen der Spanier zur Ausrottung der einheimischen Religion befeuerte den Hass auf die Kolonialmacht viel stärker als die wirtschaftliche Ausbeutung durch Fron und Tribut. Im Jahr 1680 erhoben sich sämtliche Pueblos in einem sorgfältig geplanten Aufstand, bei dem zahlreiche Franziskanerpriester und Siedler ihr Leben verloren. Die glorreiche „Pueblo-Revolte“ bewirkte den zeitweiligen kompletten Rückzug der Kolonialmacht nach Süden. Der spanischen Reconquista des Pueblo-Gebietes (1692) konnten sich allein die Hopi erfolgreich widersetzen. Am weitesten entfernt vom spanischen Verwaltungszentrum am Rio Grande, hatten sie ihre Dörfer nach der Revolte zudem in kluger Voraussicht auf steile, praktisch uneinnehmbare Felsgrade (Mesas) verlegt. Die US-amerikanische Periode der Hopi-Geschichte begann, als der Südwesten im Jahr 1850 von Mexiko an die Vereinigten Staaten fiel. Die Hopi unterschieden die weißen Neuankömmlinge ethnisch in zwei Gruppen: Moomonam (Mormonen) und P a h a a n a m (andere AngloAmerikaner).6 Eine zentrale Maßnahme der US-Behörden zur „Zivilisierung“ der indianischen Völker war die Einführung der Schulpflicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts, verbunden mit der systematischen Verbringung der Kinder in Internatsschulen. Die Fertigstellung der transkontinentalen Eisenbahn bewirkte gleichzeitig einen wachsenden Strom von Gütern, Geld und Fremden in das vormals isolierte Hopiland. Ein entscheidender Schritt bei der Modernisierung der Hopi-Gesellschaft hat ironischerweise mit Nazi-Deutschland zu tun. Durch die Teilnahme der USA am Zweiten Weltkrieg kam erstmals ein größerer Teil der HopiBevölkerung in massiven Kontakt mit der modernen Welt, als Soldaten, Zivilangestellte und Beschäftigte in der Kriegsindustrie. Heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, bringen Asphaltstraßen, Supermärkte, Fernsehen und Video die Verlockungen und Produkte der amerikanischen Konsumgesellschaft in alle Häuser der Reservation. Materiell 6
Zur Rolle der Mormonen siehe: Peter M. Whiteley, Deliberate Acts, a.a.O., S. 33–37. Pahaana bezeichnet den „Anglo-Amerikaner“ sowie alle Personen europäischer Abstammung, mit Ausnahme der Spanier/Mexikaner und Mormonen, siehe: Hopi Dictionary Project (Comp.), Hopi Dictionary, a.a.O., S. 378. In den heiligen Ursprungsgeschichten („Mythen“) der Hopi-Klane ist Pahaana der „weiße Bruder“, der einst nach Osten davonging. Er versprach zurückzukehren, wenn sich sein Bruder, der Hopi, in Not befände. Aufgrund dieser messianischen Erwartung wurden weiße Neuankömmlinge von den Hopi immer wieder für den „echten Pahaana“ gehalten. Siehe z. B.: Armin W. Geertz, The Invention of Prophecy. Continuity and Meaning in Hopi Indian Religion, Berkeley 1994.
40
Konversionen
geht es den meisten Hopi recht gut, aber viele ältere Leute argwöhnen, das Leben sei zu einfach und bequem geworden. Wüstenbewohnern, die genetisch auf gesunde, ballaststoffreiche Nahrung, körperliche Ausdauer und den Umgang mit periodischer Nahrungsknappheit programmiert sind, bekommt es nicht, wenn sie auf Fastfood umsteigen und sich nur noch im Pick-up Truck fortbewegen. Die Diabetes-Rate ist alarmierend hoch und stellt neben dem Alkoholmissbrauch das größte Gesundheitsproblem dar. Die Integration der Hopi in die amerikanische cash economy hat zu einem erheblichen Rückgang des Bodenbaus geführt, während gleichzeitig der Mais vom „täglichen Brot“ zum (abstrakteren) Symbol von Hopi-Identität wurde (Diesen Widerspruch ironisierte der eingangs erwähnte Clown wohl, indem er Hamburger als „traditionelle HopiNahrung“ anpries). Alarmierend ist der Rückgang der Hopi-Sprache und die Tatsache, dass viele Kinder fast nur noch Englisch sprechen, denn die Sprache ist conditio sine qua non eines funktionierenden Zeremonialsystems. Das Cultural Preservation Office der modernen Stammesverwaltung und die unabhängige Selbsthilfeorganisation Hopi Foundation steuern diesen Entwicklungen mit speziellen Programmen und Projekten entgegen und versuchen, die überlieferten Werte der Hopi-Kultur mit den Erfordernissen der modernen Gesellschaft in Einklang zu bringen.7 Der Niedergang mancher Traditionen und die Übernahme amerikanischer Konsumgewohnheiten werden von allen Hopi im Zusammenhang mit alten Überlieferungen interpretiert. Gemäß dieser indigenen Eschatologie, die nach 1945 von einer Fraktion politischer Traditionalisten als „HopiProphezeiungen“ systematisch ausgebaut und etwa ab 1960 durch geschickte Instrumentalisierung der westlichen Gegenkultur (Hippies, Ökos, New Ager) globalisiert wurde, wird das verdorbene Leben (koyaanisqatsi) zu einem Ende kommen, damit (zum wiederholten Mal) eine Reinigung und Erneuerung der Welt und der Hopi-Kultur stattfinden kann.8 Trotz – vielleicht auch wegen – dieses Endzeitszenarios weist die Hopi-Kultur des frühen 21. Jahrhunderts einen beachtlichen Grad der Kontinuität auf. Die Bewahrung des eigenen Landes, die funktionierende Struktur matrilinearer Klane und die religiösen Zeremonien sind Hauptfaktoren der kulturellen Reproduktion. Der wirtschaftliche Wandel des 20. Jahrhunderts beeinflusste auch die komplexe politisch-religiöse Hierarchie der Bünde und ihrer Zeremonien. Während einige der mächtigen Bundzeremonien aufgegeben wurden,
7 8
Hopi Cultural Preservation Office: www.nau.edu/~hcpo-p; The Hopi Foundation: www.hopifoundation.org. Armin W. Geertz, The Invention of Prophecy, a.a.O.
Sanner, Bilder der Fremden
41
entwickelten sich die früher weniger bedeutenden katsina-Zeremonien zum zentralen Ausdruck von Hopi-Identität. Katsinam sind Ahnengeister und spirituelle Essenz aller Lebensformen. Sie tragen die Gebete der Menschen zu den Göttern und kehren mit Regen zurück. Bei öffentlichen Zeremonien werden sie von Mitgliedern der katsina-Bünde in Maske und Kostüm personifiziert.9 Die „einfachen“ katsina-Tänze des Frühsommers bilden den Rahmen für die Clownzeremonie (tsukúlalwa, „sie agieren als Clowns“). Für die Indianer Nordamerikas steht Humor in keinem Gegensatz zum Heiligen. Ihre Clowns sind religiöse Spezialisten und Symbolgestalten, die mancherorts – so bei den Pueblos - eigene Geheimbünde bilden und eine einflussreiche Rolle im zeremoniellen System spielen.10 Die tsutskut (Pl. von tsuku, „Clown“) der Hopi agieren als Spaßmacher, sie wollen die Menschen unterhalten, zum Lachen bringen und damit ihre Sorgen vertreiben. Gleichzeitig „arbeiten“ sie für den Regen, den jede Hopi-Zeremonie bezweckt. Und sie sind Akteure eines Ritualtheaters, das zentrale Anschauungen des Hopi-Weltbildes zur Aufführung bringt. Als Antithese zu den katsinam, die mit ihrem ganzen Erscheinungsbild die ideale Harmonie des Kosmos und der spirituellen Welt verkörpern, porträtieren die mit Tonfarbe und Asche bemalten Clowns Streben, Hybris und Scheitern des Menschen (Abb. 1)11. Die Clownzeremonie entspricht dem, was der Soziologe Peter L. Berger als „Philosophie des Komischen“ bezeichnet hat: die Auseinandersetzung des Menschen mit der Erkenntnis, dass sein Dasein in komischem Widerspruch zur Ordnung des Universums steht.12 „Die Clowns“, so bringen es Hopi-Denker auf den Punkt, „wissen wirklich über das Leben Bescheid. Sie zeigen den Leuten, wie sie sind und was für ein Leben sie führen“.13 Die tsutskut dramatisieren das Menschenbild der Hopi in einer traditio9
10
11 12
13
Horst Antes (Hg.), Katsinam. Figuren der Pueblo-Indianer Nordamerikas aus der Studiensammlung Horst Antes, Lübeck 2000; Horst Hartmann, Kachina-Figuren der Hopi-Indianer, a.a.O. Barbara Tedlock, „The Clown’s Way“, in: Dennis und Barbara Tedlock (Hg.), Teachings from the American Earth, New York 1975, S. 105–118; dt. „Der Weg des Clowns“, in: dies. (Hg.), Über den Rand des tiefen Canyon. Lehren indianischer Schamanen, übers. v. Jochen Eggert, Düsseldorf 1982, S. 109–121; Hans-Ulrich Sanner, „Die Clownbünde der Pueblo-Indianer“, in: Gisela Völger und Karin von Welck (Hg.), Männerbünde-Männerbande. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, Bd. 2, Köln 1990, S. 243–250. Die Abbildungen befinden sich auf den Seiten 75–78. Peter L. Berger, Redeeming Laughter, New York 1997; dt. ders., Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, übers. v. Joachim Kalka, Berlin 1998, S. 43. Hans-Ulrich Sanner, Tsukulalwa, a.a.O., S. 26f.
42
Konversionen
nellen Abfolge von Episoden, denen sie mit kreativen Einfällen und darstellerischem Geschick Farbe, Dynamik und Aktualität verleihen: von einem paradiesischen Beginn und einem redlichen Dasein bis zur Dekadenz, zum Verfall aller moralischen Werte, der unausweichlich zur Bestrafung und Läuterung durch übermenschliche Instanzen führt. Das im Mythos begründete Welt- und Menschenbild wird in der Clownzeremonie ständig in Beziehung zur aktuellen Realität gesetzt und damit bedeutungsvoll gemacht. Mit verschiedenen kommunikativen Medien, vom sorgfältig geplanten Sketch oder Wortspiel bis zum spontanen Kommentar, thematisieren die Clowns potentiell alles, was die Gesellschaft zum gegebenen Zeitpunkt bewegt. Je skandalöser und obszöner die Possen der Clowns im Laufe des Tages werden, je weiter sie sich von den Idealen des Hopi-Weges entfernen, umso häufiger erscheinen am Rand der Plaza furchterregende Kriegerkatsinam, die mit drohenden Rufen und Gesten die Spaßmacher vor den Folgen ihres Tuns warnen. Unbekümmert und unbelehrbar, schlagen die tsutskut jedoch alle Warnungen in den Wind. Gegen Abend versammeln sich die Krieger-katsinam zum großen Überfall. Begleitet von den mitleidigen Schreien der Zuschauer, werden die ahnungslosen Clowns gefesselt, ausgezogen, mit kaltem Wasser übergossen und mit Yucca-Ruten gepeitscht. Es ist ein grandioses Spektakel, in dem die tsutskut – stellvertretend für die Zuschauer - für ihre Unbelehrbarkeit büßen müssen und gleichzeitig geläutert werden. Viele Hopi sehen heute in diesem Ritual der Clownzeremonie eine Parabel auf den angekündigten „Tag der Reinigung“, an dem gemäß der Überlieferungen das verdorbene Leben zu einem Ende kommen wird. 2. Humor, Spiegel, umgekehrte Ethnographie: Einige theoretische Bemerkungen Das tsukulalwa konstituiert einen „kulturell-ästhetischen Spiegel“, der den Hopi eine kritische Reflexion über den Zustand ihrer Gesellschaft ermöglicht. Darüber hinaus erlaubt dieses Ritualtheater eine regelmäßige kollektive Katharsis und Erneuerung, wie sie für die kalendarischen Zeremonien traditioneller Agrargesellschaften typisch ist.14 Als „Symboltyp“ und liminales Phänomen ist der Ritualclown ein Spezialist im Um14 Siehe dazu die Performance-theoretischen Arbeiten von Victor Turner und Richard Schechner, z. B. Victor Turner, On the Edge of the Bush. Anthropology as Experience, Edith L.B. Turner (Hg.), Tucson, Az. 1985; Richard Schechner, Between Theater and Anthropology, Philadelphia 1985; vgl. Hans-Ulrich Sanner, Tsukulalwa, a.a.O. , S. 8f. und S. 243–275.
Sanner, Bilder der Fremden
43
gang mit Grenzen15, sei es der symbolische Rahmen, der das Ritual vom Alltag abgrenzt, seien es die Grenzen, die das kulturelle Normensystem dem Verhalten des Individuums setzen, oder sei es die Grenze zwischen der Wir-Gruppe und den Fremden. Die folgenden Kapitel konzentrieren sich darauf, wie die Hopi-Clowns die äußeren Grenzen ihrer Gesellschaft symbolisch patroullieren und als Vermittler von Kulturkontakt und wandel agieren. Der norwegische Ethnologe Fredrik Barth hat darauf hingewiesen, dass sich „ethnische Gruppen“ nicht allein über ihren kulturellen Gehalt definieren (lassen), sondern ganz wesentlich auch im Verhalten, mit dem sie sich von anderen ethnischen Gruppen bzw. einer dominanten Gesellschaft abgrenzen (boundary-maintenance).16 Die Erkenntnis, dass die Wahrnehmung eines Kontrastes zu den Anderen fundamentale Bedeutung für die Identität der Wir-Gruppe hat, begründete die ethnologische Ethnizitätsforschung. Ein universaler Aspekt des Abgrenzungsverhaltens ist die Praxis, benachbarte Gruppen mittels Humor und Spott lächerlich zu machen und abzuwerten. „Ethnischer Humor“ ist im weitesten Sinne „a type of humor in which fun is made of the perceived behavior, customs, personality, or any other traits of a group or its members by virtue of their specific sociocultural identity. (...) Ethnic humor, like all other types of humor, is an integral part of expressive culture. It reflects a group's perception and evaluation of other groups' personality traits, customs, behavior patterns, and social institutions by the standards of ingroup culture, with its positive or negative attitudes towards others.“17
Ethnischer Humor lebt von Stereotypen, das heißt hier: vorgefertigte und populäre Konzeptualisierungen der Fremden, die von der Wir-Gruppe auf Anhieb verstanden werden und deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit Gelächter hervorrufen.18 Stereotypen vereinfachen die komplexe Realität, indem sie ein oder mehrere auffällige Attribute oder Symbole herausgreifen und stellvertretend für das Ganze setzen. So ungerecht oder verzerrend diese Praxis aus Sicht des stereotyp Dargestellten (z. B. „Hitlers Sohn“) auch sein mag, besitzt sie doch einen „wahren Kern“ und ist ein 15 Don Handelman, „The Ritual-Clown: Attributes and Affinities“, in: Anthropos 76 (3/4), S. 321–370; ders., „Clowns“, in: Mircea Eliade (Hg.), The Encyclopedia of Religion, Vol. 3, New York/ London 1987, S. 547–551. 16 Fredrik Barth (Hg.), Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Culture Difference, Bergen/ Oslo 1969. 17 Mahadev L. Apte, Humor and Laughter. An Anthropological Approach, Ithaca/ London 1985, S. 108, 121. 18 Ebd., S. 114.
44
Konversionen
Versuch, die Anderen einzuordnen und zu verstehen.19 Auch wenn ethnischer Humor maßgeblich auf Stereotypen beruht und dazu neigt, ethnographisch präzise Beobachtung mit grotesker Verzerrung zu paaren, lassen sich die humoresken Porträts der Fremden durch die Hopi-Clowns als Spiegel auffassen; schon im Narrenspiegel der abendländischen Geistesgeschichte erscheint „die soziale Realität sowohl verzerrt wie scharf beleuchtet.“20 In der modernen Ethnologie begegnet uns der Spiegel als Metapher humoresker und gleichzeitig ethnographischer Betrachtung zuerst im Titel von Julius Lips‘ Studie Der Weiße im Spiegel der Farbigen, der ersten systematischen Betrachtung von „Europäerdarstellungen“ in der Kunst der „Naturvölker“. Da die Veröffentlichung der Arbeit durch die nationalsozialistische Machtergreifung 1933 vereitelt wurde, erschien sie unter dem Titel The Savage Hits Back erst 1937 im amerikanischen Exil.21 Im Vorwort zur 1983 posthum erschienenen deutschen Originalausgabe umreißt Eva Lips das Erkenntnisinteresse ihres Ehemannes und Kollegen, „aufzufangen die Kunstwerke der Farbigen, die sich mit dem weißen Mann auseinandersetzten, diese Spiegel und Verkörperungen von Kritik, Drôlerie, Bewunderung und Missverstehen.“22 Auf diese Weise, so die zweifache These, würde der unbekannte Künstler „Rache an seinem Kolonisator nehmen oder auch dessen etwa vorhandene gütige Wesensart ehren und sie mit der Magie seiner eigenen Vorstellungswelt verschmelzen. Was aber auch das Resultat sein würde: der stumme Mund der Wildnis sollte sprechen, der anonyme Künstler seinen Spiegel zeigen mit dem wahrheitsgetreuen Abbild des weißen Mannes.“23 19 Terry E. Prothro und Levon H. Melikian, „Studies in Stereotypes: Familiarity and the Kernel of Truth Hypothesis“, in: Journal of Social Psychology 41 (1955), S. 3–10. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass es ein Genre von diffamierenden Witzen, Scherzfragen etc. gibt, die in ihrem stereotypen Gehalt so unspezifisch sind, dass sie nicht nur auf beliebige ethnische, sondern auch auf nicht-ethnische Gruppen gemünzt werden können. So funktioniert die zuerst in der multi-ethnischen US-Gesellschaft aufgetauchte Scherzfrage „Wieviele ______ braucht man, um eine Glühbirne zu wechseln?“ nicht nur mit „Polen“, „Türken“ oder „Ostfriesen“, sondern etwa auch mit „Blondinen“. 20 Peter L. Berger, Erlösendes Lachen, a.a.O., S. 78. 21 Julius E. Lips, The Savage Hits Back or the White Man through Native Eyes, London/ New Haven 1937; dt. Der Weiße im Spiegel der Farbigen, hg. v. Eva Lips, Leipzig/ München 1983. Zur unglücklichen Rezeptionsgeschichte siehe auch: Edward G. Norris, „Colon im Kontext“, in: J. Jahn (Hg.), Colon. Das schwarze Bild vom weißen Mann, München 1983, S. 13–64, hier: S. 13ff. 22 Julius E. Lips, Der Weiße im Spiegel der Farbigen, a.a.O., S. 8. 23 Ebd., S. 9.
Sanner, Bilder der Fremden
45
Während Lips’ methodologische Prämisse heute als grundlegend und richtungsweisend für die Forschung anerkannt wird, gilt die Kritik vor allem seiner Tendenz, die behandelten Kunstwerke aus Afrika, Nordamerika oder Polynesien zur Projektionsfläche seiner eigenen Kritik an der imperialistischen Zivilisation zu machen. Dadurch setzt Lips die literarische Tradition des Edlen Wilden fort, verfehlt aber „die Chance, ein Bild von der modernen Zivilisation zu gewinnen, das diese von sich selbst nicht hat.“24 Fritz Kramer erkennt in der „Stammeskunst“ eine ethnographische Qualität, die sie der exotistischen Imagination der europäischen Moderne überlegen macht. „Die europäische Kunst war unfähig, die Menschen anderer Rassen und Kulturen darzustellen, ohne sie auf den engen Kreis ihrer Ideale zu beziehen. Wenn aber die Stammeskunst beginnt, das Bild des Europäers zu entwerfen, so verfügt sie über eine scharfe Beobachtung und über die Mittel, die Physiognomie des Europäers ins Bild zu setzen: Sie läßt sich nicht von der Utopie leiten, sie ist Satire.“25 Allerdings muss man die Satire erst einmal als solche erkennen. Um das Jahr 1880 begannen Töpferinnen aus dem Pueblo Cochití (Neu-Mexiko) damit, weiße Händler, Priester oder Cowboys in Gestalt von Tonfiguren zu karikieren, die unter der Bezeichnung rain gods rasch zur beliebten Souvenirware des entstehenden Touristenmarktes wurden (Abb. 2).26 Die Töpferinnen hatten einen zusätzlichen Spaß, wenn der weiße Käufer in seiner Freude über den Erwerb des vermeintlich „primitiven Idols“ übersah, dass dessen groteske Züge seine eigenen waren.27 In diesem Fall vernebelte die exotistische Disposition die Selbsterkenntnis im fremden Spiegel. Ganz generell haben Europäer Probleme damit, sich in solchen Darstellungen wiederzuerkennen und sie als „umgekehrte“ oder „rückgewendete“ Ethnographie anzuerkennen.28 Ein Grund dafür ist sicher der 24 Fritz Kramer, „Die Fremdheit afrikanischer Colon-Figuren“, in: J. Jahn (Hg.), Colon. Das schwarze Bild vom weißen Mann, a.a.O., S. 205–215, hier: S. 215. 25 Fritz Kramer, Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1977, S. 110. 26 Barbara Babcock, „Pueblo Clowning and Pueblo Clay: From Icon to Caricature in Cochiti Figurative Ceramics, 1875–1900, in: Visible Religion. Annual for Religious Iconography IV–V (1985–86), S. 280–300. Babcock fand heraus, dass diese Karikaturen der Weißen in Ton vorwiegend von weiblichen Mitgliedern der Clownbünde hergestellt wurden, ergo ein Pendant zu den Satiren der männlichen Clowns auf der Plaza sind. 27 Ebd., S. 285. 28 Iris Därmann, „Fremderfahrung und Repräsentation. Einleitung“, in: Iris Därmann und Christoph Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist 2002,
46
Konversionen
nicht-schriftliche Charakter der indigenen Ethnographie, deren typische Medien Kunst und Kunsthandwerk, Ritualdrama und Erzähltradition sind. Zudem sind dies Medien, die häufig mit grotesken und satirischen Mitteln sowie mit symbolischer Transformation arbeiten, um „die Fremden zu verfremden“. Für die Philosophin Iris Därmann ist die Tatsache, dass sich die „postkolonialen Ethnographen“ zunehmend in den verfremdeten Darstellungen ihrer selbst erkennen und sie als Ethnographie ernst nehmen, ein Beleg dafür, „dass es sich beim kulturell Fremden bzw. bei der kulturell fremden Darstellungsweise nicht um eine radikale Fremdheit handelt, zu der der Zugang unter allen Umständen verwehrt wäre.“29 Für viele feldforschende Ethnologen ist es nach wie vor selbstverständlich, dass es keine „radikale Fremdheit“ gibt, weil kulturelle Ideen aufgrund gemeinsamer Eigenschaften der Spezies Homo sapiens prinzipiell intersubjektiv und potentiell interkulturell übersetzbar sind. Das Selbstverständliche muss angesichts der Verirrungen der ethnologischen Postmoderne und deren solipsistischem Verständnis von „Kultur“ und „Selbst“ allerdings besonders betont und erläutert werden.30 Die indianischen Völker Nordamerikas haben eine Vielfalt von HumorGenres hervorgebracht, die ganz besonders dazu geeignet sind, das problematische Verhältnis zur dominanten anglo-amerikanischen Gesellschaft zu beleuchten: Kunst und Kunsthandwerk, Witze und Scherzimitationen im Alltag, die mündliche Erzähltradition und nicht zuletzt der Bereich religiöser Zeremonien und Tänze, in dem heilige Clowns eine prominente Rolle spielen.31 Entgegen unseres Stereotyps vom „humorlosen Indianer“ hat sich indianischer Humor in 500 Jahren der Kolonisation und kulturellen Unterdrückung als „Überlebensmittel“ erwiesen. In der amerikaniS. 7–46, hier: S. 25f., S. 35f. 29 Ebd., S. 35. 30 Peter M. Whiteley, Rethinking Hopi Ethnography, a.a.O., S. 14ff. 31 Eine Auswahl von „Klassikern“ und interessanten Einzelstudien: Vine Deloria Jr., „Indian Humor“, in: ders., Custer Died For Your Sins. An Indian Manifesto, New York 1969, S. 148–168; Madronna Holden, „‘Making All the Crooked Ways Straight‘. The Satirical Portrait of Whites in Coast Salish Folklore“, in: Journal of American Folklore 89 (1976), S. 271–293; Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman“. Linguistic Play and Cultural Symbols Among the Western Apache, Cambridge 1979; Barbara A. Babcock, „Pueblo Clowning and Pueblo Clay“, a.a.O.; Jill D. Sweet, „Burlesquing ‘The Other’ in Pueblo Performance“, in: Annals of Tourism Research 16 (1989), S. 62–75; Deirdre Evans-Pritchard, „How ‘They’ See ‘Us’“. Native American Images of Tourists“, in: Annals of Tourism Research 16 (1989), S. 89–105. Siehe auch die Bibliographie: Velma S. Salabiye, „Humor and Joking of the American Indian: A Bibliography“, in: Kenneth Lincoln (Hg.), Indi’n Humor. Bicultural Play in Native America, New York/ Oxford 1993, S. 374–376.
Sanner, Bilder der Fremden
47
schen Kulturanthropologie werden die indianischen Fremdbilder schon seit längerem als Ethnographie gewürdigt. Die Volkskundlerin Madronna Holden charakterisiert die satirischen Porträts von Weißen in der mündlichen Literatur der Coast Salish (Nordwestküste) als „a kind of turnabout anthropology, switching observer and observed and setting up a second art of social science over against that belonging to our own traditions.“32 Und der Anthropologe Keith H. Basso umreißt in seiner mittlerweile klassisch zu nennenden Studie über die Scherzparodien der Westlichen Apache den heuristischen Wert dieser kulturellen Porträts der Weißen für uns. „[B]y learning to appreciate these portraits – by analyzing their symbolic content and attending to what they communicate about aspects of the generic us - we who are Whitemen can develop a sharper and more sensitive awareness of the impressions we make upon persons whose practices for organizing and interpreting social experience differ from our own.“33
Unabhängig vom Erkenntniswert, den solche Porträts als „umgekehrte Ethnographie“ für uns haben können, dienen sie – wie jede Ethnographie - ursächlich den Bedürfnissen der Gesellschaft, die sie hervorbringt. Ich glaube nicht, dass indianische oder afrikanische Künstler, Performer und Humoristen ihre Porträts des weißen Mannes schufen, um uns absichtlich den Spiegel vorzuhalten, wie Julius Lips meinte, „als ob sie sagen wollten: ‚Seht! So seid ihr Weißen!‘“34 Die Hopi-Clowns planen ihre Persiflagen definitiv nicht für ein weißes Publikum, auch wenn die Anwesenheit weißer Zuschauer zusätzliche Möglichkeiten der Kommentierung und Konfrontierung bietet. Die ausgewählten Beispiele von Clownhumor, die ich in den folgenden Kapiteln vorstelle, illustrieren die These, dass die ethnischen Porträts kollektive Bedürfnisse nach Abgrenzung, psycho-sozialer Entlastung und Sinngebung erfüllen. Natürlich entspringt die Unterscheidung dieser Aspekte dem analytischen Bedürfnis des Ethnologen. Und nicht in allem, was Clowns tun, schlummert „Bedeutung“, die darauf wartet, vom Semiotiker geweckt zu werden. Eingedenk der Erkenntnis, dass Ethnographie immer nur „partielle Wahrheiten“ vermittelt35, weise ich an dieser Stelle ausdrücklich auf die reduktive Darstellung von Clownhumor in den fol32 33 34 35
Madronna Holden, „Making All the Crooked Ways Straight“, a.a.O., S. 293. Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman“, a.a.O., S. 5. Julius E. Lips, Der Weiße im Spiegel der Farbigen, a.a.O., S. 66. James Clifford, „Introduction: Partial Truths“, in: James Clifford und G.E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography, Berkeley/ London 1986, S. 1–26.
48
Konversionen
genden Kapiteln hin. Die sorgfältig geplanten Sketche, die in den Pausen zwischen den Tanzrunden der katsinam aufgeführt werden, verknüpfen oft eine Mehrzahl kultureller Themen und oszillieren zwischen Ernst und Komik. Ganz entscheidende Dimensionen sind der Wortwitz und die Situationskomik. Die Frage „Warum lachen Hopi?“ lässt sich am besten durch die „erfahrungsnahe“ Beschreibung und Deutung von Clownsketchen durch Hopi, in ihrer eigenen Sprache, beantworten. Für den Zweck dieser Publikation verzichte ich jedoch auf die ausführliche Darstellung und Kontextualisierung von Hopi-Perspektiven36 zugunsten einer historisch-typologischen Betrachtung des Clownhumors über die Fremden. Die aufgeführten Beispiele, die ich der ethnographischen Literatur oder dem eigenen Feldforschungsmaterial entnehme, haben überwiegend den Charakter von Skizzen und betonen zentrale Aussagen und Absichten dieser ethnischen Porträts. Der Aspekt symbolische Abgrenzung bezieht sich auf die Funktion von ethnischem Humor, das Eigene mit dem Fremden zu kontrastieren und damit die ethnische Identität zu bekräftigen. Keith Basso hat gezeigt, dass im kulturellen Kontext der Scherzparodien bei den Westlichen Apache „der Weiße“ ein Symbol ist für das, was „der Apache“ nicht ist.37 Auch Interpreten der Pueblo-Clowns deuten deren Parodien auf weiße Touristen und andere Fremde gerne als „rituelle Umkehrung“, mit der die Pueblo definieren, wie sie selbst nicht sind.38 Für das tsukulalwa erweist sich diese Ungleichung allerdings als zu simpel, denn als eschatologisches Drama konstatiert es auf dem Hintergrund des Kulturwandels das „Falsche“ am heutigen Hopi-Leben. Die ethische Trennlinie zwischen richtigem und falschem Verhalten ist hier also nicht identisch mit der ethnischen Grenze zwischen Eigenem und Fremdem. Als psycho-soziale Entlastung bezeichne ich die Leistung der Clownzeremonie, intra- und interkulturelle Spannungen und Konflikte, die im Alltag belastend wirken und nur indirekt (z. B. als Klatsch) thematisiert werden können, mit dramatischen Mitteln öffentlich zu machen und im Gelächter der versammelten Gemeinde für kurze Zeit aufzulösen. Im 36 Siehe: Hans-Ulrich Sanner, Tsukulalwa, a.a.O., S. 224–238. Ein bisher unveröffentlichter Hopi-Text, in dem mein Gesprächspartner Herschel Talashoema einen Clownsketch um einen kranken Hopi und einen weißen Doktor erzählt, hätte den vorliegenden Aufsatz um eine wichtige Dimension erweitern können, durch seine Länge und die notwendige ausführliche Kontextualisierung aber auch dessen Rahmen gesprengt. 37 Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman“, a.a.O., S. 64. 38 Jill D. Sweet, „Burlesquing ‘The Other’ in Pueblo Performance“, a.a.O., S. 73; Alfonso Ortiz, „The Dynamics of Pueblo Cultural Survival“, in: Raymond J. DeMallie und Alfonso Ortiz (Hg.), North American Indian Anthropology. Essays on Society and Culture, Norman/ London 1994, S. 296–305, hier: S. 303f.
Sanner, Bilder der Fremden
49
speziellen Fall geht es ausschließlich um Spannungen und Konflikte, die aus dem Kulturkontakt erwachsen. Die dominante US-Gesellschaft, aber auch indianische Nachbarvölker spielen hier eine wichtige Rolle. Den eigentlich ethnographischen Aspekt der Clownerie sehe ich schließlich darin, den potentiell bedrohlichen Fremden und ihren kulturellen Errungenschaften einen Sinn zu geben und sie damit in den Erfahrungsbereich der eigenen Kultur einzuordnen. Als religiöse Spezialisten und Symbolfiguren, die permanent zwischen dem stabilen sakralen Kern der Hopi-Kultur und den flexibleren äußeren Grenzen vermitteln, leisten die Clowns im Prozess des Kulturwandels einen wichtigen Beitrag zur kulturellen Reflexion und Reproduktion. 3. Im Spiegel der Hopi-Clowns: Die Anglo-Amerikaner (Pahaanam) Die frühesten ausführlichen, ethnographisch zuverlässigen Beschreibungen der Hopi-Clownerie39 stammen aus dem späten 19. Jahrhundert. In dieser Zeit intensivierte sich der politische und wirtschaftliche Einfluss der USA auf die Hopi-Gesellschaft, während der indianische Südwesten von Ethnologen, Journalisten und Touristen entdeckt und als „Amerikas Orient“ erfunden wurde.40 Das Tagebuch des Pionier-Ethnographen Alexander Stephen, der jahrelang bei den Hopi von First Mesa lebte, enthält Beschreibungen von Clown-Sketchen und -Parodien, in denen sich bereits eine differenzierte Wahrnehmung der Pahaanam (siehe Fußnote 6) widerspiegelt.41 An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Clowns bei ihren ausführlichen, vorab geplanten Sketchen von maskierten und dem jeweiligen Anlass entsprechend kostümierten Darstellern unterstützt werden. Diese piptuqam (Sg. piptuqa42, „einer, der häufig erscheint“) sind glei39 Die Beschreibungen von katsina-Tänzen und Clown-Aktivitäten in den Quellen der spanischen Kolonialzeit sind von überwiegend fragmentarischem, teilweise konfusem Charakter. Immerhin gibt es Hinweise darauf, dass schon im 17. Jahrhundert die Pueblo-Clowns Franziskaner-Padres und die von ihnen zelebrierten Messen parodierten. Siehe: Harry C. James, Pages From Hopi History, Tucson, Az. 1974, S. 48; Alison Ruth Freese, Send in the Clowns: An Ethnohistorical Analysis of the Sacred Clowns‘ Role in Cultural Boundary Maintenance among the Pueblo Indians, Ph.D. dissertation, The University of New Mexico, Albuquerque 1991, S. 113ff. (Ann Arbor: University Microfilms, 1994). 40 Leah Dilworth, Imagining Indians in the Southwest. Persistent Visions of a Primitive Past, Washington/ London 1996; Curtis M. Hinsley und David R. Wilcox (Hg.), The Southwest in the American Imagination: The Writings of Silvester Baxter, 1881–1889, Tucson, Az. 1996. 41 Elsie Clews Parsons (Hg.), Hopi Journal of Alexander M. Stephen, 2 Bände, New York 1936. 42 Hinweis zur Aussprache: Das q wird wie ein weiches k gesprochen, mit Lautbildung
50
Konversionen
chermaßen „Instrumente“ der Clowns und spirituelle Wesen wie die katsinam. Die Amerikaner-Porträts der piptuqam, die Alexander Stephen 1893 beobachtete, beruhten offenkundig auf präziser Beobachtung und hatten entlarvende Absicht:43 Der „Tourist“ trägt einen Picknickkorb oder Campingstuhl über dem Arm, schaut neugierig in Fenster und Türöffnungen, schüttelt allen eifrig die Hände, verteilt großzügig Süßigkeiten und kauft den „Hopi“ katsina-Figuren44 ab. Der „Ladenbesitzer“, der von den „Hopi“ Schaffelle erhandelt, ist ein brutaler Kolonialist. Die Männer verscheucht er mit Fußtritten und Peitschenhieben, aber eine der Frauen nimmt er in eindeutiger Absicht mit nach hinten in den Laden. Der „Schullehrer“ mit Rohrstock und Fibel lässt seine „Schüler“ englische Lieder singen und groteske gymnastische Übungen machen. Alexander Stephen bewertet die Parodien als sehr komisch und treffend und beschreibt ohne Vorurteile die drastische sexuelle Komik, mit der die Clowns die Sketche anreicherten. Ein besonders problematischer Typus des Weißen, der damals zum festen Bestandteil des Hopi-Lebens wurde, ist der Forscher. Das Interesse von Ethnologen und Archäologen, zeremonielle Geheimnisse offen zu legen und heilige Objekte zu erwerben, rührt an den Kern des kulturellen Selbstverständnisses und bedrohte von Anfang an die auf religiösem Exklusivwissen beruhende soziale und politische Struktur. Zwei ethnographisch gut dokumentierte Ethnologen-Sketche aus der Zeit vor 1900 stellen interessanterweise die technologischen Aspekte der frühen Forschung, nämlich Phonograph und Kamera, in den Mittelpunkt, und sie gewinnen den fremden Apparaturen eine Komik ab, die dem „Zweifel an einer allgemein verbreiteten Furcht der ‚Eingeborenen‘ vor photographischem Seelenraub“45 zusätzliche Nahrung gibt. Der Ethnologe J. Walter Fewkes hatte 1891 auf First Mesa damit begonnen, Hopi-Musik mit dem Phonographen zu dokumentieren. Im folgenden Jahr wurde er Zeuge einer Clown-Parodie, in der ein bärtiger „Fewkes-piptuqa“ eine Aufnahme-Session mit einem imitierten Phonographen
hinten am Gaumen. 43 Elsie Clews Parsons (Hg.), Hopi Journal of Alexander M. Stephen, a.a.O., S. 367f. und S. 385. 44 Kleine Nachbildungen der tanzenden katsinam aus bemaltem Holz, die ursprünglich als rituelle Geschenke für die Hopi-Mädchen geschnitzt wurden, ab etwa 1880 dann zunehmend auch für den Verkauf an Touristen und Sammler. Für deutschsprachige Literatur über katsina-Figuren siehe Anm. 9. 45 Iris Därmann, „Fremderfahrung und Repräsentation: Einleitung“, a.a.O., S. 34f., Anm. 114.
Sanner, Bilder der Fremden
51
leitete.46 Jedes Mal, wenn ein Clown in den riesigen Trichter gesprochen oder gesungen hatte, gab ein anderer Clown, der unter einer Decke versteckt war, die „Aufnahme“ wieder, was beim Publikum für große Heiterkeit sorgte. Fewkes verstand kein Hopi, und es ist zu vermuten, dass das Gelächter auch von ausführlichen sexuellen Beschreibungen ausgelöst wurde, die die Clowns bei solchen Gelegenheiten gerne subversiv einarbeiten. Eine einzigartige fotografische Dokumentation von Clownhumor verdanken wir dem deutschen Ethnologen Karl von den Steinen, der sich im Frühjahr 1898 für kurze Zeit in Oraibi (Third Mesa) aufhielt.47 Als von den Steinen beim Tanz der Hehey’akatsinam damit beschäftigt war, abwechselnd mit Stativ- und Handkamera Tänzer, Clowns und Zuschauer zu fotografieren, kam ein piptuqa auf die Plaza (Abb. 3). Es handelte sich um einen „weißen Fotografen“, der gekommen war, um dem deutschen Forscher48 ganz direkt den Spiegel vorzuhalten (Abb 4). Die Kostümierung hebt typische Merkmale des weißen Mannes hervor: Hut, Anzug, Bart, Brille. Als Accessoires hat er zwei sorgfältig hergestellte KameraImitationen bei sich. Wir wissen leider nicht, wie die tsutskut den weißen Fotografen verbal kommentierten, also etwa in Wortspielen, komischen Dialogen oder Anspielungen, aber aus den visuellen Daten lässt sich ableiten, dass hier typisches Pahaana-Verhalten parodiert wurde, im Kontrast zur Hopi-Art. Das Händeschütteln (Abb. 5) war aus Sicht der Hopi offenbar eine besonders merkwürdige Angewohnheit der Pahaanam, wie schon Stephens Beschreibungen zeigen. Das nächste Foto der Serie (Abb. 6) deutet an, dass der Fotograf den Clown-Anführer (links) überredet hat, sich für ein Foto in Pose zu stellen. Vielleicht wurde hier der Zwang der frühen Stativfotografie karikiert, die menschlichen Objekte „einzufrieren“, um scharfe Aufnahmen zu erhalten. Das letzte Foto der Serie (Abb. 7) ist in zweifacher Weise ein reflexiver Kommentar zum problematischen Eindringen des weißen Fotografen mitsamt seiner Kultur. Der piptuqaFotograf bezahlt die tsutskut mit Geldscheinen dafür, dass er sie fotogra46 J. Walter Fewkes, „The Butterfly in Hopi Myth and Ritual“, in: American Anthropologist 12 (1910), S. 576–594, hier: S. 591f. und Fig. 62. 47 Hans-Ulrich Sanner, „Karl von den Steinen in Oraibi, 1898. A Collection of Hopi Indian Photographs in Perspective“, in: Baessler-Archiv, Neue Folge 44 (1996), S. 243–293. 48 Ich betrachte diesen Sketch hier im Kapitel über die Anglo-Amerikaner, da für seine Aussage die Nationalität von den Steinens sekundär war gegenüber seiner ethnographischen Tätigkeit, die damals fast ausschließlich eine anglo-amerikanische Domäne war. Ob die Clowns in irgendeiner Form auf von den Steinen als Deutschen reflektierten, ist nicht überliefert.
52
Konversionen
fieren durfte. Die Clowns, so scheint es, haben sich korrumpieren lassen. Wie auch die von Stephen beschriebenen Sketche zeigen, wurde für die Hopi damals die Dollarnote zum Kernsymbol amerikanischer Kultur. De facto war der Dollar die Triebfeder des einsetzenden wirtschaftlichen und kulturellen Wandels. Eine zusätzliche, man könnte sagen „dreidimensionale“ Reflexivität produziert der Clown-Anführer links: Indem er Karl von den Steinen direkt anschaut, verbindet er den echten Fotografen unmittelbar mit dessen Karikatur. Das heilige Innere der Hopi-Kultur bedroh(t)en nicht nur die Forscher mit ihrer systematischen Neugier, sondern auch die Missionare mit ihrer Absicht, die einheimische Religion zu verteufeln und abzuschaffen. Die spanischen Franziskaner-Mönche boten den Pueblo-Clowns schon im 17. Jahrhundert Anlass zur Satire (siehe Fußnote 39). Anders als die PuebloVölker am Rio Grande, die den Katholizismus nach der spanischen Reconquista endgültig als „Zweitreligion“ annahmen und bis heute praktizieren, wiesen die Hopi alle erneuten Bekehrungsversuche ab. Und auch die Mormonen, Mennoniten, Baptisten und anderen Kirchen, die in der amerikanischen Periode die Hopi-Mission aufnahmen, kamen nie über eine marginale Rolle hinaus. Entsprechend selbstbewusst verspotteten Hopi-Clowns den christlichen Gottesdienst. Don Talayesva („Sun Chief“) erinnert sich in seiner Autobiographie an eigene Erfahrungen als Clown um 1920: „It was also a good clown trick to put on spectacles and a long-tail coat, fold a piece of cardboard to represent a bible and hymnal, and stride pompously into the plaza to sing hymns and preach a sermon on hell fire. The Christians who did not like this could stay away, for then we could have a better time and probably get more rain.“49
Ähnliches Selbstbewusstsein reflektiert der Dialog zwischen einem tsuku und einem amerikanischen Hippie um das Jahr 1970, den der Ethnologe Louis Hieb in seiner Studie der Hopi-Clownerie wiedergibt.50 Aus Sicht der Hopi hatten die langhaarigen, bärtigen Hippies auffallende Ähnlichkeit mit den populären Jesus-Darstellungen auf christlichen Kalendern und Heiligenbildchen, und die Clowns holten deshalb immer wieder
49 Leo W. Simmons (Hg.), Sun Chief. The Autobiography of a Hopi Indian, New Haven/ London 1942, S. 280; dt. Don C. Talayesva, Sonnenhäuptling Sitzende Rispe. Ein Indianer erzählt sein Leben, übers. v. Heino Gehrts, Kassel 1964, S. 291. 50 Louis A. Hieb, The Hopi Ritual Clown: Life As It Should Not Be, Ph.D. Dissertation, Princeton University, 1972 (Ann Arbor: University Microfilms, 1986).
Sanner, Bilder der Fremden
53
männliche Hippies aus dem Publikum, um sie ironisch als „Jesus“ zu konzeptualisieren.51 „Clown: Are you Jesus? Hippie: No. Clown: Are you Moses? Hippie: No. Clown: Are you his brother? Hippie: Yes. Clown: Well, we don’t believe in you!“52 Seit Amerika nach 1880 den spektakulären Schlangentanz der Hopi entdeckte und alljährlich im August zur primitivistischen Pilgerstätte machte53, ist „der Tourist“ für die Hopi ein signifikanter Typus des Weißen bzw. Pahaana. Ungeachtet ihrer ökonomischen Bedeutung stellen die Touristen, die vor allem im Sommer in größerer Zahl auftreten, ein zeitloses Problem der Hopi-Gesellschaft dar.54 Den schriftlichen Besucherinformationen und den Hinweistafeln am Eingang der Hopi-Dörfer zum Trotz fallen manche Touristen, vor allem als Zuschauer von Zeremonien, immer wieder durch unpassende Kleidung und respektloses Benehmen auf. Das oben erwähnte piptuqa-Porträt eines amerikanischen Touristen aus Alexander Stephens Tagebuch von 1893 definiert Verhaltensweisen des typischen Touristen als qahopi („ungesittet, unzivilisiert“), z. B. seine Neugier und sein paternalistisches Auftreten. Noch schärfer, differenzierter und komischer ist eine Satire auf amerikanische SchlangentanzTouristen, die der Ethnologe Edward Kennard um 1930 sah: „First several (piptuqam) ran into the plaza carrying small black boxes, and then proceeded to ‚take pictures‘ of everything in sight and from every imaginable angle. They even dragged people out of the houses and made them assume ridiculous poses. Then they settled themselves on the housetops, removed their shirts, and exhibited all
51 Ebd., S. 184 und 196. 52 Ebd., S. 197. Die Szene lässt zweifellos eine Parallele zu meiner Konzeptualisierung als „Hitlers Sohn“ erkennen, gerade in der symbolischen Konstruktion von „Verwandtschaft“. 53 Leah Dilworth, Imagining Indians in the Southwest, a.a.O., passim. 54 Dies gilt ebenso für andere indianische Gruppen des Südwestens, die das Touristenproblem entsprechend mit Humor verarbeiten, siehe z. B.: Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman”, a.a.O., S. 61f., 87f.; Deirdre Evans-Pritchard, „How ‘They’ See ‘Us’“, a.a.O.; Jill D. Sweet, „Burlesquing ‘The Other’ in Pueblo Performance“, a.a.O., S. 69ff. Sweet unterteilt die Pueblo-Kategorie „Tourist“ in mehrere Subkategorien.
54
Konversionen
the manifestations of restlessness seen on such occasions. Finally, a (piptuqa) entered at the far end of the plaza and immediately called out in a loud voice to another sitting at the opposite end. They carried on a conversation in English and at the top of their lungs. The new arrival strode across the plaza, made a great fuss as he clambered up the ladder, and then they indulged in a great deal of hand shaking and back slapping.“55
Die Clownzeremonie reagiert flexibel auf sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen und bleibt dadurch vital und bedeutungsvoll. Ein Sketch über fotografierende Touristen wäre heute irrelevant, da schon seit Jahrzehnten das Fotografieren oder Filmen in den Hopi-Dörfern und insbesondere bei Tänzen für Besucher streng verboten ist.56 Die Porträts der Fremden können nur Sinn stiften, wenn sie signifikant und aktuell sind. Eine zeitgenössische Variante des Touristen waren die Hippies, die in den 1960er und 70er Jahren scharenweise in den Dörfern der Hopi (und anderer Indianer des Südwestens57) einfielen, auf der Suche nach indianischer Weisheit und spirituellem Frieden mit „Mutter Erde“. Von den „HopiTraditionalisten“ wurden sie hofiert, weil man sich von den Hippies Unterstützung im politischen Kampf gegen den „progressiven“ HopiStammesrat erhoffte.58 Die Mehrheit der Hopi jedoch empfand die Hippies wegen ihres Aussehens und ihres aufdringlichen, respektlosen Auftretens als Belästigung. Louis Hieb erwähnt, dass das Thema Hippies die Hopi-Clowns in den Jahren um 1970 häufiger beschäftigte als jedes andere.59 Das Benehmen der „Blumenkinder“ bei öffentlichen Tänzen wurde schließlich als so störend empfunden, dass der Schlangentanz im Dorf Mishongnovi (Second Mesa) 1971 erstmals für weiße Zuschauer geschlossen wurde.60 Allein die Clowns waren in der Lage, den Missstand, der bei den Hopi für Verbitterung und Wut sorgte, so aufzubereiten, dass auch einmal herzlich darüber gelacht werden konnte. Mein Gesprächs55 Edwin Earle und Edward A. Kennard, Hopi Kachinas, New York 1938, überarbeitete Neuaufl. 1971, S. 38. 56 Die Überwachung der Ordnung gehört zu den ernsten Aufgaben der Ritualclowns. Ich habe mehrfach beobachtet, dass Clowns einem weißen Zuschauer, der trotz des Verbots bei einem katsina-Tanz fotografierte, die Kamera abnahmen, um den Film herauszunehmen. 57 Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman”, a.a.O., S. 79 und 92f.; Jill D. Sweet, „Burlesquing ‘The Other’ in Pueblo Performance“, a.a.O., S. 70. 58 Armin W. Geertz, The Invention of Prophecy, a.a.O., passim. 59 Louis A. Hieb, The Hopi Ritual Clown, a.a.O., S. 196. Siehe auch die Beschreibung weiter oben. 60 Harry C. James, Pages from Hopi History, a.a.O., S. 219.
Sanner, Bilder der Fremden
55
partner Abbott Sekaquaptewa vom Adlerklan, Third Mesa, erinnerte sich an einen Hippie-Sketch, den er in den 70er Jahren gesehen hatte. Es begann damit, dass eine Gruppe von Hippie-piptuqam – langhaarig, bärtig, in abgerissener Kleidung - auf der Plaza herumhing. Da die „Hippies“ tranken und sich ungebührlich benahmen, beschlossen die tsutskut, die Hopi-Polizei zu rufen, um die „Hippies“ entfernen zu lassen. Als zwei piptuqa-Polizisten erschienen, um die Störenfriede zu vertreiben, legten sich die „Hippies“ demonstrativ auf den Boden, was für viel Gelächter sorgte. Die Clowns fingen an, sich mit den „Hippies“ zu solidarisieren und nahmen an dem „Sit-in“ teil. Schließlich sahen sich die „Polizisten“ gezwungen, die „Hippies“ einzeln von der Plaza zu tragen. Während sie davongetragen wurden, brachten die piptuqam die Zuschauer mit typischen Hippie-Sprüchen61 und demonstrativem „Peace“-Zeichen zum Lachen. Soweit es der (zwangsläufig lückenhafte) ethnographische Befund verzeichnet, haben die Clowns und piptuqam im Laufe des 20. Jahrhunderts eine Vielzahl von Typen des Pahaana satirisch porträtiert: Missionare, Händler, Lehrer, Touristen, Hippies, Prostituierte, Hausfrauen, Bürokraten der Indianerbehörde, Ärzte, Cowboys, Freiwillige Helfer, Militärs, Astronauten, Fernsehprediger und andere. Angesichts der dauerhaften Präsenz von Ethnologen und anderen Forschern, die die Hopi-Kultur unter fast jedem erdenklichen Aspekt und zum Beleg fast jeder anthropologischen Theorie untersucht haben62, überrascht der Mangel an entsprechenden Porträts, von den oben geschilderten frühen AnthropologenSketchen einmal abgesehen. Selbst in der ausführlichen Feldstudie von Hieb63, die eine große Zahl von piptuqa-Sketchen dokumentiert, taucht das Thema nicht auf. Diese offenbar nicht zufällige Lücke im ethnographischen Befund mag mit der liminalen, nicht eindeutigen sozialen Position des Feldforschers in der von ihm teilnehmend beobachteten Gesellschaft zu tun haben. Die Kultur der Kuna von San Blas (Panama) weist nicht nur einige interessante Parallelen zur Hopi-Kultur auf, sondern auch eine ähnlich lange und intensive Forschungsgeschichte. In einer kleinen Studie über KunaHumor untersuchen die Ethnographen James Howe und Joel Sherzer auch Scherzgeschichten der Kuna über Anthropologen, genauer: über sie 61 Wahrscheinlich so ähnlich wie in der Hippie-Parodie eines Apache: „‘You native American, man, first citizen. Wow. Wow. (...) Gimme one dollar, fifty cents, one dime. You my brother, you my brother‘“ (Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman”, a.a.O., S. 93). 62 Peter M. Whiteley, Rethinking Hopi Ethnography, a.a.O., S. 6–12. 63 Louis A. Hieb, The Hopi Ritual Clown, a.a.O.
56
Konversionen
selbst.64 Dabei stellen sie fest, dass anglo-amerikanische und europäische Ethnologen für die Kuna nicht die Antithese des kulturell Richtigen und Akzeptierten sind, wie es etwa der „Whiteman“ für die Apache ist.65 Vielmehr sind Ethnologen „zwischendrin“ (betwixt and between): keine Kuna, aber ernsthafter am Erlernen der Sprache und Kultur interessiert als andere Fremde, und der Kuna-Kultur stärker verbunden als ein Großteil der eigenen Jugend. Im Humor erschaffen die Kuna für „ihre“ Ethnologen einen liminalen, aber doch realen sozialen Ort. HopiFeldforscher erfahren eine ähnliche strukturelle Zuordnung, sofern sie längere Zeit vor Ort leben, intensiv am Leben „ihrer“ Familien teilnehmen und langfristige, freundschaftliche Beziehungen knüpfen.66 Grundsätzlich jedoch betrachten die Hopi, wie alle Pueblo-Völker, aufgrund ihrer historischen Erfahrung die Tätigkeit von Anthropologen mit Misstrauen. Schließlich hat die Wissbegierde der Forscher die Bedeutung von Geheimwissen als Fundament und „sozialer Währung“ der Gesellschaft nachhaltig untergraben, und ihre Repräsentationen haben das primitivistische Bild der Hopi als lebende Relikte mit geprägt. Der spontane, beißend ironische Kommentar eines Hopi-Clowns, geäußert im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, ist ein doppelter Spiegel, in dem gleichermaßen die Ethnologen und die Hopi in ihrer Rolle als deren Forschungsobjekte sichtbar werden. „A fat Tsuku waddled toward a tiny, birdlike lady old enough to be his grandmother. She sat on a metal chair at the plaza’s edge, a blue umbrella over her head as protection against the blistering sun. Without warning he plopped his massive bulk onto her lap and proposed marriage. Embarrassed, she pushed him away with the umbrella’s spike. ‚Wild Indians!‘ the fat Tsuku bellowed into the face of a startled anthropologist visiting from an Eastern university. ‚Take good notes!‘“67
64 James Howe und Joel Sherzer, „Friend Hairyfish and Friend Rattlesnake, or Keeping Anthropologists in Their Place“, in: Man 21 (1986), S. 680–696, hier: S. 688f. 65 Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman”, a.a.O. 66 Auf der anderen Seite gibt es das populäre Hopi-Stereotyp vom „anonymen“ Anthropologen, der sich für ein paar Tage oder Wochen auf der Reservation aufhält, um „Dinge herauszubekommen“, und dann wieder verschwindet, um „ein Buch zu schreiben und damit reich zu werden“. Der „wahre Kern“ dieses Stereotyps geht allerdings viel stärker auf die Praxis von Schriftstellern, Journalisten und New AgePublizisten zurück als auf die akademischen Feldforscher. 67 Ron McCoy, „Bring in the Clowns“, in: Native Peoples. The Journal of the Heard Museum, Sommer 1988, S. 14–16, hier: S. 14.
Sanner, Bilder der Fremden
57
„Wild Indians!“ kommentiert, wie sich Hopi als primitive, ahistorische Objekte der forscherischen Neugier fühlen, und verbindet sich mit „Take good notes!“, dem klassischen Ratschlag eines ethnologischen Doktorvaters an seinen ins Feld aufbrechenden Schüler, zu einer ethnographisch und humoristisch präzisen Satire. Meine eigene Feldforschung stand im Zeichen wachsender und schließlich kulminierender Hopi-Kritik an der akademischen Forschungspraxis und der kommerziellen Ausbeutung von Hopi-Wissen und -Symbolen. Eine Folge von Ereignissen, die von politischen Instanzen der Hopi als Missachtung und Ausbeutung ihrer religiösen Privatheit und kulturellen Eigentumsrechte interpretiert wurden, führte im Jahr 1990 zu einem inoffiziellen, aber bis heute effektiven Ende ethnographischer (Feld-) Forschung.68 Trotz der extrem forschungskritischen Haltung des Hopi Cultural Preservation Office und mehrerer konkreter Konfliktfälle habe ich für die Jahre zwischen 1988 und 1995 keine Hinweise auf relevante ClownKommentare. Erübrigt sich vielleicht die rituelle Verhandlung eines kulturellen Konflikts, wenn er gleichzeitig auf politischer Ebene „gelöst“ wird? Oder liegt es etwa daran, dass die Hopi (als Clowns) eindeutige Werturteile scheuen, wenn kein ausreichender Konsens vorhanden ist (wie er etwa im Fall der Hippies gegeben war)? Zur harten Linie des Cultural Preservation Office hörte ich jedenfalls sehr unterschiedliche Meinungen. Anstelle der nicht vorhandenen Sketche möchte ich zwei jüngere Gesprächspartner, beides erfahrene Clowndarsteller, zitieren, die mir gegenüber „den Feldforscher“ ähnlich konzeptualisierten wie der dicke tsuku in obigem Zitat. Der eine, Leigh Jenkins, stand als Direktor des Hopi Cultural Preservation Office meiner Forschung sehr kritisch gegenüber, schätzte aber auch die Tatsache, dass ich dem Konflikt nicht aus dem Weg ging. Bei einem unserer regelmäßigen Treffen teilte er mir zu meiner Überraschung mit, dass er mich während des vorangegangenen katsina-Tanzes beim Beobachten der Clowns beobachtet hatte. Mit maliziösem Lächeln beschrieb er mir, wie meine Augen hervorgequollen seien, wie meine Ohren immer größer geworden und schließlich zwei kleine Antennen aus meinem Kopf herausgewachsen seien. Keine schlechte Skizze für einen Ethnologen-piptuqa!69 Der andere, Saanti70 aus dem 68 Peter M. Whiteley, Rethinking Hopi Ethnography, a.a.O., S.1ff., S. 163–187; HansUlrich Sanner, „Confessions of the Last Hopi Fieldworker“, in: Thomas Claviez und Maria Moss (Hg.), Mirror Writing: (Re-) Constructions of Native American Identity, Glienicke/ Cambridge, MA 2000, S. 41–66. 69 Hans-Ulrich Sanner, „Confessions of the Last Hopi Fieldworker“, a.a.O., S. 61. 70 Pseudonym.
58
Konversionen
Kojote-Klan von Third Mesa, konfrontierte mich bei unserem ersten Zusammentreffen aggressiv, aber auch witzig mit seinem Bild von Anthropologen und New Age-Jüngern auf der Hopi-Reservation. Ein Ausschnitt: „You don’t really know where you’re at in life. You’re trying to b ecome a doctor or whatever you might become, but: You’re prying into another person’s dignity, you’re prying into another person’s lifestyle to better your career. You think of us as not equals. You’re studying us, studying us like we’re an ancient culture, you know: ‚Yeah, let’s study them, maybe we can learn from them!‘ Hell man, you ain’t got nothing to learn, because you guys fucked it up in the first place!“71
In der Hopi-Clownzeremonie hat die symbolische Abgrenzung von den Weißen mittels einer einfachen „Wir/sie“-Dichotomie in den letzten 50 Jahren erheblich an Bedeutung verloren. In dem Maße, in dem die HopiGesellschaft bestimmte Verhaltensweisen und Kulturmuster der AngloAmerikaner adaptiert, wandelt sich der Kulturkonflikt zum intrakulturellen Wertekonflikt, und die symbolische Abgrenzung nach außen wird zum Mittel der internen sozialen Kontrolle. Als Folge des massiven Kulturwandels rücken die Clowns und piptuqam nun verstärkt das Verhalten größerer Gruppen der eigenen Gesellschaft in den Blickpunkt und kontrastieren es mit den traditionellen Werten. In den Sketchen, die ich während meiner Feldforschung sah und von denen ich hörte, ging es um die Vernachlässigung des Bodenbaus und der Hopi-Sprache, die Kommerzialisierung der katsina-Schnitzerei, den Einfluss von Fernsehen und Video, die Attraktivität von Fast- und Junkfood, und ganz besonders um das Thema Alkohol. In der ethnographischen Literatur bis 1970 findet sich nur ein einziges Sketchbeispiel über Alkohol: Die von Alexander Stephen beschriebene Satire aus dem Jahr 1893 parodiert das WhiskyTrinken als ein Verhalten von Weißen und Navajo, das den Hopi damals völlig fremd war.72 Heutzutage bildet die Bloßstellung des Alkoholmissbrauchs als qahopi-Verhalten einen Schwerpunkt der clownesken (Selbst–)Kritik.73
71 Interview auf Tonkassette, Juli 1989. Zur Charakterisierung von Saanti als Gesprächspartner siehe: Hans-Ulrich Sanner, Tsukulalwa, a.a.O. , S. 71ff. 72 Elsie Clews Parsons (Hg.), Hopi Journal of Alexander M. Stephen, a.a.O., S. 367. 73 Siehe auch: Hans-Ulrich Sanner, „‘Another Home Run for the Black Sox‘: Humor and Creativity in Hopi Ritual Clown Songs“, in: Arnold Krupat (Hg.), New Voices in Native American Literary Criticism, Washington/ London 1993, S. 149–173, hier: passim.
Sanner, Bilder der Fremden
59
Dennoch bietet das tsukulalwa nach wie vor Gelegenheit, die Alltagserfahrung der Subordination gegenüber der anglo-amerikanischen Gesellschaft rituell umzukehren. Dies geschieht vor allem durch den spontanen Einbezug ahnungsloser weißer Touristen. Manche Clowns nutzen ihr rituelles Privileg, „alles tun zu dürfen“, und machen die Weißen zu bedauernswerten Opfern derber Possen. Ältere, erfahrene Clowndarsteller achten im allgemeinen sorgfältig darauf, geeignete Mitspieler auf die Plaza zu holen, damit die Balance des interkulturellen Spiels gewahrt bleibt. Eine der lustigsten Darbietungen, die ich gesehen habe, involvierte eine Gruppe amerikanischer Pfadfinder. Die Boyscouts, Jungen und Männer verschiedenen Alters, befanden sich im Publikum, und mit ihren auffälligen Uniformen, ihren Hüten und kurzen Hosen konnten sie der Aufmerksamkeit der tsutskut gar nicht entgehen. Die Clowns nahmen Kontakt mit den Pfadfindern auf, und als sich die katsinam zu einer Pause zurückgezogen hatten, luden sie die Gruppe ein, auf die Plaza zu kommen. Dort wurden die Pfadfinder angeleitet, eine Art katsina-Tanz aufzuführen, den die tsutskut mit der großen Trommel und mit Gesang begleiteten. Die Boyscouts machten ihre Sache gut, und deshalb brachten ihnen die Clowns weitere Tänze bei: einen Charleston, eine Pfadfinder-undClown-Polonaise, einen Navajo-Tanz und einen Kriegstanz der PlainsIndianer. Da das Oberhaupt der tsutskut ein begnadeter Komiker war, und da die Pfadfinder eifrig und ohne Hemmungen alles machten, was ihnen aufgetragen wurde, wurde die etwa 30-minütige Aufführung vom pausenlosen Gelächter der Zuschauer begleitet. Vor dem „großen Finale“ brachte der Clown-Chef die rituelle Situation auf den Punkt, indem er sie als symbolische Umkehrung interpretierte. Mit dramatischer Geste forderte er die Pfadfinder auf: „And now imagine that you are real Indians! (Pause) And all these people... (dabei zeigte er auf die Zuschauer) are white guys!“ Das Gelächter des Publikums versetzte die ganze Plaza in Erschütterung. Als ich einem alten Hopi später von der Aufführung erzählte, lächelte er und meinte: „Well, those boy scouts. They really did a good deed.“ Es steht außer Frage, dass nordamerikanische Indianer als Angehörige einer ethnischen Minderheit im alltäglichen Umgang mit Personen oder Institutionen der dominanten US-Gesellschaft auf verschiedene Weise Diskriminierung und Bevormundung erleben. (Ritueller) Humor ist eine Form des Umgangs mit den resultierenden negativen Emotionen.74 In welchem Maße die Satiren der Hopi-Clowns den Zuschauern emotionale 74 Siehe auch: Keith H. Basso, Portraits of “The Whiteman”, a.a.O., passim; Deirdre Evans-Pritchard, „How ‘They’ See ‘Us’“, a.a.O., S. 96ff.
60
Konversionen
Befriedigung und Entlastung verschaffen, ist allerdings mit ethnologischen Methoden schwer zu belegen. Bei der Beurteilung der Zuschauerreaktionen ist generell zu bedenken, dass das Hopi-Publikum keine homogene Masse, sondern eine Ansammlung von Individuen ist. Folglich werden auch die humoresken Porträts von Anglo-Amerikanern, Navajo, Deutschen oder anderen Fremden vom individuellen Betrachter anhand eigener Erfahrungen, Werthaltungen und Emotionen überprüft. Zudem bringt die Komplexität des Phänomens Humor mit sich, dass man über einen ethnischen Witz durchaus lachen kann, ohne das darin enthaltene Ressentiment zu teilen.75 In jedem Fall aber wird eine Hopi-Familie, die einen Navajo-Schwiegersohn hat und gute Beziehungen zu dessen Familie pflegt, einen Navajo-kritischen Sketch anders wahrnehmen als etwa ein Hopi-Bauer, dessen Melonenfeld vorgestern von einer vorbeikommenden Navajo-Familie klammheimlich abgeerntet worden ist. Und in Gegenwart weißer Zuschauer distanzieren sich manche Hopi von einer besonders frechen oder obszönen Posse der Clowns mit einem typischen leisen Zischen, einer Art Selbst-Zensur.76 Einige meiner Gesprächspartner behaupteten, dass ihnen Weiße, die den Späßen der Clowns zum Opfer fallen, Leid täten. Dies mag teils zutreffen, könnte aber auch ein Ausdruck von Takt oder Rücksichtnahme gegenüber dem weißen Befrager sein. Die post-rituelle Distanzierung von etwas, das im Rahmen des Rituals belacht und genossen wurde, liefert aber auch Hinweise auf die sozialpsychologische Funktion rituellen Humors. Als ich HerscheI Talashoema, einen älteren Mann aus dem Dachsklan von Third Mesa, in einem Tonbandinterview77 gezielt zum Thema befragte, betonte er, dass für seinen Geschmack die Clowns bei der Verspottung von Weißen manchmal zu weit gingen, dass er in der Rolle des Clowns aber sicher genauso handeln würde. Als ich ihm dann von meiner peinlichen Erfahrung als „Hitlers Sohn“ erzählte, lachte er und wiederholte, dies seien die Dinge, die für seinen Geschmack zu weit gingen: „Because it embarrasses that individual, and also the other country, too.“78 Nicht ganz überzeugt von seiner Selbstdarstellung, fragte ich
75 Mahadev L. Apte, Humor and Laughter, a.a.O., S. 141; Peter L. Berger, Erlösendes Lachen, a.a.O., S. 62. 76 Diese Interpretation verdanke ich Abbott Sekaquaptewa. 77 Interview auf Tonkassette, Juni 1989; vgl. Hans-Ulrich Sanner (Tsukulalwa, a.a.O., S. 210f.). 78 Richard Bielefeldt entdeckte in diesem Dialog „ein Stückchen leiser performativer Komik“: Ausgerechnet ein Hopi-Ältester mit dem hübschen jiddischen Namen Herschel beruhigt die emotionale Not des deutschen Forschers, den der Hopi-Clown als „Hitlers Sohn“ provoziert hatte (persönliche Kommunikation).
Sanner, Bilder der Fremden
61
nach: „But you are also laughing about it when you hear it?“ Darauf Herschel: „Oh yeah, sure! Sure. But not actually enjoying it, though. Since you're there and you're hearing it and all that...“ Eine Studie über den Calypso-Humor auf Trinidad kommt zum Ergebnis, dass Zuschauer die Darbietung "schmutziger" Calypsos belachen und genießen, nach der Vorstellung aber gerne als obszön und geschmacklos kritisieren. Den Widerspruch erklären die Autorinnen unter Hinweis auf Sigmund Freuds Humortheorie damit, dass die Zuschauer ihr "Über-Ich" gewissermaßen an der Garderobe abgeben und dort nach der Show wieder in Empfang nehmen.79 Im Sommer 1993 schenkte ich Herschel Talashoema ein Exemplar meiner Dissertation. Sein Sohn, Herschel Jr., zeigte großes Interesse an den abgedruckten Aussagen seines Vaters auf Englisch. Beim Lesen der oben erwähnten Interview-Passage brach er in schallendes Gelächter aus. Als wir uns nach dem Grund für seine Heiterkeit erkundigten, wiederholte er mit spöttischem Blick auf seinen Vater dessen Satz: „But not actually enjoying it, though.“ Herschel kicherte in sich hinein, und ich verstand. 4. Im Spiegel der Hopi-Clowns: Die Navajo und andere Nachbarvölker Nach dem Aufstieg aus der unteren Welt bekamen die Menschen Maiskolben verschiedener Farbe und Größe vorgelegt, so heißt es in einer Variante der Hopi-Ursprungserzählung.80 Durch die Wahl eines bestimmten Kolbens differenzierten sich die verschiedenen Völker, wie die Paiute, Comanche, Havasupai oder Ute. Der Navajo, ein großer schlanker Kerl, fiel besonders auf, weil er mit großspurigem Gehabe als erster zulangte und sich den größten Kolben sicherte. Ganz anders der Hopi. Er wartete ab, bis schließlich nur noch ein kurzer Kolben von blauem Mais übrig war, Symbol für harte Arbeit, aber auch ein langes, erfülltes Leben. Windiger Navajo, rechtschaffener Hopi: der uralte Kulturkonflikt zwischen Hirten/Jägern und Bauern. Die Mythologie eines Volkes begründet die bestehende Ordnung von Welt und Gesellschaft und definiert das Eigene im Kontrast zum Fremden. Die hervorgehobene Rolle der Navajo in dieser Episode der Überlieferung entspricht ihrer Bedeutung und Einschätzung im Bewusstsein der Hopi. 79 James M. Jones und Hollis V. Liverpool, „Calypso Humor in Trinidad“, in: J. Chapman und H.C. Foot (Hg.), Humor and Laughter: Theory, Research, and Applications, London/ New York 1976, S. 259–280, hier: S. 274. 80 Siehe z. B.: Albert Yava, Big Falling Snow. A Tewa-Hopi Indian’s Life and Times and the History and Traditions of His People, Harold Courlander (Hg.), Albuquerque 1978, S. 5; Ekkehart Malotki und Michael Lomatuway’ma, Maasaw: Profile of a Hopi God, Lincoln/ London 1987, S. 116–119.
62
Konversionen
Die athapaskischen Vorfahren der Navajo und Apache wanderten vor schätzungsweise 500 Jahren aus der kanadischen Subarktis in die PuebloRegion ein. „Als sie hierher kamen, hatten sie nichts“, sagen manche Hopi mit ethnozentrischer Übertreibung, aber in der Tat gehen zahlreiche Elemente der Navajo-Kultur auf Übernahmen von den Pueblo zurück. Kreativ, anpassungsfähig und mit einem ausgeprägten Sinn für Schönheit, verbanden die Navajo ihr jägerisch-schamanisches Erbe mit Kulturelementen der Pueblo und der Spanier zu einer eigenständigen Kulturtradition.81 Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein unternahmen Navajo und Apache regelmäßige Raubzüge auf die Dörfer und Felder der Pueblo und festigten damit das historische Feindbild. Zudem drangen die Navajo bis zur Gegenwart immer stärker auf Hopiland vor und siedelten sich dort an. Heute ist die Hopi-Reservation vollständig von der viel größeren NavajoReservation umgeben, und 10.000 Hopi sehen sich mehr als 250.000 Navajo gegenüber. Solche Fakten machen die Navajo aus Hopi-Sicht durchaus zur dominanten Gesellschaft, und manche Hopi sagen: „Ob Weiße oder Navajo, das ist im Grunde das Gleiche.“82 Ihre Präsenz im Alltag und Bewusstsein der Hopi sichert den Navajo seit mehr als hundert Jahren eine festen Platz in der Clownzeremonie.83 Wenn die tsutskut in einer Tanzpause zur großen Trommel greifen und dazu einen schrillen Falsettgesang anstimmen, versteht jedes Kind, dass hier der typische Vokalstil der Navajo verspottet wird. Dieser eignet sich hervorragend zur akustischen Symbolisierung ethnischer Differenz, da der Gesangsstil der Hopi tief und sonor ist. Ein weiteres zeitlos beliebtes Fremdbild ist der Navajo als Medizinmann. Dieses Stereotyp hat allerdings deutlich positive Züge, denn so wie die Navajo die Fähigkeit der Hopi respektieren, mit ihren Zeremonien für Regen und Fruchtbarkeit zu sorgen, haben die Hopi Achtung vor dem Wissen der Navajo-Heiler. Im Weltbild und Zeremonialismus der Navajo ist Krankheit Ausdruck einer Störung der universellen Harmonie. Die mehrtägigen komplexen Zeremonien, die der individuellen Krankenheilung dienen, kommen deshalb einer Wiederherstellung der Balance aller Kräfte des Universums gleich.
81 Die Literatur über die Navajo ist ähnlich reichhaltig wie im Fall der Hopi. Eine gute Einführung in deutscher Sprache bietet der Fotoband von Helga Teiwes und Wolfgang Lindig (Navajo. Zürich 1991). 82 Eine kritische, aber keineswegs einseitige Einschätzung der Navajo aus Hopi-Sicht liefert zum Beispiel Albert Yava (Big Falling Snow, a.a.O., S. 117f.). 83 Außerdem gibt es die „Geselligen Tänze“ im Januar und Spätsommer, bei denen Hopi-Frauen und -Männer in farbenprächtige Kostüme schlüpfen, um Navajo-, Paiute-, Comanche- oder Apache-Tänze aufzuführen. Siehe die Fotos in: Jake Page und Susanne Page, Hopi, New York 1982, S. 48–55.
Sanner, Bilder der Fremden
63
In seinem Hopi-Tagebuch von 1893 beschreibt Alexander Stephen ausführlich den Auftritt von zwei piptuqam, die einen Navajo-Heiler und seine Frau darstellen. Der „Medizinmann“ ist sorgfältig mit Medizinbündel, Adlerfedern und anderen typischen Accessoires ausgestattet.84 Als ihm die tsutskut von ihren Bauch- und Gliederschmerzen berichten, erklärt er sich zur Heilung bereit, verlangt allerdings vorab eine entsprechende Entlohnung. Nachdem die Clowns ein Gewehr, eine silberne Glocke und eine Decke als Bezahlung herbeigeschafft haben, führt der Navajo-piptuqa eine ausführliche Heilzeremonie durch, in der sich ethnographische Beobachtungen der Navajo-Heilpraxis mit komischen Elementen mischen. So klatscht etwa die „Navajo-Frau“ den am Boden liegenden Clowns einen „heilenden“ Grasbrei auf die Geschlechtsteile und in den Mund. Wie Alexander Stephen anmerkt, wurde die groteske Behandlung viel belacht, zumal einige der Clowndarsteller angesehene Bundoberhäupter waren. Ein Sketch, an dem mein Gesprächspartner Saanti um 1985 teilnahm, verband ein sehr ähnliches dramatisches Grundgerüst mit aktuellen ethischen Botschaften. Als die tsutskut gerade dabei waren, die katsinaTänzer mit heiligem Maismehl zu segnen, wurde ihnen plötzlich schlecht. Unfähig, weiter ihrer zeremoniellen Pflicht nachzukommen, taumelten sie umher, brachen zusammen und wälzten sich mit Schmerzenslauten am Boden. Während die katsinam zur Rast gingen, kam ein echter Krankenwagen mit Blaulicht auf die Plaza gefahren, und heraus sprang ein „Navajo-Medizinmann“. Er behandelte die Clowns nacheinander mit einem Saugrohr, wie es Schamanen tun, um die Krankheitsursache aus dem Körper zu saugen. Aus einem der Clowns „saugte“ er eine Weinflasche heraus – „Aha, deshalb geht es dir so schlecht!“ –, aus Saantis Körper „entfernte“ er einen Beutel Marihuana. „Der Navajo“ diente in diesem Sketch also als Vehikel, um soziale Probleme der modernen HopiGesellschaft kritisch zu beleuchten. Aber es gab auch eine Pointe, die auf die aktuellen politischen Beziehungen zwischen beiden Völkern anspielte: Als Bezahlung für die Heilung verlangte der „Navajo-Medizinmann“ ein großes Stück Hopiland. Der jahrzehntelange Landkonflikt zwischen Hopi und Navajo erreichte in den 1980er Jahren seinen emotionalen Höhepunkt. Bei meinen Aufenthalten zwischen 1988 und 1990 bildete er den Hintergrund mehrerer Clowndarbietungen, und im Alltagsdiskurs waren ablehnende Äußerun-
84 Elsie Clews Parsons, (Hg.), Hopi Journal of Alexander M. Stephen, a.a.O., S. 383–385. Für eine figürliche Darstellung eines solchen piptuqa-Medizinmannes siehe: Horst Antes (Hg.), Katsinam, a.a.O., Nr. 477.
64
Konversionen
gen über die Navajo an der Tagesordnung. Ein Tanz der Kuh-katsinam (Wakaskatsinam) im Sommer 1989 bildete den idealen Rahmen für einen Sketch, der die Probleme von Hopi-Viehzüchtern mit Navajo im Grenzgebiet der beiden Reservationen thematisierte. Die Idee war witzig: Zwei Paare von Navajo-piptuqam – die Frauen mit Kopftüchern und den typischen Blusen und Röcken aus farbigem Samt- kamen auf die Plaza und begannen, die „Herde“ der tanzenden katsinam nach angeblichen NavajoRindern abzusuchen. Zur Identifizierung hatten die Frauen „Steckbriefe“ der vermissten katsina-Kühe bei sich. Die Clowns versuchten den Besuchern klarzumachen, dass die „Herde“ nur aus Hopi-Kühen bestand, aber die „Navajo“ ließen nicht locker. Als sie schließlich Anstalten machten, einige der katsinam zu entführen, kam es zum handgreiflichen Streit, den auch ein herbeigerufener „Sheriff“ nicht schlichten konnte. Besonders aggressiv traten die „Navajo-Frauen“ auf, während ihre Männer im Hintergrund blieben. Abbott Sekaquaptewa, der als Vorsitzender des Stammesrats jahrelang für die Landrechte der Hopi gekämpft hat, sah darin eine Anspielung auf die Taktik der Navajo, im Landkonflikt die Frauen vorzuschicken. Auch der im Prolog erwähnte Tanz der Navajo-katsinam in Shongopavi (Second Mesa) war ein passendes Forum für Navajo-kritische Sketche und Kommentare. Und auch hier wurde der beabsichtigte Humor von einer zunehmend aggressiven Atmosphäre in den Hintergrund gedrängt. Ein Sketch endete damit, dass die Navajo-piptuqam von den Clowns und einigen beteiligten Zuschauern heftig beschimpft und unter dem Jubel der Zuschauer von der Plaza vertrieben wurden: „Stay away from our land!“ Gleichwohl bezeichnete Abbott Sekaquaptewa diese Aggressivität stirnrunzelnd als Eskalation und erinnerte an die Aufgabe der Clowns, für eine fröhliche und positive Stimmung zu sorgen. In jedem Fall machten die heftigen Reaktionen deutlich, wie groß die aufgestauten Emotionen waren, die sich anlässlich der eigentlich recht harmlosen Sketche entluden. Dass dies jedoch kein neues Phänomen ist, zeigt ein weiterer Blick in Alexander Stephens Tagebuch von 1893. In diesem Fall war es ein Apache-piptuqa, der die Gemüter erhitzte: „Angwusi85 and the Apache talk to each other in the screaming tones of excited Apache, Angwusi denouncing the Apache, saying they wanted nothing to do with him, etc., and ultimately the Apache knocks Angwusi through a spruce tree and gets into a general row with all the clowns. These find that the Apache has a lariat at his waist and with this they tie him to a tree and dance in triumph around 85 Name eines der Clowndarsteller.
Sanner, Bilder der Fremden
65
him. Spectators yell. There is a great excitement. The whole of this drama is excellent.“86
Der knappe Überblick zeigt, dass die Clown-Porträts von Navajo, Apache oder anderen Nachbarvölkern der symbolischen Abgrenzung oder dem rituellen Ausagieren aktueller interkultureller Spannungen dienen können, bei Bedarf aber auch ein Instrument sind, um interne Probleme der Hopi-Gesellschaft oder sogar individuelles qahopi-Verhalten anzuprangern. Letzteres gilt für den „Navajo-Medizinmann“, der die Sünden der Clowndarsteller ans Tageslicht brachte, aber auch für einen StandardSketch, der seit Jahrzehnten immer wieder aufgeführt wird. Dabei erscheint eine piptuqa-Frau, kostümiert als Navajo, Apache, Paiute, Pima oder auch als Mexikanerin. Sie hat mehrere piptuqa-Kinder bei sich, die einen ärmlichen, abgerissenen Eindruck machen. Wie sich im Gespräch mit den Clowns herausstellt, ist die Frau auf der Suche nach dem Vater ihrer Kinder, einem Hopi, der sie im Stich gelassen hat und keinen Unterhalt zahlt. „Wie heißt der Bursche?“ fragen die Clowns, und dann wird der Name genannt. Manchmal wird der Schuldige im Publikum ausfindig gemacht, manchmal ist es sogar einer der Clowns. Der „AlimenteSketch“ mag ein wenig abgedroschen sein, aber er reflektiert die soziale Realität interkultureller Bindungen und mahnt, dass Hopi-Ethik nicht an der ethnischen Grenze endet.
5. Fremdbilder aus zweiter Hand: Von Nazis und Penisgrößen Die komischen Porträts von Anglo-Amerikanern, Navajo und anderen Nachbarvölkern beruhen häufig auf genauer Beobachtung im Alltag. Es sind differenzierte Darstellungen spezifischer Charaktere und aktueller Anlässe, die in ihrer Gesamtheit einen Clownspiegel der Hopi-Geschichte ergeben. Der Intensität des Kulturkontakts entspricht die ethnographische Präzision der Sketche und Kommentare. Zugleich beruht deren Wirkung, wie bei jeder Form von Satire, auf Übertreibung, grotesker Verfremdung, Zuspitzung und - da es sich um ethnischen Humor handelt – auf der Verwendung von Stereotypen. Ethnische Gruppen, mit denen die Hopi wenig direkte und signifikante Erfahrung haben, werden dagegen „erfahrungsfern“ konzeptualisiert, die Stereotypen sind allgemein, „aus zweiter Hand“, oder erfassen äußere Merkmale der Fremden. Als eine Schweizer Touristin von den Clowns zum Essen eingeladen wurde, fiel das Stichwort „Schweizer Käse“. Eine 86 Elsie Clews Parsons (Hg.), Hopi Journal of Alexander M. Stephen, a.a.O., S. 457.
66
Konversionen
Gruppe Turban tragender Sikhs, die sich im Publikum befand, wurde als diaper-heads („Windelköpfe“) verspottet. Und „Hitlers Sohn“? Die Hopi haben im Fernsehen den Fall der Berliner Mauer erlebt und Berichte über Skinheads und brennende Asylantenheime gesehen. Die deutschen Sommertouristen und New Age-Sinnsucher unterscheiden sich nicht signifikant von ihren anglo-amerikanischen Entsprechungen, außer dass sie ein merkwürdiges Englisch sprechen. Kein Merkmal scheint markant und bekannt genug, um das Stereotyp, also die populäre und auf Anhieb verständliche Konzeptualisierung, des Deutschen als Nazi zu ersetzen.87 Im Laufe meiner Feldforschungen konnte ich wiederholt feststellen, dass das rituelle Porträt als „Hitlers Sohn“, mit dem mich der Shongopavi-Clown konfrontierte, ein Spiegel der Alltagswahrnehmung ist. Zwei Beispiele sollen hier genügen. Am 4. Juli 1989, dem amerikanischen Nationalfeiertag, war ich bei „meiner“ Hopi-Familie zum Barbecue eingeladen. Als wir beim Essen saßen, kamen wir auf Feiertage zu sprechen. Eine von Berthas88 Töchtern fragte mich, ob es in Deutschland auch Feiertage gebe. Froh über die Gelegenheit, Auskunft über meine eigene Kultur geben zu könne, begann ich von kirchlichen Feiertagen zu erzählen. Ich hatte kaum angefangen, als mich Bertha, eine Frau mit großem Prestige als traditionelle Heilerin und Diagnostikerin, abrupt unterbrach: „Germans do other things“, sagte sie lakonisch. „They line people up along a wall and shoot them.“ Einer der Schwiegersöhne lachte und rief fröhlich: „Heil Hitler!“ Mir war nicht zum Lachen zumute, ich war empört und fühlte mich persönlich beleidigt. „We are not like that anymore“, sagte ich, und während ich es sagte, wunderte ich mich über die Art, wie ich mich pauschal mit allen Deutschen identifizierte. Das lernt man nur in der Fremde. Die „mechanische“ Aggressivität und Gefühlskälte, die das HopiStereotyp dem Nazi als typischem Deutschen zuweist, kommt auch in einer Einschätzung von Saanti zum Ausdruck, dessen Ethnologenkritik ich weiter oben zitiert habe. Im gleichen Gespräch konstruierte er eine Parallele zwischen meiner Rolle als Feldforscher und meiner ethnischen Identität. „You are a German, so... you want to know. That’s their nature. Just the same way they did to people in the concentration camps: ‚Now, let’s see how many degrees he can stand!‘“89 Ich war schockiert, als Feldforscher in eine Traditionslinie mit den Menschenversuchen des schrecklichen Dr. Mengele gestellt zu werden. Als Sonny meine Verunsicherung 87 Ein ebenfalls populäres, positives Stereotyp über deutsche Kultur ist „deutsches Bier“. 88 Pseudonym. 89 Interview auf Tonkassette, Juli 1989.
Sanner, Bilder der Fremden
67
bemerkte, fing er an zu lachen und sagte: „Hey, I’m sorry I put it to that comparison, but that’s exactly what I’m feeling now, you know. Germans wanna probe!“ Wir wurden trotzdem Freunde, und als ich ihn später einmal besuchte, begrüßte er mich grinsend mit den Worten: „Here comes my Nazi buddy!“ Zu dem Zeitpunkt konnte ich bereits darüber lachen. Ich hatte gelernt, das man solchen Spott nicht persönlich nehmen, sondern als eine Art Test begreifen musste. Je lockerer man mit dem Klischee umging, desto weniger entsprach man ihm. Die universelle Präsenz und Kontinuität des Nazi-Stereotyps und die Tatsache, dass es vielerorts ältere Bilder vom Deutschen verdrängt oder überlagert hat90, verraten den enormen Eindruck91, den zwölf Jahre NSHerrschaft und -Terror im Bewusstsein der Völker hinterlassen haben. Die Hopi machten immerhin schon um das Jahr 1900 konkrete Erfahrungen mit Deutschen, und es ist nicht auszuschließen, dass deren Eigenheiten bestimmte Vorstellungen über die Tsemonsinom („Deutsche“)92 hervorbrachten. Eine schillernde, höchst umstrittene Figur der HopiGeschichte ist der deutsche Mennoniten-Missionar und PionierEthnograph Heinrich Voth, der von 1893 bis 1902 mit seiner Familie in Oraibi lebte.93 Seine Nachfolger als Missionare waren ebenfalls deutscher Herkunft, genau wie die Gebrüder Volz, die ab 1898 mehrere Handelsposten zwischen Oraibi und der Eisenbahnstation betrieben. Die German connection zu Voth und den Volz-Brüdern ermöglichte auch die kurzen Forschungsaufenthalte der Berliner Ethnologen Karl von den Steinen und Paul Ehrenreich im Jahr 1898, nachdem schon 1896 der Hamburger Kunsthistoriker Aby Warburg Oraibi besucht hatte.94 Die deutsche 90 Dies gilt etwa für das Deutschenbild im ethnischen Witz Nordamerikas, siehe: Gert Raeithel, Der ethnische Witz am Beispiel Nordamerikas, Frankfurt a. M. 1996, S. 57–68. 91 Ich verwende hier bewusst den neutralen Begriff „Eindruck“, weil die Beurteilung Hitlers und des Nationalsozialismus aus der Sicht anderer Völker und Nationen von deren historisch-kultureller Positionierung beeinflusst wird. Man denke etwa an die Erfahrungen deutscher Reisender, die in der arabischen Welt für die Judenvernichtung umarmt werden oder in Irland wegen Hitlers Bomben auf England zum Drink eingeladen werden. 92 Von Tseemoni bzw. Tsemònki, „Deutschland“, abgeleitet vom Englischen „Germany“. 93 Siehe z. B.: Harry C. James, Pages from Hopi History, a.a.O., S. 146–158; Peter M. Whiteley, Deliberate Acts, a.a.O., S. 83–86. 94 Paul Ehrenreich, „Ein Ausflug nach Tusayan (Arizona) im Sommer 1898“, in: Globus 76, 1899, S. 53–54, S. 74–78, S. 91–95, S. 138–142, S. 154–159 und S. 172–174; Hans-Ulrich Sanner, „Karl von den Steinen in Oraibi, 1898“, a.a.O.; Aby M. Warburg, Schlangenritual. Ein Reisebericht. Mit einem Nachwort von Ulrich Raulff, Berlin 1996 (1988); Benedetta Cestelli Guidi und Nicholas Mann (Hg.), Photographs at
68
Konversionen
Schriftstellerin Vendla von Langenn lebte in den 1930er Jahren als frühe „Aussteigerin“ auf Second Mesa und verarbeitete ihre Eindrücke zu einem indianischen Liebesroman.95 Spätestens mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs erreichte die Kunde vom Nationalsozialismus die Hopi-Reservation, mit kuriosen Folgen. Dan Qötshongva, Gründer der „Traditionalisten-Bewegung“ auf Third Mesa, identifizierte Adolf Hitler im Jahr 1940 als den Weißen Bruder (Pahaana) der Hopi-Mythologie, der nun von Osten zurückkehre, um die Bösen zu erschlagen und die Gerechten zu befreien.96 Beeinflusst wurde diese Auffassung vom Symbol des Hakenkreuzes, das auch in der HopiReligion eine wichtige Rolle spielt.97 Ähnlich mystifiziert werden bis heute die Berichte einzelner Hopi-Kriegsgefangener, die von den Deutschen angeblich besser behandelt wurden als ihre weißen Kameraden oder gar aus der Gefangenschaft entlassen wurden.98 Wenn Hitler – wahrgenommen als numinose, die Welt erschütternde Macht im Zeichen der Swastika – einerseits im Rahmen der Hopi-Eschatologie als „echter“ Pahaana bzw. Weißer Bruder interpretiert werden konnte, so widersprach die mörderische Aggression des Nationalsozialismus andererseits dem auf Nicht-Aggressivität, Friedlichkeit, Lebenserhaltung basierenden Ethos der Hopi. Der Philosoph Richard B. Brandt zitiert in seiner Studie Hopi Ethics Aussagen von Hopi angesichts der Nürnberger Prozesse, die zum Zeitpunkt seiner Feldforschung (1945-48) ein wichtiges Medienthema waren.99 Brandts Gesprächspartner sprachen sich durchweg für die
the Frontier. Aby Warburg in America 1895–1896, London 1998. 95 Vendla von Langenn, Lolomai. Roman einer Frau unter Indianern, Berlin 1938. Der im Deutschen Verlag erschienene Roman dreht sich um die Liebe und Heirat zwischen dem Hopi „Loma-honow“ und der Deutschen „Gerta“, die am Ende erfährt, dass sie selbst eine indianische Mutter hat. 96 Leo W. Simmons (Hg.), Sun Chief, a.a.O., S. 379f.; dt. Don C. Talayesva, Sonnenhäuptling Sitzende Rispe, a.a.O., S. 396. Vgl. Armin W. Geertz, The Invention of Prophecy, a.a.O., S. 199. 97 Noch in den 1980er Jahren versuchten die „Hopi-Traditionalisten“, ihren deutschen Unterstützern mit dem Hinweis auf kulturelle „Gemeinsamkeiten“ wie das Hakenkreuz zu schmeicheln. Wie peinlich das auf die links-alternative deutsche Unterstützer-Szene wirkte, erlebte ich selbst bei einer Veranstaltung mit Carolyn Tawangyawma, einer Sprecherin des verstorbenen Qötshongva, in Berlin 1981. 98 Ich habe von Hopi mehrfach solche Geschichten aus deren Verwandtenkreis gehört. Eine bevorzugte Behandlung von gefangenen GIs, die als Indianer identifiziert wurden, wäre vorstellbar auf dem Hintergrund von Hitlers glühender Verehrung für Karl May und dessen „Winnetou“. Zum Verhältnis Deutsche-Indianer siehe: Colin G. Calloway, Gerd Gemünden und Susanne Zantop (Hg.), Germans & Indians. Fantasies, Encounters, Projections, Lincoln/ London 2002. 99 Richard B. Brandt, Hopi Ethics. A Theoretical Analysis, Chicago 1954, S. 185.
Sanner, Bilder der Fremden
69
Hinrichtung der NS-Kriegsverbrecher aus – weil sie den Krieg begonnen hatten, weil sie für die Tötung vieler Menschen verantwortlich waren, ganz konkret auch, weil „einige unserer Jungs“ (d. h. Hopi-Soldaten) getötet worden waren. Ein Mann äußerte die visionäre Hoffnung, die Deutschen mögen aus den Verbrechen der Nazis lernen: „Now they can’t do that any more. And the next leaders will look back to that, and I hope they won’t do that any more.“100 Warum sollten die Hopi ein Bedürfnis haben, sich von schwarzen Amerikanern abzugrenzen? Es ist über 100 Jahre her, dass die US-Kavallerie schwarze Soldaten einsetzte, um Hopi-Kinder mit Gewalt in die neugegründeten Schulen zu schaffen.101 Als Bevölkerungsgruppe sind Afro-Amerikaner im ländlichen Norden von Arizona eine kleine Minderheit. Dennoch ist „der Schwarze“ Beteiligter eines soziokulturellen Konflikts, der von HopiClowns in den letzten Jahrzehnten mehrfach kommentiert wurde. Bei einem katsina-Tanz, den ich 1989 in einem Dorf auf Third Mesa sah, erschien ein piptuqa, der einen riesigen schwarzen Penis darstellte. Offenbar verlangte er nach Hopi-Frauen, denn die Clowns schwärmten bald aus, um mehrere Frauen, darunter ein uraltes Mütterlein, aus dem Publikum zu holen und auf der Plaza in einer Reihe zu stellen. Dann begann der schwarze piptuqa, mit dem Kopf ungestüm gegen die Schöße der Frauen anzurennen. Später versuchte er, einen Autoreifen und den Bauchnabel eines Clowns zu penetrieren. Einen letzten Lacher erntete der Penis-piptuqa bei seiner Verabschiedung durch die tsutskut. Ein Clown schenkte ihm mit Hinweis auf die AIDS-Gefahr ein „Kondom“, das heißt, er stülpte ihm eine Plastiktüte mit sorgfältig eingerolltem Ende über den Kopf. In den Tagen nach dem Tanz sorgte der Sketch für viel Gesprächsstoff. Die Kommentare der Clowns, überwiegend auf Hopi, wurden von einigen Zuschauern als sehr obszön empfunden. Ich erfuhr, dass die Satire konkret auf eine Dorfbewohnerin (und Klanschwester von mehreren der Clowns) anspielte, die ein Kind aus der früheren Beziehung mit einem Schwarzen hatte. Dass dies kein Einzelfall ist, zeigt die Beschreibung eines Sketches über Schwarze, den der Theaterwissenschaftler Frank Bock 1970 auf Second Mesa gesehen hatte.102 Auch dort ging es, wie 100 Ebd. 101 Leo W. Simmons (Hg.), Sun Chief, a.a.O., S. 88f.; dt. Don C. Talayesva, Sonnenhäuptling Sitzende Rispe, a.a.O., S. 86f. 102 Frank G. Bock, A Descriptive Study of the Dramatic Function and Significance of the Clown During Hopi Indian Public Ceremony, Ph.D. dissertation, The University of Southern California, Los Angeles 1971, S. 252–257 (Ann Arbor: University Micro-
70
Konversionen
Bock herausfand, sowohl um die konkrete Bloßstellung einer Dorfbewohnerin als auch um die allgemeine Warnung an Hopi-Frauen, sich nicht mit Schwarzen einzulassen. Die Komik, mit der die tsutskut ihre scharfe Kritik polsterten, bediente ebenfalls das Stereotyp vom großen schwarzen Penis. Das enorme (falsche) Glied eines der beiden „Negerpiptuqam“ weckte den Neid der Clowns, die sich deshalb einer vielbelachten und mit derben Wortspielen gewürzten „künstlichen Penisverlängerung“ unterzogen. Dass die Vermischung mit Schwarzen bei den Hopi stark tabuisiert ist, fand ich in alltäglichen Unterhaltungen öfters bestätigt. Dennoch gibt es mittlerweile eine Reihe von Kindern schwarzer Väter, die ihren Platz in der Hopi-Gesellschaft gefunden haben. Die rassistischen Vorbehalte werden auch durch die Schwäche der jungen Hopi für Reggae Music und die regelmäßigen Gastspiele jamaikanischer Reggae-Bands aufgeweicht. Die Satiren der Clowns über Schwarze sind einerseits konkret, weil sie sich auf einen realen sozialen Konflikt beziehen, aber andererseits wird „der Schwarze“ weitgehend auf ein sexuelles Stereotyp reduziert, das auch im ethnischen Humor der Anglo-Amerikaner populär ist (und vielleicht ähnliche psychologische Hintergründe hat).103 Offenbar ist im Fall mancher Gruppen von Fremden, wie den schwarzen Amerikanern oder auch den Deutschen, die Alltagserfahrung zu sporadisch und diffus, um ethnographisch fundierte Satiren zu inspirieren. Stattdessen greifen die Clowns auf populäre Stereotypen zurück, die auch in der dominanten Gesellschaft zirkulieren und, wie das Nazi-Klischee, von deren Massenmedien perpetuiert werden. 6. Ethnozentrismus und Universalismus Zur Funktion und Wirkung von ethnischem Humor gibt es völlig konträre Auffassungen. In der multi-ethnischen Einwanderergesellschaft Nordamerikas, wo der ethnische Witz eine Domäne hat und entsprechend intensiv erforscht wurde, wird er von den einen als nützliches soziales Ventil zum Abbau von Aggressionen gewürdigt, während ihn andere als politisch unkorrekt ablehnen und ihm die Zementierung von Vorurteilen
films, 1988). 103 Roger D. Abrahams, „The Negro Stereotype. Negro Folklore and the Riots“, in: Journal of American Folklore 83 (1970), S. 229–249; Mahadev L. Apte, Humor and Laughter, a.a.O., S. 124ff.; Gerd Raeithel, Der ethnische Witz am Beispiel Nordamerikas, a.a.O., S. 38f. In einem Gespräch über den oben erwähnten Sketch gestand mir ein älterer Hopi, er sei zwar „nicht gut bestückt“, aber ein Schwarzer wolle er deswegen trotzdem nicht sein.
Sanner, Bilder der Fremden
71
und gesellschaftlicher Ungleichheit anlasten.104 Ist ein Türkenwitz verwerflicher als ein Navajo-Sketch? Warum können wir – als aufgeklärte Deutsche oder Europäer – uns nicht eingestehen, dass es völlig normal ist, Vorurteile und Ängste gegenüber Fremden zu hegen? Und warum sind wir – als Ethnologen – bei kleinen indigenen Völkern wie den Hopi eher bereit, die soziale Kontrolle von Außenseitern, die Abgrenzung von den Fremden und Bemühungen um die Reinhaltung des Blutes zu akzeptieren als in unserer eigenen Gesellschaft? Bei den Hopi habe ich gelernt, die feindseligen Blicke Einzelner als Normalität zu akzeptieren, und war dennoch überrascht, als ein Ältester das Wort „Rassismus“ benutzte, um die Haltung mancher seiner Leute gegenüber Weißen zu charakterisieren. Humor ist unter anderem ein Mittel, um Konflikte kreativ zu bearbeiten und im Gelächter Spannungen zu lösen. Deshalb neige ich eher dazu, in der imaginativen Aggressivität von ethnischem Humor eine Alternative zur körperlichen Aggression gegen die Fremden zu sehen, nicht deren Vorstufe. Über die Fremden und ihr Anderssein zu lachen, ist allemal humaner, als mit Baseballschlägern auf sie loszugehen oder sie mit Sprengstoff zu töten. Der symbolische Umgang der Hopi mit dem Fremden im Rahmen des tsukulalwa ist eine zivilisatorische Leistung. Als ethnographische Vermittler setzen die Clowns nicht nur das kulturell Fremde in bedeutungsvolle Beziehung zum Eigenen, sondern ermöglichen ihrem Publikum auch das stellvertretende Ausagieren aggressiver Impulse und eine Entlastung von Fremdenangst und Gefühlen der Subordination. Ethnozentrismus - die Auffassung, dass die eigene Gruppe das Zentrum aller Dinge ist und den Maßstab für die Bewertung aller anderen liefert ist eine kulturelle Universalie, ebenso wie die damit einhergehende Fremdenfurcht (Xenophobie). Ein deutlicher Ausdruck des Ethnozentrismus sind die Eigenbezeichnungen von Völkern rund um den Erdball, die nichts anderes bedeuten als „die (wahren) Menschen“, womit gleichzeitig allen anderen volle Menschlichkeit und „Kultur“ abgesprochen wird. Die Hopi etwa – mit ihren Bodenbau- und Handwerkstechniken, ihrer Architektur und ihrem Zeremonialsystem – schauten auf Nachbarvölker herab, die jagend und sammelnd die Halbwüste durchstreiften. Ein ungehobelter Mensch, ein „Trampel“, wird bis heute als Payotsi (Paiute) bespöttelt, und eine Person, die (noch) nicht in einen der Zeremonialbünde initiiert ist, also kein sakrales Wissen besitzt, wird metaphorisch als Kòonina (Havasupai) bezeichnet.105 104 Gerd Raeithel, Der ethnische Witz am Beispiel Nordamerikas, a.a.O., S. 177ff. 105 Hopi Dictionary Project (Comp.), Hopi Dictionary, a.a.O., S. 401 und S. 150. Die
72
Konversionen
Die Hopìit bzw. Hopisinom sind die „gesitteten Leute“, in einem weiteren Sinne „menschliche Wesen“. Das Substantiv hopi bezeichnet 1. eine Person, die gesittet, zivilisiert, friedfertig und höflich ist, kurz: die dem Hopi-Weg folgt, 2. eine(n) Hopi (im ethnischen Sinne) und 3. ein menschliches Wesen.106 Als ethische Kategorie umfasst hopi alles, was gut, richtig und positiv ist. Das Gegenteil davon ist qahopi - wörtlich „nicht hopi“, also eine Person mit schlechtem Benehmen.107 Ein frecher Hopi-Junge ist ein qahophoya, während ein ehrlicher Weißer als Hopivahaana (hopi-Pahaana) bezeichnet wird. Hopi ist also nicht ethnisch eingegrenzt, sondern definiert die ideale Persönlichkeit, nach der die Hopi kraft ihrer Sozialisation streben.108 Dass sie an diesem ethischen Maßstab in der Praxis permanent scheitern, bekommen sie am anschaulichsten von ihren Ritualclowns vorgehalten. Diese besitzen das heilige Privileg, alle Arten von qahopi-Verhalten zu verkörpern, werden dafür aber am Ende der Zeremonie von den katsinam zur Rechenschaft gezogen. Die symbolische Markierung der Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden in der Clownzeremonie ist variabel. Ein absolutes Kriterium für die Definition von Fremdheit gibt es nicht, da sich die Identität der WirGruppe je nach Situation und Anlass auf unterschiedlichen Ebenen konstituiert. Die wichtigste kollektive Identitätsebene ist noch immer die Zugehörigkeit zum mütterlichen Klan. Das Dorf als traditionelle soziopolitische Einheit ist ein eher lockerer Verband eigensinniger, zum Teil rivalisierender Klane. Für den notwendigen sozialen Zusammenhalt sorgen die Klan-exogamen Heiratsregeln und das Klan-übergreifende Zeremonialsystem. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden junge Hopi ermahnt, nur innerhalb des eigenen Dorfes zu heiraten. Die Bewohner anderer Dörfer galten als „seltsam, nicht vertrauenswürdig“.109 Zwischenheiraten sind heute eher die Regel, aber die je drei oder vier Dörfer, die auf der gleichen Mesa liegen, grenzen sich durch eine gemeinsame Lokalgeschichte und einen eigenen Dialekt von den anderen Mesas ab. Die Dialektunterschiede liefern in der Clownzeremonie immer wieder Stoff für Witze und Spott über die kiyavaqvit, die Bewohner der fremden
106 107 108
109
Havasupai sind traditionell mit den Hopi befreundet. Siehe auch: Hans-Ulrich Sanner, „Karl von den Steinen in Oraibi, 1898“, a.a.O., S. 280–283. Ebd., S. 99f. Siehe dort auch die zahlreichen abgeleiteten Formen. Ebd., S. 458. Armin W. Geertz, „Hopi Hermeneutics. Ritual Person Among the Hopi Indians of Arizona“, in: Hans G. Kippenberg, Yme B. Kuiper und Andy F. Sanders (Hg.), Concepts of Person in Religion and Thought, Berlin/ New York 1990, S. 309–335. Richard B. Brandt, Hopi Ethics, a.a.O., S. 261ff.
Sanner, Bilder der Fremden
73
Dörfer.110 Die übergeordnete Identität als Hopi Tribe oder Hopi Nation ist ein Produkt der politischen und wirtschaftlichen Umstrukturierungen des 20. Jahrhunderts und hat vor allem politische Bedeutung im Verhältnis zur dominanten US-Gesellschaft und zu den Navajo. Darüber hinaus legen viele Hopi Wert auf ihre kulturelle Verwandtschaft mit den anderen Pueblo-Völkern111 und verwandeln sich in bestimmten makro-politischen Situationen, z. B. internationalen Krisen oder Kriegen, sogar in amerikanische Patrioten. Dem Ethnozentrismus der Hopi steht ein philosophisch begründeter Universalismus gegenüber, der die ganze Welt in das religiöse Denken und Handeln einbezieht. Hopi legen Wert auf die Feststellung, dass die Zeremonien, die von den Geheimbünden ausgerichtet werden, nicht nur den Hopi dienen, sondern das Wohl der ganzen Welt im Blick haben. Diese Haltung kann man natürlich auch ethnozentrisch verstehen, aber sie korrespondiert mit der Überzeugung, dass man umgekehrt keine Fremden von den öffentlichen Teilen der Zeremonien, also den Tänzen, ausschließen darf. Im Prolog wurde erwähnt, wie die Clowns am Mittag Weiße, Navajo und andere Besucher zum Essen auf die Plaza einladen. Auch wenn die Fremden dabei gelegentlich als Spottopfer dienen, so ist das gemeinsame Mahl doch eine Art interkulturelle Kommunion, die zum rituellen Gelingen beitragen soll. Durch das respektlose Verhalten von Touristen und andere Interventionen von außen sehen sich die Bundpriester jedoch immer wieder gezwungen, Zeremonien für Nicht-Indianer zu schließen. Aber wenn man die Fremden ausschließt, so sagen viele Hopi, schließt man vielleicht auch „die Person mit dem guten Herzen“ (loma’unangwa’ytaqa) aus, von deren Teilnahme der spirituelle Erfolg der Zeremonie abhängt. Und, so fügen sie an, man weiß nie, wer diese Person ist; es könnte auch ein Weißer sein, oder eine Navajo, sogar ein Schwarzer. Epilog Ein Samstagnachmittag im August, drüben in Shongopavi findet der Schlangentanz statt. Ich kann nicht hingehen, weil der Schlangentanz seit ein paar Jahren für Nicht-Indianer geschlossen ist. Stattdessen sitze ich
110 Kiyavaqvi bezeichnet eine Person aus einem Dorf einer anderen Mesa. Weitere Bedeutungen sind „Besucher, Fremder, Gast“. Hopi Dictionary Project (Comp.), Hopi Dictionary, a.a.O., S. 144f. 111 Als Beleg für eine gemeinsame Pueblo-Identität führt Alfonso Ortiz die Beobachtung an, dass Pueblo-Clowns so gut wie nie Karikaturen anderer Pueblo-Völker aufführen: Alfonso Ortiz, „The Dynamics of Pueblo Cultural Survival“, a.a.O., S. 304.
74
Konversionen
mit Elaine, der jüngsten Tochter von Bertha, und ihrem Mann Dave112 im Laden ihres Vaters, der ein bekannter Hopi-Silberschmied ist. Ich kenne die beiden jungen Leute seit vier Jahren, seit meiner ersten Feldforschung. Elaine hatte damals gerade ihren Sohn geboren. Elaine und Dave hüten heute den Laden und machen Silberarbeiten. Der Rest der Familie ist nach Santa Fe gefahren, um auf dem Annual Indian Art Market Hopi-Silber und katsina-Figuren zu verkaufen. Ich bin für ein paar Wochen als Besucher auf die Reservation zurückgekehrt, die Dissertation liegt hinter mir, wir verbringen viel Zeit zusammen. Durch das Fenster der Werkstatt können wir beobachten, wenn draußen Touristen vorfahren. Einmal fährt ein Wagen mit Südstaaten-Kennzeichen vor. Eine schwarze Frau mit ihren Kindern kommt in den Laden. Elaine geht nach nebenan in den Verkaufsraum. Die Frau macht ein bißchen Smalltalk und schaut sich die Vitrinen an. Nach einer Weile verabschiedet sie sich freundlich, ohne irgendetwas gekauft zu haben. Als Elaine zurück in die Werkstatt kommt, bleibt sie einen Moment in der Tür stehen, stemmt die Hände auf die Hüften und fragt im schleppenden Südstaaten-Singsang: „How y’all doin’ today?“ Wir lachen über diese glänzende Parodie der schwarzen Touristin. Später parkt ein großes Auto mit Texas-Nummernschildern vor dem Laden, und aus dem Wageninneren schält sich eine übergewichtige Familie in Freizeitkleidung: Vater, Mutter, zwei Kinder. Typische Rednecks, Touristen wie aus dem Bilderbuch. Sie kommen in den Laden, Elaine geht wieder nach vorne. Nachdem sie sich eine Weile die Auslagen betrachtet haben, gehen sie wieder. In der Tür fragt der Mann noch, wie er zurück auf den Highway komme. Elaine erklärt ihm freundlich den Weg. Durchs Fenster verfolgen wir interessiert, wie die Rednecks zurücksetzen, wenden, und prompt in die falsche Richtung losfahren. Wir lachen. Dave schüttelt den Kopf und meint lakonisch: „Dumb Pahaanas!“ Doofe Weiße, wirklich. Wir lachen, aber dann sieht mich Elaine schelmisch an und meint: „Good thing you’re half Hopi now.“
112 Alles Pseudonyme.
Sanner, Bilder der Fremden
Abb. 1 „The Delight-Makers.“ Aquarell des Hopi-Malers Fred Kabotie, ca. 1940. Museum of the American Indian, Heye Foundation, New York. Die Ritualclowns – hier sind es die schwarz-weiß gestreiften Koshare (koyaalam) – erscheinen mittags auf einem Hausdach, während die katsinam – hier sind es die „Langhaar-katsinam“ - auf der Plaza tanzen. Die Komposition von Kaboties Gemälde betont den Gegensatz zwischen der harmonischen Ordnung der tanzenden katsinam und dem vitalen Chaos der Clowns.
75
76
Konversionen Abb. 2 Keramikfigur eines Weißen, Pueblo Cochiti (Neu-Mexiko), nach 1880. Höhe: 45 cm. Sammlung Bandelier 1883. Foto: Dietrich Graf. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
Abb. 3 (unten) Tanz der Hehey‘ akatsinam auf der Haupt-Plaza von Oraibi, 1898. Foto: Karl von den Steinen. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Ein paar Schritte links von der Reihe der tanzenden katsinam erkennt man eine kniende Gestalt. Es ist der als weißer Fotograf verkleidete piptuqa, der gerade die katsinam „fotografiert“.
Sanner, Bilder der Fremden
Abb. 4 „Weißer Fotograf“. Clownsketch beim Tanz der Hehey’akatsinam in Oraibi, 1898. Foto: Karl von den Steinen. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen Berlin, Preußischer Kulturbesitz. Der piptuqa-Fotograf hat inzwischen die Plaza überquert und konfrontiert Karl von den Steinen. In den Händen hält er die Imitation einer Boxkamera, am Boden liegt seine „Stativkamera“.
Abb. 5 „Weißer Fotograf“. Clownsketch beim Tanz der Hehey’akatsinam in Oraibi, 1898. Foto: Karl von den Steinen. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
77
78
Konversionen
Abb. 6 „Weißer Fotograf“. Clownsketch beim Tanz der Hehey’akatsinam in Oraibi, 1898. Foto: Karl von den Steinen. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
Abb. 7 „Weißer Fotograf“. Clownsketch beim Tanz der Hehey’ akatsinam in Oraibi, 1898. Foto: Karl von den Steinen. Ethnologisches Museum, Staatliche Museen Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
“White Aboriginals”: White Australian Literary Responses to the Challenge of Indigenous Histories Russell West The “white Aboriginal” topos is a recent literary phenomenon which has appeared in contemporary Australian literature as a figure of reconciliation between white and black Australians after two centuries of white occupation of the continent. In this essay, I examine five novels which employ the “white Aboriginal” figure, extending from Patrick White’s A Fringe of Leaves (1976) to Stephen Gray’s The Artist is a Thief (2001). I conclude that the white Aboriginal figure does not genuinely offer models of reconciliation but rather works to stabilize notions of Australian cultural identity cast into question by the 1992 High Court Mabo decision, which affirmed the perpetuity of native title in Australia. In letzter Zeit ist der literarische Topos des „weißen Ureinwohners“ in der neueren australischen Literatur zunehmend zum Vorschein gekommen. Dieser Topos dient scheinbar als Zeichen für eine Versöhnung zwischen den schwarzen und weißen Bevölkerungen Australiens nach zwei Jahrhunderten weißer Besatzung. In diesem Aufsatz wird in fünf Romanen – von Patrick Whites A Fringe of Leaves (1976) bis hin zu Stephen Grays The Artist is a Thief (2001) – die Verwendung des Topos des „weißen Ureinwohners“ untersucht. Es wird gezeigt, dass dieser Topos nicht als Figur einer etwaigen schwarz-weißen Versöhnung fungiert, sondern vielmehr als eine Strategie zur Stabilisierung der weißaustralischen kulturellen Identität, die seit dem Mabo-Bescheid des australischen Verfassungsgerichtes 1992 (Feststellung des Vorrangs und der Unantastbarkeit schwarzer Landrechte im ganzen Kontinent) stark ins Schwanken geraten ist.
1. States of unsettlement White Australia has been, for much of its two centuries of existence, a society which has repressed the territorial expropriation and genocide upon which it was founded. In his 1968 ABC Boyer Lectures, the anthropologist W. E. H. Stanner spoke of “the great Australian silence” – “a cult of disremembering” – “a cult of forgetfulness practised on a national scale”1. This phenomenon of collective amnesia held sway into the 1980s, but has increasingly being exposed to the corrosive effects of indigenous political activism. Important milestones in the recent history of 1
W. E. H. Stanner, After the Dreaming: The 1968 Boyer Lectures, Sydney 1969, p. 25.
80
Konversionen
indigenous political visibility were the submission of the Bark petition to Federal Parliament in Canberra in 1963 by the Yolgnu people of Arnhem land; the Wave Hill protests in 1965 which culminated in the granting of wage parity for indigenous workers, and also contributed to the 1967 referendum granted indigenous people Australian citizenship; the tent embassy which indigenous activists planted on the lawns of Parliament House in 1972; the vociferous indigenous contestation of two hundred years of white occupation on the occasion of the 1988 celebrations; and of course Eddy Mabo’s lobbying and successive appeals, which led to the historic Mabo decision handed down by the High Court in 1992, and resulted in the Native Title legislation. These dates mark progressive stages in the relentless elimination of white Australian amnesia over the past third of a century. A similar phenomenon has occurred in white Australian literature, with an impressive upsurge of indigenous writing evinced since the 1960s. Symptomatic of this shift in the constitution of Australian literature was J. J. Healy’s registration of a paradigm change from white writing about indigenous people to indigenous codification of black experience in white Australia. Paradoxically, at the very moment when Australian literature graduated from non-existence within the academy, via a place within “commonwealth literature”, to the status of “postcolonial literature”, it also found itself in the position of “occupier” literature, colonizer writing.2 Of all the events mentioned above, the most significant was without a doubt the Mabo decision of 1992, which confirmed the existence across two hundred years of white expropriation of indigenous ownership of the land. To take the Freudian title of a book by Ken Gelder and Jane Jacobs, Mabo made Australia an “uncanny” place. The home of the European settlers abruptly became unsettling, “unheimlich”, the familiar suddenly became the unfamiliar, the majority became a moral minority, the erstwhile marginal suddenly became central and primordial.3 The uncanny process epitomized in Mabo had already been gathering momentum for more than twenty years, and White Australia has been reacting to that process in a variety of different ways ever since. In this paper, I attempt to trace white literary responses to the seismic upheavals in the white Australian consciousness over the past three decades by examining a literary topos which I call the “white Aboriginal”
2 3
J. J. Healy, Literature and the Aborigine in Australia, 2nd ed., St. Lucia 1989, p. xx. Ken Gelder and Jane M. Jacobs, Uncanny Australia: Sacredness and Identity in Postcolonial Australia, Melbourne 1998.
West, “White Aboriginals”
81
narrative: stories of white persons, escaped convicts or shipwrecked travellers who were taken in by indigenous tribes during the colonial epoch. This topos reworks historical narratives about figures such as the convict escapee William Buckley, the shipwrecked Eliza Fraser, or alternatively, the mythical white woman who was said to be held captive in the 1840s by the native peoples in Gippsland. I adopt the term “white Aboriginal” for strategic reasons, in explicit contrast to the earlier term “white Blackfellow” coined by Barrett to describe transcultural actors in the early contact period, and employed by more recent writers such as Julie Carr.4 The term “white Aborigine” was derived from Norman Mailer’s “white Negro” epithet and achieved prominence in Australian debates on “cultural convergence” in the 1980s. Meaghan Morris saw in Mick “Crocodile” Dundee the exemplification of the “white Aborigine”, “one of the privileged figures of postmodern rhetoric in Australian art writing” of the early 1980s.5 The AustralianLithuanian artist Imants Tillers wrote that the notion of cultural convergence “is attractive […] because it offers a painless way to expiate our collective guilt […] while simultaneously suggesting an easy solution to the more mundane but nevertheless pressing problem of finding a uniquely Australian content to our art in an international climate sympathetic to the notion of ‘regional’ art.”6 His paintings White Aborigines (1983) and I am Aboriginal (1988) aroused considerable controversy.7 Ian MacLean objects that Tillers appears to collapse Aboriginality into a (post)modern diaspora: “Here, the only place Aborigines have is as part of the modern diaspora, that is, as wanderers in a terra nullius. […] The effect was to de-Aboriginalise and de-essentialise Aboriginal art.”8 More recently, the term “white Aboriginals” has emerged as a specifically indigenous term of abuse, referring to indigenous people who profit from their pale skin as a means to social privilege in discriminatory white Australia.9 Thus the term can be seen as a site of contemporary cultural 4
5 6 7 8 9
Charles Barrett, White Blackfellows: The Strange Adventures of Europeans Who Lived among the Savages, Melbourne 1948; Julie Carr, “The White Blackfellow”, in: Island Magazine 56 (Spring 1993), pp. 71–2. Meaghan Morris, The Pirate’s Fiancée: Feminism, Reading, Postmodernism, London 1988, p. 260, 286n. Imants Tillers, “Locality fails”, in: Art & Text 6 (1982), p. 53. See Wystan Curnow, Imants Tillers and the “Book of Power”, North Ryde, NSW 1998, p. 25 Fig. 8, and p. 91 Fig. 23. Ian McLean, White Aborigines: Identity Politics in Australian Art, Cambridge 1998, pp. 116–7. See for instance the URL: http://www2.abc.net.au/message/telegraph/forum/posts/ topic40.shtm [25. 2. 2004].
82
Konversionen
contestation, one that is highly apposite to the discursive negotiations with political and cultural change discussed in this paper.10 In this essay, I read five avatars of the “white Aboriginal” figure, to be found in Patrick White’s A Fringe of Leaves (1976), Rodney Hall’s The Second Bridegroom (1991), David Malouf’s Remembering Babylon (published, significantly, a year after Mabo, in 1993), Liam Davison’s The White Woman (1994), and Stephen Gray’s The Artist is a Thief (2001).11 With one exception, these narratives deal with the interface of white and black societies during the first contact phase. Such stories offer a powerful metaphor of the ways in which the two societies interacted with each other in a safely distant past, and thus a way of working through white Australia’s contemporary relationship to a people whom it has recently discovered not to be despised guests, but rather, maligned hosts. Perhaps Malouf’s figure of the transcultural Gemmy, drawn in Jeff Fisher’s 1993 dustcover illustration balancing on a post-and-rail fence, his body shaded in tones of black, grey and white respectively, is the most captivating embodiment of the white Aboriginal figure. This “unsettled fellow” (Remembering Babylon, 7), the near neighbour who unsettles the Scots settlers in frontier Queensland, powerfully exemplifies the capacity of indigenous visibility in White Australia to disturb the nation’s self-image. I suggest that narratives of “white Aboriginals” are ways of trying to situate white Australia in relation to, and indeed, in many cases, to participate in and recuperate increasingly powerful discourses of Aboriginality. 2. Mediation or mirroring? It is significant that for the Nobel Prize Winner Patrick White, the issue of white-black relations addressed through the figure of the “white Aboriginal” is subsidiary to another aspect of Australian cultural consciousness – and thus, not surprisingly, is neglected within the programme set by his novel A Fringe of Leaves. White’s 1976 historical narrative sets out to lay bare one of the principle areas of amnesia in Australian cultural consciousness: the barbaric penal origins of the nation and the malaise it 10 I wish to thank my artist brother Edmund West for telling me about Imants Tillers during a gallery-crawl down Flinders Lane, and Stephen Gray, of the Law Faculty of Northern Territory University, for providing a plethora of helpful information not immediately available in Germany. 11 References in the text are to the following editions: Patrick White, A Fringe of Leaves, Harmondsworth 1983; Rodney Hall, The Second Bridegroom, London 1991; David Malouf, Remembering Babylon, London 1994; Liam Davison, The White Woman, St. Lucia 1994; Stephen Gray, The Artist is a Thief, Sydney 2001.
West, “White Aboriginals”
83
continues to create in contemporary society.12 On the way, White also gives a version of that other forgotten origin, the violent confrontation with Australia’s prior inhabitants. White’s protagonist Ellen Roxburgh, modelled on Eliza Frazer, is made to cross the border into primitivism in order to lay bare the harshness of colonial Australian society. It is her sojourn with an indigenous tribe persistently characterized in terms of hunger, dirt and brutality which is made to contrast with the no less barbarous penal regime. Similarly, Jack Chance, the escaped convict who rescues Ellen from the tribe and leads her back to white settlement, returns to indigenous tribal society because he (rightly) fears the dreadful punishments that will be meted out to him as an escapee. “They’ve murdered Mr Roxburgh,” she says, speaking of the natives, and then continues, “but will the whites – kill Jack?” (306). It is Mrs Roxburgh’s experiences of native “savagery” which permit her to transfer the white attitude towards “savage” black spearings to the workings of European “justice”. White is clearly not interested in creating a narrative of cross-cultural communication in the early contact period. The indigenous people among whom Ellen spends her period in the bush are never endowed with a language worthy of White’s attention, thus remaining outside the realm of genuine transcultural interaction. Ellen herself claims to have not been in the tribe long enough to learn the language (328), thus figuring it purely as an absence within the European consciousness. Ellen’s lack of linguistic competence means that for the reader, black society remains below the threshold of recognisable civic organization. This “white Aboriginal” does not offer the reader possible perspectives upon white-black interaction; its function is entirely subordinated to white Australia’s gaze upon its history – understood exclusively white. Only via the escaped convict Jack Chance, now a adopted member of an indigenous tribe, is any indication of social coherence in black society visible – and paradoxically, only via the transcultural mediation of the convict is a truly critical glimpse of white society available. Jack’s account of the spearing of Mr Roxburgh furnishes one of the few occasions when we are offered a view of things from the black side of the fence: “I heard tell […] among the blacks. They was provoked, though, by the whites” (262). Significantly, Jack decides against re-integration to white society, disappearing back into the scrub once Ellen reaches civilization (299). Thus the only mediator between the cultures which the book al-
12 See Kay Schaffer, In the Wake of First Contact: The Eliza Fraser Stories, Cambridge 1995, p. 159; Robert Hughes, The Fatal Shore: A History of the Transportation of Convicts to Australia 1787–1868, London 1988.
84
Konversionen
lows to appear is neutralized by the narrative, thereby figuratively ostending its own inability to transcend the ethnocentric point of view it embodies. Jack Chance thus stands for a “chance” which White neglects through the nature of his novelistic project. For White, black tribal society merely functions as a counterfoil to white colonial barbarism. Thus it must remain separate, in stark contradiction to the real historical dynamics of early black-white interaction, so as not to lose its contrastive function. What happens more frequently, however, is an odd shift of point of view, which far from righting the distorting ideology of barbaric “civilization”, inverts the historical situation of whites and blacks in post-invasion Australia. Ellen becomes a slave within the indigenous tribe. Her exhaustion and despair result in a “habitual state of mind, dull indifference” (251) which mirrors the passive indifference and apathy resorted to by the indigenous people as a protective strategy after two hundred years of oppression. At the same time, however, Ellen attains a special status within the tribe. In her everyday functions she is a slave, exploited and maltreated, but she also possesses a paradoxical symbolic status. “The Blacks were for the most part lost in open mouthed wonder as they examined the exhibit from every angle” (249). Here the indigenous people are figured as partaking in the musealization of the exoticized “Other”. To this extent Ellen’s situation also mimes that of the indigenous people in white Australian society, subjected to everyday exploitation and marginalization, but also celebrated as icons of essential Australianness, just as their cultural productions are reified and expropriated as images and artefacts for the tourist industry. In one very significant passage, White reveals the motivation behind his strange reversals of white and black social status: “Their faces were her glass, in which she and they were temporarily united, either in mooning relationship or mystical fantasy. What the blacks could not endure, it seemed, was the ghost of a woman they had found haunting the beach. They may have felt that, were the ghost exorcized, they might contemplate with equanimity the supernatural come amongst them in their own flesh.” (239; emphasis added, R. W.)
In this narrative, the black people function as a mirror for white society. The mirror reflects an image of the observer, but it also inverts reality and gives an illusory image. These narratives of “marginality” serve White’s superannuated “avant-garde” project, based upon a modernist “alienation effect”.13 The glimpse of black society and culture thus afforded is in13 See Simon During, Patrick White, Melbourne 1996.
West, “White Aboriginals”
85
strumentalized in service of a critique of white society. In this way, White’s narrative also elides the “ghost” of a black society with which genuine interaction was in some instances possible14 – an interaction towards which narratives of “white Aboriginals” could perhaps have pointed, but one which was perhaps as yet barely available to the white Australian cultural imagination of the mid 1970s. 3. Forging the new place Fifteen years later, Rodney Hall would repeat White’s scenario of the marginalized white member of a black tribe with his renegade convict character FJ in The Second Bridegroom. This time, however, a genuine coexistence of the white interloper and the black tribal members seems to be possible. The convict’s marginal position is not that of a slave, as in White’s Ellen Roxburgh, but is limited by his respect for the taboos and limits set on him by the indigenous group itself. FJ is shown the tribe’s sacred sites, their water holes and their food sources, perhaps in accordance with the obligation upon the custodians of a country to introduce newcomers to the country. Jimmy Mangayarri, of the Yarralin people, comments on the ritual of introduction, in which the visitor is “watered” so that the country now knows the person’s smell and will not harm him: “Dreams can smell other people. After you water him, that Dream knows him.”15 Deborah Bird Rose suggests that this ritual “also marks the strangers as people who, while no longer at risk simply by being there, are dependent. In acknowledging their status as strangers, they assent to these facts: that others are the owners, that their own knowledge is limited, and that the country has no real responsibility for them.”16 It is thus highly significant that FJ accepts that he cannot move of his own accord, nor search for food. “Not for the world would I trespass beyond the limits they set me. To my surprise, I realize now that I showed their taboos more respect than the taboos of my own folk” (40). Here the figure of chiasmus does offer an alternative image of blackwhite history – one where the power differential which guaranteed white superiority is inverted, so as to allow indigenous people to maintain their legitimate position of owners of the land, thus forcing their protégé to respect their space and customs. 14 See James Boyce, “Journeying home: A new look at the British invasion of Van Diemen’s Land: 1803–1823”, in: Island Magazine 66 (Autumn 1996), pp. 38–63. 15 Jimmy Mangayarri, quoted in Deborah Bird Rose, Dingo Makes Us Human: Life and Land in an Aboriginal Australian Culture, Cambridge 1992, p. 109. 16 Deborah Bird Rose, Dingo Makes Us Human, ibid., p. 109.
86
Konversionen
Of particular interest in Hall’s narrative is the protagonist’s awareness of the epistemic violence potentially inherent in language, and his care not to impose alien paradigms upon the new land: “When I could […] I promised not to try reading the messages I heard and smelled and touched, tasted and saw. I would respect them as having no use. None of them would be the same tomorrow” (21). Such ideals are not always feasible, and he does resort to calling his protectors “Men” as being “cleaner than clumsy dodges with roundabout words, which would lead with an even greater plague of English spreading in a world which English has no right to. […] Order is a way of trapping anything wild, tricking us into the game of thinking we understand. […] So each of my saviours was a man – and I prayed I would not be forcing them into a frame too rigid if I thought of them in secret as Men” (41–2). This humble stance allows him to remain receptive for the land around him, which gradually takes on a meaning not previously available. He continues to refer to the bush as chaos, thereby contrasting it with the repressive order of transplanted white civilization. Chaos, he claims, is not subjected to the strictures of a foreign linguistic regime, and thus unfolds itself for the receptive newcomer. Here Hall appears to sketch a potential model for mutually respectful and careful negotiation between black and white Australia. However, no verbal communication comes to pass in Hall’s novel: “although I gave signals upon which they might sometimes act there was no give-and-take between us. What I did, they observed. What they did, I observed” (86). This may be a reluctant admission that reconciliation along the line of a fusion of cultures is not possible at the current time, as many commentators believe today. Halfway through the text, after a frontier skirmish, the Men simply disappear from sight, never to be seen again. In the second half of the book, the land is strangely depopulated; it has become the empty land which the whites claim to have “discovered”. Now endowed with indigenous knowledge, the white narrator tries to pass on to his beloved, Mrs Atholl, his new view of the now “empty land”. Knowledge has been passed on, to the advantage of white society, but no real integration has actually occurred, and indigenous society has noiselessly disappeared from the historical stage. Hall’s text is superficially more aware of the imperial character of exogenic sign systems than White’s text, and affords the indigenous people are more generous hearing. None the less, it marginalizes them from its landscape as they were historically marginalized from the Australian landscape, pushed back into more and more remote enclaves by the advance of settlement and armed expulsion. Yet the terms of exchange
West, “White Aboriginals”
87
merely mirror the expropriation of indigenous knowledge upon which White settlement and the elaboration of European society has always depended, but never acknowledged. The reasons for the disappearance of the indigenous people are never given in Hall’s text. To that extent, the text appears to participate in white Australia’s “forgetting of its forgetting”, performing an erasure which elides its own action. One is reminded of what appears to be a similar case of disavowal in White’s Tree of Man: “It’s not known how or why the district in which the Parkers lived got its name, but it was about the time of the floods that the official voice began to refer to it as Durilgai. And this meant ‘fruitful’, a friend of Mr Armstrong’s who was a professor, or something, said. But the people who lived in that district were disinclined to use their name, anyway for a long time, as if something was expected of them that they could not, or did not care to, fulfil.”17
Only the vaguely sensed breach of contractual obligation aroused by the resurfacing of an elided indigenous trace points towards some sort of responsibility created by the re-emergence of the place name. It is significant that Hall’s entire narrative is written in the second person: the writer addresses a loved woman, to whom he wishes to convey his new knowledge. The text is addressed to white Australia, from the borders between the old and new lands. It is not a communication between black and white, for this interaction has melted away by the time of FJ’s writing. It is hardly surprising, then, that his narrative deals with the white relationship to the enigmatic continent, and not with the original inhabitants of that continent. Paul Carter has commented on the way in which white discourses of the dilemma of the land function as a symptom whose latent content is the genocide committed against indigenous peoples. With the marginalization and eradication of the indigenous people, their relationship to the land was lost, so that the link had to be onerously re-established by the white settlers.18 As in White’s novel, the transcultural figure of the “white Aboriginal” serves less the cause of black-white reconciliation than the legitimization of white Australia’s purchase on expropriated land. A particularly important strand of metaphors within the novel is that of forgery. FJ is transported to Australia for the forgery of a Caxton text, a fraud so expertly executed that he is initially charged with the “theft of a national treasure” (101). Elsewhere he claims that the White settlement of 17 Patrick White, The Tree of Man (1956), Ringwood 1961/1965, p. 99. 18 Paul Carter, The Road to Botany Bay, London 1988, p. 343.
88
Konversionen
Australia tries to make the southern continent a cheap forgery of Europe (103, 194) – and it is precisely for this reason that the narrator so passionately tries to convey his new-found knowledge of Australia to his female “patron”, in the hope that the land will be allowed to persist in all its alien and irreducible beauty. But we need to ask to what extent his account of Australia, in so far as it excludes the original owners, in fact registers the theft of an indigenous “treasure”, the land itself, passed off as “legitimate” expropriation. The narrator conveys an entirely positive value upon the work of forgery, emphasizing the forger’s love for the original, his dedication to something that is unique, and thus only then worth replication (159, 185). This is “legitimate” forgery, justified theft. The book declares FJ’s love for Australia, but it is a love which uses and then displaces indigenous presence in its narrative sequence. Hall’s marginalization of the land’s copyright owners suggests that in the long term, the text is actually complicit with the theft of their inalienable property perpetrated by White Australians for the past two centuries. What becomes of the “white Aboriginal” motif after 1992 and the definitive naming of that expropriation in the High Court’s Mabo decision? 4. Speaking for the Other As the first of the five “white Aboriginal” narratives examined in this paper to be written in the aftermath of the Mabo decision, Malouf’s 1993 novel Remembering Babylon could justly be expected to engage with the issues of reconciliation and reparation raised by the High Court’s historic stance. The story of the half-white, half-black Gemmy’s appearance in a small Queensland frontier settlement, his adoption by a family of Scots settlers, his eventual exclusion, his return to his earlier tribal belonging, and his final death in a “dispersal” cannot but bear an exemplary significance. The sheer technical perfection of Malouf’s writing contributed to the symbolic weight attributed to the novel. Not without good reason, Malouf’s luminous novel was hailed almost unanimously by critics (with the exception of Germaine Greer) as a brilliantly inspired tribute to the ideals of reconciliation.19 It is likely that Malouf is well aware of the “white Aborignal” tradition within which he wrote. Malouf’s Gemmy has a curious predecessor in White’s Fringe of Leaves, in which Jemmy, one of the native station 19 For an overview of the debate unleashed by Greer’s critique, see Julie Carr, The Captive White Woman of Gipps Land: In Pursuit of the Legend, Melbourne 2001, p. 280, 74n; and Suvendrini Perera, “Unspeakable Bodies: Representing the Aboriginal in Australian Critical Discourse”, in: Meridian 13: 1 (1994), pp. 15–16.
West, “White Aboriginals”
89
hands, makes an appearance at the window at Mrs Oakes’ farm, frightening Ellen Roxburgh, who fears that the blacks have come to recapture her (305). Certainly Malouf would appear to be acutely sensitive to White’s authority, and also of some sort of “anxiety of influence” at work in that burdensome heritage, as his prudent public critiques of White and his thematizing of the issue in Child’s Play (1982) indicate.20 But to what extent does Gemmy the ship’s boy constitute a genuine transcultural actor? With Malouf’s novel, there occurs a decisive transformation of the “white Aboriginal” narrative. This time, the transcultural actor is genuinely integrated into a tribe. Malouf tracks the process of Gemmy’s insertion into a new culture after being shipwrecked off the Queensland coast. He goes so far as to record in poetic detail the learning of the indigenous language (27), rather than simply noting the loss of the old one, as White and Hall do. Malouf works to portray his version of an indigenous concept of the natural world and lived environment, and focuses intensively upon the protagonist’s place between two languages. Conversely, however, Gemmy’s identity subsequent to his return to the white settlement remains that of the barely integrated indigenous person on the margins of white society. Predictably, that society does not accept him as white, and ejects him violently after a brief sojourn. If there is a transcultural character in the novels examined in this essay who really embodies the cultural impact of Mabo, it is Gemmy. He incorporates the uncanny – the eruption of unfamiliarity in the midst of the familiar – which was unleashed by the rediscovered persistence of native title. Neither White’s Ellen Roxburgh nor Hall’s FJ ever really integrate to tribal society. Gemmy, by contrast, does enter indigenous society, and never really comes back. Mrs McIvor wrangles with her neighbours: “They were forgetting, she told them frostily. Gemmy was white” (78) – but for the Scots settlers, he remains a synecdoche of the Blacks (42), as he does, I suggest, for Malouf. Whence the power and at the same time, the risk inherent in Remembering Babylon – a deep ambivalence which I shall attempt to elucidate in what follows. Gemmy is hailed in Mr Frazer’s euphoric writing as a hybrid, a transcultural being. “Our poor friend Gemmy is a forerunner. He is no longer a white man, or a European, whatever his birth, but a true child of the place as it will be one day […] in allowing himself to be at home here, he has crossed the boundaries of his given nature” (132). Mr Frazer’s im-
20 Malouf, interview with Ray Willbanks, “A Conversation with David Malouf”, in: Antipodes 4:1 (Spring 1990), p. 16; Child’s Play, with Eustace and The Prowler, Ringwood, VIC 1983.
90
Konversionen
mensely appealing perspective upon cultural fusion culminates, however, in an apolitical focus upon the white relationship to the land and the hope of benefit from black knowledge of the land, without acknowledging the process of expropriation which has accompanied the establishment of white tropes of space: “We have been wrong to see this land as hostile and infelicitous[…] It is habitable already. […] We must humble ourselves and learn from them [the indigenous people]” (129–30). The violence of conquest is belatedly acknowledged at the end of the novel when Lachlan searches for Gemmy’s grave at the site of a “dispersal”, but this note of disharmony is swiftly erased by the transcendent, totalizing tones of the novel’s conclusion: “all the outline of the vast continent appears, in touch now with its other life” (200). The suspicion that this utopian moment of union does not operate an acknowledgement of “the other life” so much as its assimilation, hardens upon examining Malouf’s narrative technique in more detail. In Remembering Babylon, Malouf makes extensive use of Free Indirect Discourse (FID) and related narrative devices in order to represent the thoughts of his character Gemmy, in particular, and the indigenous cultural universe, in general. FID works to facilitate reader empathy with characters by blurring the boundaries between characters’ thoughts or statements and narrative enunciation.21 To this extent it could be said to perform the work of “transcultural border-crossing” which is the novel’s principle theme. At the same time, however, it creates ineradicable political problems. When Malouf tells us that Gemmy’s stammer “belonged to someone he thought was lost”, or that there was “so much dislocation between what he meant to convey and the few words he could recover of his original tongue” (14, 16; emphasis added R. W.), the reader is confronted with the problem of knowing who determines what Gemmy thought or meant: is it Gemmy himself or his Scots settler interlocutors or the Maloufian narrator? The narratological aporias of Malouf’s technique become acutely apparent in a character who can barely speak English, yet is fluent in FID (for instance 22–3).22 While offering advantages of readerly identification, FID runs the strong risk of overbalancing into discursive annexation – that is, of arrogating 21 See Monika Fludernik, The Fictions of Language and the Languages of Fiction: The Linguistic Representation of Speech and Consciousness, London 1993, pp. 72–82. 22 A similar aporia is to be found in W. E. H. Stanner’s otherwise acutely (self-)critical After the Dreaming (ibid., p. 12): “On the outskirts of the settlements there were a few groups of ‘myalls’ (bush natives), who were as wild as hawks, timid and daring by turns, with scarcely a word of English, and in two minds what to do: drawn towards the settlement ... but unreconciled to the prospect of a sedentary life”.
West, “White Aboriginals”
91
the right to read someone else’s thoughts, of invading their private world. To think oneself into others’ skin is of course one of the most primordial tasks of the novelist. Indeed, the impulse to create organic fictional subjectivities has been selected as one of the defining characteristics of Malouf’s literary oeuvre.23 But this undertaking is extremely problematic in the context of the long expropriation of black knowledge and discourse by white anthropologists and writers. In a highly pertinent anecdote, Espeth Probyn tells how her white Canadian grandmother “liked to inhabit the skins of others” through her poetic imagination – a statement is greeted with ironic scepticism by her Koori interlocutor.24 The problem of cultural expropriation is highlighted by Joseph Wambugu Githaiga: “The protection of indigenous folklore and knowledge has become a pressing issue both within Australia and abroad. This has been due to the development of a lucrative international trade in indigenous heritage, which has seen most of the economic benefits diverted to nonindigenous persons and institutions. […] For indigenous people the graver and more reprehensible consequence of the commercialisation of their heritage is the denigration of their cultures through the use of heritage in culturally inappropriate ways.”25
It is only necessary to move from the level of the individual character Gemmy to that of indigenous cultural attitudes in general – as in the descriptions of the cultural universe in which the young boy Gemmy grows up, or the mystical communion of Gemmy and his fellow tribespeople (26, 117–18 ) – to establish the deeply problematic nature of Malouf’s “reconciliation” project. Upon closer examination of Malouf’s use of FID and similar narrative devices, one is tempted to read the characterization of Mr Frazer, engaged in taking down Gemmy’s account, as a displaced description of Malouf’s own undertaking: “It was Mr Frazer’s belief that the sympathy he felt for the man, which was very strong, gave him an infallible insight into what he was trying to get out” (17). Good will, indeed love for the object, may not be sufficient justification, in the Australian context, for cultural forgery and appropriation. The epistemologi23 See for instance the title of Philip Neilsen’s Imagined Lives: A Study of David Malouf, St. Lucia 1990. 24 Elspeth Probyn, “Eating Skin”, in: Sara Ahmed and Jackie Stacey (eds.), Thinking Through the Skin, London 2001, pp. 89–90. 25 Joseph Wambugu Githaiga, “Intellectual Property Law and the Protection of Indigenous Folklore and Knowledge”, in: E Law - Murdoch University Electronic Journal of Law 5: 2 (June 1998), Para 3. URL: http://www.murdoch.edu.au/elaw/issues/v5n2/githaiga52nf.html [25. 2. 2004].
92
Konversionen
cal annexation evinced in Malouf’s novel is of no small significance, given the prominence of its author, and the exemplary status attributed to the text a year after Mabo. Malouf is infinitely more ambitious than White and Hall in what he attempts, but thereby strays into the risky area of “speaking for” Gemmy and “his people” (64), and by extension, for Australia’s indigenous population in general – at a time when a large number indigenous writers are using the public platform clearly available to them, thus making white incursion into this discursive space both superfluous and presumptuous. Malouf’s description of Gemmy as an “in-between character who would have been in contact with that culture and would be able to stand for that culture but wouldn’t speak directly for it”, and his curious claim that “His silence is their silence. He stands as an emblematic figure” appear less than credible in this context.26 Certainly there is reason to believe that such experiments are technically not entirely successful. To whom are we to attribute a disturbing statement in FID such as the following: “Till they arrived no other lives had been lived here” (110): is this the settler-wife Ellen McIvor’s thought, or the text’s conviction, and how are we to decide? – as we must, given the inflammatory nature of such an utterance. It may well be that Malouf’s relatively traditional narrative style, with its fairly unified narrative voice and plot structure, is inadequate to deal with the discursive rifts and conflicts he is speaking of. Possibly, a more radically disruptive or disrupted structure would be necessary to indicate genuine respect for indigenous discourse. Helen Gilbert’s verdict on Malouf’s Blood Relations equally well summarizes the dilemma evinced by Remembering Babylon: “So, despite Malouf’s desire to ‘let an Aboriginal voice take control of a major stage’ in Australia, language remains a strategy of containment in the play, no doubt partly because of the playwright’s limitations as an articulator of Aboriginal speech registers.”27 In this context, it is difficult to avoid the impression that Malouf’s ventriloquizing of indigenous discourse, embodied in the “inbetween creature” Gemmy (28), serves not to create reconciliatory reader-character relations – but rather, that Gemmy’s hybrid status serves as the basis for a white bridgehead into the territory of indigenous discourse.
26 David Malouf in an interview with Nikos Papastergiadis, Dialogues in the Diasporas: Essays and Conversations on Cultural Identity, London 1998, p. 85. 27 Helen Gilbert, Sightlines: Race, Gender and Nation in Contemporary Australian Theatre, Ann Arbor 1998, p. 42; the embedded quotation is from Jane Heath, “Malouf: Relatively Speaking”, in: Weekend Australian, 18–19 July 1987, p. 11.
West, “White Aboriginals”
93
Exemplary here is Malouf’s usage of “you” in some sections of Remembering Babylon: “Could you lose it? Not just language, but it. | It. For the fact was, when you looked at him sometimes he was not white. His skin might be but not his features” (40; emphasis in bold type added R. W.). In FID, with its implicit phatic appeal to the reader, “you” means “one”, but is also subject to the “referential slither” affecting the use of “you” in second person narratives28, and by extension, in FID narration. Thus Malouf’s narrative discourse appears to address the White Australian audience which is the ultimate descendant of the novel’s Scots settlers in Central Queensland. For them, Gemmy is and remains “other” and disturbing because he presents the possibility, for instance, of what their own children could become. In the context of post-Mabo “uncanny Australia”, the loss affects less the whiteness of skin than the the very sense of national identity based upon a “sense of place” previously unquestioned. A striking transition from third-person narration to the ambiguous use of “you” in one of the descriptions of Gemmy’s life with the tribe is even more revealing: “Watching out for it, and for himself, he got into his mouth as much of its fat and flesh as he could manage, its names too, its breath. What kept you alive here was the one and the other, and they were inseparable: the creature with its pale ears raised and stiffened, sitting up alert in its life as you were in yours, and its name on your tongue. When it kicked its feet and gushed blood it did not go out of the world but had its life now in you, and could go in and out of your mouth for ever, breath on breath, and was not lost, any more than the water you stooped to drink would cease to run because you gulped in down in greedy mouthfuls, then pissed it out.” (Remembering Babylon, 26; emphasis added R. W.)
The “you”, and the possessive “your” in particular (reinforced by the thematics of naming and eating as modes of appropriation), offers the white reader the illusion of participation in indigenous culture, of “crossing the line”, and thus of mastering the uncannily shifting border which has been unsettling Australian cultural identity since Mabo. In this way the novel both addresses white anxieties and offers mechanisms of recuperation in which new forms of cultural appropriation compensate for a rising sense of “dispossession”. Certainly this is a broader trend perceived
28 The term is that of Helmut Bonheim, “Narration in the second person”, in: Recherches anglaises et américaines 16 (1983), p. 76; see also Monika Fludernik (ed.), Second-Person Narratives, Special issue of Style 28: 3 (1994).
94
Konversionen
by indigenous people in Australia. In empirical research carried out by Heather Goodall on post-Mabo historical consciousness, it transpired that “virtually none of the indigenous respondents were interested in moving towards a […] narrative of ‘Australian’ history to which all could lay claim.” Rather, the notion that “non-indigenous Australians could lay claim to the millennia of indigenous ownership of and traditional knowledge about the continent” was regarded by indigenous respondents as “a way for invading newcomers to stake a claim to ‘belonging’.”29 Remembering Babylon thus appears, among other functions, to be an attempt to restabilize unsettled cultural boundaries, to quell the uncanny unleashed since Mabo. Indeed, this is the implicit verdict delivered by two novels which appeared after Remembering Babylon and place the “white Aboriginal” topos in unrelentingly critical light. 5. The white Aboriginal as mirage and myth Liam Davison’s The White Woman (1994) casts into question the three preceding “white Aboriginal” novels by concentrating upon this topos as a purely discursive phenomenon. Davison’s ironic novel never allows us to meet this “historical” avatar of the white Aboriginal. The nineteenthcentury white woman of the title, ostensibly kidnapped by the indigenous tribes of as yet unsettled South-Eastern Victoria, remains a mirage or will’o’the wisp which permanently recedes before the search party’s gaze. In this way, the author underlines the illusory character of the white woman, emphasizing her function as a screen for white projections and as justification for the brutal subjection of native Gippsland. The narrator indirectly comments upon the other “white Aboriginal” narratives and their persistent recasting of early colonial history: “You have to give it [the past, R. W.] shape. And even then, when you think you’ve got it nailed – the right events in the clearest possible order – it squirms into the present and changes things. It should be settled but it isn’t. Don’t I still see her? Still hear her voice?” (3). In this narrative, there is no idealized transcultural actor to be found, but rather, white discourses which legitimize the exploration/appropriation of as yet unconquered tracts areas of Gippsland, the massacre of indigenous groups, and the self-justification of search-party members only too aware of their complicity in the atroci-
29 Heather Goodall, “Too Early Yet or Not Soon Enough?: Reflections on Sharing Histories as Process”, in: Kate Darian Smith (ed.), Challenging Histories: Reflections on Australian History, Special Issue of Australian Historical Studies 118 (2002), p. 11.
West, “White Aboriginals”
95
ties committed by the local settlers.30 The projection of the fictive whitewoman image, with its brutally effective militaristic-imperialistic outcome, is the discursive correlative of Malouf’s FID as a “merely novelistic” occupation of indigenous cultural territory. Davison constantly stresses the involvement of the press in the search party’s expedition, and the moulding of public expectations around a fiction of white-black interaction. His use of second-person narration, a technique shared with Hall, foregrounds the fact that, in the words of the semiotician Peirce, signification is always signification for someone, “stands to somebody for something […] addresses somebody”31. Davison’s narrative devices suggest that whatever original experiences of cross-cultural exchange may have occurred at the time (experiences which are in any case never retrievable in their pristine, pre-discursive originality32), the white narratives which have recycled those experiences have only served white ends. The sheer non-existence of the white woman lays bare the exclusively ideological, manipulative interests served by the story-telling. Her permanently receding image generates ever new and fresh discursive structures, of which Davison’s novel is avowedly a further instance – but one that ostentatiously betrays the cause. 6. White Aboriginals, white thieves In our last exemplar of the “white Aboriginal” narrative, Stephen Gray’s The Artist is a Thief (2001), the transcultural actor himself figures as forger and thief. The world-famous indigenous painter Margaret Thatcher Gandarrwuy exhibits a painting which is discovered to have been vandalized, the canvas slashed and the words ‘The artist is a thief’ scrawled across it. It transpires that Margaret Thatcher Gandarrwuy has been losing her sight, and that her white manager, Guy Randhawa, who identifies himself as a “truly […] Aboriginal” in the last pages of the novel (275), has taken over her work and her persona (his name is an anagram of hers – 274). When he appropriates motifs taken from the ancestral territory of another member of the community, the offended party takes action, acting as the responsible custodian of a specific cultural heritage. “ ‘It was 30 Some of the historical background to Davison’s novel is documented in Peter D. Gardner, Gippsland Massacres: The Destruction of the Kurnai Tribes 1800–1860, 2nd ed., Ensay, VIC 1993. 31 Charles Sanders Peirce, Collected Papers, ed. Charles Hartshorne and Paul Weiss, Cambridge, MA 1974, I/II, p. 135. 32 See Chris Healy, From the Ruins of Colonialism: History as Social Memory, Cambridge 1997, pp. 159–89.
96
Konversionen
his country on the painting. Nobody should have been allowed to paint that without his permission. To him that was theft – or worse than theft, desecration. The colours weren’t even right, or the stories. […] It was a white person. No Aboriginal person would have painted such a thing’ ” (249). The vandal’s defacement of the painting is a way of “stealing back” what has been illicitly taken by the self-styled “white Aboriginal”. In Gray’s novel, the “white Aboriginal” discourse frees itself from complicity in cultural theft by consigning that function to the transcultural character himself. But this self-liberation is simultaneously an unequivocal condemnation of cultural theft masquerading as cultural fusion. Gray distances himself from all forms of cultural expropriation: his protagonist, the young financial advisor Jean-Loup Wild, sent up from Melbourne to audit an indigenous art centre’s book-keeping, is made acutely aware of the limits of his knowledge of indigenous culture and the boundaries which he cannot overstep; Gray is careful only to use indigenous names which do not infringe upon traditional customs ([vii]); and the sources of his fiction are acknowledged in detail ([v–vi], 281–2). To that extent, the author rigorously follows the interrogations he has articulated elsewhere in a theoretical context: “how far should indigenous or non-indigenous authors – either painters or writers – go when ‘speaking about’ Aboriginal people today? At a certain point it is clear that permissible reference or depiction becomes impermissible, and unethical, appropriation. For writers, that points exists somewhere along a spectrum between an author who depicts an Aboriginal presence as a minor character in a novel, to a major character or a narrator, to an author who herself trades upon her Aboriginal experience and ‘street cred’, or even claims to be Aboriginal herself.”33
In his fiction, Gray picks up the issues of forgery raised by Hall’s fiction and those of narrative perspective raised by Malouf’s text, so as to implicitly point out the pitfalls of “white Aboriginal” narratives. 7. A bankrupt topos? The figure of the “white Aboriginal” offers, at first glance, the possibility of exploring potential forms of cross-cultural communication or cultural hybridization in Australian society. At closer examination, however, 33 Stephen Gray, “In Black or White, or Beyond the Pale?: The ‘Authenticity’ Debate and Protection for Aboriginal Culture, Pointing the Literary Bone”, in: Australian Feminist Law Journal 15 (December 2001), pp. 105–6. I am grateful to Stephen Gray for sending me a copy of this article.
West, “White Aboriginals”
97
“white Aboriginal” narratives can be seen to be engaged in ongoing forms of expropriation, particularly as regards the availability of indigenous cultural resources for unsanctioned white consumption. Thus politically enlightened motivation on the part of these novelists does not preclude the participation of their texts in discursive formations which perpetuate long-lasting structures of cultural annexation. Several indices for this diagnosis can be found. First, these stories appear to be told primarily for the benefit of white Australia, in order to assuage white anxieties about the shifting political, territorial and discursive hegemonies within Australian culture. Liam Davison articulates explicitly the sense that “white Aboriginal” narratives may primarily be addressed to white sensibilities. He deconstructs the performative effects of “white Aboriginal” narratives by enacting the collision of phatic reader-address with the naked admission of cultural self-legitimization: “It was us, you see? It was exactly what we wanted. […] our own stories came spinning back on us the way we’d always told them, as if they knew all along it was our own voices we wanted so much to hear” (The White Woman, 138–9). Here Davison delivers an ironical commentary on all the preceding “white Aboriginal” narratives. Far from projecting a potential site of black-white communication, they merely reflect white aspirations to annex the indigenous discursive territory abruptly out of white control since Mabo. Secondly, discourses of reconciliation which may survive the subjection of the “white Aboriginal” narrative to this sort of ideology critique are none the less hampered by the fact that they proceed from privileged white speakers. There is no reason to assume that the forms of reconciliation proposed by dominant white society should be inherently attractive to other groups still experiencing discrimination. A manifesto issued by the activist Robert Eggington on behalf of the Nyoongah people explicitly addresses this question: “We oppose Nyoongah Culture being exploited and used to create a false Illusions of Reconciliation.”34 Offering “false Illusions of Reconciliation” would appear to be one of the unavowed functions of the “white Aboriginal” topos. Such reconciliation, akin to the “normalization” proposed to the German Jewish community by the conservative German establishment in the 1980s, tends to be a “generous” offer made to victims by perpetrators, on terms dictated by the latter party. “In the media”, comments Heather Goodall, “the phrase 34 Robert Eggington, “Jangga Meenya Bomunggur (The Smell of the White Man is Killing Us)”, in: Anne Brewster, Angeline O’Neill and Rosemary van den Berg (eds.), Those who Remain Will Always Remember: An Anthology of Aboriginal Writing, Fremantle 2000, p. 134.
98
Konversionen
most often heard has been reconciliation for Aborigines, as if this were a new welfare ‘hand-out’ to be magnanimously granted to Aborigines or withheld if they did not appear grateful enough.”35 Discourses of “cultural convergence” or “hybridity”, of which the “white Aboriginal” topos is one prominent avatar, are similarly problematic. Suvendrini Perera comments on white notions of hybridity and their “settling” effects in terms which are pertinent to the “white Aboriginal” figure of the transcultural actor: “With its reliance on the willed combination of two prior, given components, hybridity seems an easy answer to the troubled questions of identity posed by settler societies, and one that erases the complexities of the process for its indigenous subjects.”36 In the light of these considerations, one could well conclude that under the present circumstances, the “white Aboriginal” topos is too politically and morally compromised to provide a creative model for future blackwhite relations in Australia. In this context, it would appear impossible to endorse the positive reception of such narratives given by critics such as Julie Carr.37 A more productive alternative than the formulation of white versions of reconciliation might be the analysis, by white cultural critics, of ongoing white discursive practices of cultural annexation. The present article hopes to make a contribution to that critical project.
35 Heather Goodall, “Too Early Yet or Not Soon Enough?”, ibid., p. 8. 36 Suvendrini Perera, “Unspeakable Bodies”, ibid., p. 19. 37 Julie Carr, The Captive White Woman of Gipps Land, ibid., pp. 242–6.
East, West: The Dislocation of Culture Madelena Gonzalez Der Aufsatz untersucht Salman Rushdies Kurzgeschichtensammlung East, West, deren Lektüre einige Schwierigkeiten bereitet. In vier Abschnitten wird gezeigt, auf welche Weise Rushdie unterschiedliche Varianten von Ort- und Heimatlosigkeit als dem Leben in einer Heimat überlegene, weil produktivere Existenzformen entwirft, indem er die Möglichkeit der Gewissheit unwiderruflich der Lizenz zum Erzählen opfert. Rushdies Kurzgeschichten rufen zahlreiche (geographische, ästhetische, sprachphilosophische, strukturelle) Kategorien bloß auf, um sie zu destabilisieren; hinter der strukturierten Fassade der Geschichten liegt ein Chaos, das er in Form von bricolage, Patchwork und Pastiche aus den Bruchstücken der Tradition gestaltet. Die in Rushdies Texten vorkommenden Fälle von Übersetzungs-, Sprach- und Sprechfehlern sind konstitutive Fehlleistungen und führen die Unabgeschlossenheit der Sprache vor, aus der es kein Entkommen gibt, die aber die Figuren zur Mobilität zwingt und ermutigt. Vorstellungen von Heimat und Verortung können nicht einmal mehr in der Sprache gefunden werden, weil die literarische Sprache bei Rushdie die Verfremdung des Vertrauten betreibt und in einer im Vergleich zum Traum invertierten Parodie des Unheimlichen daran arbeitet, das Unvertraute allzu vertraut zu machen. Through an analysis of Salman Rushdie’s collection of short novels, East, West, Madelena Gonzalez shows how Rushdie demonstrates several forms of homelessness, of decentering and of delocalization and demonstrates why they are superior to living in a native country. Homelessness and delocalization are more productive forms of life; a thesis Rushdie shows by sacrificing the principle of certainty to narration, to the licence to tell. Rushdie’s short novels exploit a lot of categories (geographic, aesthetic, philosophical, linguistic, structural ones) just in order to destabilize them; behind the well-structured façade of the stories, the reader finds a chaos which the author creates by the technics of bricolage, patchwork and pastiche from the fragments of tradition. Many cases of translation mistakes, linguistic mistakes and infelicitous speech acts are constitutive slips and blunders showing the openness and de-seclusion of language, from which there is no escape. Rather, that enables the figures to mobility. There are no traces of home places and localization in language, because Rushdies literature alienates the familiar and, as an inverted parody of the uncanny, transforms the uncanny to the all-too-familiar.
1. On the Road to Nowhere East, West, Rushdie’s collection of short stories, is generally considered a minor work and has generated far less interest than Haroun. Of the fulllength studies of his fiction to date, only two, Goonetilleke and
100
Konversionen
Massery/Porée, have devoted whole chapters to it, while Grant gives it short shrift at the end of a piece on Haroun, and Cundy mentions it in passing. This lack of enthusiasm is largely due to its rather awkward place in the Rushdiean canon where it is dwarfed by the massive (in both senses of the word) achievements of Midnight’s Children and The Satanic Verses before the fatwa, and The Moor’s Last Sigh and The Ground Beneath Her Feet afterwards. In comparison with these, it appears limited both in scale and scope, a judgement which could be justified by its espousal of a minor, or marginal, and elusive, genre; the short story. Haroun too was somewhat marginal, generically, with its possible label of “fairy tale”, but nevertheless laid claim to status as a novel. The discomfort experienced in front of East, West is of another order, linked not only to its choice of fictional form, but above all to the feeling of untidiness or loose ends experienced by the reader, despite the volume’s assertion of coherence through its outward organization. This collection of short stories, six of which had been previously published1, forms a heteroclite ensemble, artificially linked, or more accurately, sundered, by geographical belonging and a comma. In a typically Rushdiean attempt to express a rationale for the volume, the author has claimed identity with the comma as expressing his own cultural location between two opposites.2 However, the effect of East, West’s very deliberate design is to suggest a multitude of possible paths of meaning, none of which ever reaches a satisfying destination, precisely because it deals, above all, with the problem of representation, simultaneously suggesting and sabotaging trails of significance; the expression of the “genetic indetermination” and “seminal adventure of the trace” described by Derrida.3 Thus, for example, on the formal plane, the realistic preoccupations of the first section (East) are opposed to the bizarre and fantastical tone of the second (West), a testimony, perhaps, to the struggle to adapt of the Eastern migrant consciousness as it confronts the otherness of the West and an astute inversion of the habitual cliché of the exotic East. However, this impression is somewhat belied by the final story in this first section, The Prophet’s Hair, which seems to have come straight out of The Arabian
1 2 3
In the acknowledgements, Rushdie informs his readers that the three stories in the last section, East, West had not been published before. Salman Rushdie, “Interview: Homelessness is where the art is”, in: The Bookseller (July 15th 1994), p. 50. Jacques Derrida, “Structure, sign and play in the discourse of the human sciences”, in: David Lodge (ed.), Modern Criticism and Theory, London 1988, p. 121.
Gonzalez, East, West
101
Nights4 and reinstates the fantasy world of Orientalism5, leaving us “gazing once more on the beauties of the valley of Kashmir”6. This setting-up of categories only to destabilize them is a suitable introduction to other variations on strangeness in the second section, where linguistic confusion is the manifestation of the messiness contingent on the decanonization and decolonization of perception. Transporting the reader from Eastern myth to the Elsinore of Hamlet in one fell swoop, the opening story of the second section sets the tone by unearthing the corpse of the Western canon and proclaiming its irrelevance in the most perverse of graveside tributes. Having set out on the Yellow Brick Road via the fantasy land of The Auction of the Ruby Slippers, the reader rapidly finds himself in a nightmarish space where the boundaries between the real and the imaginary are permeable and translation or crossing over has become a terrifying experience of otherness; the existential splitting made manifest in the closing story of part two, in which Columbus in exile further unsettles the absolutes of location by introducing the idea of an exotic far West to be discovered, the exciting but frightening double of the Orient. The tripartite form which encourages the reader to expect a thematic, linguistic and formal resolution in part three to the problems raised by the juxtaposition of parts one and two, results in a question mark rather than the proposed comma, making the grammar of this fictional project interrogative instead of affirmative. The itinerary which Rushdie would have us follow, from East to West and then halfway back again in order to rendezvous finally with the mixed-up character in the closing story of the volume, proves, in contradiction to Kipling’s adage, that “East is not East and West is not West”7. Instead, the book’s trajectory constitutes a doubling back with a difference, akin to Columbus’s famous voyage, unsettling our ontological certainties as we discover another world beyond our own which revolutionizes our way of seeing. Equally, the belief in the safety of home behind the polarities of East and West, “East, West, home’s best”, as conventional wisdom would have it8, is mocked by the text’s refusal to return to the fold, leaving it in suspended animation, not 4 5
6 7 8
Alexis Massery and Marc Porée, Salman Rushdie, Paris 1996, p. 171. If, as Cuddon remarks, it is accepted that the popularity of the short story genre originated, to a large extent, in the fashion for oriental tales, this could also be a wink at the oriental tale as origin; see J. A. Cuddon, The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, London 1999, p. 816. Salman Rushdie, East, West, London 1994, p. 58. All subsequent references will be cited in the text. See the first line of Kipling’s “The Ballad of East and West”, in: Barrack-Room Ballads (1892). David Pickering, Cassell’s Dictionary of Proverbs, London 1997, p. 110.
102
Konversionen
only between diverse geographical locations but between different states of mind and perception, so that it seems to inhabit another dimension, the bizarre empire of air, reminiscent of the epigraph to The Satanic Verses and suggested by The Harmony of the Spheres. This indeterminate space, waiting to be filled by madness, as this latter story suggests, escapist fantasy (“Chekov and Zulu”) or linguistic confusion, (“The Courter”), unhouses fiction and its subjects, obliging them to don the vagabond shoes of intellectual migrancy, always preferable in Rushdie’s eyes to the cement boots of belonging. More than a reflection of Rushdie’s personal journey as he is pushed increasingly westwards, partly in flight from the fatwa, or a classic example of what he refers to in The Ground Beneath Her Feet as “disorientation or loss of the east”9 as well as an original reversal of the traditional, exotic East/ familiar West dialectic, the volume illustrates in miniature one of the central tenets of the later fiction; the idea of location as abstract, a territory of the mind, as home is searched for through language but recognized as a fertile estrangement or dislocation from the familiar that can never be resolved within the unlimited play of signification thrown up by the text. 2. “Alas, poor Yorick”: Tinkering with Telos Among the ancestors of the short story we find myth, legend, parable, fairy tale, fable, anecdote, yarn, sketch, tale, tall tale10, all of which suggest the fragmented form of the oral and the ad hoc corrections of bricolage11, process rather than product, the minor rather than the major. East, West is a confrontation with chaos behind a façade of control as the author scratches around the rubbish heap of tradition, recuperating odds and ends, which are assembled into an unfinished or non-final cultural product. The emphasis on structure and first causes to be found in the ostensible organization of the volume is belied by its artistic premise which is one of bricolage or tinkering, the borrowing and recycling of a ruined heritage12 which is a manifestation of the decentring of discourse; an emphasis on the part instead of the whole which in true Derridean
9 Salman Rushdie, The Ground Beneath Her Feet, London 1999, p. 5. 10 See J. A. Cuddon, The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary Theory, ibid. 11 Katie Wales, A Dictionary of Stylistics, London 1989, p. 53. 12 One of the definitions of bricolage given by Katie Wales could apply equally to Rushdie, “the experimental, surrealistic prose of novels like Finnegan’s Wake with its distorted interweavings of words and phrases borrowed from various languages, registers and genres […]” (ibid., p. 53).
Gonzalez, East, West
103
style suggests that structure is its own false premise.13 The form of the volume is in fact akin to the patchwork, a composite entity or “mix-up” where beginnings and ends are false clues and the reader finds himself stuck in a permanent middle and muddle as the attempt at structuring throws into relief the instability of that very structure. In true postmodern fashion the principle of pastiche or patchwork informs most of the stories and introduces the theme of disorder within order. It is most clearly evident in Yorick, a pastiche of an already ironic style with Rushdie rewriting Sterne rewriting Shakespeare.14 The embedded levels of fictionality implied by the imitation, not of reality, but of another fiction already imitating fiction, suggest an endless mise-en-abyme of textuality as interference with source. Instead of a crossroads with signs clearly pointing to intersecting but distinct alternatives, intertextuality is no more than a vicious circle, as fragments of signification are hurled into the air and the reader is left at the eye of a storm of meanings, waiting for them to fall to earth so that he can pick up the pieces and continue on the road to textual fulfilment. He remains suspended in uncertainty, however, lacking the coordinates either to advance or retreat, a victim of the hermeneutic code described by Barthes15, which uses equivocation, suspension, obliqueness and obscurity to disorient, causing delay en route. By putting the court jester at the centre of one of the greatest tragedies in the English language and literally making “poor Yorick” bear the burden of fancy16, Rushdie raises the stakes laid down by his eighteenth-century predecessor and turns Shakespeare into the theatre of the absurd where interpretation is exile from sense. Like a Danish Omar Khayam17, Yorick is dragged in from the margins of literature to make nonsense of the established centre and invalidate any attempts at totalization. By his status as fool or jester, he confers on the text the licence to equivocate, so that in
13 In his “Structure, sign and play in the discourse of the human sciences” (ibid., p. 117), Derrida highlights the deconstructionist elements inherent in Lévi-Strauss’s theory of structure and already recognized by the latter, “[…] this book on myth is itself a kind of myth”. 14 The reference is to volume 1, chapters XI and XII of The Life and Opinions of Tristram Shandy (1759). 15 Roland Barthes, S/Z, Paris 1970. 16 The relevant passage of Shakespeare’s original is, “Alas, poor Yorick. I knew him, Horatio – a fellow of infinite jest, of most excellent fancy. He hath borne me on his back a thousand times; and now, how abhorred my imagination is! My gorge rises at it” (Act V, scene I, 187–191). 17 I refer, of course, to the peripheral anti-hero of Shame, “Dizzy, peripheral, inverted, infatuated, insomniac, stargazing, fat: what manner of hero is this?”, Salman Rushdie, Shame, London 1983, p. 25.
104
Konversionen
an inversion of traditional hierarchy, artificiality and play come before meaning. An image of impure communication, his story comes to resemble the out of order telephone network described by Barthes18 which the narrative voice, more tinker than totalising engineer19, refuses to repair, “these matters are shrouded in antiquity, and there’s no certainty in them; so let the versions of the story co-exist, for there’s no need to choose.” (81) The reader is left with an uncomfortable and permanent noise in his head, reminiscent of the whine in Grimus, signalling the presence of other dimensions. In a literalization of Shakespeare’s metaphor, the “poison” poured into the ears of the reader is “SPEECH” (78), as enunciation takes precedence over the enounced20 and discourse reveals itself as an endless chain of disruption. Frankenstein-like, the writer uses language to destabilize purpose by constructing a monster of otherness made up of the bits and pieces assembled from an exploded and redundant culture: “Yorick’s child survives, and leaves the scene of his family’s tragedy; wanders the world, sowing his seed in far-off lands, from west to east and back again; and multicoloured generations follow, ending (I’ll now reveal) in this present, humble AUTHOR; whose ancestry may be proved by this, which he holds in common with the whole sorry line of the family, that his chief weakness is for the telling of a particular species of Tale, which learned men have termed chanticleric, and also taurean. – And just such a COCK-AND-BULL story is by this last confession brought quite to its conclusion.” (83)
In a reversal of Hamlet’s assertion, the story suggests the impossibility of knowing, making a mockery of reliable origins, a nonsense of inheritance and positing destination as a dead end, for meddling with source means that goal is interfered with and trajectory modified irrevocably. Similarly, in The Prophet’s Hair, the intrusion of other generic models, the Jaco18 Roland Barthes, S/Z, ibid., p. 138. 19 Lévi-Strauss opposes the engineer to the bricoleur. See Lodge (ed.), Modern Criticism and Theory, ibid., p. 115. 20 Wales makes the following useful distinction between the two terms coined by Benveniste. The first is defined as “the physical act of producing an utterance within a given context in time and space, part of the subjective mode of discours or the speech event”; the second is “highlighted in histoire, the objective mode of narration of events in the past, which abstracts the utterance produced from its context” (Katie Wales, A Dictionary of Stylistics, ibid., p. 147). The struggle for enunciation is, to some extent, a nostalgia for orality and storytelling, as Jean-Pierre Durix (Mimesis, Genres and Post-Colonial Discourse, London 1998, p. 158) notes, “Rather than reproduce conditions of enunciation which have changed, they (Rushdie and Chamoiseau) insert a semblance of multiple voices by leaving the story to be told by different members of the community”.
Gonzalez, East, West
105
bean Tragedy, the Gothic tale, the anecdote or comic sketch, in what should be the seamless geometry of the matrix, the oriental tale, creates an uncanny feeling of displacement as the reader is alienated from genealogy and the clichés attached to its cultural categories. Thus the stock figure of the formidably evil king of thieves is introduced, only to be subsequently reduced to a parody of dull bureaucracy21, a technique also used in the portrayal of the arch villain, Khattam-Shud in Haroun. In these circumstances, the nostalgia for origins (some defining myth) and the ethic of presence (a reliable narrator behind the scenes, organizing perception), which could provide a reassuring structure or arché for the text are undermined by games of permutation and transformation, which prove the absence of a centre and its transcendental signified, substituting Derrida’s “system of differences”22 and unlimited play for recognizable purpose. Suggestions of definition are held out tantalizingly to the reader, like Yorick’s skull, not as mere reminders of mortality, but as warnings of the dismemberment to come, for they are as rapidly snatched away when incongruity of reference impinges on what should be a hermetic, unified, albeit fictional, world. Thus, for instance, in the first section, the illusion of the timeless harmony of the East is broken by the irruption of the debris of modern civilization, recuperated and adapted inappropriately to unsettle original function. In The Prophet’s Hair the Vanaspati oil can into which he spits, destroys the Arabian Nights mystique of the “Thief of Thieves”, while in Good Advice is Rarer than Rubies the mud-guard or bumper, used as a seat, provides an image of the alienation awaiting the homespun heroine in her confrontation with a foreign civilisation. At the same time, in turning the object away from its original function as defined by language, its very essence and purpose are questioned as well as the ontology of the story. In The Free Radio, the peaceful, Indian-village atmosphere, reminiscent of Narayan, is disturbed by the invasion of modernity, the government sterilizing van, but it is the radio of the title (a reward for the operation which never materializes) which becomes the ultimate symbol of displaced objects and their role in creating selfdefeating myths: “Ram continued to carry the invisible radio around town. One year passed. Still his caricatures of the radio channel filled the air in the streets. But when I saw him now, there was a new thing in his face, a 21 “He demanded comprehensive details of the crime to be committed, including a precise inventory of items to be acquired, also a clear statement of all financial inducements being offered with no gratuities excluded, plus, for filing purposes only, a summary of the motives for the application” (ibid., p. 39). 22 David Lodge (ed.), Modern Criticism and Theory, ibid., p. 110.
106
Konversionen
strained thing, as if […] all the energy of his young body was being poured into that fictional space between his ear and his hand, and he was trying to bring the radio into existence by a mighty, and possibly fatal, act of will.” (28)
In a Baudrillardean reversal, the very technology (symbolic of the Western values imposed on the East) which is to make up for the loss of definition symbolized by the hero’s castration, is shown to house a repetitive void, it is nothing more than an inappropriate cast-off, foregrounding the redundancy of the myth of progress by its absurd irrelevance and dependent on the imagination for an existence otherwise endlessly postponed. Thus displacement becomes a challenge to the immobility of myth as icons are broken down into their constituent parts, depriving them of their initial weight, and reconfiguring them as deformity. Christopher Columbus and Queen Isabella of Spain Consummate their Relationship (Santa Fé, AD 1492) makes a grotesque parallel between the dream of a mythical continent and the fantasy of sexual conquest which trivializes ambition and its aim. As the narrator moves from blazon to counter blazon, the imposing Queen Isabella, “She is omnipotent. Castles fall at her feet” (113), is reduced to one insignificant detail, which makes a mockery of her power, “Her legs are not so great” (113) and synecdoche becomes a mise-en-abyme of the way the stories function, with fragments standing in for wholeness.23 The continual interplay of interpreter and text, of whole context and individual parts, renders myth anaclastic, a broken mirror, refracting an already damaged original as, for example, the reader realizes that the certainties of date and time are stated merely to provide the framework for their own contradiction. In a reversal of the movement described in Yorick, the centre is here exiled to the edge, to one of the outposts of a remote empire at the Western tip of Europe, making the cliché of Occidental centrality accidental and then submitting it to further interference by association with the Wild West conjured up by the mythical name of Santa Fé and the continent soon to be discovered by Columbus. The attempt at declension of the West in several different cases in defiance of “grammatical” rule, unsettles its roots, making it impossible to conjugate except by approximation. Equally, Columbus, traditionally seen as a key figure of repressive Western colonialism, a reference suggested by the legendary date of the title, signalling the discovery of America and its Indians, is here portrayed as the victim of the very norm he will come to represent, a displaced foreigner from the East (a species 23 It is interesting to note that in connection with the blazon, Barthes (S/Z, ibid, p. 120) asserts that language “undoes the body and makes of it a fetish” (translation M. G.).
Gonzalez, East, West
107
of “Indian”), made to share a sty with the royal pigs as he waits for preferment: “See him, the drunkard, his huge, shaggy head filled with nonsenses! A fool with a glittering eye dreaming of a golden paradise beyond the Western Edge of Things” (109). The conflation of references, making the hero part Ancient Mariner, part pioneer, effects a renegotiation of cultural value by constantly bargaining with the reader for readjustment of vision, exchanging or bartering fragments of meaning against simultaneity of perception. In the image of Columbus, pulled in two different directions at once, dreaming of the West as he goes East and of refusing the Queen’s offer of patronage at the very moment when the word “yes” escapes his lips, the text is subjected to the permanent tension of contrary impulses which postpones its arrival at a final destination. Such displacement and deferral, the constant toing and froing but never arriving, the moving of the goal posts in the game of location, puts the reader, like Columbus who is toyed with by the Queen, in a no-win situation where revelation is achieved by disturbance and only shattering can be the prelude to reconstitution; where hybridity replaces order, geometry is based on coincidence, square pegs are placed in round holes, solidity becomes fluid and artifice, sincerity. As Isabella stares into the troubled waters of the stone bowl of the Court of Lions, an image of the world of fiction in microcosm, she recognizes her consuming need for the “Unknown” or “Unknowable”, providing the reader with a reflection of the story’s own fictional quest: the definition of a text which lies in the contest between nostalgia for structure, that lost centre, and a non-specific and unnameable force, the productive monstrosity of formlessness, the “verminous sludge” (116) into which the water congeals in front of her eyes, expressing the contrast between two contradictory worlds: “This old world is too old and the new is an unfound land” (115). The voyage into the unknown, the symbolic journey into the depths of oneself to which the volume invites us, is a confrontation with the other one may become by the crossing of frontiers. It is the death of the original and the excavation of the stranger underneath, an image of terror contingent on the resurrection of the fool who is the mad and garrulous double of our social selves, thrown up by language. 3. Translation as Insanity: the Nightmare of Language Translation involves the movement of meaning, as Homi Bhabha avers, the putting in motion of an original in order to decanonize it, resulting in a wandering of errance, the kind of permanent exile24, described by the 24 Homi K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994, p. 228.
108
Konversionen
narrator of The Courter: “But I, too, have ropes around my neck, I have them to this day, pulling me this way and that, East and West, the nooses tightening, commanding, choose, choose. I buck, I snort, I whinny, I rear, I kick. Ropes, I do not choose between you. Lassoes, lariats, I choose neither of you, and both.” (211) If, according to Said, the exilic vision possesses the advantage of conferring an awareness of simultaneous dimensions which is nothing short of contrapuntal25, it is also indicative of a disjunctive time and space, typical of the postmodern, where there is constantly a lag in-between sign and symbol as well as discontinuity and distanciation between event and enunciation, a dangerous gap, threatening reality and cutting adrift perception. When looking-back is shown to be synchronous with projection into the future, as in At the Auction of the Ruby Slippers where the red shoes from The Wizard of Oz are up for sale in some unspecified future epoch, the present becomes a contested border zone between two irreconcilable extremes; the impossible space of translation committed to reconciling opposites, the reality of the source text and the, as yet only partially realized, fantasy of the target text. This is the eerie territory in which most of the characters in the third part of the volume for which the narrative indeterminacy of the second part is a preparation, are confined, or rather let loose. Suffering from the troubled sight reminiscent of Jameson’s “incommensurability-vision”, that, “does not pull the eyes back into focus but provisionally entertains the tension of their multiple coordinates”26, they inhabit the hybrid temporality described by Paul Lunenfeld as characteristic of the hyperaesthetics of postmodernism.27 The contradictory impulses of simultaneous proximity and distance from source make of utterance an arena in which chronology and location must thrash it out for the embattled soul of a subject stranded at the end of history. Thus in The Courter, the worlds of the narrator’s Indian nanny or “Ayah” and the East European porter of the building in which they reside coincide in their chess-playing, the ideal wordless language and transposition to a controlled space of their experiences of estrangement which they find it impossible to express in any other form: “Such was their courtship. ‘It is like an adventure, baba,’ Mary once tried to explain to me. ‘It is like going with him to his country, you know? What a place, baap-ré! Beautiful and dangerous and funny and full of 25 Edward Said, Reflections on Exile, Cambridge, MA 2000, p. 186. 26 Frederic Jameson, Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism, London 1991, p. 372. 27 Paul Lunenfeld, “Hyperaesthetics: Theorizing in Real-Time about Digital Cultures”, in: Thomas Carmichael and Alsion Lee (eds.), Postmodern Times. A Critical Guide to the Contemporary, DeKalb, Illinois 2000, p. 112.
Gonzalez, East, West
109
fuzzles.28 For me it is a big-big discovery. What to tell you? I go for the game. It is a wonder’” (195). The chess leitmotif, suggesting crossing over and exchange, the possibility of combination within a frame, can provide a useful metaphor for translation as well as courtship, showing space winning the battle over a chronology of which the migrant subject (both Mary and the porter are exiles) and indeed the postmodern one, as Jameson suggests, has lost sight: “Different moments in historical or existential time are here simply filed in different places; the attempt to combine them even locally does not slide up and down a temporal scale […] but jumps back and forth across a game board that we conceptualise in terms of distance”29. This dizzying process is as much a doubling back on oneself as a progress. Thus the move forward to another place, the fact of being “trans-lated” or “borne across”30 is an escape from, but also a confrontation with, a self subjected to the challenge of otherness, the constant harking back necessary to reach another version as well as a voyage into the unknown. As different chronologies intersect in the same space, including those of a reader seeking to find his bearings and a narrator who simultaneously undermines them, the clash produces a violence which tumbles perspective into the abyss of endless self-scrutiny. When the young Beatle look-alikes, icons of modern Western culture for the narrator who aspires to integration, threaten the sari-clad Indian women, representatives of the backward and unfashionable East (in the eyes of the narrator, at least), the cliché of civilisation and primitiveness is reversed, for the former act like brutes and the latter with the dignity of the princesses for whom, ironically, they have been mistaken: “‘Mistaken identity, fleas,’ said Certainly-Mary. ‘Many Indian residents in Waverley House. We are decent ladies; fleas’.” (204) Mary’s inability to pronounce the letter “p” and her substitution of another sound is a manifestation of the duality already inherent in language where a misplaced consonant can open up a whole gulf of difference. As she attempts to breach the gap between disparate worlds of experience, searching for an elusive equivalency which can only be the result of chance, she radically destabilizes representation with a fantastic and ludicrous image, forcing the text to contemplate the ghostly reflection of what lies beneath its surface; the unwanted guest or undesirable alien parasitically feeding off its host. Her unintentional but apposite insult, dependent entirely on context, is an 28 The narrator’s Ayah has a speech defect, which renders her incapable of pronouncing the letter “p”. 29 Frederic Jameson, Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism, ibid., p. 372–3. 30 These are Rushdiean definitions of translation, taken from Shame (ibid., p. 87).
110
Konversionen
unconscious rewriting of source to reach target, orchestrated by a biased narrative voice, wishing to draw attention to the instability of language. After all, phonetically speaking, “flees” would have been equally possible. However, the mispronounced word also becomes a comic and erroneous self-definition, illustrating not only the terrifying liberty of movement housed in language, but the constraints of the referential world from which the speaker has become detached, exiled as she is from origin. As the repressed returns to haunt expression, language becomes the very location of displaced identity, imposing its rules while offering the temptation of transgression, compulsively drawing attention to its potential for error as well as invention in the struggle for accurate translation. The difficulty of remaining faithful to the original while making it accessible to the other is summed up in the naming of the hero of the tale by the narrator, showing creation to be a function of otherness: “His real name was Mecir: you were supposed to say Mishirsh because it had invisible accents on it in some Iron Curtain language […] At first we thought of nicknaming him after a mischievous little comic-book character, Mr Mxyztplk from the Fifth Dimension, who looked a bit like Elmer Fudd and used to make Superman’s life hell until ole Supe could trick him into saying his name backwards, Klptzyxm […] but because we weren’t too sure how to say Mxyztplk (not to mention Klptzyxm) we dropped that idea. ‘We’ll just call you Mixed-Up,’ I told him.” (179)
The attempted conquest of time and space, the fusion of contradictory impulses and influences, the search for a third term to put an end to the binary oppositions of here and there, before and after, now and then, them and us, including the gap between writer and reader which Rushdie is always trying to close, the desire for a new language of being, puts a strain on the individual subject and his narrative, leading both to the brink of the existential confusion personified by Mixed-Up and expressed by the narrator. As the latter struggles to connect old self and world with new; original dream with actual reality, he becomes the self-conscious artist of himself, aping the rites of integration as he cheers on the Spurs and identifying with the alien expression of his experience he hears on the radio: “Big girls don’t cry, I reminded myself, but the song went on playing in my head: That’s just an alibi” (192). Ludicrous inappropriateness once again reveals the flip, or B side of cliché and character, its hidden potential for expressing otherness, as the familiar is taken out of context and made to seem strange or exotic. More unsettling, however, is the notion which follows on from this, of self as contextual, as permanent performance, a process described in detail by Michael Gorra and already
Gonzalez, East, West
111
applied to The Satanic Verses: “the self becomes a pastiche, a collage of different styles, […] a set of masks improvised for different occasions. It is the point at which the postcolonial coalesces with the postmodern; a sense of the self as a series of impersonations – of the final inauthenticity of the self in itself”31. This inauthenticity, also inherent in language, is a manifestation of what Jameson has called, “postmodern schizofragmentation”32 which condemns us to a virtual world of dreams and fantasies, where the dichotomy of doubleness is temporarily resolved by reinventing oneself as a fantastic other. Thus in Chekov and Zulu, for example, the eponymous heroes, Indian diplomats in England, refashion themselves as characters from Star Trek, substituting one version of alienation for another of their own making which they imagine to be under their control. Ironically, however, they represent another case of mistaken identity, for their misunderstanding of the spelling of the respective names (“Check-off” and “Sulu”) reinforces their foreignness by suggesting unwanted connotations of Russianness and Africanness. “Caught” like the “Courter” within the force field of language, a challenge to the mastery of self, their confused self-definition is yet another manifestation of their separation, not only from the culture of the host country, but also from themselves, making them into guests of their own torn psyche. The defection of Zulu from the diplomatic corps and his split from his lifelong partner and alter ego is another example of the fragmentation besetting the destinies of divided individuals which all travellers, whether in time or not, have become. The fact that Chekov is blown to bits by terrorists at the climax of the tale is symbolic of an ultimate breach, the impossibility of finding a single coherent voice or position through which to express self, mirrored by the borrowed jargon with which the story finishes as, at the moment of death, he imagines himself reunited with his former comrade in an episode of the famous TV series. It is at the borders of self that language is most fragile and the migrant condition is that of being constantly on the threshold. As Columbus, for instance, projects himself in his imagination into a new world, he liberates another self (id) in contradiction with his social self (superego). The co-existence of the two, the simultaneous “Yes” and “No” in his head, the official and unofficial translation destabilizes the ego and takes him across a final frontier where integrity is violated by dreams. This is 31 Michael Gorra, “‘This Angrezi in which I am forced to write’: On the Language of Midnight’s Children”, in: Keith Booker (ed.), Critical Essays on Salman Rushdie, New York 1999, p. 199. 32 Frederic Jameson, Postmodernism or, The Cultural Logic of Late Capitalism, ibid., p. 372.
112
Konversionen
strangely close to Bakhtin’s description of the Menippea: “Dreams, daydreams, insanity destroy the epic wholeness of a person and his fate: the possibilities of another person and another life are revealed in him, he loses his finalized quality and ceases to mean only one thing; he ceases to coincide with himself”33. Indeed the combinatory aesthetics of the Menippea sit well with those of the stories.34 The gallery of fools and madmen (each story has at least one of either and sometimes both) to which the volume introduces us are beings who have fallen into the gap between worlds. The idea that a fusion of contraries can be reached through knowledge and liberate a positive hidden other self is expressed by the narrator of The Harmony of the Spheres, an Indian exile in England, who dreams of syncretism and dabbles in necromancy: “I thought I’d found another way of making a bridge between here-and-there, between my two othernesses, my double unbelonging. In that world of magic and power there seemed to exist the kind of fusion of world-views, European Amerindian Oriental Levantine, in which I desperately wanted to believe” (141). However, a nightmarish polyphony is substituted for enlightenment and a “cacodemonic crowd” (142) invades the head of his friend and mentor, a latter-day Dr. Jekyll, pushing him over the edge into madness and suicide and providing an image of the strain put on a text whose very premise is vacillation and volatility: “The songs of Swedenborg’s angels, the hymns, the mantras, the Tibetan overtone chants. What human mind could have defended itself against such a Babel. [...] Here were devotees praising the coming of Lord Maitreya; there, blood-sucking wizards hurling curses. And lo, there came forth Millenarians crying Doom; and behold, Hitler arose brandishing his fylfot, which in his ignorance or malignity he gave the name of the symbol of good: swastika.” (142)
As well as illicit magic, language can also be gobbledegook, an endless source of instability.35 Taking refuge in a parallel universe like Chekov 33 Pam Morris (ed.), The Bakhtin Reader, London 1994, p. 191. 34 “[…] the organic combination of philosophical dialogue, lofty symbol-systems, the adventure-fantastic, and slum naturalism is the outstanding characteristic of the Menippea,” (ibid., p. 190). Jean-Pierre Durix remarks on the affinity of magic realist texts with both the carnivalesque and the Menippea in his Mimesis, Genres and PostColonial Discourse (ibid., p. 115). 35 See Bishnupriya Ghosh, “Even while he vacillates between the modern and the postmodern in terms of form and vision, Rushdie’s use of language has been consistently postmodern – a situated hybrid English that escapes all ‘purity’ or universality” (“An invitation to Indian Postmodernity: Rushdie’s English Vernacuar as Situated Cultural Hybridity”, in: Keith Booker [ed.], Critical Essays on Salman Rushdie, ibid., p. 147). I would quibble, however, with the term “situated”, for the main characteris-
Gonzalez, East, West
113
and Zulu, where reality is a function of magic, demands endless rewriting of experience, otherwise, from another standpoint or perspective, the double vision and double voice of a divided subjectivity. The collision of worlds, which Bakhtin describes as producing the polyphonic novel36, is as relevant to the narratives of migrancy.37 In order to breach the gulf between selves, a maximum of elements must be taken into account simultaneously, not just the source and target languages, but all the gradations in-between, so that the translated subject risks veering off into the entertaining folly of incompatible linguistic realities where, for example, Punjabi, “Hinglish” and Star Trek-speak meet in a messy conglomerate of styles, stamping the speaking subject with the runic luggage label of the eternal traveller which makes location impossible: “‘What-ho, Zools! Years, yaar, years,’ Chekov said […] ‘Hullo, ji,’ Zulu greeted him cautiously. ‘So then is it OK to utilise the old modes of address?’ ‘Utilise away! Wouldn’t hear of anything else,’ Chekov said, handing Zulu his bags and baggage tags. ‘Spirit of the Enterprise and all that jazz’” (154)
Rushdie clearly illustrates here Wendy Faris’s claim that language as well as fiction is “autogenerative” in the post-Joycean age38, a stream, not of consciousness, but of garrulousness, fabricating its own demented dynamic as it goes along. Frequently flirting with skaz39, a genre “intimately tic of Rushdiean English is precisely the difficulty one experiences in locating it. 36 Pam Morris, The Bakhtin Reader, ibid., p. 90. 37 See Jean-Pierre Durix, Mimesis, Genres and Post-Colonial Discourse, ibid. 38 See Wendy Faris: “This generativity operates at all levels in the fictions that I am identifying as Scheherazade’s children: on the structural plane with stories that grow out of other stories; on the mimetic front with characters who duplicate themselves in miraculous feats of doubling; in the metaphorical register with images that take on lives of their own and engender others beyond themselves, independent of their referential worlds” (“Scheherazade’s Children: Magical Realism and Postmodern Fiction”, in: Wendy Faris and Lois Parkinson Zamora [eds.], Magical Realism. Theory, History, Community, Durham 1995, p. 164). 39 J. A. Cuddon’s definition of skaz is as follows: “A Russian term (from skazat, ‘to tell’) applied to a genre of folk literature. It usually consists of an eyewitness account of an episode in peasant or provincial life. More specifically it is a narrative related by a fictitious narrator rather than by the author directly. Such a device allows the author considerable scope in the use of speech forms such as dialect, slang, neologism, mispronunciation and so forth which give a naturalistic vigour and colourfulness which might not be attainable in a more conventional narrative told solely from the author’s viewpoint […] Early in the 20th century, the skaz style was often used as a form of ornamentalism” (The Penguin Dictionary of Literary Terms and Literary
114
Konversionen
bound up with transformation and identity”40, the stories consistently espouse a double-voiced perspective, oscillating between authenticity and ornamentalism; the twin and conflicting impulses to which translation subjects language and which cannot be resolved within the frame of a single text, for the very solutions to the problems posed throw up new questions, suggesting a boundless territory of textuality. Borrowings, coinages, portmanteau words are only some of the numerous elements which constitute the heavy luggage of the Rushdiean phrase whose faithfulness to an elusive original consists in fragments salvaged and endlessly reconfigured, making translation an ongoing process of rewriting as it refuses to choose a definitive version. If, as Wittgenstein claimed, the limits of one’s language are the limits of one’s world, Rushdie suggests that language and its world are limitless. This may imply that there is no escape from the word, but it also encourages the mobility of the subject in time and space, revealing the creative face of cultural schizophrenia. 4. From Oz to Ostranenie; Fiction Unhoused The geographical crossing over contained within the title of the volume, is less significant than the incessant movement between the real and the imaginary across a permeable frontier where space wins over place. The area occupied by the stories is not easy to define, for the outer limit of what is possible in fiction is constantly being expanded by Rushdie, leaving more and more scope for the unusual and unconventional, as if there were no final frontier to the medium; a process which may be disconcerting for the reader. The Wizard of Oz (L. Frank Baum, 1900), one of the author’s favourite texts41, shows intellectual mobility replacing geographical progression, as Brian McHale suggests: “Baum has reacted to the closing of the frontier, and everything it stands for in American ideology, by reopening the frontier in Middle America”42. When marginal spaces become central and the centre marginal, the possibility of unlimited fantasy is reinstated at the heart of civilization. However, the continuation of the American dream by other means, the magical world of endless possibility set right in the heartland of the grey banality of Kansas, is evoked by Rushdie not to enhance the marvellous, but to es-
Theory, ibid., p. 832). If “Yorick” is anything to go by, skaz can also be seen as part of the process of defamiliarization. 40 Pam Morris, The Bakhtin Reader, ibid., p. 185. 41 Salman Rushdie’s interest in The Wizard of Oz resulted in a critical publication on the film, The Wizard of Oz, London 1992. 42 Brian McHale, Postmodernist Fiction (1987), London 1989, p. 50.
Gonzalez, East, West
115
tablish the process of estrangement which is common to all the stories, forming the basis of a disconcerting reading pact and a diasporic poetics. The introspective utopia of Oz (with its images of childishness and regression) is transformed into an extrovert and dangerously adult dystopia, a nightmare of progressiveness in At the Auction of the Ruby Slippers, the title of which already suggests that fantasy (represented by Dorothy’s magic shoes) has become the commodity fetish of a disembodied culture and the representation of frustrated desire: “The memorabilia junkies are out in predictable force, and now with a ducking movement of the head one of them applies her desperate lips to the slippers’ transparent cage, setting off the state-of-the-art defence system […] the system pumps a hundred thousand volts of electricity into the collagen-implanted lips of the glass-kisser, terminating her interest in the proceedings.” (88–89).
The place in which the reader finds himself is not so much Oz, as a metatextual comment on Oz, highlighting the artificial nature of the fictional construct: “Wizards, Lions, Scarecrows are in plentiful supply […]. There is a scarcity of Tin Men on account of the particular discomfort of the costume. Witches bide their time on the balcons and galleries of the Grand saleroom, living gargoyles with, in many cases, high credit ratings. One corner is occupied entirely by Totos, several of whom are copulating enthusiastically, obliging a rubber-gloved janitor to separate them so as to avoid giving public offence.” (89)
Where the separation between worlds is not respected, the real and the imaginary become confused, providing an inverted parody of the uncanny. Instead of the familiar becoming unfamiliar through dreams, the unfamiliar is rendered only too familiar, thanks to a reality which appears as no more than a construction of the real, a reality-effect which becomes in turn a manifestation of strangeness: “This permeation of the real world by the fictional is a symptom of the moral decay of our post-millenial culture. Heroes step down off cinema screens and marry members of the audience” (94). Illustrating the “cognitive estrangement” which, according to McHale, characterizes science-fiction narratives, this is a sort of “ontological ostranenie”, confronting “the empirical givens of our world with something not given, something from outside or beyond it, ‘a strange newness, a novum’”, and demonstrating a “representational discontinuity”43, summed up here by the TV images of the spaceman 43 Ibid., p. 59.
116
Konversionen
stranded on Mars, singing numbers from The Wizard of Oz. The collision of worlds and confusion of categories adds another sort of discontinuity, as the narrator of the tale is metamorphosed into an hysterical Shakespearean ham, mocking monophony: “They are bidding for the slippers now. As the price rises, so does my gorge. Panic clutches at me, pulling me down, drowning me. I think of Gale – sweet coz! – and fight back fear, and bid” (99). The reader is asked to accept the quote of a fictional original as a basis for knowledge, suggesting that the real is a mere copy of eccentric fantasy: “I was reminded of the dying computer, Hal, in the old film, 2001: A Space Odyssey. Hal sang ‘Daisy, daisy’ as it was being unplugged” (97). Indeed, the reassuring idea of finding a happier home in fiction, illustrated by the Oz theme, is turned into a frightening recognition of estrangement. Instead of redefining the nature of the word “home” as it brings us closer to the unfamiliar, the global village merely disseminates a surplus of significance into a “damaged reality”, alienating us from our desires. The sexual experience of the narrator with his girlfriend simulates a Freudian homecoming, the regaining through what is other, or uncanny (the female genitals), of the notion of the place of origin: “Yet it satisfied me deeply, deeply, especially when she chose to cry out at the moment of penetration: ‘Home, boy! Home, baby, yes – you’ve come home!’” (95). However, the fatal disembodiment of fiction takes over, distancing him from an already unbelievable reality and condemning him to share the fate of the dying spaceman who has become fictional in his own lifetime: “There is a loss of gravity, a reduction in weight, a floating in the capsule of the struggle. The ultimate goal crosses a delirious frontier. Its achievement and our own survival become – yes! – fictions.” (102) East, West generalizes the principle of estrangement (through fiction), not only from reality, but also from fantasy. In Good Advice is Rarer than Rubies, for example, the heroine’s description of her fiancé’s house in Bradford interrupts the quaint folk-tale atmosphere which already seems inappropriate to the topicality of the subject (immigration), with glaring modernity, “‘bathroom décor I completely redecorated, all absolutely topsy-turvy, you see.’” (15)44 However, the very idea of Bradford and its Satanic Mills challenges the otherworldliness of the Indian location with 44 This could be seen as an amusing illustration of the process defined as “colonization in reverse”, the logic of “Outside in” where, “outsiders who were previously held spatially and culturally at a distance have returned or doubled back to the distant imperial centres to which they had previously been connected, as it were, only by their separation”, see Steven Connor, The English Novel In History 1950-1995, ibid., p. 85.
Gonzalez, East, West
117
the suggestion of yet another kind of otherness. From the start, the story’s exoticism is overdone, too overtly Indian and thus recognizable as a cliché for our consumption, a theme park version of Indianness whose signs in defamiliarized English invite us to reflect on authenticity. Similarly in The Free Radio, the borrowed voice of the narrator who is the wisdom of the East personified, sitting under the traditional banyan tree, and thus already something of a chimera, is disrupted by the intrusion of alien microcosms which question the position of the original; first of all political reality in the shape of the Gandhian sterilizing van45 and then the fantasy world of the Bollywood cinema relayed through the rickshawwallah’s letters: “A big studio had given him a test, now they were grooming him for stardom, he spent his days at the Sun’n’Sand Hotel at Juhu beach in the company of top lady artistes, he was buying a house at Pali Hill, built in the split-level mode and incorporating the latest security equipment to protect him from the movie fans, the thief’s widow was well and happy and getting fat, and life was filled with light and success and no-questions-asked alcohol.” (32)
However, the reader is not asked to choose between different versions of reality and fantasy, ancient or modern, but to accept a form of problematic coexistence between the two. The example of the thief’s widow, the rickshaw-wallah’s self-seeking wife, illustrates how both modes of perception are made strange in one fell swoop. Despite her somewhat prosaic role in the narrative, using the hero, Ramani, as a meal ticket, her generic rather than personalized appellation (we never learn her name) suggests an exotic Arabian Nights figure. Something of a caricature from the beginning, by the end of the narrative she has lost all relief and been assimilated into Bollywood as a necessary prop for this kind of story, a stock character to be dusted off and wheeled out on stage when necessary. Hovering on the borderline between the real and the fantastic, she is an image of the reification of the original, reminiscent of At the Auction of the Ruby Slippers where identity is a fabrication, constantly up for sale. Such foregrounding of artificiality contains the suggestion that the story’s portrait of Indian village life may itself be a fragile studio reconstruction or pretext, organised around the classic formulaic storylines of the hick leaving to make a fortune in the big city or the grasping older woman preying on the naive young man; the recycling of myth as cliché in order to highlight artifice and de-automatize traditional responses. Equally, the 45 Significantly, the van dislodges the narrator from his position under the tree and forces him to move elsewhere.
118
Konversionen
story about Columbus focuses attention on our expectations of what such stories should be, but in an unexpected manner so as to suggest that those very expectations are already ludicrously lacking in authenticity: “He has hopes of cash, and of three tall ships, Niña Pinta Santa Maria; of, in fourteen hundred and ninety-two, sailing across the ocean blue.” (107) The patina of age inherent to the historical novel is destabilized by the intervention of twentieth-century idiom, obliging the reader to move out of fantasy and into incongruity as mixed chronologies of style unsettle narrative unity: “These unspeakable foreigners! The nerve! ‘Consummation’, indeed! And then following in her footsteps, month after month, as if he stood a chance.” (107) The disembodied voices of the story, oscillating between solemn narrator, the trivia of the court gossips and a focalisation on the torn psyche of the desperate anti-hero, mean that it is impossible to identify who is speaking and to whom, rendering location within either diegesis or mimesis impossible and making the very form of the story a reflection of diasporic identity. Context is all and the disruption of one fictional world by another forces the reader to focus on strangeness. It is discomfort rather than wonder that he experiences in front of this art of combination which obliges magic realism to rub shoulders with ostranenie and makes fiction a site of unceasing reflection on representation; a project pursued in the next two novels. As layer is piled upon layer of otherness, whether it be linguistic, narrative or ontological, the self-containment of Oz, the well-defined area which can be allocated to fantasy, gives way to an indeterminate zone, the contourless world or heterotopia described by Michel Foucault as, “the disorder in which fragments of a large number of possible orders glitter separately in the dimension, without law or geometry, of the heteroclite; […] in such a state, things are ‘laid’, ‘placed’, ‘arranged’ in sites so very different from one another that it is impossible to find a place of residence for them, to define a common locus beneath them all.”46 Such artificial ordering of chaos draws attention to underlying disorder, in the same way that in The Harmony of the Spheres the narrator’s attempt to understand his friend’s suicide finally leads to the revelation of his wife’s affair with the deceased, confirming the “disharmony of my personal spheres” (139), as he puts it. The juxtaposition of disparate elements as if they possessed an occult pattern is effected only to invalidate the very premise of pattern. Any semblance of order is an invitation to the reader to resist the “macabre symmetry” (125) which might help to make sense of the events of the 46 Michel Foucault, The Order of Things: An Archaeology of The Human Sciences, New York 1970, p. xviii.
Gonzalez, East, West
119
story. Thus the fact that the volume being prepared for publication by the narrator’s friend is also called The Harmony of the Spheres is no more than a recognition of the pervading insanity of the narrative’s own “shadow-theatre” (126), working constantly to destabilize the reader. What Rushdie seems to be attempting here is to propose a new dimension for fiction, based on the radical disrespect of unities of time, place and action. The unexpected and, some might say, unsuccessful originality, is its application to the short story which, despite its sprawling oral beginnings, has developed over the last century into a compact, self-sufficient form. Poe’s idea of totality of effect becomes at Rushdie’s hands a testing ground for how much inconsistency the fictional organism can be expected to take, as the disjointed form of the stories, comprising very long or, alternatively, very short, one-word paragraphs, suggests. This may be why, in his discussion of East, West, Damian Grant talks of “the novelas-genie struggling to get out of the short-story-as-bottle”47. However, Rushdie seems determined to take up the challenge of writing beyond, sailing to the edge of a flat, two-dimensional fictional world in his search for a new province of writing located at the extremes of the possible48, a territory “beyond the end of the end of the earth” (117), in the words of his fictional Columbus. The refusal to respect boundaries, the mixing of different voices and conventions make the traditions of narrative strange, so that the house of fiction is recognizable only as the empty rooms of an experience which has migrated elsewhere, beyond the confines of genre and the constraints of language. As much as mere tales, the stories become a pretext for questioning the fictional medium. It is almost as if, as Grant hints, Rushdie has become the Khattum-Shud of Haroun, wilfully polluting his own “Sea of Stories” so that imagination must take a back seat to an obsession with fiction as fabrication. The incessant questioning of representation through both form and content invites us to leave behind the fixed abodes of fantasy and reality and allow ourselves to be whirled away to an indeterminate location. This indefinable no-man’s land or “inbetween” is expressed as a permanent awareness of strangeness such as that experienced by the migrant, of whom Columbus is the prime example: “the invisible man who dreams of entering the invisible world, the unknown and perhaps even unknowable world beyond the Edge of Things” (116). Rushdie is not so much proposing “citizenship of the land 47 Damian Grant, Salman Rushdie, Plymouth 1999, p. 106. 48 “[…] the real risks of any artist are taken in the work, in pushing the work to the limits of what it is possible to think. Books become good when they go to this edge and risk falling over it – when they endanger the artist by reason of what he has, or has not, artistically dared” (Salman Rushdie, Imaginary Homelands, ibid., p. 15).
120
Konversionen
of make believe”49 as a confrontation with what lies beyond our immediate experience and thus poses a permanent challenge to representation. 5. A Hymn to Elsewhere The experience of migration means that neither reality nor language can any longer be taken for granted.50 According to Rushdie, the migrant “suffers, traditionally, a triple disruption: he loses his place, he enters into an alien language, and he finds himself surrounded by beings whose social behaviour and code is very unlike his own”51. To some extent this is no more than a reflection of the contemporary which has seen the vertical stability of the tree of genealogy and hierarchy replaced by the proliferating horizontality of the rhizome, the world of hyperlinks depicted in At the Auction of the Ruby Slippers: “From arboreal beings, with roots in time and space, we have become rhizomatic nomads – as coined by Gilles Deleuze and Félix Guattari - wandering across the incorporeal universe of hertzian waves”52. Even amidst his nostalgia for roots, the mythical Norse tree described in Shame, Rushdie’s fiction has always favoured the idea of anti-belonging, making migrants of us all and doing away with restrictive notions of identity. Indeed as Michael Gorra points out, “Rushdie clears a space for the cosmopolitan by challenging the very concept of cultural authenticity”53. The break with modernist certainty, the knowing of one’s place in the scheme of things makes of the postmodern subject a natural alien, as Henry A. Giroux explains: “Homelessness as a condition of randomness has replaced the security, if not the misrepresentation, of the home as a source of comfort and security; and an experience of time and space as compressed and fragmented within a world of images that increasingly undermine the dialectic of authenticity and universalism […] the rise of new social movements and the crisis of representation have resulted in a world with few secure psychological, economic, or intellectual markers. This is a world in which one is condemned to wander across, within,
49 50 51 52
Andrew Blake, Salman Rushdie. A Beginner’s Guide, London 2001, p. 55. See Jean-Pierre Durix, Mimesis, Genres and Post-Colonial Discourse, ibid., p. 158. Günter Grass, On Writing and Politics, Harmondsworth 1985, p. ix. Jenaro Talens, “Writing against Simulacrum”, in: Niall Lucy, Postmodern Literary Theory, Oxford 2000, p. 332. 53 Michael Gorra, “‘This Angrezi in which I am forced to write’: On the Language of Midnight’s Children”, ibid., p. 191.
Gonzalez, East, West
121
and between multiple borders and spaces marked by excess, otherness, difference, and a dislocating notion of meaning and attention.”54
Nowhere is this dislocation more apparent than in the disorienting narratives of East, West which obstinately refuse to pin down culture. Coherency of voice with its danger of monologism, is an undesirable limitation of fictional freedom, it would seem, threatening to tie down experience and restrict it to the domain of the recognizable, to the stasis of home and its reduced possibilities. If home is an unwelcome misrepresentation of the familiar, then homelessness may be a more productive form of existence. It is in this light that Rushdie reinterprets the message of The Wizard of Oz (the film), going against the received wisdom of the Hollywood ending: “the real secret of the ruby slippers is not that ‘there’s no place like home’, but rather that there is no longer any such place as home: except, of course, for the home we make, or the homes that are made for us, in Oz: which is anywhere, and everywhere, except the place from which we began”55. Oz is no longer mere escapist fantasy but is redefined as the very locus of creative estrangement with a theme tune centred on “the human dream of leaving” as the author explains: “‘Over the Rainbow’ is, or ought to be, the anthem of all the world’s migrants […]. It is […] a grand paean to the Uprooted Self, a hymn – the hymn – to Elsewhere”56. The celebration of migration, the victory of away over home marks a new departure for the Rushdiean oeuvre as the search for origin gives way to the “enigma of never arriving” (to misquote Naipaul), proposing a nightmare voyage into the inferno of otherness, where ontological certainty is irrevocably sacrificed to narrative licence.
54 Henry A. Giroux, “Postmodern Education in the Age of Border Youth”, in: Thomas Carmichael and Alsion Lee (eds.), Postmodern Times. A Critical Guide to the Contemporary, ibid., p. 76. 55 Salman Rushdie, The Wizard of Oz, ibid., p. 57. 56 Ibid., p. 23.
This page intentionally left blank
Symbolische und pikturale Wirksamkeit bei Lévi-Strauss und Lacan Iris Därmann Um die „symbolische Wirksamkeit“ des Muu-Igala (einem Heilgesang der Cuña-Indianer, der bei Geburtskomplikationen angewendet wird) sinnfällig zu machen, greift Claude Lévi-Strauss auf eine höchst rationale Erklärung zurück, die jedoch mittlerweile in Misskredit geraten ist. Während Lévi-Strauss die Auflösung der Geburtskomplikationen in letzter Konsequenz von dem intelligiblen Verständnis der Fremdartigkeit ihrer körperlichen Schmerzen abhängig macht, das der Muu-Igala der Gebärenden auf mythisch und symbolisch geordnete Weise bereitstellt, zeigen neuere ethnographische Untersuchungen nicht nur, dass der Patientin die Spezialsprache des Heilgesangs ganz und gar unverständlich ist, sondern auch, dass dieser nicht selten unter der Voraussetzung ihrer Bewusstlosigkeit oder realen Abwesenheit aufgeführt wird. Das Rätsel der Wirksamkeit des MuuIgala kann unter Rückgriff auf Lacans Aufsatz zum „Spiegelstadium“ aufgelöst werden, der sich wiederum des Textes von Lévi-Strauss als einer entscheidenden Quelle bedient. Zum einen lässt sich der Heilgesang als eine Kunst ausweisen, die erfolgreich mit den „Imagines“ des zerstückelten und ganzen Körpers spielt. Zum anderen wird mit Lacan und Freud die Wirksamkeit einer affektiven Identifizierung par distance denkbar. By explaining the symbolic effectiveness of the Muu-Igala (a Cuña Indian Medicine song applying to birth complications), Lévi-Strauss makes use of an extremely rationalistic definition which meanwhile has been discredited. He brings the dissolving of the birth complications in a narrow connection with a strict intellectual female understanding of the strange physical birth pains. Thus, he argues that the suffering woman goes through the mythological order and symbolic universe of the Muu-Igala and is thereby cured. In contrast, the analysis of Lévi-Strauss’ new ethnographical research underlines not only the fact that the sick woman cannot understand the special speech which is used in the MuuIgala, but also that the Medicine song is often chanted in case of her unconsciousness or her real absence. Considering, however, Lacan’s essay on “the mirror stage”, the riddle of the effectiveness of Muu-Igala will become clearer. Lacan makes use of Lévi-Strauss’ text as a decisive source. On the one hand, the Medicine song can be regarded as a type of art which plays successfully with the “imagines” of the fragmentary and total body. On the other hand, with Lacan and Freud the effectiveness of an affective identification working par distance seems to be conceivable.
Jedermann kennt die Emphase, mit der Foucault in Les mots et les choses den Auftritt von Ethnologie und Psychoanalyse begrüßt, der den Charakter einer kritischen Heimsuchung annehme, vor der sich keine der etab-
124
Konversionen
lierten Geistes- und Humanwissenschaften in Deckung bringen könnte. Seitdem Freud in Totem und Tabu eine Allianz mit der zeitgenössischen Ethnologie eingegangen sei, habe sich zwischen beiden epistemai „die Möglichkeit eines Diskurses“ eröffnet, der unter Rückgriff auf die Entdeckungen der Linguistik Saussures die ausschließlich formale Struktur des Unbewussten in ihrer sowohl individuellen als auch kulturellen Bedeutung herauszustellen erlaube1. Ganz ohne Frage erklärt Foucault hier, ohne sie namentlich zu nennen, Lévi-Strauss und Lacan zu den Protagonisten des strukturalistischen Angriffs auf eine substantialisierende Anthropologie, von dem er schließlich nichts Geringeres als eine nietzscheanische „Auflösung des Menschen“ erwartet. Nun, da sich die Welle des Strukturalismus ins Meer der Theorien zurückgezogen und das exklusive Vertrauen auf die Effekte des differentiellen Signifikantenspiels abgenommen hat, ist es vielleicht an der Zeit, sich noch einmal mit solchen Übergangstexten Lacans und Lévi-Strauss’ zu befassen, die in Bezug auf das Unbewusste weniger die strukturierende Funktion der Sprache und der Mythen als vielmehr die affektive Wirksamkeit von Symbolen und Bildern im Auge haben und damit wohl eher auf eine „pathische“2 Auflösung des Menschen oder, besser noch, auf seine pathische Einsetzung zielen. Lacans klassischer Text über das Spiegelstadium, der auf einen 1936 in Marienbad und 1949 in Zürich gehaltenen Vortrag zurückgeht, und Lévi-Strauss’ berühmter, ebenfalls 1949 veröffentlichter Text über Die Wirksamkeit der Symbole entwickeln je auf ihre Weise eine Theorie der „affektiven Identifizierung“3, die im Falle Lacans der explizit “heilsamen“ Kraft der „Imago“4 und im Falle LéviStrauss’ der nicht weniger heilbringenden Macht einer schamanistischen Inkantation gewidmet ist. Was die Allianz zwischen Ethnologie und Psychoanalyse betrifft, so will Lévi-Strauss die befremdliche Wirksamkeit des Heilverfahrens der Cuña-Indianer unter Verweis auf die frühe kathar1
2
3
4
Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966, S. 391ff.; dt. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a. M. 1974, S. 453ff. Den Begriff des „Pathischen“ verdanke ich Bernhard Waldenfels: „Phänomenologie zwischen Pathos und Response“, Karl Jaspers Vorlesung der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Montag, 10. Juni 2002 (unveröffentlichtes Manuskript); siehe auch seine Ausführungen zur „ekstatischen Fremdheit“ in: Verfremdung der Moderne. Phänomenologische Grenzgänge, Göttingen 2001, S. 55ff. Jacques Lacan, Les complexes familiaux (1938), Paris 1984, S. 41; dt. „Die Familie“, übers. v. Friedrich A. Kittler, in: ders., Schriften III, Weinheim/ Berlin 1986, S. 17–100, hier: S. 57. Jacques Lacan, „L’agressivité en psychanalyse“ (1948), in: ders., Écrits, Paris 1966, S. 101–124, hier: S. 113.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
125
tische Methode Breuers und Freuds plausibel machen, um dabei schließlich einer problematischen rationalistischen Lesart zu verfallen, die dieser speziellen indigenen talking cure jedoch nicht gerecht zu werden vermag, wie unter Rekurs auf einige neuere Cuña-Ethnografien herauszustellen sein wird. Dagegen sucht Lacan, der sich ausdrücklich – wenngleich in unthematisierter Weise – auf ebendiesen Text von Lévi-Strauss „stützt“5, ein Konzept der „affektiven Identifizierung“ auszuarbeiten, das nicht nur den Anspruch erhebt, mit den Unzulänglichkeiten des freudschen Ansatzes aufzuräumen, sondern mit dessen Hilfe es auch gelingen könnte, das Unzureichende des Lévi-Strauss’schen Erklärungsansatzes zu überwinden. 1. „Heilige Bilder“: Lévi-Strauss’ Interpretation eines Medizingesangs der Cuña-Indianer Der Heilgesang Mu-Igala, den der Mediziner der Cuña-Indianer, der nele, anlässlich komplizierter Geburten vorzutragen pflegt, kann in den fünfziger Jahren die Aufmerksamkeit von Lévi-Strauss vor allem deshalb auf sich ziehen, weil es sich um eine originelle therapeutische Methode handelt, die nicht nur in flagranter Weise von den bis dahin bekannten schamanistischen Heilverfahren abzuweichen scheint, sondern auch ein neues und grundlegendes Verständnis für derartige Praktiken insgesamt zu erschließen verspricht. Obgleich es für Lévi-Strauss keinen Anlass gibt, die faktische Wirksamkeit magischer Behandlungstechniken in Abrede zu stellen, so kommt er – im übrigen in Konsens mit dem betreffenden schamanistischen Kwakiutlakteur6 – nicht umhin, solche Therapien wie das Ausspeien der „Krankheit in Form eines blutigen, im Munde verborgenen und aus einem Federbüschel bestehenden Wurms“7 als „reinen Betrug“ zu kennzeichnen8. In welcher Weise jedoch therapeutische 5 6
7
8
Hans-Dieter Gondek, „Eine psychoanalytische Anthropologie des Bildes“, in: Riss 48 (2002), S. 9–27, hier: S. 10. Lévi-Strauss bezieht sich hier auf das von Franz Boas aufgefundene und übersetzte Fragment einer Biographie des Kwakiutlschamanen Quesalid: Franz Boas, The religion of the Kwakiutl, Columbia University Contributions to Anthropology, Bd. X, New York 1930, Teil II, S. 1–41. Claude Lévi-Strauss, „Le sorcier et sa magie“ (1949), in: ders., Anthropologie Structurale, Paris 1958, S. 183–203, hier: S. 193; dt. „Der Zauberer und seine Magie“, in: ders., Strukturale Anthropologie I, übers. v. Hans Naumann, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 183–203, hier: S. 193. Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“ (1949), in: ders., Anthropologie Structurale, a.a.O., S. 205–226, hier: S. 211; dt. „Die Wirksamkeit der Symbole“, in: ders., Strukturale Anthropologie I, a.a.O., S. 204–225, hier: S. 211; siehe ebenfalls: „Le sorcier et sa magie“, a.a.O., S. 196; dt. S. 196.
126
Konversionen
Handlungen, die unter Vermeidung jeglicher Arzneigabe und körperlichen Berührung mit dem Krankheitsherd, heilende Effekte zeitigen können, muss so lange rätselhaft erscheinen, bis es nicht gelingt, der offenkundig „psychologischen Manipulation der kranken Organe“ durch den Mediziner und der korrespondierenden Heilungserwartung auf Seiten des Kranken einen erklärenden Rückhalt zu geben. In Kontrast mit der westlichen Medizin, die die organisch genannten Störungen mithilfe physischer Methoden, operativer Eingriffe und Arzneien zu behandeln sucht, rückt die schamanistische Medizin solchen Übeln zuweilen nur mit Sprechgesängen oder „abstrakt“ erscheinenden Ritualen zu Leibe, die in einer für europäische Augen unbegreiflichen Beziehung zur Krankheit selbst stehen. Bleibt also zu prüfen, ob sich Lévi-Strauss von seiner strikt „psychologischen“ Interpretation des Mu-Igala zu Recht nicht nur Aufschluss über die speziellen Medizingesänge der Cuña, sondern tatsächlich auch einen „außergewöhnlichen Beitrag zur Lösung des Problems“ indigener Heilpraktiken im Allgemeinen versprechen darf9. Die erstmals von Holmer und Wassén 1947 publizierte und ins Englische übersetzte Ausgabe des Mu-Igala or the Way of Muu10, die Lévi-Strauss zur Verfügung stand11, geht auf eine 535 Verse umfassende Version jenes Sprechgesangs zurück, die der Cuña-Indianer Guillermo Hayan von Rubén Pérez Kantule erhalten hat, der wiederum für viele Jahre als Sekretär des Chief Nele de Kantule gearbeitet hat12. Die Cuña unterscheiden drei Typen von Medizinern, den nele, den inatuledi und den absogedi13. Im Unterschied zu den beiden letztgenannten Experten, die ihr Wissen durch das Studium der Gesänge und der Heilmittel erwerben14, gilt die visionäre Fähigkeit des ungleich renommierteren nele als angeboren und verrät sich durch das Geburtszeichen der Plazentahaut auf dem Kopf des Säuglings,
9 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 211; dt. S. 211. 10 Nils M. Holmer und S. Henry Wassén, Mu-Igala or the Way of Muu, a medicine song from the Cunas of Panama, Göteborg 1947. 11 1953 konnte dieser 535 Verse umfassende erste und zweite Teil des Mu-Igala durch einen dritten Teil, der den Gesang auf insgesamt 657 Verse anwachsen ließ, sowie durch dessen komplette Piktographie aus der Feder von Guillermo Hayan vervollständigt werden (siehe Anm. 12). 12 Vgl. die Autobiographie von Guillermo Hayans in: Nils M. Holmer und S. Henry Wassén, The Complete Mu-Igala in Picture Writing, a Native Record of a Cuna Indian Medicine Song, Ethnologiska Studier 21, Göteborg 1953, S. 8f. 13 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, in Collaboration with the Cuna Indian Rubén Pérez Kantuele, hg. v. Henry Wassén, Comperative Ethnographical Studies 10, Göteborg 1938, S. 80–81, S. 493–509. 14 Nils M. Holmer und S. Henry Wassén, The Complete Mu-Igala in Picture Writing, a.a.O., S. 84.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
127
welches ihm das Geistwesen Muu verliehen hat15. Anders als die ausführliche Erzählung der Ereignisse im Heilgesang sind die rituellen Handlungen des auf Bitten der Hebamme bei einer schweren Geburt gerufenen nele außerordentlich reduziert. Während der ca. eineinhalb Stunden dauernden Behandlung, die nach Bedarf wiederholt wird, sitzt er am Kopfende der Wöchnerin auf einem Schemel. Zur „Stärkung seiner Kleider“ bzw. zu seiner eigenen „Stärkung“ (65–66) verbrennt er Kakao in einem Gefäß, das sich unter der Hängematte der Patientin befindet. Dort stellt er auch die aus Holz geschnitzten Figuren auf, die eine zentrale Rolle als seine therapeutischen Assistenten und Schutzgeister (nuchu) spielen werden. Wie Nordenskiöld, Kramer und andere Ethnologen vermuten, lässt sich der auffällige Kontrast zwischen Ritualarmut und Detailreichtum des Heilgesangs mit der Preisgabe der „ekstatischen Séancen“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts bei gleichzeitiger inhaltlicher Übernahme der Rituale durch den Sprechgesang erklären16. Mit den hölzernen Figuren – Lévi-Strauss nennt sie „heilige Bilder“ oder „modellierte Figürchen“17 –, die der nele im Kampf gegen die Verursacherin der Geburtskomplikationen zu seinen wichtigsten Verbündeten macht, hat es noch eine besondere Bewandtnis. Baron Nordenskiöld berichtet 1938 unter Hinweis auf einen anderen Heilgesang, dass es bei diesen Figuren weniger auf das Schnitzwerk, ihre Form, Farbe und Gestalt ankomme, als vielmehr auf bestimmte Holzarten, in denen die „Schutzgeister“, die purba, „ihren Wohnsitz aufgeschlagen“ hätten18. Diese spirituelle Bedeutung bestimmter Hölzer kann freilich nicht die von Kramer hervorgehobene Tatsache relativieren, dass die „während des Vortrags aufgestellten Skulpturen [...] nach Tracht und Physiognomie nichts anderes als Euro15 Jörg Wolfgang Helbig, „Einige Bemerkungen zum muu ikala, einem Medizingesang der Cuna Panamas“, in: Gedenkschrift für Gerd Kutscher, Bd. 2, Indiana 10, Berlin 1985, S. 323–339, hier: S. 336f. 16 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, a.a.O., S. 85; Fritz W. Kramer, Literature among the Cuna Indians, Ethnologiska Studier 30, Göteborg 1970, S. 79f.; sowie Jörg Wolfgang Helbig, Religion und Medizinmannwesen bei den Cuna, Münchner Beiträge zur Amerikanistik 5, Hohenschäftlarn 1983, S. 142, S. 169ff., S. 181. Die Schamanen der älteren Zeit begaben sich bzw. „sandten ihre purba während einer öffentlichen Sitzung in ekstatischem Zustand auf eine Jenseitsreise zu den Geisterwohnsitzen“, wie Helbig unter Berufung auf Nordenskiöld und Kramer resümmiert: „Im Unterschied zu den heutigen nele hießen sie na-nele, nach der Kalebassen-Rassel nasi, die zu ihren unentbehrlichen Paraphernalia gehörte.“ 17 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 206, S. 207; dt. S. 205, S. 206. 18 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, a.a.O., S. 345–347.
128
Konversionen
päer“ waren, die für die Cuña – wie die westliche Zivilisation mit ihren großen Städten, Warenpalästen, Maschinen und Transportmitteln überhaupt – einen Teil der Wildnis darstellten und im Kontext medizinischer Gesänge zum Einsatz gebracht wurden, „um ihre fremde und unverstandene Macht für das Heil der indianischen Gemeinschaft zu nutzen.“19 Für die purba der Pflanzen gilt, dass sie, sofern sie „in den Dienst des Menschen gestellt“ werden, auch eine menschliche „Gestalt“ erhalten müssen20. In den fünfziger Jahren verzichteten die nele auf die Aufstellung der Figuren und „führten“ sie nurmehr „durcheinander liegend in einer Holzkiste [mit]“.21 In dem Grade, in dem jedoch die rituellen Handlungen und Objekte in die minutiösen Schilderungen des Gesanges Eingang gefunden haben, werden die Figuren bzw. Schutzgeister auf dem Niveau der Erzählung ihrer Aufgabe auch weiterhin gerecht. In seiner dicht gedrängten Paraphrase des Mu-Igala, der Lévi-Strauss in einem zweiten Schritt einige ethnographische Erläuterungen sowie eine Analyse der Erzähltechnik und in einem dritten Schritt den berühmten Vergleich zwischen Schamane und Psychoanalytiker folgen lässt, skizziert er zunächst in großer Textnähe den Verlauf der Ereignisse und Handlungen: er setzt ein mit der verwirrten Hebamme, die sich angesichts der schweren Geburt überfordert fühlt und den Schamanen zu Rate zieht. Weiter berichtet er, wie der nele bei der Ankunft in der Hütte der Schwangeren seine Vorbereitungen trifft, die „heiligen Bilder“ modelliert, sie unsichtbar und so als nelegan (Plural von nele) tauglich macht für die diagnostische Suche nach der Urheberin der Krankheit und ihrer Überwältigung22. Die Lichter, mit denen die Schutzgeister das dunkle und unwegsame Gebiet illuminie19 Fritz W. Kramer, „Notizen zur Ethnologie der Passiones“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Ethnologie als Sozialwissenschaft, hg. v. Ernst Wilhelm Müller u. a., 36. Jg., Opladen 1984, S. 297–313, hier: S. 300. Für Michael Taussig stellt diese in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen, familiären und spirituellen Lebens stattfindende mimetische Aneignung der westlichen Zivilisation sowie die damit einhergehende Transformation jene paradoxe und immer wieder genutzte Möglichkeit der Cuña dar, gleich zu bleiben“ und ihre „Identität zu bewahren“ (Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, New York/ London 1993, S. 116; dt. Mimesis und Alterität. Eine eigenwillige Geschichte der Sinne, übers. v. Regina Mundel und Christoph Schirmer, Hamburg 1997, S. 123). Zu dieser Frage vgl. auch die berühmten, vorwiegend mit Motiven der technischen Zivilisation bestickten Mola-Blusen (siehe die Abbildungen in: Ann Parker und Avon Neal, Molas. Folk Art of the Cuna Indians, Barre, MA 1977). 20 Jörg Wolfgang Helbig, „Einige Bemerkungen zum muu ikala, einem Medizingesang der Cuna Panamas“, a.a.O., S. 325. 21 Jörg Wolfgang Helbig, Religion und Medizinmannwesen bei den Cuna, a.a.O., S. 183. 22 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 206; dt. S. 206f.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
129
ren, in das einzudringen sie zwecks Ursachenforschung gehalten sind, werden – Guillermo Hayan zufolge – als „Spiegel“ angesehen23. Dabei stellt sich heraus, so Lévi-Strauss weiter, dass das Geistwesen Muu den nigapurbalele, die Lebenskraft bzw. Lebensseele der zukünftigen Mutter entführt hat, die die nelegan auf ihrer Reise unter Überwindung vieler Hindernisse – wie der Durchquerung verschiedener Gebirge (241–247) oder der Bezwingung einer nicht unbeträchtlichen Anzahl Muu zugehöriger wilder Tiere – schließlich in einem großen, mit ihr und ihren Töchtern (muugan) ausgetragenen Kampf zu befreien haben. Im Spiel mit den „goldenen Kappen“, denen eine „Wolke, ähnlich wie Spinngewebe, Gestank und Rauch“ entsteigt (383–400), brechen unter ihrem Gewicht schließlich Muu und die ganze weibliche Entourage keuchend und hustend zusammen, um auf diese Weise zur Herausgabe der mütterlichen Seele gezwungen zu werden. Jetzt kann die Entbindung erfolgen, wobei sich am Ende des Gesangs, wie Lévi-Strauss betont, der Abschied zwischen Muu und dem Schamanen nicht von ungefähr geradezu „freundschaftlich“ gestaltet, wenn diese fragt: „Freund nele, wann besuchst du mich wieder?“ (412)24. Unter Berufung auf Nordenskiöld hebt er hervor, dass Muu und ihre Töchter nicht per se zu den bösartigen Geistern zu zählen sind, sondern bei Gelegenheit einer komplizierten Geburt oder gar im Falle des Todes der Mutter im Kindbett25 sich vielmehr eines mehr oder minder schweren Machtmissbrauches schuldig gemacht haben: Normalerweise ist nämlich Muu, die den weiblichen Uterus repräsentiert26, verantwortlich für Aufbau und Entwicklung des Fötus, dem sie kurkin verleiht, Fähigkeit bzw. Talent, welche den Charakter der späteren Persönlichkeit ausmacht27. Es sind nun zwei Entdeckungen, deren Bedeutung Lévi-Strauss nicht hoch genug einschätzen kann: Zum einen handele es sich bei dem Mu-Igala, dem Weg Muus und ihrem Wohnort, nicht um einen mythischen Ort, sondern „buchstäblich [um] die Vagina und den Uterus der schwangeren Frau, die der Schamane und die nuchu erforschen.“28 Zum anderen erschließt ihm die Lektüre des Gesangs eine komplexe indigene Psychologie, die auch für Lacans Exposition des 23 Nils M. Holmer und S. Henry Wassén, The Complete Mu-Igala in Picture Writing, a.a.O., S. 102. 24 Ebd., S. 206; dt. S. 205. 25 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, a.a.O., S. 372. 26 Nils M. Holmer und S. Henry Wassén, The Complete Mu-Igala in Picture Writing, a.a.O., S. 95, S. 101. 27 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, a.a.O., S. 364ff., S. 368. 28 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 207; dt. S. 206.
130
Konversionen
Spiegelstadiums von Interesse gewesen sein dürfte: Gleichzeitig mit dem befreiten nigapurbalele der Mutter stößt der nele auf andere purba, „Iche“ oder „Seelen“ „des Herzens, der Knochen, der Haare, der Nägel, der Füße“, wie es im Gesang heißt (401–408, 435–442). Nordenskiöld unterstreicht diese Pluralität von Seelen und deren Funktion ebenfalls, wenn er schreibt: „It is evident that every part of the human body has several purbas with together form a whole invisible replica of the body.”29
Für Lévi-Strauss liegt es nun nahe, den nigapurbalele für das harmonische Zusammenspiel dieser Mehrzahl von körperlichen Ichen oder Seelen und damit für die „Integrität des ‚Hauptkörpers‘ (cuerpo jefe im Spanischen, 430, 435)“ verantwortlich zu machen. Sobald sich Muu des nigapurbalele der Gebärenden bemächtigt hat, hätte sie demnach zugleich das Zusammenwirken der verschiedenen purba empfindlich gestört30. Von Lévi-Strauss’ Analyse der spezifischen Erzähltechnik des Mu-Igala wird man sich ein Stück weit die Auflösung des Rätsels eines psychologischen Heilverfahrens erwarten dürfen, das unmittelbare Auswirkungen zeitigt auf dem Niveau des von Geburtswehen entkräfteten Körpers der Frau, wobei, wie sich zeigen wird, die Verbindungsfäden zwischen den unterschiedlichen Bezugs- und Realitätsebenen31 der Narration – den mythischen Landschafts- und Tierbeschreibungen, den körperlichen Schmerzen, den verschiedenen Körperteilseelen, der aktuellen Außenwelt und vergangenen Erlebnisgeschichte der Kranken – auf signifikante Weise miteinander verknüpft werden. Als stilistische Eigenart des Heilgesangs fällt Lévi-Strauss zunächst die außerorderlich ausführliche, mit häufigen Wiederholungen arbeitende Eingangssequenz ins Auge, die nichts anderes als ein Gespräch der Kranken mit der Hebamme, ihren Weg zur Hütte des Schamanan, ihren Rückweg zur Hütte der Gebärenden, den Aufbruch und die Ankunft des nele bei der Kranken zum Gegenstand hat. Die Heilung nimmt demnach ihren Ausgang mit einer Rückblende auf die „ihr vorangegangenen“ und sekundär erscheinenden „Ereignisse“, die so detailbesessen und langatmig erzählt werden, „als ob sie im Zeitlupentempo gefilmt wären“32. Diese Geburt der Zeitlupe im Mu-Igala, die als narrative Technik den Sprechgesang insgesamt prägt, aber vor allem für die Beschreibung zurückliegender Ereignisse einge29 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, a.a.O., S. 334. 30 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 207–209; dt. S. 206–208. 31 Vgl. Michael Taussig, Mimesis and Alterity, a.a.O., S. 122; dt. S. 128. 32 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 213; dt. S. 211.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
131
setzt wird, erfüllt nach Lévi-Strauss den Zweck, die durch Schmerzen getrübte Aufmerksamkeit der Kranken durch die Produktion einer, so könnte man sagen, halluzinativen Sichtbarkeit zu fesseln und ihr das intensive Wiedererleben der „Ausgangssituation“ zu ermöglichen33. Die Technik der zeitlichen Dehnung des Übergangs von dieser profanen „Realität“ hin „zum Mythos, vom physischen zum physiologischen Universum, von der Außenwelt zum Körperinneren“ nimmt im Folgenden zusehends den Charakter einer „obsessiven Technik“ an. Sie ist nunmehr dazu bestimmt, in einem sich überstürzenden „Rhythmus ein immer rascheres Hin und Her zwischen den mythischen und den physiologischen Themen“ zu erzeugen, als ob es gälte, den Unterschied der beiden Sphären für die leidende Frau auszuwischen, damit der Mythos von Muu und der Auslösung des nigapurbalele in ihrem „Körperinnern“ selbst zu „wirken“ vermag34. Aus Sicht von Lévi-Strauss hebt die narrative Technik auf die „mimetische“35 Reproduktion von „tatsächlich Erlebtem“ in der Sprache des Mythos ab. Dazu gehört die Darstellung des Koitus vermittels der in das Innere der Vagina eindringenden und es mit den Lichtern ihrer magischen Kappen erhellenden nelegan genauso wie die Personifizierung der Geburtsschmerzen durch wilde Tiere oder Winde (269)36. Lévi-Strauss entdeckt in solchen Beschreibungen eine „wahrhaft mythische Anatomie“, die sich nicht mit dem realen Körperaufbau, sondern mit „einer Art affektiver Geographie“ deckt. Angesichts dieser monströsen Ausmalung des weiblichen Körperinneren fühlt er sich an ein „Inferno à la Hieronymus Bosch“37 erinnert. Weil man all dies unter gleichen Begriffen, aber anderen Voraussetzungen in Lacans Spiegelstadium erneut wiederauftauchen sehen kann, gilt es darauf sogleich noch einmal zurückzukommen. In dem Maße, in dem die Erzähltechnik sowohl eine Vermischung von physiologischen und mythischen Themen als auch die mythische Darstellung von Selbsterlebtem erlaubt, erzeugt sie auf Seiten der Gebärenden eine affektive „Identifizierung“, die einen psycho-physiologischen Heilungsprozess in Gang setzt. Auf dem Weg der Identifizierung mit den im Sprechgesang geschilderten Ereignissen hat der Mythos demnach die heilbringende Kraft, auf den leidenden Körper der Frau selbst einzuwirken und das für die „Integrität des Hauptkörpers“38 erforderliche harmo33 34 35 36
Ebd., S. 213; dt. S. 212. Ebd., S. 213; dt. S. 212. Fritz W. Kramer, „Notizen zur Ethnologie der Passiones“, a.a.O., S. 299. Zur Personifizierung der Schmerzen durch Winde vgl. Nils M. Holmer und S. Henry Wassén, Tue Komplete Mu-Igala in Picture Writing, a.a.O., S. 96. 37 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 214–216; dt. S. 213–215. 38 Ebd., S. 209; dt. S. 208.
132
Konversionen
nische Zusammenspiel der Vielzahl der Körperseelen wiederherzustellen. Doch entspricht diese im Text selbst angelegte Erklärung nicht wirklich dem, worauf Lévi-Strauss mit seinem schiefen Vergleich zwischen schamanistischem und psychoanalytischem Verfahren hinauswill. Auch wenn die Affektivität, wie die Anspielung auf die kathartische Methode zeigt, durchaus eine Rolle zu spielen scheint, so geht es ihm dabei jedoch nicht so sehr um die „affektive Natur“ der Identifizierung mit dem Mythos, als vielmehr um das intelligible Verständnis des Leidens seitens der Frau, das schließlich ihre körperliche Heilung bewirken soll. Die Symbolisierung der als „Fremdkörper“ empfundenen Qualen, die die Schmerzerfahrung „in geordneter und verständlicher Form zu erleben“ gestatte und ihr einen Ort in einem mythischen „Ganzen zuweist“39, führe zur Lösung des ins Stocken geratenen Geburtsvorgangs und umreiße die „symbolische Wirksamkeit“ des Mythos. Wenn Lévi-Strauss unter Verweis auf die Mechanismen des Abreagierens und der Übertragung ausdrücklich die „Identifizierung“ der Gebärenden „mit dem zum Mythos gewordenen Schamanen“40 in Rechnung stellt, so denkt er dabei offenkundig an die für den Vorgang der Übertragung relevante Wiederbelebung infantiler Konflikte und „Imagines“41 bei gleichzeitiger Verschiebung auf den Analytiker42, die als Hindernis und Stütze zugleich die Voraussetzung für das „Durcharbeiten der Widerstände“ bilden43. Dass er dem schamanistischen Heilverfahren ausdrücklich eine Position zwischen der westlichen, organischen Medizin und ihren psychologischen Heilmethoden zuweist44, lässt die Analogisierung mit der Psychoanalyse freilich umso unplausibler erscheinen. Verlangt die letztere doch eindeutig auf die Seite der Psychotherapien gestellt zu werden, auch wenn sie um die Symbolisierung psychischer Konflikte durch somatische Symptome weiß. LéviStrauss geht davon aus, dass es sowohl im Schamanentum als auch in der Psychoanalyse darum gehe, „Konflikte und Hemmungen ins Bewusstsein zu bringen, die bislang unbewusst geblieben waren“45. Der Umstand, dass es sich einmal um körperliche Geburtsschmerzen handelt – denen auch 39 Ebd., S. 218; dt. S. 217. 40 Ebd., S. 219; dt. S. 218. 41 Sigmund Freud, „Zur Dynamik der Übertragung“ (1912), in: Gesammelte Werke, Bd. VIII, hg. v. Anna Freud u. a., London/ Frankfurt a. M. 1940–1952, S. 364–374, hier: S. 370. 42 Zu den Übertragsphänomenen vgl. auch schon Sigmund Freud, „Zur Psychotherapie der Hysterie“ (1895), Bd. I, S. 252–312, hier: S. 308f. 43 Sigmund Freud, „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“ (1914), Bd. X, S. 126–136, hier: S. 136. 44 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 218; dt. S. 217. 45 Ebd., S. 219; dt. S. 217f.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
133
dann nichts Unbewusstes nachgesagt werden kann, wenn sie sich, wie die Cuña annehmen, in der „Seele“ der Frau im Modus einer „spirituellen Kopie“ symptomatisch niederschlagen46 – und ein anderes Mal um verdrängte Triebkonflikte, irritiert ihn dabei genauso wenig wie die für das Geschehen der Übertragung und des Übertragungswiderstandes bedeutsame Tatsache, dass sich darin der Andrang des infantilen und verdrängten Konflikts anzeigt47. Mit anderen Worten: für das verdrängte Unbewusste, dem damit korrespondierenden Übertragungswiderstand und Wiederholungszwang, finden sich im Mu-Igala keinerlei Resonanzen48. Die von Lévi-Strauss geltend gemachte „völlige Entsprechung“ beider Verfahren erscheint damit ziemlich abwegig, auch wenn er dabei gleichzeitig eine Konversion „sämtlicher Begriffe“ in Rechnung stellt: hier sei es der Analysant, der spreche, dort der Schamane; hier gehe es um die Wiederbelebung und Rekonstruktion eines individuellen Mythos, dort um den Vortrag eines „kollektiven Mythos“, der die Reproduktion und psychische Verarbeitung des Erlebten erlaube49. Ohne die Auseinandersetzung mit den Übertragungswiderständen kann in der freudschen Analyse die zwanghafte Reproduktion des Erlebten freilich niemals den Charakter des Erinnerns und Durcharbeitens annehmen. Ganz offenkundig wird die Parallelisierung des schamanistischen Heilgesangs mit der Psychoanalyse beiden Verfahren „nicht gerecht“50. Sie kann damit weder einen Beitrag zur Lösung des Rätsels der psycho-physiologischen Behandlung noch auch ein grundlegenderes Verständnis für das Problem schamanistischer Heilmethoden insgesamt bieten, wie es Lévi-Strauss anfänglich in Aus46 Taussig zitiert diesbezüglich aus der unveröffentlichten Dissertation von Norman Macpherson Chapin, Curing Among the San Blas Kuna of Panama (Tucson 1983, S. 429f.): Die „Seele“ der Frau ist „bis in jede Einzelheit identisch mit der Erscheinung und dem Verhalten des Körpers [...], in dem sie beheimatet ist. Anders gesagt ist die ‚Seele‘ eine ‚spirituelle Kopie‘ des physischen Körpers. Jedes Körperorgan hat seinen geistigen Gegenpart, und die ‚Seele‘ einer schwangeren Frau ist ebenso schwanger und leidet an den gleichen Symptomen wie diese auf der Ebene des Bewußtseins.“ (Mimesis and Alterity, a.a.O., S. 121; dt. S. 126) 47 Sigmund Freund, „Jenseits des Lustprinzips“ (1920), Bd. XIII, S. 3–69, hier: S. 16f. 48 Allerdings hebt Taussig mit Chapin und Sherzer hervor, dass sexuelle Dinge bei den Cuña nicht öffentlich besprochen und alle mit der Schwangerschaft und Geburt zusammenhängenden Angelegenheiten tabuiert werden (Mimesis and Alterity, a.a.O., S. 123ff.; dt. S. 129ff.), was jedoch, wie sogleich zu sehen ist, noch kein Argument dafür sein kann, die Wirkung des Heilgesang nach Art einer psychoanalytischen talking cure plausibel zu machen. 49 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 220; dt. S. 219. 50 Wie schon Jörg Wolfgang Helbig betont: „Zur Interpretation von Medizingesängen der Cuna: eine Kritik an Lévi-Strauss und Kramer“, in: Festschrift für László Vajda, Staatliches Museum für Völkerkunde, München 1988, S. 105–114, hier: S. 105.
134
Konversionen
sicht stellte. Die von ihm eingeschlagene intelligible Richtung der Interpretation wird freilich immer abwegiger, je deutlicher man sich den von ihm selbst an zwei Stellen und im Mu-Igala angesprochenen Umstand vor Augen führt, dass die Gebärende sich im Fieberwahn51 befindet und ihre Sehkraft „abgeirrt ist, eingeschlafen auf dem Pfade von Muu Puklip“ (97)52. Dieser doppelte Textbefund findet ein unüberhörbares Echo in den ethnografische Untersuchungen von Sherzer und Chapin, die Helbig schließlich dazu führen, den Lévi-Strauss’schen Erklärungsansatz insgesamt zu verwerfen53. Während Chapin, aber auch Taussig unterstreichen, dass der Gebärenden die Spezialsprache des Mu-Igala ganz und gar unverständlich sei54, heißt es bei Sherzer unter Verschärfung dieses Einwandes: „The sick person is not an active participant in this event. He is usually asleep or lost in suffering. It is even possible that he is not present.“55
Die der heilbringenden Wirkung des Ritualgesangs keineswegs abträgliche Möglichkeit der psychischen oder realen Abwesenheit der Kranken unterstreicht die Notwendigkeit einer pathischen Interpretation des MuIgala, die Fritz Kramer zu Recht gegenüber der „rationalen Deutung“ von Lévi-Strauss56 einklagt57. Für die Explikation des in L’éffacicité symbolique selbst angelegten affektiven Identifizierungsbegriffs könnten sich die Identifizierungskonzepte der freudschen und lacanschen Psychoanalyse 51 Holmer und Wassén sprechen in ihrem Kommentar vom „Bewußtseinsverlust“ der Gebärenden (Mu-Igala or the Way of Muu, a.a.O., S. 96). 52 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 208, S. 213; dt. S. 207, S. 212. 53 Jörg Wolfgang Helbig („Zur Interpretation von Medizingesängen der Cuna: eine Kritik an Lévi-Strauss und Kramer“, a.a.O., S. 110) zitiert die beiden hier angeführten Belege von Chapin und Sherzer. Für den Hinweis auf Sherzer danke ich Erhard Schüttpelz. 54 Norman Macpherson Chapin, „Muu Ikala. Cuna Birth Ceremony“, in: Phillip Young und James Howe (Hg.), Ritual and Symbol in Native Central America, Eugene, Oregon 1976, S. 57–62, hier: S. 62f.; sowie Michael Taussig, Shamanism. A Study in Colonialism, and Terror and the Wild Man Healing, Chicago/ London 1987, S. 460). 55 Joel Sherzer, „Namakke, Sunmakke, Kormakke: three types of Cuna speech event“, in: Richard Baumann und Joel Sherzer (Hg.), Explorations in the Ethnography of Speaking, Cambridge 1974, S. 263–282, hier: S. 271f., zur Analyse von Lévi-Strauss, die Sherzer trotz der von ihm herausgestellten Fakten als „interessant“ bezeichnet: S. 462, Anm. 10. 56 Im letzten Kapitel seines Buches Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19. Jahrhunderts (Frankfurt 1977) hatte Fritz W. Kramer die aufkärerische Interpretation des Mu-Igala durch Lévi-Strauss freilich noch unterschrieben. 57 Fritz W. Kramer, „Notizen zur Ethnologie der Passiones“, a.a.O., S. 299f.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
135
als durchaus hilfreich erweisen. Womöglich lassen sie sogar die Wirksamkeit einer Identifizierung par distance denkbar werden, die damit den erwähnten neueren ethnographischen Befunden Rechnung tragen würde. 2. „Heilbringende Imago“: Lacans Spiegelstadium Ohne sie als solche ausreichend kenntlich zu machen, bedient sich Lacans Text über Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in psychoanalytischer Erfahrung erscheint verschiedener Quellen, als deren wichtigste wohl Henri Wallons 1934 erschienenes Buch Les Origines du Caractère chez l’enfant, Jacob von Uexkülls 1909 veröffentlichtes Werk Umwelt und Innenwelt der Tiere sowie der Essay von Lévi-Strauss über Die Wirksamkeit der Symbole gelten dürften. Während Uexkülls wirkungsmächtige Untersuchung in der Hauptsache den wirbellosen Tieren und der Frage des Aufbaus der Beziehung zwischen Innenwelt und einer je spezifischen Umwelt gewidmet ist, für die u.a. ein in das zentrale Nervensystem eingeführter „Weltspiegel“ verantwortlich zeichnet58, befasst sich Wallon mit dem Problem der Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeit des eigenen Spiegelbildes, das dem europäischen Kind vom sechsten Lebensmonat an aufgegeben ist. Dessen Lösung geht nicht zuletzt mit der Komplementierung des interozeptiven Ichs durch ein exterozeptives Ich, der Entwicklung einer neuen Raumvorstellung und eines Differenzierungsbewusstseins zwischen irrealem Bild und abgebildetem Eigenkörper einher59. Im Unterschied zu diesen beiden Untersuchungen, in denen Lacan nicht nur seine ethologischen und psychologischen Funde, sondern zweifellos auch den Umriss der ihn orientierenden Fragestellung ausfindig gemacht hat, wird der Text von Lévi-Strauss als einziger ausdrücklich in einem Kontext genannt60, in dem es Lacan um eine Erläuterung der „Imagines im Halbschatten der symbolischen Wirksamkeit“61 zu tun ist. Geht man nun der bislang ununtersuchten Frage nach, welche Rolle die Interpretation des Mu-Igala durch Lévi-Strauss für die 58 Jacob von Uexküll, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1909, S. 194. 59 Henri Wallons, Les Origines du Caractère chez l’enfant, Paris 1934, S. 198ff. 60 Mit diesen drei Texten, auf die sich Lacans Text über das Spiegelstadium „stützt“, befasst sich Hans-Dieter Gondeks instruktive Interpretation, wobei freilich die Frage der Bedeutung von Lévi-Strauss’ Aufsatz unterbelichtet bleibt („Eine psychoanalytische Anthropologie des Bildes“, a.a.O., S. 14ff.). 61 Jacques Lacan, „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je telle qu’elle nous est révélée dans l’expérience psychanalytique“ (1949), in: ders., Écrits, a.a.O., S. 93–100, hier: S. 95; dt. „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, übers. v. Peter Stehlin, in: ders., Schriften I, 3. Aufl., Weinheim/ Berlin 1991, 63–70, hier: S. 65 („gaspillage jubilatoire d’énergie“ heisst es in: Les complex familiaux, a.a.O., S. 43; dt. S. 58).
136
Konversionen
Konzeption und Terminologie des Spiegelstadiums gespielt hat, so lässt sich damit zugleich eine affektive Dimension konturieren, die eine überzeugendere Erklärung der symbolischen Wirksamkeit zu bieten verspricht62 als diejenige von Lévi-Strauss. Anders als Wallon richtet Lacan bei der Untersuchung der für die Konstitution des Ichs unerlässlichen spiegelbildlichen Erfahrung sein Augenmerk nämlich auf die Macht der Anziehung, die das eigene Spiegelbild auf das Kind ausübt, und dessen Auf- bzw. Übernahme es mit einer jubilatorischen Affektverausgabung63 quittiert64. Den vitalen Ausgangspunkt dieses Freudentaumels bildet bekanntlich das Faktum der vorzeitigen menschlichen Geburt, das die Selbsterhaltung des Säuglings einerseits zutiefst mit seiner Fremderhaltung durch Pflegepersonen verstrickt und andererseits mit „motorischer Inkoordiniertheit“, organischer Unzulänglichkeit und einem „Unbehagen“65 im „innerlichen Selbstbefinden“66 einhergeht. Gegenüber dieser ursprünglichen Gebrechlichkeit macht Lacan indes eine „frühzeitige Reifung der visuellen Wahrnehmung“ geltend, der er „den Wert einer funktionellen Antizipation“ zuspricht67. Nicht die Krisensituation einer schwe62 Während Lévi-Strauss in „Le sorcier et sa magie“ (a.a.O., S. 202; dt. S. 202) sich noch zu der Behauptung aufschwingt, dass sich im magischen Verhalten affektive Äußerungen zum Ausdruck brächten, „deren tiefere Natur aber intellektuell“ seien, heißt es freilich in seiner Hommage an Marcel Mauss nach einer Lektüre von Lacans Text „L’agressivité en psychanalyse“, die nunmehr der Irreduzibilität des Imaginären (und damit der affektiven Identifizierung) im Verhältnis zum anderen Rechnung trägt, „daß keine Gesellschaft jemals ganz und vollständig symbolisch ist. Genauer gesagt, bietet sie ihren Mitgliedern niemals insgesamt und im selben Grade das Mittel, sich gänzlich zur Errichtung einer symbolischen Struktur zu verwenden, die für das normale Denken einzig auf der Ebene des sozialen Lebens realisierbar ist. Denn genau genommen ist der, den wir geistig gesund nennen, gerade derjenige, der sich entfremdet, weil er bereit ist, in einer Welt zu leben, die allein durch das Verhältnis von Ich und Anderem definiert werden kann.“ („Introduction à l’œuvre de Marcel Mauss“, in: Marcel Mauss, Sociologie et Anthropologie, Paris 1973, S. IX–LI, hier: S. XX; dt. „Einleitung in das Werk von Marcel Mauss“ in: Marcel Mauss, Soziologie und Anthropologie, Bd. I, übers. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M./ Berlin/ Wien 1978, S. 7–41, hier: S. 15) 63 Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 93f.; dt. S. 63f. 64 Zum Vergleich zwischen Wallon und Lacan siehe Merleau-Ponty, der die von Wallon betonte kognitive Leistung der Wahrnehmung des eigenen Spiegelbildes dem von Lacan herausgehobenen „affektiven Moment dieses Phänomens“ gegenüberstellt (Merleau-Ponty à la Sorbonne. Résumé de cours 1949–1952, Paris 1988,S. 318ff.; dt. Keime der Vernunft. Vorlesungen an der Sorbonne 1949–1952, übers. v. Antje Kapust, München 1994, S. 322ff.). 65 Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 96f.; dt. S. 66f. 66 Hans-Dieter Gondek, „Die Rezenzion: Hanna Gekle: Tod im Spiegel. Zu Lacans Theorie des Imaginären“, in: Riss 42 (1998), S. 146–152, hier: S. 148. 67 Jacques Lacan, „Propos sur la causalité psychique“ (1946), in: ders., Écrits, a.a.O.,
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
137
ren Geburt, wie bei Lévi-Strauss, sondern die anthropologische Tatsache der verfrühten menschlichen Geburt gibt hier den Anstoß für die von Lacan aufgeworfene Frage nach der pikturalen Wirksamkeit, die sogar Einzug in eine „ontologische Struktur der menschlichen Welt“68 erhält. Von der Begegnung mit dem eigenen Spiegelbild ist der Säugling nicht zuletzt deshalb so sehr in affektiven Bann geschlagen, weil es ihm eine in sich geschlossene Ganzheit in „Form“ einer aufgerichteten „Gestalt“ zurückwirft, in der er das „heilbringende Ideal“69 der Imago des eigenen Körpers begrüßt. In Anlehnung an Freud, für den das Ich als körperlich verfasstes „die Projektion einer Oberfläche“70 darstellt, stiftet das „exemplarische“ Ereignis der triumphalen Aufnahme des eigenen Spiegelbildes für Lacan jene „matrice symbolique“ (was ja mit ‚symbolischer Gebärmutter’ übersetzt werden kann), in die „das Ich (je) sich Hals über Kopf als eine primordiale Form hineinstürzt“. Die Form des Ichs, die dabei in Frage steht und mit „narzißtischer Leidenschaft“ (passion)71 besetzt wird, ist das je-idéal, an dem das Je sich ausrichtet, mit dem es sich identifiziert72 und „mißt, dem es nachstrebt [und] dessen Anspruch auf immer weiter gehende Vervollkommnung es zu erfüllen sucht“73. Damit aber sieht sich das J e zeitlebens mit den unerfüllbaren Forderungen eines „fiktiven“ Ideals konfrontiert, das das Imaginäre der Instanz des IchIdeals bzw. des moi ausmacht74. Denn die Form der in sich geschlossenen
68 69 70 71 72
73 74
S. 151–193, hier: S. 186; dt. „Vortrag über die psychische Kausalität“, in: ders., Schriften III, S. 125–171, hier: S. 164. Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 94; dt. S. 64. Jacques Lacan, Les complex familiaux, a.a.O., S. 44; dt. S. 59. Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), Bd. XIII, S. 237–298, hier: S. 253. Jacques Lacan, „L’agressivité en psychanalyse“, a.a.O., S. 116. Mikkel Borch-Jacobsen glaubt allerdings die spiegelbildliche Identifizierung von der affektiven unterscheiden zu müssen. Von dieser Differenz ausgehend formuliert er seine etwas dramatisierte Kritik an Lacan, die ich freilich wenig überzeugend finde. Aus dem oben Gesagten geht hoffentlich hervor, dass die spiegelbildliche Identifizierung nicht anders denn als affektiv und narzisstisch bezeichnet und keineswegs auf die bloße „Wahrnehmung“, „Repräsentation“, das „Vor-stellen“ reduziert werden kann: „Wenn es eine spekuläre [...] Identifizierung gibt [...], so kann sie sich nur auf dem Hintergrund [...] einer vorgängigen Affizierung durch den ‚anderen‘ herstellen. [...] Bizarrerweise kann man Lacan nun nicht nachsagen, daß er nichts davon gewußt hätte; sein Enzyklopädie-Artikel von 1938 über ‚Les complex familiaux‘ bezeugt es. Es verlohnt die Mühe, darauf noch einzugehen, denn man stößt hier auf die Spur einer buchstäblich abgetriebenen Konzeption der Identifizierung.“ (Lacan. Le maître absolu, Paris 1990, S. 88; dt. Lacan. Der absolute Herr und Meister, übers. v. Konrad Honsel, München 1999, S. 80). Sigmund Freud, Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), Bd. XV, S. 71. Diese „erste Skizzierung des Imaginären“, die unter dem Titel des Spiegelstadiums
138
Konversionen
Totalität und souveränen Potenz, die das Spiegelbild des eigenen Körpers „als Relief in Lebensgröße“ errichtet, entspricht nicht „der eigenen Realität“ des Gespiegelten75. Die unüberwindbare Spannung zwischen dem imaginären Ich-Ideal und dem Ich kann in eine unerbittliche intrasubjektive „Rivalität“ umschlagen76, die die masochistischen und suizidalen Drohungen des Narzissmus erhellt77. Aus diesem Grund auch erinnert Lacan bei seiner Verwendung des jungschen wie freudschen Ausdrucks Imago an die antike Bedeutung des Wortes im Sinne der römischen Totenmaske. Die „totale Form des Körpers, kraft der das Subjekt in einer Luftspiegelung (mirage) die Reifung seiner Macht vorwegnimmt“, ist diesem allein in einer exterioren „Gestalt“ gegeben, der Lacan die „Symbolisierung“ von zwei entscheidenden Aspekten zuspricht78: Einerseits symbolisiert die „Gestalt“ eine Art „mentaler Permanenz“, wenn nicht sogar Starre oder Erstarrung des Ichs, andererseits „präfiguriert sie dessen verfremdende Bestimmung“79. Das Spiegelstadium bietet nicht nur jenes
75
76 77 78 79
für Lacan im Rückblick freilich zugleich „die Teilungsregel zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen“ anzugeben erlaubt (Jacques Lacan, „De nos antécédents“, in: ders., Écrits, a.a.O., S. 65–72, hier: S. 68f.; dt. „Von dem, was uns vorausging“, übers. v. Norbert Haas, in: ders., Schriften III, S. 9–14, hier: S. 11f.), erhebt zudem den Anspruch, drei dunkel gebliebene Fragestellungen der freudschen Psychoanalyse durch ihre Verknüpfung einer entschiedeneren Ausarbeitung zuzuführen: so sollen im Spiegstadium, verstanden als „ein Spezialfall der Funktion der Imago“ („Le stade du miroir“, a.a.O., S. 96; dt. S. 66), der in Jenseits des Lustprinzips (1920) eingeführte Todestrieb, die in Massenpsychologie und Ich-Analyse (1923) systematisierte Theorie der Identifizierung und der in Zur Einführung des Narzißmus (1914) akzentuierte Begriff des „primären Narzißmus“ zusammengeführt und ihrer Inkohärenzen beraubt werden („De nos antécédents“, a.a.O., S. 67f.; dt. S. 11). Vom Todestrieb und seiner „stummen Arbeit“ hat Freud in der Tat nie anders als von einer ihn bezwingenden „Spekulation“ gesprochen, die namentlich für die Klärung des „Partialtriebs“ des „primären Masochismus“ aufkommen sollte (Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur [1930], Bd. XIV, S. 421–506, hier: S. 478). Das „Rätsel“ der Identifizierung hat er eingestandenermaßen selbst niemals gelöst (Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse [1921], Bd. XIII, S. 73–161, hier: S. 121, Anm. 2.). Vom „primären Narzißmus“, den er von einem „sekundären“ unterscheidet, sagt Freud wiederum selbst, dass er „durch mannigfache Einflüsse verdunkelt“ und damit unzugänglich geblieben sei (Sigmund Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“ [1914], Bd. X, S. 138–147, hier: S. 140). Ist das Spiegelstadium auch die die ursprüngliche Identifizierung mit dem anderen (seiner selbst) offenlegende Einrichtung, so bezeugt sich darin freilich nicht die unbedingte Notwendigkeit eines spiegelnden Apparates. Dieser ist hinsichtlich seiner imaginären Komponenten ebenso gut durch eine andere Person ersetzbar. Jacques Lacan, „L’agressivité en psychanalyse“, a.a.O., S. 117. Jacques Lacan, „Propos sur la causalité psychique“, a.a.O., S. 186; dt. S. 164. Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 94 f.; dt. S. 64. Ebd., S. 95; dt. S. 65.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
139
„Standbild“, in dem sich das Ich zugleich als ein Anderer erkennt und verkennt; das mit ihm bezeichnete Ereignis fällt zudem mit dem Auftritt des Phantasmas zusammen. Von dem Moment an, da das Ich auf einer die „orthopädische“80 Ganzheit des Körpers vorspiegelnden Linie zu stehen kommt, schlägt die Geburtstunde der Imagines des eigenen Körpers, die vom heilen, unversehrten und seiner selbst mächtigen Eigenkörper bis hin zum zerstückelten Körper reichen. Jetzt erst werden die Bezüge zu Lévi-Strauss greifbarer, aber noch nicht unbedingt klarer, wenn Lacan unter Verweis auf L’éfficacité symbolique schreibt: „Für die Imagines – wir haben das Vorrecht zu sehen, wie ihre verschleierten Gesichter [...] im Halbschatten der symbolischen Wirksamkeit Konturen gewinnen – scheint das Spiegelbild die Schwelle der sichtbaren Welt zu sein, falls wir uns der spiegelbildlichen Anordnung überlassen, welche die Imago des eigenen Körpers in der Halluzination und im Traum darbietet – handle es sich nun um seine individuellen Züge, seine Gebrechen oder seine Projektionen auf ein Objekt.“81
Für Lacans Ausmalung des Bildes vom zerstückelten Körper hat nun die im Mu-Igala beschriebene und von Lévi-Strauss als „mythische Anatomie“ ausgewiesene „Welt des Uterus“ ganz offenkundig Pate gestanden. Dafür spricht einerseits Lacans Gebrauch des Terminus „phantasmatische Anatomie“ und andererseits sein Hinweis auf die Malerei von Hieronymus Bosch, an die sich Lévi-Strauss, wie gesehen, angesichts der Schilderung des „Infernos“ des weiblichen Körperinneren ausdrücklich erinnert fühlt. Die im Mu-Igala ins Werk gesetzte Personifizierung der Geburtsschmerzen vermittels „phantastischer Ungeheuer und wilder Tiere“ die „mit herunterhängender Zunge [...] geifernd und schäumend, mit flammendem Schwanz, drohend gefletschten, alles zerreißenden Zähnen“ den weiblichen Körper zu zerstören suchen, findet in Lacans Tableau der „aggressiven Desintegration“82 des eigenen Körpers einen deutlichen Widerhall: „Er erscheint dann in der Form losgelöster Glieder und exoskopisch dargestellter, geflügelter und bewaffneter Organe, die jene inneren
80 Lacan versteht die „orthopédie“ im griechischen Wortsinn: orthós (gerade, recht, stark) und paideía (Bildung, Erziehung). Siehe dazu: „De nos antécédents“, a.a.O., S. 97; dt. S. 67. 81 Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 95; dt. S. 65. 82 Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 214–216; dt. S. 213–215.
140
Konversionen
Verfolgungen aufnehmen, die der Visionär Hieronymus Bosch in seiner Malerei für immer festgehalten hat.“83
Die im Organischen selbst fassbaren „Bruchlinien, die die phantasmatische Anatomie umreißen“84, und an deren stets möglichem Aufbrechen der eigene Körper in Fetzen zu fliegen und auseinander zu platzen droht, bestimmen nicht nur Myriaden von individuellen Träumen und einsamen Angstphantasien, sondern formieren auch die Sujets von Heilgesängen und den öffentlichen Künsten des Bildes insgesamt, wo immer sie sich der Darstellung des durch seine primordiale Sterblichkeit gefährdeten menschlichen Körpers widmen. Damit weist Lacan der im Mu-Igala entworfenen „mythischen Anatomie“ des zerstückelten Körpers im gleichen Maße einen spiegelbildlichen Entstehungsort zu wie den heilbringenden holzgeschnitzten Figuren, den nelegan, die sich für eine „Projektion“ der Imago des unversehrten Eigenkörpers angeboten haben dürften85. Gleichgültig, ob solche „heteroklite[n] Mannequin[s], barocke[n] Puppe[n], Gliedertrophäe[n]“ oder andere Doppelgänger nun in der phantasmatischen Sphäre verbleiben oder aber eine mediale Um- und Übersetzung finden, stets hat man darin jenes „narzißtische Objekt“86 des je-idéal wiederzufinden, das die spiegelbildliche „Gestalt“ konstituiert. Wie die nelegan, die im Heilgesang als „Wesen nach dem Bilde des Menschen für den Dienst am Menschen“ (235–237) bezeichnet werden, ist auch das Spiegelbild des eigenen Körpers „mit außergewöhnlichen Kräften“ begabt87: So wie Lévi-Strauss sowohl dem Ritualgesang als auch den „heiligen Bildern“ eine „symbolische Wirksamkeit“ attestiert, die auf dem Niveau des organischen Körpers heilbringende Effekte zeitigt, spricht Lacan der im Spiegel erscheinenden Gestalt ebenfalls „bildnerische Wirkungen auf den Organismus“88 zu. Während biologische Experimente mit Taubenweibchen oder Wanderheuschrecken für Lacan die „fonction informatrice“89 des Spiegelbildes unzweideutig bezeugen, ohne dass sich freilich die betreffenden Wissenschaftler dazu hätten entschließen können, dabei von einer psycho-physischen Kausalität zu sprechen90, will der Text über 83 84 85 86 87 88 89
Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 97; dt. S. 67. Ebd. Ebd. Jacques Lacan, Les complex familiaux, a.a.O., S. 60; dt. S. 69. Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 207; dt. S. 206. Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 95; dt. S. 65. Jacques Lacan, „Au-delà du principe de réalité“ (1936), in: Écrits, a.a.O., S. 73–92, hier: S. 77; dt. „Jenseits des Realitätsprinzips“, übers. v. Franz Kaltenbeck, in: ders., Schriften III, a.a.O., S. 17–37, hier: S. 21. 90 Jacques Lacan, „Propos sur la causalité psychique“, a.a.O., S. 188ff.; dt. S. 166ff.; siehe dazu auch: „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 95f.; dt. S. 65.
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
141
das Spiegelstadium eine Theorie der Identifizierung und Mimesis entwerfen, die von der „prägenden“ Kraft der bildlichen Gestalt ausgeht und es somit verbietet, das Bild als einen schattenhaften Nachtrag der Realität aufzufassen. Diesseits und außerhalb der spiegelbildlichen Mimesis gibt es kein einheitliches Ich im Sinne einer fest umrissenen Gestalt des eigenen Körpers. Folglich geht dem Abbild kein „Urbild“91 voraus, das wirklicher oder wesentlicher wäre als sein nachträgliches Bild. Wenn diese Abbildung ohne Paradigma auskommt, so findet sie nicht ohne Imitatio statt. Denn das Imitierte ist erst durch seine Imitation von sich als einem, wenn man so will, Urbild betroffen. Die Imitation ist dem Imitierten gegenüber vorgängig und früher. Sie bringt das Imitierte allererst hervor. Dabei wird die zwischen Spiegelbild und Gespiegeltem liegende Kluft des sowohl zeitlich als auch räumlich Entlegensten durch das affektive Ereignis der Identifizierung geschlossen. Der Säugling, der von der „idealen Einheit, der heilbringenden Imago“92 des eigenen Körpers getroffen ist, identifiziert sich mit dem, was er gerne „selbst sein möchte“93. Wenn diese narzisstische Identifizierung mit dem eigenen Bild einen Prozess der Verähnlichung in Gang setzt, dann beherrscht das souveräne Standbild nicht nur die (vergeblichen) Bemühungen des Ichs, sich mit seinem imaginären Ich-Ideal in Übereinstimmung zu bringen; es drückt damit zugleich auch dem motorisch inkoordinierten Körper seinen Stempel auf94: Im Übersprung von der körperlichen „Unzulänglichkeit auf die Antizipation“ richtet es die Erhebung des Körpers vom Boden, den aufrechten Gang und die Beherrschung des Körpers ein. Das „an der lockenden Täuschung der räumlichen Identifizierung festgehaltene Subjekt“95 wird durch den Vorentwurf seiner aufgerichteten Gestalt zur Aufrichtung seines Körpers verführt – einer Aufrichtung, die im Prozess der Verähnlichung mit dem Spiegelbild allererst realisiert wird und nicht zur anthropologischen Geburtsausstattung des Menschen gehört. Ist die Identifizierung und Verähnlichung mit der spiegelbildlichen Gestalt aus Sicht Lacans ein affektiv wirksames Ereignis, das das Subjekt auf unumgängliche Weise überkommt und nicht auf dessen Intention, Urheberschaft oder gar bewusster Entscheidung zurückgeführt werden kann, so ließe sich die „symbolische Wirksamkeit“ des Mu-Igala mit der auf den Organismus selbst eingreifenden affektiven Kraft der mimetischen 91 „Urbild“ im Original deutsch: Jacques Lacan, „L’agressivité en psychanalyse“, a.a.O., S. 116. 92 Ebd., S. 113. 93 Sigmund Freud, „Zur Einführung des Narzißmus“, a.a.O., S. 156. 94 Jacques Lacan, „Au-delà du principe de réalité“, a.a.O., S. 77; dt. S. 21. 95 Jacques Lacan, „Le stade du miroir“, a.a.O., S. 97; dt. S. 67.
142
Konversionen
Identifizierung erklärlich machen, die von den heilbringenden Imagines des eigenen Körpers angestoßen und ins Werk gesetzt wird. Mit Blick auf die sprachliche Gestalt des Mu-Igala gälte es freilich gegen Lacan ein Imaginäres in Betracht zu ziehen, das im Symbolischen selbst eine poetische oder mythische Aufrichtung erfährt. Während die Explikation der affektiven Identifizierung der von Chapin berichteten Tatsache Genüge tun kann, dass die Spezialsprache des Mu-Igala für die betreffenden Frauen unzugänglich bleibt, so ist freilich noch die Wirksamkeit eines Heilgesangs zu klären, der auf die Anwesenheit der Gebärenden in jeder Hinsicht verzichten kann. Zur Lösung dieses nicht unerheblichen Problems scheint es zum Abschluss ratsam, auf Lacans Auseinandersetzung mit dem freudschen Konzept der Identifizierung einzugehen. In Massenpsychologie und Ich-Analyse liefert Freud eine summarische Darstellung seiner Theorie der Identifizierung, von der er jedoch freimütig eingesteht, sie niemals so weit vorangetrieben zu haben, wie es notwendig und wünschenswert gewesen wäre96. Er unterscheidet dabei drei unterschiedliche Formen der Identifizierung: Erstens eine totale Identifizierung „als früheste Äußerung einer Gefühlsbindung an eine andere Person“, die sich an der Imago des Vaters ausrichtet; zweitens im Falle der Trauer eine Regression auf die Identifizierung, bei der das Ich „die Eigenschaften des [verlorenen] Objektes an sich nimmt“ und die „geliebte Person kopiert“; sowie drittens eine partielle Identifizierung, die auf keiner „Objektbeziehung“, sondern nur auf der Wahrnehmung einer begehrten Gemeinsamkeit mit der „kopierten Person“ beruht, weshalb Freud hier nicht nur von „Imitation“, sondern auch von „psychischer Infektion“ spricht97. Weit davon entfernt, die Berechtigung dieser drei heterogenen Modi der Identifizierung in Abrede stellen zu wollen, geht es Lacan im Text über das Spiegelstadium darum, einer „UrIdentifizierung“98 Rechnung zu tragen, die diesen unterschiedlichen Formen der Identifizierung mit anderen Personen vorausgeht und sie ermöglicht99. Die Identifizierung des Ichs mit seinem „Ich-Ideal“ im Sinne der selbstmächtigen Gestalt des eigenen Körpers schreibt diesem Ich eine exteriore Andersheit ein, die es ihm fortan überhaupt erst erlauben soll, 96 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 121, Anm. 2. 97 Ebd., S. 113–118. Im Falle der hysterischen Identifizierung erstreckt sich die „psychische Infektion“ auf das Symptom, „das die gemeinsame Deckungsstelle der beiden Ich, die verdrängt gehalten werden soll“, zum Ausdruck bringt (ebd., S. 118). 98 In „L’agressivité en psychanalyse“ (a.a.O., S. 117) spricht Lacan von einer „identification primaire“. 99 So lautet die überzeugende Interpretation von Hans-Dieter Gondek, der ich mich hier anschließe („Eine psychoanalytische Anthropologie des Bildes“, a.a.O., S. 11f.).
Därmann, Symbolische und pikturale Wirksamkeit
143
sich mit anderen Personen zu identifizieren100 oder aber die Imago des eigenen Körpers auf andere Objekte zu projizieren. Damit aber bildete die spiegelbildliche Identifizierung auch die Grundlage für die von Freud so benannte „psychische Ansteckung“, die weder an eine intensive Gefühlsbindung zum anderen Objekt noch auch an dessen physische Anwesenheit geknüpft ist, sondern sich mit dem Hörensagen und der Kenntnis der begehrten Gemeinsamkeit der beiden Iche begnügt. Vor diesem Hintergrund könnte die sowohl pikturale als auch symbolische Wirksamkeit der nelegan und des Mu-Igala auf einer Identifizierung auf Distanz beruhen, die von dem Konvergenzpunkt zwischen dem narzisstischen Begehren nach Heilung und jenen hölzernen Figuren bzw. dem Ritualgesang getragen ist, dessen heilbringende Kräfte sich der Projektion der Imago des eigenen unversehrten Körpers verdanken. Ob es indes, wie Lévi-Strauss mutmaßte, tatsächlich der Psychoanalyse bedarf, um den schamanistischen Heilmethoden ihre Rätselhaftigkeit zu nehmen, darf durchaus bezweifelt werden. Denn die indigene Psychologie, die davon ausgeht, dass jeder „Teil des menschlichen Körpers verschiedene purbas hat, welche zusammen eine unsichtbare replica des ganzen Körpers bilden“101, formuliert auf ihre Weise ein Wissen um die Imagines des eigenen Körpers, seiner Zerstückelung und der Bedingungen für die Integrität des sogenannten „Hauptkörpers“102 im Zusammenwirken aller einzelnen purba. Zieht man in Betracht, dass Lévi-Strauss an anderer Stelle eine methodische Klärung der Psychoanalyse aus der Perspektive des Schamanismus für möglich hält103, dann liegt es mit Fritz Kramer nahe, die Psychoanalyse, in welcher Spielart auch immer, zu einer „indigenen Psychologie“ unter anderen zu erklären104, die keinen Anspruch auf die exklusive Deutungshoheit außereuropäischer Psychotherapien erheben kann.
100 Ebd., S. 12. 101 Erland Nordenskiöld, An Historical and Ethnographical Survey of the Cuna Indians, a.a.O., S. 334. 102 Vgl. dazu Claude Lévi-Strauss, „L’efficacité symbolique“, a.a.O., S. 209; dt. S. 208. 103 Claude Lévi-Strauss, „Le sorcier et sa magie“, a.a.O., S. 202; dt. S. 202. 104 Fritz W. Kramer, „Initiation“, in: Bernhard Streck (Hg.), Wörterbuch der Ethnologie, 2. erweiterte Aufl., Wuppertal 2000, S. 111–114.
This page intentionally left blank
Personen: ein Kulturvergleich Maria-Sibylla Lotter Was für eine Person man ist, hängt davon ab, wofür man Verantwortung trägt. Der Begriff Verantwortung bezeichnet ein komplexes Phänomen: die Aneignung von Personidealen und die Übernahme von sozialen Aufgaben und Pflichten ist mit einer Rechenschaftspflicht verbunden, die Scham oder Schuld, Haftung und Strafbarkeit nach sich ziehen kann. Es gibt freilich signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen in der Gewichtung dieser Aspekte für die Personauffassung. In manchen Kulturen wie im Hinduismus werden Personen und ihre Handlungen vor allem aus dem sozialen Kontext verstanden, in den so genannten westlichen Ländern vor allem durch Bezug zu einem individuellen Selbst und seinen moralischen Eigenschaften. Noch im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurde das individualistische Modell mit dem Wahren gleichgesetzt – jedenfalls in westlichen Ländern. Aber tatsächlich trifft es nicht einmal auf die westliche Praxis der Verantwortungszuschreibungen ganz zu. Das wirft die Frage auf, warum im Westen der individuelle moralische Zustand zumindest in der Theorie so stark betont wird. Das mag u. a. eine Folge der religiösen Orientierung am ewigen Leben des Individuums sein, der bis auf die Vorstellung von der gereinigten Existenz nach dem Tode in der ägyptischen Osiris-Religion zurückgeht. What kind of person you are depends on what you are responsible for. The concept of responsibility concerns a rather complex phenomenon, connecting the internalization of personal ideals, social tasks and duties with shame and guilt, liability and punishment. However, there are significant differences between different cultures concerning the relative importance of these aspects for the concept of persons. In some cultural contexts like Indian Hinduism, persons and their actions are understood by reference to the social context, whereas in so- called Western countries persons and their actions are explained by reference to an individual self and its intrinsic moral properties. Until the early twentieth century, the Western idea was taken as the true one – at least by Westerners. However, it is not even true for the Western way of applying the concept of responsibility, compared with theory. This reflection leads to the question, why the individual moral condition is so much emphasized in Western countries. Possibly this extremely individualistic idea of personality and guilt is derived from a religious tradition which contrasts the worldly life with a better, eternal life of the individuals in a purified condition.
1. Die Person: Soziales Konstrukt oder wahres Individuum? Ein jeder Mensch finde den Gedanken der Person „natürlich“, schreibt der französische Kulturwissenschaftler Marcel Mauss in seiner berühmten Studie von 1938 Une Catégorie de l’esprit humain: la notion de per-
146
Konversionen
sonne, celle de „moi“.1 Die Idee der Person zeichne sich „deutlich in den Tiefen seines moralischen Bewusstseins“ ab und sei dabei „voll ausgestattet mit all den Prinzipien der Moral, die von ihm ausgeht.“ Gleichwohl sei erst in „unseren Zivilisationen“ der Gedanke der Person als eines individuellen „Selbst“, das moralischen Wert besitzt, „klar und deutlich“ geworden.2 Während die Person ursprünglich als eine eher äußerliche soziale Rolle verstanden worden sei, habe man sie erst im Christentum als die wahre Natur des Individuums entdeckt – eine Entdeckung, die sich dann in der Moderne voll entfaltet habe. In Mauss’ Entwicklungsschema gehen zwei Auffassungen von Personalität ein, die wir auch aus anderen Kontexten kennen. Einerseits scheint er die Person kulturrelativ zu betrachten, nämlich als eine Art soziales Konstrukt, das je nach Kontext wechselt. Andererseits suggeriert er, dass es so etwas wie die wirkliche Natur der Person gäbe – und diese sei die wahre Natur des Individuums. Beide Annahmen würden sich widersprechen, wenn Mauss sie nicht in ein evolutionistisches Schema eingebunden hätte: Die Person als soziales Konstrukt erscheint in seinem Schema als ein frühes Stadium, nämlich als eine Vorstellung von Personalität als Maske, hinter der sich die wahre Natur des Individuums noch verbirgt. Im Laufe der Entwicklung wird diese Maske schließlich abgelegt, die Person unterscheidet sich nicht mehr von der wahren Natur des Individuums. Die Vorstellung, es gäbe eine Art Höherentwicklung der Person von ihrer Wahrnehmung als eines bloßen Trägers von kollektiven Belangen zu ihrer Wahrnehmung als eines einzigartigen Individuums, die in unserer Kultur ihren Höhepunkt erreiche, wird heute von Kulturwissenschaftlern eher kritisch betrachtet. Viele Ethnologen verneinen sogar die Frage, ob es sich bei der Person überhaupt um etwas Universales handle. Sie sind der Auffassung, der Personbegriff bezöge sich auf spezielle Inhalte der europäischen Kultur und sei nicht auf andere Kulturen übertragbar. Während viele Einzelwissenschaftler einem solchen Kulturrelativismus zuneigen, ist im Alltagsdenken, bei Theologen und Philosophen aber noch immer der Glaube verbreitet, dass der europäische Personbegriff letztlich einen universalen Maßstab auch für andere Kulturen vorgeben müsse. Beide Einstellungen erscheinen mir weder zwingend noch hilfreich als Leitideen für das Verständnis kultureller Unterschiede. Die Entwicklung 1
2
Sie wurde ursprünglich im Journal of the Royal Anthropological Institute, Bd. LXVIII, London 1938, veröffentlicht; hier zitiert nach Marcel Mauss, „Une Catégorie de l’ésprit humain: La notion de personne, celle de moi“, in: ders., Sociologie et Anthropologie, Paris 1997, S. 333: „Tout le monde la trouve naturelle précise au fond de sa conscience, tout equipée au fond de la morale qui s’en déduit.“ Ebd., S. 334.
Lotter, Personen
147
von speziellen Worten für bestimmte allgemeine Unterscheidungen wie die zwischen Person und Nichtperson, unabhängig von Geschlecht und Status, markiert zweifellos ein wichtiges Stadium der Begriffsentwicklung, aber daraus ist nicht umgekehrt zu schließen, dass mangels eines allgemeinen Ausdrucks, der einen Komplex einzeln benennbarer Sachverhalte zusammenfasst, der Vorgang oder Komplex als ganzer keine Relevanz haben kann. Da umgekehrt nicht mehr naiv vorausgesetzt werden kann, dass der europäische Personbegriff fortschrittlicher als andere ist, kann er auch nicht mehr einfach zum Maßstab anderer Konzepte der Person genommen werden, indem diese als eine Art früheres Stadium oder mangelhaftere Ausführung des ersten verstanden werden. Stattdessen möchte ich zunächst nach der Aufgabe von Personbegriffen fragen. Was leisten Personbegriffe? Müssen in allen Kulturen und Gesellschaften solche Aufgaben erfüllt werden, und wenn ja: Welche möglichen Folgeprobleme ergäben sich hieraus? Eine Aufgabe, die wohl überall erfüllt werden muss, ist die Verteilung von Verantwortung auf geeignete Verantwortungsträger. Schließlich werden in allen Gesellschaften normative Erwartungen hinsichtlich des eigenen Verhaltens und des Verhaltens anderer ausgebildet. Wenn normative Erwartungen enttäuscht werden, die Personen mit anderen teilen, müssen sie das nicht als zufälliges Schicksal hinnehmen, sondern sind berechtigt, den Betreffenden „zur Verantwortung zu ziehen“. Anders als Mauss dachte, wird es daher auch in allen Gesellschaften Vorstellungen von Personen als Verantwortungssubjekte geben. Daraus folgt aber nicht, dass es überall eine Entsprechung zum speziell europäischen Personbegriff mit seinen speziellen Konnotationen von individueller Seele, Schuld, Gewissen etc. geben müsste. Denn Verantwortung kann vielerlei bedeuten. Beispielsweise, dass die Person für einen Schaden zu haften hat, den sie uns zugefügt hat, dass sie öffentlich beschämt oder gar strafrechtlich verfolgt wird. Haftung, moralische Kommunikation, Scham und Rechtsverantwortung folgen verschiedenen Regeln und Gerechtigkeitsstandards. Und normative Erwartungen sind in kleinen Gesellschaften, wo jeder jeden kennt, viel flexibler als in modernen Gesellschaften, wo die Wirtschaft weitgehend auf anonymen Beziehungen basiert. Das gilt auch für die möglichen Sanktionen: Sie werden der faktischen Situation der Individuen stärker angepasst.3 Jemanden zur Verantwortung zu ziehen, ob das nun in einem Palaver der Betroffenen und ihrer Familien geschieht, oder in einem modernen Strafrechtsprozess, dient gleichwohl überall einem 3
Vgl. Philip H. Gulliver, Social Control in an African Society – A Study of the Arusha: Agricultural Masai of Northern Tanganyika, London 1963.
148
Konversionen
allgemeinen Zweck: Es dient dazu, uns zu versichern, dass soziales Verhalten nicht zufällig ist, dass wir nicht jederzeit mit allem möglichen rechnen müssen, sondern uns auch weiterhin auf bestimmte Regeln verlassen können. Den Betroffenen wird dadurch versichert, dass die Enttäuschung nur vorübergehend ist, weil der materielle Schaden ausgeglichen werden wird und der Gewalttäter gerecht bestraft werden wird. Und auch wenn dies im Einzelfall nicht möglich ist, wird doch ihr Recht auf Kompensation der Enttäuschung anerkannt. Von dieser Überlegung ausgehend, läge es nahe, Personen als Zurechnungssubjekte zu betrachten, wie es weitgehend der philosophischen Tradition von John Locke bis Kant entspricht. „Person [...] is a Forensick Term appropriating Actions and their Merit“,4 heißt es bei Locke, und noch knapper bei Kant: „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“ Diese knappe Formel scheint in ausgezeichneter Weise geeignet, einen Zugang nicht nur zu europäischen Personbegriffen, sondern auch zum universellen Phänomen der Personalität zu eröffnen. Die Zurechnung erfüllt einerseits eine gesellschaftliche Aufgabe: Schäden, Tabubrüche oder andere Verletzungen von Sollensgeboten müssen einzelnen oder kollektiven Instanzen zugerechnet werden. Aber diese Aufgabe kann nur kulturell gelöst werden, nämlich mittels bestimmter Menschenbilder. Je nachdem, um welche Art von Zurechnung es sich handelt, müssen beim Zurechnungsträger nämlich gewisse Eigenschaften unterstellt werden, die seine Zurechnungsfähigkeit ausmachen; im Falle der kollektiven Zurechnung ökonomischer Schäden wäre dies die Zahlungsfähigkeit, im Falle der individuellen Zurechnung eher „geistige“ Eigenschaften wie geistige Gesundheit und andere Aspekte der „mentalen“ Zurechnungsfähigkeit. Und wenn wir europäische Personbegriffe betrachten, stellt sich tatsächlich heraus, dass ein Großteil der Attribute, die individuellen Personen in der europäischen Tradition unterstellt werden, konstitutiv für ihre Zurechnungsfähigkeit sind: Eigenschaften wie Vernünftigkeit und Handlungsfähigkeit, die aufgrund von Erfahrung auch abgesprochen werden können, aber auch „tiefere“ Eigenschaften wie Autonomie oder Willensfreiheit, die Menschen generell zugesprochen werden. Hier dienen oft religiöse Vorstellungen, die sich ursprünglich in anderen Problemkontexten entwickelt haben, als Legitimationsgrundlage von Schuldauffassungen und dergleichen. Damit soll nicht gesagt sein, Personen seien „nichts als“ Zurechnungssubjekte. Sie sind gewöhnlich viel mehr als das. Meine Arbeitshypothese 4
John Locke, An Essay Concerning Human Understanding, Buch II, Kap. XXVII, § 26, Oxford 1975, S. 346.
Lotter, Personen
149
besagt lediglich, dass die Zurechnungsfähigkeit einen notwendigen Bestandteil des Personseins ausmacht, und dass sich viele personale Eigenschaften hieraus ergeben. Man könnte sagen, sie gehöre zum „Wesen“ von Personen. Mit Blick auf das Wesensmerkmal der Zurechnungsfähigkeit können wir zwischen konstitutiven und bloß kontingenten Attributen der individuellen Person unterscheiden. Kontingent wären Attribute, die einer Person zugesprochen werden, aber keinerlei Funktion für die Zurechnung haben. Es ist zu vermuten, dass diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Kulturen variiert und sich auch innerhalb von kulturellen Einheiten mit den jeweiligen gesellschaftlichen Zwecken der Zurechnung unterscheidet. Kontingente Attribute wären im modernen Europa beispielsweise individuelle Eigenschaften der Person wie die Farbe der Augen oder die Größe der Ohren oder der Umstand, ob sie Kinder hat. Sie spielen keine Rolle für die Zurechnungsfähigkeit. Dies könnte sich in Kulturen, wo Körpermerkmale als Anzeichen geistiger Vollkommenheit gelten, wie im buddhistischen Tibet, durchaus anders verhalten; und bei den afrikanischen Tallensi gehören Nachkommen zu den notwendigen Bedingungen voller Personalität, weil das Zurechnungssubjekt in einer Kontinuität der Zurechnung mit den Ahnen steht und sich diese Kontinuität auch in die Zukunft fortsetzen können muss. (Ein liederlicher Mensch, der Kinder hat, wird dort daher eher als eine verantwortliche Person im vollen Sinne angesehen als ein Tugendbold ohne Kinder, weil Kinder eine konstitutive, Tugend nur eine zusätzlich erwünschte, aber kontingente Eigenschaft von Personalität sind.)5 Welche Attribute als konstitutive Eigenschaften von Personen angesehen werden, scheint also einerseits dadurch bedingt zu sein, wie – und d. h. nach welchen Gerechtigkeitsmaßstäben – jeweils zugerechnet wird, andererseits durch die allgemeinen metaphysischen und religiösen Annahmen über die Natur und die Beziehungen zwischen dem Menschen und allen anderen Wesen. Der seit dem neunzehnten Jahrhundert zunehmend verbreitete Begriff Verantwortung erscheint mir allerdings besser geeignet als der Begriff Zurechnung, diese unverzichtbaren Bestandteile von Personen zu entschlüsseln und dabei kulturelle Unterschied freizulegen. Im Unterschied zum Zurechnungsbegriff bringt der Begriff Verantwortung zum Ausdruck, dass Zurechnung ein sozialer und kommunikativer Vorgang ist, der Frage und Antwort enthält und gewöhnlich mehr Parteien einschließt als das Zurechnungssubjekt. Eine Person als Trägerin von Verantwortung
5
Vgl. Meyer Fortes, „On the Concept of the Person among the Tallensi“, in: Germaine Dieterlen (Hg.), La notion de personne en afrique noire, Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1973, S. 308.
150
Konversionen
erscheint nicht nur als ein Wesen, dem etwas zugerechnet wird, sondern als eine Instanz, die wegen ihrer Handlungen und Unterlassungen befragt wird, und die anderen Menschen oder auch Göttern Rechenschaft ablegt. Die Regeln der Zurechnung betreffen also nur einen Teilaspekt eines komplexeren Phänomens, das in all seinen Aspekten für unser Personsein konstitutiv ist. Verantwortung im Sinne der Zurechnung von Handlungen oder Unterlassungen setzt nämlich Verantwortung im Sinne der Übernahme von sozialen Aufgaben und Pflichten voraus; was im Rechtsfall zugerechnet wird, ist schließlich die Verletzung einer Rechtspflicht.6 Umgekehrt bringt freilich auch die Übernahme von Aufgaben eine Rechenschaftspflicht mit sich. Wenn wir jemanden als Person im vollen Sinne wahrnehmen, gehen wir gewöhnlich davon aus, dass sie in all diesen Hinsichten verantwortungsfähig ist. Der Begriff Verantwortung steht also, universal gesehen, für ein komplexes Phänomen, das die Übernahme von sozialen Aufgaben und Pflichten mit einer Rechenschaftspflicht verbindet, die Haftung oder Strafbarkeit nach sich ziehen kann. Das bedeutet nicht, dass Verantwortung und Personalität letztlich überall dasselbe sei. Allein schon mit Blick auf die weit divergierenden Verantwortungsauffassungen in verschiedenen sozialen und rechtlichen Kontexten unserer Gesellschaft stellt sich heraus, dass die Einzelaspekte dieses Komplexes in verschiedenen Kontexten gesondert thematisiert werden können. Es ist daher anzunehmen, dass sie auch nicht überall das gleiche Gewicht für die Personvorstellung haben. In verschiedenen kulturellen Kontexten können diese sich wechselseitig voraussetzenden Aspekte von Verantwortung verschieden bei den Personvorstellungen gewichtet und interpretiert werden. Wenn wir Personen als Verantwortungsträgerinnen begreifen, folgt daraus, dass es „die“ Person nur als Abstraktion gibt. Wer als Kandidat für eine Person in Frage kommt und was eine Person ausmacht, hängt einerseits vom kulturellen und gesellschaftlichen Kontext ab. Wie der Ethnologe Meyer-Fortes von den afrikanischen Tallensi berichtet, kann dort auch ein Krokodil als eine Person betrachtet werden, nämlich als Inkarnation eines Vorfahren, und hat somit gewisse Rechte, aber nur in Relation zu einem bestimmten Ort und einer bestimmten Gruppe. Von Menschen, mit denen es nicht totemistisch verwandt ist, kann es getötet und 6
Otfried Höffe unterscheidet entsprechend eine „Primärverantwortung“ der Aufgabenverantwortung von einer „Sekundärverantwortung“ der Rechenschaftspflicht, zu der die Zuschreibung gehört. Vgl. Otfried Höffe, „Schulden die Menschen einander Verantwortung? Skizze einer fundamentalethischen Legitimation“, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Verantwortlichkeit und Recht: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie XIV, Opladen 1989, S. 16f.
Lotter, Personen
151
gegessen werden.7 Andererseits unterscheiden sich Personen auch innerhalb begrenzter kultureller und sozialer Kontexte. Es wird schwerlich eine Gesellschaft geben, in der alle Personen dieselben Verantwortlichkeiten tragen und, damit verbunden, über dieselben Rechte und Pflichten verfügen. Was eine spezifische kulturelle Personauffassung ausmacht, ist nicht ausreichend mit Formeln der Selbstbeschreibung wie dem europäischen Begriff der „autonomen Person“ erfassbar; schließlich handelt es sich nicht um einen rein philosophischen Begriff. Was beispielsweise ein „westliches“ Personverständnis bestimmt, zeigt sich eher im Kontrast zu dem, was wir als fremdartig empfinden. Hierzu sollen im folgenden zwei Beispiele aus kulturellen Umgebungen dienen, die etwas Wesentliches mit dem Christentum teilen: Sowohl die hinduistische als auch die buddhistische Karmalehre gehen, ebenso wie die christlichen Lehren von der Erbsünde und der individuellen Verantwortung, davon aus, dass es nicht nur eine natürliche, sondern eine moralische Verursachung gibt. Gleichwohl zeigen sich hier signifikante Unterschiede, die ich in diesem Rahmen nur grob skizzieren kann. 2. Der diebische Mönch In ihrer Studie über das Rechtswesen im buddhistischen Tibet berichtet die Rechtsethnologin Rebekka Redwood French von dem Fall eines chronischen Diebes, eines Mönches aus der Region Tseten, der das Kloster verließ und im Land herumwanderte. Dabei ernährte er sich von Nahrungsdiebstählen bei den Bauern. Oft wurde er gefasst, ausgepeitscht und ins Gefängnis gesteckt, wo er jedoch unweigerlich wieder ausbrach. Nachdem der Vorsteher des Klosters sich genau nach den Motiven erkundigt hatte, aus denen der Mönch stahl, suchte er ihn auf. „Der Vorsteher sagte ihm, dass er sehr schlechtes Karma erzeuge, und dass dieses Karma zu einer schlechten Wiedergeburt führen würde. Dann teilte er ihm mit, dass er von nun an in seinem eigenen Haus wohnen sollte. Er hatte eine große Familie, keinen Mangel an Nahrungsmitteln, und der Mönch sollte dort Nahrung, Kleidung und ein Gehalt beziehen. Ihm wurde die Verantwortung für das gesamte Vieh der Familie übertragen. Der Mönch veränderte sich dort sehr und beging nie wieder einen Diebstahl. Mit der Zeit brachte man ihm in
7
Das ermordete Krokodil wird als Person/nit, aber nicht als menschlich bezeichnet. Die Tallensi unterscheiden also wie Locke zwischen dem Menschen und der Person.Vgl. Meyer Fortes, „On the Concept of the Person among the Tallensi“, a.a.O., S. 285.
152
Konversionen
der Gegend so viel Vertrauen entgegen, dass die Bauern während einer Dürreperiode zu ihm kamen und ihn baten, für sie zu entscheiden, welcher Bauer zuerst Wasser erhalten sollte.“8
Diese Geschichte, die sich um 1940 zugetragen haben soll, zeigt, dass die Interpretation und Gewichtung der verschiedenen Verantwortungsaspekte im tibetanisch-buddhistischen Kontext sich von denen im westlichen Kontext signifikant unterscheiden können. Wie würde eine moderne europäische Reaktion auf die Untaten des Mönches aussehen? Ein Mönch, der Diebstähle begeht, verdient in den Augen der meisten Europäer im Unterschied zu Tieren und Kindern Strafe. Wenn er nicht als verrückt gilt, wird er schließlich als eine verantwortliche Person betrachtet. Das aber bedeutet nach der in Europa vorherrschenden Vorstellung9, dass seine Handlungen – in diesem Leben – auf einen „freien Entschluß“10 zurückgehen. Die modernen europäischen Vorstellungen von Freiheit speisen sich dabei aus zwei Quellen: einerseits der christlichen Vorstellung, dass Menschen als Individuen einen freien Willen haben, andererseits einer verbreiteten, ungefähr der aristotelischen Vorstellung von Freiwilligkeit (hekousion)11 entsprechenden Auffassung, wonach wir Freiheit immer dann unterstellen können, wenn jemand weder von außen gezwungen wurde, noch in völliger Unkenntnis der Situation gehandelt hat. Beide Vorstellungen erscheinen im buddhistischen Kontext als religiöse bzw. konventionelle Illusionen. Freilich: Auch dort wird der Mönch bestraft und ins Gefängnis gesteckt. Vermutlich hofft man, ihn dadurch von weiteren Missetaten abzuschrecken. Vor dem Hintergrund der buddhistischen Wiedergeburtslehre erscheint es aber generell als illusionär, Menschen zu unterstellen, sie hätten sich in diesem Leben frei für bestimmte Handlungen entschieden. Auch wenn es sich um einen erwachsenen und anscheinend geistig gesunden Mönch und nicht um ein Kind handelt, ist es immer möglich, dass er die Dinge aufgrund seines vergangenen Lebens generell falsch versteht. Damit ist nicht eine Unkenntnis der Tatsachen im aristotelischen Sinne gemeint, sondern eher so etwas wie das 8
Rebekka Redwood French, The Golden Yoke. The Legal Cosmology of Buddhist Tibet, Ithaka 1995, S. 65ff. (Übersetzung M.-S. L.). 9 Diese Aussage verlässt sich nur auf schriftliches Material wie Lexika-Artikel zum Thema Verantwortung, denn hierzu gibt es keine umfassenden empirischen Studien. Die tatsächlich gegenwärtig in Europa verbreiteten Vorstellungen mögen differenzierter und komplexer sein. 10 Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, hg. v. Hans Jörg Sandkühler u. a., Hamburg 1990 (Hervorhebung M.-S. L.). 11 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Drittes Buch, Erstes Kapitel, 1109b30ff.
Lotter, Personen
153
Nichtwissen um eine mögliche und bessere Lebensführung. So wie der Vorsteher seinen individuellen Fall einschätzt, ist er nicht anders verantwortlich als auch der Fuchs „verantwortlich“ für das Verschwinden der Gans ist: Beide sind Ursachen des Verschwindens dieser Dinge, und beide werden zu einem gewissen Grad persönlich dafür verantwortlich gehalten, weil es sich bei ihrer Neigung zu Nahrungsdiebstählen um Folgen von eigenen Handlungen, aber vielleicht auch schlechten Erfahrungen in einem früheren Leben handelt. Nach der Karmalehre hat jede Handlung karmische Auswirkungen sowohl auf den Handelnden als auch auf die davon betroffenen anderen Wesen. Jeder Gedanke, jedes Wort, jede Tat wirkt nach innen und nach außen. Jeder Gedanke und jede Tat hinterlassen Einprägungen im Bewusstsein oder dem karmischen Feld des Täters, woraus sein Charakter entsteht. Zwar ist es auch in buddhistischen Kulturen üblich, Menschen für Diebstähle zu bestrafen. Aber mit der Strafe ist nicht notwendigerweise ein Anspruch verbunden, der sie von der Bestrafung kleiner Kinder und Hunde grundlegend unterscheidet. Trotz seiner extremen Verantwortungslehre scheint daher auf den Buddhismus in einem gewissen Sinne zuzutreffen, was Hegel in einer berühmten Bemerkung gegen die feuerbachsche Straftheorie einwendet: „Es ist […], als wenn man gegen einen Hund den Stock erhebt, und der Mensch wird nicht nach seiner Ehre und Freiheit, sondern wie ein Hund behandelt.“12 Denn Menschen sind nach der buddhistischen Wiedergeburtsvorstellung nicht grundlegend von Hunden verschieden; sie können als Hunde wiedergeboren werden, und sie können Wiedergeburten von Hunden sein und deren Gewohnheiten verhaftet bleiben. Daher vermuten die Beteiligten an dem Fall, dass der Mönch sich wie ein Tier benimmt, weil er möglicherweise in seinem früheren Leben ein Tier war.13 Ein Tier lässt sich durch Gewalt durchaus von Nahrungsdiebstählen abbringen, aber nur solange es sich auch anders ernähren kann und der Reiz nicht allzu groß ist.14 Genauso wenig wie beim Fuchs, der die Gans gestohlen hat, erklärt sich der Vorsteher daher die Diebstähle aus aktuellen „verbrecherischen Motiven“, sondern aus einem durch die Vergangenheit bedingten Leidenszustand, der dem Täter
12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), hg. v. Eva Moldenhauer und Karl-Markus Michel, Frankfurt 1970, § 99, Zusatz. 13 Und das spricht im Kontext der Karma-Logik sogar eher dafür, dass er in seinem vergangenen Leben gutes Karma angesammelt hat, da er in eine höhere Seinsform als die eines gewöhnlichen Menschen oder eines Tieres wiedergeboren wurde. 14 Die rätselhaften Ausbrüche scheinen andererseits darauf hinzudeuten, dass der Mönch in seinem Vorleben ein ganz andersartiges Wesen gewesen sein könnte.
154
Konversionen
nicht erlaubt, die soziale Realität so wahrzunehmen, wie sie ist.15 Er geht davon aus, dass der Mönch gar nicht selbst motiviert ist, Verbrechen zu begehen, sondern quasi zufällig, nämlich durch die Umstände (Hunger) und die ihm ungewohnten Regeln der Laien (Privateigentum) zum Verbrecher wird. Daher fragt sich der Vorsteher gar nicht, was die angemessene Strafe für seine Untaten wäre. Sein Problem ist nicht, den persönlichen Unverdienst des Mönches zu entgelten. Die Verantwortungsfrage, die sich hier stellt, lautet vielmehr, wie die sowohl sozialschädliche als auch ihm selbst abträgliche Lebensweise des Mönches, der bei sich und anderen schlechtes Karma erzeugt, verändert werden könnte. Den Menschen „nach seiner Ehre und Freiheit“ und nicht „wie einen Hund“ zu behandeln, kann für einen Buddhisten nicht wie für Hegel bedeuten, ihn gemäß einer generellen Unterstellung von Willensfreiheit zu bestrafen, sondern verlangt eine zukunftsorientierte Entscheidung auf der Basis der genauen Prüfung des Einzelfalls bzw. der jeweiligen psychischen Verfassung des Täters. Auch im Buddhismus gibt es individuelle Zurechnung im Sinne der Erklärung einer Handlung aus dem Karma des Individuums, aber das führt nicht zu monokausalen Erklärungen. Der Mönch hätte nicht gestohlen, wenn er nicht aufgrund schlechten Karmas eine getrübte Wahrnehmung der Wirklichkeit gehabt hätte, aber er hätte auch nicht gestohlen, wenn er sich anders hätte ernähren können. Insofern ist seine Handlung nicht einfach Ausdruck seines wahren karmischen Zustands, sondern ein Faktor, der diesen verschlechtert. Daher kommt es darauf an, das schlechte Karma dieser Person abzubauen, und dies geschieht, indem ihm positive Verantwortung übertragen wird. Wichtig ist bei beiden Verantwortungsträgern in dieser Geschichte, dem Vorsteher und dem Mönch, also nicht die retrospektive Verantwortung für vergangene Handlungen, sondern die Verantwortung f ü r das Wohlergehen anderer Geschöpfe – nennen wir diesen Verantwortungstypus fürsorgliche Verantwortung. Indem auch der Mönch eine Person wird, die kompetent für andere sorgt, sorgt er nach buddhistischer Vorstellung indirekt auch für sein eigenes Wohl: Er baut sein früheres schlechtes Karma ab und sammelt gutes an. 3. Der eilige Rechtsanwalt Das folgende Beispiel entstammt einer sozialwissenschaftlichen Studie von Joan Miller und Richard Shweder über den Unterschied von indischen und nordamerikanischen Erklärungsweisen. Einem Hindu und ei15 Hier folge ich der Deutung von Rebekka Redwood French, The Golden Yoke, a.a.O., S. 66.
Lotter, Personen
155
nem Nordamerikaner16 wurde folgender Bericht von derselben Person über einen Motorradunfall mit tödlichem Ausgang vorgetragen: „Plötzlich platzte der Hinterreifen des Motorrads. Der Mitfahrer auf dem Rücksitz wurde hoch geschleudert und stürzte herunter. Dabei schlug er mit dem Kopf auf den Bordstein. Der Fahrer des Motorrads – ein Rechtsanwalt, der auf dem Weg ins Gericht war – brachte den Beifahrer in das nächste Krankenhaus am Ort und fuhr sogleich weiter, um seine Gerichtsaufgaben wahrzunehmen. Ich persönlich“, so sagte der Hindu, der die Geschichte vortrug, „ich finde, dass der Fahrer sich falsch verhalten hat. Der Fahrer ließ den Beifahrer fort, ohne den Arzt wegen der Schwere der Verletzung zu konsultieren und ihn zu fragen, ob er nicht unverzüglich woandershin gebracht werden sollte. Er setzte einfach seinen Weg ins Gericht fort. So kam es dazu, dass der Beifahrer schließlich starb.“ Diese Geschichte würde in europäischen Kontexten vermutlich anders bewertet werden als im indischen, weil die meisten davon ausgehen würden, dass allein das Krankenhauspersonal eine kompetente Betreuung des Verletzten gewährleisten könnte. Viele würden auch überzeugt sein, dass die Ärzte und weiteres Personal von sich aus ihr Möglichstes einschließlich der Überweisung in ein anderes Krankenhaus tun würden, ohne dass hierzu Druck von außen erforderlich wäre. Daher würden sie am Verhalten des Fahrers auch weniger auszusetzen haben, da er bestenfalls psychischen Beistand hätte leisten können. Im indischen Kontext, von dem offenbar sowohl der Hindu als auch der Nordamerikaner ausgingen, muss dies anders aussehen. Wie immer der Krankenhausservice dort beschaffen sein mag: Er wird offenkundig von den Interviewpartnern als weniger vertrauenswürdig und weniger verlässlich eingeschätzt. Sowohl der Hindu als auch der Amerikaner bewerteten das Verhalten des Fahrers daher sehr ähnlich: Sie bezeichneten es als falsch. Beide äußerten dabei die Vermutung, dass der Fahrer unter Schock gestanden haben könnte. Gleichwohl weichen ihre Erklärungen der Handlung und die damit verbundenen normativen Bewertungen der Person stark voneinander ab. So antwortete der Hindu auf die Frage, warum sich der Fahrer so verhielt, dass es seine Pflicht als Rechtsanwalt sei, im Gericht zu erscheinen, um seinen Klienten zu verteidigen. Außerdem vermutete er, dass der Fahrer nervös oder verwirrt gewesen sei und die Verletzung wohl nicht so schwerwiegend ausgesehen habe.17 Ganz anders erklärte 16 Hier in eigener Übersetzung wiedergegeben nach Joan G. Miller und Richard Shweder, „The Social Construction of the Person: How Is It Possible?“, in: Richard Shweder (Hg.), Thinking through Cultures. Expeditions in Cultural Psychology, Cambrigde, MA 1991, S. 172ff. 17 Damit soll nicht gesagt sein, dass eine tiefer gehende Erklärung im Hindu-Kontext
156
Konversionen
sich der Amerikaner das Fahrer-Verhalten, nämlich mittels einer Hypothese über moralisch minderwertige Charaktermerkmale: Er bezeichnete den Fahrer als eine unverantwortliche Person. Sein Verhalten erklärte er sich damit, dass es sich um einen rücksichtlosen Karrieristen handle. Wenn die Sozialwissenschaftler Shweder und Miller recht haben, dann ist die Erklärung des Hindus typisch für Beschreibungen und Erklärungen menschlichen Verhaltens in einer Hindu-Gesellschaft: Diese bestehen in der Wiedergabe dessen, was jemand genau tat, und der Herstellung von Bezügen zu Personentypen, Situationstypen, Rollen und Pflichten. Amerikanische Erklärungen hingegen abstrahieren weitgehend vom Kontext und beziehen sich auf Persönlichkeitseigenschaften, die ebenfalls durch Abstraktion vom konkreten Verhalten erschlossen werden. Denn nach dem nordamerikanischen Weltbild, so zeigt die Studie, sind Handlungen zunächst aus den Präferenzen von Individuen zu erklären; Präferenzen, die entweder den Geschmack, die Wertvorstellungen (inklusive Religion) oder die Zielsetzungen (Karriere, Macht, etc.) von Individuen als solche betreffen. Der Amerikaner in unserem Beispiel folgt einem Denkmuster, das ungefähr folgendermaßen abzulaufen scheint: Da der Fahrer etwas Falsches getan hat, und man nicht mehr über seinen Charakter weiß, als dass er aufgrund der kulturellen Prämissen die relevante Ursache einer falschen Handlung abgeben muss, muss der fragliche Charakterzug ebenfalls einen moralisch negativen Wert haben. Er scheint also nach der Regel zu schließen, dass die Wirkung der Ursache ihrem moralischen Wert entsprechen muss. Eine schlecht bewertete Handlung muss aus einer schlechten Charakterdisposition als Ursache folgen, und umgekehrt. Daher kann die Handlung nicht wie in der griechischen Tragödie oder auch im hinduistischen Kontext aus positiven Charaktermerkmalen wie einem stark ausgeprägten Pflichtbewusstsein erklärt werden, weil diese Beschreibung keine negative Bewertung enthalten würde. Zwar muss ebenfalls für den Nordamerikaner erkennbar gewesen sein, dass die Situation auch auf andere Weise erklärt werden könnte. Schließlich lässt die Beschreibung des Unfalls nicht nur die Hypothese eines rücksichtslosen Karrierestrebens, sondern auch die eines hohen beruflichen Pflichtbewusstseins oder vielleicht sogar die einer extremen Hilfsbereitschaft zu, denn es ist ja nicht auszuschließen, dass der Rechtsanwalt von einem hilflosen Klienten in Not dringend gebraucht wurde. Aber eine
nicht möglich wäre. Die indische Karma-Lehre erlaubt eher stärkere Zuschreibungen als die christliche, da sogar alles, was einer Person zustößt, aus ihren Verdiensten und Unverdiensten in einem früheren Leben zu erklären ist.
Lotter, Personen
157
solche Erklärung zu wählen, ist nur im Rahmen einer Verantwortungsauffassung möglich, die es zulässt, dass jemand gerade aufgrund seines guten Charakters oder aus lobenswerten Gründen etwas Falsches tut. Eine solche Handlungsauffassung wird besonders in den griechischen Tragödien betont. In einem polytheistischen Kontext wie dem griechischen, der die Verschiedenheit der Götter stark betont, ist sie vermutlich ohnehin nahe liegend, da Menschen aufgrund der divergierenden Wertvorstellungen der Götter leicht in Pflichtenkollisionen geraten, in denen sie nicht mehr handeln können, ohne Pflichtverletzungen zu begehen. Sie wird aber auch durch die hinduistischen und buddhistischen Karmalehren nicht ausgeschlossen, da moralische Verursachung dort immer auch als ein sozialer Vorgang gedacht wird, in dem verschiedene karmische Prozesse zusammenkommen. Eben das unterscheidet die karmische Verantwortung des Individuums von der singulären, von Außeneinflüssen ganz und gar abgetrennten moralischen Kausalität des modernen westlichen Individuums. Jemanden moralisch für eine Handlung verantwortlich machen, bedeutet für den Nordamerikaner in unserem Beispiel nicht nur, dass die Persönlichkeit der handelnden Person unter anderem einen kausalen Faktor in der Erzeugung der Handlung abgibt. Er betrachtet diese vielmehr als die Ursache der Handlung, oder den entscheidenden Faktor. Ein vergleichbares Selektionsprinzip gibt es bereits in der aristotelischen Ethik. Schon Aristoteles betrachtet die Handlungen als Produkte der Charakterzustände der Handelnden, nicht etwa als Produkte momentaner Gefühlsregungen wie der im Falle des Rechtsanwalts unterstellten Verwirrung oder seines Schockzustands. Entsprechend kann beispielsweise eine feige Handlung auf die Untugend der Feigheit zurückgeführt werden, auch wenn die entsprechende Emotion, nämlich Angst, von außen erzeugt wurde. Auch das Objekt, das die Begierde hervorruft – etwa das Geld die Handlung des Gelegenheitsdiebes – ist für Aristoteles nur die akzidentelle Ursache. Dieses Erklärungsmuster ist in westlichen Gesellschaften bis heute verbreitet. Damit man jemanden im moralischen Sinne für eine Handlung tadeln kann, muss man sie auf einen konstanten Charakterzug der Person zurückführen, heißt es auch bei Hume: „Actions are, by their very nature, temporary and perishing; and when they proceed not from some cause in the character and disposition of the person who performed them, they can neither redound to his honour, if good, nor infamy, if evil.“18 18 David Hume, Enquiries Concerning Human Understanding and Concerning the Principles Of Morals, hg. v. L. A. Selby-Bigge, Oxford 1975, S. 98.
158
Konversionen
Allerdings lässt die aristotelische Ethik, anders als das zugrunde liegende Denkmuster aus unserem modernen Beispiel, durchaus zu, dass gute Menschen schlechte Handlungen begehen können. Mitunter führt die Ungunst der Umstände dazu, dass jemand durchaus freiwillig etwas tut, was nicht seinem Charakter entspricht. Die Vorstellung hingegen, dass eine schlechte Handlung einen schlechten oder sündigen Charakter anzeigt, ist vermutlich christlich-augustinischen Ursprungs und hat sich auch in der Moderne gehalten, wenn nicht sogar verstärkt. Hier bezieht sich die Kritik gar nicht primär auf die Handlung als solche. Der Fahrer ist nicht deshalb moralisch zu kritisieren, weil er falsch gehandelt hat, sondern weil er – wie durch die falsche Handlung vermeintlich offenbar geworden ist – aus einer schlechten inneren Einstellung gehandelt hat. Dies liegt allein schon deshalb nahe, weil eine echte Pflichtenkollision im Rahmen des christlichen Monotheismus eigentlich nicht denkbar ist, denn dies würde ja bedeuten, dass das göttliche Gesetz widersprüchlich sein müsste. Die schlechte Handlung weist daher auf die sündige Grundverfassung des Menschen zurück. Diese augustinische Vorstellung ist auch in die kantische Ethik eingegangen: Es ist die innere Einstellung, auf die sich auch nach Kant letztlich aller moralische Wert der Handlung bezieht. Freilich erlaubt die kantische Philosophie nicht, von einer äußerlich beobachtbaren Handlung direkt auf die Maximen der handelnden Person zu schließen, da diese der Wahrnehmung verborgen sind. Kant und der Amerikaner in unserem Beispiel sind sich jedoch einig, dass der moralische Wert einer wirklich schlechten Handlung letztlich aus einer schlechten konstanten Charaktereinstellung resultieren muss: „Man nennt aber einen Menschen böse, nicht darum, weil er Handlungen ausübt, welche böse (gesetzwidrig) sind; sondern weil diese so beschaffen sind, dass sie auf böse Maximen in ihm schliessen lassen.“ Der Schluss von den Handlungen auf die moralische Charakterdisposition eines Individuums macht aber nur dann Sinn, wenn das Individuum – anders als in der Karmalehre – für seine Charakterdispositionen allein verantwortlich ist. Kant selbst wies darauf hin, dass diese Herleitung im letzten Grund unserem Verstand entzogen ist, dass wir nämlich so etwas wie eine intelligible Tat voraussetzen müssen, damit unsere moralischen Urteile Sinn haben.19 Das Beispiel verdeutlicht eine Besonderheit westlicher Zuschreibungen und somit indirekt auch eine Besonderheit westlicher Personbegriffe. Dass solche Beurteilungen vorkommen und dass sie gewissen Schemata der philosophischen und religiösen Traditionen entsprechen, zeigt allerdings noch nicht, dass es paradigmatisch für alle Nordamerikaner und 19 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, BA 7ff.
Lotter, Personen
159
Europäer wäre. Schließlich gibt es innerhalb der europäischen Kultur auch viele Gegenströmungen wie die griechische Tragik, das Urchristentum, den Spinozismus oder den Utilitarismus. Keine Kultur ist in dieser Hinsicht wirklich uniform. Die beiden Beispiele wurden hier vor allem zu dem Zweck angeführt, auf zwei Besonderheiten der modernen westlichen Verantwortungsauffassung hinzuweisen, die in der relativen Gewichtung und Interpretation der Verantwortungsaspekte liegen: Erstens, dass die retrospektive Verantwortung für die eigenen Handlungen insgesamt viel größere Bedeutung für das Personverständnis zu haben scheint als das, was ich prospektive, fürsorgliche Verantwortung genannt habe (die Verantwortung des Mönches und des Klostervorstehers). Und zweitens wird diese individuelle Verantwortung auf einen realen Grund im Individuum bezogen. Sie ergibt sich aus einer wirklichen freien Entscheidung oder Präferenz des Individuums, unabhängig von den Umständen und anderen sozialen Einflüssen. Das Individuum erscheint als eine Art unbewegter Beweger seiner Handlungen. Der Unterschied zur Karmalehre liegt in der sozialen Abgeschlossenheit: Während es nach der Karmalehre durchaus möglich scheint, dass mein schlechter Charakter durch die Handlungen anderer in der Vergangenheit mitverschuldet ist, es aber umgekehrt auch die Möglichkeit einer Verdienstübertragung gibt, ist dies nach der modernen Vorstellung schwer denkbar. Wie kommt eine solche Abtrennung des Individuums aus seinen sozialen Bezügen ausgerechnet bei der Verantwortungsvorstellung zustande? 4. Individuelle Verantwortung als Zurechnung zu einem moralischen Kern: Das Wiegen des Herzens vor dem Jenseitsgericht Seit dem 14. Jahrhundert hat sich in Europa eine neue Version der Vorstellung vom jüngsten Gericht verbreitet, die über John Locke auch die Entwicklung des bewusstseinstheoretischen Personbegriffs in der Philosophie beeinflusst hat. Während man sich das jüngste Gericht vorher als ein Gericht für alle vorgestellt hatte, das am Ende aller Zeiten eintritt, stellt man sich nun ein Jenseitsgericht für die Individuen nach ihrem Tode vor. Eine Verantwortung des Individuums vor dem Jenseitsgericht ist aber von grundsätzlich anderer Art als eine Verantwortung gegenüber anderen, von dem eigenen Handeln betroffenen sozialen Parteien. Während es bei der Verantwortung gegenüber anderen Individuen und der Gesellschaft um Entschädigung und die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens geht, bezieht sich die Verantwortung vor dem Jenseitsgericht gar nicht mehr auf soziale Belange, sondern betrifft Fragen der Reinheit
160
Konversionen
oder Unreinheit der individuellen Seele. Denn die Existenz der Person nach dem Tode hängt davon ab, ob sie sich von ihren Sünden reinigen und in verwandelter Weise weiterexistieren kann. Hier kommt es daher nicht darauf an, ob sie andere Personen geschädigt hat, sondern ob sie in ihrem Handeln göttliche Gebote verletzt und sich dadurch verunreinigt hat. Einiges spricht dafür, dass sich eine solche Vorstellung zuerst in Ägypten mit dem Aufkommen der Osiris-Religion gegen Ende des Alten Reiches entwickelt hat. Wie der Ägyptologe Jan Assmann gezeigt hat, scheint eine moralische Abtrennung der Verantwortung von ihren sozialen Bezügen nämlich schon in der ägyptischen Vorstellung von der Zurechnung der Schuld zum Herzen vorzuliegen.20 Diese Vorstellung hat sich in einem religiösen Kontext entwickelt, der starke Ähnlichkeiten zu den späteren christlichen Vorstellungen vom Jenseitsgericht aufweist. Diese Ähnlichkeit erstreckt sich auch auf einige Aspekte der Personauffassung und der Vorstellungen von Verantwortung. Sie tritt vor allem im Kontrast zu anderen Religionstypen hervor. Ich möchte dies verdeutlichen, indem ich drei Idealtypen von Religionen unterscheide, die jeweils mit verschiedenen Typen von Personen verkoppelt sind. Unter den ersten Typ würden alle Vorstellungen und Praktiken fallen, die traditionell als Naturreligion bezeichnet werden; dieser Ausdruck ist allerdings etwas missverständlich, weil die Auffassung von der religiösen Sphäre wenig mit dem modernen Naturbegriff gemein hat. Dieser Religionstyp kommt offenbar vor allem in Jäger-Sammler-Gesellschaften vor. Tabus und andere religiöse Vorstellungen beziehen sich hier auf einen umfassenden Bereich, der dem sozialen Leben der Individuen vorgeordnet ist, und von dem sie sich abhängig fühlen (beispielsweise der Regenwald und seine Geister bei den afrikanischen Mbuti). Religiöse Tabus erstrecken sich daher weniger auf soziale Verhaltensweisen als auf den Umgang mit den Elementen dieses nichtgesellschaftlichen Bereichs, von dem alle abhängen (die Tötung von Tieren, etc.). Freilich ist nicht bei allen Gruppen eine scharfe Grenze zwischen bloß gesellschaftlichen Verfehlungen und dem Bruch übergesellschaftlicher Tabus erkennbar; so werden bei den Mbuti – anders als bei den Inuit – auch gesellschaftliche Verfehlungen vom Wald missbilligt. Der zweite Typ von Religion fällt fast mit der Kultur zusammen; er betrifft die allgemeinen Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens und verleiht ihnen Sinn. Diese Art von Religion ist charakteristisch für 20 Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, München 1990, S. 149ff.
Lotter, Personen
161
afrikanische Gesellschaften, aber auch für die altägyptischen Vorstellungen von der Ma’at vor dem Aufkommen der Osiris-Religion.21 Der dritte Typ schließlich distanziert sich von den gesellschaftlichen Normen und bezieht sich kritisch auf sie. Er versucht die Menschen von ihren Konventionen zu befreien, um sie zu sich selbst oder vor Gott zu bringen (Buddhismus, Christentum, in Einzelaspekten wohl auch schon die Osiris-Religion). Am Beispiel Ägyptens wird erkennbar, wie sich eine Entwicklung von einer Religion des zweiten zu einer Religion des dritten Typs auf die Vorstellungen von Verantwortung und Personalität auswirkt. Den altägyptischen Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich mit dem Begriff Ma’at verbinden, lag ursprünglich ein rein sozialer Personbegriff zugrunde, der durch eine Religion des zweiten Typs gestützt wurde. Jan Assmann hat ihn als „polytheistischen“ oder „konstellativen“ Personbegriff bezeichnet: „Dem polytheistischen Denken liegt ein Personbegriff zugrunde, der das Wesen einer Person – und damit auch eine Gottheit – von den Bindungen und Beziehungen zu anderen Personen her bestimmt, in die sie eingebettet ist. Als handelnde Person kann man z. B. Horus nicht ohne Bezugnahme auf Osiris, Isis und Seth denken.“22
Auch ein Weiterleben nach dem Tode wurde im alten Reich entsprechend als ein Weiterleben in den sozialen Beziehungen gedacht. Dies hing freilich von der Lebensführung ab, nämlich dem Grad an Fürsorge und Gerechtigkeit, den die Person in ihrem sozialen Verhalten gezeigt und sich dadurch mit anderen solidarisch verbunden hatte. Je mehr die Person in diesen sozialen Zusammenhang des Füreinanderhandelns eingebunden war, desto sicherer konnte sie sich sein, im sozialen Gedächtnis weiterzuleben und in Gestalt des Grabmonuments präsent zu bleiben, da die gute Erinnerung der nachfolgenden Generationen vor der Schändung des Monuments schützte.23 Gegen Ende des Alten Reiches wandelte sich die ägyptische Religion jedoch in wichtigen Zügen in Richtung einer Religion des dritten Typs, indem sie die Osiris-Religion und die mit ihr verbundenen Jenseitsvorstellungen integrierte. Diese Veränderung hing vermutlich mit der Auflösung der alten Ordnung zusammen, deren Werte nicht mehr eine sichere
21 Die Unterscheidung zwischen dem zweiten und dem dritten Typ entspricht der Unterscheidung Jan Assmanns (ebd., S. 18) zwischen einem ersten und einem zweiten Typ von Religion. Da die so genannten Naturreligionen nicht in Assmanns Unterscheidung integrierbar sind, habe ich sie hier als eigenen ersten Typus unterschieden. 22 Ebd., S. 160. 23 Ebd., S. 106.
162
Konversionen
Existenz und Fortdauer in gepflegten und von Räubern ungefährdeten Grabdenkmälern garantieren konnten. Die jenseitige Existenz wurde jetzt nicht mehr nach dem Maßstab diesseitiger Wertvorstellungen vorgestellt, sondern in einer „absoluten Idee der Gerechtigkeit begründet.“24 Wie Jan Assmann gezeigt hat, veränderten sich dadurch auch die Vorstellungen personaler Identität. Dies geschah durch mehrere miteinander zusammenhängende Neuerungen. Erstens, indem der Gedanke eines jenseitigen Lebens als Ba, das im alten Reich nur dem göttlichen Pharao zugesprochen worden war, sich demokratisierte: Die Vorstellung „einer unsterblichen Seele, die aus eigener Kraft, nach Maßgabe ihres Wissens und ihrer Tugend, den Übergang in eine jenseitige Welt zu bestehen vermag“25 und sich in einen „lebendigen Gott“ verwandelt, wurde nun unverändert auch auf gewöhnliche Menschen angewendet. Zweitens bekam der Gedanke der Unsterblichkeit hierdurch eine Bedeutung, die der früheren Idee der sozialen Weiterexistenz genau entgegengesetzt war. Da der Gedanke eines jenseitigen Lebens als Ba mit der ganz anderen, höheren Seinsweise des Pharao verbunden gewesen war, brachte der Gedanke der Unsterblichkeit nun für alle den Übergang in eine andere Welt und darüber hinaus auch noch die Verwandlung in eine neue Seinsform mit sich.26 Unsterblichkeit bedeutete also gar nicht mehr Kontinuität, sondern Diskontinuität.27 Wohl um diese neue Seinsweise zu rechtfertigen, wurde der Gedanke einer anderen jenseitigen Existenz nun moralisch gedeutet: Denn da die Rechtfertigung jenseitiger Existenz nicht „aufgrund angeborener Macht und Würde wie beim König erfolgen konnte, musste in Gestalt des durch gerechtes Leben erworbenen Wertes eine neue Basis geschaffen werden, von der aus die Jenseitsstellung auch des gewöhnlichen Menschen bestimmt werden konnte.“28 Die moralische Perspektive war nicht ganz neu, da ja auch nach der früheren Vorstellung von Unsterblichkeit als Fortdauer im sozialen Gedächtnis die Weiterexistenz nach dem Tode von der Tugend des Verstorbenen abhing. Aber sie hatte sich verändert. Unsterblichkeit war jetzt nicht mehr für einen gewöhnlichen mehr oder weniger 24 Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, Glückstadt 1976, S. 15. 25 Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, a.a.O., S. 114. 26 Zu dieser Entwicklung vgl. Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, a.a.O., S. 16 und dort auch insbes. Anm. 2. 27 Zu dieser Veränderung des Unsterblichkeitsgedankens vgl. Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, a.a.O., S. 124. 28 Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, a.a.O., S. 17 (Hervorhebung M.-S. L.).
Lotter, Personen
163
moralisch tüchtigen Charakter möglich, sondern für einen moralischen Charakter, der nun im Sinne eines exklusiven Gegensatzes von Gut und Böse gedacht wurde. Die neue höhere Seinsform erforderte daher drittens eine moralische Reinigung von dem Bösen. Der spezifisch religiöse Gedanke der Reinheit bekam somit eine Bedeutung für den Verantwortungsgedanken, den er vorher nicht hatte. Während es bei der Beurteilung irdischen Handelns mehr um die Erfüllung von Geboten (der Fürsorge) gegangen war, konzentrierte sich die Beurteilung des vergangenen Lebens vor dem Jenseitsgericht vor allem auf die Frage, ob Verbote übertreten worden sind. Das 125. Kapitel des Ägyptischen Totenbuchs enthält eine festliegende Liste von Verfehlungen, die der Verstorbene rezitiert, mit der Versicherung, sie nicht begangen zu haben.29 In einem Sargtext heißt es: „Es werden geöffnet die beiden Tore des Himmels für deine Vollkommenheit [...]. Vertrieben wird Dein Böses, ausgelöscht wird dein Verbrechen durch die, die mit der Waage wiegen am Tage der Abrechnung der Eigenschaften.“30 Die Instanz, die eine solche Verwandlung rechtfertigt, ist jetzt das allgemeine Totengericht in seiner klassischen, durch das Totenbuch bekannten Form, das die moralische Qualität der Person prüft, indem sie ihre Eigenschaften „berechnet“.31 Vorbild dafür war ursprünglich der mythische Prozess, den Orisis nach seinem Tod gegen seinen Mörder Seth führt. „Osiris, der im Leben unterlegen war, wird im Jenseits entschädigt durch den Spruch eines ordentlichen Gerichts, und zwar nicht wegen seiner Macht, sondern wegen seiner Gerechtigkeit.“32 Die Idee der Unsterblichkeit wird also untrennbar mit einer Vorstellung von Gerechtigkeit verbunden, die unabhängig von allen irdischen Machtverhältnissen ist: Indem Osiris gegen seinen Mörder Recht erhält, überwindet er den Tod.33 Der gewöhnliche Sterbliche hofft nun, „nach dem Tod in gleicher Weise gerechtfertigt Osiris nachfolgen und in die Unsterblichkeit des Osiris eingehen zu können.“34 Während die Identität und Weiterexistenz der Person vorher direkt von ihrer Einbettung in den sozialen Zusammenhang des Handelns abhing, ist sie nun als Ba auf sich gestellt: Ob sie auch nach 29 Zum negativen Bekenntnis vgl. Reinhard Grieshammer Das Jenseitsgericht in den Sargtexten, Wiesbaden 1970, S. 60f. 30 Ebd., S. 46; vgl. ebd., S. 64f. 31 Ebd., S. 50. In einem Spruch des Totenbuchs wird vom „Tag der Berechnung der Eigenschaften“ gesprochen (ebd., S. 49). 32 Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, a.a.O., S. 43 (Hervorhebung M.-S. L.). 33 „Hier liegt der Ursprung der Idee einer Auferstehung durch Rechtfertigung.“ (Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, a.a.O., S. 127). 34 Ebd., S. 180.
164
Konversionen
dem Tode weiterexistiert, hängt nicht mehr (allein) von dem sozialen Gedächtnis ab, sondern von ihrer moralischen Güte, nämlich dem Wert ihres Herzens, das vor dem Totengericht gewogen wird: „Während der Tote seine Unschuldsbeteuerungen vortrug, lag das Herz auf der Waage und wurde gegen eine Figur der Wahrheitsgöttin abgewogen. Es handelte sich um eine Art Lügendetektor: bei jeder Lüge würde die Waagschale mit dem Herzen sinken. Würde das Herz am Ende zu schwer befunden, würde ein Monstrum es verschlingen. Der Mensch würde als Person verschwinden, was andererseits noch einmal deutlich macht, daß er günstigenfalls als Person erhalten bleibt.“35
Dabei ging es weniger um rechtliche Verfehlungen, die von irdischen Gerichten belangbar sind, als um moralische Qualitäten und Mängel der Mitmenschlichkeit wie Hartherzigkeit, Habgierigkeit etc. Der Glaube an das Totengericht in seiner klassischen Form hatte insofern seine frühere Funktion behalten, die Ägypter zu Sozialwesen zu erziehen.36 Die Maßstäbe der Beurteilung von Handlungen müssen sich aber grundlegend verändert haben, denn vor dem Totengericht gibt es im Unterschied zu einem irdischen Gericht37 keine Kläger mehr und keine streitenden Parteien. „Das Tribunal, vor dem der Tote sich zu verantworten hatte, tagte ständig, und jeder Tote hatte vor ihm zu erscheinen, ganz unabhängig von der Frage, ob Anklagen vorlagen oder nicht.“38 Wo nicht die vom eigenen Handeln Betroffenen als Kläger auftreten, sondern eine neutrale Instanz entscheidet, kommt es nicht mehr auf den sozialen Nutzen oder Schaden, die Auswirkungen des eigenen Tuns und Unterlassens auf andere an. Vielmehr wurde der Wert der gesamten Lebensführung an der allgemeinen Norm der Ma’at gemessen. Dies geschah durch Anwendung eines vollkommen unparteiischen Maßes, das die genaue Differenz zwischen 35 Ebd., S. 182. 36 Vgl. ebd., S. 193. 37 Freilich gibt es schon lange vor der Entwicklung der Vorstellung eines allgemeinen Totengerichts die Vorstellung eines Jenseitsgerichts, das quasi als Appellationsgericht nach dem Vorbild eines irdischen Gerichtshofs vorgestellt wurde; dort konnte der Tote klagen, musste sich aber evtl. auch gegen die Anklagen seiner Mitmenschen, der Toten und Götter verteidigen. Vgl. hierzu besonders die ausführlichen Darstellungen von Rechtsstreiten zwischen Lebenden und Toten bei Reinhard Grieshammer (Das Jenseitsgericht in den Sargtexten, a.a.O., Kap. 1). Entsprechend bestand die beste Vorbereitung auf ein solches Gericht in einem möglichst harmonischen Leben, das alle ärgerniserregenden Verhaltensweisen gegenüber anderen nach Möglichkeit vermeidet. Vgl. hierzu Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, Darmstadt 1996, S. 181f. 38 Ebd., S. 182.
Lotter, Personen
165
der Lebensführung und der Ma’at feststellt: die Waage. Dabei erfuhren die Vorstellungen von Recht und Unrecht, Gut und Böse eine entscheidende Veränderung: Der Ägyptologe Joachim Spiegel sieht hier den ersten Ursprung der Sündenvorstellung, da Unrecht in diesem Kontext nicht mehr als Unrecht gegenüber einem anderen Menschen, sondern als eine Beleidigung Gottes, eine Sünde39 verstanden wurde: „Gerechtigkeit [...] wurde also aus einer nur von Gott beschützten menschlichen Ordnung zu einem von ihm selbst ausgehenden, absoluten Gesetz, das die Grundlage des Verhältnisses des Menschen zu Gott bildete. Durch diesen Übergang entstand aus dem Begriff des Unrechts der der Sünde.“40
Die Veränderung der Unrechtsvorstellung, die sich im Übergang vom zweiten zum dritten Religionstypus, und insbesondere im Kontext der Vorstellungen vom Jenseitsgericht vollzogen hat, muss auch das Verständnis von Personen revolutioniert haben. Während die persönliche Schuld, das Gedächtnis, das Bewusstsein und die Weiterexistenz eines Menschen vor dem Aufkommen der Osiris-Religion direkt von den sozialen Bezügen eines Menschen abhängig waren, wurden sie nun „an einem archimedischen Punkt außerhalb der Gruppen verankert und dadurch auf eine gruppenabstrakte (und in dieser Hinsicht ‚absolute‘) Grundlage [ge]stellt.“41 Diese gruppenabstrakte Grundlage wirkt auf die Vorstellung von der Weiterexistenz nach dem Tode zurück, und dadurch auch auf die Vorstellung von der diesseitigen Existenz. In den früheren Vorstellungen von einer Existenz im Jenseits war diese als ein eher „blasses Schattendasein“42 vorgestellt worden. Erst mit der neuen Vorstellung vom Totengericht verbindet sich die Hoffnung, „seine Existenz im vollen Sinne perso-
39 Wenn der Begriff „Sünde“ im ägyptischen Kontext gebraucht wird, darf darunter nicht mehr und nicht weniger verstanden werden als eine Übertretung des göttlichen Gesetzes. Diese weite Bedeutung des Begriffs ist nicht mit der christlichen Vorstellung vom Sündenfall zu verwechseln. Spiegels Behauptung, dass der Begriff der Sünde mit dem Begriff der Sündhaftigkeit „untrennbar verbunden“ sei und die Vorstellung voraussetze, dass der Mensch „sündhaft ist“, kann ich nicht folgen; vgl. Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, a.a.O., S. 23. Die Vorstellung von Sünde setzt ebenso wie die Vorstellung von Unrecht voraus, dass es Menschen prinzipiell möglich ist, zu sündigen bzw. Unrecht zu tun; aber das bedeutet doch nicht notwendigerweise, dass Sündhaftigkeit und Unrecht im Unterschied zu Sündlosigkeit oder Rechtschaffenheit ihr wesentlicher Zustand sind. 40 Ebd., S. 22 (Hervorhebung M.-S. L.). 41 Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, a.a.O., S. 122. 42 Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, a.a.O., S. 182.
166
Konversionen
naler Identität weiterführen zu können.“43 Denn trotz der Verwandlung bewahrt die Jenseitsexistenz Identität mit der irdischen Existenz über das Gedächtnis: Nicht anders als in den viel späteren christlichen Vorstellungen vom Jenseitsgericht, wie sie bei John Locke artikuliert werden, behält die Person nach der Vorstellung der Ägypter das Bewusstsein ihres Erdendaseins und ihre moralische Verantwortlichkeit.44 Erst dadurch wird die jenseitige Existenz als eine Fortdauer meiner Person denkbar. Und umgekehrt wird auch der diesseitigen Person – unter dem Vorbehalt ihrer Bewährung vor dem Totengericht – „das Siegel der Unsterblichkeit“ verliehen.45 Die Veränderung des Gerechtigkeitsbegriffs durch die Vorstellung vom Jenseitsgericht wirkt sich auch auf die Lebensideale aus, wie sie sich in den Grabinschriften des mittleren Reiches widerspiegeln.46 Im alten Reich hatten die Eigenschaften, die einem Toten Unsterblichkeit sichern, einen eher äußerlichen, relationalen Charakter: Der erste für die Bezeichnung des Toten verwendete Begriff ìkr bedeutete Tüchtigkeit oder Brauchbarkeit. Hiermit verband man weniger eine allgemein-ethische Qualität, als vielmehr die Fähigkeit der Person, den Erwartungen anderer (insbesondere ihrer Vorgesetzten) zu entsprechen.47 Erst durch die Vorstellung einer jenseitigen Existenz als moralisch gereinigte Person, die in der Bedeutung voller personaler Erinnerung und Identifikation mit der diesseitigen identisch ist, so vermutet jedenfalls Jan Assmann, entsteht bei den Ägyptern auch eine Idee vom inneren Menschen: „Wie der Mensch nicht mehr nur in einer einzigen Welt lebt, in der er auch nach dem Tod fortzudauern sucht, sondern von einer anderen Welt weiß und sich auf den Übergang vorbereitet, so lebt er auch nicht mehr ausschließlich im ‚Außen‘ seiner sozialen Einbindung […].“48 Diese innere Struktur wird aber in Analogie zur äußeren vorgestellt: „Der ‚Außenstabilisierung‘ des Individuums durch seine Einbindung in das Gesellschaftsgefüge mit dem König als Zentrum steht nun eine ‚Innenstabilisierung‘ durch das
43 Ebd. 44 Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, a.a.O., S. 125. 45 Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, a.a.O., S. 182. 46 Zur allgemeinen „Ethisierung“ der Lebensanschauungen durch die Totengerichtsidee vgl. Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, a.a.O., S. 41 47 Zu dieser Vorstellung von Brauchbarkeit vgl. Joachim Spiegel, Die Idee vom Totengericht in der ägyptischen Religion, a.a.O., S. 13f. 48 Jan Assmann, Ma’at. Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten, a.a.O., S. 119.
Lotter, Personen
167
Herz gegenüber, das als Sitz von Wollen, Denken und Fühlen die Führung übernimmt und den Menschen ‚anleitet‘ zum Tun des Guten“.49 5. Resümee Die Person muss nicht zuletzt als eine Trägerin von Verantwortung bestimmt werden. Diese Funktion bietet einen Schlüssel zu verschiedenkulturellen Personauffassungen. Der Begriff Verantwortung bezeichnet ein komplexes Phänomen, das die Übernahme von sozialen Aufgaben und Pflichten mit einer Rechenschaftspflicht verbindet, die Haftung oder Strafbarkeit nach sich ziehen kann. Es gibt freilich signifikante Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen in der Gewichtung dieser Aspekte für die Personauffassung. Dies wurde hier mit Blick auf Verantwortungstypen dargestellt, die mit negativen moralischen Bewertungen verbunden sind. Im westlichen Kontext scheint die Frage der persönlichen Verschuldung eine zentrale Bedeutung für das Personverständnis zu haben. Moralische und strafrechtliche Schuld fällt im westlichen Kontext nicht mit einer Verschuldung gegenüber anderen Personen zusammen, sondern wird unter Abstraktion vom sozialen Kontext bestimmt. Wenn eine Handlung als moralisch schlecht bewertet wird, geschieht diese Bewertung unabhängig davon, ob sie schädlich für andere ist. Sie wird einer Person zugerechnet, wenn sie „freiwillig“ verübt wurde, wobei schlechte bzw. gute Handlungen auf schlechte bzw. gute konstante individuelle Eigenschaften zurückgeführt werden. Entsprechend verstehen wir unter einer Person ein Wesen mit einem freien Willen, das diesen Willen gemäß seiner konstanten moralischen Eigenschaften gut oder schlecht ausübt. Es liegt nahe, dass die für westliches Denken charakteristische Abstraktion der Schuld aus dem sozialen Kontext von Verschuldung und Entschädigung auf die Vorstellung von einer jenseitigen, gereinigten Existenz nach dem Tode zurückgehen könnte, die sich schon mit der ägyptischen Osiris-Religion entwickelt hat. Möglicherweise hat die damit verbundene Vorstellung von einer „inneren“ Existenz der eigentlichen Person hat auch auf den weltlichen Personbegriff zurückgewirkt.
49 Ebd.
This page intentionally left blank
Teil II
Krise und Konversion des Eurozentrismus
This page intentionally left blank
Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie1 Heinz Kimmerle Der Beitrag plädiert für die Form des Dialogs als geeignete Möglichkeit der interkulturellen Philosophie. Gegen die Begrenzung des Philosophiebegriffs auf westliche (oder westliche und östliche) Philosophien und gegen die Beschränkungen einer bloß vergleichenden Philosophie argumentiert er für die Anerkennung von Philosophien als Reaktionen auf Anlässe zur Selbstvergewisserung, die in allen Gesellschaften auftreten. Im Anschluss an eine Untersuchung von Kennzeichen der sokratischen Gesprächsführung entwirft er Merkmale interkulturell dialogischen Philosophierens. Dabei erweist sich der Begriff der Achtung als besser geeignet als der Toleranz- oder der Respektbegriff, wenn es darum geht, das Angesprochensein durch den anderen in einer Gesprächssituation wahrnehmbar werden zu lassen. Der Hauptaspekt interkulturell dialogischen Philosophierens ist die Gleichzeitigkeit von angestrebter Gleichheit und Verschiedenheit der Gesprächspartner, der zweite liegt in der Offenheit im Blick auf die zu erreichenden Ergebnisse von Dialogen. Außerdem ist es wichtig, dass auch nicht diskursiv-sprachliche Mittel der Verständigung zu Dialogen gehören, und schließlich werden die Ansätze zu einer Dialogik oder dialogischen Dialektik von derjenigen Diskurstheorie abgesetzt, die von den Partnern im Dialog nur Beiträge erwartet, die sich auch in der allgemeinen Menschenvernunft finden lassen. The article is an argument for the form of dialogue as a fruitful way of doing intercultural philosophy. The concept of philosophy cannot be limited to western (or eastern and western) philosophies, or to an only comparatistic activity. Thus philosophy should be acknowledged as a reaction to the need for certainty emerging in all societies. With an analysis of central elements of Socratic dialogues, the article suggests features of an intercultural dialogical philosophy. These are the concept of esteem (rather than the concepts of tolerance or respect), the dialogue partner’s difference together with their equality, the open endings of dialogues, and the importance of non-linguistic means of communication. Furthermore, dialogical dialectics should be understood as different from those versions of discourse theory that consider the aim of dialogue to simply be consensus or human reason.
1
Bevor dieser Text am 4. Dezember 2002 im Rahmen der Ringvorlesung an der Universität Lüneburg vorgetragen wurde, war er Gegenstand eines Vortrags auf einer Konferenz am Department of German and Russian an der University of Mumbai vom 12.–15. März 2002 und auf einer Tagung am Institut für Philosophie der Technischen Universität Darmstadt vom 23.–24. Mai 2002, die zu Ehren des 65. Geburtstages von Gernot Böhme veranstaltet wurde. Am 24. Oktober 2002 wurde eine englische Fassung am Institute of Philosophy der Katholieke Universiteit Leuven vorgetragen.
172
Konversionen
1. Interkulturelle Philosophie als dialogische Philosophie In der Theorie und Praxis der interkulturellen Philosophie hat sich die Kommunikationsform der Dialoge als nützlich und adäquat erwiesen. Interkulturelle Philosophie ist ihrer bisherigen Vollzugsform nach dialogische Philosophie. Dabei werden Dialoge zwischen den Philosophien aller Kulturen angestrebt. Man kann erst wirklich von interkultureller Philosophie sprechen, wenn grundsätzlich die Philosophien aller Kulturen an diesen Dialogen beteiligt sind oder jedenfalls sein können. Eine Begrenzung des Philosophiebegriffs auf westliche Philosophie oder westliche und östliche Philosophien erscheint als unangemessen. Zu jeder Kultur gehört eine ihr gemäße Philosophie. Denn jede Kultur gerät in Situationen, in denen ihr eigenes Bestehen fraglich wird. Indem sie auf die Voraussetzungen dieser Situation reflektiert, bringt sie Philosophie hervor. Dieter Senghaas beschließt seinen Artikel Interkulturelle Philosophie in der Welt von heute mit folgender Feststellung: „Die große Chance für einen fruchtbaren interkulturellen Dialog und damit auch für interkulturelle Philosophie besteht darin, daß alle Kulturen mehr als je in der Vergangenheit wirklich mit sich selbst in Konflikt geraten und darüber selbstreflexiv werden.“2 Man kann es auch so ausdrücken, dass in jeder Kultur Anlässe der Selbstvergewisserung entstehen, bei denen nach der Art und Weise gefragt wird, wie in ihr und durch sie dem menschlichen Leben in der eigenen Gemeinschaft inmitten anderer Gemeinschaften und der Natur eine bestimmte Form gegeben wird. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die interkulturelle Philosophie von der bereits länger bestehenden Vergleichenden oder Komparativen Philosophie. Dieser Typus von Philosophie entsteht am Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts mit der „Entdeckung“ und Übersetzung von Texten aus der indischen und chinesischen Tradition. In Deutschland sind vor allem August Wilhelm Schlegel und Wilhelm von Humboldt an diesem Projekt beteiligt. Seitdem wird vor allem in den Abteilungen für Indologie und Sinologie an den europäisch-westlichen Universitäten kontinuierlich an der Vergleichenden oder Komparativen Philosophie gearbeitet. Die interkulturelle Philosophie überwindet die methodischen und regionalen Begrenzungen der Vergleichenden Philosophie. Es liegt auf der Hand, dass beim Vergleichen die Gegenstände der verschiedenen Philosophien einander äußerlich bleiben. Wer Fragen und Argumentationszusammenhänge verschiedener Philosophien nebeneinander stellt, wird 2
Dieter Senghaas, Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst, Frankfurt a. M. 1998, S. 27–49, hier: S. 48.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
173
nicht vermeiden können, dass sie auch aufeinander einwirken. Übereinstimmungen und Unterschiede stellen sich heraus. Und wer wollte die Philosophie davon abhalten, die Wahrheitsfrage zu stellen, beziehungsweise herauszufinden, welche Philosophie in welchen Punkten für die jeweilige Situation mehr Recht hat und welche im Blick darauf weniger scharf oder adäquat argumentiert? So entstehen gewissermaßen von selbst die Bedingungen dialogischer Philosophie. Bei der regionalen Begrenzung zeigt sich, dass sich die Vergleichende Philosophie in ihrer bisherigen Geschichte auf westliche und östliche Philosophien beschränkt. Andere philosophische Traditionen, wenn sie überhaupt eine Rolle spielen, werden nicht als gleichwertig anerkannt. Die Vergleichende Philosophie steht damit freilich nicht allein. Auch in der 1998 fertig gestellten, von der UNESCO angeregten Encyclopédie Philosophique Universelle3 wird ein Unterschied gemacht zwischen 1. Philosophie Occidentale, 2. Pensées Asiatiques und 3. Conceptualisation des Sociétés Traditionelles. Dabei bleibt der Titel Philosophie (in der Einzahl) dem Westen vorbehalten. Die östlichen Philosophien werden als Pensées (in der Mehrzahl) bezeichnet. Dabei wird neben Indien und China auch Japan genannt. In einem weiteren Schritt von der westlichen Philosophie entfernt ist dann von „traditionellen Gesellschaften“ die Rede, die gegenüber den modernen Gesellschaften des Westens offenbar durch einen Zeitverzug gekennzeichnet sind und nicht selbst eine Philosophie oder wenigstens Pensées hervorbringen, sondern im Nachhinein, mit westlicher Hilfe, den begrifflichen Gehalt ihres gesellschaftlichen Lebens artikulieren. Es ist schon erstaunlich, wie stark sich in einem so avancierten Projekt eurozentrische Vorurteile behaupten. Die Darstellung der Vergleichenden Philosophie, die sich auch für andere als die westlichen und östlichen Philosophien am weitesten öffnet, ist das „komparative Modell“ des belgischen Sinologen und Philosophen Ulrich Libbrecht. Dieser Autor will in das Spannungsfeld von chinesischer, indischer und westlicher Philosophie alle anderen möglichen Philosophien einschreiben. Als seinen „Ausgangspunkt“ gibt er dabei selbst an: „eine gleichwertige Behandlung aller Kulturen mit einer geschriebenen Geschichte“.4 Mit diesem Ausgangspunkt ist indessen erneut eine Begrenzung gegeben, die sich nicht rechtfertigen lässt. Wer sagt denn, dass es Philosophie nur in „Kulturen mit einer geschriebenen Geschichte“ gibt? In dieser Frage bildet die Philosophie des subsaharischen Afrika gewis3 4
Publié sous la direction d’André Jacob, vol. I–IV, Paris 1990–1998. Ulrich Libbrecht, Inleiding. Comparartieve Filosofie I. Opzet en ontwikkeling van een comparatief model, Assen 1995; II.Culturen in het licht van een comparatief model, Assen 1999, siehe Bd. I, S. 16.
174
Konversionen
sermaßen den Testfall. Seit etwa 50 Jahren hat sich die Philosophie dieses Kontinents, die primär auf mündlicher Überlieferung beruht, auch im internationalen philosophischen Diskurs Anerkennung zu verschaffen gewusst. Wenn wir uns entschließen, die Anerkennung der Philosophie des subsaharischen Afrika ernst zu nehmen, wird auch die von Libbrecht genannte Begrenzung obsolet. In diesem Kulturraum hat es primär schriftliche Formen der Kommunikation und Überlieferung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vor der Kolonisierung nicht gegeben. Trotzdem ist afrikanische Philosophie, seitdem ihr auf dem Weltkongress für Philosophie in Düsseldorf im Jahr 1978 zum erstenmal eine eigene Sektion gewidmet worden ist, vor dem internationalen philosophischen Forum eingeführt. Mit der Anerkennung des Vorhandenseins von Philosophie in Kulturen, die primär mündliche Formen der Kommunikation und Überlieferung praktizieren, ist ein wichtiger methodischer Schritt vollzogen. Dieser Schritt bedeutet schließlich, dass es keinen Grund mehr gibt, warum nicht allen menschlichen Kulturen Philosophie zuerkannt wird, denen dann eine „gleichwertige Behandlung“ zusteht. Innerhalb der westlichen philosophischen Tradition können wir auf Sokrates verweisen, der das dialogische Philosophieren in diese Tradition eingeführt und selbst nicht geschrieben hat. Auf diese Weise ist er gewissermaßen in doppelter Hinsicht für unser Thema relevant. Dialogisches Philosophieren und primär mündliche Formen der Kommunikation scheinen bei ihm wesentlich zusammenzugehören. Die Schrift soll damit nicht abgewertet oder auf den zweiten Platz verwiesen werden. Ihre Bedeutung für die Kulturentwicklung insgesamt und auch für die Philosophie steht außer Zweifel. Auch die Bedeutung des dialogischen Prinzips in anderen Kulturen, wie zum Beispiel in den indischen Upanishaden, soll keineswegs geringer eingeschätzt werden. Es ist eher so, dass das Denken des Sokrates’ im Rahmen der westlichen Tradition einer der wenigen Fälle dialogischen Philosophierens darstellt. Wenn sich für die interkulturelle Philosophie Dialoge als angemessene Vollzugsform erweisen, und zwar Dialoge zwischen den Philosophien aller Kulturen, wird von westlicher Seite aus eine Rückfrage bei Platon und eine Analyse der sokratischen Gesprächsführung aller Voraussicht nach nützlich sein. Das soll im hier gegebenen Zusammenhang den Auftakt zu einer Reihe weiter führender Fragen bilden: Welche Aspekte gehören zu interkulturell philosophischen Dialogen? Wodurch sind sie als Dialoge definiert? Wie ist das gegenseitige Verhältnis der Partner in solchen und anderen Dialogen zu bestimmen? Inwiefern ist der Begriff der
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
175
Toleranz hierfür geeignet oder zureichend? Wären nicht die Begriffe Respekt oder Achtung angemessener? 2. Analyse der sokratischen Gesprächsführung und des Verhältnisses der Gesprächspartner zueinander Der historische Sokrates ist ein Philosoph, der nicht geschrieben hat. Stattdessen hat er vor rund 2400 Jahren auf dem Marktplatz in Athen, vorzugsweise mit schönen jungen Männern, philosophische Gespräche geführt. Dies ist bekanntermaßen fast alles, was sich mit historischer Zuverlässigkeit über ihn sagen lässt. Das Sokrates-Bild in der Geschichte der westlichen Philosophie ist weitestgehend von den schriftlich festgehaltenen Dialogen Platons geprägt, in denen es meistens Sokrates ist, der die philosophischen Auffassungen Platons darlegt. Es geht uns hier, bei dem Bemühen, die Prinzipien des dialogischen Philosophierens und ihre Bedeutung für die interkulturelle Philosophie darzulegen, nicht um die historische Gestalt des Sokrates, sondern um die platonischen Dialoge, in denen er auftritt. Wir richten uns auch nicht auf die unterschiedlichen inhaltlichen Fragen, die in diesen Dialogen geklärt werden sollen. Aber wir gehen davon aus, dass Platon seine philosophischen Auffassungen in Dialogform aufgeschrieben hat, weil er so der Weise des Philosophierens seines Lehrers Sokrates gerecht zu werden suchte. Mit der schriftlichen Aufzeichnung von Dialogen, in denen Sokrates seine und Platons philosophische Auffassungen darlegt, geht freilich ein entscheidender Aspekt des Philosophierens im Gespräch verloren, wie Sokrates es praktiziert hat. Ich meine den Geschehenscharakter der philosophischen Wahrheit, der in den schriftlich festgehaltenen Dialogen nur indirekt zur Geltung gebracht werden kann. Gernot Böhme nennt dies in seinem Buch Der Typ Sokrates die „Philosophie als Ereignis“, und er betont, dass nur in ihr die „Einheit von Wissen und Person“, die das philosophische Wissen seitdem bleibend kennzeichnet, in adäquater Weise zum Ausdruck kommt.5 Im Dialog drückt sich demgemäß ein entscheidender Wesenszug des philosophischen Wissens aus, der sich so in schriftlichen Texten nicht durchhält. Ohne auf die Vor- und Nachteile der Schriftlichkeit des Philosophierens näher einzugehen, wird sich sagen lassen, dass schriftliche Dokumente des Philosophierens versuchen sollten, das Dialogische im Medium der Schrift festzuhalten und zur Geltung zu bringen, wie Platon es beispielhaft getan hat. Im übrigen wird die geschriebene Philosophie nach eigenen Wegen suchen können und müssen, 5
Gernot Böhme, Der Typ Sokrates, Frankfurt a. M. 1988, S. 131, siehe zum Folgenden: S. 132–141.
176
Konversionen
dem Geschehenscharakter der philosophischen Wahrheit gerecht zu werden. Das philosophische Wissen ist nicht der Besitz irgendeiner Person. Die sokratische Gesprächsführung zeigt, dass es sich entfaltet, indem die philosophisch entscheidende, das Gespräch leitende Person ihre ganze Kompetenz in das Stellen der richtigen Fragen verlegt. Böhme beschreibt das sokratische Gespräch als „asymmetrisch“, sofern „dem Fragenden, also Sokrates, der höhere Rang zukommt“. Es zeige sich, dass „der Fragende deutlich das Gespräch beherrscht“. Dabei darf man indessen nicht vergessen, dass es im Spiel von Fragen und Antworten zu der „sokratischen Umkehrung“ kommt. Sokrates verharrt in der Haltung des Fragens, bekanntermaßen behauptet er selbst nichts. Das heißt, er stellt sich nicht über den jeweils Gefragten oder Befragten, sondern unter ihn. Damit sucht er die Asymmetrie, die durch seine überragende Kompetenz, sein längeres und tieferes Nachdenken in aller Regel zweifellos vorhanden ist, so viel wie möglich zurückzunehmen und eine Situation gleicher Gesprächspartner herzustellen. Es wäre dann nicht einfach der Ausdruck einer ironischen Einstellung, dass er selbst keine Ansichten hat, nichts lehrt, sondern nur fragt und seine Gesprächspartner veranlasst, ihre Ansichten darzulegen und bestimmte Behauptungen aufzustellen, die dann begründet und kritisch hinterfragt werden. Es wären vielmehr notwendige Vorkehrungen, um, so weit es irgend geht, die Gleichheit der Gesprächspartner zu ermöglichen. Die Kunst seiner Gesprächsführung, die meines Erachtens nicht so sehr ein „Typ von Pädagogik“ ist, sondern vielmehr der Klärung von Sachverhalten dienen soll, vergleicht Sokrates im Dialog Theaitetos bekanntlich mit dem Vorgehen einer Hebamme, wobei diese im Fall des philosophischen Gesprächs für „gebärende Seelen Sorge trägt, und nicht für Leiber“. Und es gibt noch einen wichtigen Unterschied zwischen der Gesprächsführung des Sokrates und der Hebammenkunst, wie seine Mutter sie ausgeübt hat. Dass die Gesprächspartner im Lauf des Gesprächs durch die Art der Fragestellung und den kritisch weiter fragenden Umgang mit den Antworten alles, was zur Klärung der Sachverhalte beiträgt, „nur aus sich selbst entdecken“, sagt etwas aus über den intersubjektiven, vom Einzelnen, auch von Sokrates nicht machbaren Status des werdenden Wissens. Deshalb sagt er: „die Geburtshilfe“, die zur Formulierung und Erfassung kluger und schöner Einsichten führt, „leisten der Gott und ich“.6 6
Platon, Theaitetos, 150a–d, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2, Berlin/ Heidelberg o. J., S. 574–575.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
177
Diese den einzelnen Menschen transzendierende Bedeutung des Wissens zeigt sich auch, wenn Sokrates selbst ausnahmsweise einmal inhaltliche Auffassungen darlegt. Er präsentiert sie dann – und nun wirklich in ironischer Einstellung – als „etwas Aufgeschnapptes“ – oder aber als Mitteilung von Priesterinnen, Dichtern und alten Weisen. Das bekannteste Beispiel ist die Rede über den Eros im Symposion, bei der Sokrates sich auf die Belehrung durch die Wahrsagerin und Seherin Diotima beruft.7 Das wahre Wissen ist nicht vorzeigbar, es erscheint im Gespräch, es setzt sich aus solchen Mitteilungen besonderer Personen und den Beiträgen der verschiedenen Partner zum Dialog zusammen und verteilt sich auch wieder auf diese. Wenn es hierfür eines besonders treffenden Beispiels bedarf, könnte man auf den Dialog Kratylos verweisen, in dem es um das Wesen der Sprache geht. Ist sie onomatopoetische Nachbildung wirklicher Geschehnisse, willkürliche Bedeutung, die bestimmten Sprachzeichen durch „Verabredung und Übereinkunft“ zuerkannt wird, oder der letztlich geheimnisvolle Prozess des Namengebens? Sie ist dies alles, aber nicht jedes Einzelne für sich, sondern alle richtigen Aspekte zusammengenommen.8 Es ist nicht zufällig, dass Böhme in seiner Darstellung der sokratischen Gesprächsführung als Beispiel den Dialog Menon wählt, in dem der entscheidende Gesprächspartner ein Sklave ist, der nicht bereits durch Erziehung und Ausbildung über bestimmte Wissensinhalte verfügt. Dabei zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit, dass die „Aporie [...] der entscheidende Effekt“ in diesen Gesprächen ist, die „Verlegenheit“ und „Verwirrung“, die durch das Erwerben vermeintlichen Wissens entstehen. Sokrates vergleicht seine Rolle bekanntlich auch mit der einer Stechfliege, die aus Selbstzufriedenheit aufschreckt, oder mit einem Zitterrochen, der andere Fische durch seine Zitterbewegung gewissermaßen hypnotisiert. Es geht ihm nicht um fertige Antworten, sondern darum, „sich selbst etwas zu fragen“. Dass der Sklave so befähigt wird, mathematische und geometrische Fragen zu lösen, ist dann nur in Grenzen ein relevantes Beispiel dafür, dass das Wissen um „das menschliche Gutsein“, die Tugend und Tüchtigkeit des Staatsbürgers, um die es eigentlich geht, kein „Wissen von etwas“ ist, sondern ein Bewusstseinszustand, ein Sichbewusst-werden. In seinem neuen Platon-Buch fasst Böhme die platonische Lehre vom Dialog als Weg zum Wissen, die ja auch die platonische Dialektik heißt, so zusammen, dass es dabei um ein Doppeltes geht: einerseits um das 7 8
Platon, Das Gastmahl, 201c–d, in: ebd., Bd. 1, S. 697. Ebd., Bd. 1, S. 541–616.
178
Konversionen
lógon didónai, das „Rechenschaft ablegen“, das durch die Fragen hervorgelockt wird, und andererseits das apodéchesthai, das „Rede entgegennehmen“. Das letztere ist indessen nicht passiv gemeint. Der „entgegennehmende Teil, in der Regel Sokrates, ist [vielmehr, H. K.] der eigentlich aktive“. In seinem Entgegennehmen liegt ein „Akt der Billigung, durch die ein möglicher Konsensus konstituiert wird“. Entscheidend ist, dass das so gewonnene Wissen sich nicht auch als systematisches Lehrgebäude der Philosophie Platons darstellen lässt. Damit würde man die „trotz aller Strenge immer wieder spürbaren spielerischen und tentativen Züge seiner Philosophie“ verkennen.9 Ein einzelner Dialog ist dabei häufig ein Beitrag zu bestimmten Aspekten eines Themas, dem in anderen Dialogen andere hinzugefügt werden können. In diesen Fällen muss man die verschiedenen Dialoge nebeneinander lesen und aufeinander beziehen. Die Intertextualität der Dialoge ist selber dialogisch zu vollziehen. Die platonische Philosophie präsentiert sich so als ein Polylog, das heißt ein Dialog von Dialogen. Auch wenn es nicht um ein Lehrer-Schüler-Verhältnis geht, setzt die Rolle des Sokrates in den platonischen Dialogen eine überlegene Sachkompetenz voraus. Es handelt sich eher um die Sublimierung von Liebesverhältnissen zwischen Sokrates und den von ihm befragten Jünglingen. Dass sich dabei im Gespräch jeweils eine „Umkehrung“ ergibt, soll heißen, dass Sokrates sich und seine überlegene Position in der Gesprächssituation stets wieder zurücknimmt, indem er darauf besteht, dass die gewonnenen Erkenntnisse nicht die seinen sind, sondern von den Gesprächspartnern eingebracht werden und an den Vollzug des Dialogs gebunden bleiben. Man kann in dieser Art der Gesprächsführung eine Minimierung der bestehenden Machtverhältnisse sehen. Wenn Sokrates die Gespräche so führt, dass er seine Partner dem Rang nach sich selbst gleichzustellen sucht, könnte man dies als eine tolerante Haltung bezeichnen. Denn diese Gleichheit entsteht, obwohl ein gravierender Unterschied in der sachlichen Kompetenz bestehen bleibt. Da Sokrates diese Gleichheit durch eine radikale Umkehrung in der Gesprächsführung erzeugt, die dem gemeinsamen Ziel, dem Suchen nach Erkenntnis, dient, wäre es vielleicht angemessener zu sagen, dass Sokrates seine Gesprächspartner respektiert. Denn ohne ihren Beitrag, ohne die spezifische Rolle, die sie in den Dialogen spielen, wäre das gemeinsame Ziel nicht erreichbar. Die Verschiedenheit in der Verteilung der Rollen des lógon didónai und des apodé9
Gernot Böhme, Platons theoretische Philosophie, Stuttgart/ Weimar 2000, S. 100–109.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
179
chesthai bleibt dabei durchaus bestehen. Diese Mischung aus gleichem Rang und verschiedenen Rollen ruft eine Spannung hervor, die die Dialoge zu dem macht, was sie sind. Wenn wir bedenken, dass in der sokratischen Gesprächsführung eine Umsetzung der Liebesbeziehung zwischen Sokrates und den Jünglingen in die Liebe zur Wahrheit, zum gemeinsamen Suchen nach der Wahrheit, stattfindet, ist der Begriff Respekt vielleicht noch nicht wirklich treffend. Denn er betont auch den Abstand, die kühle Distanz zwischen den dem Rang nach Gleichen. Der kantische Begriff der Achtung scheint mir für die Charakterisierung diese Verhältnisses besonders geeignet. Darin kommt die gefühlsmäßige Seite dieser Beziehung besser zum Ausdruck. Achtung ist bei Kant das Gefühl, das eine rein auf die Vernunft bezogene Haltung begleitet. Dieses Gefühl richtet sich bei Kant freilich nicht auf einen Anderen als Gesprächspartner oder als was auch immer, sondern auf das Sittengesetz. Als solche wird sie zur „Triebfeder“ des moralischen Handelns, das sonst ja gerade nicht durch Gefühle oder Neigungen motiviert sein darf. Die rational begründete Zuneigung, die in der Achtung vor dem Sittengesetz oder Kategorischen Imperativ zum Ausdruck kommt, ist bei Kant das einzige für die Motivierung des moralischen Handelns zulässige Gefühl.10 Es ist mein Eindruck, dass zwischen Sokrates und seinen Partnern im Lauf des Gesprächs aus Zuneigung und Liebe Achtung im Sinn eines solchen rationalen Gefühls entsteht. 3. Aspekte des interkulturell dialogischen Philosophierens Indem wir von dem bisher Gesagten ausgehen, von der Praxis interkulturell philosophischer Dialoge und von der Analyse der sokratischen Gesprächsführung, lassen sich eine Reihe von Aspekten angeben, die dazu gehören, damit von Dialogen gesprochen werden kann. Dabei wird auf die Interkulturalität der Dialoge weiterhin ein besonderes Augenmerk gerichtet. Der erste oder Hauptaspekt ist die Gleichzeitigkeit von angestrebter Gleichheit und Verschiedenheit (a). Sodann ist die Offenheit im Blick auf die zu erreichenden Ergebnisse von Dialogen zu erörtern (b). Ferner ist es wichtig zu untersuchen, welche nicht diskursiv-sprachlichen Mittel der Verständigung zu Dialogen gehören (c). Schließlich sollen die Ansätze zu einer Dialogik oder dialogischen Dialektik von der Diskurstheorie abgesetzt werden, die von den Partnern im Dialog nur Beiträge erwartet, die sich auch in der allgemeinen Menschenvernunft finden lassen (d). 10 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), in: Kants Werke. Akademie Textausgabe, Bd. V, Berlin 1968, S. 71–89.
180
Konversionen
a) Gleichheit und Verschiedenheit Dialoge können nur zustande kommen, wenn bei den Gesprächspartnern Gleichheit und Verschiedenheit vorausgesetzt wird. Damit ist die Grundbedingung für Dialoge genannt. Nur wenn die Partner einerseits dem Rang nach gleich sind oder auf Grund der gemeinsamen Suche nach Erkenntnis Gleichheit soweit wie möglich herzustellen suchen, andererseits aber ihre Rollen im Gespräch und ihre inhaltlichen Auffassungen verschieden sind, wird es zu einem Dialog kommen. Das Beispiel Sokrates hat gezeigt, dass dieses Verhältnis der Dialogpartner zueinander durch den Begriff der Toleranz nicht treffend umschrieben ist. Zweifellos wird Intoleranz jede Art von Dialog verhindern. Insofern ist hier wie auch sonst Toleranz besser als Intoleranz. Aber ist es genug zu sagen, dass die Gesprächspartner sich gegenseitig tolerieren? Setzt Toleranz nicht immer irgendwie ein Verhältnis von Höherstehenden zu solchen voraus, die eine niedrigere Position einnehmen? Die Bereitschaft der ersteren, von ihrer höheren Position keinen Gebrauch zu machen, wäre dann Toleranz. Anders gesagt, würde es tolerant heißen, den Niedrigerstehenden wie einen Gleichen zu behandeln, obwohl er es nicht ist. Herbert Marcuse hat deutlich gemacht, dass Toleranz in Verbindung mit einer liberalistischen Theorie „repressiv“ werden kann. Er analysiert die Möglichkeit von Minderheiten einer Mehrheit gegenüber in einem sich liberal verstehenden Staat im Zeitalter der „fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, ihrem Bestreben zu folgen, „das Ganze selbst zu ändern“. Man wird solchen Minderheiten nach Marcuses Darstellung durchaus „gestatten, Erwägungen anzustellen und zu diskutieren, zu sprechen und sich zu versammeln“. Dies kann als ein Ausdruck von Toleranz gewertet werden. Indessen werden diese Minderheiten „angesichts der überwältigenden Mehrheit, die sich einer qualitativen gesellschaftlichen Änderung widersetzt, harmlos und hilflos dastehen“. Der Änderungswille der Minderheiten verpufft auf diese Weise, die Mehrheit lässt ihn gewissermaßen ins Leere laufen. So wird die tolerante Haltung zu einem Mittel der Repression, das heißt hier der Ausschaltung der Effektivität der politischen Betätigungsmöglichkeit von Minderheiten.11 Die Analyse Marcuses, die sich auf die inneren gesellschaftlichen Verhältnisse der westlichen Welt richtet, lässt sich auf die Beziehungen zwi11 Herbert Marcuse, „Repressive Toleranz “, in: R. P. Wolff, B. Moore und H. Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1965, S. 91–128, siehe S. 105.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
181
schen Industrieländern und weniger industriell entwickelten Ländern übertragen. Hierbei ist wichtig, dass die Industrieländer ihren „Partnern“ den Spielraum vorgeben, innerhalb dessen sie ihren eigenen Beitrag zur Bestimmung der Beziehung zu diesen Ländern einbringen können. Der westliche Typ von Demokratie mit mehreren politischen Parteien und Entscheidungen auf der Grundlage von Mehrheiten und die westliche Form von freier Markwirtschaft bilden ein Dogma oder haben jedenfalls lange Zeit ein solches Dogma gebildet, an dem sich die industriell weniger entwickelten Länder zu orientieren hatten. Wenn diese Haltung der Industrieländer den Namen Toleranz überhaupt verdient, handelt es sich um „repressive Toleranz“. Auch der Umgang der Religionen miteinander, der sich seinem eigenen Selbstverständnis nach als Dialog vollzieht, ist daraufhin zu untersuchen, inwiefern er auf der Grundlage von Toleranz stattfindet und ob diese Grundlage tragfähig ist. Traditionell ist das Verhältnis zwischen den Religionen durch den Absolutheitsanspruch belastet, den viele von ihnen für sich erheben. Wie wir wissen, hat dies in der Geschichte dazu geführt, dass die überwiegende Mehrzahl aller Kriege Religionskriege waren und sind. Dem stehen in der neueren Zeit die ökumenische Bewegung, die die christlichen Konfessionen zueinander zu führen sucht, und auch vielfache Bemühungen der Religionen um den Frieden in der Welt gegenüber. Darin zeigt sich das „Doppelgesicht der Religionen“, wie der katholische Theologe Hans Küng es genannt hat.12 Wenn ein Christ und ein Buddhist, ein Jude und ein Moslem oder ein Hindu und ein Anhänger des Daoismus den Schritt vollziehen, dass sie Dialoge miteinander führen wollen, genügt es nicht, dass sie sich gegenseitig tolerieren. Auch wenn sie ihren Absolutheitsanspruch, jeder die allein wahre Religion zu sein, nicht aufgeben, müssen sie darauf verzichten, sich gegenseitig missionieren zu wollen. Wenn wir das subsaharische Afrika hinzu nehmen, ist die Übersicht der „großen religiösen Stromsysteme“, die Küng in seinem Buch Projekt Weltethos gibt, ohnehin um den Animismus zu erweitern, dessen Bedeutung für die „Kulturlandschaft dieser Erde“ noch nicht erfasst ist. Das subsaharische Afrika ist auch hier paradigmatisch für Kulturen, die keine primär schriftlichen Formen der Kommunikation und Überlieferung kennen, aber wohl davon ausgehen, dass alle Dinge in der Natur und Menschenwelt beseelt sind oder zur Wohnstätte von Geistern werden können. Die Haltung der so genannten großen Weltreligionen dem Animismus 12 Hans Küng, Projekt Weltethos, München/ Zürich 1990, S. 98–103; siehe zum folgenden Absatz: S. 159–160.
182
Konversionen
gegenüber ist erst langsam auf dem Weg von der Intoleranz zur Toleranz, und nur in ersten Anfängen von der Toleranz zur wirklichen Gleichstellung im Respekt. Der Schritt vom Respekt zur Achtung, jenem rationalen Gefühl, das der Liebe verwandt ist, muss noch von der Zukunft erwartet werden. Es gibt ein Manifest Brücken in die Zukunft, das auf Initiative von Kofi Annan erarbeitet worden ist und an dem unter vielen anderen auch Hans Küng mitgewirkt hat. Darin findet sich folgende bemerkenswerte Passage: „Christentum und Judentum, Islam und griechische Philosophie werden wichtige Quellen der Weisheit auch für die kommenden Jahrhunderte bleiben. Andere Lebenswege wie Hinduismus, Dschainismus, Konfuzianismus und Daoismus sind gegenwärtig ebenso lebendig und werden wohl auch in der Zukunft weiter gedeihen. Darüber hinaus haben Gelehrte, aber auch Politiker erkannt, dass Formen eingeborener Spiritualität – etwa auf dem afrikanischen Kontinent, im Shintoismus, bei den Maoris, den Polynesiern, den Ureinwohnern Amerikas, den Inuit, den Mittelamerikanern, den Ureinwohnern der Anden und Hawaiis – ebenfalls Quellen der Inspiration für das ‚globale Dorf‘ sind.“13
Wir merken nur kurz an, dass es in diesem Text ein ähnlich merkwürdiges Gefälle gibt wie in der oben erwähnten Encyclopédie Philosophique Universelle: Von „wichtigen Quellen der Weisheit“ in der westlichen Welt wird zu „anderen Lebenswegen“ in den Ländern des fernen Ostens übergegangen, um dann in einer Reihe von weiteren Ländern „ebenfalls Quellen der Inspiration“ zu entdecken. Diese Länder, die primär mündlich kommunizieren und weitgehend animistisch sind, werden ebenso umständlich wie unbeholfen aufgezählt. Bemerkenswert ist jedoch, dass hier zum ersten Mal der Animismus unter dem Namen „Formen eingeborener Spiritualität“ mit den so genannten großen Religionen der westlichen, orientalischen und fernöstlichen Weltregionen zusammen genannt wird. Das ist zumindest ein Ausdruck der Toleranz dieser Religion gegenüber, die ja nicht nur der Anzahl ihrer Anhänger nach zu den großen Weltreligionen zu zählen ist. Im subsaharischen Afrika, besonders in Südafrika, wird ein weiterer Schritt von der Toleranz in die Richtung auf Achtung vollzogen, indem daran gearbeitet wird, die zahlreichen Vermischungen von Christentum und Islam auf der einen Seite und den einheimischen animistischen Reli13 Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan, Frankfurt a. M. 2001, S. 51.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
183
gionen auf der anderen Seite theologisch ernst zu nehmen und den Anteil des Animismus in diesen synkretistischen Glaubensweisen positiv zu sehen. Der südafrikanische Theologe Gerrit Brand, der zur Bevölkerungsgruppe der Boeren gehört, nennt in seinem Artikel Salvation in African Christian theology: a typology of existing approaches zahlreiche Werke afrikanischer und westlicher Autoren, in denen die Befreiungstheologie oder Black theology sowie die Theology of inculturation und schließlich die Überwindung des Gegensatzes zwischen beiden dargestellt werden. Damit ist der Boden bereitet für eine positiv-kritische Würdigung der Bedeutung des herkömmlichen afrikanischen Denkens für die afrikanische christliche Theologie.14 b) Offenheit im Blick auf zu erwartende Ergebnisse Damit Dialoge zustande kommen, ist neben Gleichheit und Verschiedenheit ein gewisses Vorverständnis des zu behandelnden Themas vorausgesetzt. Man kann es auch vorsichtiger so ausdrücken, dass ein vorgeschlagenes Thema bei den Beteiligten eine gewisse Resonanz erzeugen muss, die nicht notwendigerweise bereits inhaltlich weitgehend artikuliert zu sein braucht. Wenn der Dialog beginnt, unterliegt er zwar bestimmten Regeln, ist aber an diese nicht in einem äußerlichen verfahrensmäßigen Sinn gebunden. Es sind eher die Regeln der Höflichkeit, die ein spontanes Agieren und Reagieren nicht ausschließen. Und es ist wichtig, welche Art der Gesprächsführung am meisten Aussicht auf Erkenntnisgewinn verspricht. Die Gesprächspartner richten sich primär auf die Sache, um die es geht. Diese ist gewissermaßen das „Zwischen“, das sie verbindet und in ihren Standpunkten auch frei lässt. Martin Buber hat in seinen Schriften zum dialogischen Prinzip eindringliche Analysen zu diesem „Zwischen“ vorgelegt. Es geht ihm um den Dialog des Ich mit dem Du, der durch eine Instanz zwischen beiden vermittelt wird. Diese Instanz ist unverfügbar, und die Begegnung, die sie ermöglicht, wird von den Beteiligten als Geschenk erfahren.15 An den interkulturellen Dialogen, die hier besonders thematisiert werden, sind in der Regel mehrere Personen beteiligt. Dementsprechend ist das Zwischen von etwas anderer Art als bei der Begegnung eines Ich mit einem Du. Es ist vielleicht weniger intim und wohl auch weniger intensiv. Ferner sprechen wir bewusst von Dialogen in der Mehrzahl oder mit Franz M. 14 Gerrit Brand, Speaking of a Fabulous Ghost. In Search of Theological Criteria, with Special Reference to the Debate on Salvation in African Christian Theology, Frankfurt a. M. u. a. 2002. 15 Martin Buber, Das dialogische Prinzip (1954), 5. Aufl., Heidelberg 1984.
184
Konversionen
Wimmer von einem „Polylog“, da interkulturelle Verständigung eine vielfältige und häufig zu wiederholende Anwendung des „dialogischen Prinzips“ erfordert.16 Dennoch lässt es sich nicht vermeiden, dass auch bei Dialogen dieses Typs Machtpositionen im Spiel sind, die auf Lebensalter, Energie und Kompetenz der Beteiligten beruhen und die zu dem „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments, von dem Aristoteles spricht, hinzutreten. Freilich kann und soll in Dialogen so viel wie möglich argumentiert werden. Aber man muss sich irren können, und man muss beschämt sein können, ohne dass dies zum Abbruch des Dialogs führt. Die Meinung des Einzelnen muss sich nicht vor der Instanz eines herrschenden Diskurses oder gängiger Auffassungen rechtfertigen. „Wer überhaupt etwas meint, meint auch immer etwas Richtiges“, hat Hans-Georg Gadamer einmal gesagt. Das Ergebnis eines Dialogs beruht deshalb nicht auf der überlegenen Position des einen oder anderen der Beteiligten. Es ist auch nicht als „Verschmelzung der Horizonte“ der Beteiligten zu charakterisieren, wie es bei Gadamer geschieht.17 An den platonischen Dialogen kann man ablesen, dass ihr Ergebnis in ihrem Vollzug zur Erscheinung kommt. Wie bei der sokratischen Gesprächsführung verlangt die Offenheit für die zu erwartenden Ergebnisse auch generell in allen Dialogen, die unterschiedlichen Machtpositionen zu minimieren. Dies ist in philosophischen Dialogen, die auf eine gemeinsame Klärung von Sachverhalten gerichtet sind, am ehesten möglich und lässt sich in interkulturell philosophischen Dialogen durchaus praktizieren. Dieser Aspekt von Dialogen, wegen ihrer soeben genannten Eigenschaft insbesondere philosophischen Dialogen, hat eine unmittelbare politische Konsequenz. Er enthält die Aufforderung an andere Formen der Kommunikation in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, die stärker von bestehenden Machtverhältnissen ausgehen, diese dialogischer zu machen. Man kann auch sagen, dass Dialoge eine Gegeninstanz der stärker auf Machtunterschieden beruhenden Kommunikationsformen bilden. Zur Offenheit von Dialogen, gerade auch interkulturellen Dialogen, gehört, dass es in ihnen bleibende Elemente des Nichtverstehens gibt. Ein Dialog ist nur, was er ist, wenn er auch scheitern kann. Wichtig ist, dass ich die Auffassungen des Anderen gelten lasse, auch wenn ich sie im eigenen Verständnishorizont nicht unterbringen kann. Dieses Gelten16 Franz M. Wimmer, „Polylog der Traditionen im philosophischen Denken“, in: Ram Adhar Mall und Notker Schneider (Hg.), Ethik und Politik aus interkultureller Sicht, Amsterdam/ Atlanta, GA 1996, S. 39–54. 17 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1961, S. 359–360.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
185
lassen beruht auf dem Vertrauen zu dem Partner, der sich der Situation des Dialogs ausgesetzt hat. Es ist Ausdruck der Achtung, welche die Dialogpartner für einander empfinden, die weiter geht als eine tolerante Haltung und auch als die des Respekts, die auf Abstand bedacht bleibt. Freilich haben Respekt und Achtung auch eine Grenze, die sich aus ihrem eigenen Wesen ergibt: Respekt und Achtung verdient nur, wer selbst respektiert und achtet. Schließlich muss klar sein, dass die Kommunikationsform der Dialoge eine Zugangsmöglichkeit zur interkulturellen Philosophie ist, die von europäisch-westlicher Seite aus konzipiert und angeboten wird. Damit ist zugleich gesagt, dass in den Dialogen die Offenheit eingeschlossen ist, zu anderen Kommunikationsformen überzugehen, wenn sich diese als angemessener erweisen. Hier ist noch einmal auf Wege des Philosophierens in den östlichen Traditionen zu verweisen, insbesondere auf die „Entsprachlichungstendenz“ der buddhistischen Philosophie. Aber auch in diesem Zusammenhang geht es nicht darum, in „Schweigen“ zu versinken, sondern die „Konventionalität“ des Sprechens zu betonen. Dem entspricht in westlichen Auffassungen die Beachtung der Differenz zum „Unsagbaren“, die sich in den Traditionen der Mystik und auch bei zeitgenössischen Autoren wie Gadamer, Wittgenstein, Lacan oder Derrida findet.18 Sie bildet keine Alternative zu den Dialogen. Gadamer sieht sich vielmehr gerade durch diese Erkenntnis auf die „platonische DialogKunst“ verwiesen, die „immer ins Offene weist“.19 Auch ein Hinweis auf die Gesprächsformen des Pallavers und des Mbongi in afrikanischen Gemeinschaften ist an dieser Stelle von Nutzen. Der aus dem Kongo stammende und an der Universität von Dar es Salaam lehrende Philosoph Wamba dia Wamba führt diese Gesprächsformen als ein afrikanisches Gegenstück zu parlamentarischen Debatten in westlichen Demokratien ins Feld. Alle Mitglieder einer Gemeinschaft sind beteiligt, nicht unterschiedslos, aber doch gleichrangig. Jeder der Beteiligten muss seinen Standpunkt darlegen, und es wird so lange geredet, bis Einstimmigkeit erzielt ist. Man kann in diesen Gesprächsformen ein Modell für den Polylog sehen, das heißt für Dialoge, an denen viele Partner beteiligt sind. Das Streben nach Einstimmigkeit ist dadurch bedingt, dass eine politische Entscheidung getroffen werden soll, bei der sich eine Minderheit nicht dem politischen Willen der Mehrheit beugen muss.20 18 Jens Schlieter, Versprachlichung – Entsprachlichung. Untersuchungen zum philosophischen Stellenwert der Sprache im europäischen und buddhistischen Denken, Köln 2000, S. 276–279. 19 Zitat aus einem Brief Gadamers an den Autor dieses Beitrags vom Januar 2001. 20 Ernest Wamba dia Wamba, „Beyond Elite Politics of Democracy in Africa“, in:
186
Konversionen
Darüber wäre von westlicher Seite aus vor allem im Hinblick auf politische Dialoge und Debatten nachzudenken, um Nachteile der Entscheidungsfindung in westlichen Demokratien zu erkennen und wenn möglich aufzuheben. c) Nicht diskursiv-sprachliche Mittel der Verständigung Nicht nur bei interkulturell philosophischen Dialogen, sondern bei Dialogen allgemein ist es wichtig, dass die Personen, die am Dialog teilnehmen, im Idealfall leiblich anwesend sind. Dabei findet bereits vorsprachlich vielfacher Austausch statt. Das Antlitz des Dialogpartners qualifiziert ihn als solchen. Hier ist auf Emmanuel Levinas zu verweisen, der die „authentische Spur des Anderen“ im Erscheinen der Nacktheit seines Antlitzes sieht. Die Begegnung mit dem Antlitz des Anderen geht jeder Lehre von einer Weltordnung voraus und enthält einen unmittelbaren ethischen Appell. „Dies ist eine Haltung, die nicht auf eine Kategorie zurückgeführt werden kann. Sich der Verantwortung nicht entziehen können, kein Versteck der Innerlichkeit haben, in dem man in sich zurückgeht, vorwärts gehen ohne Rücksicht auf sich“, das ist es, wozu diese Begegnung auffordert. Es zeigt die Bedeutung der leiblichen Anwesenheit der Partner des Dialogs. Wo sie nicht möglich ist, hilft es vielleicht, sich das Antlitz des und der Anderen vorzustellen, mit denen ein Dialog gesucht wird.21 Wenn jemanden der Blick des/ der Anderen trifft, sind darauf unterschiedliche Antworten möglich. Die Blicke der Dialogpartner können sich positiv begegnen, indifferent bleiben oder sich ausweichen. JeanPaul Sartre hat gezeigt, dass mir der „Subjekt-Andere“, den ich nicht nur als ein Objekt sehe, phänomenologisch und ontologisch durch die „permanente Möglichkeit“ gegeben ist, durch ihn „gesehen zu werden“. Aber wie ich den Anderen zunächst als „Objekt-Anderen“, als ein anderes Exemplar der Gattung Mensch sehe, blickt er mich auch nicht nur als Subjekt-Anderen, sondern objektivierend an. Das bildet für Sartre den Grund für das Phänomen der Scham. „Die Scham [...] ist Anerkennung dessen, dass ich wirklich dieses Objekt bin, das der Andere anblickt und beurteilt“. Sofern ich mich jedoch als Subjekt-Anderer als erblickt erfahre, realisiert sich nach der Darstellung Sartres für mich, wie dies auch durch
Quest. An International African Journal of Philosophy, VI, 1 (1992), S. 28–42. 21 Emmanuel Levinas, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers. v. Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg/ München 1983, S. 225–235; siehe auch zum übernächsten Absatz.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
187
Levinas beschrieben wird, „eine weltjenseitige Anwesenheit des Anderen“.22 Levinas findet indessen, dass Sartre hier „die Analyse zu früh beendet“, weil er primär „die gewaltförmige Anwesenheit des Subjekt-Anderen“ herausarbeitet23 und nicht sagen kann, was der Andere in einem ethischen Sinn für mich bedeutet. In der Situation des Dialogs, besonders wenn es darum geht, kulturell bedingte, gesteigerte Fremdheit zu überwinden, wird vor allem der Ansatz von Levinas hilfreich sein. Aber es ist sicher auch von Nutzen, sich mit Sartre die Schwierigkeiten vor Augen zu führen, die durch den objektivierenden Blick entstehen. Der Mensch kann auch nach Sartre „den objektivierenden Blick überschreiten und seine Für-sich seiende Subjektivität zurückgewinnen“. Er betont indessen, dass „mein Objekt-Ich [...] Bedingung meiner Selbstheit gegenüber dem Anderen und der Selbstheit des Anderen mir gegenüber“ ist.24 Das kann man als Ausdruck eines einseitig auf sich selbst gerichteten Subjekts betrachten, der für den Dialog nicht förderlich ist. Außer dem Blickkontakt gibt es eine Reihe anderer multisensorischer Wechselbezüge. Dazu gehören auch die Gestik und der Tonfall, die den sprachlich geführten Dialog begleiten und im Prozess des gegenseitigen Verstehens eine Rolle spielen. Sie stimulieren die Aufmerksamkeit und vermitteln Gefühlsaspekte des Gesagten, die sehr wichtig sein können. Wir haben es hier mit Phänomenen zu tun, die Gernot und Hartmut Böhme in ihrem richtungweisenden Buch Das Andere der Vernunft genannt haben. In diesem Buch erfahren wir freilich auch, dass die Gefühlsaspekte des Gesagten nur wirklich ans Licht gebracht werden können, wenn wir die freudsche Psychoanalyse zu Hilfe nehmen. Auf diese Weise soll ein anderes, nachkantisches „Konzept von Philosophie“ vorbereitet werden, eine „neue Philosophie der Natur, des Leibes und der Phantasie“.25 Nach der Auffassung Gadamers müssen wir in diesem Zusammenhang auch auf die Disziplin der Rhetorik zurückgreifen, die durch Platons Kritik zu sehr in Misskredit gebracht worden ist. Die Rhetorik zeigt die Bedingungen und auch die Mittel und Wege auf, wie eine Rede Überzeugungskraft bekommt. Sie kann deutlich machen, wie dem Gesagten 22 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, übers. v. Traugott König, Reinbek bei Hamburg 1991, S. 463, S. 471 und S. 485. 23 Reinhard Olschanski, Phänomenologie der Mißachtung. Studien zum Intersubjektivitätsdenken Jean-Paul Sartres, Bodenheim 1997, S. 76–82. 24 Ebd., S. 83–85; Sartre, Das Sein und das Nichts, a.a.O., S. 511. 25 Hartmut und Gernot Böhme, Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants, Frankfurt a. M. 1983, S. 24.
188
Konversionen
Nachdruck zu verleihen ist, so dass seine Wirksamkeit gesteigert wird. Insofern hat sie etwas mit den Machtverhältnissen zu tun, die auch Dialoge durchziehen. Dabei soll der kritische Impuls Platons nicht verloren gehen. Die Rhetorik, wenn sie sich selbst richtig versteht, tritt „der Verzauberung des Bewusstseins durch die Macht der Rede“ entgegen. Darin ist sie der Ideologiekritik verwandt, sofern diese zur „Entlarvung der ‚Täuschung durch die Sprache‘“ dient.26 d) Der spezifische Erkenntnisgewinn in Dialogen, besonders in interkulturell philosophischen Dialogen Unsere Rückfrage bei Platon hat ergeben, dass Dialoge in besonderer Weise geeignet sind, dem Geschehenscharakter der Wahrheit gerecht zu werden. Dass ein bestimmtes Wissen über einen Sachverhalt in philosophischen Dialogen erscheint, sagt auch etwas über die Personen, die daran teilnehmen. Keiner von ihnen könnte dieses Wissen als Ganzes aus sich hervorbringen. Indem bestimmte Personen miteinander sprechen, bringen sie dieses Wissen zur Erscheinung. Sie haben sich etwas zu sagen, das sich nicht ein jeder von ihnen auch selbst hätte sagen können. Für jeden Gesprächsteilnehmer ist es letztlich unerwartet, was die jeweils Anderen sagen, sofern sie eben Andere sind und von anderen Voraussetzungen und Betrachtungsweisen aus reden. Sofern der/ die Andere/n aus einer anderen Kultur kommen, ist das Maß des Unerwarteten um so größer. Bernhard Waldenfels arbeitet in seiner Topographie des Fremden heraus, dass es „Steigerungsgrade des Fremdseins“ gibt, bei denen die Erscheinungen, die aus dem Kontext einer fremden Kultur stammen, eine bedeutsame Rolle spielen. „Strukturelle Fremdheit“ geht weiter als „alltägliche und normale Fremdheit“ und kann auf „interkulturellen Ausdrucksdifferenzen“ beruhen. Die strukturelle Fremdheit wird noch durch die „radikale Fremdheit“ überboten, die „uns mit Ereignissen konfrontiert, die nicht nur eine bestimmte Interpretation, sondern die bloße [d. h. prinzipiell jede, H. K.] ‚Interpretationsmöglichkeit‘ in Frage stellt“.27 Ähnlich argumentieren Herfried Münkler und Bernd Ladewig in der Einleitung zu dem von ihnen und Karin Meßlinger herausgegebenen Band: Die Herausforderung des Fremden. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass „Fremd26 Hans-Georg Gadamer, „Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu ‚Wahrheit und Methode‘“, in: ders., Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen, Tübingen 1986, S. 232–250, siehe S. 236–237 und S. 241. 27 Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a. M. 1997, S. 35–37.
Kimmerle, Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie
189
heit gradualisierbar ist“, wobei den Stufen der Fremdheit bestimmte „Stufen des Verstehens“ zugeordnet sind. Dabei kann es im Extremfall zu „definitiver Fremdheit“ kommen, auch wenn diese in unserer sich vereinheitlichenden globalen Kultur „selten, wenn nicht gar unmöglich geworden“ ist.28 Wir werden also für interkulturell philosophische Dialoge in besonderer Weise davon ausgehen können, dass der/ die Andere/n mir etwas zu sagen hat/ haben, das ich mir auf keine Weise auch selbst hätte sagen können. Dieser Typ von Dialog berechtigt deshalb zu der Erwartung eines ganz besonderen, spezifischen Erkenntnisgewinns. Die Problemlage der heutigen Welt bedarf solcher Erkenntnismöglichkeiten. Für die Fragen einer gerechten Verteilung der Ressourcen dieser Erde gibt es bisher keine überzeugenden oder praktikablen Lösungsvorschläge, für den adäquaten Umgang mit den ungeheueren Energien, die durch Kernspaltung freigesetzt werden, sind noch keine verlässlichen Regeln gefunden oder eingeführt, für die Beeinflussung des erblichen Materials von Menschen sind die Grenzen noch nicht bestimmbar und erst recht nicht durchsetzbar. Diese und andere bisher ungelöste Probleme haben entscheidende philosophische Dimensionen. Um ihrer Lösung näher zu kommen, müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, sicher auch die interkulturell philosophischer Dialoge. Diesen Ausgangspunkt der interkulturellen Philosophie möchte ich abschließend abheben von den „Grundannahmen der diskurstheoretischen Auffassung von Demokratie und Rechtsstaat“ mit ihren universalistischen Prämissen und der daraus abgeleiteten „Einbeziehung des Anderen“.29 Schon in der Theorie des kommunikativen Handelns beruft sich Jürgen Habermas auf die universale Instanz nicht einer inhaltlich bestimmten Vernunft, sondern einer „prozeduralen Vernunft“. Dem Geltungsanspruch des vernünftigen Argumentierens könne sich keiner entziehen, weil der Versuch dies zu tun, sich selber vernünftiger Argumente bedienen müsse.30 Diese „Weichenstellung“ in der Ansetzung bestimmter Grundbegriffe führt „in der Moral- und Rechtstheorie“ zu einem Universalismus, der aber nach Habermas’ eigener Auffassung „für Differenzen hochempfindlich“ bleibt. 28 Herfried Münkler und Bernd Ladewig, „Einleitung“, in: Herfried Münkler, Karin Meßlinger und Bernd Ladewig (Hg.), Die Herausforderung durch das Fremde, Berlin 1998, S. 12–23, siehe S. 23. 29 Jürgen Habermas, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1997, S. 7–9, siehe auch zum Folgenden. 30 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a. M. 1981, S. 44–71.
190
Konversionen
Habermas möchte zeigen, dass sich von den Voraussetzungen seiner Grundbegriffe aus „der gleiche Respekt für jedermann [...] nicht (nur) auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen als Anderen“ erstreckt. Indessen hält er an der These fest, dass der Andere seine Andersartigkeit auf der Grundlage und mit den Mitteln des universal gültigen republikanisch-demokratischen Rechtsstaats zu artikulieren hat, da dieser auf dem Grundprinzip der Entscheidungsfindung durch vernünftiges Argumentieren aufgebaut sei. So möchte er der „Herausforderung des Multikulturalismus“ begegnen. Dieser Ansatz wird jedoch dem Anderen nicht in seiner Andersartigkeit gerecht. Er läuft darauf hinaus, dass ich dem Anderen vorschreibe, dass er die gleiche vernünftige Argumentationsweise mit mir zu teilen hat. Folglich kann er mir nicht etwas sagen, das ich mir als vernünftig argumentierendes Wesen nicht auch selber hätte sagen können. Demgegenüber möchte ich an der Auffassung festhalten, dass im Dialog, anders als im Diskurs, der Andere in einem radikalen oder jedenfalls strukturellen Sinn anders ist und mir etwas zu sagen hat, das ich nicht letztlich auch von meinen eigenen Argumentationsvoraussetzungen aus hätte finden können. Im Vollzug der interkulturell philosophischen Dialoge sind diese radikal Anderen die Mitglieder von Kulturen, die nicht primär schriftliche Formen der Kommunikation und Überlieferung kennen. Es ist bemerkenswert, dass Habermas vom „Respekt“ für den Anderen spricht, genauer vom „gleichen Respekt für jedermann“. Im Rahmen seiner Konzeption wäre Toleranz meines Erachtens ausreichend. Denn der Andere kann seine Andersartigkeit lediglich unter der von mir gestellten Bedingung zur Geltung bringen, dass er dies in der Weise des vernünftigen Argumentierens tut, die auch die meine ist. Dies verrät auch schon die Formulierung vom „gleichen Respekt für jedermann“, die jeden Andern mir selbst oder jedenfalls der von mir bevorzugten Weise des vernünftigen Argumentierens gleich zu machen sucht. Respekt für den Anderen setzt wohl doch mehr von jener Offenheit voraus, die wir als einen wesentlichen Aspekt von Dialogen herausgestellt haben.
Endogene Wissenstraditionen als Herausforderung der Philosophie: Die Praxis interkultureller Philosophie in Afrika1 Ulrich Lölke Ausgehend von Heinz Kimmerles Aufweis dialogischer Traditionen der Philosophie im Rahmen einer interkulturellen Philosophie schlägt der Autor vor, die Geschichte der Philosophie insgesamt unter eine interkulturelle Perspektive zu stellen. Dadurch könnten die verborgenen und überschriebenen Erfahrungen des Fremden wieder sichtbar gemacht werden. Voraussetzung sei eine dezentrierte Geschichte der Philosophie, wie sie von Cheik Anta Diop und Martin Bernal angeregt wurde. Richard Rorty geht in die genau entgegengesetzte Richtung, wenn er die Unausweichlichkeit einer ethnozentrischen Perspektive betont. Allerdings sieht er in Autoren wie Salman Rushdie die Entstehung einer neuen intellektuellen ‚Kultur’, in der die kulturellen Hemisphären überbrückt würden. Diese sei in der Literatur möglich, in der Philosophie aber noch nicht. Der 1996 verstorbene kenianische Philosoph Henry Odera Oruka hat sich seit den 1970er Jahren in Kenia mit dem Dialog zwischen akademischen und endogenen Wissensformationen befasst und unter dem Namen Sage Philosophy Project weise Männer und Frauen in Kenia interviewt. Ziel war dabei nicht eine Glorifizierung einer vorkolonialen Vergangenheit, sondern die Suche nach einem Wissen, das die Lebensbedingungen auf dem Kontinent verbessern helfen kann. Damit hat er ein pragmatisches Argument eingeführt, das zudem helfen könnte, die kolonialen Diskursformationen zu durchbrechen. Allerdings ist es auch Odera Oruka nicht gelungen, die Frage der problematischen Übersetzung von epistemischen Kulturen in den Blick zu bekommen. Following Heinz Kimmerle’s argumentation in this volume, focussing on dialogical traditions within the history of philosophy as part of an intercultural philosophy, Ulrich Lölke suggests a (re-)reading of the history of philosophy from an intercultural perspective, with the aim to emphasize the hidden and over-written experiences of difference and otherness. As a condition he imposes a decentering of the history of philosophy, as Martin Bernal and Cheik Anta Diop have suggested. Although Richard Rorty claims a different view, arguing for an inevitable ethnocentricity in our (philosophical) positions, he interprets the work of authors like Salman Rushdie as a new tradition of an intercultural understanding, bridging separated cultural hemispheres. However, Rorty is less optimistic with philosophical literature. Ulrich Lölke argues that the late Kenian philosopher Henry Odera Oruka might have a similar position as Rushdie’s, bridging different worlds, when he started a 1
Ich danke Constanze Schmaling, Steffi Hobuß und Iris Därmann für ihre wertvollen Kommentare zu einer früheren Version des Textes.
192
Konversionen
dialogue between academic and endogenous knowledge traditions in Kenia in the 1970ies. In his Sage Philosophy Project he interviewed wise Kenian men and women, with the aim, not to glorify a precolonial past, but to search for knowledge formations that may help to better the standards of living on the continent. With the initiation of this “pragmatic argument” he breaks with colonial discourse formations. However, Lölke is critical of Odera Oruka’s approach translating epistemic cultures.
Meine Ausführungen schließen in gewisser Weise an die Diskussionen an, die wir in der vergangenen Woche mit Heinz Kimmerle hier geführt haben, der sich mit der Frage beschäftigt hat, welche dialogischen Traditionen in der Geschichte der Philosophie Vorbilder für eine heutige interkulturelle Philosophie darstellen.2 Ich nehme diese Fragestellung seiner Ausführungen auf, möchte aber die historische Perspektive auf die interkulturellen und dialogischen Wurzeln der Philosophie insofern zuspitzen, als ich Philosophie in einem umfassenderen Sinne als ein interkulturelles Geschehen verstanden wissen möchte, das in den Erzählungen ihrer eigenen Geschichte nur wenig Raum einnimmt und nur schlecht sichtbar gemacht wird. Ein Ansatz, der auf die Unterbrechung der westlichen Monologe in der Philosophie zielt, müsste zeigen können, dass Philosophie in viel größerem Umfange tatsächlich interkulturell gewesen ist, als ihre europazentrierte, erzählte Geschichte sichtbar macht. Mit dem Aufweis dieser inneren Friktion der bisher als linear dargestellten Geschichte der abendländischen Philosophie (Athen ¿ Frankfurt a. M. ¿ Berkeley) gerät die Vorstellung einer monokulturellen Bindung philosophischer Traditionen in erhebliche Schwierigkeiten. Insofern Kultur sich dann als nicht mehr deckungsgleich mit jenen großen „Zivilisationen“ erweisen würde, müsste der Kulturbegriff einer interkulturellen Philosophie überdacht werden und an neuere Entwicklungen der Kulturtheorie angepasst werden (Stichwort: hybride Kultur). Ich möchte die Bedeutung dieser Fragen an einem Beispiel aus der Philosophie im post-kolonialen Afrika illustrieren, in dem die interkulturelle Dimension an einer innerkulturellen Problematik sichtbar wird. Mir scheint es also sinnvoll zu sein, neben einem Lernen aus erfolgreichen dialogischen Traditionen (1) die Philosophiegeschichte insgesamt unter eine interkulturelle Perspektive zu stellen, um dadurch die verborgenen und überschriebenen Erfahrungen mit dem Fremden wieder sichtbar zu machen. Vermutlich werden hier die bestehenden Fremderfahrun2
Im Rahmen der Ringvorlesung Fremderfahrungen in ethnologischer und interkultureller Perspektive an der Universität Lüneburg im Wintersemester 2002/03; Heinz Kimmerles Vortrag „Sollen wir Partner im Dialog tolerieren und/oder achten?“ ist in diesem Band abgedruckt.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
193
gen von einem bestimmten Geschichtsverständnis überdeckt. Sodann (2) möchte ich aus Heinz Kimmerles Ausführungen den Verweis auf die Interkulturalität philosophischer Dialoge aufnehmen und gezielt nach dem Begriff der Kultur im Inter-Kulturellen fragen. Eine Verständigung auf einen komplexen Kulturbegriff scheint mir für ein Projekt einer interkulturellen Philosophie unabdingbar. Die innerkulturelle Philosophiedebatte im post-kolonialen Afrika ist (3) diesbezüglich schließlich ein geeignetes Beispiel für eine komplexe interkulturelle Philosophie, die die Hybridität und Dynamik post-kolonialer Gesellschaften darstellbar werden lässt. 1. Die Interkulturalität der dialogischen Philosophietraditionen Heinz Kimmerle spricht in seinem Vortrag von einer Theorie interkultureller Philosophie, die von ihm in ihrer „Vollzugsform“ als eine dialogische Philosophie dargestellt wird.3 Diese grenzt er ab von anderen Modellen interkultureller Philosophie, in erster Linie von einer komparativen Philosophie, die er auf Schlegel und W. v. Humboldt zurückführt und für die er einige zeitgenössische Vertreter angibt. Damit hat er einen Hinweis auf frühere interkulturelle Debatten schon gegeben. Hier vielleicht einige weitere Beispiele: Nimmt man den Beginn einer abendländischen Philosophietradition4, die häufig als der Anfang einer Philosophie überhaupt angegeben wurde, mit der griechischen Philosophie an, dann stellt sich die Frage nach den Vorläufern dieser Tradition. Da eine Schöpfung aus dem Nichts kulturhistorisch als unwahrscheinlich gelten kann, richtet sich das Augenmerk auf die Bedeutung eines ägyptischen Einflusses auf diese vermeintliche Geburtsstunde des Denkens. Auf die historische Verbindung zwischen den beiden Kontinenten wurde im 20. Jahrhundert zuerst von dem senegalesischen Archäologen Cheik Anta Diop hingewiesen.5 Dessen These wurde dann von Martin Bernal avanciert.6 Philosophiehistorisch ist die Frage bislang nicht befriedigend beantwortet, obwohl 3 4
5
6
Ebd., S. 172. Die Frage nach den Anfänge der Philosophie wurde in der interkulturellen Philosophie ausführlicher diskutiert; vgl. R. A. Mall und H. Hülsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa, Bonn 1989; dazu die Kritik von Heinz Kimmerle, Interkulturelle Philosophie, Hamburg 2002, S. 48–55. Cheik Anta Diop, Nations nègres et culture, Paris 1954; ders., Antériorité des civilisations nègres, Paris 1967; zur deutschen Rezeption siehe L. Harding und B. Reinwald (Hg.), Afrika – Mutter und Modell der europäischen Zivilisation? Die Rehabilitierung des schwarzen Kontinents durch Cheik Anta Diop, Berlin 1990. Martin Bernal, Black Athena. The Afroasiatic roots of classical civilisation, New Brunswick, NJ; Vol. I: The fabrication of ancient Greece 1785–1985, London 1987; Vol. II: The archeology and documentary evidence, London 1991.
194
Konversionen
Bernals These, dass zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert die Zeugnisse einer Verbindung zwischen griechischer und ägyptischer Antike systematisch ausgelöscht worden sind, auch für die Philosophiegeschichte von großer Bedeutung wäre.7 Wenn Kimmerle die sokratische Philosophie als Modell einer dialogischen Philosophie anführt, dann ließe sich direkt die Frage anschließen, die Kimmerle selbst nicht stellt, inwiefern es sich hierbei nämlich auch schon um eine interkulturelle dialogische Philosophie gehandelt habe? Für die Rezeptionsgeschichte der griechischen Philosophie ist es leichter zu zeigen, dass es sich insgesamt um eine Geschichte des Interkulturellen handelt. Ein Beispiel wäre selbstverständlich die arabische Rezeptionsgeschichte der griechischen Antike.8 Interessant ist, dass in Europa selbst die Sorge formuliert wurde, ob das antike Denken in seiner arabischen Überlieferung vielleicht insgesamt eine (arabische) Erfindung gewesen sein könnte.9 Weniger bekannt ist in Europa die äthiopische Rezeptionsgeschichte der griechischen Antike, auf die der Kanadier Claude Sumner aufmerksam gemacht hat.10 Mit Beginn der Neuzeit und ihrem entfachten Interesse für das Fremde sieht sich die Wissenschaft und mit ihr die Philosophie in Europa mit einer Fülle neuen Wissens fremder Völker und ihrer Bräuche, über unbekannte Pflanzen, Tiere und Landschaften konfrontiert, deren Auswirkungen an anderer Stelle ausführlich dargestellt wurden11. Natürlich ist diese bedeutungsvolle Konfrontation mit dem Fremden auch für die Philosophie nicht wirkungslos geblieben. Zu erwähnen sind etwa Autoren wie Montaigne, Herder, Nietzsche und schließlich vielleicht der späte Heidegger, deren Werke das Interesse und die Faszination für das Fremde widerspiegeln. Dass es diese Rezeptionsgeschichte gegeben hat, ist also leicht zu zeigen. Zwar spielt die Rezeption des Fremden, d.h. solcher Texte, die vor einem 7
Vgl. V. Y. Mudimbe, „The Power of the Greek Paradigm“ in: ders., The idea of Africa, Bloomington 1994, S. 71–104; sowie D.A. Masolo, African philosophy in search of identity, Bloomington 1994, S. 21–23; außerdem Wim M. J. van Binsbergen (Hg.), Black Athena. Ten years after, Hoofdorp 1997; Mary R. Lefkowitz und Guy MacLean Rogers (Hg.), Black Athena revisited, Chapel Hill 1996; Martin Bernal, Black Athena writes back. Martin Bernal responds to his critics, Durham 2001. 8 Kwame Gyekye, Arabic logic. Ibn al-Tayyib's commentary on Porphyry's Eisagoge, Albany, NY 1979. 9 Jean Sgard, „Et si les anciens étaient modernes...le système du P.Hardouin“, in: G. de Donville (Hg.), D’un siècle à l’autre, Marseille 1987, S. 209–220; sowie Peter Burke, A Social history of knowledge, Cambridge 1997; dt. Papier und Marktgeschrei, übers. v. Matthias Wolf, Berlin 2001, S. 233. 10 Claude Sumner, The life and maxims of Skendes, Ethiopian Philosophy, Vol. IV, Addis Abeba 1981. 11 Peter Raby, Bright paradise. Victorian scientific travellers, Princeton, NJ 1997; Peter Burke, A social history of knowledge, a.a.O., dt. S. 69–99.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
195
fremden kulturellen Hintergrund entstanden sind, in der europäischen Philosophie eine Rolle. Weniger leicht ist es jedoch, die Wahrnehmung, die Darstellung und die Anerkennung dieser Rezeptionsgeschichte zu zeigen. Offensichtlich sind in der Philosophiegeschichte wie auch im Selbstverständnis der abendländischen Philosophie die Zeichen dieser Kulturkontakte verwischt worden. Ihre Erinnerungen sind überschrieben, und die Bereitschaft scheint gering, die Bedeutung dieser „Ereignisse“ anzuerkennen bzw. zu repräsentieren. Übersetzungen zwischen Kulturen in der Philosophie finden kaum Erwähnung. Es gibt höchstens eine gewisse Sensibilität für die Antworten jener Autoren, die Texte mit fremdem kulturellen Hintergrund rezipieren, aber kein Gespür für die Bedeutung dieser Übertragungen und keine Erfassung ihrer Übersetzungsleistungen. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurde außereuropäisches Denken (beschränkt auf die persischen, arabischen und chinesischen Kulturen) lediglich als Quasi-Philosophie anerkannt, als das Denken „philosophiebegabter Völker“, wie sie auch genannt wurden.12 Nun ließe sich darauf hinweisen, dass diese Beobachtungen ja für die Vergangenheit gegolten haben mögen, die Situation in der Gegenwart aber ganz anders und heute eine nicht-ethnozentrische Perspektive auf die Philosophiegeschichte selbstverständlicher sei. Das stimmt insofern, als es eine Reihe neuerer Publikationen gibt, die sich mit diesem Thema beschäftigen, und vor allem sind Lexikaprojekte zu nennen, die eine stärker interkulturelle Perspektive einnehmen.13 Alleine aber die Tatsache, dass es die oben umrissene Geschichte des Fremden in der abendländischen Philosophie bislang nicht gibt, zeigt, dass das Problem Bestand hat.14 Vor allem Heinz Kimmerle hat sich intensiv mit den Fragen dieser Geschichtsschreibung und ihrer Probleme beschäftigt.15 Das Beispiel des US-amerikanischen Philosophen Richard Rorty ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich. Rorty kann wohl als einer der reflektiertesten Ethnozentristen der westlichen Philosophie der Gegenwart bezeichnet werden.16 Im Zusammenhang seiner eingehenden Aus12 „Islamische Philosophie“ in: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1982, S. 324–326, hier: S. 326. 13 Encyclopédie philosophique universelle, hg. v. André Jacob, Paris 1989; Routledge encyclopedia of philosophy, hg. v. Edward Craig, London 1998. 14 Vgl. Hinrich Fink-Eitel, Die Philosophie und die Wilden. Über die Bedeutung des Fremden für die europäische Geistesgeschichte, Hamburg 1994. 15 Heinz Kimmerle, „Hegel und Afrika. Das Glas zerspringt“, in: ders., Die Dimension des Interkulturellen, Amsterdam 1994, S. 85–113. 16 Vgl. die Diskussion zwischen Clifford Geertz und Richard Rorty: Clifford Geertz, „Anti-anti-relativism“, in: American Anthropologist 86:2 (1984), S. 263–278; Ri-
196
Konversionen
einandersetzung mit der gegenwärtigen Rolle der Philosophie und ihrer Traditionen argumentiert er für einen kritischen Ethnozentrismus, zu dem er gegenwärtig keine Alternative sieht. Das hat ihn nicht davon abgehalten, sich intensiv mit interkulturellen Diskursen zu beschäftigen. Einen Ausweg sieht er erst in der jüngsten Zeit in Literaturen, die, so Rorty, „von Autoren geschrieben wurden, in deren Leben die Spannung zwischen verschiedenen Kulturen eine Rolle gespielt hat“.17 Allerdings bezieht er sich an dieser Stelle nicht mehr auf eine philosophische Literatur. Er spricht von Autoren wie Salman Rushdie, der, so Rorty, „has read a lot of books from the two sides of the world“18. Die Arbeiten dieser Autoren haben eine besondere Bedeutung für die Überwindung der von ihm als unumgänglich angesehenen Position des Ethnozentrischen. Er sieht bei diesen Autoren die Möglichkeit „to help create a culture within which intellectuals from both sides may meet and communicate.“ Dass Rorty hier die Philosophie ausschließt, hat den biographischen Aspekt, dass er selbst den Weg von der Philosophie in die Literaturwissenschaften gegangen ist und seinen Lehrstuhl für Philosophie aufgegeben hat, um an der Stanford University vergleichende Literaturwissenschaften zu unterrichten. Will man diesem Weg nicht folgen, bleibt die Frage, worin das Besondere dieser von Rorty in ausgezeichneter Weise gelobten Autoren liegt und ob es in der Philosophie nicht ähnliche hybride Standpunkte geben kann, die auf vergleichbare Weise eine Verbindung der Welten ermöglichen. Diese Zwischen-Positionen wurden von Ousseina Alidou, die im Sommersemester 2002 in Lüneburg Gastdozentin war, brassage genannt. Aus der post-kolonialen Theorie lässt sich lernen, dass diese ZwischenPositionen Phänomene der Ränder, der Peripherie, sind.19 Es fehlt aber in der Philosophie des Westens die Einsicht, diesen Kulturbildungen nachzugehen, nach ihnen zu suchen, ihnen Bedeutung zu geben, sich mit ihnen zu befassen. Und dies sollte nicht im Sinne einer defizitären Philosophie geschehen, einer Philosophie in Entwicklung, die ihren westlichen Vorbildern folgt, sondern im Sinne der Anerkennung einer originären chard Rorty, „On ethnocentrism. A reply to Clifford Geertz“, in: Michigan Quarterly Review 25 (1986), S. 525–534. 17 Richard Rorty, Wahrheit und Fortschritt, übers. von Joachim Schulte, Frankfurt a. M. 2000, S. 289. 18 Dieses und das folgende Zitat: Anindita Niyogi Balslev, Cultural otherness. Correspondence with Richard Rorty, Shimla 1991, S. 52; siehe zur Bedeutung des Interkulturellen in der politischen Philosophie Rortys: Dirk Auer, Politisierte Demokratie. Richard Rortys politischer Antiessentialismus, Opladen (erscheint 2004), Kapitel III. 19 Homi Bhabha, The location of culture, London 1994, S. 36–39.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
197
Vermittlungsleistung, die für die Philosophie insgesamt von Bedeutung wäre, um, im Sinne Rortys, eine „Kultur“ zu schaffen, in der Intellektuelle beider Seiten sich treffen und miteinander kommunizieren können.20 Vermutlich besteht also der entscheidende Unterschied zwischen einer interkulturellen Literatur und einer interkulturellen Philosophie darin, dass sich Autoren wie Rushdie durchsetzen konnten, während ähnliche Positionen in der Philosophie keine vergleichbare Bedeutung erlangt haben. In der fortbestehenden eurozentrischen Ausrichtung einer Philosophie, die gefangen ist in ihrem Geschichtsverständnis, kann die innovative Bedeutung dieser philosophischen Positionen nicht gesehen werden.21 2. Orte der Kultur Es entsteht in der interkulturellen Philosophie der Eindruck, Afrika, Asien, Japan usw. seien Referenten für „Kultur“, zwischen denen Dialoge stattfinden könnten. Diese Möglichkeit sehe ich aus unterschiedlichen Gründen nicht. Zum einen finden interkulturelle Dialoge nicht zwischen „Kulturen“ statt, insbesondere nicht zwischen Afrika, Asien usw. Diese Unterscheidung ist auch deshalb von Bedeutung, weil die Frage der Legitimation eines „Sprechers“ einer Kultur als unlösbar angesehen werden kann. Sie finden allenfalls zwischen Individuen, eventuell zwischen Gruppen oder philosophischen Schulen statt. Interkulturelle Dialoge sind Diskurse, die innerhalb von Regionen stattfinden. Von Interesse ist es etwa, wie sich in Afrika zwischen unterschiedlichen Kulturen Diskurse entwickeln, welche Schwierigkeiten dabei entstehen und wie diese gelöst werden.22 Die Akteure dieser Diskurse sind Autoren, die eine Auseinandersetzung mit den kolonialen, akademischen, lokalen und globalen Einflüssen führen, und die in ihrer Vermittlungs- und Übersetzungsarbeit auf besondere Weise mit den spezifischen epistemischen und kulturellen Strukturen einer post-kolonialen Welt, in der wir leben, umgehen. Es ist erstaunlich, dass sich vor allem die Wissenschaftsphilosophie im Westen für die Ergebnisse der Anthropologie interessiert und die Verunsicherung registriert hat, die durch das neue Wissen entstanden ist. Es wurden Fragen des Übergangs zwischen Epistemologien, der Übertragung, der Übersetzung, der Anpassung und der Verständigung aufgegrif20 Anindita Niyogi Balslev, Cultural otherness, a.a.O. 21 Aufschlussreich ist Jürgen Habermas, „Zur Legitimation durch Menschenrechte“, in: ders., Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, S. 170–192. 22 Ausführlich habe ich dies behandelt in: Ulrich Lölke, Kritische Traditionen. Afrika. Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt a. M. 2001.
198
Konversionen
fen, die auch aus der Entwicklung der Wissenschaften in Europa und ihrer weltweiten Verbreitung bekannt sind.23 Die Wissenschaftsphilosophie, die sich mit der Wissenschaftsentwicklung im Westen befasst, kennt die Frage der Inkommensurabilität, also das Problem der (Nicht-)Vergleichbarkeit epistemischer Kulturen innerhalb der Wissenschaften. Die Bedeutung des Fremden eines wissenschaftlichen Wissens ist eng verbunden mit den Prozessen der Selbstauslegung und des Selbstverständnisses der Wissenschaften im Westen. In diesen Selbstauslegungsprozessen spielen die Geschichten des Fremden eine Rolle. Vor allem die „Rationalitätsdebatte“24 weist eine eigentümliche Verbindung nach Afrika auf, wenn sie sich auf Forschungen des britischen Anthropologen Evans-Pritchard stützt, die dieser in den 1920er Jahren bei den Azande in Ostafrika unternommen hat.25 Es ist eine Debatte, die Verbindungen herstellt zwischen den Azande, der britischen Anthropologie, der Philosophie und den Sozialwissenschaften in den USA und Großbritannien. Der britische Philosoph Peter Winch interpretiert das Buch von Evans-Pritchard über Magie, Hexerei und das Gift-Orakel der Azande als Beleg für die Eigenständigkeit differierender Wissenssysteme, vor allem jener, die als „primitiv“ bezeichnet worden sind. Das System der Azande, so Winch, könne in sich ebenso kohärent sein wie das der westlichen Wissenschaften. Die Schwierigkeit bestehe darin, dass unser Verständnis dieses anderen Systems unvollständig bleibt und unsere Übersetzungen zudem fehlerhaft sein können: „Since it is we who want to understand the Zande category, it appears the onus is on us to extend our understanding so as to make room for the Zande category, rather than to insist on seeing it in terms of our own ready-made distinction between science and non-science.“26
Die Fragen, die hier anklingen, sind: Wie finden Verständigungen statt? Welche unterschiedlichen Kulturen haben sich herausgebildet, um Wis-
23 George Basalla, „The spread of Western science“ (1967), in: W. K. Storey (Hg.), Scientific aspects of European expansion, Aldershot 1996, S. 1–21; Kwame Gyekye, „Technology and culture in a developing country“, in: Philosophy; Supplement, 38 (1995), S. 121–141. 24 Martin Hollis und Steven Lukes (Hg.), Rationality and relativism, Cambridge/MA 1982; Bryan R. Wilson (Hg.), Rationality, Oxford 1974; Hans G. Kippenberg und Brigitte Luchesi (Hg.), Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a. M. 1978. 25 Genau genommen zwischen 1926 und 1930; E. E. Evans-Pritchard, Witchcraft, oracles and magic among the Azande (1937), Oxford 1976. 26 Peter Winch, „Understanding a primitive society“, in: B. R. Wilson (Hg.), Rationality, a.a.O., S. 78–111, hier: S. 102.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
199
sen außerhalb (und innerhalb) der Wissenschaften zu legitimieren und zu überliefern? Wie sind Übersetzungen möglich? Worin bestehen die Übersetzungsleistungen? Von wem werden sie erbracht? Es zeigt sich, dass die Wissenschaften hier an der von ihnen selbst errichteten Demarkation zweifeln. Vielleicht sind es nicht die akademischen Konzepte, die zu neuen Formen epistemischer Transformationen führen. Dies illustriert ein Beispiel aus Evans-Pritchards Buch über die Azande, in dem er die spontane Überwindung der Fremdheit beschreibt und deutlich macht, dass Übertragungen und Übersetzungen zwischen diesen als unterschiedlich markierten Systemen möglich sind und stattfinden, aber für den Ethnologen gleichermaßen problematisch bleiben: „I tried to adapt myself to their culture by living the live of my hosts [der Azande, U.L.], as far as convenient, and by sharing their hopes and joys, apathy and sorrows. In many respects my life was like theirs: I suffered their illness; exploited the same food supplies; and adopted as far as possible their own patterns of behavior with resultant enmities as well as friendships. In no department of their life was I more successful in ‚thinking black‘, or as it should more correctly be said ‚feeling black‘, than in the sphere of witchcraft. I, too, used to react to misfortunes in the idiom of witchcraft, and it was often an effort to check this lapse into unreason.“27
Dieser Übergang des Anthropologen in die von ihm beobachtete fremde Kultur ist Ausdruck einer zentralen Problematik der Ethnologie. Die Geschichte hat noch eine weitere Wendung, wenn auch mit einer anekdotischen Ausrichtung. Paul Feyerabend berichtet in einem Brief 1969 an Hans Peter Duerr, er habe das rubbing-board Orakel der Azande an der University of California in Berkeley zusammen mit seinen Studierenden nachgebaut und angewendet, um Fragen der Seminargestaltung zu beantworten. In einem Brief an Duerr vom 15. Juli 1969 schreibt Feyerabend: „Grüße unbekannterweise auch an Herrn Evans-Pritchard, den alle meine Studenten kennen, denn sein Buch über die Azande ist einer der Grundtexte in meiner Einführung in die Philosophie. Wir haben uns auch eine kleine Imitation des rubbing-board oracles gebaut, und wenn ich faul bin, befrage ich in aller Öffentlichkeit, vor meiner Klasse, das Orakel, ob ich eine Vorlesung halten soll, und wenn das Orakel nein sagt, so gehen wir alle nach Hause.“28
27 E. E. Evans-Pritchard, Witchcraft, oracles and magic, a.a.O., S. 45 (Hervorhebung U.L.). 28 Hans Peter Duerr (Hg.), Paul Feyerabend Briefe an einen Freund, Frankfurt a. M.
200
Konversionen
Die Beispiele für diskursive Verbindungen zwischen so unterschiedlichen Wissensfeldern wie der Wissenschaftsphilosophie und der Anthropologie, der Epistemologie und der Magie, zeigen, dass es auch für die Philosophie insgesamt schwierig ist, von einer monokulturellen Bindung auszugehen. Für Regionen, die im Zuge des europäischen Imperialismus und Kolonialismus mit europäischen Wissensformen konfrontiert wurden, welche in Konflikt zu eigenen, endogenen Wissenstraditionen standen, gilt diese Feststellung umso mehr. Die kulturelle Bindung philosophischer Positionen lässt sich nicht mit Afrika, Europa, Asien usw. markieren. Anhand eines Beispiels aus Kenia soll dieser Aspekt verdeutlicht werden. 3. Philosophie und die Überwindung kolonialer Diskursformationen Der inner-afrikanische interkulturelle Dialog, auf den ich hier hinweisen möchte, hat in den 1970er Jahren in Kenia begonnen und ich würde behaupten, dass er eine in ähnlicher Weise hybride Zwischen-Position hervorgebracht hat, wie sie von Rorty oben für Rushdie formuliert wurde. Im Juni 1972, vor etwas mehr als 30 Jahren also, hielt der kenianische Philosoph Henry Odera Oruka im Goethe-Institut in Nairobi einen Vortrag, den er mit den Worten begann: „The European myth that Africa was a ‚dark continent‘ implies, among other things, that Africa is inferior to Europe. Consequently, many of those who, of late, have written on various African questions have tried to show that Africa was, or is, as great as Europe. One group of these writers are Europeans and Americans who are ‚sympathetic‘ and patronizing to the black man. Their position is that there is something morally and aesthetically interesting in the African culture that the white man should take seriously. The other group of these writers are indigenous Africans. Their position consists in trying to find something in the African culture that the white world will recognize as great wisdom, religion, philosophy, art, etc. etc. Their tendency is to try and make what they write as African as possible, while at the same time maintaining and groping for the white world to judge that what they write is indeed African and that it is what the writers have said it is.“29
1995, S. 11. 29 Henry Odera Oruka, „Mythologies as African philosophy“, in: East African Journal, 9:10 (1972), S. 5–11; Wiederabdruck in: Anke Graness und Kai Kresse (Hg.), Sagacious reasoning. Henry Odera Oruka in memoriam, Frankfurt a. M. 1997, S. 23–34, hier: S. 23.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
201
Der Text ist im selben Jahr im East African Journal, einem kenianischen Kulturmagazin unter dem Titel Mythologies as African philosophy erschienen. Der Autor diskutiert die Bedingungen intellektueller Diskurse in Kenia, das 1972 gerade zehn Jahre politisch unabhängig ist. Er zeigt, in welchem Sinne die mit der kolonialen Institution Universität verbundenen Diskurse weiterhin von kolonialen Strukturen geprägt sind. Und er setzt sich kritisch von Autoren ab, die in dieser Zeit des Übergangs von einem kolonialen in ein post-koloniales Afrika die Diskurse afrikanischer Philosophie geprägt haben. Henry Odera Oruka hat an der Universität Uppsala in Schweden promoviert und danach an der Universität Nairobi Philosophie gelehrt. Damit gehört er zu jenen Intellektuellen, die im Anschluss an ihr Studium in Europa und Amerika als erste Generation nach der Unabhängigkeit nach Afrika zurückgekehrt sind, um mit ihren philosophischen Mitteln einen Prozess der Dekolonisation im Übergang von der Kolonialherrschaft zu politischer Unabhängigkeit zu begleiten.30 Mit seinem programmatischen Artikel wehrt sich Odera Oruka gegen einen Diskurs, der in den 1950er und 1960er Jahren die Philosophie in Afrika maßgeblich mitbestimmt hat.31 Dieser Diskurs entdeckt ein originäres, post-koloniales Afrika genau dort, wo Europa den Kontinent im Zuge seiner kolonialen Herrschaft erfunden hat.32 In dem obigen Zitat sagt Odera Oruka über Autoren afrikanischer Herkunft, dass sie in der afrikanischen Kultur nach solchen Aspekten suchen würden, die von der weißen Welt als große Weisheit, Religion, Philosophie, Kunst usw. anerkannt würden. Was sie schrieben, versuchten sie so afrikanisch wie möglich zu machen, und verlangten von der weißen Welt gleichzeitig, darüber zu urteilen, dass das, was sie schrieben, tatsächlich afrikanisch sei. Damit formuliert Odera Oruka eine zentrale Frage der post-kolonialen Philosophie der 1970er Jahre. Paulin Hountondji, der sich gleichfalls mit den Positionen afrikanischer philosophischer Literatur befasst, spricht von einer „entfremdeten Literatur“, die er folgendermaßen charakterisiert: „Die Suche nach Originalität ist immer verbunden mit dem Wunsch wahrgenommen zu werden. Ihren Sinn gewinnt sie in Bezug auf ei30 Zu dieser Generation gehören in der Philosophie außerdem: Kwame Gyekye in Ghana, Sophie B. Oluwole in Nigeria, Paulin K. Hountondji in Bénin, Fabien Eboussi Boulaga und Marcien Towa in Kamerun. 31 Vgl. die noch immer gültige Kritik dieser ethnophilosophischen Ansätze in Fabien Eboussi Boulaga, „Le Bantou problématique“, in: Présence Africaine, 66:2 (1968), S. 3–40. 32 Valentin Y. Mudimbe, The invention of Africa. Gnosis, philosophy, and the order of knowledge, Bloomington 1988.
202
Konversionen
nen Anderen, von dem man sich um jeden Preis unterscheiden möchte: Ein zweideutiges Verhältnis, in dem man seine Differenz bejaht, aber in der Bejahung von einer Unruhe getrieben ist, vom Anderen wirklich erkannt zu werden.“33
Beide formulieren ein an Frantz Fanon geschärftes Bewusstsein der Abhängigkeit der Kolonisierten von den Kolonisatoren und deren Wahrnehmungen, diskursiven Strukturen, Erzählungen, Wörtern und Epistemologien. Sie sehen sich dabei einem afrikanischen akademischen Diskurs gegenüber, der sich im europäischen Mythos Afrikas eingerichtet hat und nicht erkennt, wessen Geschichte eines genuinen Afrikas sie erzählen. „Afrika“ bleibt dabei gefangen, so scheint es, in den dichotomen Strukturen einer Epistemologie, deren eine Seite der Mythos eines vergangenen, primitiven, zeit- und geschichtslosen, aber authentischen Afrikas ist, und deren andere Seite die eines modernen, städtischen und industriellen Afrikas ist, das seinen westlichen Vorbildern folgt. Es handelt sich hier um einen gegenseitigen Ausschluss. Es gibt keine Übergänge, keine Pässe über die Gebirge dieser Ordnung, keine „border posts“, lediglich „front lines“, um ein Bild Homi Bhabhas aufzugreifen34. Das eine ist die Gegenwart35 mit ihren universalen Geltungsansprüchen, das andere eine Vergangenheit mit „befristeter Aufenthaltsgenehmigung“. Befristet ist diese, weil ihr zwar eine Anwesenheit, aber keine Aktualität zugestanden wird. Dieses Andere repräsentiert eine vergangene Ordnung, die nur im Sinne einer Ordnung des Übergangs anerkannt wird. Sie ist eine wahre Alternative, von der die andere Seite ausgeschlossen ist und die keine „Gleichzeitigkeit“ ermöglicht.36 Odera Oruka beschreibt das post-koloniale Dilemma, nämlich die Bindung der Kolonisierten in ihren Befreiungsprozessen an den Diskurs der 33 Paulin J. Hountondji, Sur la ‚philosophie africaine‘. Critique de l‘ethnophilosophie, Yaoundé 1980, S. 34 (Übersetzung U. L.). 34 Homi K. Bhabha (Hg.), Front lines/border posts. Special Issue: Critiqual Inquiry, 23:3 (1997). 35 Kwame Gyekye interpretiert den Ausdruck Moderne als Hinweis auf einen stärkeren Gegenwartsbezug, der auch schon in anderen Kulturen zu anderen Epochen vorhanden war (lat. modo = eben, jüngst); vgl. ders., Tradition and modernity. Philosophical reflections on the African experience, New York 1997, S. 267. 36 Ulrich Beck bezeichnet dagegen Kosmopolitismus als „eine Logik von nichtausschließlichen Gegensätzen, gleichzeitig ‚Patrioten‘ in zwei Welten sein, gleichwertig und verschieden zur gleichen Zeit“; in: ders., „The cosmopolitan perspective: The sociology of the second age of modernity“, in: British Journal of Sociology, 51:1 (2000), S. 79–105; zitiert nach: D. Levy und N. Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt a. M.. 2001, S. 16; außerdem Homi K. Bhabha, The location of culture, a.a.O.; sowie Johannes Fabian, Time and the other. How anthropology makes its object, New York 1983.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
203
Kolonisatoren, mit großer Deutlichkeit einige Jahre vor Edward Saids Analyse der Strukturen kolonialer Diskurse in Orientalism, der damit die Debatte über den Post-Kolonialismus ausgelöst hat.37 Odera Orukas Mythologies as African Philosophy ist eine Kritik an jenen, die Afrika auf der Seite des Mythos sehen und die dort Wege aus der kolonialen Falle suchen. Es ist dies der Weg der Anerkennung durch den Anderen, paradoxerweise eben durch jene, die Afrikas kulturelle Vielfalt kolonisiert und zerstört haben. Afrika habe der Welt nicht seine Größe zu beweisen, so Odera Oruka, weil diese nicht zur Disposition stehe. „Those who degraded African culture did not do so because they saw nothing great and glorious in it. They did so simply because it was a culture of the colonized; and degrading it was a way of promoting colonial interests.“38
Und so liege die Aufgabe einer afrikanischen Literatur (im weiteren Sinne, Philosophie und Kunst eingeschlossen) nicht darin, eine afrikanische Vergangenheit zu preisen, sondern eine Gegenwart zu gestalten. „Their main concern should be to use their scientific and philosophical knowledge to better things. [...] If the past and present can offer him wisdom to attain that future, well and good. But if they cannot, then to hell with the wisdom of the past and present. Then the African must try to attain that future with his own boots. He must be his ‚own foundation‘ (Fanon).“39
In diesem Zitat kommt die Ambivalenz zum Ausdruck, die die Spannung der beiden Zeitalter ausmacht, zwischen denen Afrika geortet wird. Afrika liegt zwischen einer Vergangenheit und einer noch zu erfindenden Zukunft. Odera Oruka führt im Folgenden eine scharfe Trennung ein zwischen Mythos und Philosophie. Er sieht die philosophischen Arbeiten seiner Zeit, also der Ethnophilosophie und der Négritude, auf Seiten des Mythos und grenzt diesen ab von einer Philosophie, die er als „rational and critical reflection on man, society and nature“ definiert. Die Philosophie, so Odera Oruka, „inquires into the exact meaning and nature of the concepts it deals with. Its greatest weapon is reason.“40 Vielleicht sind das keine ungewöhnlichen Worte für einen Philosophen, der in Europa ausgebildet wurde. Kwasi Wiredu in Ghana und Peter
37 Edward W. Said, Orientalism. Western conceptions of the Orient (1978), London 1995. 38 Henry Odera Oruka, „Mythologies as African philosophy“, a.a.O., S. 33. 39 Ebd., S. 24. 40 Beide Zitate nach ebd., S. 28.
204
Konversionen
Bodunrin in Nigeria vertreten ähnliche Positionen. Und auch Paulin Hountondji, der in Paris bei Althusser studiert hat, schreibt: „Die philosophische Praxis, diese besondere Form der theoretischen Praxis, die man Philosophie nennt, ist untrennbar von dieser anderen Form der theoretischen Praxis, die man Wissenschaft nennt.“41
Dekolonisation wird als ein Prozess der Aufklärung verstanden, als eine vernünftige und kritische Reflexion auf die politischen, sozialen, ethischen und kulturellen Bedingungen afrikanischer Gesellschaften im Übergang vom kolonialen zu einem post-kolonialen Zeitalter. Paradoxerweise gelten dabei europäische Modelle und Traditionen als Vorbilder einer rationalen und kritischen Reflexion über den Menschen, Gesellschaft und Natur. „Afrika“ scheint unerreichbar zu bleiben, verdeckt hinter dem, was Oruka als „Mythologien“ bezeichnet und sich nach seiner Auffassung als Falle eines vergangenheitsbezogenen Denkens erweist. Valentin Mudimbe, der sich mit diesen Fragen in The Invention of Africa befaßt, stellt eine – vielleicht rhetorische – Frage, die das epistemologische Dilemma zum Ausdruck bringt: „Does this mean that African Weltanschauungen and African traditional systems of thought are unthinkable and cannot be made explicit within the framework of their own rationality?“42
Damit bleibt Mudimbe allerdings bei einer dichotomen Struktur, innerhalb derer die „Denkbarkeit“ „afrikanischer traditionaler Denksysteme“ auf einen eigenen (endogenen) Rationalitätsrahmen beschränkt bleibt. Ein solcher Ort, im Sinne eines eigenen Rationalitätsrahmens, von dem aus afrikanische Wissenssysteme alleine gedacht werden können, konstituiert ein Umfeld, das diese Wissenssysteme nicht denken kann. Afrikanische und nicht-afrikanische Epistemologien bleiben damit inkommensurabel. Von daher werden „afrikanische traditionale Denksysteme“ zu jenen geschlossenen Systemen gemacht, von denen der britische Anthropologe Robin Horton spricht, wenn er die westlichen Wissenschaften mit „afrikanisch-traditionellem Denken“ vergleicht und feststellt: „It is that in traditional cultures there is no developed awareness of alternatives to the established body of theoretical tenets; whereas in scientifically oriented cultures, such an awareness is highly developed. It is this difference we refer to when we say that traditional cultures are ‚closed‘ and scientifically oriented cultures ‚open‘.“43 41 P. Hountondji, Sur la philosophie africaine, a.a.O., S. 124. 42 V. Y. Mudimbe, The invention of Africa, a.a.O., S. x. 43 Robin Horton, „African traditional thought and Western science“, in: B. R. Wilson
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
205
Robin Horton, der seit den 1950er Jahren in Nigeria lebt und dort an der Universität Port-Harcourt Philosophie und Anthropologie lehrt, orientiert sich an Karl Poppers Modell der „open society“ und verbindet diese mit seinen anthropologischen Analysen afrikanischer (nigerianischer) Gesellschaften. Afrikanische epistemische Systeme, die er als traditionell bezeichnet, sind demnach „geschlossen“, d.h. ohne entwickeltes Bewusstsein für Alternativen zum etablierten Bereich theoretischer Annahmen. Damit wird gleichermaßen behauptet, dass afrikanische Gesellschaften sich in einer Situation sozialer, politischer und kultureller Umbrüche nicht auf afrikanische epistemische Strukturen stützen können, weil diese nicht die Möglichkeit der Transformation erlauben. Kwasi Wiredu kritisiert an Horton die geographische Zuordnung der von ihm verglichenen Epistemologien. Volksdenken (traditional thought) und Wissenschaft seien auf diese Weise nicht vergleichbar. Vergleichbar seien nur Volksdenken mit Volksdenken und wissenschaftliches Wissen mit wissenschaftlichem Wissen. Beides gebe es sowohl in Europa wie in Afrika, so Wiredu. Die geographische Ordnung, nach der Europa der Ort der Wissenschaften und der Rationalität sei und Afrika der Ort des Volksglaubens und der Magie, reproduziere stereotype Zuordnungen. Damit öffnet Wiredu die Debatte für epistemische Differenzen innerhalb afrikanischer Kulturen, die bis dahin durch Modelle von „traditional cultures“, „African traditional systems of thought“ und afrikanischen Weltanschauungen besetzt waren. Wiredu kritisiert die Annahme einer epistemischen Grenze zwischen Afrika und Europa. Es handelt sich hier aber nicht um eine Kritik an der Demarkation selbst, nicht um eine Kritik an einer Demarkation zwischen wissenschaftlichem und nichtwissenschaftlichem Denken. Im Gegenteil: Wiredu setzt auf den aufklärerischen Impuls der von den westlichen Wissenschaften formalisierten Rationalität und Kritik.44 Auch wenn seine Kritik die Aufmerksamkeit für epistemische Differenzen in Afrika hervorhebt, kann er doch keine Hinweise geben, wo eine Reformulierung der Annahme eines homogenisierten epistemischen Feldes „African traditional thought“ ansetzen könne. Im Grunde reproduziert Wiredu die Grenze zwischen Afrika und Europa, auch wenn er sie im nachkolonialen Afrika auf den Kontinent selbst verlegt. Damit aber bleibt das Dilemma virulent, das Mudimbe in Worte fasst:
(Hg.), Rationality, a.a.O., S. 131–171, hier: S. 153. 44 Kwasi Wiredu, „How not to compare African thought with Western thought“, in: Richard A. Wright (Hg.), African philosophy: An introduction, 2. Aufl., Washington, D. C. 1979, S. 133–147.
206
Konversionen
„It reveals the strong tension between a modernity that often is an illusion of development, and a tradition that sometimes reflects a poor image of a mythical past.“45
4. Henry Odera Orukas pragmatisches Argument Henry Odera Orukas Arbeiten enthalten eine Wendung, die ausgesprochen interessant ist. Zwar kritisiert er die Lokalisierung Afrikas im europäischen Mythos von „Afrika“ und beansprucht für eine philosophische, künstlerische und wissenschaftliche Dekolonisation eine „rationale und kritische Reflexion“. Aber er schließt daraus nicht, dass afrikanische Wissenstraditionen in einem Diskurs der „Moderne“ nicht zu repräsentieren seien und dass ihre Aktualität damit undarstellbar bleiben müsse. Er beginnt 1974 einen Dialog mit Vertretern afrikanischer Wissenstraditionen, das kenianische Sage Philosophy Projekt, in dem über zwanzig Jahre zusammen mit Studierenden der Universität Nairobi über einhundert kenianische Weisheitsträger und Weisheitsträgerinnen interviewt werden.46 Er erkennt in dieser Phase der Debatte – in den frühen 1970er Jahren – die Bedeutung afrikanischer intellektueller Traditionen an und betont vor allem die Stellung einzelner Individuen, die sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit jenen endogenen Wissenssystemen befinden. Damit beginnt er eine Brücke zu bauen zwischen den akademischen Traditionen und ihrer kolonialen Vergangenheit und den kenianischen endogenen Wissensformationen. Er erkennt an, dass sich in Kenia eine akademische Wissenschaft nicht jenseits intellektueller Traditionen und Erfahrungen Afrikas entwickeln könne. Er erkennt auch, dass die Dekolonisation der dichotomen Strukturen kolonialer Epistemologien in einer Zusammenführung des einen und des anderen bestehen muss. Das Ziel ist, die dichotomische Ordnung des Entweder/Oder zu unterbrechen und eine Position zwischen den Zeitaltern der „Moderne“ und der „Tradition“ einzunehmen. Überraschend ist dieser Schritt auch deshalb, weil er in seinem Vortrag von 1972 betont, dass die Bedeutung afrikanischer Weisheit von ihrem Nutzen für das Erreichen einer besseren Zukunft abhänge. Das Ziel einer glorreichen afrikanischen Zukunft solle keinesfalls mit der Entdeckung einer glorreichen Vergangenheit substituiert werden. Damit wird ein zentraler Unterschied gegenüber jenen Ansätzen markiert, welche eine vergangene afrikanische kulturelle Größe hervorheben. Die interes45 V. Y. Mudimbe, The invention of Africa, a.a.O., S. 5. 46 Zur Einführung siehe Henry Odera Oruka (Hg.), Sage philosophy. Indigenous thinkers and modern debate on African philosophy, Nairobi 1991.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
207
sante Wendung in Odera Orukas Ansatz besteht darin, dass er das epistemologische Dilemma durch ein pragmatisches Argument aufzulösen versucht. Dieses Argument bezieht einen Umstand ein, der für akademische Diskurse in Afrika zentral ist: „One great problem in Africa today is that the African man is hungry, uncomfortable and undignified – he is unfree. In this situation the main concern of the African writers (indeed of all African artists) should not be simply to praise the past. Their main concern should be to use their scientific and philosophical knowledge to better things, i.e. to define and help bring about a society of plenty, of social harmony and of dignity.“47
Das pragmatische Argument kann in der zwischen Kulturphilosophie, Ethnographie und Epistemologie angesiedelten Debatte als wichtiges Regulativ gelten. Es kann die Frage nach der Bedeutung endogener Wissenstraditionen anleiten, der Einbeziehung vergangener, vor allem aber noch lebendiger intellektueller Traditionen, die bis dahin in einem abgelegenen epistemischen Raum von der Frage einer möglichen Aktualität dieses Wissens „entfernt“ gehalten worden sind. Der anthropologische Diskurs über Afrika war bislang nicht darauf angelegt, seine Ergebnisse in Verbindung zu den Lebensbedingungen moderner (afrikanischer) Gesellschaften darzustellen. Im Gegenteil war seine Aufgabe das Fremd-Machen (othering) des Anderen des wissenschaftlichen Wissens. Das pragmatische Argument verändert diese Sicht. Und es muss angemerkt werden, dass die Anthropologie heute genau diese Wendung vollzogen hat, nämlich sich als eine Wissenschaft zu sehen, die in den von ihr untersuchten epistemischen Ordnungen eine Aktualität erkennt.48 Ein pragmatisches Argument unterbricht auch das, was Johannes Fabian „allochrone Diskurse“ genannt hat. Allochron sind Diskurse wie die der Anthropologie, die eine Ungleichzeitigkeit herstellen zwischen ihrer Zeit und der Zeit ihres Untersuchungsgegenstandes. Aus Sicht der Anthropologie gehören die von ihr untersuchten und repräsentierten Welten einer anderen Zeit an, obwohl sie gleichzeitig existieren. Lebendige Lebensformen werden von ihr als vergangene Lebensformen interpretiert.
47 Henry Odera Oruka, „Mythologies as African philosophy“, a.a.O., S. 24. 48 Vgl. Mark Hobart (Hg.), An anthropological critique of development: The growth of ignorance, London 1993; Henrietta. L. Moore (Hg.), The future of anthropological knowledge, London 1996; Anja Nygren, „Local knowledge in the environmentdevelopment discourse: From dichotomies to situated knowledges“, in: Critique of Anthropology, 19:3 (1999), S. 267–288.
208
Konversionen
„Anthropology emerged and established itself as an allochronic discourse; it is a science of other men in another Time. It is a discourse whose referent has been removed from the present of the speaking/writing subject. [...] Anthropology’s Other is, ultimately, other people who are our contemporaries.“49
Mit der Unterbrechung dieser allochronen Diskurse besteht aber auch nicht mehr der Anspruch, die Bezirke des Endogenen in „ihren eigenen Rationalitätsrahmen explizit machen“ zu wollen, wie von Mudimbe gefordert. Das pragmatische Argument zieht das endogene Wissen in einen hermeneutischen Horizont einer Gegenwart, in der sich die Frage der Übersetzbarkeit stellt und nicht die seiner epistemischen Eigenart. In welchem Verhältnis stehen wissenschaftliches und endogenes Wissen zueinander? In welchem Sinne lässt sich davon sprechen, dass differente epistemische Systeme (in)kommensurabel sind, wo bestehen Verbindungen und Überlappungen? 5. Schluss Mein Ziel war es, Odera Orukas Sage Philosophy Projekt als einen interkulturellen Dialog zwischen einer akademischen und einer nichtakademischen Tradition vorzustellen. Dabei kommt das Interesse für diese Auseinandersetzung aus einer spezifischen post-kolonialen Situation. Die Bedeutung des Projekts liegt vor allem darin, dass in der Verbindung akademischer und nicht-akademischer Wissensfelder die nichtakademischen Wissenstraditionen sichtbar werden können. Es ist wichtig zu sehen, dass Odera Oruka in seinen Gesprächen über ein rein ethnographisches Interesse hinausgeht. Die Gespräche beeinflussen seine eigenen Positionen in anderen Bereichen: Diese Einflüsse werden in seinen Texten zur praktischen Philosophie, zur Ethik und zur Politik sichtbar.50 Das kenianische Projekt hat allerdings die Frage der Übersetzung nicht gelöst. Odera Oruka hat Interviews mit den von ihm identifizierten Sages angefertigt, die nicht weiter diskutiert werden. Gleichzeitig hat er eine Grenze eingezogen zwischen folk sages und philosophical sages, also zwischen solchen Wissensträgern, die ihr Wissen nur weitergeben, und solchen, die eine kritische Distanz zum kulturellen Bestand herstellen. Das Ziel dieser Grenze war es zu zeigen, dass die „afrikanischen traditionellen Denksysteme“ nicht geschlossen sind, wie Horton behauptet hat. Gleichzeitig hat Odera Oruka damit auf Kriterien zurückgegriffen, die sich als nicht halt49 Johannes Fabian, Time and the Other, a.a.O., S. 143 (Hervorhebung U. L.). 50 Vgl. dazu Gail M. Presby, „H. Odera Oruka on moral reasoning“, in: The Journal of Value Inquiry, 34 (2000), S. 517–528.
Lölke, Endogene Wissenstraditionen
209
bar erweisen. So bleibt die Frage offen, wie der Dialog zwischen akademischen und nicht-akademischen Traditionen in Afrika geführt und fortgeführt werden kann. Henry Odera Oruka hat mit seiner Arbeit das Modell für eine interkulturelle dialogische Philosophie geliefert, an dem auch deren Schwierigkeiten in einem interkulturellen und post-kolonialen Raum ablesbar sind. Ausgehend von seinem pragmatischen Argument wird die Bedeutung dieses Dialoges sichtbar, aber auch seine Grenzen.
This page intentionally left blank
Die Griechen, die Barbaren und Wir: Kontinuität und griechischer Ursprung in westlichen Identitätsdiskursen Helmut Heit Die Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen antiken Griechen und Barbaren ist ein Selbstvergewisserungsdiskurs, der sich vom moderaten Ethnozentrismus zu eurozentrischen Universalitätsansprüchen entwickelt hat. Dabei wird ein identitätsstiftender Zusammenhang mit der Antike durch zwei Behauptungen hergestellt: 1. In Griechenland ereignete sich eine kulturelle Transformation von universaler Bedeutung. 2. Es gibt eine kulturelle Kontinuität der spezifisch westlichen Zivilisation von diesem antiken Anfang an. Beide Behauptungen werden von Eurozentrismuskritikern wie Pichot, Jaspers und Bernal problematisiert. Eine Erörterung dieser Kritiken ergibt jedoch, dass sie sich ebenfalls mit dem Umweg über die Griechen an einem Diskurs um ein westliches Selbstverständnis beteiligen. In philosophical historical debates on the relationship between Greeks and Barbarians, we find a hidden discourse on Western identity. This modern discourse, which has moved from a moderate ancient Greek ethnocentrism to modern Eurocentrism, is connected with the Antiquity via two claims: 1. It was in ancient Greece, where a cultural transformation of universal or at least outstanding importance took place. 2. The West inherits this Greek achievement due to a continuous tradition of these beginnings. Both claims have been challenged by critics of Eurocentrism such as Pichot, Jaspers and Bernal. A discussion of these critics shows, they too are engaged in the discourse about the Western identity as well as their opponents.
Einleitung Wenn man heute ein Lehrbuch zur Geschichte unserer Kultur, insbesondere zu ihrer philosophie- und wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung zur Hand nimmt, stößt man zumeist auf die Behauptung einer wesentlichen Transformation des Denkens in der griechischen Antike. Diese Transformation sei zugleich grundlegend für die Entwicklung des seit Max Weber so genannten okzidentalen Sonderwegs gewesen. Was hat man nicht alles den Griechen als originäre Leistung angerechnet: Die Entstehung des Politischen durch die Entwicklung einer auf Freiheit und Transparenz gegründeten Demokratie ebenso wie die überzeitlichen Maßstäbe in den schönen Künsten, dem Theater, der Architektur, der
212
Konversionen
Plastik. Auch den Beginn selbstreflexiver Individualität, die unabhängig von göttlichen Einflussnahmen rational handelt, die erste Entwicklung einer umfassenden Schriftkultur und eines weitverzweigten marktwirtschaftlich-funktionalen Handelsnetzes hat man im antiken Griechenland verortet. Nicht zuletzt soll sich bei den Griechen die Geburt von Philosophie und Wissenschaft ereignet haben. All den genannten Phänomenen ist überdies gemeinsam, dass sie noch heute zumindest in der westlichen Welt in Ehren stehen. Man hat daher diesen Prozess seit Ernest Renan oftmals als „das griechische Wunder“ bezeichnet. Der Inhalt und die Bedeutung des „griechischen Wunders“ drückt sich im Verhältnis zwischen den Griechen, den Barbaren oder Orientalen und uns, d.h. der modernen westlichen Zivilisation aus. Die zu dieser Verhältnisbestimmung nach wie vor dominante Vorstellung findet sich in komprimierter Form in folgenden Sätzen Hans-Georg Gadamers: „Es ist kein Zweifel, dass es die Griechen waren, die durch ihr eigenes Denken eine weltgeschichtliche Entscheidung eingeleitet und den Weg der modernen Zivilisation durch die Schaffung der Wissenschaft entschieden haben.“1 Die Griechen hätten demnach eigenständig und allein kraft ihrer intellektuellen Fähigkeiten und Anstrengungen eine neue Form der Darstellung und Auffassung der Welt entwickelt, die Wissenschaft. Dadurch hätten sie eine Entscheidung von nicht nur regionaler oder kulturspezifischer, sondern von weltgeschichtlicher Bedeutung herbeigeführt, denn Wissenschaft und mit ihr die moderne Zivilisation sei ihrem Wesen nach kontextüberschreitend und universal. Die Barbaren, so die implizite These, hätten an dieser eigenen Denkleistung der Griechen weder entscheidenden Anteil gehabt, noch sei ihnen die Entwicklung vergleichbarer Phänomene gelungen. Gadamer stellt hier vor allem zwei Thesen auf, die ich als Ursprungsbehauptung und als Kontinuitätsbehauptung bezeichne: Die erste Behauptung besteht darin, dass es am Anfang nur die Griechen gewesen seien, die weltgeschichtlich ein- und erstmalig und weitgehend autonom eine neue Denkform von universaler Bedeutung entwickelt hätten. Die zweite Behauptung besagt, dass sich von diesem griechischen Anfang eine kontinuierliche Fortschrittsentwicklung durch die spezifische und eigenständige Geschichte des Abendlandes zieht. Dass an diesen Behauptungen, wie Gadamer meint, kein Zweifel oder auch nur kein begründeter Zweifel bestünde, ist freilich nicht zutreffend. Vor allem aus interkultureller Perspektive wurde die Position, wie sie hier beispielhaft von Gadamer vertreten wird, als falsch und eurozentrisch zurückgewiesen. 1
Hans-Georg Gadamer, Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999, S. 151.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
213
Das Thema der folgenden Überlegungen ist dementsprechend die Auseinandersetzung um die Ursprungs- und Kontinuitätsbehauptung hinsichtlich des „griechischen Wunders“, insbesondere mit Blick auf die drei im Titel angesprochenen soziokulturellen Konstruktionen. Hierbei soll das Augenmerk darauf gelenkt werden, dass weder klar ist, was die Griechen noch was die Barbaren sind, und dass in beiden Fällen der bestimmte Artikel in die Irre führt. Vollends offen ist schließlich die Frage, wer „Wir“ sind, wobei eben dies gerade die Frage ist, um die es bei dem Streit um das „griechische Wunder“ unterschwellig geht. Wenn ich auf den folgenden Seiten zunächst die antike Unterscheidung zwischen Griechen und Barbaren vorstelle, so geschieht das vor allem, um die Differenz zwischen dem antiken Ethnozentrismus und dem modernen Eurozentrismus (1.) sichtbar zu machen. Hinsichtlich dieses Eurozentrismus werde ich drei verschiedene Vorgehensweisen diskutieren, wie sie von Pichot (2.1), Jaspers (2.2) und Bernal (2.3) vorgeschlagen wurden und die allesamt in dem Spannungsfeld zwischen Griechen, Barbaren und uns angesiedelt sind. Es handelt sich bei diesen Arbeiten nur vordergründig um Deutungen der kulturellen Transformation in Griechenland. Auf einer subtileren Ebene erweisen sie sich als verschiedene Beiträge zu einem Streit um das aktuelle Selbstverständnis des Westens. In dem Diskurs um die kulturelle Transformation in der griechischen Antike und ihre vermeintlichen Folgen für die besondere Entwicklung der westlichen Zivilisation streitet eine abendländische Erinnerungsgemeinschaft zugleich auch um ein angemessenes Verständnis ihrer kulturellen Identität.2 1. Vom Ethnozentrismus Homers zum modernen Eurozentrismus Bereits in der Antike stellen sich die Griechen aus Gründen der kulturellen Selbstvergewisserung den Barbaren gegenüber.3 Die älteste Erwähnung des Barbarischen findet sich in der Illias, wo Homer unter den Gegnern der Griechen nur die Karer, nicht aber die Trojaner oder die anderen
2
3
Die Konzepte von Erinnerungsgemeinschaft und kultureller Identität übernehme ich aus dem für die folgenden Überlegungen überaus fruchtbaren Ansatz von Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997. Zum griechischen Ethnozentrismus und der Abgrenzung von den ‚Barbaren‘ vgl. John E. Coleman und Clark A. Walz (Hg.), Greeks and Barbarians. Essays on the Interactions between Greeks and Non-Greeks in Antiquity and the Consequences for Eurocentrism, Maryland 1997. Deutlich zuverlässiger und weniger kämpferisch ist allerdings Walter Burkert, Die Griechen und der Orient. Von Homer bis zu den Magiern, München 2003. Dort finden sich auch wichtige Literaturhinweise.
214
Konversionen
Bundesgenossen Trojas als „ein Volk barbarischer Mundart“ bezeichnet.4 Dies hindert ihn aber nicht, vom Anführer der Karer als „Nastes, der glänzende Held“5 zu sprechen, so dass man eine allzu negative Konnotation von barbarophonoi (barbarisch, stammelnd redend) wohl ausschließen kann. Der Wortbedeutung folgend sind Barbaren zunächst alle Menschen und Völker, die nicht griechisch sprechen. Zu einer expliziten Gegenüberstellung von Griechen und Barbaren kommt es vermutlich erstmals in der Tragödie Die Perser von Aischylos, die um 472 v.u.Z., kurz nach der vernichtenden Niederlage des persischen Heeres bei Salamis (480 v.u.Z.) aufgeführt wurde. Aischylos, der selbst an dieser Schlacht teilgenommen hatte, versammelt in der seinerzeit politisch erstaunlich aktuellen Tragödie bereits eine Reihe der noch heute gängigen Gegenüberstellungen zwischen diesen „zween schöngewandige Jungfraun“6. So stellt er der griechischen Freiheit den orientalischen Despotismus gegenüber und der dorischen Einfachheit die persische Üppigkeit. Aber trotz dieses politischen Kontextes hat Aischylos seiner Darstellung der Perser keinen feindseligen oder gar chauvinistischpatriotischen Ton verliehen. Vielmehr schildert er das Unglück der daheim gebliebenen Perser und warnt die Griechen vor der hybris. Auch wenn dabei Morgen- und Abendland unterschieden werden, so gibt es doch keine strikte Trennung zwischen Griechen und Persern. Sie erscheinen beide „als Schwestern eines Stammes; als ihre Heimat hatte vordem diese sich Hellas erloset, jene das Barbarenland“7. So wie beide Volksgruppen also durch den Zufall des Loses in verschiedenen Erdteilen lebende Angehörige eines Stammes sind, wird auch die Niederlage der Perser nicht auf eine dekadente oder primitive Kultur zurückgeführt, sondern auf dem Willen der Götter und die daraus resultierende Verblendung des Xerxes. Auf ähnliche Weise wird das Verhältnis von Griechen und Barbaren in den Historien des Herodotos von Hallikarnassos beschrieben. In den ersten Sätzen seiner Geschichte der Perserkriege gibt Herodot Auskunft über 4
5 6 7
Homer, Ilias, übers. v. Johan Heinrich Voß, in: Peter v. d. Mühl (Hg.), Ilias und Odyssee, Wiesbaden o.J., II,267. Natürlich spricht Homer nicht von den Griechen, denn diesen Namen gaben erst die Römer den graeci. Auch spricht er nicht von den Hellenen, wie sich die Bürger Griechenlands heute selbst nennen, sondern auf uneinheitliche Weise von Argivern, Danaern, Achaiern oder Pan-Achaiern. Es gab keine autoritative Gemeinbezeichnung für die verschiedenen Volksgruppen, die gemeinsam vor Troja lagen. Ebd., II,271. Aischylos, Die Perser, übers. v. J. G. Droysen, in: Wolf H. Friedrich (Hg.), Griechische Tragiker. Aischylos, Sophokles, Euripides, München 1958, S. 7–40, hier: 181f. Ebd., 185–87.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
215
das Anliegen seines Berichtes. Er will dafür Sorge tragen, dass „die Taten der Menschen nicht mit der Zeit verloren gehen, noch die großen und wunderbaren Werke, wie Hellenen sowohl als Barbaren sie vollführten, ruhmlos vergehen“8. Auch hier findet sich die Gegenüberstellung von Griechen und Barbaren, die aber auch im Geschichtswerk des Herodot des pejorativen Einschlages entbehrt. Sowohl die Hellenen wie die Barbaren vollbrachten rühmliche und wunderbare Taten, die gleichermaßen vor dem Vergessen geschützt werden sollen. Darüber hinaus ist Herodot von besonderer Bedeutung, weil er verschiedentlich die kulturellen Errungenschaften der außergriechischen Kulturen sowie deren Einfluss auf die Entwicklungen in Griechenland rühmt. So haben die Griechen dem Zeugnis Herodots zu Folge die Feldmesskunst ebenso wie die Namen der meisten Götter von den Ägyptern übernommen, die zudem als erste einen funktionalen Kalender mit zwölf Monaten entwickelt hätten. Die Sonnenuhr und die Teilung des Tages in zwölf Stunden sollen die Griechen von den Babyloniern übernommen haben.9 Ein eindrücklicher Beleg für die tolerante Einstellung des „Vaters der Geschichtsschreibung“ gegenüber anderen Kulturen ist die Erzählung vom Frevel des Perserkönigs Kambyses. Als Kambyses, der Sohn des Kyros, während seiner Herrschaft in Ägypten nach einem gescheiterten Feldzug seine Wut und Enttäuschung in immer despotischeren Formen an den Ägyptern und selbst an Angehörigen seiner Familie auslässt, zerstört er schließlich verschiedene Heiligtümer des Gottes Hephaistos in Memphis. Dieses Vorgehen beurteilt Herodot auf bemerkenswerte Weise: „Mir ist nun auf alle Weise klar, dass Kambyses an schwerem Wahnsinn litt; sonst hätte er’s nicht gewagt, was heilig und gebräuchlich ist, zu verlachen. Denn wenn man alle Menschen vor die Wahl stellte, sie sollten sich die besten Bräuche auslesen aus allen Bräuchen, so würden nach der Untersuchung alle ihre eigenen vorziehen; so sehr gelten allen ihre eigenen Bräuche bei weitem für die besten.“10
Diesen Relativismus hinsichtlich der sozial bedingten Vorstellungen vom Schicklichen und Verwerflichen veranschaulicht Herodot weiterhin mit den unterschiedlichen Begräbnisriten verschiedener Kulturen. Dabei stützt er sich auf eine Bemerkung Pindars, „der Brauch sei König über alle“11. Trotz der Unterschiedlichkeit traditioneller Sitten und Bräuche sei 8
Herodot, Des Herodot von Hallikarnassos Geschichten, übers. v. Adolf Schöll, in: Oskar Weißmann (Hg.), Herodot. Geschichten, Naunhof/ Leipzig 1940, I,1. 9 Vgl. ebd., II,52, II,109, II,4. 10 Ebd., III,38. 11 Ebd. Unter den Vorsokratikern und Sophisten war die Frage, ob normative Regeln von Natur aus oder nur durch zwischenmenschliche Übereinkunft bestehen, Gegen-
216
Konversionen
es aber unangemessen, daraus auf ihre Ungültigkeit zu schließen. Vielmehr könne nur ein Wahnsinniger sich über die Bräuche der eigenen oder anderer Kulturen hinwegsetzen, selbst wenn sie nur von Menschen gemacht seien. Die Vorliebe gegenüber den eigenen Sitten und Gebräuchen und die Idee ihrer Überlegenheit ist die Grundlage eines jeden Ethnozentrismus. Indem Herodot diesen Ethnozentrismus mit der Tatsache kultureller Vielfalt konfrontiert, kommt er jedoch zu einem bemerkenswerten Ergebnis: Für ihn schließt die Einsicht in die Vielfalt menschlicher Lebensformen den chauvinistischen Anspruch auf universale Gültigkeit der eigenen Kultur ebenso aus wie die relativistische Leugnung der Gültigkeit von Sitten überhaupt. Diese tolerante Haltung findet sich nicht mehr in dem Bericht über den Peloponnesischen Krieg von Thukydides, der im Unterschied zu den Perserkriegen, die Herodot und Aischylos behandeln, eine innergriechische Auseinandersetzung zum Gegenstand hat. Zwar berichtet Thukydides recht neutral davon, dass die „wenigsten großen Heerfahrten von Hellenen oder Barbaren, die weit von der Heimat wegführten,“12 glücklich geendet seien. Aber in der bekannten Totenrede des Strategen Perikles wird explizit, worin die grundlegende Überlegenheit der Athener Griechen gegenüber anderen Völkern gesehen wird: „Die Verfassung, die wir haben, richtet sich nach keinen fremden Gesetzen; viel eher sind wir für sonst jemanden ein Vorbild, als von anderen abhängig. Mit Namen heißt sie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf eine größere Zahl gestellt ist, Volksherrschaft.“13
stand der Auseinandersetzung um das Verhältnis von physis (Natur) und nomos (Gesetz). Zu diesem Problem vgl. die klassische Problemexplikation in einem Fragment Antiphons (DK 87 B 44) sowie, mit weiteren Literaturhinweisen, Kathryn A. Morgan, Myth and Philosophy from the Pre-Socratics to Plato Cambridge 2000, S. 92. Vor wenigen Jahren hat Paul Feyerabend Herodots Einsicht in die kulturelle Bedingtheit moralischer Regeln gegenüber den dogmatischen Universalitätsansprüchen von vorsokratischen Philosophen wie z. B. Xenophanes verteidigt. Vgl. Paul K. Feyerabend, „Eingebildete Vernunft. Die Kritik des Xenophanes an den Homerischen Göttern“, in: Kurt Lenk (Hg.), Zur Kritik der wissenschaftlichen Raitonalität. Zum 65. Geburtstag von Kurt Hübner, Freiburg/ München 1986, S. 205–223, hier: S. 215f.. 12 Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Krieges, übers. v. Georg P. Landmann, in: Georg P. Landmann (Hg.), Thukydides. Geschichte des Peloponnesichen Krieges, Reinbek bei Hamburg 1965, S. 7–388, VI,36. 13 Ebd., II,37. Bemerkenswerterweise ist es gerade dieser Satz, wenn auch mit der sicher nicht zufälligen Auslassung hinsichtlich der Vorbildfunktion der Griechen, der als Motto die Präambel des europäischen Verfassungsentwurfes ziert. Damit stellt sich die Europäische Union in die Tradition einer selbstgefälligen und kriegstreiberischen Rede.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
217
Sicherlich hat diese Rede die Funktion, die Gefallenen zu ehren und die Soldaten auf weitere Kampfhandlungen einzustimmen, aber der Anspruch auf Superiorität der eigenen Kultur beschränkt sich nicht darauf. Der Perikles des Thukydides wählt nicht aus den verschiedenen Bräuchen die eigenen als die besten, sondern geht von einer objektiven Überlegenheit der Athener gegenüber allen anderen Völkern aus, wenn er am Schluss seiner Rede behauptet, „dass dies nicht Prunk mit Worten für den Augenblick ist, sondern die Wahrheit der Dinge, das zeigt gerade die Macht unseres Staates, die wir mit diesen Eigenschaften erworben haben.“14 Die Qualität der griechischen Kultur wird hier nicht mehr hinsichtlich des sozialen Nutzens oder anderer zeitbedingter Erfolge gewürdigt, sondern mit einem Universalitätsanspruch verbunden. Durch den Bezug auf Wahrheit wird ein Anspruch auf universale Geltung erhoben, der sich in der tatsächlichen Überlegenheit nicht bewähren muss, sondern nur noch bestätigt findet. Aus diesem Grund bräuchten die Athener auch „keinen Homeros mehr als Sänger unseres Lobes noch wer sonst mit schönen Worten für den Augenblick entzückt“15. Thukydides beansprucht universale und transhistorische Geltung für die überlegene Kultur der Athener gegenüber den anderen Hellenen wie gegenüber den Barbaren. Dieser im Feld der Politik vertretenen Haltung entspricht auf der philosophiehistorischen Seite der Bericht des Aristoteles aus den ersten Kapiteln der Metaphysik. Dort wird eine eigenständige Entwicklung echter Philosophie als Wissenschaft vom Allgemeinen von der ionischen Naturphilosophie bis zur peripatetischen Schule nachgezeichnet, die an keiner Stelle wesentlich von außergriechischen Einflüssen befruchtet werde.16 Diese Auffassung wurde durch die hellenische und mehr noch die römische Doxographie nachdrücklich befestigt. Beispielhaft beginnt die Schrift Leben und Meinungen berühmter Philosophen des Diogenes Laertius mit einer Diskussion der Frage nach den griechischen oder nicht griechischen Anfängen der Philosophie. Diogenes Laertius zufolge behaupten nämlich manche fälschlicherweise, die Entwicklung der Philosophie habe „bei den 14 Ebd., II,41. 15 Ebd., II,41. 16 Vgl. Aristoteles, Metaphysik, übers. v. Hermann Bonitz, in: Horst Seidl (Hg.), Aristoteles’ Metaphysik. (Griechisch – Deutsch) Erster Halbband: Bücher I (A) – VI (E), Hamburg 1982, S. 1–263. Zwar bildeten sich der Einschätzung des Aristoteles folgend „in Ägypten zuerst die mathematischen Künste (Wissenschaften) aus, weil dort dem Stand der Priester Muße gelassen war“ Ebd., 981b. Dennoch war es Aristoteles und die von ihm ausgehende Doxographie, die eine eigenständige Entwicklung der Philosophie in Griechenland von den Ionischen Anfängen an konstruiert, indem sie die Ausbildung ‘reiner Wissenschaft’ als eigenständige griechische Leistung verstand.
218
Konversionen
Barbaren ihren Anfang genommen“17. Dazu werde auf die Magier der Perser, die Chaldäer der Babylonier und Assyrer, die Gymnosophisten der Inder und die Druiden der Kelten und Gallier verwiesen. Dieser Hinweis aber vermag den römischen Gelehrten nicht zu überzeugen: „Indes, man täuscht sich und legt fälschlich den Barbaren die Leistungen der Griechen bei; denn die Griechen waren es, die nicht nur mit der Philosophie, sondern mit der Bildung des Menschengeschlechts überhaupt den Anfang gemacht haben“18. In diesen Sätzen haben wir den endgültigen Übergang von einer ethnozentrischen zur einer eurozentrischen Auffassung vor uns. Über die bloße Borniertheit des Ethnozentrismus hinaus, nämlich die eigenen Sitten und Gebräuche für die besten zu halten, gehört zum westlichen Eurozentrismus die Neigung, seine kulturellen Leistungen anderen Kulturen expansiv-missionarisch aufzuoktroyieren. Diese missionarische Neigung resultiert aus der Annahme, die in Griechenland entstandene wissenschaftliche Weltauffassung sei nicht lediglich eine der vielen möglichen Formen zur gedanklichen Ordnung und Auffassung der Welt, sondern sie sei allen anderen durch ihre prinzipielle Wahrheitsfähigkeit überlegen. Weil allein das in Griechenland entstandene Denken universale Geltung beanspruchen dürfe, sei es auch angemessen, dieses Denken weltweit zu etablieren. Seit Diogenes Laertius hat sich die Vorstellung erhalten, dass es weder echte Wissenschaft außerhalb Griechenlands gegeben habe, noch dass die griechische Entwicklung maßgeblich und entscheidend von außergriechischen Vorläufern beeinflusst worden sei. Zwar ist es zutreffend, dass noch bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts die Geschichten der Philosophie mit großer Regelmäßigkeit eingeleitet werden „durch einen Abschnitt über die Philosophie bei den Chaldäern, Persern, Arabern, Indern, Chinesen, Ägyptern, Kelten, und Juden (auch Phönizier, Äthiopier und Japaner erscheinen gelegentlich)“19. Allerdings wird diesen Philosophien schon damals deutlich weniger Raum als der griechischen beige17 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. v. Otto Apelt, 2. Aufl. Hamburg 1967, I,1. 18 Ebd., I,2. 19 Ulrich Johannes Schneider, Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte, Frankfurt a. M. 1990, S. 72. Zur offeneren Anerkennung außergriechischer Weltweisheit in der vor-hegelschen Philosophiegeschichtsschreibung vgl. auch Franz Wimmer, Interkulturelle Philosophie. Band 1. Geschichte und Theorie, Wien 1990, S. 186–236. Den nachteiligen Einfluss Hegels auf die Möglichkeiten eines philosophischen Pluralismus zeigt auch Robert Bernasconi, „Horror alieni. Auf der Suche nach einem philosophischen Pluralismus“, übers. v. Hans-Dieter Gondek und Stefan Knoche, in: Iris Därmann und Christoph Jamme (Hg.), Fremderfahrung und Repräsentation. Weilerswist 2002, S. 125–150.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
219
messen. Mit dem Beginn systematischer Philosophiegeschichtsschreibung schließlich, die bei Hegel verortet werden muss, etabliert sich die Überzeugung, man habe erst in der griechischen Antike den Anfang der wahrhaften Philosophie vor sich. Gleich zu Beginn seiner Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie macht Hegel diese These explizit: „Mit der griechischen Philosophie machen wir eigentlich erst den Anfang. Das Vorhergehende war nur ein Vorläufiges. Von anderen Philosophien, mongolischer, persischer, syrischer Philosophie enthalten wir uns zu sprechen; es ist bloße Gelehrsamkeit, davon zu reden.“20
Die Basis dieses Urteils besteht darin, dass Hegel wie schon Thukydides oder Aristoteles zu Folge das in Griechenland entstandene Denken als erstes in der Geschichte der Menschheit den Kontext sozialer und historischer Schranken durch seine prinzipielle universale Wahrheitsfähigkeit überwinde. Diese These wird noch heute nicht ohne ein gewisses philhellenisches Pathos vorgetragen. Obwohl man den Phil-Hellenismus vor allem der deutschen Altertumswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts zuschreibt21, findet er sich in modifizierter Form auch in aktuellen Publikationen nicht-deutscher Fachgelehrter.22 Das soll hier am Beispiel der Arbeit Die Griechen und Wir des amerikanischen Kulturhistorikers Paul Cartledge verdeutlicht werden. Wer ein Buch mit einem solchen Titel schreibt oder liest, will und wird weniger über die Griechen, als vielmehr über das Wir erfahren. Dementsprechend beginnt Cartledges Studie über die aktuelle Bedeutung der Antike mit Auszügen aus einer Rede von US-Präsident George Bush sen. vor der UNO-Vollversammlung im Jahre 1991: „Menschen, denen man jahrelang ihre Vergangenheit vorenthalten hatte, haben begonnen, nach ihrer Identität zu suchen.“23 Die zunehmende Rückbesinnung auf die 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Griechische Philosophie I. Thales bis Kyniker (Kollegmitschrift) (1825/26), in: P. Garniron und W. Jaeschke (Hg.), Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vorlesungen, Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Hamburg 1989, Vol. 7, S. 442, S. 1. 21 So stellte etwa der Philosophiehistoriker Guthrie fest: „It was difficult for some philhellenes of the nineteenth century to admit any detraction from the pure originality of Greek thought“. W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy. I. The Early Presocratics and the Pythagoreans, Cambridge 1962, S. 31. 22 In meiner Dissertation zum Ursprungsmythos der Vernunft, die 2004 erscheinen wird, bin ich der Kontinuität eurozentrischer Auffassungen in der Philosophiegeschichtsschreibung systematisch nachgegangen. Vgl. auch Helmut Heit, „Eurozentrismus, Universalität und der Anfang der Philosophie”, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, Vol. 2/2002 (Dezember), S. 53–68. 23 Vgl. Paul Cartledge, Die Griechen und wir, übers. v. Reinhard Brenneke und Barbara von Reibnitz, Stuttgart 1997, S. 7. Eine genauere Quellenangabe des Bush-Zitates hat
220
Konversionen
Geschichte spiele eine bedeutende Rolle für die sogenannte „Identität“ einer Kultur, denn die Griechen haben Cartledge zu Folge „Anteil, und zwar keinen geringen, an unserer Identität. Mag auch ihre Sprache tot sein, ihr Erbe ist lebendig, und es ist eine lebenswichtige Angelegenheit“24. In der Betonung der „Lebenswichtigkeit“ des griechischen Erbes kommt ein Nachdruck zum Vorschein, der in diesem Zusammenhang überraschen mag, der aber zugleich ein Motiv für heutige Aktualisierungen der Antike verdeutlicht. Gerade weil die Frage nach einem westlichen oder europäischen Selbstverständnis offen ist, wird dem Bezug auf die Anfänge des Abendlandes solches Gewicht beigemessen. Man hofft, durch die Beschäftigung mit diesen Anfängen etwas zur Lösung gegenwärtiger Fragen oder Probleme beizutragen und möchte durch die Erörterung des „griechischen Wunders“ dasjenige verstehen, was man The European Miracle genannt hat.25 Aber der Diskurs um das kulturelle Selbstverständnis des Westens ist nur über die Kontinuitätsbehauptung mit den vermeintlichen griechischen Anfängen „unserer“ Kultur verbunden. Durch diese Behauptung sowie durch den seit Thukydides und Hegel wiederholt erhobenen Anspruch auf universale Geltung der abendländischen Kulturleistungen setzt sich die Rede vom griechischen und europäischen Wunder dem Vorwurf aus, nichts weiter als eine eurozentrische Legitimationsideologie zu sein. 2. Die Rede vom „griechischen Wunder“ als Legitimationsideologie Die Behauptung einer weltgeschichtlich und universal bedeutsamen kulturellen Transformation in der griechischen Antike wie auch die Behauptung einer Kontinuität dieses Ursprungs in der westlichen Welt sind wesentliche Elemente eines abendländischen Selbstvergewisserungsdiskurses. Beide Behauptungen sehen sich seit geraumer Zeit vermehrt der Kritik ausgesetzt. Gerade die Frage nach einer zweieinhalb Jahrtausende währenden zivilisatorischen Kontinuität des Abendlandes ist in hohem Maße umstritten. Mindestens ist, wie der Religionshistoriker Walter Burkert hervorhebt, nicht von der Hand zu weisen, dass nicht nur der Westen Cartledge nicht angegeben. 24 Ebd. 25 Dies ist der Titel einer einflussreichen Studie von Eric L. Jones, The European Miracle. Environments, Economies, and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge 1981. Jones versucht die weltgeschichtliche Hegemonie Europas vor den frühen Kulturen Asiens, Afrikas und Amerikas vorzüglich mit geopolitischen und demographischen Phänomenen zu erklären. Zur Bedeutung und Kritik dieses Ansatzes vgl. James M. Blaut, The Colonizers Model of the World. Geographical Diffusionism and Eurocentric History, NewYork/ London 1993, v. a. S. 69–94, S. 135.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
221
in einer griechischen Tradition steht: „Europa trägt nicht umsonst einen griechischen Namen – und vergisst doch leicht, dass es das griechische Erbe mit dem Islam teilt“26. Dieser Hinweis geht allerdings manchen nicht weit genug, da er noch immer eine Kontinuität des okzidentalen Sonderwegs behauptet. Demgegenüber versuchen manche, eine andere Form der Weltgeschichte zu schreiben und wollen zeigen, „dass die Chronologie Griechenland-Rom-Europa falsch ist; dass es sich dabei bereits um eine spätere ideologisch bestimmte begriffliche Umwandlung handelt“27. In diesem Sinne beansprucht z. B. James Blaut zu beweisen, dass „the rise of Europe above other civilizations did not begin until 1492, that it resulted not from any European superiority of mind, culture, or environment, but rather from the riches and spoils obtained in the conquest and colonial exploitation of America and, later, Africa and Asia“28. Während ich hinsichtlich der Frage nach einer kontinuierlichen Entwicklung des Abendlandes von einem griechischen Anfang an es bei diesen Überlegungen bewenden lassen will, werde ich mich im Folgenden eingehender mit der Ursprungsbehauptung auseinander setzen. Wie wir heute zweifelsfrei wissen, verfügten die Ägypter wie die Babylonier über vielfältiges praktisches Handlungswissen und auch über umfangreiche astronomische und mathematische Kenntnisse, die von den Griechen aufgenommen wurden. Dieses durch interkulturelle und ethnologische Arbeiten ebenso wie durch die Altertumswissenschaften hervorgebrachte oder wiedererinnerte Wissen hat zu Revisionen der herkömmlichen Auffassung von den Anfängen des Abendlandes geführt. Soweit ich sehe, lassen sich im wesentlichen drei Strategien unterscheiden, um die Rolle der Barbaren im „griechischen Wunder“ zu klären, die beispielhaft von Andre Pichot, Karl Jaspers und Martin Bernal vertreten werden. 2.1 Die Griechen haben das Übernommene transformiert (Pichot) Aus der Einsicht, dass die Griechen vielfältiges praktisches Handlungswissen und auch umfangreiche Kenntnisse astronomischer und mathematischer Art von den Babyloniern und Ägyptern übernahmen, folgt nicht notwendig eine grundlegende Relativierung der griechischen Leistung. Eine weit verbreitete These ist vielmehr, erst die Griechen hätten das proto-wissenschaftliche praktische Handlungswissen ihrer Nachbarn zu 26 Walter Burkert, Die Griechen und der Orient, a.a.O, S. 9. 27 Enrique Dussel, „Europa, Moderne und Eurozentrismus. Semantische ,Verfehlung‘ des ,Europa‘-Begriffs“ übers. v. Matthias Tripp, in: Manfred Buhr (Hg.), Das geistige Erbe Europas, Napoli 1994, S. 855–867, hier: S. 855. 28 James Blaut, The Colonizers Model of the World, a.a.O., S. 51.
222
Konversionen
einer universal gültigen wissenschaftlichen Methode weiterentwickelt. Schon Hegel, der alle wesentlichen Einflüsse der anliegenden Kulturen auf die Entwicklung des griechischen Denkens bestreitet, akzeptiert einen gewissen kulturellen Austausch und auch die Adaption fremden Wissens. Einschränkend stellt er jedoch fest: „Das Fremde war nur Materie, Anstoß; sie haben es umgebildet, umgeformt, und eben ihnen eigentümlich ist der geistige Hauch, die Form der Kunst und der Wissenschaft, die die reine Form des Denkens ist“29. Erst die Griechen hätten aus den gesammelten Kenntnissen der angrenzenden Hochkulturen Philosophie und Wissenschaft entwickelt. Dieser hegelschen Lesart sind in der Sache viele Fachwissenschaftler gefolgt. Ein wichtiger Grund für die entscheidende Transformation, die das Wissen der Orientalen in den Händen bzw. Köpfen der Griechen erfahren habe, wird in der griechischen Freiheit des Geistes gesehen. Erst in Griechenland habe sich im Unterschied zu den „großen hieratischen Kulturen der asiatischen Länder [...] dieser neue Aufbruch des Wissenwollens“ ereignet, der sich unabhängig von religiösen oder dogmatischen Beschränkungen und Denkverboten entwickelt habe.30 Erst das Denken der Griechen sei frei gewesen von den „demands of a religion which weighed heavily on every branch of life and was used in the interest of a despotic central government“31. Erst dieser freie Geist habe Wissenschaft in einem modernen Sinne möglich gemacht. Auf beispielhafte Weise fasst André Pichot diese weit verbreitete Position in seiner explizit anti-eurozentrischer Studie Die Geburt der Wissenschaft. Von den Babyloniern zu den frühen Griechen zusammen. Dem orientalischen Denken stünde „der Geist der freilich viel jüngeren griechischen Wissenschaft gegenüber, der frei von Konservatismus das im Laufe von über zwei Jahrtausenden in Mesopotamien und Ägypten zusammengetragene Wissen aus den Fesseln der Mystik und der praktischen Anwendbarkeit befreit und so den Prototyp dessen geschaffen hat, was sich Schritt für Schritt zur Wissenschaft im heutigen Sinn entwickeln sollte“32. In diesen Sätzen sind die wichtigsten Elemente der Abgrenzung griechischer Wissenschaft von der Form und dem Inhalt des Wissens in Mesopotamien und Ägypten zusammengefasst. Aus ihnen ergibt sich für die Auffassung von der neuen griechischen Denkform erstens, dass sie aus einem Geist undogmatischer, säkularer Freiheit geboren sei. Zweitens 29 30 31 32
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, a.a.O., S. 2. Hans-Georg Gadamer, Der Anfang des Wissens, a.a.O, S. 151. W. K. C. Guthrie, A History of Greek Philosophy, a.a.O., S. 32. André Pichot, Die Geburt der Wissenschaft. Von den Babyloniern zu den frühen Griechen, übers. v. Siglinde Summerer und Gerda Kurz, Frankfurt a. M. 1991, S. 240.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
223
sei sie nicht praktisch interessiert, sondern widme sich gelöst von den Fesseln der praktischen Anwendbarkeit dem reinen Wissenwollen. Drittens könne man sie als Prototyp einer modernen wissenschaftlichen Auffassung verstehen, zu der sie sich entwickeln sollte. Besonders in der Vorstellung einer gesollten Entwicklung kommt die letztlich evolutionistische Perspektive Pichots zum Ausdruck. Zudem stilisiert er die Differenz zwischen dem Wissen der Ägypter und Babylonier zu etwas viel Umfassenderem als es etwa die Ausbildung bestimmter wissenschaftlicher Methoden oder die Einsicht in diverse Naturphänomene rechtfertigen könnte. Den Griechen sei im Unterschied zu ihren Nachbarn die Ausbildung einer grundlegend neuen und besseren Form der intellektuellen Auffassung der Welt gelungen. Indem Pichot so das Denken der Griechen ungerührt als Maßstab des Wissenswerten erhebt, verbleibt er auf der Ebene eurozentrischer Argumentationen.33 2.2 Die Griechen als Kultur der Achsenzeit (Jaspers) Eine andere, grundlegendere Form der Neubestimmung des Verhältnisses von Griechen und Barbaren besteht darin, die kulturelle Transformation in Griechenland zu einem Teil eines umfassenderen und weltweiten Umwandlungsprozesses zu relativieren. Dadurch soll die Besonderheit der Ereignisse in Griechenland widerlegt werden. „Philosophy, broadly conceived, came into the world, not only once but a number of times, in various places“34. Hierbei wird an Siddhartha Gautama, Konfuzius, Laotse, Zarathustra und den jüdischen Monotheismus gedacht, die historisch gleichzeitig mit der ionischen Aufklärung entstanden seien. Mit dieser Beobachtung stützen sie sich auf Karl Jaspers’ Konzept der Kulturen der Achsenzeit. Nach den politischen Katastrophen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat Karl Jaspers eine Notwendigkeit zu einer Neukonzeptualisierung der Weltgeschichte gesehen. Man hat daher sein Konzept der Achsenzeit zu Recht als Reaktion auf „das Trauma der NaziZeit und den Zusammenbruch des europäischen Kulturerbes nach dem
33 Jan Assmann zufolge ist Pichots „evolutionistische Perspektive“ und der damit verbundene „naive Eurozentrismus dieser Perspektive einem Orientalisten schwer erträglich“, zumal Pichot „weite Gebiete dessen, was etwa im alten Ägypten als Wissen galt“ aufgrund eines reduktionistischen Wissensbegriffs aus der traditionellen Philosophiegeschichte ausklammert („Hellas, Hellas über alles. In André Pichots Frühgeschichte der Wissenschaft wird die Leistung des Orients unterschätzt”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Vol. 258 [6. Nov. 1995], S. 17). 34 Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, A short History of Philosophy, Oxford 1996, S. 5.
224
Konversionen
zweiten Weltkrieg“35 verstanden. Nach diesen Erfahrungen sei ein Glaube an die Überlegenheit der europäischen Tradition nicht länger haltbar gewesen. „Vorbei ist der europäische Hochmut, ist die Selbstsicherheit, aus der einst die Geschichte des Abendlandes die Weltgeschichte hieß“36. Bisher habe die griechische Tradition und die christliche Offenbarung als Achse der Weltgeschichte gegolten, doch es sei nötig, einen neuen und kulturübergreifenden empirischen Dreh- und Angelpunkt der historischen Entwicklung der Menschheit zu finden. „Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 800 und 200 stattfindenden geistigen Prozess. Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben“37. Für Jaspers sind es drei Kulturen, in denen sich dieser kulturelle Durchbruch zu der genannten Zeit und doch ganz unabhängig voneinander parallel ereignete: Indien, China und das Abendland.38 Die babylonische und ägyptischen Hochkultur zählt Jaspers nicht zu den Kulturen der Achsenzeit und die sogenannten Naturvölker repräsentieren auch für ihn lediglich die „bleibende Vorgeschichte“39. Wenn Philosophiehistoriker Jaspers in dieser Auffassung folgen, bleibt ihre anti-eurozentrische Perspektive auf die Anerkennung dieser drei sogenannten Hochkulturen beschränkt.40 Aber selbst mit Blick auf diese drei Kulturen lässt sich noch immer mit Recht fragen, ob die kulturellen Entwicklungen in diesen verschiedenen Weltgegenden tatsächlich gleichartig sind. Diese Frage ist und war Gegenstand vielfältiger Untersuchungen.41 Eisenstadt resümiert 35 Aleida Assmann, „Einheit und Vielfalt in der Geschichte. Jaspers’ Begriff der Achsenzeit neu betrachtet“, in: Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit II. Ihre institutionelle und kulturelle Dynamik. Teil 3. Buddhismus, Islam, Altägypten, westliche Kultur, Frankfurt a. M. 1992, S. 330–340, hier: S. 335. 36 Karl Jaspers, Vom europäischen Geist, München 1947, S. 11. 37 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 19. 38 Diese These wurde z. B. aufgegriffen von Robert C. Solomon und Kathleen M. Higgins, A short History of Philosophy a.a.O., S. 1; Richard Gotschalk, The Beginnings of Philosophy in Greece, Boston 2000; Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie. China, Indien, Europa, Bonn 1989, S. 60–67. 39 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, a.a.O., S. 27. 40 Dementsprechend findet sich in keiner mir bekannten Geschichte der Philosophie ein Kapitel etwa zur Philosophie der Kimbern und Teutonen oder der Trobriander. Abgesehen von dem materialen Misslingen bestreite ich, dass man den unterdrückten Perspektiven auf die empirische und kulturelle Welt nützt, indem man behauptet, sie seien im Grunde mit der westlich-wissenschaftlichen Perspektive identisch. 41 Die wichtigsten Beiträge sind in den fünf von Shmuel Eisenstadt edierten Bänden zur den Kulturen der Achsenzeit zusammengefasst. Vgl. Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit I. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, Frankfurt a. M. 1987; und ders. (Hg.), Kulturen der Achsenzeit II, a.a.O. Yehuda Elkana kommt allerdings in seinem Beitrag zu den Kulturen der Achsenzeit zu dem Ergebnis, selbstreflexives
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
225
die Ergebnisse der Achsenzeit-Forschung dahingehend, dass alle Kulturen der Achsenzeit die Tendenz gemeinsam hätten, „die Welt symbolisch-ideologisch und institutionell neu aufzubauen“, um mit einer kulturübergreifenden „grundlegenden Spannung zwischen transzendentaler und weltlicher Ordnung“42 umzugehen. Diese Spannung wiederum bringe den Versuch einer Versöhnung beider Pole und eine „Erlösungssehnsucht“ im Angesicht des Todes hervor.43 Die offensichtlichen inhaltlichen Differenzen in den Lebensformen und Gedankengebäuden der verschiedenen Kulturen werden hier von Eisenstadt als unterschiedliche Ausführungen eines gemeinsamen Anliegens gedeutet. Darin wirkt Jaspers’ existenzphilosophische Auffassung vom Menschen fort. Jaspers bestimmte die zentralen Anliegen des Menschen der Achsenzeit als „Kampf gegen den Mythos“, als „Kampf um die Transzendenz“ und als „Vergeistigung“44. In diesen Kämpfen komme das Wesen des Mensch-Seins zum Ausdruck. „Es ist der eigentliche Mensch, der im Leibe gebunden und verschleiert, durch die Triebe gefesselt, seiner selbst nur dunkel bewusst, nach Befreiung und Erlösung sich sehnt“45. Die existenzphilosophische Auffassung des Menschen ist hier nicht zu übersehen und es ist zweifelhaft, ob diese Charakterisierung einem Athener Bürger des 4. vorchristlichen Jahrhunderts genau so entspricht wie einem Berufsbeamten der Chan-kuo-Zeit (403–221). Sokrates mag sich so ähnlich verstanden haben, aber die Übertragung des „eigentlichen Menschen“ auf die griechische oder außereuropäische antike Kulturen insgesamt ist höchst fragwürdig. Dennoch findet sich Jaspers’ These von einem universalen Transzendenzstreben in den Texten anti-eurozentrischer Philosophiehistoriker wieder, wenn etwa Mall und Hülsmann behaupten: „Aus dem Drang zur Ewigkeit wird der Gedanke der Transzendenz geboren“, denn die Geschichtlichkeit und Sterblichkeit sei „das Grundrätsel der Geschichte“46. Die postulierten Gemeinsamkeiten zwischen Griechenland, Indien und China werden in diesen Ansätzen durch zwei Schwächen erkauft: Zum
42
43 44 45 46
„Denken zweiter Ordnung“ habe sich nur in Griechenland entwickelt. Yehuda Elkana, „Die Entstehung des Denkens zweiter Ordnung im antiken Griechenland“, in: Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), Kulturen der Achsenzeit 1, a.a.O., S. 52–88. Shmuel N. Eisenstadt, „Allgemeine Einleitung. Die Bedingungen für die Entstehung und Institutionalisierung der Kulturen der Achsenzeit“, übers. v. Ruth Achlama und Gavriella Schalit, in: ders.: Kulturen der Achsenzeit I., a.a.O., S. 27, S. 11. Ebd., S. 12. Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, a.a.O., S. 21. Ebd., S. 22. Ram Adhar Mall und Heinz Hülsmann, Die drei Geburtsorte der Philosophie, a.a.O., S. 25f.
226
Konversionen
einen relativieren sie die kulturelle Transformation in Griechenland unangemessen zu einer bloßen Reflexion auf die Endlichkeit menschlichen Lebens. Geschichtlichkeit und Sterblichkeit ist nicht das Grundrätsel der antiken Philosophie und Parmenides’ oder Platons Streben nach Transzendenz geht nicht aus einem Drang nach Ewigkeit, sondern aus sozioökonomisch motivierten erkenntnistheoretischen und moralphilosophischen Überlegungen hervor. Zum anderen dehnen sie eine moderne, existenzphilosophische These über die Natur des Menschen auf höchst disparate historische Räume aus, wenn sie vom „eigentlichen Menschen“ und von „Grundrätseln der Geschichte“ sprechen. Da die drei AchsenzeitKulturen mit ihrem vermeintlichen Trieb zur Transzendenz und ihren Reflexionen auf die conditio humana außerdem als neuer universaler Maßstab fungieren, werden andere Kulturen noch immer abgewertet. „Der von Jaspers ausdrücklich abgelehnte ‚europäische Hochmut‘ ist bei seinem Projekt, alle Kulturen und Gesellschaften nach einem einzigen Rationalitätsmaßstab zu bewerten, offenkundig am Werk“47. Durch die Reduktion auf das Streben nach Transzendenz bleibt von der Vielfalt kultureller Formen und Details in diesem Konzept der Einheit nicht viel zurück. Diese Reduktion auf vermeintliche Urangelegenheiten des Menschseins universalisiert selbst eine eurozentrische Perspektive auf die Fragen und Antworten fremden Denkens. Das ist bemerkenswert, da es den Autoren ja gerade um eine Überwindung des Eurozentrismus ging. Das gelingt aber nicht, indem man die Entwicklung außereuropäischer Kulturen mit dem Abendland auf einen gemeinsamen Nenner bringt und so gerade die Eigentümlichkeiten der unterschiedlichen Kulturen negiert. Aus dem historischen Phänomen der Achsenzeit ist demgegenüber für die Kulturgeschichtsschreibung zu lernen, dass das „griechische Wunder“ nicht das einzige Wunder ist, welches sich in der Geschichte der Menschen ereignete und dass nicht nur der Okzident, sondern jede Kultur einen Sonderweg gegangen ist und geht. 2.3 Die Wurzeln der griechischen Antike sind schwarz (Bernal) Der dritte Versuch einer Neubestimmung des Verhältnisses von Griechen und Barbaren als Reaktion auf das Eurozentrismusproblem setzt nicht wie Jaspers an der Einmaligkeit, sondern eher wie Pichot an der Eigenständigkeit der griechischen Entwicklung an. In seinem Buch Eurocentrism wirft Samir Amin den westlichen Konstrukteuren der griechischen Geschichte vor, sie lösten „Ancient Greece from the very milieu in which it unfolded and developed – the Orient – in order to annex Hellenism to 47 Aleida Assmann, „Einheit und Vielfalt in der Geschichte“, a.a.O., S. 336.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
227
Europe arbitrarily“48. Damit weist Amin die Behauptung zurück, wonach die griechische Entwicklung von Philosophie unabhängig von ihrem orientalischen Kontext erklärt werden könne. Von daher wird nicht die weltgeschichtliche Bedeutung der griechischen Errungenschaft, sondern nur ihre Eigenständigkeit bestritten.49 Inwiefern sich darin das aktuelle politische Bemühen artikuliert, die afroasiatischen Kulturen in das „griechische Wunder“ mit einzubeziehen, wird besonders an den Arbeiten von Martin Bernal deutlich.50 Bernals berühmt-berüchtigtes Buch Black Athena. The Fabrication of Ancient Greece löste eine Debatte aus, die den Rahmen fachwissenschaftlicher Auseinandersetzungen und der Universitäten überschritt.51 Bernal will die lange Tradition anti-afrikanischer Klischees im Denken der westlichen Welt entlarven. Seine Kritiker sehen demgegenüber im Afrozentrismus eine politisch korrekte Legitimation dafür, Mythos und Geschichte zu verwechseln. Die Intensität des Streites um Bernals Thesen erklärt sich meines Erachtens dadurch, dass es nicht allein um die Rolle der „Barbaren“ bei der Entstehung der Philosophie in Griechenland geht, sondern auch um den Anteil der Vorfahren heutiger Black Americans an der Entwicklung der Zivilisation. In noch umfassenderen Sinne als der Streit um das „griechische Wunder“ überhaupt, ist die Debatte um Black Athena ein akademischer und politischer Diskurs zugleich. Bernal unterscheidet zwei Modelle zur Beschreibung der intellektuellen Entwicklung im antiken Griechenland: Zum ersten ein Ancient Model, 48 Samir Amin, Eurocentrism, übers. v. Russel Moore, London/ NewYork 1988, S. 90. 49 Ausdrücklich hebt Amin hervor, aus seiner Eurozentrismuskritik folge nicht „to reduce by one iota the importance of the ‘Greek miracle’ in the philosophy of nature, its spontaneous materialism.“ (Ebd., S. 93f.). 50 Unabhängig von Bernal haben auch Autoren wie George M. James oder Cheikh Anta Diop die Negation afrikanischer Einflüsse auf das griechische Wunder bemängelt. Vgl. Bernasconi, „Horror alieni“, a.a.O., S. 137. 51 Vgl. Martin Bernal, Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization. Vol. I The Fabrication of Ancient Greece 1785–1985, London 1987. Zu dem sehr engagiert geführten Streit um Black Athena vgl. John Peradotto und American Philological Association (Hg.), The Challenge of „Black Athena“, Buffalo 1989; Stanley M. Burstein, „The Challenge of Black Athena. An Interim Assessment”, in: Ancient History Bulletin, Vol. 8.1 (1994), S. 11–17; Mary R. Lefkowitz, Not out of Africa. How Afrocentrism became an Excuse to teach Myth as History, NewYork 1996; Mary R. Lefkowitz und Guy MacLean Rogers, Black Athena revisited, Chapel Hill 1996; Jacques Berlinerblau, Heresy in the University. The Black Athena Controversy and the Responsibilities of American Intellectuals, New Brunswick, N.J. 1999; sowie Martin Bernal und David Chioni Moore, Black Athena Writes Back. Martin Bernal Responds to His Critics Durham 2001. Die weniger akademischen Beiträge zu dieser Auseinandersetzung kann man z. B. den Besprechungen von Black Athena auf der Seite von www.amazon.com entnehmen.
228
Konversionen
welches verschiedene außergriechische Einflüsse auf die Entwicklung Griechenlands beschreibt, und zum anderen ein Aryan Model, in dem eine autochthone und rassisch reine Entwicklung Griechenlands behauptet wird. Obwohl sich Bernal über die Ambivalenz der antiken Autoren in ihrer Haltung zu Nicht-Griechen durchaus bewusst ist52, geht er davon aus, das Aryan Model sei erst von neuzeitlichen Gelehrten aus politischen und ideologischen Gründen entwickelt worden. „For 18th- and 19th-century Romantics and racists it was simply intolerable for Greece, which was seen not merely as the epitome of Europe but also as its pure childhood, to have been the result of the mixture of native Europeans and colonizing Africans and Semites. Therefore the Ancient Model had to be overthrown and replaced by a more acceptable.“53
Dieser These entsprechend analysiert Bernal in seiner Studie vor allem deutsche und britische Altertumsforscher des 19. Jahrhunderts mit der Absicht, deren politische Ziele zu entlarven. Über weite Strecken gelingt es ihm auch, zuverlässige Evidenzen für seine zentrale These zu erbringen, dass „far from being neutral and peripheral, the German academic discipline of Altertumswissenschaften, transposed into England as ‘Classics’, has been a central element of Northern European culture in the nineteenth and twentieth centuries and has performed a key political function: fostering the notion that Europe possesses a categorical superiority over all other continents, a claim that has been used to justify imperialism and neo-colonialism as missions civilisatrices.“54 Aber obwohl diese Deutung letztlich sicher zutreffend ist, berührt sie doch die These einer autonomen griechischen Entwicklung nicht im Kern. Dies stellt Bernal in einer Reaktion auf die massiven Einwände gegen Black Athena selbst einschränkend fest: „It is important here to stress that, even if we accept the idea that the Aryan Model was conceived amidst the sins and errors of racialism and anti-Semitism, it does not follow that all of its assumptions have to be rejected“55. Die Behauptung, die Griechen hätten ihre Philosophie und Wissenschaft im Wesentlichen aus dem Orient und aus Afrika übernommen, erfordert den Nachweis über konkretes Wissen oder Methoden, die sie en détail übernommen und nicht neu kontextuali52 So attestiert Bernal Autoren wie Thukydides oder dem Orator Isokrates einen „passionate Greek chauvinism“ (Black Athena. I, a.a.O., S. 100). 53 Ebd., S. 2. 54 Martin Bernal, „Greece: Aryan or Mediterranean? Two Contending Historigraphical Models“, in: Silvia Federici (Hg.), Enduring Western Civilization. The Construction of the Concept of Western Civilization and Its ‘Others’. Westport 1995, S. 3f. 55 Ebd., S. 10.
Heit, Die Griechen, die Barbaren und Wir
229
siert oder weiterentwickelt haben. Auf diese Frage liefert Bernal keine befriedigende Antwort, da er sich insbesondere an Altertumsforschern des 19. Jahrhunderts abarbeitet. Durch die Konzentration auf eine ideologiekritische Analyse politischer Präferenzen von Historikern liefert Bernal nicht einmal Kriterien, um zwischen dem Aryan und dem Ancient Model zu entscheiden. Dazu wäre nämlich in einem größeren Maße eine Untersuchung nicht nur der neuzeitlichen Philosophiegeschichtsschreibung, sondern auch des antiken historischen Materials nötig. Dieser Aufgabe kommt Bernal nur unzureichend nach. An den Stellen, wo er äußere Einflüsse auf die griechische Kultur belegt, verhandelt er eine relativ frühe, zumindest vor-wissenschaftliche Periode der griechischen Geschichte. „Black Athena is focused on Greek cultural borrowings from Egypt and the Levant in the 2nd millennium BC or, to be more precise, in the thousand years from 2100 to 1100 BC.“56 Darüber, dass es zu dieser Zeit bedeutende Einflüsse auf die Entwicklung der griechischen Religion und Mythologie gegeben hat, besteht breiter Konsens.57 Aber die Entstehung von Philosophie und Wissenschaft wird üblicherweise 500 Jahre später datiert, nachdem sich ein kultureller Kollaps ereignete, der Zusammenbruch der Mykenischen Palastkultur, dem die sogenannten Dark Ages folgten. Selbst wenn Bernal zudem Belege für afroasiatische Einflüsse auf die Entstehung einer wissenschaftlichen Weltauffassung in Griechenland erbrächte, müsste dies der Bedeutung der griechischen Leistung wenig Abbruch tun, wie an den Argumentationen Pichots und anderer zu sehen ist.58 Anstatt aber die kulturelle Transformation in Griechenland grundlegend neu zu untersuchen, ist auch Bernal offenbar aufgrund seiner politischen Anliegen nicht bereit, sich von der Orientierung auf den identitätsstiftenden Ursprung der modernen Zivilisation in der griechischen Antike zu lösen. Indem er lediglich einen Anspruch der afroasiatischen Kulturen auf das griechische Erbe geltend macht, führt er mit dem Umweg über die Antike eine Auseinandersetzung um das aktuelle Verhältnis zwischen „Uns und den Anderen“. Da „Wir“ 56 Martin Bernal, Black Athena. I, a.a.O., S. 17. 57 Vor allem hinsichtlich der antiken kosmogonischen Mythen hat Walter Burkert den Stand der Forschung zusammengefasst: „There may be agreement by now that there is a family of texts from the Near East, from Israel, and from Greece which should be considered together, since they are connected not only by similarity of structure and motifs but also, no doubt, by mutual influence“ Walter Burkert, „The Logic of Cosmogony“, in: Richard Buxton (Hg.), From Myth to Reason? Studies in the Development of Greek Thought, Oxford 1999, S. 89. 58 Dass Bernal die Kontinuität des Ancient Model selbst bei einer Reihe deutscher Gelehrter des 19. Jh. entgangen ist, wurde bereits bemerkt. Vgl. Stanley M. Burstein, „The Challenge of Black Athena“, a.a.O., S. 12.
230
Konversionen
aber nur über die fragwürdigen Ursprungs- und Kontinuitätsbehauptungen mit der Antike verbunden sind, läuft diese Auseinandersetzung leicht ins Leere. Resümee Bei der Bestimmung und Bewertung des Verhältnisses von Griechen und Barbaren fällt eine zunehmende Verschärfung auf, die besonders deutlich an den gegensätzlichen Haltungen von Herodot und Thukydides ersichtlich wird. Diese Verschärfung kann als Wandel von einem griechischen Ethnozentrismus hin zu einem eurozentrischen Anspruch auf universale Geltung der westlichen Kultur verstanden werden. Bei den Kritikern der traditionellen eurozentrischen Legitimationsideologie steht ebenso wie bei ihren Verfechtern die Frage nach dem Wesen „unserer“ Identität zur Debatte. Während Pichot durch eine sanfte Modifikation der Auffassung vom „griechischen Wunder“ den Hegemonieanspruch der griechischabendländischen Kultur rettet, wird dieser von Jaspers und Bernal aufgegeben. Jaspers tut dies jedoch mit Hilfe eines eurozentrischen Menschenbildes, um verschiedenen sogenannten Hochkulturen eine gleichberechtigte weltgeschichtliche Rolle nach dem zweiten Weltkrieg einzuräumen. Bernal hingegen will einen berechtigten Anspruch der Afroasiaten am griechischen Erbteil verteidigen. Die Auseinandersetzung um die kulturelle Transformation im antiken Griechenland erweist sich so in allen drei Varianten nicht nur als Streit um die richtige Deutung des überlieferten Materials, sondern zugleich immer auch als Diskurs um die kulturelle Identität des Abendlandes. In diesem Selbstvergewisserungsdiskurs figurieren die Griechen sowohl wie auch die Barbaren als soziokulturelle Konstruktionen, die heute einen Beitrag zur Bestimmung eines westlichabendländischen Selbstverständnisses leisten sollen. Um dafür einen Beitrag zu leisten, wäre es sicher besser, ausdrücklich über die westliche Identität zu streiten, anstatt dies mit dem Umweg über die Antike zu tun. Wenn man sich aber mit Blick auf das Eigene und das Fremde unbedingt in die Tradition der Antike stellen will, dann scheint mir die Position Herodots ungleich zukunftsweisender zu sein als die von Thukydides, Pichot, Jaspers oder Bernal.
Depp im globalen Dorf? Lokales Wissen und das Wissen der Wissenschaft Leo Kreutzer Ein Wissen über lokale Kontexte von Sachverhalten war, als Privileg der jeweils Einheimischen, ursprünglich durch eine enge Verbindung von Kontextualität und Indigenität gekennzeichnet. Europäische Forschungsreisende haben, außerhalb Europas eines lokalen Wissens sich bemächtigend, dessen traditionale Bindung an Indigenität aufgelöst. In der Regel haben sie es dabei zugleich dekontextualisiert und haben damit einem der grundlegenden Prinzipien der neuzeitlichen Wissenschaft entsprochen, demzufolge die Produktion wissenschaftlichen Wissens auf der Umwandlung lokal vernetzter Sachverhalte in dekontextualisierte Daten beruhe. Wie vor allem aufgrund dieses Prinzips die neuzeitliche Wissenschaft ein lokales Wissen deklassiert habe, wird im ersten Teil des Vortrags erörtert. In einem zweiten Teil wird am Beispiel Georg Forsters und seines Schülers Alexander von Humboldt gezeigt, wie in deren weltumspannender Forschungspraxis durch das Festhalten an einer Kontextualität allen Wissens einerseits und, auf der anderen Seite, durch eine Universalisierung lokalen Wissens eine dialektische Spannung zwischen Lokalität und Globalität entstehen konnte. In its origins, a knowledge of local contexts of states of affairs was, as a privilege of the concerned native persons, made up by the connection between contextuality and indigenity. European scientific travelers have seized of local knowledge, thus separating its traditional connection with indigenity. In most cases they decontextualized local knowledge corresponding to a modern science that produced scientific knowledge by transforming locally situated knowledge into decontextualized data and then devaluating local knowledge. In a second part, the article shows how the scientific practices of Georg Forster and Alexander von Humboldt adhered to a contextuality of all knowledge on the one hand, and produced, on the other hand, a dialectical tension between localization and globalization.
Begriffe wie Weltpolitik, Welthandel, Weltkultur, Weltliteratur wurden mehr oder weniger früh benötigt. Durch ihr Gebräuchlichwerden haben sie angezeigt, wie die entsprechenden Sachverhalte immer selbstverständlicher in globalen Zusammenhängen gesehen wurden. Für eines der einflussreichsten Phänomene der neuzeitlichen Geschichte, welche ihrerseits unaufhaltsam zur Weltgeschichte wurde, hat jedoch auf die Bildung eines Kompositums mit Welt verzichtet werden können. Die Wissenschaft ist universal: Wird irgendwo etwas wissenschaftlich bewiesen, so
232
Konversionen
hat das überall zu gelten. Universal ist die Wissenschaft inzwischen auch insofern, als die Orte, an denen ihr Wissen produziert wird, heute weltweit verbreitet sind. Aber die Orte wissenschaftlicher Forschung, Labors und Bibliotheken, sind in ihren jeweiligen Lebenswelten allenthalben exterritorial. Sie sind exterritorial nicht nur in dem Sinne, dass sie in Kommunikations- und Interaktionsnetze eingebunden sind, die sie aus lokalen Strukturen heraushalten. Exterritorial sind diese Orte vor allem in dem Sinne, dass dort ein Wissen produziert wird, welches sich lokaler Kontexte entledigt hat. Um die Rehabilitierung eines durch den Siegeszug der neuzeitlichen Wissenschaft deklassierten lokalen Wissens findet seit zwei Jahrzehnten eine lebhafte Auseinandersetzung statt. Diese „local knowledge“-Debatte hat Ulrich Lölke, Autor einer Studie über afrikanische Philosophie als „Ort der Dekolonisation“, in einem in der Schriftenreihe des Hamburger Instituts für Afrika-Kunde erschienenen Forschungsbericht Zur Lokalität von Wissen einer gründlichen Revision unterzogen.1 Es gehe den an der Debatte Beteiligten, so Lölke, vor allem um eine stichhaltige Definition, was „Lokalität“ von Wissen bedeute. Dass diese Frage in aller Regel durch die Abgrenzung von einem wissenschaftlichen Wissen beantwortet werde, habe dazu geführt, dass lokales Wissen, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, als dessen Gegenteil definiert werde. Und weil das Interesse an einer Aufwertung lokalen Wissens sich vor allem im Rahmen postkolonialer und entwicklungspolitischer Diskurse artikuliere, werde dieses zudem gern bei den „anderen“ gesucht: in nach wie vor gern als „indigen“ bezeichneten Gesellschaften. Die von Lölke diskutierten Bemühungen um eine Klärung dessen, was „Lokalität“ von Wissen ausmache, partizipieren damit an dem Dilemma einer Dichotomisierung des Eigenen und des Fremden entlang einer Demarkationslinie zwischen modernen und traditionalen Lebensverhältnissen. Eine Lösung des Problems scheint deshalb nicht darin bestehen zu können, dass man auf diesem Wege nur hartnäckig genug weiter nach der richtigen Definition eines lokalen Wissens sucht. Aufschlüsse über dessen Besonderheit lassen sich kaum von Zuschreibungen erhoffen, die im Rahmen von Konstellationen vorgenommen werden, wie sie gegenwärtig gegeben sind. Es verhält sich nämlich so, dass eine Konfrontation lokalen und wissenschaftlichen Wissens nicht erst durch Hantierungen eines systematisierenden Denkens zustande kommt. In der Sache hat sie eine geschichtliche Dimension. Diese besteht darin, dass die neuzeitliche Wis-
1
Ulrich Lölke, Zur Lokalität von Wissen. Die Kritik der local-knowledge-Debatte in Anthropologie und internationaler Zusammenarbeit, Institut für Afrika-Kunde, Hamburg 2002 (Focus Afrika. IAK-Diskussionsbeiträge 21).
Kreutzer, Depp im globalen Dorf?
233
senschaft sich in einem langwierigen historischen Prozess gegen eine allenthalben als überlebenswichtig in hoher Wertschätzung stehende „Lokalität“ von Wissen durchzusetzen hatte. Dieser Vorgang hat beide Wissenstypen in ihrer weiteren Entwicklung geprägt. Das wird völlig außer Acht gelassen, wenn man durch die Verkehrung von Merkmalen eines heutigen wissenschaftlichen Wissens in ihr Gegenteil eine Definition von lokalem Wissen zu gewinnen sucht, die den gewünschten Charme zu entfalten verspricht. In historischer Perspektive wäre stattdessen zu fragen, worin die Deklassierung einer „Lokalität“ von Wissen durch die Entstehung und Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft bestanden habe. Die Durchsetzung der neuzeitlichen Wissenschaft war vor allem mit der Entwertung eines – allemal lokalen – Augenscheins verbunden, Voraussetzung einer systematischen Dekontextualisierung von Wissen. Aber gegen die Ausschaltung sinnlicher Wahrnehmung und ästhetischer Sensibilität hat sich in einer Forschung mit neuzeitlichwissenschaftlichem Anspruch auch Widerstand geregt. So führt die Frage nach der historischen Dimension einer Konfrontation lokalen und wissenschaftlichen Wissens in der Geschichte der neuzeitlichen Wissenschaft selbst auf die Spur von Alternativen zu einer Verabsolutierung methodischer Standards, die eine Dekontextualisierung von Wissen zu gewährleisten haben. Historische Ansätze einer anderen Wissenschaft bestanden in Entwürfen einer Dialektik von kontextuell lokalem und dekontextualisiert wissenschaftlichem Wissen, einer dialektischen Spannung zwischen ihnen, wie sie heute von einer Kritik an dichotomisierenden Denkmodellen postuliert wird. Das Wissen über lokale Kontexte ist traditionell Sache der jeweils Einheimischen. So ist ein lokales Wissen ursprünglich überall durch eine enge Verbindung von Kontextualität und Indigenität gekennzeichnet gewesen. Aber diese Verbindung hat sich als auflösbar erwiesen. Europäische Forschungsreisende haben, indem sie sich außerhalb Europas eines lokalen Wissens bemächtigten, dessen traditionale Bindung an Indigenität aufgehoben. In der Regel haben sie dabei zugleich seine Bindung an Kontextualität zerstört. Aber wo europäische Forschungsreisende, selten genug, um ein dialektisches Vorgehen bei der Erkundung von Lokalverhältnissen bemüht waren, da haben sie an der Kontextualität lokaler Bewandtnisse festgehalten. Durch das Festhalten an Kontextualität einerseits und, auf der anderen Seite, durch deren Trennung von der Indigenität allen traditional lokalen Wissens konnte eine dialektische Spannung zwischen Lokalität und Globalität entstehen. Weil ihr Vorgehen damit ebenfalls universalisierend war, partizipierten diese alternativen Modelle der Verwissenschaftlichung eines außereuropäischen Lokalen am Projekt der europäischen Aufklärung. In deren Globa-
234
Konversionen
lisierungsprogramm gewann freilich ein undialektisch dekontextualisierender Typus von Wissenschaft die Oberhand. Besonders eindrucksvolle historische Entwürfe einer dialektischen Spannung zwischen Lokalität und Globalität stammen von zwei deutschen Naturforschern und Weltreisenden des späteren 18. und frühen 19. Jahrhunderts, Georg Forster und Alexander von Humboldt. Von ihnen wird im zweiten Teil dieses Versuchs die Rede sein. Als europäische Wissenschaftler die Bewandtnisse außereuropäischer Regionen erkundend, haben sie der methodischen Trennung von Forschungssubjekt und Forschungsobjekt entsprochen und haben damit einer grundlegenden Anforderung an neuzeitliche Wissenschaft Genüge getan. Gleichzeitig haben sie jedoch demonstriert, dass eine Trennung von Subjekt und Objekt in wissenschaftlicher Forschung methodisch nicht notwendig die Umwandlung lokal vernetzter Sachverhalte in dekontextualisierte Daten zur Konsequenz habe. Sie haben dadurch den Nachweis geführt, dass eine Verwissenschaftlichung lokalen Wissens nicht in seiner Dekontextualisierung bestehen müsse. 1. Die Prinzipien wissenschaftlicher Verfahrensweisen, die sich seit ihrer Entstehung zu Beginn der europäischen Neuzeit weltweit durchgesetzt haben, sind darauf ausgerichtet, Forschungsgegenstände nie so wahrzunehmen, wie sie einer unmittelbaren Erfahrung gegeben sind. Was immer Gegenstand wissenschaftlicher Bearbeitung werden soll, wird vielmehr durch experimentelle Anordnungen, durch Messgeräte, durch methodische Manöver, durch bestimmte Erhebungsverfahren, durch terminologisch-fachsprachliche Systeme aus seinen unmittelbar wahrgenommenen Kontexten herausgelöst. Methodisch erzeugte und mathematisch formatierte bzw. fachsprachlich aufbereitete Daten treten in der neuzeitlichen Wissenschaft an die Stelle sinnlicher Wahrnehmung und subjektiver Erfahrung. Der Anspruch auf universale Geltung hängt in der neuzeitlichen Wissenschaft eng mit einem Streben nach Exaktheit zusammen. Umgangssprachlich gleichbedeutend mit Genauigkeit, ist Exaktheit in der neuzeitlichen Wissenschaft etwas völlig anderes. Genau arbeiten sollte und kann man in allen wissenschaftlichen Disziplinen. Was aber in der neuzeitlichen Wissenschaft unter Exaktheit verstanden wird, ist erreichbar allein durch quantifizierende und mathematikgestützte Methoden. Die Entwicklung solcher Methoden ist in erster Linie naturwissenschaftlichen Disziplinen möglich. Diese produzieren damit sogenannte Naturgesetze.
Kreutzer, Depp im globalen Dorf?
235
Als solche bezeichnet man die Wiederholbarkeit planvoll provozierter Reaktionen von Naturkräften, die zu diesem Zweck aus ihren Wirkungszusammenhängen herausgelöst werden. Im Labor erfolgreich durchgespielt, stellt die Vorhersagbarkeit exakt berechneter Abläufe die Grundlage von im Prinzip überall zuverlässig funktionierenden Technologien dar. So bildet das, was wir Naturgesetze nennen, historisch gesehen die Voraussetzung der Globalisierung des europäischen Sonderwegs einer Industrie-Zivilisation. Dieser Prozess kann heute als abgeschlossen gelten. Die methodische Effizienz und ökonomisch-technologische Verwertbarkeit der „exakt“ vorgehenden Wissenschaften stellt nun aber eine Herausforderung für alle anderen Disziplinen dar. Das hat dazu geführt, dass die neuzeitliche Wissenschaft in ihrer Gesamtheit einem lokal verankerten Wissen den Rücken gekehrt hat. Denn aufgrund seiner Prägung durch Lokalverhältnisse natürlicher oder soziokultureller Art weist ein lokales Wissen ein hohes Maß an Unschärferelationen auf. Lokales Wissen ist bei seiner Überlieferung zudem an einen Sprachgebrauch gebunden, der kontextuell bedingte Besonderheiten zum Ausdruck bringt und sie nicht durch universalisierte Fachsprachen unkenntlich macht. Tatsächlich kann man sagen, dass die neuzeitliche Wissenschaft ihre Gegenstände methodisch zum Verstummen bringt. Diesen Vorgang hat Immanuel Kant in einer Vorrede seiner Kritik der reinen Vernunft durch einen prägnanten Vergleich gekennzeichnet. Kant wirft dort die Frage auf, wie die menschliche Vernunft von einem Erkenntnisstreben, das er als „Herumtappen“ abtut, zu gesicherter Wissenschaftlichkeit gelangen könne. Um diese Frage zu beantworten, verallgemeinert er das von Isaac Newton entwickelte experimentelle Verfahren zu einer Handlungsmaxime jeglicher naturwissenschaftlicher Forschung: Die menschliche Vernunft, so Kant, müsse sich von der Natur durchaus belehren lassen; aber sie dürfe das nicht länger mit der Einstellung eines Schülers tun, der sich vom Lehrer alles vorsagen lasse. Von der Natur belehren lassen solle sich die Naturforschung vielmehr nach Art eines „bestallten Richters“, der von ihm ausgewählte Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt.2 Kant hat damit am Ausgang des 18. Jahrhunderts das Prinzip beschrieben, nach dem inzwischen nicht nur in den Naturwissenschaften verfahren wird. Gegenstände wissenschaftlich zu erforschen, besteht nicht darin zu erkunden, was sie uns sagen können. Was sie uns vielleicht sagen wollen, hat den Wissenschaftler nicht zu interessieren. Vielmehr hat er 2
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, Hamburg 1956, (Philosophische Bibliothek Band 37a), S. 14ff. Die Zitate dort S. 14 und S. 18.
236
Konversionen
seine Forschungstätigkeit so zu organisieren, dass dabei Antworten auf solche Fragen produziert werden, die er vorab festgelegt hat. Die er unter dem Gesichtspunkt festgelegt hat, dass er mit der Auswertung und Veröffentlichung der Ergebnisse dieses Vorgangs weltweit Anschluss an die Spitzengruppe seines Fachs oder seiner Fachrichtung finden könne. Dass wissenschaftliche Forschung den Anspruch auf universale Geltung realisiert, indem sie an ihren Gegenständen alle Besonderheiten unkenntlich macht, lässt sich auch so beschreiben: Von den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung werden deren Gegenstände nicht repräsentiert. Das hat nichts mit einem Unvermögen zu tun. Vielmehr liegt es gar nicht in der Absicht neuzeitlicher Wissenschaft, ihre Gegenstände zu repräsentieren. Diese werden vielmehr zu bestimmten Zwecken durch dafür geeignete methodische Manöver re-konstruiert. Zur weiteren Erhellung dieser methodischen Manöver möchte ich noch ein wenig bei dem Begriff der Repräsentation verweilen. Mit diesem Begriff wird ja bezeichnet, dass jemand durch jemanden vertreten, dass etwas durch etwas anderes dargestellt wird. Vor allem dort, wo etwas durch etwas anderes dargestellt wird, ist Repräsentation ein wesentliches Merkmal sprachlicher Prozesse. Und in dieser Hinsicht beziehe ich mich hier auf den Begriff Repräsentation: Die Gegenstände, welche den Verfahrensweisen wissenschaftlicher Forschung unterworfen werden, werden durch deren Ergebnisse nicht in ihrem eigenen Sinne dargestellt. So wird die Natur durch die neuzeitliche Naturwissenschaft nicht in ihrem eigenen, sie wird nicht in einem je lokalen Sinne dargestellt. Unser Planet, so hat Martin Walser diesen in seinem Essay Ich vertraue. Querfeldein charakterisiert, bestehe „aus lauter lokalen Bemessenheiten“, und die „überall anders ausfallende Natur“ sei „überall eine anrufbare, immer noch erlebbare Größe“. Das mache Natur zum „Inbegriff des Lokalen“ im Sinne eines „überall Hiesigen“.3 Dass die neuzeitliche Naturwissenschaft das „überall Hiesige“ der Natur methodisch eliminiert, hat sie zur treibenden Kraft der Deklassierung einer „Lokalität“ von Wissen gemacht, wie sie freilich bereits durch die Expansion monotheistischer Religionen eingeleitet worden war. Eine Kritik am methodisch begründeten Unvermögen der Wissenschaft, ihre Gegenstände in deren eigenem Sinne darzustellen, regt sich seit einiger Zeit in bestimmten Kulturwissenschaften. So wird der Ethnologie und Kulturanthropologie vorgeworfen, mit ihren Verfahrensweisen nicht in der Lage gewesen zu sein, die Andersheit fremder Kulturen zu repräsentieren. Bei Ethnologie und Kulturanthropologie handelt es 3
Martin Walser, Ich vertraue. Querfeldein, Reden und Aufsätze, Frankfurt a. M. 2000, S. 18f.
Kreutzer, Depp im globalen Dorf?
237
sich um Disziplinen, mit deren Hilfe Europa sich ein Bild vom ‚Rest der Welt‘ gemacht hat. Deshalb hat man gemeint, ihr Unvermögen, Andersheit wahrzunehmen, auf einen für sie charakteristischen Eurozentrismus zurückführen zu können. Aber handelt es sich dabei nicht eher um ein besonders aufschlussreiches Beispiel für das Unvermögen jeglicher wissenschaftlicher Forschung, ihre Gegenstände zu repräsentieren? Der Ethnologie ist mit Recht vorgehalten worden, sie konstruiere das Fremde als ein dem Eigenen Entgegengesetztes. Aber indem sie das tut, genügt ethnologische Forschung nur den methodischen Anforderungen einer Entfremdung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt, die in neuzeitlicher Wissenschaft an alle Disziplinen gestellt werden. So ist es weniger ein fachspezifischer Eurozentrismus als diese die neuzeitliche Wissenschaft begründende Trennung und Entgegensetzung von erkennendem Subjekt und Erkenntnisobjekt, was Ethnologie und Kulturanthropologie daran gehindert hat, die Andersheit fremder Kulturen zu repräsentieren. Eine Veränderung ließe sich mithin auch nicht durch gute Vorsätze bewerkstelligen, sondern nur dadurch, dass das Erkenntnisobjekt nicht länger methodisch zum Verstummen gebracht wird. Genau darauf scheint die sogenannte Writing-Culture-Debatte in der Ethnologie abzuzielen. Ihr liegt nämlich die Vorstellung zugrunde, bei Kulturen handele es sich jeweils um eine Art Text, also darum, dass sie für sich zu sprechen vermögen. Das Konzept einer writing culture, die Vorstellung von „Kultur als Text“, verfolgt mithin keine andere Absicht als die, das „überall Hiesige“ von Kulturen nicht weiter zum Verstummen zu bringen, sondern es in seinem eigenen Sinne zu repräsentieren, indem das ihm eigene Ausdrucksvermögen erkundet, der ihm eigene Ausdruck entziffert wird. Auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene wäre es nur ein kleiner Schritt, der vom Konzept einer writing culture zu dem einer writing nature führen würde. Dieser Schritt bestünde darin, auch die Natur als Text wahrzunehmen und das, was sie uns als ein „überall Hiesiges“ zu sagen hat, nicht länger zum Verstummen zu bringen. Über das ethnologische Konzept „Kultur als Text“ ist eine internationale Debatte mit breiter Ausstrahlung in andere kulturwissenschaftliche Disziplinen in vollem Gange. Es ist aber wenig wahrscheinlich, dass ein Konzept „Natur als Text“ gegenwärtig eine ähnliche Resonanz finden könnte. Denn das würde ja bedeuten, dass wir uns der Natur wieder mehr in der Rolle eines Schülers als in der eines Ermittlungsrichters nähern würden. Weshalb ein solcher Rollenwechsel auf enorme Widerstände stoßen würde, braucht nicht näher ausgeführt zu werden.
238
Konversionen
2. Ich komme stattdessen, wie angekündigt, zum zweiten Teil meines Versuchs und möchte im Folgenden darlegen, wie Alexander von Humboldt und Georg Forster das Verhältnis zwischen einer Lokalität und einer Globalität von Wissen als dialektische Spannung entworfen haben, obwohl auch sie, als europäische Forscher außereuropäische Bewandtnisse erkundend, der Forderung neuzeitlicher Wissenschaft nach einer Trennung von Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt Genüge getan haben. Bei Forster, aber bewusster und entschiedener noch bei Alexander von Humboldt, kann es zur Entfaltung einer Dialektik von Lokalität und Globalität kommen, weil sie an sinnlicher Erfahrung und (natur-)ästhetischer Sensibilität als für ein naturwissenschaftliches Wissen unverzichtbaren Voraussetzungen festhalten. Was zunächst Humboldt betrifft, so ist der Grund dafür nicht darin zu sehen, dass seine vielfältigen wissenschaftlichen Interessen letztlich seinem Projekt einer „physischen Geographie“ zugearbeitet haben, wobei subjektive und sinnliche Erfahrung sich weniger störend auswirken konnten als in mathematikgestützt „exakten“ Disziplinen. Es verhält sich genau umgekehrt: Alexander von Humboldt verschreibt sich dem Projekt einer „physischen Geographie“, weil er an einem lokalen Augenschein als Medium naturwissenschaftlicher Forschung festhalten will. Dabei stützt er sich auch auf einen ausgeprägten Sinn für das, was er den „Zauber“ der Natur nennt. Das Medium, mit dem Humboldt seine wissenschaftlichen Intentionen am besten glaubt vermitteln zu können, nennt er „Naturgemälde“. Dabei handelt es sich um eine von ihm entwickelte Wissenschaftsprosa, mit der er Lokalverhältnisse darstellen kann; mit der er sie so darstellen kann, dass ihr Besonderes dadurch repräsentiert, aber zugleich im Lichte eines „Naturganzen“ gesehen wird. Mit seinen Ansichten der Natur, einer 1807 erschienenen Sammlung von Aufsätzen, gewährte er einem größeren deutschsprachigen Publikum exemplarische Einblicke in den Ertrag seiner SüdamerikaReise. Im Vorwort äußert Humboldt sich sowohl über seine Rolle als Erkenntnissubjekt als auch über sein Programm, lokale Räume so zu erfassen, dass dadurch zugleich sie und ein Allgemeines repräsentiert werden. Humboldt beschreibt in diesem Vorwort sein Forschungsprogramm wie folgt: „Überblick der Natur im großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Menschen gewährt: sind die Zwecke, nach denen ich strebe. Jeder Aufsatz sollte ein in sich ge-
Kreutzer, Depp im globalen Dorf?
239
schlossenes Ganzes ausmachen, in allen sollte eine und dieselbe Tendenz sich gleichmäßig aussprechen.“4
Mit den wissenschaftsprogrammatischen Aufsätzen seiner „Ansichten der Natur“ gibt Humboldt „Naturgemälde“ von Steppen und Wüsten, von den Wasserfällen des Orinoco, vom Bau und der „Wirkungsart“ von Vulkanen, vom peruanischen Hochland, aber auch ein akustisches Gemälde vom nächtlichen Tierleben im Urwald. Den Autor dieser Gemälde sehen wir immer wieder in unbekanntes Gelände vordringen und sogleich damit beginnen, die ihn jeweils umgebende Natur wie einen Text zu lesen: writing nature. Er nimmt charakteristische Zeichen wahr, die sich wie zu unverwechselbaren Texten zusammenfügen. Geologisches, Mineralogisches, Meteorologisches, Pflanzen- und Tierwelt, alles wird detailliert erfasst, aber nie absehend von lokalen Bedingungen. Diese verbinden alles mit allem zu „typischen“ Naturszenerien und Lebensräumen, verweisen aber zugleich darauf, wie die Natur „im großen“ vorgehe. Alexander von Humboldt ist der umfassend alphabetisierte Leser des „überall Hiesigen“ einer „Natur als Text“. Zum Ausdrucksvermögen der Natur gehören für ihn auch Zahlenverhältnisse: Positions-, Höhen- und Luftdruckangaben, Temperaturschwankungen, Lichtbrechung usw. Humboldt misst oder lässt messen, was es zu messen gibt. Das hat ihm den Ruf eingetragen, eine Figur des Übergangs von einer eher spekulativen Naturforschung zu einer „exakten“ Naturwissenschaft zu sein. Aber es besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen Methoden, die Natur zum Verstummen zu bringen, und Humboldts Projekt, die Natur wie einen Text zu lesen und sie in ihrem je lokalen Sinne zu repräsentieren. Einer Universalisierung lokalen Wissens ist Humboldt auch in geschichtlicher Hinsicht nachgegangen. In seinen letzten Lebensjahren hat er in einem vierbändigen Werk mit dem Titel Kosmos dargestellt, was er „Geschichte der physischen Weltanschauung“ nennt. Die allmähliche Erweiterung eines Wissens über die Natur beschreibt Humboldt nicht als Fortschritte bei der Erkenntnis sogenannter Naturgesetze. Mit der geschichtlichen Darstellung seines Spätwerks Kosmos möchte er etwas ganz anderes zeigen. Er möchte darlegen, wie ein Naturwissen, zunächst auf lokale Räume bezogen und begrenzt, sich allmählich verbreitete, wie es verallgemeinert, wie es globalisiert wurde. Durch diesen Prozess sei dem Menschen seine Wohnstätte, die Erde, mitsamt den zugehörigen Himmelsräumen überblickbar und vertraut geworden.
4
Alexander von Humboldt, Ansichten der Natur (Die andere Bibliothek, hg. v. Hans Magnus Enzensberger), Nördlingen 1986, S. 7.
240
Konversionen
Der Mensch kann sich damit auf der Erde heimisch fühlen: nicht als Depp eines „globalen Dorfes“, sondern durch ein Weltbürgertum „überall Hiesiger“. Freilich hat Humboldt, wie hätte es auch anders sein können, aus europäischer Perspektive eine Universalisierung lokalen Naturwissens in seinem Kosmos beschrieben und mit seiner eigenen Forschungsarbeit betrieben. Im Projekt der europäischen Aufklärung nimmt er, was das Verhältnis von lokalem Wissen und universalisierender Wissenschaft betrifft, eine ähnliche Position ein wie sein Lehrer Georg Forster. Dieser hat als Teilnehmer der zweiten Weltumsegelung von James Cook die in Europa noch weitgehend unbekannte Südsee kennengelernt. Mit Georg Forster, so der fünfzehn Jahre jüngere Alexander von Humboldt, habe eine „neue Aera wissenschaftlicher Reisen“ begonnen. Deren Zweck sei die „vergleichende Völker- und Länderkunde“, also die Verallgemeinerung eines auf lokale Besonderheiten begrenzten Wissens. „Mit einem feinen ästhetischen Gefühle begabt“, so würdigt Humboldt im Kosmos seinen „berühmten Lehrer und Freund“, „in sich bewahrend die lebensfrischen Bilder, welche auf Tahiti und anderen, damals glücklicheren Eilanden der Südsee seine Phantasie [...] erfüllt hatten: schilderte Georg Forster zuerst mit Anmuth die wechselnden Vegetationsstufen, die klimatischen Verhältnisse, die Nahrungsstoffe in Beziehung auf die Gesittung der Menschen nach Verschiedenheit ihrer ursprünglichen Wohnsitze und ihrer Abstammung. Alles, was der Ansicht einer exotischen Natur Wahrheit, Individualität und Anschaulichkeit gewähren kann, findet sich in seinen Werken vereint.“5 Aber Humboldt verdankt Forster nicht nur entscheidende Anregungen für die „Wahrheit, Individualität und Anschaulichkeit“ dessen, was er selbst „Naturgemälde“ nennen wird. Er hat von Forster nicht nur das Schreiben, er hat von ihm auch das Reisen gelernt. 1790 durfte er als 21-Jähriger Forster auf dessen mehrmonatiger Reise den Rhein abwärts bis zur Mündung und weiter nach England begleiten. Von dieser Reise brachte Forster ein Büchlein mit, das für ihn Anlass wurde, seine Blicke auf Indien zu richten und von einer Forschungsreise dorthin zu träumen, zu der es dann aber nicht gekommen ist. In London hatte Forster die soeben erschienene englische Übersetzung eines Sanskrit-Dramas entdeckt. Er war sich bewusst, dass in England ein literarischer Text aus Indien schon deshalb auf einiges Interesse stoßen konnte, weil das Land damit begonnen hatte, auch dort seine Kolonialherrschaft zu errichten. Einem Lesepublikum in Deutschland, wo solche 5
Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Zweiter Band, Stuttgart/ Tübingen 1847, S. 72.
Kreutzer, Depp im globalen Dorf?
241
Voraussetzungen nicht bestanden, musste man ein altindisches Theaterstück auf andere Weise nahe bringen. Als Forster das Drama Sakontala von Kalidasa nach seiner Rückkehr aus England ins Deutsche übersetzte, stellte er deshalb grundsätzliche Überlegungen über die Globalisierbarkeit eines lokalen Wissens an. Mit seinem Aufsatz Über lokale und allgemeine Bildung wollte er ein von ihm geplantes Buch über Indien einleiten.6 Der Essay beginnt mit der Feststellung einer globalen Hiesigkeit: „Was der Mensch werden konnte, das ist er überall nach Maasgabe der Lokalverhältnisse geworden.“ Deshalb sei der Mensch „nirgends Alles, aber überall etwas verschiedenes geworden“. Der „Traum der allgemeinen Gleichförmigkeit“ ist für Forster unverständlich, hat er doch auf seiner Weltreise mit eigenen Augen gesehen, was er die „schöne Erscheinung des Mannichfaltigen“ nennt. Diese kann dem Forscher Aufschluss darüber geben, wie sie sich zu den „Schicksalen und Bestimmungen“ der menschlichen Gattung, als einer Einheit, verhält. Wie Alexander von Humboldt im Kosmos, so stellt auch Georg Forster in seinem Essay Über lokale und allgemeine Bildung die Verallgemeinerung eines von Haus aus lokalen Wissens als geschichtlichen Prozess dar. Und wie Humboldt tut er das aus einer europäischen Perspektive. „Politische Verkettungen“ besonderer Art haben in den Europäern „Leidenschaften“ wie „Habsucht, Ehrgeiz und Herrschgier“ bis zu einem „Grade der Verwegenheit“ geschärft, dem „keine Unternehmung zu groß, keine Anstrengung zu weit getrieben schien“. Das Wissen der Europäer habe „beinah nichts Ursprüngliches und Eigenthümliches“ mehr, denn es sei die „philosophische Beute des erforschten Erdenrunds“. Aber der Aufklärer Forster stellt sich vor, wie Europa das Wissen, das es weltweit erbeutet hat, den „übrigen Geschlechtern der Menschen“ zurückerstatten werde. Und obwohl es dann mit dem „Salz europäischer Universalkenntniß“ gewürzt und „mit dem Stempel der Allgemeinheit neu ausgemünzt“ sei, werde das an seine Ausgangsorte zurückfließende Wissen als ursprünglich Eigenes wiedererkannt werden können. Forster ist also zuversichtlich, alles lokale Wissen werde im Laboratorium europäischen Denkens auf eine Weise verallgemeinert, dass es noch in seiner Universalisierung, aber nunmehr in einer dialektischen Spannung zu dieser, repräsentiert werde. In diesem Sinne, so meint Forster, könne der Charakter des Europäers „Repräsentant der gesamten Gattung“ heißen. Denn an die Stelle des besonderen europäischen Charakters sei „die Universalität“ getreten.
6
Georg Forster, Über lokale und allgemeine Bildung, in: Forsters Werke, Bd. 7: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala, bearbeitet v. Gerhard Steiner, Berlin 1963, S. 45–56, alle Zitate S. 45–49.
242
Konversionen
Das kennt man. Europa hat im – zu Forsters Lebzeiten erst heraufziehenden – Kolonialzeitalter die Rolle eines „Repräsentanten der gesamten Gattung“ bekanntlich in einem ganz anderen als in dem von einem Aufklärungs-Optimismus vorgesehenen Sinne beansprucht. Aber sein Optimismus hat Forster nicht daran gehindert, das vorauszuahnen und entsprechenden Befürchtungen auf den Grund zu gehen. Den größten Raum in seinem Essay Über lokale und allgemeine Bildung nimmt die detaillierte Warnung vor Fehlentwicklungen ein, wie sie dann tatsächlich eingetreten sind. So hat man es hier nicht mit einem blauäugigen Wunschdenken zu tun, das letztlich einem europäischen Hegemoniestreben zugearbeitet habe. Bei Forsters Konzept einer Vermittlung von lokalem und universalem Wissen handelt es sich, ebenso wie bei Alexander von Humboldts Vorstellung von einem Heimischwerden des Menschen auf der Erde, um Entwürfe eines humanistischen Denkens. In einem Kapitel über die „Universalität lokalen Wissens“ der Sammlung seiner Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen, die Ngugi wa Thiong’o 1993 unter dem Titel Moving the centre veröffentlicht hat, nimmt der kenianische Autor die Spur einer Dialektik von Lokalität und Globalität in einem humanistischen Denken wieder auf. Bei der Art und Weise, wie Ngugi das Verhältnis von Lokalität und Globalität beschreibt, verspürt man eine große Nähe zu Vorstellungen, wie sie in der europäischen Aufklärung von Georg Forster und Alexander von Humboldt entwickelt worden sind. Dadurch wird deutlich, dass ein Eurozentrismus, wie er deren humanistisches Denken geprägt hat, als historisch bedingt überwunden werden könne, ohne dass dieses Denken selbst damit obsolet werde. Das Problem, so Ngugi, entstehe „aus der Tendenz, das Lokale und das Universale in einem mechanischen Gegensatz und die Relativität der Kulturen in einer zeitlichen Ebene der Gleichheit zu sehen, fast als ob Kulturen innerhalb eines Staates oder zwischen Staaten sich auf parallelen Schienen in Richtung auf parallele Ziele entwickelt hätten, die sich nie begegnen, oder wenn sie sich treffen, dann in der Unendlichkeit. Das Universale ist im Besonderen ebenso enthalten wie das Besondere im Universalen. Wir sind alle Menschen, aber die Tatsache unseres Menschseins manifestiert sich nicht in seiner Abstraktion, sondern in der Individualität wirklicher, lebendiger Menschen verschiedener Landstriche und Rassen. Wir können von der menschlichen Sprechfähigkeit sprechen, aber diese Fähigkeit manifestiert sich in wirklichen, konkreten Sprachen, so wie sie von den verschiedenen Völkern der Erde gesprochen werden. Mit anderen Worten verwirklichen wir die Sprache als universales menschliches Phänomen nicht in ihrer abstrakten Universa-
Kreutzer, Depp im globalen Dorf?
243
lität, sondern in der Individualität der verschiedenen Sprachen der Erde.“
Der humanistischen Emphase, mit der Ngugi seine Überlegungen über eine Universalität lokalen Wissens beschließt, hätten Georg Forster und Alexander von Humboldt sich ohne Zögern angeschlossen: „Lokales Wissen ist keine einsame Insel für sich, es ist ein Teil der hohen See, Teil des Meeres. Seine Grenzen liegen in der grenzenlosen Universalität unseres kreativen Potentials als Menschen.“7 Für Georg Forster repräsentiert das, was er einmal den „Bau des menschlichen Wissens“8 nennt, ein lokales Wissen als universales menschliches Phänomen. Im sich vollendenden Gebäude seines Weltwissens, so stellte Alexander von Humboldt sich das vor, werde der Mensch sich zurechtfinden können, sofern dieses, um noch einmal mit Martin Walser zu sprechen, „lokale Bemessenheiten“ nicht abwickele, sondern sie weiter entwickele, indem es das „überall Hiesige“ zum Globalen in das Verhältnis einer dialektischen Spannung bringe. Nur in diesem Sinne galt dem humanistischen Denken beider deutscher Naturforscher und Weltreisender wissenschaftlicher Fortschritt als Weg und Werkzeug humanen Fortschritts. Wissenschaftlicher Fortschritt scheint sich in der Tat nur dann nachhaltig als humaner Fortschritt erweisen zu können, wenn er sich nicht als Deklassierung lokalen Wissens manifestiert. So knüpft es an die Tradition eines humanistischen Denkens an, wenn man sich in den Wissenschaften allenthalben auf eine Evaluierung oder Re-Evaluierung lokalen Wissens zu besinnen sucht. Als Sammelbegriff für diese Initiativen benötigen wir heute, spät genug, vielleicht doch den Begriff „Weltwissenschaft“.
7
8
Ngugi wa Thiong’o, Moving the Centre. Essays über die Befreiung afrikanischer Kulturen, hg. v. Arbeitkreis Afrika, Münster 1995. Die Zitate dort S. 47 und S. 50. Die im Original verwendeten Begriffe „local“ und „locality“ werden in der deutschen Übersetzung mit „regional“ und „Regionalität“ wiedergegeben, obwohl sie, wie der Übersetzer in einer Anmerkung auf S. 46 einräumt, „strenggenommen“ die Bedeutung von „lokal“ und „ortsgebunden“ bzw. „Ortsgebundenheit“ hätten. Seine Entscheidung begründet der Übersetzer damit, dass die dem Original entsprechenden deutschsprachigen Begriffe „einen zu engen Rahmen setzen“ würden (ebd., S. 46, Anm. 1). – Bei Ngugis Text handelt es sich um ein Statement, mit dem er auf einer Konferenz in Yale auf einen Vortrag von Clifford Geertz (Local Knowledge: Fact and Law in Comparative Perspective) geantwortet hat. Die Wiedergabe von Ngugis Argumentation sollte sich deshalb in dem terminologischen Rahmen bewegen, in dem sie vorgetragen wurde, im Rahmen also einer „local knowledge“-Debatte. In dieser Debatte umfasst „lokal“, als Gegenbegriff zu „global“, auch „Regionalität“. Vorrede zur Übersetzung der Sakontala, in: Forsters Werke, Bd. 7, a.a.O., S. 285.
244
Konversionen
In Analogie zu Goethes Vorstellung von einer „Weltliteratur“ gedacht, würde „Weltwissenschaft“ genau das bedeuten, was den Naturforschern und Weltreisenden Georg Forster und Alexander von Humboldt vorgeschwebt hat. Eine künftige Weltliteratur hat Goethe sich gegen Ende seines Lebens freilich noch als einen Markt mit gerechten terms of trade denken können, als einen Markt, „wo alle Nationen ihre Waren anbieten“, und wo das „wahrhaft Verdienstliche“, das, was „der ganzen Menschheit angehört“, die besten Absatzchancen habe.9 Eine „Weltwissenschaft“ möchte man sich heute aber eher als ein Forum vorstellen, wo ein lokales Wissen aller Weltgegenden repräsentiert wäre. Die Frage, was davon wert sei, dass die „ganze Menschheit“ sich darin wiedererkenne, sollte dann nämlich nicht oder jedenfalls nicht allein durch Marktgängigkeit entschieden werden.
9
Johann Wolfgang Goethe, Schriften zur Literatur, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. XII, S. 362.
Autorinnen und Autoren Iris Därmann, geb. 1963, Studium der Philosophie, Soziologie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum, seit 1997 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg, Oktober 2000 bis April 2003 DFG-Habilitationsstipendiatin. Publikationen: Tod und Bild. Eine phänomenologische Mediengeschichte (Diss.), München: Fink 1995; Die vertagte Indianisierung Europas. Zum Verhältnis von Ethnologie, Psychoanalyse und Philosophie seit 1900 (Habil.) erscheint München: Fink 2004; (zusammen mit Bernhard Waldenfels als Hg.): Der Anspruch des Anderen. Perspektiven phänomenologischer Ethik, München: Fink 1997; (zusammen mit Christoph Jamme als Hg.): Fremderfahrung und Repräsentation, Weilerswist: Velbrück 2001. Madelena Gonzalez is senior lecturer in English Literature and Translation Studies at the university of Aix-en-Provence. She is currently putting the finishing touches to a full-length study of Salman Rushdie’s postfatwa fiction. Helmut Heit, 1970 im Emsland geboren, studierte Philosophie und Politische Wissenschaft in Hannover und Berlin. Die Magisterarbeit zu Wissenschaft und Mythos bei Platon wurde 1998 mit dem Förderpreis der Victor-Rizkallah-Stiftung ausgezeichnet. Bis März 2003 arbeitete er mit finanzieller Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung an einer Dissertation mit dem Titel Der Ursprungsmythos der Vernunft. Zur Genealogie der griechischen Philosophie als Abgrenzung vom Mythos. Forschungsaufenthalte an der British Library, London (2000) und am Department for History and Philosophy of Science, Melbourne (2002). Seit April 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik der Universität Hannover. Ausgewählte Veröffentlichungen: „Wie sind Platons Mythen zu verstehen?“, in: Information Philosophie, 5/2001, S. 82–86; „Eurozentrismus, Universalität und der Anfang der Philosophie“, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2/2002 (Dezember), S. 53–68; in Druck: „Vom Glauben zum Wissen? Hegel über den voraussetzungsvollen Anfang der Philosophie“, erscheint in: Hegel-Jahrbuch 2003.
246
Konversionen
Kontakt: Helmut Heit, Universität Hannover, Zentrale Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik, Im Moore 21, D-30167 Hannover, E-Mail:
[email protected], Homepage: http://www.unics. uni-hannover.de/zeww/ Steffi Hobuß, geb. 1964, Studium der Philosophie, Germanistik, Sozialpsychologie und Geschichte, Promotion 1994 in Bielefeld bei Eike von Savigny mit einer Arbeit über Wittgenstein. Mehrere Stipendien. Lehrt seit 1996 Sprachphilosophie als Wissenschaftliche Angestellte am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg. Veröffentlichungen: Wittgenstein über Expressivität. Der Ausdruck in Körpersprache und Kunst (Diss.), 1997; (zusammen mit Christina Schües u.a. als Hg.): Die andere Hälfte der Globalisierung. Kontemporäre feministische Theoriebildung in den Kulturwissenschaften, 2001; „,Ein komplexes und wechselhaftes Spiel‘: Sprachliche Resignifikation in Kanak Sprak und Aboriginal English”, in: Russell B. West und Anja Schwarz (Hg.): Multicultural Societies and Discourse. Interdisciplinary Perspectives from Australia and Germany, 2004; Kulturwissenschaftlicher Grundkurs. Lüneburger Einführung in die Kulturwissenschaften, erscheint 2004; weitere Aufsätze, Fachübersetzungen, Lexikonartikel. Arbeitet zur Zeit an der Fertigstellung einer Studie über die Theorie der visuellen Wahrnehmung bei und seit Aristoteles. Arbeitsgebiete: Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Ästhetik, Philosophie der Psychologie, Literaturtheorie, Postkoloniale Theorie und interkulturelle Studien, Feministische Theorie, gender und queer studies. Heinz Kimmerle wurde 1930 in Solingen geboren. Er promovierte 1957 in Heidelberg bei Hans-Georg Gadamer mit einer Arbeit über die Hermeneutik Schleiermachers. Von 1964–70 arbeitete er im Hegel-Archiv in Bonn und in Bochum. Von 1970–76 war er Dozent und Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum, von 1976 bis zu seiner Emeritierung 1995 an der Erasmus Universität Rotterdam. 1989, 1997 und 2002 hatte er Gastprofessuren an afrikanischen Universitäten in Kenia, Ghana und Südafrika. Forschungen und Veröffentlichungen zu Schleiermacher und der Geschichte der Hermeneutik, zu Hegel und der Geschichte der Dialektik, zu den Philosophien der Differenz und zur interkulturellen Philosophie. Adresse: Stiftung für interkulturelle Philosophie und Kunst, Nieuwewater 35, NL-2715 BP Zoetermeer.
Autorinnen und Autoren
247
Leo Kreutzer, geb. 1938. Nach einem Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie 1964 Promotion an der Universität Tübingen mit einer Dissertation über Hermann Brochs Romantrilogie Die Schlafwandler. 1969 Habilitation an der Technischen Universität Hannover mit einer Studie über Leben und Werk Alfred Döblins. Nach vierjähriger Tätigkeit als Literaturredakteur beim Westdeutschen Fernsehen in Köln 1974 Nachfolger von Hans Mayer auf dem Lehrstuhl für Neuere und Neueste deutsche Literatur der Universität Hannover. Seit 1980 Gastprofessuren an Universitäten im subsaharischen Afrika. Seit dem Sommersemester 2003 emeritiert. Publikationen zur deutschen Literatur seit dem 18. Jahrhundert und Aufsätze zur afrikanischen und lateinamerikanischen Literatur (Literatur und Entwicklung. Studien zu einer Literatur der Ungleichzeitigkeit, Frankfurt a. M. 1989 sowie Träumen Tanzen Trommeln. Heinrich Heines Zukunft, Frankfurt a. M. 1997) Herausgeber des Sammelbandes Andere Blicke. Habilitationsvorträge afrikanischer Germanisten an der Universität Hannover, Hannover 1996 und (gemeinsam mit dem kamerunischen Germanisten David Simo) Herausgeber des im Hannoverschen Revonnah Verlag erscheinenden Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für Interkulturelles Denken. Ulrich Lölke, geb. 1963, studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Theologie an der Freien Universität Berlin, der Johann Wolfgang von Goethe Universität Frankfurt a. M. und der Universität Hamburg. Er hat sich mit einer Arbeit über Philosophie im postkolonialen Afrika an der Heinrich-Heine-Universität-Düsseldorf promoviert und ist seitdem Dozent am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Lüneburg. Neben Lehrtätigkeiten an den Universitäten Hannover und Hamburg war Ulrich Lölke zu Forschungsaufenthalten am Philosophie Department der Universität von Ghana in Legon und an der Zentralen Einrichtung für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik der Universität Hannover zu Gast. Seine Arbeitsschwerpunkte sind internationale und interkulturelle Philosophie, mit einem Schwerpunkt postkolonialer Philosophie in Afrika; Kolonialismus und Postkolonialismus; Transformationsprozesse von Wissensformationen in postkolonialen Kulturen, das Verhältnis von Philosophie und Ethnographie sowie die Wissenschaftsentwicklung in Entwicklungsländern. Zurzeit arbeitet er an einem Forschungsprojekt zur Bedeutung lokaler Wissensformationen in der Wissenschaftsentwicklung in Afrika. Wichtige Publikationen sind: Kritische Traditionen. Afrika. Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt a. M. 2001; Zur Loka-
248
Konversionen
lität von Wissen. Die local knowledge-Debatte in Anthropologie und Internationaler Zusammenarbeit, Hamburg 2002; Das lokale Wissen und seine Feinde. Demarkationen epistemischer Kulturen in Afrika und Europa. in: Weltengarten. Deutsch-Afrikanisches Jahrbuch für Interkulturelles Denken, 2003, S. 185-195; Afrika und die Medien. Vom kolonialen Blick zum innerkulturellen Dialog, in: Lawford Imunde (Hg.), Kein Leben ohne Wurzeln – Die Rolle der Kultur in der Entwicklung Afrikas [Loccumer Protokolle 50 / 02], Rehburg-Loccum 2003, S. 179–192; [zusammen mit David Simo], Wissenschaftliche Neugier und Kooperationen mit Afrika. Zur Lage der Afrikawissenschaft in Deutschland, in: Afrika Spectrum, Vol. 39, Nr. 1 (2004), S. 135–140. Maria-Sibylla Lotter studierte an der Universität Freiburg, der TU Berlin, der FU Berlin, der University of Missouri-St.Louis und der St.LouisUniversity u. a. Philosophie, Religionswissenschaft und Ethnologie. Von 1989–1994 lehrte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der TU Berlin, wo sie mit einer Untersuchung über Whiteheads Metaphysik der Subjektivität als Kritik der modernen Subjektivitätstheorien promovierte. Anschließend war sie im Rahmen eines DFG-Projekts über die theoretischen Grundlagen von Gesetzesbegriffen in den Wissenschaften von 1995-1999 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am philosophischen Seminar Heidelberg tätig. Seit April 2000 ist sie Lehrbeauftragte am Institut für Philosophie der Universität Erlangen-Nürnberg. Von 1999–2002 DFGHabilitationsstipendium für kulturphilosophische Studie über Personen als Verantwortungsträger. Veröffentlichungen neben einer Reihe von Aufsätzen in Fachzeitschriften u. a. (1) Die Metaphysische Kritik des Subjekts. Eine Untersuchung von Whiteheads universalisierter Sozialontologie, in der Reihe Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie, hg. von Gerhard Funke und Rudolf Malter, Hildesheim/ Zürich/ New York (Olms) 1996; (2) (als Hg.) Normenwandel und Normenbegründung in Gesellschaft und Recht, in: Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat, hg. von Werner Maihofer und Gerhard Sprenger, Baden-Baden 1999; (3) (als Hg., gemeinsam mit Michael Hampe) Erfahrungsbegriffe in den Wissenschaften, Berlin 2000. Hans-Ulrich Sanner promovierte 1993 an der Universität Frankfurt a. M. Ethnologische Feldforschungen bei den Hopi (Arizona) seit 1989, Feldforschung unter Auszubildenden in deutschen Industriebetrieben 1994–1995. Bis 1999 wissenschaftlicher Angestellter am Ethnologischen Museum Berlin und Ko-Kurator (mit Peter Bolz) der Dauerausstellung
Autorinnen und Autoren
249
„Indianer Nordamerikas“. Seit 2000 freischaffender ethnologischer Autor. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Hopi-Forschung, Feldforschung, Ritual, Humor, ethnographische Fotografie. Adresse: Grunewaldstr. 15, 10823 Berlin. Wichtige Veröffentlichungen: „,Another Home Run for the Black Sox‘: Humor and Creativity in Hopi Ritual Clown Songs“, in: Arnold Krupat (Hg.), New Voices in Native American Literary Criticism, Washington 1993, S. 149–173; (mit Peter Bolz) Indianer Nordamerikas. Die Sammlungen des Ethnologischen Museums Berlin, Berlin 1999; engl. Native American Art. The Collections of the Ethnological Museum Berlin, übers. v. Ann Leslie Davis, Seattle 1999; „Katalog der Katsina-Figuren“, in: Horst Antes (Hg.), Katsinam. Figuren der Pueblo-Indianer Nordamerikas aus der Studiensammlung Horst Antes, Lübeck 2000, S. 29–311; „Confessions of the Last Hopi Fieldworker“, in: Thomas Claviez und Maria Moss (Hg.), Mirror Writing: (Re-) Constructions of Native American Identity, Glienicke/ Cambridge 2000, S. 41–66. Russell West, geb. 1964 in Melbourne, Australien; Studium der Anglistik und Romanistik in Melbourne, Promotionen in Cambridge und Lille, Habilitation in Köln, Lehrtätigkeiten in Münster, Cardiff, Köln, Magdeburg und Lüneburg, ist Professor für Englische Philologie mit dem Schwerpunkt „New English Literatures“ an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen: Conrad and Gide: Translation, Transference and Intertextuality, 1996; Figures de la maladie chez André Gide, 1997; Marginal Voices; Marginal Forms: Diaries in European Literature and History (Hg. mit R. Langford), 1999; Subverting Masculinity: Hegemonic and Alternative Versions of Masculinity in Contemporary Culture (Hg. mit F. Lay), 2000; Spatial Representations and the Jacobean Stage: From Shakespeare to Webster, 2002; Gender Public and Private in Early Modern Theatre (in Vorbereitung). Dienstanschrift: Institut für Englische Philologie, Freie Universität Berlin, Gosslerstr. 2–4, D-14195 Berlin.
This page intentionally left blank
Textnachweise Iris Därmann, „Symbolische und pikturale Wirksamkeit bei Lévi-Strauss und Lacan“, Originalbeitrag. Madelena Gonzalez, „East,West: The Dislocation of Culture“, Originalbeitrag. Helmut Heit, „Die Griechen, die Barbaren und Wir: Kontinuität und griechischer Ursprung in westlichen Identitätsdiskursen“, Originalbeitrag. Heinz Kimmerle, „Dialoge als Form der interkulturellen Philosophie“, Originalbeitrag. Leo Kreutzer, „Depp im globalen Dorf? Lokales Wissen und das Wissen der Wissenschaft“, erschienen als „Die Lokalität von Wissen und ihre Universalisierung bei Georg Forster und Alexander von Humboldt“, in: Leo Kreutzer und David Simo (Hg.), Weltengarten. DeutschAfrikanisches Jahrbuch für Interkulturelles Denken, Hannover 2003, S.112–25. Ulrich Lölke, „Endogene Wissenstraditionen als Herausforderung der Philosophie: Die Praxis interkultureller Philosophie in Afrika“, Originalbeitrag. Maria-Sibylla Lotter, „Personen: ein Kulturvergleich“, Originalbeitrag. Hans-Ulrich Sanner, „‚Are you Hitler’s son?‘ Bilder der Fremden im Spiegel der Hopi-Ritualclowns“, Originalbeitrag. Russell West, „‘White Aboriginals’: White Australian Literary Responses to the Challenge of Indigenous Histories“, Originalbeitrag.
This page intentionally left blank
Register Abendland, abendländisch, 44, 192f., 195, 213f., 220, 224, 226 Abrahams, R. D., 70 Achtung, 30, 171, 175, 179, 182, 185 Afrika, afrikanisch, 11, 45, 47, 149f., 160f., 173f., 181f., 185, 192, 193, 197, 198, 200, 201–208, 227f., 232, 242 Ägypten, 160, 215, 217, 222f. Aischylos, 214, 216 Alidou, O., 196 Althusser, L., 204 Amin, S., 226, 227 Anatomie mythische, 131, 139f. phantasmatische, 139f. Animismus, 181–183 Annan, K., 182 Antes, H., 41 Apte, M. L., 43, 60, 70 Aristoteles, 152, 157, 184, 217, 219 Assmann, A., 224, 226 Assmann, J., 160–166, 213, 223 Auer, D., 196 (in)authenticity, 111, 114, 117f., 120 Autonomie, 148 Babcock, B., 45, 46 Bakhtin, M., 112f. Balslev, A. N., 196f. Barley, N., 7 Barrett, Ch., 81 Barth, F., 43 Barthes, R., 103f., 106 Basalla, G., 198 Basso, K., 46–48, 53–56, 59 Baum, L. F., 114
Beck, U., 202 Beobachtetwerden, passives, 9, 12f., 16 Berger, P., 41, 44, 60 Bernal, M., 193f., 213, 221, 226–230 Bernasconi, R., 218, 227 Bhabha, H. K., 22, 24, 27, 107, 196, 202 Bielefeldt, R., 35, 60 Black Athena, 227–229 Blake, A., 120 Blaut, J. M., 220f. Boas, F., 125 Bock, F., 69 Bodunrin, P., 204 Böhme, G., 171, 175, 178, 187 Böhme, H., 187 Bonheim, H., 93 böse, 158 Boyce, J., 85 Brand, G., 183 Brandt, R., 68, 72 Breuer, J., 22, 125 bricolage, 99, 102 Buber, M., 183 Buckley, W., 81 Buddhismus, buddhistisch, 29, 149, 151–154, 157, 161, 185 Burke, P., 194 Burkert, W., 213, 220, 221, 229 Burstein, St. M., 227, 229 Bush, G. sen., 219 Carr, J., 81, 88, 98 Carter, P., 87 Cartledge, P., 219 Chapin, N. M., 133f., 142 Christentum, christlich, 39, 52, 146,
254
151f., 156, 158, 160f., 165f., 181f., 224 Clifford, J., 8, 47 Coleman, J. E., 213 Columbus, 101, 106f., 111, 118 Connor, S., 116 Cook, J., 240 Cuddon, J. A., 101f., 113 Cuña, 123, 126, 128, 133 Cundy, C., 100 Curnow, W., 81 Därmann, I., 32, 45f., 50 Davison, L., 82, 94f., 97 decolonization, 101 Dekolonisation, 11, 201, 204, 206, 232 Dekontextualisierung, 233f. Deleuze, G., 120 Derrida, J., 26, 100, 103, 105, 185 Dialektik, 171, 177, 179, 233, 238, 242 Dialog, dialogisch, 15f., 20, 30f., 51f., 60, 171–181, 183–193, 197, 200, 206, 208, 209 Differenz, 9, 14, 18, 62, 137, 164, 185, 202, 213, 223 Dilworth, L., 49, 53 Diogenes Laertius, 217, 218 Diop, Ch. A., 193, 227 Diotima, 177 Diskurs, 16, 31, 124, 174, 184, 190, 196f., 201f., 206–208, 211, 213, 220, 227, 230, 232 Diskurstheorie, 171, 179 Duerr, H. P., 199 During, S., 84 Durix, J.-P., 104, 112f., 120 Dussel, E., 221 Earle, E., 54 Eboussi Boulaga, F., 201 Eggington, R., 97 Ehrenreich, P., 67 Eisenstadt, Sh. N., 224, 225 Elkana, Y., 224 Eschatologie, 40
Konversionen
Ethik, Hopi-, 65 Ethnographie, indigene, 35, 46 Ethnozentrismus, 7, 9–11, 19f., 27, 30, 62, 70f., 73, 191, 196, 211, 213, 216, 218, 230 Eurozentrismus, 16, 30f., 173, 197, 211–213, 218–220, 223, 226, 230, 237, 242 Evans-Pritchard, D., 46, 53 Evans-Pritchard, E. E., 10, 198f. Fabian, J., 202, 207f. Fanon, F., 202f. Faris, W., 113 Fewkes, J. W., 50, 51 Feyerabend, P. K., 199, 216 fiction, fictional, 91, 95f., 99, 101, 103, 105–107, 113–116, 118, 120f. FID (Free Indirect Discourse), 90–93, 95 Fink-Eitel, H., 195 Fludernik, M., 90, 93 Forster, G., 234, 238, 240–244 Fortes, M., 149, 151 Fortschritt, 243 Foucault, M., 118, 123f. Fraser, E., 81, 83 Freese, A. R., 49 Freiheit, 152f., 211, 214, 222 Fremdbilder, 47, 65 Fremde, 8f., 12–14, 16–18, 20, 27, 30, 32, 35f., 39, 43, 46, 48f., 54, 56, 60f., 65f., 70–73, 188, 191f., 194f., 198, 222, 230, 232, 237 Fremderfahrung, 7f., 13, 17, 20, 26, 32, 35, 193 Fremdes, 12, 16, 17 Fremdheit, 17f., 46, 72, 124, 187f., 199 French, R. R., 151f., 154 Freud, S., 7, 22–25, 27, 125, 132, 137f., 141f. Fürsorge, 161, 163 Gadamer, H.-G., 184f., 187f., 212, 222
Register
Gardner, P. D., 95 Gedächtnis, 161f., 164f. Geertz, A. W., 39f., 54, 68, 72 Geertz, C., 195, 243 Gelder, K., 80 Geographie, 131, 238 Gerechtigkeit, 161f., 163, 165 Gericht, 155, 159, 164 Gestalt, 35, 45, 127, 137, 140–142, 161f., 175 Ghosh, B., 112 Gilbert, H., 92 Giroux, H. A., 120f. Githaiga, J. W., 91 Goethe, J. W. v., 244 Gondek, H.-D., 125, 136, 142 Goodall, H., 94, 97f. Goonetilleke, D. C. R. A., 99 Gorra, M., 110f., 120 Gott, 161f., 165, 176, 215 Grant, D., 100, 119 Grass, G., 120 Gray, S., 82, 95f. Grieshammer, R., 163f. Grossberg, L., 18 Guattari, F., 120 Gulliver, P. H., 147 Guthrie, W. K. C., 219, 222 Gyekye, K., 194, 198, 201f. Habermas, J., 189f., 197 Hall, R., 82, 85–89, 92, 95f. Hall, St., 18 Haller, D., 26 Handelman, D., 43 Haraway, D., 31 Harding, L., 193 Hartmann, H., 38, 41 Hayan, G., 126 Healy, C., 80, 95 Hegel, G. W. F., 153f., 219f., 222 Heidegger, M., 194 Heilgesang, 123, 125, 127, 133, 140 Heilige Bilder, 125 Heit, H., 219 Helbig, J. W., 127f., 133f.
255
Herder, J. G., 8, 194 Herodot, 214–216, 230 Hieb, L., 52, 54f. Hieronymus Bosch, 131, 139f. Higgins, K. M., 223f. Hitler, A., 36, 43, 60, 66–68 Höffe, O., 150 Holden, M., 46f. Holmer, N. M., 126, 129, 131, 134 Homer, 213f. Horton, R., 204f., 208 Hountondji, P., 201f., 204 Howe, J., 55f. Hughes, R., 83 Hülsmann, H., 193, 224f. Humboldt, A. v., 234, 238–244 Humboldt, W. v., 172, 193 Hume, D., 157 Humor, ethnischer, 35, 44, 65, 70 hybridity, 98, 107 Hysterie, 22 Ich-Ideal, 137, 141f. Identifizierung, 64, 123f., 131, 135–138, 141f. Identität, ethnische, 48, 66 imaginary, 101, 114f. Imago/Imagines, 123f., 132, 135, 138–140, 142f. Imitation, 141f., 199 intelligible Tat, 158 Interkulturalität, interkulturell, 8, 11, 15, 20, 26, 30, 32, 35, 46, 48, 59, 65, 73, 171f., 174f., 179, 183–186, 188–193, 195–197, 200, 208f., 212, 221 Isis, 161 Isokrates, 228 Jacobs, J. M., 80 James, G. M., 220f., 227 James, H. C., 49, 67 Jameson, F., 108f., 111 Jaspers, K., 213, 221, 223–226, 230 Jenkins, L., 57 Jones, E. L., 220 Jones, J. M., 61
256
Kalidasa, 241 Kambyses, 215 Kant, I., 148, 158, 179, 235 Karma, 151, 153f. Kennard, E., 53f. Kimmerle, H., 15f., 18, 192–195 Kipling, R., 101 Kippenberg, H. G., 198 Konfuzius, 223 Kontext, 23f., 26, 28, 31, 44, 48, 128, 135, 145f., 150, 152f., 155–157, 160, 165, 167, 188, 219, 227, 231f. Konversion, 8, 20–26, 28, 30, 133 Körper, zerstückelter, 139f. Kramer, F. W., 7–20, 27–30, 32, 45, 127f., 131, 133f., 143 Küng, H., 181f. Kyros, 215 Lacan, J., 124f., 135–142, 185 Ladewig, B., 188f. Laird, W. D., 38 Langenn, V. v., 68 Laotse, 223 Laplanche, J., 24, 26 Lefkowitz, M. R., 194 Levinas, E., 186f. Lévi-Strauss, C., 15, 103f, 123–137, 139f., 143 Levy, D., 202 Libbrecht, U., 173f. Lips, E., 44 Lips, J. E., 44f., 47 Liverpool, H. V., 61 (dis-)location, 90, 100f., 107f., 113, 116, 118, 121 Locke, J., 148, 151, 159, 166 lokal, 31, 197, 231f., 234–236, 238–240, 242–244 Lokalität, 10, 231f., 234, 236, 238, 242 Lölke, U., 10f., 25, 197, 232 Lomatuway’ma, M., 61 Lunenfeld, P., 108 Lützeler, P. M., 14
Konversionen
Mabo decision, 79f., 88 Mabo, E., 80, 82, 88f., 92–94, 97 Mailer, N., 81 Malinowski, B., 8 Mall, R. A., 184, 193, 224f. Malotki, E., 61 Malouf, D., 82, 88–93, 95f. Mangayarri, J., 85 Marcus, G. E., 8 Marcuse, H., 180 Maske, 41, 146 Masolo, D. A., 194 Massery, A., 100f. Mauss, M., 145–147 May, K., 68 McCoy, R., 56 McHale, B., 114f. McLean, I., 81 Melikian, L. H., 44 Merleau-Ponty, M., 136 Mersch, D., 16 Meßlinger, K., 188f. Miller, J., 154f. Mimikry, 24f. Monotheismus, monotheistisch, 158, 223, 236 Montaigne, M. de, 194 Morgan, K. A., 216 Morris, M., 81 Morris, P., 112–114 Mudimbe, V. Y., 194, 201, 204–206, 208 Mu-Igala, 125f., 130, 133–135, 139–141, 143 Münkler, H., 188f. Narzissmus, 137f., 141, 143 Nationalsozialismus, 44, 67f. Naturgemälde, 238–240 Neal, A., 128 Neilsen, Ph., 91 Newton, I., 235 Ngugi wa Thiong’o, 242f. Nietzsche, F., 194 Nordenskiöld, E., 126f., 129f., 143 Nygren, A., 207
Register
Odera Oruka, H., 200–204, 206–209 Olschanski, R., 187 Oluwole, S. B., 201 Orientalism, 101, 203 Ortiz, A., 48, 73 Osiris, 161, 163 otherness, 100f., 104, 109f., 117f., 121 Page, J., 62 Page, S., 62 Papastergiadis, N., 92 Parker, A., 128 Peirce, Ch. S., 95 Perera, S., 88, 98 Performativität, performativ, 17, 60, 97 Pflichten, 145, 150f., 156, 167 Phil-Hellenismus, 219 Philosophie afrikanische, 174, 201, 232 griechische, 182, 193, 219 interkulturelle, 15f., 30, 171f., 174f., 185, 189, 191–193, 197 vergleichende (komparative), 16 Pichot, A., 213, 221–223, 226, 230 Platon, 174–177, 188 Poe, E. A., 119 Polylog, 178, 184f. Polytheismus, polytheistisch, 157, 161 Pontalis, J. B., 24 Popper, K., 205 Porée, M., 100f. postkolonial, 8f., 14, 26, 46, 204, 232 Presby, G., 208 Probyn, E., 91 Prothro, T. E., 44 Psychoanalyse, 13, 26f., 29, 123f., 132–135, 138, 143, 187 Psychologie, indigene, 129, 143 Qötshongva, D., 68 Quesalid, 125 Raby, P., 194
257
Raeithel, G., 67, 71 reality, 84, 103, 108, 110, 113, 115–117, 120 Rechte, 150 reconciliation, 79, 86–88, 91, 97f. Renan, E., 212 Repräsentation, 8, 32, 35, 56, 137, 236 representation, 100, 109, 115, 118, 120 Respekt, 30, 175, 179, 182, 185, 190 Rorty, R., 195–197, 200 Rose, D. B., 85 Rottenburg, R., 8f., 12f., 15 Rushdie, S., 99–104, 110, 112–114, 119–121, 196f., 200 sages, 208 Said, E., 108, 203 Salabiye, V. S., 46 Sanner, H.-U., 36, 41f., 48, 51, 57f., 60, 67, 72 Sartre, J.-P., 13, 186f. Schaffer, K., 83 Scham, 145, 147, 186 schamanistisch, 124f., 132, 143 Schechner, R., 42 Schlegel, A. W., 172, 193 Schlieter, J., 185 Schneider, N., 184 Schneider, U. J., 218 Schuld, 145, 147, 160, 165, 167 Sekaquaptewa, A., 55, 60, 64 Selbstreflexivität, 13, 15, 30, 172, 212, 224 Senghaas, D., 172 Seth, 161, 163 Sgard, J., 194 Shakespeare, W., 103 Sherzer, J., 55f., 133f. Shweder, R., 154–156 Siddhartha Gautama, 223 Sokrates, 174–180, 225 sokratische Gesprächsführung, 30, 171, 174 –177, 179, 184
258
Solomon, R. C., 223f. Spiegel, J., 162f., 165f. Spiegelstadium, 29, 123f., 130f., 135, 137f., 141f. Stanner, W. E. H., 79, 90 Steinen, K. v. d., 51f., 67, 72 Stephen, A., 49f., 52, 58, 63 Stereotypen, 43, 65, 70 Sterne, L., 103 Strafe, Bestrafung, 42, 152f. Sumner, C., 194 Sünde, 165 Sweet, J. D., 46, 48, 53f. Symbol, symbolisch, 22f., 26, 36, 40, 43, 46, 48, 53, 58f., 61, 65, 68, 71f., 123, 132, 135f., 139–141, 143 Symptom, 7, 22–25, 27, 142 Sznaider, N., 202 Talashoema, H., 48, 60f. Talayesva, D., 52, 68f. Talens, J., 120 Tallensi, 149–151 Taussig, M., 128, 130, 133f. Tawangyawma, C., 68 Tedlock, B., 41 Thukydides, 216f., 219f., 228, 230 Tillers, I., 81f. Timm, U., 14 Toleranz, 30, 171, 175, 180–182, 190 Tourismus, Touristen, 36, 48–50, 53–55, 59, 73f. Towa, M., 201 transcultural actor, 81, 89, 94f., 98 translation, 101, 108f., 111, 114 Turner, V., 42 Übersetzung, 12, 140, 172, 191, 195, 197, 199, 208, 240 Uexküll, J. v., 135 Unabhängigkeit, 201 uncanny, 80, 89, 93f., 105, 115 Universalismus, universal, 29, 31, 43, 70, 73, 146, 150, 189f., 202, 211f., 216–220, 222, 225f.,
Konversionen
230f., 234, 236, 242f. Unsterblichkeit, 162f., 166 Verantwortung, 145, 147, 149–152, 154, 157, 159–161, 167, 186 Verstehen, 12, 14, 187, 189 Voth, H., 67 Waldenfels, B., 124, 188 Wales, K., 102, 104 Wallon, H., 135f. Walser, M., 236, 243 Walz, C. A., 213 Wamba dia Wamba, E., 185 Warburg, A., 67 Wassén, S. H., 126, 129, 131, 134 Weber, M., 211 Weltwissenschaft, 31, 243f. West, E., 82 “white Aboriginal”, 79–83, 87–89, 94–98 White, P., 82–85, 87, 89, 92 Whiteley, P. M., 38f., 46, 55, 57, 67 Wiedergeburt, 151 Wiederholung, 26 Wimmer, F. M., 184, 218 Winch, P., 10, 15, 17, 198 Winnicott, D. W., 27 Wiredu, K., 203, 205 Wirksamkeit pikturale, 29, 123, 137 symbolische, 123, 132, 135, 139–141, 143 Wissen, 10, 31, 62, 71, 126, 143, 175–177, 188, 191, 197, 199, 205, 208, 221–223, 228, 231f., 235f., 238, 240–243 Wissen, lokales, 31, 231f., 234f., 239, 241–244 Wissenschaft, 31, 184, 194, 204–207, 212, 217f., 222f., 228f., 231, 234, 236, 238, 240 Wittgenstein, L., 15, 17, 20, 114, 185 writing culture, 8, 237 Xerxes, 214 Yava, A., 61, 62
Register
Yolgnu people, 80 Zarathustra, 223 Zurechnung, 148f., 154, 159f.
259