Peter Imbusch (Hrsg.) Jugendliche als Tiiter und Opfer von Gewalt
Peter Imbusch (H rsg.)
Jugendliche als Tater und Opfer von Gewalt
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VS VERLAG FOR SOZIALWISSENSCHAFTEN
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1. Auflage 2010
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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Peter Imbusch Jugendgewalt in EntwicklungsHindern - Hintergrtlnde nod Erklarungsmuster
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Silke Oldenburg Zwischen Akz eptanz nod Widerstand - Jugendliche Lebenswelt en im kolumbianischen Biirgerkrieg
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Andrea Kirschner Jugend, Gewalt nod sozialer Wandel in Afrika
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Sabine Kurtenbach Jugendliche in Nachk riegsgesellschaften - Kontinuitat nod Wandel von Gewalt
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Sebastian Huhn / Annika Gettler I Peter Peetz Jugendbanden in Zentralamerika - Zur sozialen Konstruktion einer teuflischen Tiitergruppe
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Birte Hewera School Shootings und Amok - Perspektiven der GewaHforschung
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Uber die Autorinnen und Autoren
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Einleitung Peter 1mbusch
In den letzten Jahren ist in der Offentlichkeit und in den Medlen wieder vers tarkt von Jugendgewalt die Rede. Db es sich dabei urn jugendliche Schlager in UBahnen, brutale Uberfalle und Diebstahle vo n Mindeij ahrigen , GraffitiSchmierereien, Hooligans im FuBball, Jugendproteste, gewaltsame Randale, rechtsextreme Ubergriffe gegenuber Migranten und Minderheiten ode r urn Amoklaufe von Sc hulem handelt - immer sind es j unge Leute, die mal instrume ntell, mal expressiv Gewa lt einsetze n, urn Lebensein stellungen, Frus tratlo nen oder einfac h nur ihre Lust am Zoff auszuagieren. Schaut man einmal tiber den deutsch en oder europaisch en Tellerrand hinaus, dann finde n in vielen Bntwicklungs lande m offensichtlic h nieh t weniger problematische Entwic klu ngen statt. Stichwo rte wie Jugendga ngs , Ki ndersoldaten, Gewalt befordemde youth bulges, Bandenkriminalitat und organisiertes Verbrechen, no-go-areas sowie hohe Hom izidraten sind nur d ie beu nruhigendsten Erscheinungen, die leicht urn die ganz gewohnlichen Formen der Gewalt von Jugend lichen erganzt we rden konn ten. Hier wie dort sind Jugen dlic he und j unge Mann er fiir das Gros aller Gewa lttaten verantwo rtlich. Die Jugendlichen sind allerdings nicht nur Tate r. Jugendliche bzw . j unge Manner sind rein qu ant itativ gese hen auch die Hauptopfer vo n Gewalt. Dies ist in Europa nicht anders als in No rda merika und in we iten Teilen der .Dritte n Welt". Die gro Be Mehrh eit aller Gewa lttaten findet in einer Leb ensspann e zwischen dem 12. und dem 24. Lebensjahr sta tt. Jugendgewalt gilt dabei als besonders schwerwiegend bzw. problematisch , weil sie in einer Sozialisationsphase auftritt , d ie vie lfac h prage nd fl lr das spatere Leben ist. Hier werden d ie Regel n des Zusa mmenlebens ge lemt , hier we rden moralische und ethisc he MaBstabe gese tzt, und hier werde n die Mittel und Formen erlemt, sich in einer GeseJlschaft durchzusetzen. Verh alten sich die Jugendlichen in dieser Phase aggressiv, krimin ell oder gewa lttatig, dann hat das in der Regel Folgen fi ir das weitere Leben. Deshalb verfllge n aile Gesellschaften tiber spezifische Forme n des Um gangs mit Jugendgewalt , die im Idealfall auch der beso ndere n Situation der Jugendlichen Rechnung trage n. Ju gend ist ei ne Entwicklu ngsphase , die mit groBen Amb lvalenzen filr die Heranwachsenden verbunden ist, weil sie mit Selbstfindun g, Identi tats- und Personlichkeitsentwickl ung sowie neuen Rollen und Erfahrungen verbunden lst . In vie len Bntwlckl ungslandern kom men neben diese n allge meinen Faktoren noch eine Fulle soz ioo konomische r Probleme, soz iale Unglei chheit und weitve rbreitete Annut so wie nicht zuletzt eine brisante demographische Entwic kJung hinzu, die es fur Jugend liche sch wer macht , einen anerkannten Platz in der Gese llschaft zu finden. Das T hema Jugend und Gewa lt muss in viele n Entwic klungslande m vo r dem Hin-
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Peter Imbusch
tergrund einer breiten und tiefgreifenden Gesellschaftskrise gesehen, die Jugendgewalt selbst als eine Verschlimmerung dieser Krise betrachtet werden. Unter den gegebenen Umstanden und Bedingungen ist es deshalb in vielen Uindem der .Dritten Welt" eigentlich weniger erstaunlich, dass Jugendliche Ilberhaupt gewalttiitig werden, als dass noch vergleichsweise wenige Jugendliche Gewalt fiir sich als eine Option betrachten. Gewalterfahrungen verandem Menschen und Gesellschaften auf Dauer. Sie zeitigen betrachtliche Konsequenzen fur den Einzelnen - sei er Opfer oder Tater und haben dramatische Auswirkungen fiir das Zusammenleben und den Zu sammenhalt einer Gemeinschaft. Gesellschaften konnen und durfen deshalb Gewalt nieht ignorieren, da sie immer starke Verselbstandigungstendenzen beinhaItet und leicht endemische Formen annimmt. Damit angemessen auf Gewalt reagiert werden kann , muss nicht nur zwischen verschiedenen Formen der Gewalt differenziert werden, sondem auch etwas tiber die Hintergriinde, Ursachen und Entstehungsbedingungen sowie tiber mogliche Erklarungsansatze bekannt sein . Nur so ist es meglich , fruhzeitig passformige Gegenstrategien zu entwerfen oder situationsadaquat auf Gewalt zu reagieren. 1m Kontext von Unterentwicklung, Armut, sozialer Polarisierung und Burgerkriegen ist Gewalt vielfach zu einem endemischen Phanomen geworden, so dass immer hauflger von regelrechten .Kulturen der Gewalt" gesprochen wird . In vielen Landem der .Dritten Welt" besteht zudem aufgrund eines begrenzten staatJichen Gewaltmonopols, eines weit verbreiteten Bandenunwesens und einer korrupten Polizei ein erheblich grolleres Risiko , zum Opfer einer Gewalttat zu werden als hierzulande. In anderen Landem beherrschen seit langem Burgerkriege oder gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Gruppen das Bild , haben sich regelrechte Gewaltmarkte heraus gebildet und sorgen warlords fiir die Aufrechterhaltung vo n "Ordnung". Neben diese reale Unsicherheit tritt vielerorts noch eine gefuhlte Unsicherheit, nimmt doch nicht zuletzt infolge einer sensalionalistisehen oder manipulativen Medienberichterstattung das allgemeine SicherheitsgefUhl der Burger abo Der Einsatz privater Sicherheitsdienste, die Uberwachung offentlicher Raume sowie das Tragen von Waffen, die eigentlieh dazu dienen sollen, wenigstens die eigene Sicherheit zu erhohen, verstarken dabei noch das ohnehin prekare Sicherheitsgefiihl der Menschen. In jungster Zeit haben zudem Diskussionen urn das Konfliktpotenzial sag. youth bulges - also eines hohen Anteils junger Menschen an der Gesamtbevolkerung, wie er fur aile .Dritte Weit-Gesellschaften" in unte rschiedlichem MaRe konstitutiv ist - dazu beigetragen, besorgte Fragen nach den generellen Bntwicklungsmoglichkeiten von Jugendlichen und deren Zukunftsperspektiven zu stellen. Angesichts weitreichender gesellschaftlicher Krisenprozesse sind die Jugendlichen im besonderen MaGe davon betroffen. Das Bueh versammeIt Beitrage, die sieh mit dem Phanomen der Jugendgewalt vornehmlich in .Entwicklungslandem" auseinandersetzen. Es beleuchtet Unterschiede und Gemeinsamk:eiten von Jugendgewalt zwischen .Brster" und .Dritter
Einleitung
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Welt"; es fragt nach den unterschiedlichen Kontexten der Gewalt; es setzt sich mit der schwierigen Lebens- und Uberlebenssituation von Iugendlichen unter gewalttatigen gesellschaftlichen Bedingungen auseinander; es geht angesichts geringer Partizipationsmog lichkeiten urn die Rolle von Iugendlichen in Nachkriegsgesellschaften; und es zeichnet Diskurs- und Sicherheitsstrategien im Umgang mit Jugendlichen nach, welche die I ugendlichen eher diskriminieren und kriminalisieren als dazu beitragen, ihre Handlungen und Verhaltensweisen zu verste hen. Insgesamt mochte der Band zu einem differenzierten Verstandnis der sozialen Situation Ju gendlicher in Entwicklungsgesellschaften und ihrer Beziehung zur Gewalt beitragen. In dem einflihrenden Beitrag von Peter Imbusch geht es zunachst urn die Hintergrunde und Erscheinungsformen von Iu gendgewalt in den Landem der .Dritten Welt" und sodann urn allgemeine Erklarungsansatze und Theorien tiber die Ursachen der Gewalt von Jugendlichen. Der Beitrag von Silke Oldenburg setzt sich mit den jugendlichen Lebenswelten im kolumbianischen Btirgerkrieg auseinander und beschreibt mit ethnographischen Methoden die schwierige Situation von vertriebenen Iugendlichen in Altos de Cazuce. In ihrem Beitrag wird sehr deutlich, wie schnell Iugendliche zu Opfern von Gewalt werden, aber auch unter welchen Urnstanden und was sle zu Tatem werden lasst. Andrea Kirschner geht der Frage nach , welche Bedeutung I ugend in Afrika zukommt und welche Rolle die Gewalt vo n Iugendlichen fur den sozialen Wandel spielt. Nach einer Auseinandersetzung mit der in Afrika nicht unproblernatischen Kategorie der Jugend fragt sie naeh Erklarungsrnustem fllr Iugendgewalt. Sie setzt sich ausfuhrlich mit der These vom Generationenkonflikt auseinander und schreibt der Gewalt - etwa als Ausweg aus dem Stigma Jugend - aueh positive Funktionen zu. Der Beitrag von Sabine Kur tenbach geht der Frage der Kontinuitat und des Wandels von Gewalt in Nac hkriegsgesellschaften nachoAls besondere soziale Raume konstituieren Nachkriegsgesellschaften fiir unterschiedliche Typen von Jugendlichen ein Spannungsfeld, in dem Gewalt aus verschiedensten Grunden irnrner wieder autbricht und die angestrebte Nachkriegskonsolidierung nachhaltig in Mitleidenschaft ziehr. Am Beispiel der Iu gendbanden in Zentralamerika gehen Sebastian Huhn, Anika Oettler und Peter Peetz der Frage nach, wie die Jugendbanden in der offentlichen Wahmehmung zu einer geradezu teuflischen Tatergruppe werden. Aus ihrer Analyse ergibt sic h, dass es sich dabei wesentlich urn eine sozia le Konstruktion handelt, die durch machtvolle Diskurse von Politik und Medien gesteuert und aufrecht erhalten wird. Sie rnachen zugleich deutlich, welche dramatischen Konsequenzen solch stigmati sierende Diskurse fi lr den Umgang mit den J ugendbanden beinhaIten. Der letzte Beitrag stellt dagegen starker konzeptionelle Oberlegungen tiber die unterschiedlichen Wege der Gewaltforschung an. Birte Hewera untersucht darin am Beispiel von school shootings und Amoklaufen, wie sich der sag. "mainstream" und die sog. .Jnnovateure" der Gewaltforschung analytisch der Gewalt nahem, welche Er-
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kenntnisse sie dabei gewi nnen, und wo die Starken und Scbwachen ihrer jeweilige n Analysen liegen. Der vorliege nde Band ist damit kein klassisches Buch tiber d ie Gewalt von J ugendlichen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten, sondern eines, das neben der inhaltlichen Differenzierung der Gewaltproblematik von Jugen dlichen analytische Perspektiven auf das Thema Jugendgewalt eroffnet. Es setzt sich mit einer Gruppe auseinander, d ie im globa len MaBstab betrachtet das Gros der Bevel kerung stellt. Und es wi ll nicht zuletzt einen Beitrag zu der interna tional Hingst ganz oben auf der politischen Agenda ste hende n Debatte urn die Zukunft der Jugendlic hen und die Rolle der Gewalt leisten und entsprechende Diskuss ionen weiterfu hren.
Jugendgewalt in EntwickJungsl3ndern - Hintergriinde und Erklarungsmuster Peter Imbusch
1. Einflihrung Die folgende Untersuchung setz t sich mit de m Problemfeld Jugen d und Gewalt in sogenannten Entwic klungsllindem auseinander . Insbesondere ge ht es dabei urn m6gliche Ursachen und Hintergriinde filr Jugendgewalt sowie urn Erklarungs ansatze, d ie verstandlich machen, wie es zu dieser Gewalt komm t, welche Ausl osefaktoren es fur die Gewalt Jugendlicher gibt und mittels we lcher Theorien sich Jugendgewalt erkl iiren lasst. Sodano wird auch nach mcgli chen Bekampfun gsmoglichkeilen gefragt und werde n Dberlegungen im Hinblick auf die Reintegr ation von Ju gendlichen nach Gewalterfahrungen angestellt. Es ist unmi ttelb ar einsichtig, dass das Phanome n Jugendgewalt bereits an sic h hoch st viel schichtig ist und eine Vielzahl unterschi edlicher Phanomen e und Aspekte beinhaltet. Dies trifft noch starker zu, wenn das Thema Jugendgewalt in Entwlc kl ungslandem im Foku s der Betrach tung steht. Deshalb wird im Foigenden vers ucht, Erscheinungsfo rme n und Hintergrande vo n Jugendgewalt kultu rspezifisch fur einzelne Regionen zu beleuchten, urn einen Eindruck von der Unterschiedlichkeit und der Bandbreite der Gewa lt von Jugendlichen zu vermitteln. Denn trotz manch er grundlegender Gemeinsamkeit zw ischen Jugendlichen in hochentwickelten Induslriegesell schaften und unterentwic kelten Regionen gibt es doch bet rachtliche Differenzen zwischen ihn en , die nich t nur mit dem allgemeinen EntwickJungsniveau, sondem insbesondere mit den konkreten Lebensbedin gungen und der Lebenssitu ation von J ugendlichen z u tun haben . Auch variiert das Verstandnis vo n dem, was Jugend jeweils bedeutet oder hei6t , betrachtlich. Das ist aber nur die eine Seite des Problemfeldes Jugend und Gewalt, namlich die von Jugendliehen als Ta tem. Zumindesl ebenso gewichtig ist jedoch die Kehrseite, namli ch Jugendli che als Opfer. Jugendl iche sind in hohem Mage und in ganz versehi edenen Lebenskontexlen der Gewalt - zumeist relativ schutzlos - ausgeliefert. Sie sind in vielen Landem die Hauptleidlragenden von Gewa Itanwen d ungen oder der Foigen von Gewalt . So sind sie beispielsweise Gewalt in hohem Ma6 e im sozialen Nahbereich (Famili e, Verwandlschaft, Nachbarsehaft) ausgesetzt; Ju gendliche selbst sind die Hauptopfe r von Jugend gangs und Banden; Gewalt erfa hre n sie aber aueh durch gewaltsame Konflikte, Staatszerfall und Biirgerkri ege . Ents preehend zieht sieh durch die gesa mte Literatu r tiber das Thema J ugend und Gewalt ein fundamentaler Gegen satz: Entweder werd en Jugendliche als passive Opfer gesehen, denen geholfen werden muss, od er sie werden als aktive Tater und damit als
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Bedrohungen fur die Sicherheit und Ordnung eines Landes betrachtet. Differenzier te, auch die Ambivalenzen der Jugendphase reflektierend e Betrachtungen sind se llen. In diesen einfuhrenden Be merkunge n wird es neben einigen grundlegenden Ausftihru ngen zur Problematik der Jugendphase v.a. urn Definitione n und Begriffe , urn Gru ndlagen und Abgrenzun gen, urn Diffe renzierunge n gehen, die zum vcrstandnis der Probl ematik Jugend und Gewalt w ichtig sind. Denn es ist nlcht unbedingt klar, was Iiberhaupr gemei nt ist, we nn vo n Jugend gewalt in de n Entwicklung-
slandem die Rede ist. Wie viele gewalttatige Jugendliche gibt es in der Dritten Welt ? Wer sind d ie Jugendli chen, urn die es geht? Welche Eigensc hafte n und Attribute besitzen sie? In we lche n sozialen Kon texten leben sie? Schli eBlich : Was sind typ isch e Fo rmen von Ge walt Jugendli cher? Und welche Kosten beinhaltet diese Gewalt fur die Gese llsc haft?
1.1 Wer sind die Jugendlichen ? Eine adaquate Defin ition des Begriffs Jugend zu gebe n und damit zug leic h die Lebenswelten der Jugendli chen ein zu fangen, ist zunac hst einmal schwierig. Das liegt weniger daran , dass man nicht chronologisch ein bes timmtes Alt er fes tlegen ko nnte , in dem man die Heranwachsenden als Jugendliche bezeichn et , so ndern wesentlich an fun ktionalen oder kulturellen Aspekten, tiber die Jugend ebenfalls definiert werde n konnte. So bezeic hnet etwa die Ubl-Kinderkonve ntio n gleich zu Beginn in ihrem etst en Artikel , dass ein Kind jedes menschliche Wesen unter 18 Jahren ist, so fe m nicht Gese tze bestehen, die de n Erwachsenensta tus ausdrucklich eher festlege n. In der groBen Mehrh eit der U nder liegt die Schwelle zum Erwachse nsei n jedoch bei 18 Ja hren, so dass sie sic h auch in wei teren Konventionen findet. And ere chronologisch angelegte Definition von Ujc-Organlsa uonen weisen gege nube r dieser sta rk dichotomen und ju ridischen Sicht weise (K inder vs. Erw ac hsene) starker e Differenzier ungen und v.a. Uberlappu ngen auf. Als Jugendliche (adolescents) geIten der WHO, UN ICEF und UNFPA etwa aile Personen der Alt ersgruppe zwisc hen 10 und 19 Jahren. Die UNO se lbst bezeichnet das Alte r zwischen 15 und 24 Jahren als Jugend (youth) und betracht et Personen zw isc hen 10 und 24 Jahren als j unge Leut e (young people). Wei! die meisten Defi nitionen von Jugend auf wes tlichen Verstandnisse n bzw. Th eori en der Kindentwicklung aufruhen, die jedoch keineswegs uberall Giiltigke it bes itzen, gibt es daneben noc h starker funkt ional oder kulturell ausgerichtete Defin itionsversuche. Funktionale Defi nitio nen von Jugendlichen heben darauf ab, dass Jugend etwa das Alter umfasst, in dem es urn den Ubergang vo m Kindsein zum Erwachse nsein geht , und das durch bestimmte Ritu aIe und phys isc he Vera nderunge n gekermzeichnet ist. Kulturelle Defini tionen hin gegen nehmen starker auf die sozialen Kontexte Bezug, also auf die Roll en , di e Individ uen in einer bestimmten Gese llsc haft zugeschrieben we rden oder ubemehmen. Beide Definitionslini en beriicksichtigen dami t sta rker die regionale kulturelle
JUi endcewalt in Entwicklun&slandem
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Vielfalt und die groBe Variabilitat der Zuschreibung des Status' Jugendlicher, der eben friiher oder spater erreicht wird . Jugend ist dann ein soziales Konstrukt und kein ein fiir aile Mal festgelegter Altersabschnitt. Jugend hat weniger mit einer bestimmten Altersstufe zu tun, als mit einem bestimmten Status und Verhalten. Der World Youth Report gibt folgende allgemeine Definition : "Youth represents the transition from childhood to adulthood and is therefore a dynamic stage in an individuals development. It is an important period of physical, mental and social maturation, during which young people are actively forming their identities and determining acceptable roles for themselves within their communities and societies. They are increasingly capable of abstract thought and independent decisionmaking. As their bodies continue to change, their sexuality begins to emerge, and they are presented with new physical and emotional feelings as well as new social expectations and challenges." (World Youth Report 2005: 150) Betrachtet man Jugend in diesem Sinne, dann lasst sich der Ubergangsprozess wesentlich durch funf Dimensionen kennzeichnen: intensives Leme n, urn skills und Humankapital fUr das Leben zu bilden; Eintritt in das Berufsleben, urn sich und ggf. die Familie verso rgen zu konnen; Gesundbleiben und mit Gesundheitsrisiken und -gefahrdungen umzugehen lernen; Familien griinden und sich auf die Elternschaft vorbereiten; BOrgerrec hte und Bilrgerpffichten in einem Gemeinwesen kennen- und auszuiiben lernen. Nicht selten wird der Terminus Jugend entsprechend im Sinne einer allumfassenden Kategorie benutzt, urn eine koharente Gruppe zu charakterisieren, in der Differenzen von Geschlecht, Klasse, Ethnizitat o.a. als sekundar gege niiber der gemeinsamen Identitat als Jugendliche betrachtet werden. Es darf aber nicht tibersehen werden, dass diese Aspekte der Jugendphase keineswegs auBerlich bleiben. Das Leben von Jugendlichen in der Dritten Welt oder in einzelnen Entwicklungslandem zeichnet sich durch groBe Disparitaten im Zugang zu Ressourcen, enorme soziale Ungleichheiten und sehr unterschiedliche Lebensstile zwischen einzelnen Gruppen von Jugendlichen aus. In vielen Teilen der Welt leiden junge Menschen an Hunger, ihnen fehlt der Zugang zu Bildung und Gesundheitseinrichtungen, sie haben schlechte Berufsaussichten und sind in der Folge auch Unsicherheit und Gewalt ausgesetzt. Neben diesen ungleichheitsbasierten Aspekten spielen noch ethnische Untergliederungen fOr die Lebenschancen Jugendlicher eine gewichtige Rolle. Sind Gesellschaften stark ethnisch segregiert oder gibt es in ihnen starke ethnische Minderheiten, dann schlagen sich die unterschiedlichen Normen, Wertvorstellungen und Lebensweisen so nieder, dass sie schlieBlich eigenstandige Spalrungs- und Trenn linien in einer Gesellschaft konstituieren, die soziale Ungleichhei t noch verstarken. Nicht zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass Jugend auch eine bedeutsame und weitreichende Gender-Dimensio n enthalt. In diesem Entwicklungsstadium trennen sich namlich endgOltig die gesellschaftlichen Erwartungen und personlichen Aspirationen von Jungen und Madchen. Gerade Madchen und junge Frauen erfahren in diesem Zeitabschnitt neue Restriktionen und ihre Einstel-
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lungen und ihr Verhalte n, insbesondere ihre Sexualitat, wird starker .,iiberwacht". Haufig we rden junge Madchen aus den kulturellen Normen einer Ge sellschaft (Reinheit, Heiratsfahigkeit, Familienrepu tation, Ehre etc.) heraus starker "beschutzt" als dies bei Jungens der Fall ist. Wahrend sich die Handlungsspielraum e fur die mannlichen Jugendlichen erweitern, nehm en sie fi ir die weiblich e Jug end in der Regel eindeutig abo
1.2 Die Probleme Lugendlicher Entwicldung
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dem Hintergrund der demographischen
Die demographischen Trends in vielen Bntwicklungslandem verlaufen vollkommen kontrar zu denen der entwic kelten Industrieland er: Wiihrend letztere mi t Problernen der zunehmenden Uberalterung ihrer Gesellschaften zu kampfen haben, die bereits zu einem weitreichenden Umbau in den sozialen Sicherungssystemen zwin gen und noch ganzlich unabsehbare Konseque nzen fiir die Zukunft beinhalten, sind die meisten EntwicklungsUinder sehr junge Gesellschaften, d.h. der Anteil von Kindem und Jugendli chen an der Gesamtbevolkerung ist sehr hoch. Gegenwartig gibt es in den Entwicklungslandem die gr6Bte Jugendpopulation seit Mensch engedenken. UN-Statistiken sprechen davon, dass bis zu 48% der w eltbevol kerung unter 24 Jahre alt ist; 86% der 1O-24-Jahrigen leben in den Entwicklungslandern. Dort sind allein 1,3 Mrd. junge Leute zwisc hen 12-24 Jahren alt. Nahm e man den Anteil der Kinder hinzu, so erhohte sich der Anteil noch deutlich. Bezieht man diese in Bevolkerungsproje ktionen ein, dann wird die Zahl derI 2-24-Jahrigen ihren Gipfelpunkt mit 1,5 Mrd. Menschen im Jahr 2035 erreichen und danach nur graduell abnehmen. Hinter diesen allgemeinen Zahlen verbergen sich jedoch unterschiedliche regionale Trends: So hat die Zahl an Jugendlichen in Ostasien (insbesondere China) schon seinen Gipfelpunkt erreicht und nimmt langsam wieder abo Das gleiche gilt fur weite Teile Europas und Zentralasiens. Am anderen Ende der Skala findet sich die jugendliche Bevdlkerung im subsaharischen Afrika , die sich bereits seit 1950 vervierfacht hat und schnell weiter wachsen wird. Stidasien, Lateinamerika und die Karibik sowie die MENA-Region haben schon ei nen Gipfelpunkt (besser: ein hohes Plateau) erreicht und liegen zwischen den beiden Extremen, wobei die j ugendliche Bevclkerung in Lateinamerika eher auf hohem Niveau stag niert, in der MENA-Region (Middle East and North Africa) noch langsam wachst und erst in den nachsten 25 Jahren ihren absoluten Hohepunkt e rreicht (vgl. W orld Bank ZOO7: 33).
Wie sind diese unterschiedlichen demographischen Entwicklungstre nds zu erklaren? Wahrend in den westlichen lndu strieland em der demographisch e Wandel bere its im Laufe des 19. Jahrhunderts eintrat und das Sinken der Sterblichkeit schlieBlich mit einem verringerten Geburtenwachstum einherging, so dass sich Geburten- und Mortalitatsraten ungefahr die Waage hielten - das Bevolkerungswachstum betrug kaum 1% - . so verlief die demographische Entwicklung in quantitati-
lugendgewalt in Entwickluni-s!andem
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ver Hinsicht in den meisten Entwicklun gslandem ganzfich anders. Hier nahmen die Sterblichkeitsraten in den 1950er und 1960er Jahren stark ab und erz eugten ein Bev61kerungswachstum, das in manchen Landem tiber 4% pro Jahr betrug. Das rapide Bev61kerungswachstum dieser Jah re - die soge nannte Bev6lkerungsexplosion ist der Ursprung der gegenwartigen youth bulges, denn die heutigen Jugendlichen sind die Kinder der Generation jener Bev6lkerun gsexplo sion . Es ist unmittelbar einsichtig, dass nicht nur die Uberalte rung von Gesellschaften diese vor groBe Herausforderungen stellt, sondem dass ein hoher Anteil von Kindem und Jugendlichen ebenfall s zum Krisenfaktor fur Gesellschaften werden kann . Wenn Kinder und Jugendli che auch haufig pos itiv bewerte t und ihr grundlegender Beitrag zu Entwieklungsprozessen hervorgehoben werden, so machen in den letzten Jahre n doch immer baufiger Schlagworte einer ,,youth cisis " bzw. einer ,,youth in crisis" oder Vorst ellungen einer mit demographischen und sozioo konomischen Faktoren in Verbindung stehenden und .ausufemden Jug endgewalt" die Rund e. Wie immer man diese ,) ugendkrise" naher bestimmt - es ware interessant zu untersch eiden , ob es sieh urn ein e genuin e Krise der Jugend handelt, die dann Auswirkungen auf die Gese llschaft hat, oder ob sieh nieht die Gese llschaft in ein er Krise befindet, die wiederum dramatische Riickwirkungen auf die Jugendlichen hat scheint es zu stimmen , dass die Jug endliehen als Kategorie in der Meh rzahl hoch gradig unzufrieden mit ihrer Lebenssituation sind - und zwar unabhangig von der Weltregion . Relati v einhellig fiihlen sie, dass ihnen eine gute Ausbildung vor enth alten wird bzw. sie keine gute Erziehung bekommen k6nnen; sie haben nur schlechte Beschaftigungsaussichten und marginat e Hoffnungen auf eine n guten Beruf; sie identifi zieren sich kaum mit dem Denken und Handeln der Elte m; sie fiihlen sich in der Gesellschaft an den Rand gedrangt und sehen sich ohne wirklichen Einfluss. Wenn dies auch mit den schwierigen Ubergangsprozessen zum Erwachsenenalter zu tun haben mag, in dem Fragen der Identitat besonders gravierend sind, so kann ein Blick auf die realen Probleme in den einzelnen W eltregionen doch die Wahmehmung fur iiber schwierige Abgrenzungs- und Identitatsbildungsprozesse hinaus gehende spezifische Probleme der Jugendlichen scharfe n (vgl. zum folgend en World Bank 2006). Der afrikanische Kontinent steht mit seinem schnellen Wachstum der ju gendliche n Bevolkerung vor den gr66ten Herausforderungen . Uber 200 Mio. Menschen sind dort im Alter von 12-24 - und die Zahl wird in den nach sten 20 Jahren weiter stark wach sen. Die sich hier schon andeutende demo graphi sche Beule wird den Kontinent vor verschiedene Herau sforderungen stellen: Die mangelnde Gesundheitsvorso rge und die AIDS- Epidemie haben ein en ve rheerenden Effekt auf die Jugend des Kontinents. AIDS ist zur erste n Todesursache unter den jungen Leuten geworden, so dass die Leben serw artung fallt und die Mortalitat steigt. Viele Lander des Kontinents sind du rch Biirgerkri ege, gewaltsame Konflik te und Staatszerfall gekennzeichnet oder verfligen insgesamt nur tiber fragile
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Staatsstrukturen. Die Wiederherstellung einer grundlegenden Infrastrukt ur und sozialer Dienste, urn die Bediirfnisse von Jugendlichen zu befriedigen, wie auch die Demobi lisierung und Reintegration vo n ehema ligen Kampfe m und Kindersoldate n in das ziv ile Lebe n, sind vo rdringliche Aufgaben fur eine zu kiinftige Krisenpravention und eine Rezivilisierung. Auc h das Erziehungssystem steht VOT groBen Herausforderungen. Obwohl die Einsc hulu ngsraten iiberall gestiegen sind, schlie8en 45% der j unge n Menschen die Grundschule (primary schoo l) nicht abo Da der Uberga ng zu mittleren und hoheren Sc hulformen wege n mange lnder offen tlicher Unterstiitzung haufig nic ht mog lic h und der Zuga ng zur Universitat nach wie VOT exk1usiv Ist, sind fiir die meisten Jugendlichen Aussichten auf gute Jobs preka r. Die Jugendarbeitslosigkeit ist auf dem afrikanisc hen Kontinent von allen Welt regionen am hochsten. Da viele j unge Me nschen gezw ungen sind, schon friih zum Le bensunter halt beizutrage n, gibt es zudem im subsa harischen Afrika einen hoh en Anteil vo n Kindera rbeit im informellen Sektor. Info rmalitat und Kinde rarbeit bedeuten aber eine geringe Oualitat der Beschaftigung ohne jegliche soziale Sicherheit. Dariiber hinaus sind Fragen de r Herausbi ldu ng einer mann lich en ldentitat von besonderer Bedeutung, weil sie an de r Schnittstelle zwi sc hen Kon flikt und Gewalt, Sex und AIDS Iiegen und viel mit Gesch lechterhierarchien und Rollenzuweisungen zu tun haben. Die Zahl der Jugendlichen im Alter zwi schen 12-24 in Ostasien und der Pazifikregion hat mit ca. 450 Mio . Menschen - das Gras entfallt dabei auf China - nahezu ihren Hohep unkt erre icht. Besondere Probleme der Jugendlichen konnen in folgenden Tatsachen gese hen werden: Die Jugendarbeitslosigkeit ist in den meisten Landem erheb lich hc her aIs die der Erwac hsenen . Gr6Bere Diskrepanzen zwischen den Erzieh ungssystemen und den Arbeitsma rktanforderungen und abrupte Ubergange von der Schu le ins Arbeitslebe n sorgen hier fi lr relati v groBe Friktlonen. Konfl ikte und politische Instabilitat haben im Verbund mit w irtsc haftlichen Krisen und Regierungsversagen zu sozialen Entw urzelungsprozessen geftihrt, welche die Jugendlichen zu ei nem lnstabilitatsfaktor ersten Range s machen. Jugendliche kampfen in Ost-Timor fur die Unabhangigkeit, protestieren in Indo nesien gegen die repressive Politik der Regierung oder gehen in versc hiedenen anderen Landem als StraBengangs krimi nelle n Aktivitaten nach o Viele j unge Leute sind gezw ungen, fur bessere Lebe nsperspektiven ihre ange stammten Woh norte zu vertassen und zu migrieren. Sowohl die innergesellsc haftl ichen (La nd-Stadt-Migration) wie auch internationalen Migrationsbewegunge n sind vom Umfang her beachtlich, aufgrund der schlechten Ausbildung von Jugendlic hen aber aulierst risikoreich.
Jugendgewalt in Entwicklungslandern
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1m osteuropaisch-zentralasiatischen Raum gibt es annahemd 65 Mio. junge Leute im Alter von 14·25 - die Mehrheit davon in Zentralasien. Die wesentlichen Herausforderun gen kdr men hier in folgenden Aspekten gesehen werden: Der Ubergang von der Schute in die Arbeitswelt gelingt vielen Jugendlichen nicht. Es gibt hohe Abbreeherquoten, Analphabetismus und betriichtliche Fehlqualifikationen sowie eine hohe Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen. Ober 18 Mio. Jugendliche der Region (27%) sind sehlichtweg .ji berffussig'', d.h. sie arbeiten nicht und gehen auch nieht zur Schule. Diese Jugendli chen unterliegen Multi-Exklusionen und sind besonders anfallig fi ir kriminelle Aktivitaten jeder Art. Auch in dieser Region gibt es hohe interne und externe Migrationsziffem unter den jun gen Leuten. Der brain drain gut ausgebildeter Krafte und ein ausgepragter Menschenhandel gehoren mit zu den schwerwiegendsten Problemen fiir die Region und die Jugend. Mehr als 80% aller AIDS-Infizierten in der Region sind unter 30 Jahre alt. Drogenhandel, die Art des Drogengebrauchs und Prostitution tragen entscheidend zur Ausbreitung der Epidemie bel. Hall und Orientierung gebende Familienstrukturen losen sich durch den begrenzten Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt auf, so dass das Heiratsverhalten hinaus gezogert wird und die Zahl auBerehelieher Kinder dramatisch zunimml. Damit steigt das Armutsrisiko betrachtlich. Die Jugendlichen sind zu einem kritischen politischen Akteur in der Region geworden, weil sie nur ungenugend in politische Prozesse involviert und durch zentralistisch-autoritare Strukturen von effektiver Partizipation und sie betreffenden Entscheidungen ausgeschlossen sind. Die Zahl der Jugendlichen in Lateinamerika und der Karibik betragt ca. 140 Mio. Die Mehrheit der U nder erlebt diesbezuglich gerade einen demographischen Gipfelpunkt , in anderen steht er noch bevor. In einigen Landem betragt der Anteil der Jugendlichen an der Bevclkerung bis zu 60%. Soziale Ungleichheiten kennzeichnen hier die Situation der Jugendlichen . Schicht- und milieuspezifische Schulbildun g, unterschiedliche Beschaftigungsm6gIichkeiten, Arbeit im fonnellen oder informellen Sektor sowie Arbeitslosigkeit und Unterbeschaftigung sorgen fur eine betrachtliche Chancenungleichheit, die noch durch Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und der ethnischen Zugeh6rigkeit verstarkt werden. Ein berrachtlicher Anteil der jungen Leute verfiigt nicht tiber eine angemesse ne Schuldbildung. Von den 20·Jahrigen haben 50% nicht die secondary school abgeschlossen, hohere Bildung ist nach wie vor einer kleinen Schicht vorbehalten. Die Jugendarbeitslosigkeit betragt durchschnittlich 15% und liegt dam it betrachtlich tiber der der Erwachsenen. Die groBe Mehrheit der Jugendlichen verfugt nicht uber Erziehungs-Kapital und ist somit auch nicht in der Lage, ent-
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sprechendes Sozialkapita l zu bilden . Ca. 20% der Jugendlichen ziihlen zu de n sogenannte n " Oberfllissigen". Die AIDS -Infek tionen steigen insbesondere unter den Jugendl ich en in der Ka ribik stark an, ihr Zugang zu Gesundheitsdienstieistungen ist gJeichzeitig begrenzt. Jugendgewalt ist tiber die gesamte Region hinweg weit verbreitet. Insbesonde re die Bedeut ung vo n Jugendbanden und Gangs sowie die mit Orogen in Verbind ung ste hende Gewalt hat stark zugeno mmen. Die Mortalitatsraten unte r den Jugend lichen sind - liinderspezifisch unterschiedli ch - hoch . Vie le Jugendli che sehen den ei nzigen A usweg in regional er und iiberregionaler Migration. Ende der 1990e r Jah re lebten beispielsweise 2,3 Mia . j ugend liche Latei namerikaner in den USA. Dies hat in einigen Lande m bereits dramat ische Foige n fur die Familienstrukturen . In der MENA-Region leben etwa 100 Mio. J ugendliche zw ischen 12 und 24 Jah ren. Die Zahl der j ungen Menschen wi rd ihren Hochststand hier erst in den nach sten 25 Jahr en erre ichen. Die Jugendarbeitslosigkeit iSI eines der vordringlic hsten Probleme in dieser Region . Zwar iSI die Arbeitslosigkeit generell hoch , aber die Ju gendarbeitslosigkeit Iiegt haufig zw ischen 50 % und 60%. Angesichts der gro Ben Za hl Ju gendlic her stehen die Arbeitsmarkte ent er einem enonne n Druck, der nu r part iell durch die Expa nsion des Erziehungssystems und Migrat ionsprozesse ve rringert werde n kann . Obwohl Bildung und Erziehung bereits stark ausgewe itet w urden, ist die Qualitat und d ie Relevanz des Erlernten haufig gering, so dass die Besch aftigungsaussic hte n trotz verbesserter Alige meinbildung nicht steigen. Die politischen Systeme der Land er des Nahen und Mittleren Oste ns und Nord afrikas er lauben es den Ju gendlichen in der Regel nicht, an politischen Prozessen teilzuhaben und ihre Interessen geltend zu machen . Hohe Arbeitslosigkeit und blocki erte politische Kommunikationskanale sorgen filr Frustratio nen , die das Konfliktrisiko erhohen, Gerade in Transitionsgesellsc hafte n ist die Kon tliktivitat hoch . Das Zusa mmenspiel eines hohen An teils frustrierter Ju ge ndlicher mit wirtschaftlichen Krisenprozessen und polit ischen Block aden e rklart einen Gutte il der Konffikte der letzten Jah re innerh alb der Region. In der gesamten Region sind Gender-Diffe renzen stark ausgepragt. Obwo hl sic h der Zugang zu Bildung und Arbeit fllr Frauen in den letzten Jahren scho n verbessert hat, besteht hier ei ne betrac htliche Lucke fo rt, we il haufi g soziale Nor men den gleichberechtigte n Zugang beg renzen. Entsprec hend ist die AI· beitslosigkeit unter j ungen Frauen hoch und sind die erreic hte n Bildungsabschlllsse geringe r als die der jungen Manner. Schwangerschafte n stellen zudem in de r Region ein bet rachtliches Ges undheitsrisiko dar, weil damit verbundene Erkrankungen eine bedeutende Todesursache fur junge Frauen sind.
Ju~ndiewalt
in EnlwickJungsUindem
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In Siidasien bet ragt die Zahl j unger Mensch en zwischen 12-24 Jahre n ungefahr 400 Mia. Das sind ein Fiinftel der Gesamtbevo lkerung der Regio n und etwa 30% aller Jugendlich en in den Entwicklungslandem. Ihre Zahl wird noch langsam zune hme n und in den nach sten 25 Jahre n in den meisten Ui ndern einen Gipfelpunkt erreichen. J ugendliche stellen auch in diese r Regio n etwa die Halfte aller Arbei ts losen. Das Beschaftigungswachstum hat hier nicht mit de m allgemei nen w irtsch aftswachstum Schritt gehalten und es gibt ein betrachtliches Missverhalt nls zwischen den in der Schule erworbenen und den vo n Unte me hmen erwarteten Qua lifikationen. Zudem ist der Anteil vo n Kindera rbeit in dieser Regio n se hr hoch. Die Jugendlichen sind in hohem Mabe Gesundheitsrisiken ausgesetzt: Dies betrifft zum eine n die geringe Kenntn is tiber sex uell iibertragbare Kra nkheite n und risikoreiches Sex ualverhalten - 50 % aller Neuinfektionen mit AIDS entfalle n auf Jugend liche -, zum anderen eine sch lechte Ges undheit sversorgung so sind 15%-20% de r Todesfalle von jungen Fraue n auf Schwangerschaftskomplikationen zuriickzufil hren. Auch ist der Tabakkonsum unter Jugendlic hen stark angestiegen. Gender-Untersc hiede sind zudem in de r Region von groBer Bede utung. Sie benac hteiligen junge Frauen auf vielfaltige Art und Weise. Dies beginnt mit geringen Einfl ussmoglichkeiten in Bez ug auf d ie Ausbildung, betrifft soda nn d ie mogliche Partnerwahl und setzt sich spater bei Entsc heidungen in der Familie fort . Uber 40 % der weib lichen Jugendlichen sind verheiratet , bevor sie das 18. Lebensjahr erreicht haben. Die Analphabetenquoten sind unter j ungen Fra uen er heblich hoher als bei mannlic hen Verg leichsgruppen. Zudem sin d die jungen Fra uen in hoh em Mafie Gewa lt im soz ialen Nahbereich ausgesetzt und hau sliche Gewalt ist eine der baufigsten Todesursac hen fiir j unge Fraue n in der Region. Frauen handel und sexuelle Ausbeutung, insbesondere von Fra uen aus armen landl ichen Gegenden, sind an der Tagesordnung.
1.3 J ugend und Gewall Wenn es urn die T hematik ,,Jugend und Gewalt" geht , ist man zunachst gut bera ten, sich vor allfalligen Vereinseitigungen des Themas zu hiiten. Nic ht nur ist der Umfang des Problems in einzelnen Lande m hoch st unterschied lich , sondern es gibt auch das , was man die "Normalitiit" von Jugend nennen konnte . Damit ist gemeint, das s auch Jugendlic he in der Dritte n We lt in relativ gesc hiitzten oder behiiteten Ver haltni ssen aufwachsen , nicht ode r kaum mit Gewalt in Beriihrung kommen und sie - du rch welche Umstande auch imme r - nicht gewa lttatig we rden. GewaIt hat auc h in der Dritten Welt einen relativ eindeutigen Sc hicht - und Milieubezug, d.h. diejenigen Jugendlic hen, die zu Gewalttatem werden, entstammen in ihrer iibergroBen Meh rheit aus den untere n Schichte n ode r prekare n Sozialmilie us. Zudem muss daran eri nnert werden, dass Jugendgewalt in der Dritte n Welt - wie auch
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hierzuland e - heiflt, dass ganz uberwiegend junge Manner Gewalt anwe nde n uod junge Frauen nur zu einem verschwindend geri ngen Anteil daran beteiligt sind. Dass das Thema .J ugend und Gewa lt" so stark im Mittelpunkt des offe ntlichen
Interesses steht, hat zum einen damit zu tun, dass Jugendgewalt in viel h6herem MaSe sichtba r ist als die Gewalt andere r Gruppe n. Sic findet namlich - im Gegensatz etwa zu hauslicher Gewalt - haufig als Gruppengewalt in Gangs, in der Of· fentlichkeit ode r in der Schule statt. Zu rn andere n erregt die Gewalt und Brut alitat Ju gendlich er aufgr und ihres Alters ordn ungspolitisc he und sozialpadagogische Aufme rksa mke it, wei! es urn Sic herheitsbediirfnisse der Bevolkerung und Praventions- oder InterventionsmaBnahmen ge ht, um die Jugendl ichen wie der oder Ilberhau pt in die Gese llsc haft zu integ rie ren. Sch lie6l ich tragt die medi ale Berichterstattung daz u bei, di e Gewalt von Ju gendlichen grell auszuleuch ten und Hilder und Metaphem in der Offe ntlichkeit zu verbreiten, d ie dann haufig zu einer Ube rsc hatzung des Phanomens wie der Gewalt genere ll fU hren. Gleichwohl ist der immer wiede r hergestellte Nexus von Ju gend und Gewalt d urchaus berechtigt, denn Jugendliche sind wei t ube rproportional in gewaltsa me Ko nfli kte verstrickt und das Gros der Gewalt, der Straftaten, von Devianz und kriminellem Verhalten wird vo n Jugendlich en und j ungen Mann em begange n. Hier ist sogar im letzten Ja hrze hnt eine VerjUngung der Gewalttater und eine Verroh ung im Gewaltve rhalten Jugendlicher festste llbar. Neben der diffu sen ungerichtete n Ge wa lt oder rein instrumen tellen Gewalthand lungen muss Gewalt aber auch im Kon text der Ausdr ucksm6glichkeiten von Jugendli chen betr achtet werden, die in spateren Le bensabschnitte n an Releva nz verlie ren. Das Jugendalter gilt als eine experimenti erfr eudige Lebensphase , in der Ide ntita te n ge bildet und Pers6nlichkeitsmuster geformt we rden. Mannlicbkeitsnormen und Mannhaftigkeitsrituale, die auch den Einsatz ko rper licher Gewalt als Mittel der eigenen Interessendurchsetzung bei nhalten, und Legitimie runge n agg ress ive r und auffa lliger Ve rha ltensmuste r sind an der Tagesordn ung. Die komplexe, dur ch hoch gradige A mbivalenzen gekennzeichnete und identitatsmabig bruchige Jugendph ase ladt also gewissermaBen auch zur Gewa lt ei n bzw . legt sie als Handl ungsmuster zur Selbstbehauptung nahe.
1.4 Um welche Gewalt geht es? Doc h was so li Uberhaupt unter Gewa lt verstanden werde n? w elche Arten und Typen vo n Gewalt we nde n Jugendliche an oder sind sie ausgesetzt? Und welche Hintergriinde und Ursac hen hat deren Gewalt ? Da ein Te il dieser Fragen in den fo lgende n Abschnitten niiher er6rt ert wi rd, so llen an dieser Ste lle nur einige ei nfuhrende und gru ndlege nde Differenzie ru ngen vor genommen werden. Das betrifft zunachst den Gewaltbegriff und die universell gultige Unterscheidu ng von direkter, struktureller und kultureller Gewalt (Imbusc h 2(02). Ais Gewalt wird in der Regel zunac hst der Kernbereich der direkte n physischen Gewaltanwe ndung gegen ande re Personen versta nde n, deren Ziel die Sc had igung, Uberwaltigu ng oder Ube rmacht i-
Jugend gewalt in Entw ickiungsUindcm
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gung ist. Die Gewalt selbst kann dabei eher ungeriehtet sein (z.B. bei Cliquen, Gangs oder Jugendbanden, die mit wahllosen Uberfallen, Diebstahlen und Bedrohungen auf sieh aufmerksam machen), instrum entellen oder zielgerichteten C harakter haben (z.B. bei Raubem und M6rdern, deren Gewa lt in der Regel auf ein be sti mmtes Ziel oder Gut gerichtet ist; oder bei Hooligans, Skinheads und rechtsextremen Gruppen, die ihre fremdenfeindlichen und rassistischen Mentalitaten in Gewa lt umsetzen) oder rein express iv ausge ubt werden (z.B. als Ausagieren vo n Msnnlichkei tsritualen , Lust am Zoff, SpaB an harteren Gangarten etc.). Diesem Kernbereich der direkten physischen Gewa lt, die als Variation auch noch die psychische Gewalt beinhaltet, steht die strukturelle Gewalt gegenl lber. Unter stru ktureller Gewalt versteht man jene Formen und Arten der Gewa lt, die ohne direkten Tater auskommen und die sich eher aus den anonymen Strukturen einer Gesellschaft ergeben. Sie beschneidet Entfaltungsmoglichkeiten von Menschen, reduziert Lebenschancen und verbaut Zukunftsoptionen, ohne dass dies dem Einzelnen immer bewusst ist. Die Wirkung tritt in der Regel als sozialer Zwang auf, der von Ge und Verboten begleitet wird, erlebt wird sie als soziale Ungerechtigkeit. Erfahrungen struktureller Gewalt von Jugendl ichen (Armut, Ausgrenzung, Marginalitat) konnen - je nach Umgang mit dieser Realitat - selbst eine wichtige Quelle vo n Gew alt seite ns der Jugendlichen werden . Aufstandsbewegungen, riots, gewa ltsa me Proteste und Plunderungen sind die gelaufigen Ausdrucksformen dieser aus Verhaltnissen struktureller Gewalt resultierenden Gewaltformen. Ais kulturelle Gewalt beze ichnet man demgegenuber all jene legitimatorischen, beschcni genden, beschwichtigenden und verdec kenden Argumentationen, die darauf abzi elen, Gewalt nicht mehr als solche erscheinen zu lassen, ihren an sich problematischen Charakter zu verkleinern oder ihren Einsatz boffahig zu machen. Kultur elle Gew alt weis t ein groBes Spekt rum von moglichen Begrundun gen fur Gewa lt seitens der an Gewalt Interessierten auf und besteh r etwa in der Vemiedlichung der Gewalt (z.B. .Jst doch nicht so schlimm", "hat uns auch nieht gesc hadet") , der Akzeptanzsteigerun g von Gewa lt (z.B. .jst doch gar keine Gewalt", "ist notwendig zur Verteidigung") und der Legitimierung bestimmter Gewa ltarten (z.B. "wir mussen hart und mit alIen Mitteln zurucksc hlagen" , "Gewalt ist das einzige, was jetzt noch hllft"). Nimmt man hier noch symbolische Gewa lt hinzu, also Gewalt, die sich iiber Worte (z.B . Propaganda, Beschimpfen, Abwerten), Gesten (z.B. Uberlege nhe itsgesten, P6be leien, Mobbing, Bullying) ode r kulturelle Normen (z.B. Zwangsbesc hneidung (Female Genital Mutilation - FGM) , kcrperliche Ziichtigung) realisiert, da nn lasst sich in Bezug auf Jugendliche nieht nur feststellen, dass diese bauflg einen ruppi ge ren Umgangston pflegen, der auch vor dem Einsatz von Korperkraft nieht zuruckschreckt, sondern in ocr Auseinande rsetzung mit anderen Jugendlichen auch kraftmeierische Haltungen an den Tag legen, die bereits im Vorfeld der eigentlic hen Gewa lttat Ehrfurcht, Angst oder Schrecken verbreiten sollen.
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1.5 Umf ang und Form en der Gewalt Jugendliche und JURge Manner sind in allen Gesellschaften die hauptsachlichen Gewalttater. Gewa lt durch Jugendliche gehort zu den sichtba rsten Formen der Gewalt in jeder Gese llschaft. Die Jugendlichen sind abet auch diejenigen , die am haufigsten Opfer von Gewalttate n werden. Morde und nicht todlich verlaufende Gewalt sind weltweit eine zentrale Ursache fur vorzeitigen Tad, schwerwiegende Verletzun gen und Invalidi tat. Da ei ne genaue Erfass ung alle r Gewalttaten nicht moglich ist und diesbeziiglich nieht nur betrachtlich e Dunkelziffem , sondem haufig auch nur Hickenhafte statistische Aufzeic hnungen existieren, soil im Foigende n am Beispiel der Mordraten an Jugend lichen Ausma6 und Umfang des Problems annaheru ngsweise verdeutlicht werden. Fiir das Jahr 2000 wird gesc hatzt, dass etwa 199.000 Jugendliche durch Tot ungsde likte umgekommen sind (das sind 9,2 pro l00.()(X) Einwo hner). Das bede utet, dass im Durchschnitt j eden Tag 565 Jugendliche zwischen 10 und 29 Jahren an den Folge n interpersoneller Gewaltanwendung gestorben sind. Die Homiz idrate n variiere n je nach Region betrachtlich : Sie reichen von 0,9 pro 100.000 in den westeuropaischen Gesellschaften und Te ilen Asie ns und des Pazifiks iiber 17,6 pro 100.000 in Afrika bis hin zu 36,4 pro 100.000 in Lateinamerika (WH O 2(02). Die Ho mizidrate n unterscheiden sich aber nicht nur in verschiedenen Weltregion en, sonde rn auc h hinsichtlich einzelner Lander drastisch voneinande r (siehe Tabelle 1). Vo n den Lande m , fiir die iiberhaupt entsprechende WHO-Daten ve rfiigbar sind, weisen die j ugendlichen Homizidrate n fl lr bestimmte lateinamerikanische Staaten - 84,4 pro 100.000 in Kolumbien; 50,2 pro 100.000 in El Sa lvado r; 32,5 pro 100.000 in Brasilien - und die Karibik - 41,8 pro 100.000 in Puerto Rico - die hoch sten Werte auf. Mit Werten zwischen 15 und 25 Tot ungsdeli kte n pro 100.000 folge n z.B. Venezuela, Ekuado r, Mexi ko und Panama. Vergleic hswei se geringe Raten (3 bis 6 pro 100.(00) weisen dagegen Arge ntinien, Chile, Uruguay und Costa Rica auf. In Osteuropa we isen die Russische Federation (18,0 pro 100.000) und Alba nien (28,2 pro 100.(00) die hoc hsten Werte auf. Abgesehen von den USA mit einer Homizidrate vo n 11,0 pro 100.000 sind die meisten Staaten mit Homizidraten iiber 10 pro 100.000 entweder Entwicklungslander oder sog. Transformatio nslander, die einem schne llen sozioo kono mischen Wande l ausgesetzt sind. Die U nder mit den geringsten Homizid raten liegen in Westeuropa - 0,6 pro 100 .000 in Frankreich; 0,8 pro 100.000 in Deutsc hland; 0,9 pro 100.000 in Gro8britannien - ode r in As ien - 0,4 pro 100.000 in Japan.
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Jugendgewalt in Entwicklungslandem
Tabelle 1: Homizidraten unter Jugendlichen (10-29 Jahre) in ausgewahlten Landem Lond
Jahr
Albani en Argent inien Australien Ase rbaidsc han Brasilien Chile Deutsc hland Ekuador EI Sa lvador
1998
1996 1998 1999 1995 1994 1999 1996 1993 Frankreich 1998 GroBbritannien 1999 Italien 1997 Japan 1997 Kanada 1997 Kasachstan 1999 Kirgistan 1999 Kolumbien 1995 Kuba 1997 Mexiko 1997 Nicderlande 1999 Paraguay 1994 Polen 1995 Puerto Rico 1998 Russland 1998 Snanien 1998 Siidkorea 1997 1994 T hailand Turkmenistan 1998 Ukraine 1999 1999 Unzam USA 1998 Usbekistan 199 8 Venezuela 1994 WeiBruss land 1999 (WHO : World Report on
Gesamtza hl
Homizidraten
total 28,2 325 628 5,2 1,6 88 194 6,7 20386 32,5 146 30 156 0,8 757 15,9 1147 50, 2 91 0 ,6 139 0, 9 210 1,4 127 0,4 143 17 631 11,5 4,6 88 12834 84,4 348 9,6 5991 15,3 60 1,5 10,4 191 186 1,6 41 ,8 538 7885 18,0 96 0 ,8 282 17 1456 6,2 131 6,9 8,7 1273 41 1,4 8226 11,0 249 2,6 2090 25,0 267 8,8 Vio lence and Health, S. 28f. )
pro 100.000 Einwo hner mannlich 53,5 8,7 2,2 12,1 59,6 5, 1 1,0 29 ,2 94,8
0,7 1,4 2,3 0,5 2,5 18,0 6,7 156,3 14,4 27 ,8 1,8 18,7 2,3 77 ,4 27,5 1,2 21 10,0 12,4 13,0 14 17,9 3,8 46,4 13,2
weib lich 5,5
I6 1,0
--5,2
--0,6 2,3 6,5 04 0,4 0,5 0,3 0 ,9 5 ,0 2,4 11,9 4,6 2,8 1,2
--0,8 5,3 8,0 0,4 1,3 2,2
--4,3 1,5 3,7 1,3 2,8 4,3
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1m Bereich der Homizidraten zeigen sich auch bedeutsame gesch lechtsspezifische Unterscbiede. Beina he iiberall ist die Betroffenheit vo n jungen Fra uen betrachtlich geringer als die von jungen Mannem. Grund satzlich gilt: Je hoher die Homizidrate ist, desto starker sind auch mannliche J ugendliche die Opfer und desto weniger sind Madchen und JURge Fra uen betroffen. In den Landem mit den hoch sren Homizidraten betragt die Re lation ca . 1:15. Da sich Jugendgewalt nicht in Totungsd elikte n erschopft, konnen zur Abschiitzung ihre s AusmaBes zumindest fur manche Lander auch noch weitere Daten tiber nicht todlich ver laufe nde Gewalt herangezoge n werden , urn zu ei nem abgerundeteren BiJd des Phanomens zu gelangen. Diesbeztigliche St udie n haben ergeben, dass zu jedem Totungsdelikt noch 20-40 Gewalttaten hinzugerechnet werden mussen , die nieht tod lich enden , deren Ve rlet zungen aber eine medizinische Versorgung notwendig mac hen . Die groBe Mehrheit der Opfer ist auch in diesem Fall mannlich (WHO 2002: 28).
1.6 Konseq uenzen der Gewalt Jugendgewalt hat betrachtliche individuelle und gese llsc haftliche Konsequenzen . Diese kon nen beispielsweise nach nichtmonetaren und direkten bzw . indirekten mo netaren Kosten differenzierl we rden . Sc hlieBlich zeitigt Gewalt so ziale und c konomisc he Multiplikatoreffekte, die Gewalt und Kriminalitat in hohem MaBe zu einem ernsthaften Entwick lungshindemis macht (Morrison/Biehl 1999 ; Buv inie/Morrison/Shifter 2003; Heinemann/Verner 2(06). Am Anfang stehen die individuelle n und nichtmonetaren Konsequenze n der Gewalt. Kind er und Jugendliche als Opfer mussen zunachst einmal mit den unmittelbaren physischen Folgesc haden fur die Gesundheit fertig werden (je nach Schwere und Art der Verletzu ngen von wieder heilenden W unden bis hin zur dauerhafte n lnvaliditat), haben Einschrankungen der sexuellen Leistungs- und Regenerationsfahlgkeit zu tragen (sex uelle Dysfunktionen , Geschlechtskrankheiten, AIDS, ungewollte Schwangerschaften), leiden unter vielfaltigen psychologischen Folgeerscheinungen der Gewalt (Alkohol- und Drogenmissbrauch, Depressio nen und Angstzustande, Ess- und Schlafstor unge n, Scham- und Schuldgefllhle, relardierle Entwicklung, gewalttatige und krimi nelle Verhaltensweisen, Hyperaktivitat, geri nges Selbstwertgefuhl, JYfSD. psych osomatische Storungen, Selbstmordgedanken), und mussen mit den langfristigen Folgewirkungen vo n Gewalt umgehen (hoh eres Ste rblichkeltsrisiko, geringere Lebe nserwartungen durch Krebs, Herz- und Kreislauferkra nkungen, Unfruchtba rkeit). Gewall bring! zudem erh ebliche finan zielle Koste n mit sich . Dies beginnt mit den direkten Kosten (wi e medizinische Behand lung und Versorg ung, Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte sowie die Inanspruchnahme anderer medizinischer Dienstleistungen), und
Jugendgewalt in Entwickluneslandem
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den indirekten Kosten (wie Prod uktivitatsve rluste, Invaliditat, geringere Lebensqualitat und vorze itiger Tod), und reicht bis hin zu den durch Gewa lt entstehende n Kosten fur den Staat und seine Institutionen (e rhohte Ausgaben fiir Polizei und Justiz, die mit der Verfolgu ng der Tate r zu tun haben; Kosten, die Wohlfahrtseinrichtungen fur die Betre uung von Opfern und Tate m entste hen; Kosten in Zusammenhang mit Pflegebed tirftigkeit; Zersto rung von Infrastruktur). Die oko nomischen Mult iplikatorwirkungen von Gewalt betreffen v.a. makrooko nomisc he Produktivitatseffekte (verringerte Investitions- und Sparquoten, Kapitalflucht, niedrigere Staatseinnahmen, Niedergang des Tourismus, verze rrte Ausgabenstrukturen), intergenerationelle Produk tivitatseffekte (behin derte oder erschwerte Aufstiegschancen durch mangelnden Schulbesuch, geringere Einschulungsrate n du rch zerstorte oder auseinande r gerissene Familien, Wiederholung von Sc hulklassen seitens der Kinder und Jugendlichen), sowie den Arbeitsmarkt (ge ringere Partizipation am Arbeitsmar kt, geringe re Produktivitat, niedrige re Le hne, Produktionsausfalle durch Absent ismus). Die soziopolitischen Multiplikatorwirkungen von Gewa lt betreffen v.a. die zw ischenmensc hlichen Beziehunge n (A bnahme von Sozialkapital, die Wei tergabe von Gewalt tiber die Generationen, Erosio nsprozesse des sozialen Lebe ns und des Zusammen halts von Gese llschaften), die Lebensq ualltat der Burger (reduzierte Lebe nsq ualitat durch Angs t und Unsicherheit, Uberwa chungs- und Sc hutzmaBnahmen, Entstehung von no go areas, Bedroh ungsgefuhle und gestiege nes Opferrisiko), und den Staat (A utoritats- und Glaubwu rdigkeitsverluste, Erosion des staa tlichen Gewa ltmonopols, verri ngerte Partizipation an demokratischen Prozessen und Verfa hren). Es ist unmittelbar einsichtig, dass Gewalt und Krimin alitat emsthafte Entwicklungsprobleme herauf beschwore n. Durch die bet rachtlichen gesellsc haftlichen Kosten, die du rch ein hohes Gewaltnivea u entstehen, werden Mittel geb unde n, die ande rweitig sinnvoller gen utzt werden konnten. Auf diese Weise behin de rn odcr verzogem hohe Gewa ltnivea us in Gese llschaften in der Regel Entwicklungsprozesse. Vers ucht man einmal die Kosten, die mit Krimin alitat und Gewa lt einhergehen, zu beziffem, dann gehen Schatzungen etwa fur den lateinamerikan isch en Konti nent davon aus, dass sich diese Kosten auf 14% des asp belaufen; 1,9% des Human kapitals der Lande r geht jahrlich durch Gewalt verloren. Da sich die einzelnen d urch Gewalt induzierten Kosten und Effekte kumulieren, lasst sich sagen, dass in eine m extrem gewa ltdurchwirkten Land wie Kolumbien das Pro-Kopf-Einkommen heute um tiber 30% hoher Iiegen konn te als dies real der Fall ist (WHO 2004). Bei Prozessen des Staatszerfa lls und endemischer Gewalt, in Btirger kriegssituationen und langanh altenden Konfliktkonste llatio nen schlieBlich findet gar keine Entwic klung mehr statt, die diesen Namen noch verdie nte. Die Zersto rung der sozialen und oko-
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no mischen Gru ndlagen cines Landes , die Entwicklung von Gewaltmarkten und die Beanspruch ung insbesondere der jungen Mensc hen fi ir zerstorerische Aktivitaten begrundet in der Rege l de n entwickJungspolitischen Ruin und sorgt fur die nachhaltige Verarmung cines Landes.
2. Erscheinun gsforrn en und Hint ergriinde In de r Berichterstattung tiber Jugend und Gewalt in Entwicklungslandem fi nde n sich vielfaltige Ste reotypen und Ve rei nseitigungen. Lange Zeit wu rden Kindheit und Jugend in EntwickJungsgesellsc haften gar nlcht angemessen als Themen wa hrge nom men. Spiller beherrsc hte beispielsweise der Topoi des Kinderso ldaten die offentliche Aufmerksamkeit und so rgte ob der Umstande de r Rekrutierung regelmabig fi ir Emporung. Nach der Beendigung viele r gravierender Bilrgerkriege in Afrika standen eine gewi sse Zeit Jugendbanden oder Gang s etw a in Sudafrika oder in Mittelamerika irn Mittelpunkt des Interesses. He ute wird dagegen in Beso rgni s erregender Wei se tiber die sog. youth bulges gesp roc hen, als wen n ein groBer Anteil junger Menschen an der Bevo lkerung bereits fur sich genommen ei n Warnsig nal fur Ko nfli kte und Gewalt ware . Solc he offentlichkeitsw irksame n Bilder verbergen allerdings meh r als sie zu er hellen vermogen. Sie verbergen nich t nur, dass die Gewalt von Jugendlichen in de r Dritten Welt wei taus mehr Formen kennt als d ie genannte n, sie verdecken aueh die vie lfalt ige n Motive und unterschiedlichen Ursa chen der Gewalt. Sie verzerren nicht zuletzt das Bild von Jugendlichen betrachtlich, wei l sie in de r Offentlichkeit haufig nur als Prob lemfalle erscheinen, o hne de n positiven Beitrag zu sehen, den Jugendliche aueh fiir Gese llsehaften bedeuten. Die allermeiste n jungen Menschen jedenfalls schaffen den Ubergang ve rn relativ beschlltzten, abhangigen Kindsei n zum selbstandigen und eigenverantwortlichen Erwachsenen unter Ben lcksichtigung der Ilbliche n Identitatskrisen und Personlic hkeitsko nf likte recht gut. Mit Hilfe der Famil ie, der Sc hule, entspreehenden peer groups etc . bewaltigen sie d iese Stat uspassage und fi nden se hlieGlieh auch unter sehwierigen Bedingungen ihre n Weg in die Gesellsc haft . Dass dabei je naeh Au sstattung mit Ressouree n, je nach sozialer Lage und aueh Land od er Region hochst untersehiedliehe Leben sve rhaltnisse entstehen , die sich da nn wieder zu stark stratifizierten Lebe nswel ten verdichten, kann an dieser Stelle auger Ac ht bleiben. G1eichwohl weic ht eine meh r oder we niger grobe Mi nderheit von jungen Me nschen von diesem Pfad ab: Durch wagemutige oder riskante Ve rhaltensweisen setzen sie ihre Ges undheit aufs Spiel oder bedro hen sie ihren sozialen Status; mit der Erudeckung ihrer Sexualitat geh en sie bewusst oder unbewusst Risiken ein; man ehe greifen aus Frustration oder Experimentierfreude zu Orogen, Alkohol und Zigaretten; und einige entwickeln starke Aggressionen und werden deshalb gewalttatig .
Jugendgewalt in Enlwicklungsliindem
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Dies liegt nicht zuletz t daran , dass sich die jungen Menschen heutzutage irn Ubergangs prozess von der Kindheit zurn Erwachsenen vielfaltige n Herausford erungen und Hind ernissen gegenubersehen, die in vielen Teilen der Welt dureh soz iale und okonomische Probl eme wie Unterentwic klung, Armut, Hunger , Krankh eit noch verst arkt werden. Dart , wo Madchen und Jungen in expliziten Konfl iktsituationen od er gar unter Burgerkriegsbedingungen aufwac hsen, beeintrachtigt die Kon front alion mit und die Erfahrung von Ge walt zusatzlic h aile Dimension en ihres Lebens. Gefl lhle des Ausge schlossenseins, von okonomischer Marginalisierung und sozialer Ex kJusion fl lh ren unter bestimmten Bedingungen zur Gewalt oder tragen zumind est zur Kontinuitiit vo n Ge walt bei. Insofern ist der UNDP (2006: 11) zuzustimm en, dass das Thema Jugend und Gewalt in Entwi cklungsland em auBers t komplex ist und es weit mehr betrifft als alle in eine .jeniterue'', .xich herumtreibend e" , "gefa hrdete", .verwabrloste'' , .jandanerende" ode r "gewalttatige" Jugend. Das Thema Jugend und Gewalt muss in v ielen Entwicklungsland ern viel mehr vor dem Hintergrund einer breit eren Gesell schaft skrise gesehen we rden, die Jugendgewalt selbst als Verschlimmerun g dieser Krise. Erstaunlich ist unte r die sen Bedingungen weni ger , warum Jugendliche uberhaup t zur Gewalt greife n, so ndern ehe r, warum so wen ige Jugendliche Gewa lt als eine Option betr achten. Gewah ist unter Jugendlichen in Entw icklungsla ndem ein schillerndes Phanomen auf unterschi edlich en Ebenen mit ganz verschiede nen Dimensionen. Sie reicht auf der einen Seite von den gewaltsamen Mitteln und Wegen, Konflikte inn erhalb der Familie zu losen, Ilber den systematischen Einsatz professioneller Morder bis hin zu Gewalt in Kriegen und Burgerkriegen . Enlsprechend vielfaltlg sind di e Formen , in der sie a uftritt bzw. ausgeilbt wird. Diese reichen vo n der individuellen Ge walthandlung (d rohen, schlage n, beraub en, uberfallen , verl etzen , toten), die von einem einzelnen jungen Men schen vorgeno mmen wird , tiber Form en der Gruppengewalt, be i denen Jugendliche in Ga ngs od er Banden auftreten und dann gege benenfalls gemeinsa m gewalttatige Handlungen ausfuhren, bis hin zu Formen koll ekliver Gewalt wie Aufstanden und Bilrgerkriegen , in denen J ugendliche ob ihres Mutes bzw. ihrer Unersc hrockenheit gefragt sind oder etwa als Kindersoldaten eingese tzt werden. Auch der Terrori smus ist ein Phiinomen vorne hrnlich junger Manner und bestimmte Formen des Te rroris mus bedienen sich Jugendlicher oder sogar Kinder zur Durchfuhrung ihrer Anschlage. Bereits an di eser Aufziihlun g diir fte deutlich werden , dass es "die Jugendgewalt" als solehe nicht gibt, so ndern d iese in eine Viel zahl vo n Phiinomenen zerfal lt, deren einigendes Band einzig der Tatbesta nd ist, das Jugendliehe als Akteure in ihrem Mittelpunkt stehen. Differenziert man auf der anderen Seite Handlungsanl iisse und Motivation sstrukturen ftir Gewa lt, dann wird man feststellen konnen. dass auch in dieser Hin sieht die Rede vo n "der Jugend gewal t" unan gemessen ist, weil die Motive und Bewe ggnlnde, die junge Men schen zur Gewalt fUh ren bzw . sie Gewalt ausube n lassen , ganz verschieden sind. Ais Hintergrund fur die Gew alt mag an dem eine n Ende des Spektrums einfache Niedertracht, 8ereieherungssucht, das Mehr-Haben-
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Wollen oder schlichtweg Egoismus und Gelt ungss ucht ste hen, die junge Le ute dazu bringen, Uberfa lle , Entfiihrungen, Raub- ode r Morddelikte zu begehen . VOTdem Hintergrun d groBer soz ialer Ungleichheit, berutlicher Perspe ktiv losigkeit und eigener Benachteil igung sc heint dies fiir ei nen Teil der Jugendli chen ein Weg zu sein , doch noeh an den Giitem der Gesellschaft teilzuhaben und gleichzei tig durch "erfolgreic h" durc hgeflihrte Taren sic h Anerkennung bei Referenzgruppe n zu versc haffe n, die ihnen ansonsten ob ihrer Lebe nss ituat ion verwehrt bleibe n wur de . Gewalt von Jugendlichen in der Familie oder in der Sc hule hat dagegen chef etwas mit beengten Wohnverhaltnissen und soz iooko nomischen Frustralionserlebnissen zu tun, lasst sich auf eigene friihe Gewa lterfahrungen als Opfer vo n Elte rn oder Verwandten zuruckfl ihren und hangt se hr stark auch mit dysfun ctional paren ting zusammen. Oroge n- und Alkohol missbrauch sind haufig Ausloser fur Gewalt in der Familie. Gewalterfa hrungen von Kind em und Jugendli chen machen aus fni heren Opfem spater Ta ter, weil Sozia lisations- und Leme ffekte dafur sorge n, Gewalt als ein probates, erfolgversprechendes Mittel zur Durchsetzung der eigenen Interessen sc hatze n zu lernen. Davon wie derum zu unlersch eiden sind die Jugendba nden und Gangs, die in sich be reits auBersl heterogen sind und ents prec hend auch untersch iedliche Gewalt potenziale beinhallen : Neben sog. street-corner-Gruppen, die eher den Charakter von Cliquen mit zeitweitige r Lust am Zoff haben , gibt es auch mehr oder wen ige r fest orga nisiert e, gewa ltaffi ne Jugendgangs und sc hlieBlich ga nz und gar kriminell e Bande n Jugendlicher und j unger Manner, die sich gewerbsmabig im Bereich von Droge nhandel, Prostitution und Eigentumskrimi nalitat bewegen . Mogen in den harml oseren Cliq uen noch man nliche Bewah rungs- und Initiationsrituale auf dem Weg in die Welt erwachsener Maskul initat (wie z.B. die Zurschauste llung und Betonung von Kraft, Star ke, Kampfbereitschaft mitsamt den enlsprechende n Sy mbolen , die Hinn ahme und Umwertung von Verletzungen und Gewa lt, aber auch Ehre , Respe kt, Kameradschaften und Zusam menhall sowie heterosexuelles Potenzgebaren) ei n entscheidendes Motiv fur d ie Zugeho rigkeit sei n, so kommen bei den gewa llbe reite n Jugendgangs und kriminellen Bande n noch we itere Fakto ren hinzu , die es fur sie reizvoll machen, Mitglied einer J ugendbande zu werden: fehlende Aufstiegschancen und ger inge soz iale Mobilitat in Gese llschaften, die aggressiv Konsum predige n und Partizipation an der Gese llschaft v.a. an Konsumfah igkeit messen; ger inge Verfolgung und Aufklarung von Straftaten und mangelh afte Erzwi ngung von Recht und Gesetz; Schulabbruch und geri nge Bezahlung von unqu alifiziert er und gering qualifizierter Arbeit; fehlende Fiirsorg e und mangelnde Orientieru ng durch das Elternhaus oder so nstige Familienmitglie der; schwere kor perliche Zuchtigu ngen oder Viktimisierung im Eltern haus; falsche Vo rbilder oder peer groups, die bereits Mitglieder in Gangs und Bande n sind. In der Regel ist es ein kompl exes Wech selspiel vo n Faktoren, dass j unge Menschen zu Gang- und Bandenm itgJiedem werde n lasst. Diese entstehen insbesondere do rt, wo die soziale Ord nung gefllhrdet oder die Integrationsfahigkeit vo n Gese llschaften be reits zu-
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sammen gebrochen ist und alternative kulturelle Verhaitensweisen als Orientierungs mabstabe fehlen. Betrachtel man schlieBlich Phanomene kollektiver Gewalt, dann sind Kinder und Jugendliche darin zunachst einmal Opfer . In Protestaktionen und Aufstanden, bei der Aufstandsbekampfung, in Bl lrgerkriegen und regularen kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Staaten, in denen Gewalt endemisc h wird und soziale Ordnung zusammen bricht, verlieren Kinder ihre Eltern, stehen Jugendlich e selbst unter Verdacht und miissen die Foigen von Krieg und Gewalt tragen. Frauen und junge Madchen sind zusatzlich sex uellen Ubergriffen und Vergewaltigungen ausgesetzt, die zu einem probaten Mittel der Kriegftihrung geworden sind. Gleichwohl erschopft slch die Rolle von Kindem und Jugendlichen nicht im Opferstatus. In den verschiedenen Burgerkriegen auf der Welt sind schatzungsweise ca. 300.000 Kindersoldaten involviert. Daneben ist eine unbekannte Zahl von Jugendli chen aktiv an den Kampfen betei!igt gewesen. In den langanhaltenden konflik tiven Auseinandersetzungen variieren die Motive zu kampfen betrachtlich. Ging man lange Zeit davon aus, dass Kinder und Jugendliche in hohem MaBe durch warlords und Banden fur kriegerische Zwecke zwangsrekrutiert wurden, so hat die neuere Forschun g auch hier ein differenzierteres Bild gezeic hnet: Viele der Jugendlichen und Kinder schlieBen sich den Biirgerkriegsparteien aus okonomischer Perspektivlosigkeit, wegen der Generierung von Einkommen, aus Griinden des Verlustes der Eltern oder simplen Verteidigungsaspekten .freiwillig" an, urn ihr Uberleben zu sichem. Das direkte lnvolviertsein einer hohen Zahl von Jugendlichen und Kindem in kriegerisc he Auseinandersetzungen beschwdrt betrachtliche Reintegrationsprobleme fur die betroffenen Gesellschaften herauf, wei! die Kinder und Jugendlichen nach Beend igung der Konflikte haufig vor dem Nichts stehen und ein betrachtliches Unruhepotenzial in den Nachkriegsgesellschaften bilden. Wenn an diesen Diagnosen durchaus einiges vertraut erscheint und die ein ode r andere Parallele zu gewalttatigen j ugendlichen Subkulturen in Europa oder Deutschland erkennbar ist, so ist doch gleichwohl auf einige Besonderheiten oder Spezifika hinzuweisen, die Differenzen im Umgang von Jugendlichen mit Gewa lt zwischen den fiihrenden Industrielandem und den Entwicklungslandem markieren . Fiinf solcher Differenzen mochte ich im Foigenden heraus stellen, wei! sie mir zentral zu einem adaquaten Verstandnis der Thematik Jugend und Gewait zu sein scheinen. Erstens, die typischen Formen und Muster von Jugendgewalt unterscheiden sic h in den entwickelten Industrielandern und den Entwicklungslandem in einigen Aspekten stark voneinander. Das betrifft zunachst die Typen von Gewa lt selbst: Wah rend alltagliche Gewalt, Kleinkriminalitat, auch Jugendgangs und Bandenwesen wahrscheinlich Phanomene sind, die in unterschiedlichem MaGe iiberall auf der Welt anzutreffen sind, so iSI z.B. der Einsatz von Kinderscldaten wesentlich ein Spezifikum von Btirgerkriegssituationen (Afrika, aber auch Asien). Soda nn betrifft er auch die Art der Gewalt gegen Kinder und Jugendliche : Kinderarbeit, Kinder-
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handel und sexuelle Ausbeutung von Jugendlichen und Kindem sind in Westeuropa und Norda merika zumindest offiziell geba nnt oder sic unterliegen strenge n gese tzlichen (A usnahme-) Rege lungen. Dies ist z.B. in weiten Tei len der Dritten Welt nich t der Fall, de r Einsatz vo n Kindem zur Erziel ung vo n Familieneinko mme n allgegenwartig . Kulturell codierte Formen der Gewa lt wie die Zwangsbeschnei dung (Fema le Genital Mutilation) finden sich n UT noch im subsa harischen Afrika ; Ehrenmorde, wie sic in der arabischen Welt vorkommen, gehoren hierzulande seit langem der Vergangenheit an. Man ist also gut beraten, angesichts cines weiten Ubersch neidun gsbereichs auf dem Feld der J ugendgewalt nicht den Blic k fiir die Unt ersc hiede und Differenze n zu verlieren . Zweitens ergeben sich aus den unterschiedlichen EntwickJ ungsniveaus der Gesellschaften und ihrer sozioo konomischen Verfasstheit betrachtliche Untersc hiede im Hinblick auf die Ursachen und Hintergriinde vo n Gewa lt. Fakto ren w ie die groBe soziale Ungleichheit, relative Deprivation, Arm ut, strukturel le Heterogenitat und dara us resultierende sozialstruktu relle Verwerfungen (Marginalisierung, Exklusion ) sind als Erklarungsmuster fllr Gewalt weit hoher ei nzuschatzen als in de n entwickelte n Industrielandem, da sic h aus ihnen strukturelle und v.a. dysfunktionaIe Benachteiligungen ergeben, die lebensweltlich als soz iale Unge rechtigke it erfahren werde n. Gefl lhle sozialer Ungerechtigke it sind jedoch Ilberall auf der Welt das Movens fllr soz iale Kamp fe und Konflikte. Nic ht umsonst ist der Kontinenl mil der grolite n soz ialen Ungleichheit - Latei namerika - zugleic h auch die gewaltha ltigste Region. Dritte ns bestehen in den meiste n Landem der Dritten Welt vc llkom men unrersc hiedlic he Handlungskonlexte und Umwe lten filr Gewa lt. Zum einen ist Gewalt als Handlungsmodu s vielfac h weniger geachtet als in den enlwickelten Indu str ielandem und deshalb vie l presenter im offentllchen Raum. Zum andere n lasse n kullurelle Normierungen sie in vielen Fallen nicht als das ersc heinen, was sie e igentlich ist , narnlich schlichte Gewa lt. Schli eBlich sind vielerorts die sozialen V erh altnisse durch die allgemeine Verfllgbarkeit vo n Waffen und entsprechende Begleitideo logie n im Hinblick auf deren Benutzung sehr vie l unfriedli cher. Last und least haben sic h in ein igen Landem regelrechte Gewaltkulturen heraus gebildet , in dene n der Einsatz von Gewa lt als mehr oder we niger normal oder unausweichlich hingenomm en wi rd. Es gilt also imme r auc h nach de n spezifischen Kontexten zu frage n, wenn es daru m geht, die Gewalt von J ugendlichen zu verst ehen. Viertens haben d ie meisten Entwickl ungslander nicht solc he Grade an Zivilitat erreic ht wie etwa die weste uropaischen U nder. Durch die Art ih rer Geschichte mit Eroberung, Ausbe utung und Koloni alismus und den daraus resulti erenden deferrnierten Staatsbil dungsprozessen ist es vielerorts nicht zu einer flachend eckenden Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopo ls gekommen. Durch die fragrne ntierte Staatlichke it, deren Reichweit e sich haufig ledi glich auf begrenzte Ge biete des nationalen Territoriu ms erstreckte, hatten lokale oder regionale Herrscher eine relativ starke Stellun g. Parastaatliche Parallelordnungen und umkampfte Rechts ra ume
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waren die Foige. Auch die Durchgriffsbefugnisse und Durchgriffsmogllchkeiten seitens des Staates auf Gewaltakteure waren vielerorts begrenzt, da ihm nicht nur effektiv die Mittel dazu fehlen, Staatlichkeit tiberall zu gewahrleisten, so ndern er auch nicht fUr den ausreichenden Schutz seiner Burger sorge n kann. Unter den Bedingungen fragHer Staatlichkeit oder angesichts zerfallender Staaten verliert der Staat ats Zentralinstanz schnell seine Legitimitat und es entstehen Gewa ltordnungen, die nach eigenen Gesetzen funktionieren und sich als Iiberaus lebensfahig heraus gestellt haben. Fiinftens schlieBlich zeitigt der Einsatz von Gewa lt in vielen Entwicklungslan dern dramatischere Folgen als in den hochindustrialisierten Staaten. Haufig wi rd hier Gewalt rucksichtsloser, brutaler und unkontrollierter eingesetz t als dart , der Gewalteinsatz wirkt in besonderem MaBe unproportional, weil man bereits fi ir vergleichsweise kleine Ziele bereit ist, Menschenleben in Kauf zu nehmen. Hauflg entsteht zudem durch die Art der Gewalt der Eindruck, dass ein Menschenleben insgesamt wenig zahlt. Dies trifft im iibrigen auch auf den Einsatz staatlicher Gewa lt - sei sie legitim oder illegitim - zu. Insbesondere in den vielen Diktature n und Gewaltherrschaften zeichnen sich die Staaten durch eine besondere Riicksichtslosigkeit gegenuber realen oder perzipierten Feinden aus. Da es zudem kaum Programme fur die Opfer von Gewalt oder die Reintegration von Gewaluate m gib t, belasten die Gewalterfahrungen in der Regel in hohem MaBe das zukiinftige Z usammen leben der Menschen. Diese grundlegenden Differenzen zwischen Erster und Dritter Welt und unterschiedlichen interkulturellen Kontexten innerhalb der Dritten Welt gilt es also mitzubedenken, wenn nach schlussigen Erklarungsmustem fiir die Gewalt von Jugendlichen in Entwicklungslandem gesucht wird. Allgemeine Erklarungsmuste r - so unterschiedlich ihre Schwerpunktsetzungen sein mogen - werden nicht zuletzt die hohe Bedeutung lokaler Kontexte und situativer Faktoren filr die Gewalt einzubeziehen haben.
3. Ursa chen der Gewalt Die Ursachen fur Gewalt sind in der Regel vielschichtig und komplex. Die sozialwisse nschaftliche Gewaltforschung hat in den letzten Jahren immer wieder gezeigt, dass es nicht die eine zentrale Ursache gibt, auf die sich etwa gewalttatiges Verbalten von Jugendlichen zuruckfl ihren lasst, sondern dass es vielmehr eines multidi mensiona len Mehrebenenansatzes bedarf, urn Gewalt zu erklaren und letztlich verstehen zu konnen. Es ist in der Regel ein weites Spektrum von Faktore n und ein komplexes Beziehungsgefiige, welches zur Gewalt fuhrt bzw. Gewalt perpetuiert. Um dieses Spektrum oder dieses Beziehungsgefiige abzubilden, hat man Faktoren auf der Mikro-, Meso- und Makroebene unterschieden. Eine etwas andere Unterscheidung, wie sie sich im World Report on Violence and Health (WHO 2(02) fin-
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det, differenziert zw ischen Risikofa ktore n auf der individuellen, der Beziehungs-, der Gemeinschafts- und der Gese llschaftse bene . In jii ngster Zeit ist noc h zusa tzlich auf mogl iche Ursachen von Gewalt auf der rein biologischen Ebene hingewiesen worden. Diese auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten Faktoren werden je nach Art , Ty pus und Kon text der Gewalt Ans alzpunkte zur Erklarung yo n Gewalt bie ten; einzelne Fakto ren konnen bei positiver Ausp ragung aber auch dahingehend wirken, dass sic die Wahrscheinlich keit fiir Gewalt reduzieren oder den A usb ruch yo n Gewalttatig keiten sogar verhindern. Auf der Mikroebene lassen sich v.a. biologische und psychologische Dispositionen erkennen, die zu gewalttatigem Handeln fiihren kdnnen . Erklar ungsansatze liegen hier auf zwe i Ebenen: Zu m einen hat die Neurobio logie und Ge nforsc hung auf biologische Festlegungen des Menschen tiber seinen genetisc hen Code hingewiesen , der es dem Einzelnen am Ende nicht mehr erlauben wurde, mit freiem Wil len daniber zu entsc heiden, ob er Gewalt anwe nden moch te oder nic ht. Die DisJX'sition zum Gewalttater ist hier gewisserma8e n vo rprogra mmiert , einzig der Ausbru ch der Ge walt hangt noch von sit uativen Faktoren oder bestimmten Umstanden ab o Zum ande ren weist die psychologische Forschu ng darauf hin, dass bestimmte Einfliisse oder Komplikationen wahrend der Schwangerschaft dazu beitrage n ke nnen , dass die Kinder spater gew altta tiges Verhalten an den Tag legen . Insbeso ndere im Zusa mmensp iel mit anderen Problemen in der Familie (insbesondere psych isc hen oder psyc hiatrischen Erkranku ngen) steigt das Risiko, zum Gewalttater zu werden. Seit langem bekannt ist zudem, dass eine fu rsorgl iche und liebevoll e Betreuung seitens der Elte rn in den ers ten Kinde rjahren entscheidend dazu bei tragt , o b Identitatsb ildungen gelingen, we lche Perso nlic hkeitsmerkmal e ein Kind bzw. J ugendlich er ausbildet und we lche Verhaltenswe isen es an den Tag legt. Fa ktore n wie Hyper aktivit at, Impulsivitat, geringe Affektkontrolle, Aggressivitat und Aufmerksamkeitsdefizite werde n als mogl lch e Prad iktoren fiir Gewalt interpret iert; Nervositat oder A ngst sind demgegeniiber negativ mit Gewa H korreliert. Zude m werden auf dieser Ebene eine verringerte Intelli genz und sc hlechte Leistungen in der Sc hule haufig mit Gewaltneigungen von Jugendlichen zusam men gebrac ht. Ein enger Zusammenhang beste ht auch zwisc hen eige nen Erfa hrunge n mit Gewalt und spaterer Gewa ltta tigkeit: Zum eine n we rden Kinder, die Op fer von Gewalt w erden , spater selbst in hohem Ma Ge zu Ta tem . Zum ande ren sind Gewalterfahrungen unter Sozialisat ionsaspekte n interessa ru, da Gewalt immer auch ein Stuck weit g elernt wird; sie ersc heint insbesondere des halb als Opt ion , wei! man als Kind gesehen hat, dass man mit ihr etwas bew irken kann und ihr Einsatz Erfolg verspricht. Diese individuellen Risikofa ktore n auf ei ner Mik roebene existieren natii rlich nich t unabhangig von anderen Faktoren und Eintlussen, denen Kinder und Jugend liche ausge setzt sind. A uf der sozial-interaktiven Eben e sind insbesondere interperso nelle Bez iehungen der jun gen Menschen mil de n Eltern und ihren Familie n, mit Freunden und peer groups ausschlaggebend dafur, wie Personlichkeitsm uster fortgebildet werde n und ob gewalttatiges oder aggressive s Verhalten belo hnt oder
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sanktioniert wird. Insbesondere der Einfluss der Eltem und generell des familiaren Hintergrunds sind zentrale Faktoren fur die Entwicklung und Ausbildun g gewaltta tiger Verhaltensweisen von Jugendlichen . Mangelnde Filrsorge, geringe Aufmerk samkeit, Gleichgliltigkeit den Kindem gegenuber, Vemachliissigung und Verwahrlosung sowie der Einsatz harter physischer Strafen, urn Kinder zu disz iplinieren , sind dazu geeignet, Kinder wahrend der Adoleszenz in die Gewalt zu treiben. Gewalnatiges Verhalten in der Jugendphase steht zudem mit starken Konflikt en zw ischen den Eltem und einem geringen Interesse der Eltem fur die Kinder in Z usammenhang. Andere bedeutsame Faktoren sind z.B. die Zahl der Kinder in einer Familie, Mutterschaft in sehr jungen Jahren (z.B. als Teenager), und ein geringer Familienzusammenhalt. All dies fiihrt bei Abwesenheit von anderweitigen ausgleichenden Faktoren zu schwerwiegenden sozialen oder emotionalen Beeintrachti gungen und dysfunktionalen Verhaltensweisen von Kindem und Jugendliche n. Aber es ist nicht nur die Art der Familienstrukturen, die Aggressions- und Gewa ltneigungen beeinflusst, sondern auch und insbesondere der generelle sozioo konomische Status einer Familie, der mit daruber entscheidet, ob Kinder in die Gewa It abgleiten oder nicht. So entstammen jugendliche Gewalttater weit uberwiegend aus sozial und okonomisch schwachen Eltemh ausem mit geringen Bildungsniveaus, aus den unteren sozialen Schichten und aus stadtischen oder liindlichen Wohngebieten, in denen sich soziale Prableme ballen. Fiihrt man sich die Bedeutung intakter Familienverhaltnisse vor dem Hintergrund von kriegerischen Konflikt en, sexuellen Epidemien oder den mit der Globalisierung einhergehenden raschen soziookonomischen Veriinderungen vor Augen, die hiiufig zu vollkommen desintegrierten Familienstrukturen in der Dritten Welt fuhren, dann wird das AusmaB der Herausforderungen deutlich. Oer positive Einfluss von Freunden und peer groups , die wic htige Bezugspersonen von Jugendlichen sind und gra Ben Einfluss auf dere n interpersonelle Beziehungen haben, konnte hier fur einen gewissen Ausgleich so rgen , er kann sich aber auch negativ auswirken. Sind die Jugendl ichen etwa in Freundeskreise eingebunden, die selbst gewalttatig sind oder kriminellen Aktivitiiten nachgehen, in denen Orogen genommen werden und Alkohol getrunken wird, in denen Waffenbesitz verbreitet ist, dann steigt das Risiko betrachtlich , in diese Verhiiltnisse abzugleiten. Es findet dann so etwas wie eine negative Integration start, die den Jugendlichen jene Anerkennung, Aufmerksa mkeit und Verbundenheit versc hafft, die ihnen auBerhalb dieses problematischen Kreises vorenthalten bleibt. Lokale Faktoren wie die Gemeinde, bestimmte Stadtviertel und Regionen und die dort bestehenden Gemeinschaften sind ebenfalls von nicht zu unterschatzend er Bedeutung fur Eltern und Kinder, fur die Art sozialer Bezugsgruppen - und nattlrlich auch die Nahe oder Ferne zur Gewalt. Aligemein lasst sich sage n, dass in Entwicklungsliindern mannliche Heranwachsende in GroBstiidten hauflger mit gewalttatigem Verhalten in Beruhrung kommen als solche, die auf dem Land aufwachsen. Innerhalb stadtischer Agglomerationen stellen unterprivilegierte Viertel oder Slums mit hoher Gewaltkriminalitat und sozialen Problemen Umgebungen dar, die ge-
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walt tatiges Handeln wahrscheinlicher machen. Die Nahe zu Gangs und Banden, Feuerwa ffen, Orogen und Prostitution stellt eine Mischung dar, in der Gewalt allgegenwartig und die Gefahr, Opfer zu werden, graB lst. Es ist deshalb unmittelbar einsic htig, dass der Grad an sozialer Integration in einer Gemeinde auch das AusmaB an Jugendgewalt beeinflusst. Das vorhandene Sozialkapital und die soz ialen Bindungen unter den Einwohnern sind deshalb ein Ausweis fur die Oualitat der Integration, wei! sie sich auf gemeinsame Regeln und Normen, gegenseitige Verpflichtungen und das Vertrauen beziehen, das in den sozia len Beziehungen zwischen den Einwohnern, aber auch zwisc hen Einwohnem und Institutionen zum Ausdruck kommt. Junge Menschen, die an problematischen Orten mit defizienten Infrastrukturen und geringem soziale n Kapital leben, sind entsprechend eher bindungslos und fallen aus sozia len Zusammenhangen heraus, zeigen groBeres Misstrauen und haben letztlich auch eine groBere Affinitat zur Gewalt. Die gesellschaftlichen Faktoren, die gewaltfOrdemde Bedingungen und Umsta nde unter den Jugendlichen schaffen, liegen hingegen eher auf einer strukturellen bzw. soziokulturellen Ebene. Sie haben v.a. mit den Auswirkungen der GlobaIisierung, den okonomischen Modem isierungsmustem und demographischen Prozesse n zu tun. Kulturelle Globalisierung und okonomische Modemi sierun g besch leunigen den sozia len Wandel (Individualisierung, schnelle Urbanisierung, Migration) und fiihren zu einer Zunahme anomischer Prozesse und zu einer versta rkten Orientierungslosigkeit und Gewalt unter den Menschen. In vielen Entwicklungslandem sind Modemis ierungs- und Globalisierungsprozesse zudem mit Anpass ungskrisen betrachtllchen AusmaBes verbunden, die gewalttatige Rea ktionen gerade unter Jugendlichen herauf beschworen. In Afrika und Tei len Lateinamerikas sind die Anpassungspclitiken mit starken LohneinbuBen, dem Abbau von Schutzrechten fiir Arbeitnehmer und veranderte n sozialpolitischen Regelwerken, einem Niedergang in der Infrastruktur und bei den Dienstleistungen des Staates verbunden gewesen, so dass in der Foige die sozia le Ungleichheit stark zugenommen hat. Armut konzentriert sich in den groBen Stadten mit anhaltendem Bevolkerungswachstum, so dass Jugendliche zum Uberleben auf Kleinkriminalitat und Gewalt zuriickgreifen. Auf allgemeiner Ebene ist deshalb der Zusammenhang zwischen sozia ler Ungleichheit bzw. der Ungleichheit in der Einkommensverte ilung und der Gewalthaltigkeit von Gesellschaften unbestritten. Auch politische Aspekte, wie die Oualitat einer Regierung und die Art der Politik, wirken sich auf die Gewalthaltigkeit von Gesellschaften aus. Jenseits autoritarer Regimetypen, die an sich schon ein gewisses MaB an Gewalt transportieren und Gegengewa lt provozie ren, kommt es hier z.B. auf die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopo ls zum Schutz der Burger oder die Durchsetzung von Strafverfolgungsnormen gegen Gewalttater an. Werden diese Gesetze konsequent angewendet, tritt ein absc hreckender Effekt in Bezug auf Gewalttaten ein, werden sie eher lax gehandhabt, so ist dies fur Jugendl iche haufig eine Einladung zur Gewalt, wei! nicht unbedi ngt mit Strafe gerechnet werden muss. Die Sozialpolitik ist ein weiteres Feld, auf dem Regierun-
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gen aktiv auf die Gewaltniveaus einer Gese llschaft einwirken konnen . Geri nge Sozialstandards, mehr oder weniger locker geknupfte soziale Netze und wenig effek tive Schutzvorrichtungen gegen Wirtschaftskrisen fur die bedurftlgen Teile einer Gese llschaft fuhren zu einer Verstarkung etlicher Fonnen der Gewalt. Die Durchsetz ung und Gewah rung sozialer Sicherheit scheint ein machtiger Hebel gegen Gewalt zu sei n, fehlende soziale Sicherheit muss umgeke hrt als Einfallstor fur eine Vielzahl von Gewaltarten betrachtet werden. Nicht zuletzt zahlt auch Kultur zu den gesellsc haftlichen Faktoren, die sich posit iv oder negativ im Hinblick auf Gewa lt auswirken konnen. Kultur schlagt sich beispielsweise in den herrschenden Normen und Werten einer Gesellschaft nieder und ist u.a. dafiir verantwortlich , wie Me nschen auf eine sich verandernde Umwelt reagieren . Kulturelle Faktoren haben dann negative Auswirkungen auf die Gewalthaltigkeit von Gesellsc haften, wenn sie etwa Gewa lt als eine normale Methode der Konfliktregelung legitimieren und jungen Leuten solche wcrte vermitteln, die gewa lttatiges Verha llen unterstutze n oder in bestimmten Situationen nahe legen (z.B. Rache, Ehre). Die Medien sind dabei ein wichtiges Transportmitte l fur gewalt haltige Bilder, Normen und Werte , und das Internet hat z.B. iiber Computerspiele die Moglich keiten, Gewalt zu sehen ode r zu erlebe n, vervielfacht. Fur Kinder und J ugendliche, die andauernder Gewa lt im Fernse hen ausgesetzt sind, verschieben sich die Normalitatsstandards; brutale Serienhelden werden zu falschen Vorbildern und moglichen Inspirationsquellen fiir die eigene Gewalt ; Vorstellungen von .easy money" beschworen Nachahmungseffekte und krimine lle Gewaltkar rieren herauf. All jene Gesellsc hafte n, die es nicht schaffen, gewaltfreie A1ternativen der Kon f' li ktbearbeitung zur VerfUgung zu stellen und Gewalt als Mittel des Konfliktaustrags kulturell zu delegitimieren, mussen mit weit hoheren Gewalt niveaus zurecht kommen. Gese llschaften , in denen sich regel rechte Kulturen der Gewalt etabliert haben, versinke n allzu hauflg in einem Meer von Gewalt. Schaubi ld I: Der Kreislauf der Gewalt und seine Hintergn mde Defizitare menschliche Bedurfn isbe fried igung
Soz iookonomi sche und polltische Ungleich-
hciten
Gcwahtatige Konlliktc
GefUhle von Ungercchtigkeit und exts renne ne r Bedrohung
Intcns ivierte Aggression
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4. Theorien uber J ugendgewalt 1m Folgenden werden wese ntliche theoretisch e Erklarungsa nsatze zur Gewalt vorgestell t. Es wird hier zum einen darum gehen, den Foku s auf Jugendgewalt einzustelle n, zum anderen aber auch darum , kultursensitiv vorz ugehen und danach zu fragen , ob und inwieweit die in der Regel am Beispiel vo n J ugendlichen in den fort geschri ttenen Industrlelandem gewonnenen Ergebnisse auch auf Jugendgewalt in den Bntwicklungslandem ubertragbar sind oder spez ifischer Erganzungen bedurfen . Die einzelnen Abschn itte folgen j eweils einer irnpliziten Gliederung: Nach eincr knappen Einfiihrung und der grundl egend en Erorterung der Th eorie, ihrer Anwe ndungsbe reiche und Reichweite, wird zunachst nach ihrem Erklarungsgeha lt gefragt und abschlie6end auch auf Grenze n der Erklarung sowie mogliche Sch wachen und Kritik eingega nge n. Die Vorstellung und Diskussion der einzelnen Theo rieansatze beginnt zunachst mit Erklarungen auf der individuelJen Ebene, geht dann in den intermediare n Bereich tiber und endet sc hlie61ich mit Brklar ungsa nsatzen auf der gesellschaftlichen Ebene. Die neueren An satze der Neurobiolog ie we rden an dieser Stelle ausges part, wei! es hier zum einen urn sozialwisse nschaftliche Erklarungsmu ster vo n gewalttatigem Handeln ge ht, zum anderen die Forschung uber neurobi ologi sche Defizite als Verursacher von Gewa lt und Kriminalitat noch nieht so weit fortgesch ritten ist , dass die sbezugli ch scho n auf gesicherte Erkenntnisse zuruckgegriffen werd en konnt e. Vertreter dieser Forschungsrichtun g weisen selbst darauf hin, dass sich eine kriminelle oder gewalttatige Personli chkeit bestenfalls aufgrund einer Kombination vo n genetisch en und himentwicklungsmafsigen Faktoren, friihen psychischen Negat iverlebnissen sowi e nachteiligen sozlooko nomisch en Bedin gungen fnih ausbildet und stabilisiert. Es sind also nicht alle in die Gene oder die HirnentwickJung an sich, sondern allenfalls cas Zusammenwirken untersc hiedJicher Faktoren , die schlie61ich zu gewa lttat igem Handeln fllhrt (vgl. Luck/Struber/Roth 200 5; StriiberlLiick/Roth 2006).
4.1 Psych%gische Aggressions- und Triebtheorien Gewal t kann bekannterma6en sehr unte rschiedliche Ausdrucks formen annehmen. Die An tworten auf die Frage, warum sich Mensch en gewalt tatig oder aggressiv verhalten, sind se hr vielfaltig ausgefall en und konnen auf verschiedenen Ebenen gesucht werden. Psycbologische Aggre ssions- und Triebtheorien bieten intraindividuelle Erkla rungen fur Gewaltkonffikte und sehen v.a. intrapsychi sche Ursachen fiir aggressives Verhalten. Beriicksichtigt man , dass Konflikte und Gewalt immer ein e personliche Kompon ente haben und sie handlungstheor etisch bei einem ei nzelnen Individuum ihren Ausgangspunkt nehmen , dann ist es naheliegend, zunach st auf der individuellen Ebene nach mogli che n Ursachen und Brklarungen filr gewaltsames Verhalten zu suchen.
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Es gibt in der wissenschaftlichen Psychol ogie nicht die Aggre ssion stheorie, da die wese ntlichen Ansatze in ihrer urspriinglich en Fonn nie aile einschlagigen Verhalten sweisen erklaren konnten. Die Weit erentwicklung einzelner Ansatze hat zu immer komplexeren Theorien gefl lhrt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ei n kompliziertes Aggressionsgeschehen zugrunde legen und auch die Beziehun g der unte rschiedlichen Wirkun gsfaktoren zueinander zu erk laren versuchen. Grund satzlich lassen sich zwei Fonnen der Aggression differen zieren: Die Selbsterhaltungsaggression ist eine angeborene, durch Selektion und Mutation im evolutionaren Prozess herausgebilde te Verhalten sweise, die dazu dient , die Leben sressourcen zu erhalten und zu erweitern. Hierzu zahlen u.a. Selbst- und Revierverteidigung, Fortpflanzung, Nahrungsaufnahme, Ennittlung der Rangpo sition und der eigenen Gren zen und der Erhalt von Sicherhei t. Bei der destruktiven Aggression dagegen liegt der Zweck des schadige nden Verhalt ens darin , durch das Zufiige n von Leid materiellen Gewinn, soziale Anerkennung und Macht, innere Befriedi gung und Stimulation zu erz ielen. Ein evolutionarer Sinn lasst sich hier nieht nachweisen. lm Gegenteil: Die Vem ichtung erhaltenswerter und lebenswichtiger Ressourcen wird in Kauf genommen, soz iale Probleme werden nicht nur nicht ge lost, viel mehr werden zirkelhafte Prozesse von Gewalt und Gegeng ewalt au sgelost. Menschliche Tctun gshemmungen, Altruismusmechanismen , eine kulturelle Moral und Gewissensbild ung sowie gilnstige Sozi alisationsbedingunge n stehen diesen destruktiven Prozessen nonnalerweis e entgegen , konnen sie allerdin gs unter bestimmten Bedin gungen auBer Kraft setzen. Ahnlich hatte schon Erich Fromm in seiner ,,Anatomie der menschli ch en Destrukti vitat" (1977) vo n gutartiger und von bdsartig er Aggression gesprochen. Guta rtige Aggressionen stellen im Grunde Reakt ionen auf die Bedrohung eige ner vita ler Intere ssen dar und treten entweder als Pseudoaggressionen oder als defe nsive Aggression en auf. Bosartige Aggressionen stellen dagegen keine Verteidigun g gegen eine Bedrohung dar, sondern haben offensiven Charakter und schlagen sich in Destrukti vitat und Grau samkeit nieder. Allerdings hatte er die menschliche Dest ruktivita t und Grausamkeit nicht langer aus einem menschlichen Instinkt heraus erk lart, sondern das zentrale Problem darin gesehen, dass bestimmte Bedingungen der men schlichen Existenz fur die Oualit at und Intensitat menschlicher Aggressi ons- und Gew altneigungen verantwortlich sind. So war Fromm etwa zu der Uberzeu gung gelan gt, dass mit der Entwi cklung der Zivilisation der Grad der Destruktivitet wac hst und nicht umgekehrt. Die Vorstellung, Aggression und Gewalt seien auf einen dem Menschen angebcrenen Tri eb zurilck zu fuhren , ist eine der klassischen Grundpositionen der Psychologie, die auf Sigmund Freud (1915, 1930) zurilckgeht. Freud entwickelte se ine T riebtheo rie in mehreren Phasen, lehnte sie mythologischen Tr aditionen an und konstruierte dabei immer ein dualistisches Modell. Der anfanglichen Gegenilberstellung von Hunger und Liebe (Selbs terhaltung versus Arterhaltung) folgte spater diejeni ge vo n Liebe und Hass (libid in6se vers us aggressive Tri ebe), ihrerseits ab-
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gelcst von de m Gegensatz zwischen Lebe nstrieb (Eros) und Todestrieb (Thanatos). Die Triebtheorie sieht die Triebquelle in einem k6 rperlichen Reiz in Form eines Span nungszusta ndes, der UnJust bereitet. Das Triebziel ist dann die Aufhebung dieses Spa nnungszustandes am Objekt oder mit Hilfe eines Objektes, die mit einem Lustgefuhl verbu nden wird. Diesem so genannten Lustprinzip stellt Freud das Rea litatsprinzip gegenuber, das ange sichts bestim mter aube rer Bedingungen fur Urnwege bei der Verfolgung des Triebzieles pladiert, d.h. fur einen Aufsc hub der unmittelbaren Befriedigung. Als Fundament des Realitatsprinzips gelten in der ersten Triebtheorie Freuds (bis ca . 1915) die lch-Tr iebe, die den Se lbsterhalt ungst rieben gleichgesetzt und den Sex ualtrieben gege niibe rgestell t werden. In dieser Perspektive dominieren Lustprinzip und Realitatsprinzip das gesa mte psychische Geschehen. Insbesondere unter dem Eindruck des Ersten Welt kriegs revidierte er angesichts der schreckJichen Kriegsgeschehnisse mit ihren Massenvernichtungen se ine ursp riingliche Erklaru ng und riickte den lebenslangen Kampf von Eros und T hana tos in den Mittelpunkt. Urn die Selb stvernichtung aufg rund der betrachtlichen Tri ebenergien des Thanatos zu vermeiden, bedarf es des Eros, der als lebe nserha ltende Energie den Todestrieb in Form von agg ressiven Verhalten nach aulten ablei tet - oder durch Sublimation konstruktiv we ndel. lst eine Agg ression sabfuhr nie ht moglich, wirkt sic h die Aggressio n gegen die eige ne Perso n aus und verursacht im Inneren schwerwiegende Krankheiten ode r Stc rungen der Psyche. Auch Konrad Lorenz (1963) geht in seinen Schriften von einem angeborenen Aggressionstrieb aus, den er aus seinen ethologisc hen Forschu ngen gew onnen hat. Aggression ist fur ihn einer von fiinf Trieben, die als Instinkt sowo hl T ieren wie auc h Mensc hen eigen ist und im Grunde eine arte rhaltende Funktion hat. Er gebt zunachst davo n aus , dass von jedem Individuu m besta ndig aggressive Impulse erzeugt werden. Diese Impulse stauen sich auf, bis ein bestim mte r Auslcser die Entladun g der aufgestauten Energie bzw. Aggre ssivitat ermoglicht. Je mehr Agg res sionen aufge staut wurden, desto geringe r ist fur ihn der notwendige Aus loser fiir eine Abreaktio n. Nach der Entladung der angestauten Energien baue n sich erneut aggressive Impulse auf, bis es zur neuerlichen Abreaktion kommt . Irenaus Eib lEibesfeld (1984) hat spater ethologi sche Argume ntationen ausgeweitet und auc h Kriege als auf biologische Dispositionen riickfiihrbare anthropo logische Konstanten bet rachtet. Obwo hl grundlege nde triebt heo retisc he Annahmen in Frage gestellt wu rden, sind sie doch Ausgangspunkt fiir Weit erentwicklungen aggressio nstheoretischer Erklarungen gewe sen. So ist etwa eine Gruppe ame rikanischer Wisse nschaftle r urn Dollard in ihrem Such " Frustratio n und Agg ressio n" (1982) der Frage nac hgegangen, was eigentlich Aggres sio nen verursacht und unte r welch en Bedingungen sie ausgelost werde n. Ihre ei nfache Antwort war zunachst, dass jegliche Aggression die Foige von Frustratio n sei und Frustrationen immer zu einer Form von Aggression fiihrten . Frustration wu rde dabei als Sto rung einer zielgerichteten Aktivitat definiert , es galt den Autoren als aversives Ereignis, als au8ere Bedi ngung, die ein
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Individuum gewohnlich zu meiden sucht. Sparer sind die im Sinne von ReizReaktions-Sc hemata gefassten Hypothesen von Dollard u.a. dahingehend modi fiziert worden, dass Aggressio n als Folge von Frustration nur eine mogliche Reaktion unter anderen ist und das aggressives Verhalten nicht zuletzt von der Art der Frustratio n abhangt. So gilt es, unterschiedliche Arlen von Frustration zu unterscheiden (z.B. Hindernisfrustration, Provokationen, psychische Stressoren), denen jeweils unterschiedliches Gewic ht fur das Auftreten von Aggressionen zukommt und die auch nicht-aggressive Handlungsmoglichkeiten bereithalten k6n nen. Die Starke der Aggression hangt zudem nicht nur von der Starke der frustrierten Aktivitat ab, so ndem auch vom Grad und der Anzahl der St6rungen. Andere Autoren haben in der Folgezeit darauf hingewiesen, dass die Wahrscheinlichkeit offener Aggressione n abnimmt, wenn aggressive Te ndenzen mit Straferwa rtungen belegt sind. Am starksten sei die Aggressio n gegen den Frustratlonsausloser geric htet, nur bei starker Hemmung findet eine Aggressio nsverschiebung (Su ndenbockPhanomen) oder eine Veranderung der Form der Aggressio n statt. Berkowitz ( 1962) hat in sei nen Untersuchungen bestatigt, dass Aggressionen nicht zwangslaufig eine Reaktion auf Frustrationen sind, sondern Frustratio nen lediglich die Bereitschaft zu aggressive m Verhalten fordem. Emotionale Zustande werden hier als assoz iatives Gebi lde beschrieben, in welchem spezifische Gefllhle, physiologische Prozesse, motorische Reaktionen, Gedanken und Erinnerungen miteinander verkniipft sind. Dies ist insbeso ndere dann der Fall, wenn aggressive Hinwe isreize als Randbed ingungen dafiir sorgen , dass Arger durch bestimmte Symbole ausgelost oder erin nert wird. Frustrationen scheinen zudem nur zu Aggressionen zu fllhren, wenn der Betroffene ein Ereignis als aversiv oder beabsichtigt wahrnimmt. Eine Aggressionsreaktion auf eine Frustration ist also am ehesten dann zu erwarten, wenn eine Provokation vorliegt, diese von der betroffene n Person als eindeutiges Fehlverhalten eingeschatzt wird, der Betroffene ohnehin aggressive Ve rhaltensgewohnheite n und geringe Hemmungen hat, und eine bestimmte Situation aggressive Signale und Hinweisreize, aber keine aggressionshemme nden Faktoren bereit halt. Komplexere Prozessmodelle von Aggression weisen heutzutage eher auf die Interdepe ndenzen moglicher Aggressio nsursachen hin und unterscheiden z. B. situative Variablen und Hintergrundvariablen. Zu den ersteren zahlen neben der eigentliche n Frustration etwa noch Beleidigungen, Normverletzungen, interpersonell e Konflikte oder Umweltstressoren (Hitze, Larm, Schmerz); zu den letzteren za hlen physiologische Variab len, das Temperament und die lmpulsivitat einer Person . In diesem Sinne konnen bestim mte Persdnlichkeits konfigurationen aggressive Einstellungen fordem , aber auch cine bestimmte kulturelle Umwelt die Aggress ionsneigung der Individuen verstarken. Aggressio n kann aber auch das Ergebnis sozialer Interaktionen sein, etwa wenn sich zwischen den Beteiligte n Perspektivendivergenzen auftun, die durch die bessere Bewertung der eigenen (aggressive n} Handlungen und entsprechende Reaktionen auf einen Angriff Eskalationen in Gang setz en. Agg ression ist dann eigentlich Machtausiibung eines lnleraktionspartners, die ihr Motiv in
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der Kontrolle tiber andere. in der Wiederherstell ung vo n Fairness nach Gerechtigkeitsver letzu ngen ode r dem Wunsc h, als sta rke uod machtige Person zu erscheinen, finden kann (vgl. allgemein Bierhoff/W agner 1998) . Psychologi sc he Aggre ssions- und Triebtheorien setzen fiir die Erklarung mensc hlicher Aggressivitat auf einer sehr grundlegenden anthropo logi sc hen Ebene an. Da basale Ver haltensmuster der Me nschen filr aile Me nschen gleich gultlg sei n dUrften , spricht zunachst einma l nichts gegen die Gene ralisie rung dieser Theorien als Brklarung von Aggression und Gewalt auch in andere n Teilen der We lt. Aggressio n und gewalttatiges Verhalten wiirde in dieser Perspektive zur condition humaine, zur menschliche n Grundausstattung ge horen, die sic h in untersc hiedlicher Art und Weise liberall zeigt. Gleichwohl mlissen auch die Einwa nde gegen Aggressions- und Triebtheorien zur Erkla rung der Gewalt von Jugendlichen bedac ht werde n. Zum einen ist die Vorstellung, dass Aggre ssio n ein durch auGere Umsta nde und Einfhlsse unverande rlicher, sich immer wieder quasi mechanisch Bah n brechender und angeborener Tri eb ist, in seiner Ursprungsversion als unhaltbar verworfen word en. So erlaubt etwa die An nahme eines Todestriebe s be im Me nschen im Grun de keine n Ausweg au s der Ze rstorung des Selbst oder der nach augen gerichteten Gewa lt, so dass sie das Ind ividu um in eine ausweglose und letztlich tragische Lage versetzt, we il damit e ntweder das eige ne physische oder psyc hische Kra nk- und Verletzsei n ode r die Besch adigung und Zerstorung Anderer verbunden ist. Auto ren wie Kare n Horney und Erich Fromm habe n darauf hingewiese n, dass Freud die Wirkung sozialer und kultureller Fakto ren auf die Triebsttuktur des Individ uums zu wenig berucksichti ge, und die biologisch-triebhafte Determinieru ng des Einze lnen mit dem Hi nweis auf die soziale und historische Formbarkeit und Beei nflussbarkeit relativiert. Ag gress ions- und Triebtheorien sind zudem nur schwer wissenschaftlic h verifizierbar. Gegenllber et hologi sc hen Argu mentationen lieGe sich einwenden, dass ein sc hlussiger Beleg fllr die Moglichkeit der Ubertragbarkeit vo n Erke nntnissen aus dem T'ierreich auf menschliches Verhalten noch fehlt. Es milssen zudem nicht nur innere Agg ress ionsimpulse sei n, die sich gewaltsa m entladen, sondem es kon nen auch auGere Imp ulse fiir Aggre ssio nen verantwortlich sei n. Die Frustratio ns-Aggressions-T hese und insbesonde re ihre Weiterentwicklun ge n stellen dagegen d urchau s sinnvolle Erklar ungsa ngebote zumindest fur einen Teilaspekt vo n Aggressionen dar, auch wen n sie letztlich eine zu sta rk vereinfachende, mono kausaIe Erklarung fur das Phano men Aggression in sei ner Gesamtheit sind. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin , dass die urspriingliche Theorie in ihrer Reic hweite immer w ieder ei ngesch rankt werde n musste , wodu rc h sie nur noc h einen Te il der beobachtbaren Aggressionsphanomene besc hreibe n od er erklaren kann. Insbeso ndere dort , wo die Ursachen aggressiven Verhalte ns nicht mehr in die aggressiv handelnde Person hine in verlegt werden, sondern dort , wo sie sic h auf die sozialen Ursachen aggressiven und gewa lttatigen Verhalten s konzentriert, hat sie ihre Star ken, Zudem ist sie v.a. dazu geeignet, reaktives aggressive s Verhalte n
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zu erklaren, nieht jedoe h aktives aggressives Verhalten, das ohne vorhergehende Frustration auskommt. lhren Stellenwert gewinnt sie heutzutage v.a. in Verbindun g mit ande ren T heorien - wie der Sozialisations- und Lemth eorie -, fllr die sie sinnvolle Aspe kte und Elemente bereithal t.
4.2 Gewaltan eignung in der Sozialisation und durch Lemen Gewalt kann aber nicht nur als feste Verhaltensdisposition in einem Individuum verankert sein oder sich spo radisch als Trieb entladen, so ndem Gewalt kann auch in der Sozialisation erfahren, intemalisiert und weiter gege ben ode r schlichtweg gelernt werden . Lem - und Entwicklungstheorie n knupfen in vielfaltiger Weise an die zuvor genannten Aggressio nstheorien an. Wahrend sozia lisationstheore tisehe Ansatze Gewalt biographisch betrachten und prozessual in Entwicklungsmodellen (z.B. Gewa ltkarrieren) fassen , hangt das .Brtemen" von Gewa lt und krimin ellem Ve rhalten von komple xen Bedingungen aboLemth eorien geben daruber Auskunft, wie Gewa lt als Handlungsmuster gelernt und tiber welehe Meehanismen verinnerlieht wird . Sozia lisation bezeichnet zunachst den Prozess, dureh den ein Einzelner in eine groliere soziale Gruppe oder Gemeinschaft eingegliedert wird, indem er die in dieser Gruppe vorherrschenden sozialen Normen und Rollenerwart ungen und die zu ihrer Erfullung erforderlichen Fahigkeiten und Fertigkeiten erlemt und in sic h aufnimmt (Vergese llschaftung). Akzeptiert das Individuum schlie6lieh die Verhaltensstandards, Uberzeugungen und Einstellungen als seine eige nen, dann sp richt man von der Intem alisierung derselben. Sozialisationsprozesse setze n im Grun de unmittelbar naeh der Geburt ein und reichen we nigste ns bis zum Absehlu ss der Kindheits- und Jugend phase. Neuere Sozialisationstheorien gehen dagegen von einem lebenslangen Lem en aus. Die Herausbildung grundlegender Personlichkei tsm erkmale und von Spraeh- und Handlungskompetenzen bezeichnet man als primate 50zialisation, den Erwerb neuer Rollen und die Ausdifferenzierung von Fahigkeiten als se kundare Sozialisation. Sozialisationsinstanzen sind all jene gesellschaft lichen Binrichtungen, welche die Lemprozesse von Kindem und Jugendl ichen ste uem angefangen von der Famitie, dem Kindergarten und de r Schule bis hin zu Freundeskreise n, Berufsko llegen und den Massenmedien. 5oz ialisation kann sieh a uf untersc hiedliche Bereiche erstrecken und erfolgt in der Regel schichtspezifisch. 50zialisationstheorien haben in den letzten Jahren komplexe Erkenntnisse zutage gefordert und lassen sich in psyehologiseh und sozio logiseh argumentierende Varianten differenzie ren. Die Obje ktbezie hungstheorie (u.a. Winnicott , Kernberg, Mahler) uberwand die "One-body-Psychology" und offnete den Blick auf die Beziehungsaspekte in der psychischen Entwicklung von Kindem und Jugendlichen. In der Deutung des individuellen Verhaltens wurde nicht mehr nur die libidinose oder aggressive Besetzung der Objekte berileksiehtigt, sondern aueh der Situationskontext und die Vor-
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stell ungen und Erwartungen, welche die Bezugspersonen an das Individuum haben . Obj ektbeziehungstheoretiker inter essiert besonders das Wechselspiel zwischen 50zia ler Interaktion und Intemalisierung sprozessen (Ink orporetion , Introjektion , Imitation , prim ate und se lektive Ident ifizierung). Au s der Verknupfung vo n primar en Bediirfnissen und tatsachlichen Inter aktion en mit der Umwelt entwickelt sich das Selbstbild und Selbstverstandnis (die "Se lbstreprase ntanz" ) des Kindes ebe nso wie seine Vorstellungen vo n der Beziehung zu den Inter aktionspartnern (di e .Dbjektreprasen tanz"). Vertreter der Objektbeziehungstheorie haben die Phasen der psychisc hen Entwicklung neu formuliert und mit korperlichen Reifepr oze ssen , typischen Aufgaben und Grundk onflikten in Verb indun g gebracht. Erik H. Erikso n ( 1973) erkundete verschiedene kulturelle Milieus und beschrieb in einem anthropologi sch en Modell acht Stufen der Identitatse ntwicklung. Erdheim scharfte im An sc hluss an ethnopsychoanalytische Studien das Bewusstsein fur den Stellenwert der Adoleszenz in modernen (" heiGen" ) Gese llschaften, die ihre innere Dynamik du rch einen gewi ssen Antagonismus vo n Familie und Kullur gewinnen. Die Adole szen z ist hier ei ne Phase der Umb ruche und Krisen , der Gefahren und kreativen Losungen, in der die bis dahin gebildete Personlichkeit auch nach den pragenden ersten l.ebensjahren noch einmal .J hre zwe ite Chance" bekommt. Konflikte aus der friihen Kindh eit werden wiede r belebt , die in der Latenzphase ges icherten Bestand e der bisherigen Lebensgeschichte verflussigen sich noch einmal. Die Bindungstheorie nach Bowlb y und Ain sworth (2003) verbindet ethologisches , entwicklungspsychol ogisch es, systemisc hes und psychoanalytisch es Denken. Sie befasst sich mit den grundlegenden fruhen Binffussen auf die emotionale Ent wicklung eines Kindes und versucht, die Entstehung und Ver ande rung von starken gefllhl smalli gen Bindungen zw isc hen Individuen im gesamten men sch lic hen Lebenslauf zu erklaren. Bowlby betrachte t Bez ugsperso n und Siiugling als Tei lnehmer in einem sich wechselseitig bedingenden und se lbstreguliere nde n System. Aus den vielen Interaktionsmod ell en bild et das Kind innere Madelle des Ver haltens und der damit verbundenen Affekte von sich und der Bezugsperson, so genannt e .Jnnere Arbeitsmcdelle" , heraus. Auf diese Weise werden Liebe, An gst und Wu t, manchmal auch Hass, durch ein und dieselbe Person ausgelost. Ge ner ell w ird angenommen, dass ein schneidende Trennungs- und Zurtickwe isungse rfahrungen zu feind seligen Reaktionen in der Bez iehung des bet roffenen Kindes z u seiner zentralen Bezugsperson Iuh ren. Wie in der psychoanalytischen Theorie geht man auch in der Bindungsforschung davon aus, dass die Wut auf die eigenen Eltem vielfach nicht offen ausgedrilckt werden kann . Angst vor Strafe n, besondere Zuneigung oder soz iale Norm en, die das Verhalten in der Kind -Eltern -Beziebung regeln, kormen dazu ftihren , dass das Kind se ine Wut und seine Angriffswlin sch e un terdruckt und gege benenfalls auf and ere Personen und Objekte versc hiebt. Die
neuen Erkenntnisse der Psychoanalyse und ein zunehmend interdisziplinarer Erfahrung saustausch haben ein integrati ves Verstandnis der psychischen Entwicklung
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von Kindem und Jugendlichen gef6rdert. Dabei werde n gleic hermaBen biologiscbe, psyc hosoz iale und intrapsychische Aspe kte berucksichti gt. Huesmann (2000) geht in seiner sozialen Entwic k lungstheorie davon aus, dass sozia les Verhalten zu einem groBen Te il durch Programme kont rolliert wird , die schon wa hrend der friihen Entwicklung eines Menschen gelernt we rde n. Bei de r Beobachtung des Verhaltens anderer Personen enkodiert das Kind die Ereig nissequenzen in Skripts. Solche Skripts umfassen die in der Umwelt auftretenden Ereig nisse, die Verhaltensweisen, mit denen auf diese Ereignisse reagiert werden soli, sowie die wahrscheinlichen Ergebn isse dieses Verhaltens. Wenn eine aktuelle Si· tuation den Bedingungen gleicht, unter denen das Skript ursprun glich enkodiert wurde, evaluiert das Kind die Angemessenheit dieses Verhaltens aufgr und intemalisierter Normen und antizipierten Konsequenzen und handelt dementspre chend. Auf die Handlung folgen entweder Belohnung oder Bestrafung (enaktives Lemen). Skripte, die durch die Generierung positiver Konsequenzen wahrend ihrer Erprobung im Verhaltensrepertoire des Kindes verbleiben, we rden immer resistenter gegen Modi fikationen, denn die Starke der Enkodierung des Skripts und dessen Verflechtung mit kognitiven Sc hemata nimmt zu. Nach dieser Th eorie entwic keln Kinde r, die agg ressiven Episoden ausgesetzt werde n, Skripts, die in den entsprechenden Situationen aggressive Reaktionen vorsehen. Hinter grund fiir viele Sozialisationsmodell e ist heute die Sozialisatio nstheorie von Kohlberg (1996), der selbst wieder auf den entwicklungspsychologischen Gedanken Piagets aufbaut. Kohlberg befasst sic h unter anderem mit der Psychologie der Moralentwickl ung und fragt nach deren Grundlagen und Entwickl ungsrichtung. Fur Kohlberg ist Moralentwicklung ein universell auftretender und irreversibler Prozess, der sich individuell als Ausbildung von Gerechtigkeitsde nken niede rschlagt. Die Moral entwicklun g selbst verlauft dabei von einer partikularistisc hen zu eine r universalistisehen Normorientierung. Gewalt wird in den Sozia lisatio nsmodellen v.a. defizittheoretisch gefasst, weil sie die nicht gelingende Sozia lisatio n und eine defizltare Moralentwieklun g anzeigt. Intemalisiert das Individuum die gesellsehaftlichen Werte und Normen nieht oder nur unzureichend, orie ntiert es sich an problematischen peer gro ups oder wird es medial negativ beeinflusst, dann neigt es zu abweichendem Verhalten in Form von Regelverst6Ben, krimin ellem oder gewalttatige m Handeln. Die Lerntheorien erklaren nun, wie und warum die Gewa lt im Prozess der Sozialisation zu einer Handlun gsoption fur den Einzelnen wird. Lernpsyc hologiseh betraehtet gibt es namlich im Grunde keine Aggress ionstheorien, so nde m nur verschiedene Lemtheorien, welche die Entste hung von Ag· gressionen zu erklaren versuehen. Die Grundannahme Iautet dabei, dass Aggressio nen wie die meisten anderen Verhaltensweisen gelernt werde n und eben nieht angebo rene Dispositione n ode r Triebe dafur verantwortlich sind. Bei den Lem theorien lassen sich zunachst grob zwe i Richtungen unterscheiden: ei n behavio ristischer und ein kognitiver Strang.
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In der Anfangszeit des Behaviori smus wa r die Psyche noeh cine black box. so dass man davo n ausge hen musste, dass Umwelt ereign isse oder bestimmte Re ize Reaktionen auslosen. Lemen zeigt sich dann an entsprechenden Reaktionsveranderun-
gen. Auf der Grundlage yon Tierversuchen entwickelten Pawlow und Thorndike ihre Th eori e des Klassisch en Konditionierens. Mil Hilfe des Klassischen Konditionierens lasst sich vor alJem eine affe ktive Reaktion wie Arger und Wut auf ein bestimmtes Ereignis erkl aren (Re iz-Reaktion Lemen) , aber auch die Be standigkeit erlem ter Reflexl eistungen nachweise n. Bedeutsamer ist allerdings das Konzept des Instrumentellen oder Ope ranten Konditionierens bzw . das Lemen am Erfo lg nach Skinner (1973). Er erwe iterte die Th eor ie des einfachen Konditionie rens du rch ein e Th eori e des reinforce ment und formulierte se ine These von der sekundaren Ver starkung . Demn ach ist nicht der Reiz an sich ze ntral, so ndern die Belohnung bzw . Bestrafung eines bestimmtes Verhaltens. Fiir das Erlerne n von Aggression gelten dabei im Gru nde dieselben Le m prinzipien, die auch fiir das Erlemen anderer sozialer Verbaltensweise n w ichtig sind. Ein Verh alten, das mehrmals zum Erfo lg - z.B. zu Anerkennung - gefilhrt hat und dam it positiv verstarkt wird, w ird beibehalten und wiede rho lt. Als weitere Ve rstarkung gilt die so genannte Selbstvers tarkung: Stillschweigend e Duldung aggressiven Verhahens bei Kind em wir kt als empfundene Zuslimmung verstarkend. Beweggrilnde fur aggressives Verhalt en konn en entweder primat e physiologische Bedurfnisse oder eine sekundare Moti vation wie das Bedurfnis nach Ge ltung, Macht ode r Beachtung sei n. Der Agg ressor lemt durch die unterschiedli chen Folge n sei nes Hand elns sogar, in welcher Situ ation welche Verhaltenswe isen anwendbar sind, und kann 50 auch eine Verhal ten soptimierung durchsetzen (vgl . Joerger 1984). Nach den Prinzipien der Operanten Kon ditionierung hab en in den 1960er Jah ren Burgess und Ake rs (1966, 1973; vgl. auch Akers 1998) ihre Krlminalitatstheorie ent wo rfen : Dieser Th eori e zufo lge wird auch kriminelles Verhalten erlemt. Die Wahrscheinli chk eit kriminellen Verh altens ist dabei urn so groBer, je sta rker di eses Verh alten in der Vergangenhe it belohnt (Erhohung des Selbstw ertgefllhl s, Anerkennung, Reichtum etc. ) und j e wen iger es bestraft wurde (Angst, Kritik, Ablehnung von Fre unden, Strafen etc.). Bereits zuvor hatte Sutherland ( 1968) mit sei ner Th eori e differenti eller Kontakt e darauf hingewiesen, dass delinquentes Verhalten durch den Kontakt mit Kriminellen in per sonlichen Gruppenzusamm enhangen erl em t wird. Das Kenn enlemen krimi neller Verhaltensmuster und der entsp rechenden Motive und Einstellungen ist dafilr besonder s wichtig . In diesem recht mechanisch en Mod ell men sch lichen Lemens steigt die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens mit der Zahl der Kontakte zu Kriminell en. Die kognitivistischen Lemt heo rien betrachten dagegen Lemen als einen sozialen Proz ess in Auseinand ersetzun g mit der natilrli chen Umwe lt. Lemen w ird als Subjekt-Um welt-Inter akti on verstanden, die sich immer auf der Grundlage bereits ausge b ildeter Strukturen vollz ieht. Die Theori e des soziale n Le mens vo n Bandura ( 1979) verbindet behaviori stische und kognitivistisch e Elemente im Erfo lgs leme n
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und im Lernen am Modell. Dem Lernen am Modell , sog. Beobachtungslernen, kommt besondere Bedeutung zu. Es besteht v.a. bei Kindern im Beobachten vorgelebter Verh alten sweisen, wobei die beobachtende Person die ihr zuvor unbekannten Verhaltensweisen entweder ubem immt ode r bereits bestehend e Verhalt ensweisen bestarkt . Durch das Beobachten von reale n wie symbolischen .Modellen" (z.B. E Itern, Erzieher oder Medien), die sich aggressiv verhalten, konnen vor allem Kinder ge nau solc he Verhaltensweisen erlernen . Es geht dabei allerdings weni ger urn Imi tation als urn die Tatsache, dass erfolgreiche aggressive Modelle allmahli ch Ei nstel lunge n verandem und GefU hle gege n Gewalt abstumpfen lassen. Wird in einer Bezugsgruppe aggressi ves Verhalt en anerkennend bewertet , dann tritt dieses Verhalten haufiger auf; jed e Aggressio n erhoht damit die Wahrsch einlichkeit weite rer Aggressionen . Das Risiko, dass die vorgefuhrten Aggression en als Mittel zu Prob leml osungen "er kannt" und eingesetzt werden, ist hoch. Das Beobach tungslernen orientiert sich in der Regel am Erfolg oder Misserfolg einer Handlung. Verspricht ein bestimm tes Verhalten Gewinn , Anerkennung und Beachtung oder dient es der Verteidi gung und dem Schutz des Einzelnen (a u6ere Effekte) oder bring t es gar Gerec htigkeitserleben, Stimulierung und posit ive Selb stbewertungen (innere Effe kte) mit sich, dann konnen positive Effekte Motivat ion zu aggressivem Verhalten sein. Wird zusatzlich noch durch Referenzgruppen posi tiv auf dieses Verhalten Bezug geno mmen, dann wird die Neigun g zu aggressivem Verhalten nochmals ve rstarkt. Das Beobachtungslernen tiber Modelle erfolgt wesentlich tiber das Bekraftigungsl ernen mittels Erfolgsprozessen. Es existieren aber noch zwe i weitere Formen des Lernen s, namlich das sog. SignalJernen und das kogniti ve Lernen. Das Signa llernen stellt im Grund e ein Lernen durch eine Konditionierung von Reiz und Rea ktion dar. Bestimmte Signal e konnen entwede r mehr oder minder automati sch oder mittels gelernter Assoziationen Affekte auslosen und gewalttatige Reakti onen hervorrufen. Aggressionsrelevante Reize sind beispielsweise Waffen , Worte, Bilder, Symbole ode r Namen . Ob die Reize jeweils auch zu aggressivem Verhalten flihren, hangt von den jeweiligen Bewertungen des Reizes aboDas kognitive Lernen geht hingegen davon aus, dass Wissen und Erkenntnisse den Umgang mit Aggressionen beeinflussen, denn beim Interpretieren und Bewerten von Situationen sowie bei der bewussten Planung und Steueru ng des eigenen Verhaltens spielen diese eine wichtige Rolle. Die Interpret ation und Bewe rtung vo n Situationen ist immer abhangig von personlichen Bedeutungsbildungen , Denkweisen und Vorkenntnissen. Aggressio nsreleva nt sind nun besonders jene sozi alen Normen (etwa Werturteile und Leitvorstellun gen), die sich auf das " richtige" Handeln beziehen und festJegen , ob eine bestimmt e aggress ive Handlun g unangemessen, verboten oder auch leg itim ist. Das aufgebaute Handlun gsrepertoire flihrt dann im Verbund mit anderen soz ialen Lernprozessen entweder zu aggressivem VerhaIten oder zu einem konstruktiven Umgang mit Konflikten. Lerntheorien werden haufig im Zusammenha ng mit Medienwirkungen bemilht, we nn es urn Gewaltdarstellungen geht (vgl. Kunczik 1987; Kunczi k/Zipfel 2(02).
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Der Theorie zufolge lernen Kinder und Jugendli che gewalttatiges Verhalten durch Nachahmung und Beobachtun g realer und fiktiver Gewa lthandlunge n. Gewaltdarstel lungen in den Medlen konnen Agg ressionen stimulieren und Nachahmungseffekte auslose n, indem sie spezielle Techniken und Praktiken ze igen. die dann nach gesp ielt werden. Die Medienwirkun gen in Bezug auf das Erlernen eige nen gewal ttatigen Handelns sind jedoch umstri tten: Nac h der Katharsisthese wird ei n angebo rener Agg ressionstrieb durch den Konsum med ialer Gewalt befr iedigt, so dass Gewa lldarst ellungen in den Me die n eher zu einem Aggressionsabbau fuh ren. Nac h der Inhibitionsthese werd en dUTCh die Rezeption entsp rechender Filme und Texte Angste ausgelos t, die zu einer Hemmung der Gewaltbereitschaft fiihren sollen. Mediale Gewa lt harte somit gewaltreduzierende Wirkun gen. Nach der Habitu alisierungsthese stumpfen die Rezipienten nach einer An fa ngsphase allmahlich ab, so dass schlie6lich emotionale Reaktionen auf Me diengewalt abnehmen ode r ga nz ausbleiben. Der Konsum gewalttatiger Inhalte in den Medien bliebe demnach weitgehend wirkungslos. Nach der Suggestio nsthese werden medial ve nnittelte Gewalthandlunge n durch ihre suggestive Wirkung nachgeahmt, so dass die Wahrnehm ung von Gewalt als Stimulus wirkt, der zu entsprec henden Reaktionen fuhrt . Nach der Stimulationsthese lost der Konsum medialer Gewa lt bei bereits frustrierten Personen Aggressionsgefiihle und Gewa lt aus. Medienkonsum konnte in dieser Hinsicht ein Reiz sei n, der eine kausale Frustrations-Aggressions Spirale in Gang setzt und zu realer Gewa lt fiihrt. Nach der Assoziationsthese hat die Anzahl der Kontakte mit medialer Gewa lt ein en Einfluss auf das Erlernen der Techniken zur Ausfiihrung gewa lttat iger Handlungen und pragt entsprech ende Motive und Einste llungen aus, die dann auc h tatsachlic h zur Gewa lt fuhren. Lernth eori en, die von einer einfac hen Kausalitat von Medienwirkungen in Rich tung auf Gewalt ausgehen, ko nnen als widerlegt gelten. Gleichwo hl erweist sich z.B. der Konsum von Mediengewalt besonders fatal fur Kinde r und Jugendlich e, die in ihrer Umgebu ng auch reale Gewalt erfa hren. Dieses dop pelte Gewalterleben steigert die Wahrscheinlichke it abweichender Entwic klungen betrachtlic h. Sozia lisations- und Lerntheorien weisen vielfaltige Ubers chneidungsbereiche auf und erganzen sich gegenseitig. Der lerntheoretische Ansatz ist dabei wese ntlich kom plexer als die zuvor behandelten psychologischen Tr ieb- und Agg ressionstheo rien. Er reagiert auf das Problem menschlich er Aggressivitat mit differen zierten Erkla rungsmodellen, so dass Lemt heorien jenseits einfacher Reiz-Reaktio nsSc hemata auch als multikausale Aggressionsmodelle angese hen werden konnen, die fiir einen Gutteil von Gewaltp hanomene n plausible Erklarunge n liefem . Allerdings bleiben sie wese ntlich auf ei ner individu ellen Erklarungsebene, so dass es ihrer Erganz ung durch Theorien bedarf, die auch Gewa lt auf einer inter mediaren ode r Makroebene erfassen kann. Dies sind insbesondere soziologische Erklarungs-
J ugendgewalt in Enlwicklungslandem
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ansatze, die Gewalt in der ein oder anderen Form als gesellschaftliches Phanomen betrachten. Sie suchen die Ursachen fur aggressives und gewaltsames Verhalten nicht beim Individuum selbst, sondern ordnen es in einen bestimmten gesellschaftlichen Kontext ein und betrachten die Bedingungen, unter denen Gewalt zu einer Option wird. 4.3 Subkulturen, Protest, intrinsische Gewalt
Schaut man starker nach gesellschaftlichen Hintergrilnden und Verursachungsfaktoren fllr Gewalt, dann stehen eine ganze Reihe von Erklarungsvaria nten zur Verfugung. Eine prominente Erkliirungsrichtung hat sich dabei mit abweichendem Verhalten, das auch aggressives und gewalttatiges Verhalten einschlieBt, beschaftigt und insbesondere auf sozialstrukturelle Faktoren zur Erklarung von J ugendgewalt abge hoben. Dabei stand die Herausbildun g von Protest- und Subkulturen, die Zusammenrottung von Jugendlichen zu Banden und Gangs sowie auch expressive Formen von Gewalt im Mittelpunkt des Interesses. Unter Subkulturen versteht man zunachst in sich geschlossene Teilkulturen, die sich in ihren Institutionen, Normen, Werten, Bedurfnissen und Verhaltensweisen, aber auch Symbolen von der gesellschaftlich dominanten Mehrheitskultur signifikant unterscheide n. Aufgrund der weiterreichenden Akzeptanz und des Allgemeingultigkeitsanspruchs der Mehrheitskultur werden Subkulturen in der Regel durch deren Normen- und Wertesysteme beurteilt. Der Grad der Abweichung solcher Subkulturen von der I lbergeordneten Mehrheitskultur kann von bloBen Modiflka tionen im Normen- und Wertesystem bis hin zu ausdrucklichen Gegenpositio nen und Oppositio n reichen - womit wiederum unterschiedliche Grade offentlicher Akzepta nz oder Stigmatisierung verbunden sind. Subkulturen sind deshalb nicht selten auch Protestkulturen, wei! sie gegen eine kulturelle Ordnung aufbegehren, die fur sie inakzeptabel ist. Die spezifischen Auspragungsformen von Subkulturen als Teil kulturen werden dabei von besti mmten gesellschaftlichen Gruppen, Schichten ode r Klassen geteilt und anerkan nt. Wenn Subkulturen naher untersucht werden, geht es in der Regel a) urn Gesellungsformen und Ehrvorstellungen von kriminellen und anderen devianten Gruppen, b) die Lebensstile und Wertorientierun gen von Schichten, Klassen oder ethnischen Gruppen, c) die Gesellungsformen und express iven Eigenheiten von J ugendkulturen, oder d) die gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen von Protestbewegu ngen und entsp rechenden Szenen. 1m Kontext der Jugendgewalt ist der Subkulturansatz v.a. zur Erklarung abweichenden Verhaitens, also von Delinquenz und Krimlnalitat, genutzt worden. Der Ausgangsp unkt des Subkulturansatzes und der Beginn der Bntwic klung eines Konzepts kann in der angelsachsischen Soziologie und Kulturanthropologie der 1940er und 1950er Jahre gesehen werden, wo Forscher der Chicago School jugendliche Bandenkriminalitat in den USA untersuchten. Subkulturansatze gehen davo n aus, dass die Normen, Werte und Symbole einer Gesellschaft nicht gleichermaBen fur
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aile Mitglieder der Gesellschaft gelten und unterschiedlich verpflichtend wahrgenom men werde n. DUTCh Abweichungen von den .Jier rschenden Normen" entste hen dann Subkultur en innerhalb einer Gesellschaft, die einen Teil dieser Werte und Normen ablehnen und dagegen eigene bilden. Die divergierenden Normen entstehen als Anpassungsprozesse an verschiedene soziale Bedingungen. Ihr Sinn und Zweck besteht grundsatzlich darin, Spannungen abzubauen, die aus einem generellen Unvermogen ode r fehlenden institutionalisierten Moglichkeiten zur Behauplung in der Gesellschaft (im Sinne einer Teilhabe an den gesellschaftlichen Funktionssystemen und partizipativer Integration sowie der Gewinnung von Anerkenflung) entslehen. Eine Losung stellt in diesem Fall der Wechsel der Bezugsgruppe dar, weil die in der eigenen Gruppe institutionalisierten Losungen nicht mehr als angemessen erscheinen. In den neuen Zusammenschliissen enlstehen dann in Inleraklionsprozesse n gemeinsame Normen, Werte, Verhaltensweisen und Rollen und damit schlussendlich Subkulturen. Whyte (1943) und Cohen (1955) haben in ihren Untersuchungen zum abweichenden Verha lten von Jugendlichen festgestellt, dass dieses selbst keineswegs regelfrei isl, sondern bestimmte Ziele verfolgt und festen Gesetzmabigkeiten unterliegt. Mitglieder von kriminellen Jugendband en, die sozialstrukturell iiberwiegend aus der Unterschicht stammen, bilden etwa eigene Handlungsethiken und Ehrvorstellungen heraus und verletzen aufgrund von sozialer Diskriminierung und mangelnden gesellschaftlichen Aufstiegsmoglichkeiten bewusst und syste matisch die Zielvorstellungen und Werte der dominanten Kultur. Konflikte ergeben sich diesbezuglich aus dem Aufeinanderprallen bzw. der Inkongruenz verschiedener Kulturen. Die ursprungliche Charakterisierung von Subkulturen als schlichtweg kriminell wurde Anfang der 1970er Jahre von Cloward und Ohlin (1961) differenziert: Sie unterschieden zwischen bewusst kriminell ausgerichteten Subkulturen , zwischen Subkulturen, die sich durch GewaIt und Aggressivltat auszeichnen, und zwischen Subkulturen mit gesellschaftlicher Ruckzugstendenz. Diese Differenzierun g wie auch die Erfass ung der Ziele von Subkulturen fiihrte schlieBJich zur Untersc heidung von progressiven und regressiven Subkulturen (Schwendter 1971). Progressive Subkulturen sind an der Veranderung bzw. Aufbebung bestehender Herrschaftsverhaltnisse orientiert und bestehen z.B. aus politischen Gruppen oder Bewegungen; regressive Subkulturen tendieren dagegen eher zur Erhaltung bzw. zur Wiederher stellung traditioneller gesellschaftlicher Standards und bestehen z.B. aus Kriminellen, Banden oder Rechtsradikalen. Die Erweiterung des Subkul turkonzepts und die Uberwindung des konstitutiven Kriteriums der Delinquenz fiir Subkulturen fiihrte zu weiteren Forschungen tiber die Sozialisationsbedingungen und sozialstrukturelle Verortung der Mitglieder von Subkulturen sowie zur Frage nach der Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit der Zugeh6rigkeit zu einer Subkultur. Infolge dieser Differenzierung wurden soziale Diskriminierung und Unterprivilegierung als wesentliche Griinde fur unfreiwillige Subkulturen (kriminelle Banden, ethnische Minderheiten, aber auch soziale Problemgruppen) angesehen. Freiwillige
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Subkulturen (wie politische Bewegungen oder religiose Gemeinschaften) st rebten hingegen bessere soziale Lebensbedingungen oder alternative Wert- und Nor menstrukturen als bewusste Alternativen zur herrschenden Kuhur an. Die Entwicklung eines kriminalsoziologisch orientierten Subkulturkonzepts hatte zunachst den Vorteil, dass rein individuelle Betrachtungsweisen delinqu enten Verhaltens an Bedeutung verloren. Kritik richtete sich gleichwohl gegen die unmittelbare Gleichsetzung von Subkultur und Delinquenz, ohne die Problemlag en delinquenter Jugendsubkulturen in Beziehung zur dominierenden Kuhur zu setzen. Dieses Vorgehen fiihrte letztlich zur Stigmatisierung und Pathologisierung sozial abweichenden Gruppenverhaltens und nicht zu einem soziologischen Verstehen. Eine andere Akzentuierun g der Subkulturforschung sieht Jugendbewegungen v.a. als Protestbewegungen. Die Erklarungen, warum Jugendliche dabei auch zu gewaltsamen Handlungen neigen, variieren. Diese reichen von einem in einer schwierigen Entwicklungsphase stattfindenden Aufbaumen gegen Vorbilder und Autoritatspersonen, urn Unabhangigkeit zu erreichen und Eigenstandigkeit zu demonstrieren. Mit dem Einsatz von Gewalt werden dann OhnmachtsgefUhle iiberwunden und Macht demonstriert. Jugendgewalt als Protestgewalt kann sich j edoch auch gegen reale gesellschaftliche Missstande richten und insofern eine wichtige Signalfunktion fllr die Gesellschaft besitzen. Gewalt ware in diesem Fall fiir die Jugendlichen ein probates Ausdrucksmittel, urn sich Gehor zu verschaffen, nachdem andere Wege politischen Handelns ergebnislos geblieben sind. SchlieBlich kann die Gewalt Jugendlicher auch einfach eine Form expressiven Verhaltens sein. Mannlichkeitsrituale und Uberlegenheitsgesten, Provokationen und ausdrucksstarke Rituale. Halbstarkengesten und Kraftmeiereien sollen Aufmerksamk eit erregen und Respekt sichern. Sie dienen der korperlichen Selbstvergewisserung, sind Mutproben oder Initiationsriten und sind in diesem Faile hauptsachlich dazu da, Anerkennung und Ak.zeptanz in der peer group zu erreichen oder besonderen Mut unter Beweis zu stellen. Expressives Verhalten und Lust am Zoff kann sich jedoch auch unterschiedlich begriindeten Frustrationen schulden und eine Art Ventil fur Aggressionen darstellen. Wenn Jugendliche in S anden und Gangs zu Gewalttatem werden und Gewalt auch real ausuben, dann fiihrt das nicht nur zu der Frage, welche Prozesse, Umsta nde und Bedingungen uberhaupt zur Gewalt fiihren, sondern auch, welche Erfahrungen fiir die Jugendlichen mit ihrer Gewalttatigkeit verbunden sind. Haufig ist namlich ein weit iiberschieBendes AusmaB an Gewalt festslellbar, was sich verniinftigen Zweck-Mittel-Relationen vollkommen entzieht. Das Konzept der .Jntrinsischen Gewaltmotive'' (Sutterliity 2002, 2007) will dazu beitragen, wesentlich e Dimensionen von Gewalthandlungen Jugendlicher (Gewaltinteraktion, Erfahrung der Gewaltausiibung, Interpretation dieser Erfahrung) zu erklaren, die offensichtlich von einer spezifischen Brlebnisqualitat und Erlebnisintensitat (Gewalt als kick und thrill oder als excitement) getragen werden. Ausgangspunkt ist hier die Uberlegung, dass sich mit der Ausiibung von Gewalt durchaus positive, wenn nicht gar
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lustvolle Erlebnisse verbi nden, die darauf hinweisen , dass Gewalthandlungen von Motiven geleitet sein konnen, die sic h auf keinen Zweck und kein en Wert augerhalb dieser Handlungen beziehen. Die Motive, d ie zur Gewalthandlung fl lhren, gehen dabei in der Regel auf spezifische Oual itaten der Erlebnisse zuruck, welche die jugendlichen Tater wah rend der Gewalta usub ung erfahren. Drei Dimen sionen lassen sic h dabei unterscheiden : Oer "Triumph ph ysischer Uberlegenheit" fu hrt zu auf den Tater bezogenen Machtgefiihlen , bestat igt sein Se lbstwe rtgeflihl und verleiht ihm die Gewissheit einer gewissen Gro Be und Starke. Die " Lust an den Sc hmer zen" der Opfer ist ein zweiter wic htiger Bezugspu nkt der Gewaltmotivation Juge ndlicher, der ein tiber den eigentlichen Anlass weit hina us gehendes und vcllig unverhalt nismabiges MaB an Gewalt erklarl ich macht. In der " Oberschreitung des A lltaglichen" kann schlieBlich die dritte Dimension intrinsischer Gewalt gese hen werden. Die motivierende Kraft zur Gewalt erwachst hier aus der Entgegensetzung zu den Routinen des alltaglichen Lebe ns mit sei nen Zwa ngen und Frust rationen. Der Akt der Gewalt wird als korperlicher A usnah mezustand enthusiasmierend erfahre n, so dass sich auch darin eine Triebfede r gewalttatigen Handelns erkennen lasst. Intrinsisch e Gewa ltaustibung bedarf aber bestimmter biog rap hischer Pradisposltione n, damit Jugendlich e solehe Gewa ltmotivationen uberbaupt ausbilden konnen . 50 ist etwa auf die Bedeutun g der familiaren Sozialisation und damit verb undener Erleb nisse wie Missachtung und Gewalt hinzuweisen. Epiphane Erfahrunge n (als biograph ische Wendepunk te in der Wahrnehmung von Gewa lt) und der A ufba u gewaltaffiner Interpretationsregimes erleichte rn und ermogfichen Jugendliche n sodann in de r Regel den RolJenwechsel vom Opfer zum Tater. Schliebl ich besteht ein dritter wic htiger Punkt in der Herausbildu ng sog. Gewa ltmyt hologien, in de nen die normativen Au fladunge n ausgetlbter Gewalt zum Ausdruck kommen. Dam it schlieBt sich dann der Kreislauf der Gewalt, der auf Gr und vo n Gewalterfahrung und Missac htung mit dem Opferstatus in der Kindheit beginnt und sich tiber positive Erlebni sse mit Gewal t und epiphanischen coming outs zu einer eigenen Taterbiog raph ie verdic htet, in der gewaltaffine 5it uations interpretationen und Mytho logien vo n Gewalt schlieBlich die Entwic klung einer Gewa ltkarriere beforder n.
4.4 Modernisierun gstheorien Modernisierungs theorien haben sich in sehr unterschiedlicher Art und Weise mit der Erklarung von Gewaltphanomenen befasst. Dabei sind im Grunde zwei Richtunge n zu differe nzieren: Modemi sierun gstheorien als allge meine Entwicklungstheorie n haben nach den generellen Antriebsprozessen fur sozialen Wandel insbesondere auf einer Makroebe ne gefragt und dabei zunachst den Uberga ngsp rozess von der trad itionellen zur modernen Gese llschaft, sparer auch soziooko nomische und politisc h-kulturelle Entw icklungsprozesse innerha lb sich modernisierender Gesellsc hafte n im Blick gehabt. Als solche haben sie sich nur se hr allgemein mit Ge-
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waltphanomenen auseinander gesetzt und eher einen interprelatorischen Rahmen fur die Verortung von Gewalt in der Moderne geliefert (Wehling 1992). Als spezl fische Entwicklungstheorien haben sie sich v.a. mit den Prozessdynamiken in moderne n Gesellschaften beschaftigt und dabei jene von Modemisierung verursachren krisenhaften Entwicklungen in Betracht gezoge n, in deren Gefolge es auch zu Gewalt kommt. Hier geht es insbesondere urn die Widerspruche und Paradoxien gesellschaftlicher Modernisierung, die auch fur Gewaltphanomene einen konkreten ErkHirungsrahmen bereit halten. Die fruhen Modernisierungstheorien waren als allgemeine Entwicklungstheorien von einem unerschtltterlichen Fortschrittsoptimismus gepragt. 1m Verlauf von Entwicklung, die ziemlich unilinear und unverbruchlich von der traditioneJlen zur modernen Gesellschaft verlaufend konzipiert wurde, werden aile Entwicklungshemmnisse beseitigt und setzen sich all jene entwicklun gsfordemd en Aspekte durch, die schlieBlich die Gesellschaften dem verdeckten Idealbild der fortgesc hrlttensten westlichen Industriegesellschaft annahern sollte. In diesen und auch spateren Konzeptionen von Modernisierungstheorien herrschte im Grunde der Traum von der gewaltfreien Moderne (Joas 1994) vor: Mit der Durchsetzung von Modernitat, mit der zunehmenden Hoherentwicklung und Ausdifferenzierung von Gesellschaften und der dazugeh6rigen Affektmodellierung des Individuums wurde sich die Frage der Gewalt quasi von selbst erledigen. Diese uberaus naive und im Grunde auch mechanische Vorstellung von Entwicklungsprozesse n ging mit der Krise der Modernisierungstheorien in den 1970er Jahren verloren. Die Revitaiisierung der Modernisierungstheorien in den 1980er Jahren erfolgte dann unter ganzlich anderen Vorzeichen: Nicht mehr die nachholende Entwicklung traditioneller Gesellschaften wurde als Modemi sierung begriffen, sondem Modernisierung bedeutete nun die Weiterentwicklung evolutionarer Mechanismen funktionaler Differenzierung und gesellschaftJicher RationaJisierung. Durch das neue Design wurde es moglich, Modem isierung sowohl als krisenerzeugenden Prozess wie auch als dessen Lcs ung zu betrachten. Mit dem Topoi der Modemisierung der Modemisierung konnten namllch Krisenerscheinungen moderner Gesellschaften an Kontinu itatsvorstellungen gesellschaftiicher Modemisierung zuruckgebunden werden, so dass Krisen einerseits als Foigeprobleme von Modernisierungsprozessen wahrgenommen wurden oder aus einem Mangel an Modem itat erwuchsen, andererseits eine weitergehende Modernisierung bei Identifizierung und Beseitigung moglicher Modernisierungshindemisse und Modernisierungsblockaden grundsatzlich moglich war. Das halte auch Auswirkungen auf den Umgang mit Gewalt und die Verortung von Gewalt in der Moderne: Wahrend ein Autor wie Munch (1992) in seinen Studien zur Struktur und Kultur der Moderne den alten Gegensatz von Tradition und Modernitat wiederbelebte und die Gewa lt als Randphanomen der Gesellschaft betrachtet - sie quasi zur Ausnahme in der Modeme macht -, und Gewaltherrschaften als Bewegungen gegen die Moderne bzw. Verkorperung von Antimoderne interpretiert, unterscheidet Habermas (1990, 1998) zwischen gesellschaftlicher Moder-
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nisierung und dem Projekt der Modem e. Wahrend ihm das Projekt der Moderne mit sei nen aufklarerischen Idealen unerlasslich fur cine verniinftige Gestaltung der Lebensverhaltnisse der Menschen ist, sieht er die Gewalttatigkeiten und Barbareie n des 20. l ah rhunde rts als Auswiichse von Modemisierungsprozessen , die sich aus den Ambivalenzen und Widerspru chen modemer Gesellschaften selbst ergeben. Entzivilisierungsp rozesse, Gewalt und Barbareien sind Schattenseiten der Modem e und stellen Verirrungen dar, die das Projekt der Moderne begleiten. Erst T heorien der reffexiven Modern isierung haben die Moderne mil ihren eigenen Krisenprozessen und Folgeproblemen konfrontiert und aus dieser Konfrontation cine erneuerte Th eorie gesellschaftlicher Modernisierung begrundet. So kann etwa Beck (1993) vermei ntliche Nebenfolgen der Modernisierung, aber auch Gewa lt, als gleichurspr tingliche und gleich wichtige Phsnom ene den eige ntlichen Modernisierungsprozesse n gege nuber stellen, er vennag die Unterminierung von Modernlt at aus den Prinzipien der Modeme zu verstehen, und Gegenmodern isierung als die Nachtseite der Modemi sierung zu fassen, die gleichwohl untrennbar miteinander verbunden bleiben. Diese Dialektik von Modemi sierung und Gegenmodernisierung erlaubt es ihm, Modemi tat und Gewa lt als zueinande r gehorige Aspe kte zu fasse n und sie nieht gegeneinander auszuspielen (vgl. 1mbusch 2005 : 70ff.) Der andere Strang von Modernisierungstheorien befasst sich hingegen mit den konkreten Widersprtichen und Paradoxien gesellschaftlicher Moderni sierungsprozesse (van der Loa/va n Reije n 1992), die sich in Gewa lt niederschlagen konnen. Fragen gesel lschaftlicher Modern isierung we rden hier v.a. auf der Basis von Begriffen wie Differenzierung, Rationalisierung und Individu alisierung behandelt. Zentrales Grundmuster modemer Gesellschaften ist dabei zunachst ihre funktionale Differenzier ung. Sie gilt vielen Modernisierun gstheorien als Fortsehritts mec hanismus par exce llence, weil sie dazu beitragt, themen- und funktionsbezoge ne EigenJogiken in einzelnen gesellsehaftlichen Subsystemen durchzusetzen, die zu jener Dezentrierung de r soziale n Welt fiihrt, die diese ohne steuerndes Zentrurn erseheinen lasst. Die funktionale Ausdifferenzierung von Gese llsehaften fuhrt auf der einen Seite zu einer enonne n Anpassungs- und Integrationsfahigkeit, ande rerseits zeitigt sie aber auch negative Foigen: Funktionale Differenzierung ist beispielswei se nieht mit ubergeordn eten und allgemein verbindliehen Sinn- und Wertordnungen vertraglich und sie lost althergebraehte traditionelle Strukture n auf. Sie fordert Seg mentierung, Heterogenltat, Pluralismus und Wahlchancen und produziert damit Sinn- und Orientierungskrisen. Wird darauf mit fundamentalistischen Haltungen reagiert, steht die Wiedereinsetzung alter Werte und Tugenden und beizeiten ihre gewa ltsa me Durehsetzung auf der Tagesordnung; wird darauf relativistiseh mit Gleichgtiltigkeit gegentiber den Normensysteme n reagiert, dann bedeute t das auf Dauer die Zersto rung der sozialen Kohaslon einer Gesellsehaft. Rationalisierungsprozesse fiihren auf der einen Seite zur Autlcsung von Mythen, zur fortsehreiten den Entzau berung der Welt und zur Beseitigung religioser Weltbild er, zur Ve rwissensehaftlic hung des Lebens und zur Einsetzung der Vern unft als obers tem MaB-
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stab fiir sozia les Handeln. Auf der anderen Seite zersto ren sie jedoch auch ei n religios fundiertes A ufgehobensein und sinnhafte Bedeutungszuschreibun gen an weltliche Gesc hehnisse , losen dami t verb unde ne individuelle Orie ntierungsmabstabe und Verhaltenssicherheite n auf und versta rken ein kaltes, zweckrationales, ausschlie8lic h an Niitzlichkeitskriterien orientiertes Handeln. Individu alisierun gsprozesse haben einerseits starre und uniiberwi ndliche Klassen- und Sc hichtz ugeho rigkeiten aufgelost, enorme Aufstiegsmoglichkeite n und Entscheidungsfreiraume fiir den Einzelnen gesc haffe n und zu ei ner kulturellen Pluralisierung o hneg leichen ge fuhrt, aber andererseits auch zur Sc hwac hung von sozia lem Kapi tal und herkommlichen Vergemeinschaftungsfo rmen beigetragen, zu Vereinzelun g und Verunsiche rung gefu hrt, auf die milieuspezifisch auch mit Gewalt reag iert wird. Durch dieses Zuruckgewo rfensein auf sich selbst und die groBeren individuellen Freiheiten gehen Uberforderungsprozesse im Hinblick auf gelingen de Lebensentwiirfe einher und die Wahrung und Ausbild ung ei ner eige nen Identi tat wird immer schwieriger, wei l herkommli che Werte und Sozialisationsinstitutio nen keinen geniigende n Halt mehr bieten. Auf die allfallige n Ohnmachtsge fuhle wird vielfac h mit negativer Integration in problematische Bezugsgruppe n reagiert. Deren Weltbilder ve rbiirgen dann etwa mit Ideologien de r Ungleichwertigkeit und der Gewalt Sic herhe it und O rdnung. Rasc he Modernisierungsprozesse und schneller soz ialer Wandel bieten zudem wenig Anlass fur die Wiedergewinnung von A utonom ie und S ubjektivitat: Die ..Entwicklungsrhythmen einer Gese llschaft ... verlaufen keineswegs kon tinuierl ich, so ndern Diskontinuitat ist die Regel; die Kultur-S truktur-Entwicklung ist zumeist von Asynchronitat gekennzeic hnet; nicht Gleichzeitigkeit, sondern Ungleic hzeitigkeit bringt Wand el wie Krisen hervor; nicht konsistente Entwicklunge n, sondern Wiederspriiche werde n als Movens von Fortsc hritt angenommen ... Modemlsierung verlauft nicht glatt, sondern ist du rch setzt von Paradoxien, und Ambivalenzen werden zum zentralen Kennzeichen der Moderne erhoben." (Heitmeyer 1997: 50) Durch die Auffosung sozia ler Bindungen, die Integrationsprobleme traditio neller Vergemeinschaftungsmechanismen und den Bede utungsverlust von verbindliche n Normen und Wer ten drohen betrachtliche Anomiegefahren, zumal d urch Globalisierungsprozesse der Veranderu ngsdruck aberma ls steigt. Globalisierung schleift kulturelle Beso nderheiten weitgehend ab, relativiert die Bede utung des Natio nalstaats als zentralem Ort politischer Entscheidunge n und als identitatsstiftendem Bezugspunkt der Bevdlke rung. Die dadurch ausgelcste n Gefli hle von Ohnmac ht und Uberwal tigung im Verbund mit de n als ubermachti g empfundenen Ko nkur renz- und Verwertungslogiken des global isierten Kapitalismus starke n utilitaristische Verhaltensweise n und mache n einen iibersteigerten Individualismus hoffah ig. Sie erhohen das Konfliktpotenzial von Gese llschaften und fiihren beizei ten zu ano misc hen, rege losen Protesten, zu blindem Hass und vaga bundiere nder Gewalt. Fur die Modernisierungstheorien ist die Gewa lt also im Grunde eine Foige nich t vera rbeiteten sozia len Wandels, sie ersc heint nachgerade als eine Bewaltigungs-
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stra tegic fur die aus Modem isierungspr ozessen herriihrend en Paradoxien und Am bivalenzen. Welche Formen Gewalt dabei annimmt und welche Zielrichtung sic hat, muss jeweils kontextspezifisch geklart werden. Dies bezuglich sind Modemisierungstheorien jedoch auf andere und erganzende Theo rieangebote angewiesen , welche durchaus Pramissen der Modernisierun gstheorien teilen.
4.5 Tbeorien relativer sozialer Deprivation Zu den gelaufigsten Erklarungsansatze n fl lr das A uftreten von Konfl ikte n und Ge walt zahle n in den Sozialwissenschaften T heorie n der relativen und absoluten sozialen Deprivatio n. Sie entstanden in den 1960er Jahren in den USA, als zunehmend offensichtlich wurde, dass die Versprechun gen der Modemi sierungstheorien auf materielle Besserstellung und sozia len Fortschritt keineswegs fur aile Bevclkerungsgruppen gelten wtirden. In ihren klassischen Ausformulierunge n der Theone fragten Davies (1962) und GUIT (1968, 1970) zunachst danach, wie Revolutione n und Revolten entstehen und wann bzw. unter welchen Umstanden ihr Auftreten wahrscheinlich sei. Ihre Antwort: Gewaltsame Konflikte von der Rebellio n bis zum Burgerkrieg si nd das Resultat bzw. die Foige von Armut und Ungleichheit. In der Folgezeit ist der Zusamme nhang zwisc hen sozia ler Vngleich heit und Gewalt immer wieder hergestellt worden: Das Gros gewalttatiger Kontli kte findet sich in sog. low income countries. Mehr als die Halfte der Staate n Afrikas sind in den letzten 25 Jahren in gewalttatige und langandauemde KonfIikte verst rickt gewese n, so dass Armut und schlechte wirtschaftliche Bedingungen als wichtigste strukturelle Faktoren fiir Gewa ltausbruche genannt wurden. Der Zusammenhang von groa er sozia ler Ungleichheit und Gewalt ist auch auf dem lateinamerikanischen Kontinent gut belegt. Hier findet sich nicht nur die weltwe it groBte soziale Ungleichheit (gemesse n am Ginl-Index) , sondem zugleic h endem ische Formen der Gewalt. Schlie6lich zeigt sich der Zusammenhang von Ungle ichheit und Gewa lt auch in der zunehmenden Zahl von Slums auf der Welt. Wie in einem Mikrokosmos verdic hten sich hier soziale Not, Unsicherheit, Kriminalitat und gewalttatige Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnem dieser Elendsviertel in Foige von relativer oder absoluter soziale r Deprivatio n. Die Gewalt wird dabei ganz uberwiege nd von ju ngen Leute n ausgeubt. Insbesondere die Theorien relativer Deprivation haben einen prominenten Status erlangt. Denn nicht absolute Verarmu ng fl lhrt zu Widerstand und Protest, sondem lediglich relative Armut. Ein Kem merkmal diese r Theorien ist ihre sozia lpsychologische Fundierung, auch finden slch Anlehnungen an die FrustrationsAgg ressions-Hypothese : Vnter relativer Deprivation versteht GUIT entsprechend die wahrgenommene Diskrepanz zwischen den Werterwartungen des Menschen und ihren Wertanspruchen, d.h. die Diskrepanz zwischen den Gutern und Lebens-
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bedi ngungen, die ihnen nach eige ner Uberzeugung zustehen, und den Gutem und Bedingungen, die sie ihrer Meinung nach tatsachli ch erla nge n und behalten ken nen. Zu den zentralen Glitern und Werten zahlt Gurr etwa Wohlstand, soziookonomische Wohlfahrt und Macht, aber auch Zuneig ung, Wertschiitzun g und Liebe. Benachteiligung und Deprivation fuhren, da die eige nen As pirationen nich t verwi rklicht we rden konnen, in der Regel zu Unzufriede nheit und Frustration, sie sc hlagen dann in Protest und gewalttatlgen Konflikt urn, wenn die Benachteiligten diese Situation als ungerecht bewe rten und glauben, dass Gewalt an dieser Benach teiligung etwas andem kann. Frustrierte Erwart ungen sind damit letztendlich die Basis fi ir kollektive Aggression und Gewa lt. Fur die Einschiitzung der Ungerechtigkeit sind wie der um soziale Vergleichsprozesse aussc hlaggebe nd. Bereits Davies hatte darauf hingewiesen , dass Erwartungen bezuglich der Verbesserung der eigenen sozia len Lage in die Zukunft projeziert werden. Klaffen die erwartete Bedurfnisbefriedigung und die Realitat der tatsac hlic hen Bedurfnisbefriedigung a llzu weit auseinande r, dann entst eht eine nicht tolerierbare Kluft zwischen beide n und es ko mmt zu Unmut und Spannungen, die sich in gewaltsamen Kontlikten entladen konnen , In das Konzept der relativen Deprivation flieBen also Erwart unge n und Wahmehrnun gen ein, so dass kognitive und normative Elemente die Verbindung bilde n zwischen der subjektiven Seite des Individuums und den obje ktiven gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen. Ob relative Depr ivation empfunde n wird, ist demnach nicht zuletzt abhangig von der Legiti mitiit herrschend er Ungleichheilen. Da Legitimitat aber sozial konstruiert ist, bestehen nicht nur er hebliche Differenzen bez uglich der Bedeutung und Schw ere der sozialen Ungleichheit innerhalb einer Gese llschaft, sondem auch zwischen den Gese llschaften hinsichtlich ihrer jeweiligen Praferenz fiir unterschiedlich e Verteilungsprinzipien. Es sind wese ntlich drei Muster relativer Deprivation unterschieden worden : Dekreme ntelle Deprivation : Hier gibt es einen groBen Konsens binsich tlich de r als legitim erachteten und anzustrebe nde n Werte, der uber die Zeit kaum variiert. Gleichwo hl wird die Wahrscheinlichkeit, die Wertposition auch wirklich zu erreichen, als immer geringer eingeschatzt. Das Gefuhl relativer Deprivat ion stellt sich in diesem Fall im Vergleic h zu dem ein, was in der Vergangenh eit moglich wa r. Dekrementelle Deprivation ist am haufigsten in traditionale n Gesellschaften anzutreffen. Aspirationale Deprivation: Hier kommt es zu einer A usweitung der Werte rwartungen o hne Aussicht darauf, dass auch die Moglichk eiten zur Wertrealis ierung zunehmen. Gefuhle der relativen Deprivatio n treten deshalb auf, weil die Menschen der Meinung sind, dass ihnen Mittel und Moglichkeiten fehlen, ihre neuen legitimen Wunsche auch zu realisieren . Diese Art der Deprivation entsteht haufig d urch den Kontakt mit fortgesc hritteneren Gesellschafte n oder S ubgruppen, in der Konfrontation mit neuen Lebe nsstilen ode r attraktiven sozialen Milieus.
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Progressive Depri vation : Hier handelt es sich im Grunde urn einen SpezialfaJl
der aspirationalen Deprivation. Gefuhle der Deprivation entstehen, wenn die proj izierten Werte rwartungen nicht meh r durch die obj ektive n Moglichkei ten
der Wertrealisierung eingelost werden konnen. Beispiele waren hier plotzl lch her einbrechende wirtschaftskri sen, hahe Inflation etc. Die konkreten Auswirkungen sozialer UngJeichheit auf das Konf'likt- und Gewaltpotenzia l von Gesell schaften haugen dann von ein er Reihe kompl exer Bedingungen abo GUIT hatte komplexe Kausalmodelle zur Erklarun g poli tischer Gewalt mit einer Vielzahl vo n Variablen entwic kelt, urn die Zusammenh ange zw ischen sozialer Un gleic hheit und gewaltsamen Prot estverhalten aufzeigen zu konnen . Neben dem Po tenzial fur kollekt ive und politische Gewalt bescha ftigte er sich auch mit dem resullierende n Umfa ng und AusmaB der Gewalt und den zu erw art end en Ar ten und Formen der Gewalt. Den Umfang pol itisc her Gew alt maB er am Grad der Beteiligun g der Bevo lkerung, der Intensltat der Gewalthandlungen und der Dau erh afti gkeit der Ge waltanwendung. Ais For men politisch er Gewah betracht ete er tumu h ar tige Au fstand e, Verschworun gen und Blirgerkriege. Und er beschaftigte sich mit intervenierenden gese llschaftlichen Vari ablen und den komplizierten Ausreifungspro zessen von politischer Gew alt . Die neuere Ungleic hheits-, Konfliktursache n- und Gewaltforschung hat mit ihren Erkenntnissen vielfaltig an die Schemata von Gun u.a. angeknupft und di ese weiter entwickelt (Imbusch 2008). Insbesondere die Tatsac he, dass es groBe soziale Ungleic hheiten, Armut und Exklus ion gibt, ohne dass sic h die benachteiligten und disk riminierten Bevolkerungsteile gegen ihre soziale Lage aufleh nen, hat zur weiteren Verfeinerun g der Modellbildung beigetragen und die Stichh alti gkeit einer d irekten Kausalitat vo n groBer sozialer Ungleichheit und Gewah konfli kten hinterfragt. Denn in den seltenste n Fallen ist ein Faktor allein fiir die Entstehung vo n Konflikten ver ant wortlich . Fur die Erklarung politischer Ge walt, von Burgerkr iegen und Rebellionen mussen vielmehr vers chiede ne Faktoren und deren Inte rde pe nden z in Betracht gezogen werden. Denn die Entscheid ung fu r de n Einsatz von politischer Gewalt ist immer ein ko mplexer Prozess, der viele Akteure umfasst und eine Vielzahl von Bedin gungen und Ums tande n kennt. Will man gar ein theoreti sc hes Erklarungs modell fiir Ge waltkonflikte entwickeln, wird man nicht nur zwisc hen Hintergrund - und Vo rdergrundbe dingunge n unterscheiden und vielfa lt ige inter akti ve Variablen berucksichtigen mussen , sondem auch eine Mehrebenenanalyse du rchzufuhren haben , weil es bekarmtlich nur sehr we nige notwendi ge, abe r se hr viele hinr eich ende Bedin gungen fur gewaltsame Auseinan dersetzun gen gl bt. Auch wenn unvorteilhafte soziookonomische Lebensbedingunge n, Armut und Exklusion zu den zentralen Hintergru ndu rsachen filr Gew alt za hlen, so ist weder 50 ziale Ungleic hheit an sich noch soz iale Depri vatio nsprozesse per se gewa lttracht ig. In de m folgend en Mod ell we rde n desh alb grundlege nde Struktu rbed ingung en mit Handlungsbedin gun gen und intervenierenden Vari ablen mit Einfluss auf ein
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Konfliktgeschehe n verkndpft und tiber langfristig wi rkende und kurzfristig w irksame Faktoren zu einer Mehrebenenanalyse vo n Konfli ktve rlaufen zusammen gebracht (vg l. Imbusch 2(08). Es lassen sich zunac hst vier Fakto ren als zentrale Verursacher von gewaitsamen Konflikten als stru krurelle Hintergr undfaktoren ausmachen: schlechte soziookonomisc he Bedi ngungen und grav ierende Formen sozialer Ungleic hheit. repressive politische Systeme und auto ritare Staaten, Umweltbedi ngungen und der Niedergang erne uerbarer Ressou rcen, und di e Politi sierung ethnischer Identitaten . Damit strukturelle Hintergrundursachen allerdi ngs wirksam we rden konnen, bedarf es zwingend ihrer Ergan zung durch Handlungsbedingunge n und Mobilisierungsstrategien der betroffenen Akteure. Daz u zahlen die Perzeption der Illegitimitat der sozialen Ungleichheite n, die Empfi ndung von Unge rec htigkeit und moralisch er Bmpdru ng, soziale Ve rgleichsp rozesse , enttauschte normative Erwartunge n an soziale n Fortsc hritt , die Orga nisie rbarkeit und Pol itisierbar keit von Interesse n, kollektive Schuld- und Verantwortungsz uschre ibu ngen an externe Akteure . Gewalttatig ausget rage ne Konflikte haben jedoch in der Regel nicht nur strukturelIe Ursac hen, die auf gunstige Handlungsbedingu ngen treffen, son dern das Konfliktpanorama wird auch durch eine Reihe kondi tion ierender Variablen, d urch Au slcsef ak toren und katalysatorische Prozesse bestimmt. Ko nd itioniere nde Variablen sind etwa d ie Macht eines politischen System s und seine Rechtmabi gkeit, die Begrenzung von Anspriichen und Anrechten, die Starke des Gegners und seine mc bilisierbaren Ressource n, di e Legiti mitat des bewaffneten Kampfe s, sowie das Vorhandense in von Unte rstiitze rgruppen in der Bevolkenmg. A usloser sind sodann jene Faktoren, die das Timing und den Beginn des jeweiligen Konflikts bestimmen. Solche trigger liegen in der Regel zeitnah vo r dem eigentlic hen Beginn der Auseinandersetzungen und bestehen aus : Provokationen des polilisc hen Gegners, po litisc hen Missgeschicken , Emporung auslose nden Akten der Gegensei te , oder beliebigen Anlassen fiir Rache oder Vergeltung. Kata lysatore n beeinflussen dagegen die lntensitat und Dauer haft igkeit eine s Konflikt s. Zu ih nen zahlen: interne Faktoren wie das militarische Krafteverhaltnis, veranderte Zie lsetzungen , d ie Ersch opfu ng der Konfli ktparteien etc., exteme Faktoren wie bewa ffnete Interventionen , Beobachtermissionen, Hil fslieferungen Dritter etc .,
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bestim mte Taktiken wie Aufstandsstrategien oder Guerillamethoden, Naturgegebenheiten wie Landschaften, Wetter, Jahreszeiten, materielle (Waffen, Geld etc.) oder kulturelle Faktoren {Einschatzungen, Interpretationen, Legitimationen etc.). Es sind also nicht Strukturen sozialer Ungleichheit oder Prozesse relativer Depriv ation an sich, die automatisch fur Gewaltpotenzial sorgen. Vielmehr sind es spezifische Bedingungen und Umstande wie die Legitimitat einer bestimmten Verteilungsordnung, die Politisierung sozial ausbeutbarer Tatbestande, die Mobilisierung von Ungerechtigkeitsempfindungen sowie spezifische Ausl6ser und Katalysatoren, die dafiir sorgen, dass iiber gewaltsame Eskalationsprozesse soziale Ordnunge n in Gefahr geraten. Die Konf'liktivitat sozialer Ungleichheit hang! letztlich stark vom Stellenwert der Ungerechtigkeit, von Missachtungserfahrungen und Ane rkennungsdefiziten abo lnsofern ist die in soziale Ungleichheit eingelagerte Frage der sozialen Gerechtigkeit und der Legitimitat der Schlussel fur den Zusammenhang von Ungleichheit, Deprivation und Konflikt.
Schaubild 2: Prozessmodell zur Entstehung und Entwicklung sozia ler Konflikte und Gewalt Strukturbedingungen
Intervenierende Faktoren
Wahrnehmun g und Verarbeitung sozialer Ungleic hheiten
y
Art und lnte nsitat
• Ko nditionierende Variablen
c)
d O'
Konfiikt-
• Ausloser
austrags
- Katalysatoren
und der Gewalt
Handlungsbedingungen
(P . lmbusch : Die Konfliktivitat sozia ler Ungleichheiten, 2(08)
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4.6 Die Desintegrationstheorie A uch der Oesintegrationsansa lz kenr u den Zusammenha ng von unterschiedli chen Forme n der sozialen Ungleichheit und einem erhohten Konfliktpotenzial, ge ht es ihm doch grundlege nd urn die ErkHirung von Phanomenen wie Gewaltkrimina litat, Rechtsextremismus und ethnisch-kulturellen Konffikten (Heitmeyer 1994, 1997; Anbut/Heit meyer 2000) . Oesintegration indiziert irn Grunde die nicht einge losten Leistunge n von gesellschaftlichen lnstitutionen , exi stenziel le Grundlagen der Gesellschaft und perso nliche Unverse hrtheit sicherz ustellen. Der Desintegration sansatz reflektiert insbesond ere die Paradoxien gesellschaftlicher Modemi sierungsprozesse: In Anbetrac ht der Entwic klungspote nziale moderner Gese llschaften wa ren die Integrationschancen nie grober als gege nwartig, gleic hzeit ig sind jedoch a uch die Desintegrationsgefah ren nie groBer gewe sen. Oer Grund dafiir kann darin gesehen werden, dass sich im Zuge des raschen sozialen Wandels ei nerseits zahlreiche Integralionshemmnisse auflose n, andererseits sich jedoch neuartige auftun. Die Dynamik rnoderne r Gese llschafte n birgt daher einige An tino mien, die Heit meyer ( 1994) ursprilnglich wie folgt gefas st hatte: Je mehr Freiheit sich durchsetzt, desto weniger Gleichheit gibt es; je wen iger Gleichhe it vorhanden ist, desto mehr Konkurrenz findet statt; je meh r Konku rrenz tobt, desto weniger Sol ida ritat gibt es noch; je weniger Solidaritatsreserven vorhanden sind, desto mehr Vere inzelung ist die Folge; je meh r Vereinzelung es gibt, desto we niger findet noch soziale Einbind ung statt; je we niger soziale Einbindung vorhanden ist, dcsto mehr rucksichtslose D urchsetzung von Eigeninteressen gibt es. Diese Am bivalenzen schlagen sich nieder in Auflosungsprozessen von Lebensz usammenhangen und Bezie hungen zu anderen Personen (Zer fall der Familie, Heterogenisierung soz ialer Milieus), in A uflosungsprozesse n der faktische n Teiln ahm e an gesellschaftlichen Institutionen (mange lnde Integration durch Arbei t und tiber Wahl en) und in Auflosungsprozesse n gemeinsamer Werte und Normen (s tarke Subje ktivierung und Pluralisierung von verbi ndlichen Leitvors tellungen zur Gesellschaft). Die Grundthese des Ansatzes lautet daher: Mit dem Grad an Des integratio nserfahrun gen und Desintegrationsangsten nehmen das AusmaB und die Intensitat sozialer Konflikte zu und nimmt de ren Regelungsfahigkeit abo Oer Desin tegratio nsansatz erklart also Gewa lt mit den ungenugenden Integrationsleistun gen moderner Gese llschafte n. "Mil Desintegrat ion wachst in der Regel die Gewalt. Sei es die staatliche Gewalt, urn soziale Kont rolle und Repression zu er ho hen und an die Ste lle integrativ wirksamer Politik zu setzen ...; sei es expressive Gewalt d urch soziale Gruppen, urn tiber Starkedemonstration wenigstens symbolisch Ansp ruche und Artikulation zu zeige n, oder regressive Gewalt durch politische Parteien Gruppen, die ethnische Kategorien zur Mobilisierung gege n Minderheiten nutzen."
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(Heitmeye r 1997: 30) Je hcher also der Desintegrationsgrad einer Gesellschaft ist, desto grober sind auch ihre Gewalt potenziale und die entsprechenden individuellen und kollektiven Gewalttatigkeiten. Spitzen sich soziookonomische oder ethnischkulturelle Probleml agen zu, dann kann Integration sogar zu einer Uberlebensfrage fur Einzelne oder Gruppen werden. Desintegrierte Gesellschaften sind also nicht nur deshalb besonders konfliktiv, we il es in ihnen soz iale Statuskampfe, Auseinandersetzungen urn soziale Ungleic hheit, symbolische K ampfe urn et hnische Zugehorigkeit und kultur elle Anerkennung gibt, so ndern v.a. deshalb , wei! sic in besonderem MaBe von offenen und versteckten, subtile n verdeckten Formen der Gewalt durcbzogen sind. Weil mit nachlassend er Integrationskraft einer Gese llschaft die Verteilungs-, Regulations- und Kohasionskonffikte zunehmen, konnen Gewa ltspiralen oder die Selbstzerstorung der Individuen die FoIge sein. Gleichwohl muss die nachl assende Integrationskraft und das steigende Gewaltund Sel bstze rstorungspote nzial nicht in eine erhohte ode r generalisierte Instabil itat vo n Gese llschaften munden, we i! offen repressive oder sanft ersc heinende Machtapp ara te die zunehmend isolierten und kaum noch zu dau erhaften Gruppe nbildunge n fahigen Menschen in Schach halten , monetar befriedigen oder gruppenspezifisch a usgrenzen kon nen. Entsprechend dem theoretischen Konzept des Desintegrationsansatzes ist die Gleichsetzung von Sta bilitat und Integration jedoch ebenso irrefl lhrend wie die von Integration und Kontliktfreihei t. Zu bedenken ist zudem, dass Integration immer auch Mechanismen der sozialen Kontrolle und des Zwa ngs enthalt - und damit Mach t- und Herrschaftszusammenhange reflek tiert - und es tiber bestimmte Ideologien , Religion oder problematische Zugeho rigkeitsdefinitione n auch zu eine r A rt negativen Integration mittels Ausschlu ss kommen kann. Umgekehrt kann Desintegration nicht immer ausschlieBlich negat iv interpretie rt werde n, we i! sie im Kontext beschleunigten sozialen Wandel s ein Stuck weit Normalitat verkorpert und ironi scherw eise auch soziale Distanz fur Zusammenhalt sorgen kann . Angesichts verand erter Integrations-Desintegrationsdynamiken fragt die Desintegrationstheo rie auch nach den Bedin gung en und Moglichkeit en gelinge nder Integ ratio n (Heitmeyer/Imbu sch 2005 ; Imbusch/Heitmeyer 2(08). Es geht dabei zum einen urn die individuell-funktional e System integration , zum ande ren urn die kommunika tiv-interaktive Sozi alintegration, und schlieBlich urn die kultur ellexpressive Sozialintegration. Unter die funktionale Systemintegration fallen die individuellen und kollektiven Zugange zu und Te ilnahmechancen an den wicht igsten Teilsyste men der Gese llschaft, also etwa der c konomische Zugang zum Arbeitsmark! oder zu den sozia len Sicherungssystemen , oder die politische Integration tiber Nationalbew usstsei n, Verfassungspatriotismus, Wir-Geflihle etc. Die kom munikativ-interakive Dimension bezeichnet hingegen die Te ilnahme an Vers tandigungsprozesse n tiber den Hestand ode r die Veranderung von Werte- und Nor rnensystemen oder die kulturelle Moral einer Gese llschaft. Die kulturell-expressive Sozialinteg ration umfasst dagegen jene lebensweltlichen Vergeme insch aftungen
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durch Gruppe nz ugehorigkeiten (Milieus, peer groups, Ge me inschaften), die sich Ilber kollekti ve ldenti taten , soz iale Bindungen , die Anerkermun g von T rad ition en und Ritu alen und die Akzep tan z vo n kulturellen und reli giosen Praktiken eins tellen . Unter sozialer bzw . gesellsc haftlicher Integration vo n Indi viduen und Gruppen versteht de r Desin tegrationsansatz nun di e befriedigende Losung von drei spezifisc hen Problem stellungen , die auf untersch iedlichen Ebenen anges iedelt sind : Auf der soz ialstrukture llen Ebene stellt sich das Problem der Teilh ab e an den materiellen und kulturellen Glltem eine r Gesellschaft, das durch ausreichende Zugange zu Arbeits-, Wohrum gs- und Kon summarkten siche rges tellt we rde n kann . Auf der institutionel len Eben e geht es urn die Sicherstellung des Au sgl eichs konfligierender Interessen , o hne die Integritat vo n Personen zu verletze n, was durch die EinhaItung basaler moralisch er , auf politische Glelchwertigkeit ausge ric hteter de mokratische r Prinzipien gesche hen kann. Au f der pe rsonlichen Ebe ne geht es sc hlieBlich urn die Herstellung emotio naler Beziehungen zwi sch en den Men schen zum Zwec ke de r Sinnstift ung und Selbstverwirklichung, urn Sinn- und lde ntit atsk risen , Orientierungs losi gkeit und Wertediffusion zu ve rme ide n. Nur dort, wo m6glichst vie le Aspekte der Integrat ion ve rwirklicht sind, gi bt es nach An sicht des Desintegrat ionsansatze s wirksa me Mitt el und Wege gegen Gewa lt. Dabe i wird allerdings kein direkt er und deterministisch er Zusam menha ng zwi sche n De sintegrationsprozessen und Gewaltha nde ln angenommen, sondem ein komplexes Modell der Ubersetzung von Desintegrationserfahrungen in antide mokra tische und abwertende Einstellunge n und ge wa lttatige Handlungen entwo rfen. Denn mit der Zunahme ode r Abn ahme des Umfa ngs soz ialer Integration und der sich damit verandemden Anerk ennungsbilan zen wird nur gesagt, das s sich die Potenz iale fur dysfu nktionale Verarb eitungen vo n Desintegratio nsprozess en vergroBern ode r ve rkle inem. Die ent scheidend e Fra ge ist demnach , wie mak rostrukturell e Entw icklunge n und Belastungen auf gesa mtgesellsch aftlicher Ebene mit mikrostrukturellen (i ndivid ueIlen) Dispositi onen und Erfahrungs hintergr unden zusa mmen wirke n und durch milieuspezifisch e ode r s ubkulturelle Mu ster der M eso eb en e relativiert werden. Der Desintegrati onsan satz ge ht hier von eine m Inei nandergrei fen der genannten Proze sse bzw. ihrer wechsel seitigen Ve rschrankun g aus (vgl. Anhut 2005 : 384). Nich t j ede Desin tegration serfahrung iiber setzt sich also in antisoziale Einstellunge n oder gewalttatiges Verhalte n, wei l dem Individuum in der Regel bestimmte Verarbeitungsformen vo n Desin tegrati onserfahrungen zur Verfu gung stehen : In spezifisc he n sozialen Kompeten zen , sozialen Vergleichsp rozessen und Mili eu zugeh 6rigkeiten konn en einlge der wichtigsten Einflussfakto ren auf die Verarbeitungsmuster vo n Desintegr ation gese he n werde n. Db es dariiber hinaus im Einze lfall zu gewaltsa me n individu ellen oder kollektiven Rea ktionsmustem
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kommt, hangt zudem vo n Folgenabschatzungen, Gelegenheitsstrukturen und kon fliktrelevanten Mobilisierungsfaktoren ab o
Schaubild 3: Die Ubersetzung von Desintegrationserfahrungen in fremdenfeind liche Einstellu ngen und gewalttatiges Handeln
•
Biogra-
Sozia le
Eigenncrmen, Situa tionsdefinitionen, individu elle Ge legenheitsstruktur en
Kompetenzen
phisch vorgangige Desintegra-
Aktuelle Desintegrations er fah-
~
rungen
Abwertung ethnisc her Anderer
lionserfahrungen
bzw .
Desin te-
Zers torung oder Beei ntrachtigung sozialer Ane r-
Gewaltbereitschaft
i
kennung
gratio nsangste
--<.
•
Schwellenw erte, Perzeption der Bezugsgr uppe, Reak tione n der sozialen Umwelt
Individ uelle Handlungen (soziale Dislanz) Kollektive Handlungen (Di skriminierung, Gewalt)
Mobilisierungsfaktoren (Erfolgswahrscheinlic hkei t, kolt. Gelege nheitsstrukturen, Legilimationen)
(R. Anhut: Die Konfl ikttheorie der Desintegrationstheorie, S. 386)
Au s ind ivid uellen, sozialen und gese llschaftlichen Desintegrationserfahrungen ko nnen also antisoziale Einstel!ungsmuster und gewalttatige Ver haltensweisen resultieren, filr die die Desi ntegratio nstheorie je nach Art der Akteure ein spezifisches Set von Erklarungen bietet. 1m Faile individuellen Gewalthandelns sind beispielsweise defizi tare fami lia re Soz ialisationsmuste r und problematische Familienkonste llatio nen entscheidende Hinte rgrundvariablen zur Erklarung der Gewalt. Individuelle Gewaltbereitschaft ist haufig mit Entwicklungsdefiziten wie Empathicmangel , Identitats- und Selbstwertstorungen verknupft. Gewaltbereitschaft und Aggressivitat miissen deshalb als Resu ltat einer Fiille negat iver Erfahrungen (Lernen am Modell, korperliche Ziichtigungen, Demiit igungen etc.) od er als Folge feh lender sozia ler Kompetenzen (infolge von Vemacblassigu nge n oder Ilbermabigem
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Behiitetsein) gede utet werden. 1m Faile von Fremde nfeindlichkeit und der Abwehr ethnischer Gruppe n macht der Desintegrationsansatz insbesondere reale Konkur renzsituationen , subjektiv gefi.i hlte Benachteiligungen oder Ungerechtigkeitsempfindungen als Hintergrunddi spositionen aus. Die Abwertung anderer hat die Funktion, Perscnlichkeitsdefizite zu ilberspielen, ein positives Selbstbild aufrecht zu erhalten ode r zukiinftig m6glichen Statusve rlusten zu entgehen. 1m Faile rechtsextremer und autoritarer Einstellungen sind insbesondere solehe Jugendli chen und jungen Erwachsenen anfallig, die mit Vereinzelun gserfahrungen, Verun sicherungsempfinden und Ohnmachtsgefi.i hlen zu kamp fen haben. DUTCh rechtsextreme Vorurteile und geschlosse ne Weltbilder wird Orientierungssic herheit und Gewissheit geboten, Ohnmacht ubersetzt sich in Sta rkedemonstration. Leistungsunabhangige Zuge horigkeiten und nationalistische Uberlege nheitsgesten sorge n fi.ir eine negative Integration in problematische Bezugsgruppe n. Die gewa hlte n Vera rbei tungsformen variieren je nach spez ifischen Desintegrationserfahru ngen und vora usgegangenen Anerkennun gsverletzungen und haben auch mit den jeweiligen Kom pensationsfunktionen zu tun. Resllmierend kann man mit dem Desintegrationsansatz feststellen: Je schlechter die Beurteilun g der Integrationsqualitat in den ge nannten Integrationsdim ensionen ausfallt, desto mehr muss mit Verunsicherung und schlie blich auch Akzeptanz dysfunkti onaler Problemverar beitungsmuster gerechnet werde n (Anhu t 2005: 387£.).
4.7 Demographie, Miinnlichkeil und Gewalt In den letzten Jahren ist von ve rschiede ner Se ite immer wieder darauf hingewi ese n worden, dass ungunstige demographisc he Entwic klungen zur Gewalt fi.i hren ke nnen. Die grundlegende These lautet im hier interessierend en Zusammenhang, dass sog. youth bulges - also ein aubergewohnli ch hoher Anteil junger Menschen an der Gesa mtbevolke rung - die Unsicherheit der Gese llschaft erhohen und diese Gesellschaften besonders anfa llig fi.ir Konflikte machen wurden. Jugendlichkeit bedeu te zwa r einerse its Vitalit at und Dynamik, Erfind ungsreic htum und hoffnungsvoller Optimism us, aber sie stelle andererseits auch ein betrachtliches Problem fi.i r die betroffenen Gese llschaften dar, weil der hohe Anteil j unger Menschen angesichts der defiziente n Strukturen vieler Entwic klungslander gar nicht angemesse n in die Wirtschaftskreislaufe und die Arbeitsmar kte integriert werden kann. Insbesondere nach den Terror anschl agen vern 11. Sept ember 2001 erfreut sich die Th ese vom youth bulge gro6er Beliebtheit und das infolge der Bevo lkerungsentwic klung hohe Angebot von mit ihrer soziookonomischen Situation unzu friedenen Jugendli ch en gilt als Ursache fi.ir Burgerkriege, gewa ltsame Konflikte und den Terrorismus. Von you th bulges bzw. einem Jugend boom oder der uberproporti onalen A usstulpung der Alterpyramide bei den 15-24-Jiihrigen wird in der Regel dann gesprochen, wenn diese Jahrgange mindestens 20% der Gesa mtbevo lkerung ausmac hen. Von child bulges ist dann die Rede, wenn Kinder zwischen 0-15 Jahren mindesten s
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30% der Bevolkerung ausmachen. Bntsc heide nd fur den Zusammenhang vo n Demographi c und Gewalt ist jedoch der youth bulge, der child bulge gibt nur einen Hinweis darauf, wie gro6 der Jugenduberschuss werden wird. Die ursprtlngliche These yon de n Gefa hrdungen durch youth bulges stammt von Gary Fuller (1995) , der in einem Aufsatz fiber die demograph ischen Hintergnlnde fur ethnische Konflikte nach den Ursachen fur den burgerkrie gsahnlichen Konflikt zwischen Ta mile n und Singhalesen auf S ri Lanka suchte. Fiir die dauerhafte Gewalt konnte er weder befriedige nde Erklarungen in dkonomisc hen Strukturveranderungen noch in Klimaverschl echterungen oder gar Hunger und Not finde n. Vielmehr kulmi nierte das gegenseitige Tore n, als es bei beiden Volksgruppen zu youth bulges gekommen war und der An teil junger Manne r zwischen 15-25 Jahren jewe ils tiber 20% gestiege n war. Dass j unge Menschen die Protagonisten von Protest, Instabilitat, Reform und Revol ution seien , hat auch Samu el Hun tington in einer Art Nebenargumentation seines .Kamptes der Kulturen" ( 1996) mit Blick auf den Islam hervorgehoben. Dessen Wiedereintritt auf die we ltpolitisc he Biihne bri ngt er u.a. mit den spektakularen Raten des Bevolkeru ngswachstums der islami schen Welt zusam men. Er Iragt sich, wieso Muslime am Ende des 20. Jahrhunderts weit mehr als Menschen anderer Kulturkreise in Gewalt zw ischen eigenen und fremden Gruppe n verwickelt waren und wodurch sich diese hohe Gew altbereitschaft erklaren lassr. Die zeitge nossisc hen inner- und auBermuslimischen Konflikte fl lhrt er letztlich auf de n demographischen Boom zuriick: " Die Bevclkerungsexplosion in muslimi schen Gese llschafte n und das riesige Reservoir an oft besc haftigungslose n Mann em zwisc hen 15 und 30 sind eine natiirliche Ouell e der Instabilitat und der Gewalt innerhalb des Islam wie gege n Nic htmuslime. Welche andere n Griinde auch sonst noch mitspielen mogen , dieser Faktor aUein erklart zu einem gro Ben Te il die muslimische Gewa lt de r achtziger und neunziger Jahre." (Huntington 1996: 433) . 1m deutschsprach igen Raum war es v.a. Gunnar Heinsohn , der mit seinen T hesen zur " nachwachsenden mannli chen Gefahr' und seinem Buch "Sa hne und Wehm acht" (2003) entsprechende Thesen popularisierte und im Mann er uberschuss ein bedeutsames Kriegspotenzial sah. Nach Heinsohn entstehen durch bevolkerungspol itisch verursachte youth bulges die wesentlichen Vora ussetz unge n fur Burger kriege , Volke rmord und Terrorismus. Heinsoh n hat dabei auch eine histo rische Perspektive eingezogen und beton t, dass Phasen hohen Bevolkerungswachstums schon immer mit einer erhohten Konfliktivitat ein hergega ngen se ien. Dabei ist es weder die absolute Menge an Soh nen in einer Nation noch Nahrungs- oder Flachenmangel, die youth bulges entste hen lassen. Youth bulges ergeben sich fur ihn vielmehr aus der Relation zwischen der Menge der Positio nen der aussc heide nden Vater und der Menge an Positio nen, die nachr uckende Sohne nachfrage n. Sc hon mehr als ein Sohn pro Vater erze uge Spannun gen; wo fi ber meh rere Generationen zwe i Millionen Vater drei Mill ionen Soh ne hinterlassen, gebe es Schwie rigkeiten; wo sec hs ode r gar neun Millionen Jun gen heranwachsen , werde es ernst.
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"Wo nun zwei oder mehr Sohne in den Familien vorhanden sind, gibt es nicht nur Reibereien, sondern aueh eine wachsende Bereitschaft, die jungen Manner risikoreich einzusetzen - nicht nur, urn ihnen ein Auskommen zu ermcglichen, sondem auch um den sozialen Frieden zu erhalten. Eine Nation mit youth bulge entwiekelt also ein ganz anderes Temperament als eine absolut viel grogere Nation ohne interne Probleme mit uberzahligen Sohnen oder gar bereits mit einem Sohnesmangel. Wiederholt sich ein youth bulge ... tiber zwei oder mehrere Generationen, kumulieren sieh se ine Effekte." (Heinsohn 2003: 25) Die Sprengkraft von youth bulges ergibt also aus einer Vielzahl junger Manner, denen in einer Gesellschaft keine akzeptablen Positionen geboten werden und die deshalb einen Mangel an Aufstiegsmoglichkeiten haben. Daraus erwachst wiederum ein ungeheures Potenzial an politiseher Aggressivitat. Die quantitativ beeind ruckendsten Beispiele fiir Heinsohn sind diesbezuglich die islamisch gepragten Lander und der schwarzafrikanisehe Kontinent, in denen es innerhalb weniger Generationen zu einem expo nentiellen Bevolkerungswachstum gekommen sei. Sehe man sich einmal die Nationen mit you th bulges genauer an, dann fanden sieh dort in ganz iiberwiegen der Mehrzahl Konffikte, Gewalt und Burgerkriege, so dass laut Heinsohn diese Phanomene hoch mit you th bulges korrelieren. .Lrnrer den 124 Nationen finden sich 67 mit youth bulge-Problemen. Von diesen 67 hatten oder haben 60 mit mehr oder weniger groBen Totu ngsaktionen zu kampfen. Die nichtblutige Losung eines youth bulge stellt in der bisherigen Geschichte womoglich die Ausnahme dar." (Heinsohn 2002 : 20) Gerade die islamisehen Staaten seien heute besonders gewalthaltig, well mit dem Auftauchen der uberschussigen Sohne zum einen die Ungleichheiten in den arabischen Gesellschaften zum Skandal werden, zum andere n die jungen Leute aus Hoffnungslosigkeit fur "Gebrauehsideologien von Gerechtigkeit, Gewissensnot und Glaubenswahrheiten" (DieBenbacher 1998: 212) anfallig werden, die sie mit Feinbildern und Gewaltbereitschaft ausstatten. Die islamistischen Terroristen toteten nicht etwa aus Armut und Mangel, sondem setzten Gewalt ein, um "Status und Macht" zu erlangen. Mit dem Schrumpfen der muslimischen youth bulges ab 2020 wiirden dann wieder friedlichere Verhaltnisse eintreten. "Youth bulges sind keine alles erklarenden Faktoren, aber Theorien weltgeschichtlicher GroBereignisse, die sie schliehtweg ignorieren, greifen zu kurz. Aueh wei l der Faktor Sohnesuberschuss so beschamend simpel ausschaut und wenig hergibt fur theoretische Finessen, lasst man ihn leichthin unausgelotet oder gleieh ganz beiseite. Selbst wo er einem irgendwie einleuehtet, behalt er etwas Repetitives und Unoriginelles. Dagegen ist nur einzuwenden, dass bei allen Ansprlichen auf Eleganz eines Arguments auf seine Relevanz gleichwohl nieht verziehtet werden karin." (Heinsohn 2003: 24) Doch wie viel Beweiskraft steckt in der These von den durch you th bulges induzierten Unruhen? Inwieweit stellen die von Heinsohn und anderen aufgezeigten Zusammenhange nur Scheinkorrelationen oder Zufalligkeiten dar? Unbestreitbar ist zunachst einmal, dass ein hoher Anteil von jungen Menschen - ebenso wie ein
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hoher An teil alterer Menschen - an der Gesa mtbev6l kerung Gesellschaften vor groBe Herausforderungen stellt. Angesichts der demographischen Entwic klungen in vielen Entwicklungslandern ist die Zukunft vieler junger Manner nicht besonders vielvers prec hend. Bedenkt man, dass etwa in Afrika das Durchschnittsa lter der Bevolkerung bei 17,5 Jahren Iiegt (Deutschland: 41 Jahre) und uber die Hal fte der Bewo hner Kinder, Jugendliche und JURge Erwachsene sind, und sich deren Zahl bis 2025 noeh deutlich erhchen wird , dann bleibt vielen von ihnen nur ei n Lebe n in den Elendsvie rte ln der Megastadte, ein Leben ohne rechtes Auskommen in Armut, in zerrissenen oder kaputten Familien, als verwaiste StraBenkinder oder auf den Gewaltmarkten. Kriminalitat und Gewalt gehore n fur viele Kinder und Jugendli che zum A ufwac hsen dazu, sie konnen okonomisc h und sozial zweckma big sein, aber auch zum Se lbstzweck werden. Bereits Thomas Hobbes hatte in seinem Leviathan darauf hingewiesen, dass die Welt der Gewa lt eine Sache j t lngerer Manner ist, die kein en Platz in der Gese llschaft haben und ihn sich sprlchwo rtlich erst erkampfen mussen. Demographische Faktoren sind deshalb unter dem Aspe kt, das sie soz iales Leid und absolute bzw. relative Deprivation verursac hen konnen , durchaus bedeutsam fur die Brkla rung besti mmter Arte n von Gewalt. Oer Anteil von Jugendlichen an der Bevo lkerung stellt som it einen demographi schen Stressfaktor dar, der unter bestimmten Bedingungen zum Ausbruch von Gewalt beitrage n kann , wen n etwa ein Staat seinen Menschen keine geeig neten Entfalt ungsmoglich keiten bietet ode r lasst. Allerdin gs liefem youth bulges an sich keine guten Erklarunge n fur das Entste hen von Konflikten , schon gar nicht fur Kriege und Burge rkriege . Wie empirisc he A useinanders etzungen mit den Th esen Heinsohns, Huntin gtons u.a. geze igt haben, fehlt es der Dramatisierung von youth bulges fur kriegerische Konffikt e schlichtweg an empirisc her Substanz. So ist z.B. ei ne Unters uchung von Henrik Urdal (2004) ube r die Effekte von youth bulges im Hinblick auf moglich e Burgerkriegskonflikte zwischen 1950 und 2000 zu dem Ergeb nis gekomme n, dass zwar ein hoher Anteil Ju gendlicher an der Bevolkerung das Risiko eines bewaffneten Konflikts fur ei nzelne Lander durchau s erhoht, dass es aber keinen kritischen Level gibt, jenseits dessen Lander besonders konfl iktanfallig sind. Urdal hal zudem den youth bulge mit bestimmt en Kon trollvariablen wie dem allgemeinen Entwicklungsniveau eines Landes, dem Regimetyp und bestimmten Wirtschaftsind ikatoren in Beziehung gesetzt und herausgefunden , dass das Entwicklungsnivea u ei ne Landes und wirtschaftliche Faktore n groBen Einfluss auf die Konffikttrachti gkeit von youth bulges haben. Der Regimetyp spielt hingegen keine Rolle. Entscheide nd ist auch, wie man die youth bulge-Variable operationalisiert : So variieren die Ergebnisse betrachtlich, we nn man den Anteil Jugendlicher mit der Gesamtbevolkerun g statt der erwachsenen Bevolker ung in Bezie hung setzt. Die Frage, wie genau youth bulges zur Konfliktneigung von Gesellschafte n beitragen, bedarf also weiterer Untersu chunge n. Die Rede von einem neuen, du rch youth bulges heraufb eschwo renen Zeitalter der Unsic herheit, scheint jedoc h weit ubertriebe n zu sein, auch we nn der
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Zusammenhang von einem hohen Anteil Jugendlicher und einer schlechten Wirtschaftsperfor manz durchau s explosiv sein kann (Cincotta u.a. 2003; vgl. Brunbo rgiUrdal 2005). Auch das .Bertin-Institut fur Bevolkerung und Entwicklung" kommt in seiner Untersuchung des Zusammenhangs der Alterstrukturen einer Bevolkerung und kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen 1950 und 2000 zu dem Schluss, dass eher mangelnde nachhaltige Entwieklung als youth bulges eine Ursache fiir Gewalt und Krieg ist. Es weist insbesondere auf die Gefahr von Scheinkorrelationen hin, die Zusammenhange plausibel erscheinen lassen, die es gar nieht sind. Die Untersuchung widerspricht der These, dass ein demographischer Faktor fur die Kriegsgefahr zu erkennen ist, weil es nicht nur keine Ilberproportionale Zunahme von Kontlikten gegeben habe, sondem auch kein proportionaler Zusammenhang zwischen der Zahl der youth bulge-Nalionen und der Entwicklung der Zahl der Kriege existiere. SchHissige und koharente Zusammenhiinge im Sinne der Verfechter der youth bulge-Thesen zwischen einem kritischen hohen Jugendanteil und dem weltweiten Kriegsgeschehen sind also nicht zu erkermen. Die Studie kommt entsprechend zu dem Schluss: .Betrachtet man Kriege und demographi sche Entwicklung im Verlauf der letzten 50 Jahre, so zeigt sich, dass es nicht moglich ist, ein Frt lhwamsys tem fur Kriege allein auf demographi sche Indikatoren zu stutzen. Ganz offensiehtlieh Iiegen Konflikten eine ganze Reihe komplex vemetzter Ursachen zu Grunde." (Kr6hnert 2004: 16) Neben der demographischen Zusammensetzung der Bevolkerung mussen etwa noch soziookonomische, bevclkerungsgeogre phische, ethnische oder religiose Indikatoren mitberucksichtigt werden , wenn man die Ursachen von kriegerischen oder gewaltsamen Kontlikten erforschen mochte. Unbestritten ist jedoch auch hier, dass youth bulges die sozi06konomischen ProbIerne Jugendlich er verstarken und tiber Prozesse relativer Deprivation ihre Gewaltneigung erh ohen konnen. 4.8 Feministische Erkliirungen von Gewalt In den unterschiedlich ak.zentuierten feministischen Theorieansatzen bilden die Kategorien Geschlecht, Geschlechterverhaltnis bzw. gender das grundlegende analytische Instrumentarium, urn die Herrschaft von Marmern tiber Frauen begriftlich zu fassen (Becker/Kortendiek 2004; Heintz 2001; vgl. auch Bourdieu 2005). Formen und Inhalte dieses Herrschaftsverbaltnisses sind vielgestaltig . Es wird thematisiert als Sexismus: Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, Patriarchal bzw. Patriarchalismus: mannliche Herrschaft, die zunachst durch die Vater, spater durch die Bruder ausgeiibt wird, Andro zentrismus: Miinnerzentriertheit der Welt, Phallogozentrismus: Zentriertheit des offentlichen Lebens urn phallische Rationalitiiten.
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Patriarchalische Herrschaftsverhaltnisse, damit einhergehend e Uber- und Untero rd nung sowie Sexismus bilden den T heori en zufo lge ein komple xes Netz vo n Unterdrilckung und Ausbeutung, die in einzelnen femin istischen Strom ungen unt ersc hie dlich gefasst wird (Ho lland-Cunz 2()(K): 1m liberalen Feminis mus wi rd die po litische, rec htliche und sozi06konomische Ungleic hbe ha ndlung vo n Frauen in
patriarchalischen Gesellschaften thematisiert und die menschenrechtlichen Verspreche n der Modeme fra uenspezifisch einge klagt; der rad ikale Feminis mus kri tisiert die private Unterwerfung und offentlic he Au sgrenzun g von Frauen und halt patriarch ale Gesellsc hafte n fi lr nieh t reformierbar ; der sozialistische Femi nis m us kritisiert die Ausbe utung und Unte rdrfickung von Frauen und ziell auf die Ube rwindung klassen- und gesc hlec htsspezifischer Herrsc haft; der humani stisch e Feminismus stellt dagegen Gleic hheitspostulate in de n M itteJpunkt se iner Argumenta tionen und ruck t die herrschaftlich e, repressive Konstruktion vo n Weiblichkeit in das Zentr um seine r Kritik; der gynozentrisc he Feminismus setzt sich mit Gesc hlec hte rdifferenzen auseinande r und kritisiert v.a. die hegemoniale Ko nstruktion sozialer Mannl ichkeit; dem postmoderne n Feminismus ge ht es sc hlieBlich urn d ie Uberwi ndung aller dualistisch angeleg ten Geschlechte rkonstruktionen und die Dekonst ruktio n essentialistische r Argume nlationsstra teg ien. Ge me insam ist den fem inistisch en Th eo rien jedoc h eine doppelte herrsch aftsk ritisch e Perspektive: Es geht zum eine n urn die Kritik patriarch alischer Strukturen fi lr gesellschaft lic he Th eorie und Praxis, und es ge ht zum anderen urn ant ipatriarchale Entwurfe fur die Gesellsc haft und die Wissensch aft. In den rneisten T heorien erga nze n sich deshalb A nalyse und Normbildung wechse lseit ig. Gewalt ist fur fem inistische Erkle rungsansatze lediglich eine we itere Facette im Rahmen ma nnlich gepragter gesellschaft licher Herrschafts- und Unterdruc kungs ve rhal tnisse, die sowohl in den Fonnen direk ter physische r Gewalt wie a uch struktureller und sy mbolische r Gewalt in ihren Wirkungen und Foigen reflektiert wi rd. Feministisc he Theorieansatze zu r Erkla ru ng von Gewalt ze ichnen sich durch einen do ppelte n Fokus aus: Zum einen themat isieren sie Gewalt als man nliches Phanomen und fragen nach dessen Hintergrtlnde n und gesellschaftlichen Ursache n; z um ande ren ste lle n sie d ie besonde re Betroffenheit von Frauen und Madch en he ra us, de nn ei ne Vielzahl von Gewaltarte n rich tet sich speziell gege n sie. Dam it erweite rn sie den Fokus herk ommli cher Gewaltanalysen und vermogen die Aufmerksamkeit auf bis her unterbelich tete Aspekte der Gewalt-Problematik zu len ken. Das ist nicht zuletz t des halb wic htig, we i! die Ve machlassigung der Ge nde r-Perspe ktive z u betrachtlic hen Ver einseitigun gen in der Auseinandersetzung mit Gewalt gefii hrt ha t. 1m Diskurs fem inistisc her T heo rien sind Frauen und Madch en sowohl zah lenmabig wie vo n der Sc hwe re der Verl etzun gen her die " Haupt-Opfer" von Gewalt: Vergewaltigung und sex uelle Notlgung, Gewalt in de r Fam ilie und im Hau sh alt sowie am Arbeitsplatz , FGM , Belasti gun gen und An mache im Offentlic he n Raum, sexistische Disk urse und Po rnographie richt en sic h insbesonde re gegen Fra ue n. Frauen ha nde l, Zwa ngse hen und Ehre nmo rde sind wei tere gewalttatige Pra ktiken,
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die nicht nur auf den inferioren Status vieler Frauen in der Dritten Welt hinweisen , sondern auch Frauenbilder pragen , die deren Unabhangigkeit und Gleichberec htigung nachh altig untermini eren . Kulturelle Fo rmen der Gewa lt finden sich soda nn in den Debatten iiber Abtreibun gsgesetzgebu ngen und neuerdin gs auch iiber die Gen- und Reproduktionstechnologien. Feministische Gewalta nalysen setzen sich nicht nur mit den iiblichen Problemstellungen urn den Begriff und das Phanomen auseinander, sondern sie sehen sich noch zusatzlichen Herausforderun gen gegeniiber: Sie miissen zum einen das tiberwiegend e Zusammenfallen von gesellschaftlichen Uberlegenh eits- und Unrerlegenheitsstrukturen mit den biologischen Gesc hlechtem auseinanderhalten, urn die individ uelle Situa tion von Mannem und Frauen nicht zu iibersehen; sie milssen zurn ande ren die Kategorien Klasse und Rasse als zum Gesc hlechterve rbaltnis querli egend e Kategorien in ihren Auswirkungen beriicksichtigen; schlieBlich gilt es, die besondere Verquickung des privaten und gesellschaftlichen Bereichs sowie die Verbindung von Sexualitat und Emotio nalitat mit Gewa lt zu beriicksichti gen. Nicht zuletzt ware darauf hinzuweisen, dass selbst in den Bereichen, in denen Gewa lt sowohl gegen Manner als auch Frauen gerichtet ist, es unterschiedl iche Auswirkunge n von Gewa lt auf die Gesc hlec hter gibt und Frauen haufig anders schwerwiege nder - von Gewalt betro ffen sind als Mann er (Kohner/Pu hl 2003 ; Lamnek/Boatca 2(03). Da Gewa lt in den meisten feminis tischen Analysen ein mannfiches und als sol ch es v.a. gege n Frauen gerichtetes Phanomen ist, stellen die entsprechenden Th ee rien explizit ode r implizit Fragen danach , welchen Stellenwert die Gewalt im Rahmen patriarch alischer Herrschaftsverhaltnisse einnimmt, warum Gewalt ganz iiberwiegend von (jungen) Mannem ausgeiibt wird, war um und wie gesellschaftIiche Strukturen Gewa lt (gegen Frauen) hervorbringe n, warum in den unterschiedlich en Gese llschaften ein so hohes GewaltmaB toleriert oder akzeptiert wird , und wie dies mit den unterschiedlichen Gesc hlechterrollen und Sozialisationspr ozess en sowi e der Pragung samtlic her Insti tutionen durch Manner zusammen hangt. Ge nerell gilt dabei zunachst, dass gesc hlechtsspezifische Gewa lt als interessengeleitetes Machth andeln von (ganz iiberwiege nd mannlichen) Gewa ltakte uren ode r als kultur ell bedingtes Phanomen aufgefasst wird; immer geht es jedoch urn die Festigung von do minanten Positionen und Kontrollanspriichen gege niiber Frauen und Madche n, In jedem Gewalthandeln bzw. in jedem Gewa ltakt spiegeln sich somit gese llschaftl iche Machtverhaltnisse, patriarchalische Strukturen und Geschlec hterhierarchien - insbesondere der inferiore Stat us von Frauen und Madchen in einer Gese llschaft - wider. Die einzelnen Gewaltarten werden als Te il interdepend enter Gewaltdynamiken verstande n, die in je spezifische Form en der Gese Il-
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schaftsorganisation wie in dazugeho rige spezifische Legitimationsmuster eingebunden sind. Gewalt ist immer dann ein probates Mittel, wenn es darum geht, die Anspriiche auf individu elle und koll ektive Sel bstbestimmung der Frauen abzuwehren und die mannliche Vorherrschaft zu sichern. Dass Gewalt ganz uberwiegend vo n j ungen Mannem ausgeilbt wird, muss in geschlechterspezifischer Perspektive nicht unbedingt bedeuten, dass sic als triebgesteuerte, irrationale Aggression zu verste hen ist, die mit mannli chen Veranlagungen oder genetischen Codes zu tun hat. Gewa lt gegen Frauen und Kinder ist vielmehr Ausdruck gesellschaftlich patriarchalischer Machtstrukturen, sie dient dazu, Geschlechterhierarchien aufrecht zu erhalten und zu bekraftigen und die .naturliche" Uber- oder Unterordnung der Geschlechter festzuschreiben. In der Gewalt drilcken sich Verfligungs- und Bemachtigungsdispositionen aus, die den Frauen das Private als Orte weiblicher Lebenszusammenhange zuweisen (Haus- und Familienarbeit), die offentliche Sphare dagegen fur Manner reservieren. In den unmittelbar kriminellen Gewaltakten kcnn en Frustrationen und enttauschte Erwartungen ebenso zum Ausdruck kommen wie das Ausleben von Mannlichkeitsbildem und -normen, sofe m sie auf Dominanz und Gewa ltbereitschaft aufbauen. In den feministischen Theorien werden patriarchalische Gesellschaftsordnungen per se als gewaltdurchselZt wahrgenommen. Dabei kommt Gewalt in allen ihren Varianten und Spielarten zum Ausdruck: In den Ungleichheits- und Uber- bzw. Unterordnungsverhaltnissen drucken sich zunachst strukturelle Gewaltve rhaltnisse aus. Sie sind in gesellschaftliche Strukturen eingelage rt und sorge n flir dauerhafte BenachteiJigungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen von Frauen und Madchen, die nur langfristig zu Ilberwinden sind. In Zeiten universeJler Menschenrechte und Gleichberechtigungsdiskurse sorgt strukturelle Gewalt fur die Abwehr weiblicher Emanzipationsanspriiche und die Bekraftigung mannlicher Vormachtstellungen, ohne dass dies ausdrucklich begrundet oder legitimiert werden muss. Andrezentrische Weltbilder und patriarchalische Tiefenstrukturen erscheinen damit unhinterfragbar und unveranderbar. Kulturelle Gewalt sorgt sodann fiir die Legitimierung von Gewallordnungen, in dem sie die real vorfindliche Gewalt beschonigt, bagatellisiert oder beschweigt, das Sprechen daruber tabuisiert, und nach deren T hematisierung hauflg den Opfern die Schuld dafl lr zuweist. KultureJle Gewa lt lasst bestimmte Formen der Gewalt nicht mehr als solche erscheinen, macht sie damit unsichtber und unbearbeitbar. SchlieBlich erwachsen aus den Dominanz- und Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft auch die vielfaltigen Formen der direkten Gewa lt gegen Frauen, die mil Machtanspruchen und Gehorsamserwartungen zusammen hangen, Verftigungsgewalt und Kontrolle sicherstellen oder einfach nur verletzen und unterdnlcken wollen. Dass Gewalt gegen Frauen und Madchen in den meisten patriarchalisch strukturierten Gesellschaften in hohem Malle akzeptiert wird, erklaren die feministischen T heorien vor aHem mit den kulturellen Codes, patriarchalischen Tiefe nstrukturen und der absoluten Vorherrschaft mannlicher Werte und Normen. In den meisten
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EntwicklungsHindern sind sowohl die Bewertungsm alsstabe dessen, was als Gewa lt gilt, du rchgangig von Mannern bestimmt, wie auch die 6ffentlichen Diskurse tiber Gewalt Ausdruck einer mannlic hen Do minanzkultur. Da Manner in hohem MaBe Tater seien und Frauen Opfer , batten sie keinerle i Interesse daran, ihre sich auch tiber Gewalt durc hsetzen de Vorherrschaft in Frage ste llen zu lassen. Dazu dienen nicht zuletzt staatl iche Strukturen , von denen Feministinnen sage n, dass sie mannerbundisch strukturiert seien, sich in ihnen "Mannlichkeit als Syst em" verkorpere und .sedimentie n e marmliche Lebenserfahrungen" zum Ausdruck ka men. Gewa lt hangt nicht zuletzt mit unterschiedlichen Gesc hlechterro llen und Sozialisationsprozessen zusammen. Jugendliche und junge Mann er lernten durch die patriarchalischen Strukturen und androzent rischen Welt bilder schnell, sich d urchzusetze n und dies gegebenenfalls auch unler Einsatz von Gewa lt zu tun. Ein ausge pragter machismo und andere Mas kulinitatsvo rste llungen wie auch bestimmte Mann lichkeits konstruktionen (in Zusammenhang mit Verletzungen , Ehre, Rache) sorg en dafur, dass Gewalt ge lernt ode r anerzogen wird. Jungens wisse n in der Regel nicht nur fruhzeitig, sich in Verteilun gskampfen und Mach tspiel en durchzusetzen, und Konku rrenzdenken und Uberlegenbeitsgesten sind Ihnen vertrauter als Madchen und jungen Fraue n, sondern Gewa lt macht auch Manner. Diese Art der Soz ialisatio n mit dem Hineinw achsen in unterschiedliche Gesc hlechterro lle n wird schlieBlich durch mannl ich dominier te gesellschaftliche Inst itutionen bekraftigt und bef6rdert, so dass Ihnen Gewaltaus iibung insgesam t vie! naher ist als den ju ngen Frauen. Feministische Th eorien beschaftigen sich also v.a. mit den aus patriarch alisch strukturierten, auf Gesc hlechterungleichheite n basierenden Formen der Ausgrenzung, Unterdrtickung und Diskriminierung von Frauen als Gewalt. In ihren T heorien geht es immer auch urn die Entwicklung (mannerjherrschaftsfreier gesellschaftlicher Altern ativen. Dagegen hat die Auseinandersetzun g mit konkreten Formen direkter physischer Gewalt bislang eher einen randstandi gen Stellenwert, ei ne feministische Gewalttheorie im enge ren Sinne gibt es nicht. Andere Th emen , wie die Gewa lt von Frauen gegen Manner oder von Frauen gege n Kinder, sind dagege n - mit wenige n Ausnahmen - nach wie vor tabuisie rt oder werden in ihrer Relevanz gege nuber dem patriarchalisch strukturierten Gewa ltkomplex best ritte n.
5. Bekampfungsmogllchkelten von Jugendgewalt 1m vorhergehenden Text durfte deutlich gewo rden sein, dass die Gewalt von Kindern und Jugendli chen nicht nur ein sehr kom plexes Problemfeld ist, sonde rn J ugendgewalt auch sehr vielfa ltige Ursachen hat, je nachdem welc he Form sie annimm t und urn welc hen Typus es sich dab ei handelt. Entsprechend kompliziert stellen sich die Bekampfungsmoglichkeiten dar. Diese lassen sich zunachst einmal danach unterscheiden , auf welcher Ebene sie ansetzen (Mikro-, Meso- oder Makro-
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ebene), sodan n danach, wan n bzw. zu welchem Zeitpunkt die Interventi on erfolgt (vo r, wa hrend ode r nach dem Ausbruch der Gewalt). Sc hlieBlich lieBen sic h die einze lnen MaBnahmen auch dahingehend differenzieren, ob sic direkt a uf das Individuum ausgerichtet sind oder auf sein sozioo konomisches und kulturelles Umfe ld zielen. Zu berucksichtige n ware ferner, dass aufgrund der untersc hiedlichen Entwicklungsstufen von Kindem und Jugendlichen ein altersspezlflsches Vorge hen geboten ist. Der Gewalt Jugendlicher wird insbeson dere dann effektiv begegnet we rden konnen, we nn einzelne MaBnahmen und Programme nicht nur auf der individuellen Ebene ansetzen und kognit ive und behavioristische Faktoren in den Blick nehmen, sondern auch gesellschaftliche Faktore n in Betracht gezoge n werden, die individuelle Verhaltensweisen immer mit formen. 1m Foigende n werden die mcg li chen Auseinandersetzungen mit Jugendgewalt anhand von drei verschiedenen Bereichen aufgezeigt, in de nen sic h die zuvor genannten Ebenen in unterschiedlichem Umfa ng wiede rfinden.
5.1 Preventions- und Intervention smajJnahmen Es ist unmittelbar einleuchtend, dass die beste Strategie im Umgang mit Gewalt darin besteht, ihre Bedingungen und Hintergru nde dann zu bekampfen, wenn die Gewa lt selbst noch nicht virulent gewo rden ist. Darauf zielt eine Fiille vo n PraventionsmaBnahmen ab, die auf unterschiedlichen Ebenen ansetze n und in denen es zunachst einmal urn die Diskreditie rung und Delegitimier ung von Gewalt als einer Handlun gsstrategie oder Option geht (Gugel 2006). Hierzu zahlen Programm e der Vorschul erziehung, in de nen Kindem bereits die notwendigen Sc hutzfaktoren gege n Gewalt beigebracht (z.B. Starkung sozialer Bindungen, Brhohung des Selbstwe rtgefuhls, Empat hie) und sie mil Fahigkeiten und Eigenschaften ausgestattet we rden, die sie sparer weniger anfallig filr gewaltsame Verhaltensweisen machen sollen. Andere Programme zielen darauf, antisoziales und aggressives Verhalten von Kindern und Jugendlichen durch die Erhohung sozialer Kompeten zen zu vermindern und dad urch freundliche und kooperative Verhaltenswe isen im Umgang mit peer groups und Erwac hsenen zu ermog lichen. Seiche Programme sind etwa darauf ausgerichtet, mit Angsten umgehen zu lernen , Verhaltensande rungen ei nleiten zu konnen, soziale Perspektivenlibem ahme zu fordem, moralische Entwickl ung und soft skills zu sta rken sow ie Problemlos ungs- und Konffiktbearbeitungskompetenzen zu erlangen. Soda nn konn en Kindergarten und Sc hulen generell durch eine sta rkere frledenspadagogische Ausrichtung die Diskreditle rung und Delegitimierung von Gewalt vorantreiben und Zivilcourage fordem . 1m Umgang mil Gewa lt ist gerade die Rolle von Bildung und Erziehung fundame ntal (Imbusch 2009; Davies 2004), nicht nur wei! sie notwendige Kenntnisse und Fahigkeiten im konstruktiven Umgang mit Konfli kten vermitteln kann und ein hoheres Bildungsniveau in der Rege l gewaltminde rnd wirkt, sondern weil sie die Voraussetzungen dafur sind, sparer in die AI-
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beitswelt integriert zu werden und einen befriedigenden Beruf ausiiben zu konnen. Eine gute Erziehung und Ausbildung stellen eine wesentliche Voraussetzung fiir eine angemessene Partizipation und soziale Integration im Erwachsenenalter sicher. Andere MaBnahmen zielen insbesondere auf sogenannte Risikofaktoren und die Verbesserung der Moglichkeiten Jugendlicher im Umgang mit solchen Risiken. Hier geht es beispielsweise urn Programme zur Vermeidung unerwunschter Schwa ngerschaften, urn eventuellen Kindesmisshandlungen und spateren Gewa ltkarrieren vorzubeugen; eine verbesserte pra- und postnatale Versorgung und Betreuung von jungen Madchen; um Anreize fur gewaltanfallige Jugendliche zur Fortsetz ung des Schulbesuchs oder um Hilfen zum Berufseinstieg fur unterprivilegierte Jugendliche und junge Erwachsene. Dagegen haben sich individuelle Beratungsstrategien von Jugendfichen, Trainings im sic heren Umgang mit Waffen, Kontakte mit Gefangnisinsassen, die dann tiber die Brutalitat des Lebens hinter Gittern berichten und abschreckenden Wirkungen zeigen sollen, von Unterbringungen in psychiatrischen Anstalten oder Heimen oder Informationsprogramme tiber Drogenmissbrauch als weitgehend wirkungslos im Kampf gegen Gewalt erwiesen. Ein anderes Bundel von Praventionsmafsnahmen zur Bekampfung von Jugendgewalt zielt dagegen eher auf die Art der Beziehungen ab, die junge Leute in der Regel mit anderen haben. In diesen Programmen geht es u.a. urn fehlende emotionale Bindungen zwischen Eltem und Kindem , um den schadlichen Einfluss von peer groups und das Fehlen slarker Bindungen an verantwortliche Erwac hsene. Familienorientierte Strategien dieser Art sind etwa Hausbesuche in Problemfamilien, Trainingsprogramme fi ir den liebe- und verantwortungsvollen Umgang der Eltem mit Kindem , Mentorenprogramme zum Erlernen positive r Erwachsenenrollen oder therapeutische Ansatze, die auf die Verbesserung der Kommunikationsfahigkeit der Eltem und deren Problemlosungskompetenzen abzielen. Sog. homeschool-partnerships konnen den Verpflichtungscharakter der Eltern gegenuber ihren Kindem erhohen und tragen so unter Umstanden zu einem reibungslosere n Ubergang in das Erwachsenenalter bei. Dagegen haben sich Versuche, tiber die peer groups auf Jugendliche EinfIuss zu nehmen oder gar deren Verhaltensformen zu andern, als wenig effektiv erwiese n. Praventive Interventionen auf der Gemeindeebene zielen insbesondere darauf ab, das soziale Umfeld von Jugendlichen zu beeinflussen. Auf dieser Ebene geht es zum einen urn Sicherheitsaspekte und polizeiliche Ma13nahmen, zum anderen urn die infrastrukturelle Ausstattung auf lokaler Ebene. So wird in vielen Teilen der Welt etwa die Uberwachung von als problematisch eingestuften Platzen und Gegenden durch die Polizei oder durch Burgerwebren und die striktere Anwendung von Gesetzen als vielversprechend betrachtet, urn Jugendgewalt und krirninelle Aktivitaten einzudammen. Eine andere Strategie auf lokaler Ebene zielt darauf ab, die Verfiigbarkeit von Alkohol und Waffen fur Jugendliche einzudammen. Insbeson -
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dere cine strikte Kleinwaffenkontrolle ist in Bezug auf die Anzahl schwe rer Verl etzungen und Totungsdeli kte effektiv. AuBerschulisch e Akti vltaten wie Sport- und Spielmog lichkeiten und kunstlerisches Engagement konnen dazu beitragen, dass Jugendlich e Anerkermung tiber konstruktive Akti vitaten in peer groups und Freundeskreisen bekommen. Dazu bedarf es in der Regel geei gneter Raumlichkeiten . Dort, wo infrastrukturelle Einrichtungen fur solche Akti vitaten fehlen oder entsprechende Orte hohe Risiken bergen, wei! etwa gewalttatige Band en od er gewaltbereite Jugendliche ihr Unwes en treiben ode r Erlebnisarmut und Langeweile alltaglich sind, steigen Frustration serfahrungen und Gewaitneigungen an . Weitere ntitzliche MaBnahmen auf kommunaler Ebe ne mussen in der Verftigbarkeit von Vor schuleinrichtunge n und Kindergarten , verbesserten Schul ausstattungen und der Sicherung vo n Schulwegen gesehen werden. Die Verbe sserung der Lebensqual itat in ein em Viertel ist also durchaus von Bedeutung, we nn es darum geht, mog liche Gewalt neigungen Jugendli cher ei nzudammen. Auf der gesel lschaftlichen Ebene gibt es die am wenigsten spezifischen Ma6 nahmen zur Pravention von Jugendgewall. Hier kommt es gleichwohl darauf an, soz iale und kultu relle Strukturen und eine gewa ltforderliche Umwelt zu verandem , um soziookono misc he Entwicklungsbarrieren zu beseitigen oder ube rko mmene, Ge wa lt beford emde kulturelle Normen und Wertvorstel!ungen zu verande m . An erster Stelle ist dabei an Programm e zur Arrnut sbekampfung, zur Reduktion soz ialer und Einkommensungleichheiten, fur eine grob ere Sozialstaatlichkeit und soz ialen Ausglei ch zu denken. Sodann geht es auch um di e Verrin gerung vo n Armutskonzentrationen in stadtischen Agglomerationen und eine ausgeglichenere soz iale Durchmischung von Wohn viert eln. Vergleich sweise geringe soz iale Ungleic hheiten und eine gro Bere soziale Sicherheit sind effektive Schutzmech anismen gegen ein Abgleiten in Gewa lt. Gese llschaftlich reguliert werden kann auch der Zugang zu und der Besitz von Waffen . Restrik tive Lizenzvergaben und stre nge Kriteri en flir Wa ffenbesitz tragen einde utig zur Bindammung von Ge walt bei . Ander e Strategien auf der gesellsc haftlichen Ebene bestehen etwa in Offentlichen Inform ationsund A ufkla rungs kampagnen, urn pro-soziales Verhalten zu vermittel n, in der Bekampfun g vo n uberbordender Gewalt in den Medien , in Akti vitat en und Politiken, we lche die negativen Auswir kungen raschen soz ialen Wandels abmildern , sowie in institutionellen Reformen des Erz iehungs- und Bildungssystems.
lugend gewalt in
Enl wick lu n g~landern
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Tabe lle 2: Mogliche Gewaltprave ntionsst rateg ien nac h Entwicklungsstadium und Konte xt Eco logica l Co ntext Individ ual
Adolesce nts
1(12. 19 veers)
Early ad ulthood
lZO·29 veers)
• Social development programmes (a) • Providing incentives fo r youth at high risk for violence to complete seco ndary schoo ling (a) • Individual counselling (b) • Probation or parole programmes that include meeti ngs with priso n inmates describing the brutality of prison life (b> • Residential programmes in psychiatric or co rrectio nal instituions (b) • Programmes providing information abo ut drug abuse (b) • Academic enric hment prog rammes • T raining in the safe use of guns (b) • Programmes modeled on basic mili tary training (b) • T rying young o ffenders in adult co urts (bl
• Providing incent ives to pursue co urses in higher ed ucation • Vocational training
Relation ship (e.g. family, peers)
• Mentor ing programmes (a) • Peer mediation or pee r co unselling (b) • Temporary foster care prog rammes for serious and chro nic deli nquents • Family therapy (a)
• Programme s to stre ngthen ties to family and job s, and reduce invo lvemen t in violent behaviour
Co mmunity
• Creating safe routes fo r youths o n their way to and from schoo l or other community activities • Improving school settings, including teacher practices, school polic ies and sec urity • Extracurricular activities • Gang preventio n programmes (b) • T raining health care wor kers to identify and refer youths at high risk of violence
• Etstablisbing adult recreation al programm es • Comm unity polici ng • Reducing the ava ilability of alco hol • Improving emerg ency rcsponse, tra uma ca re and access to health services • Buying bac k g uns (b)
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Peter Imbusch • Co mmunity polici ng • Reducing the availibility of alcoh ol • Improving emerge ncy res ponse, trauma care and access to helath services • Buying back guns (b)
Societal
• • • • •
Deconcenrraun g poverty Reducin g income ineq uality Public inform ation ca mpaigns Reducing med ia violence Enforc ing laws prohibiting illega l transfers of guns to youth
• Promoti ng safe and sec ure storage of firearms • Strengt hening and improving po lice and judicial systems • Reforming educat ional syste ms
• Deconcentrating pove rty • Reducing inco me ineq uality • Esta blishing jo b creation programmes for the c hronically unemplo yed • Public information ca mpaigns • Promoting safe and secure sto rage of firearms • Strengt hening and lmproving police and ju dicial sys tem>
a) Demonstrated to be effect ive In reduci ng youth violence or risk factor.; for yout h violence b) Show n to be ineffectiv e in reducing youth viole nce or ris k factors for youth violence
(WHO: Wor ld Report o n Violence and Health, S. 43)
5.2 Der Beitrag internationaler Organisationen Aber nieht nur gesellschaftliche Einrichtungen sind fi ir die Praventio n und Bekampfung vo n Jugendgewalt verantwortlich, auch intem ationale Organisat ionen haben (Jberlegunge n angeste llt, wie mit dem Phanomen Jugend gewalt umgegang en we rde n kann. Sic haben spezifische Programm e entwickelt, urn z.B. die Reintegralion von Kindem und Jugendlichen naeh Burgerkriege n zu fordem ode r die Wiedereingliederung delinquenter Jugendliche r in die Gesellschaft zu ermog liche n. Da die Programme im einzelnen sehr komplex sind, sollen an dieser Stelle led iglich die grundlegenden Hintergrund annahmen vorgestellt werden, urn zu verde utlichen, aus welcher Perspektive sich internat ionale Organisationen mit der Jugendgewalt auseinandersetzen und mittels welcher Ma6nahmen sie ihr begegnen wollen. Dabei lassen sich drei Ansatze differenzieren, die aile ihre eigene n Charakteris tika aufweisen, aber sich auch gegenseitig erganzen (Kemper 2(05). Es handeit sich dabei urn den rechte-basierten Ansatz, den c konomisc hen Ansatz und den soziopolitischen Ansatz. Der Rechte-basierte Ansatz geht davon aus, dass Kinder und J ugendli che auch in abtraglichen gese llschaftlichen Situationen wie Gewaltkonflikten und Burgerkriegen unverbruchliche Rechte besitze n. Die morali sche Verpflichtung, s ie zu schutzen, ergibt sich in dieser Perspe ktive aus dem allgemeinen Glauben, dass
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Kinde r und Jugendliche unter Konffiktsituationen am meisten leiden , dass sie in der Regel unschuldi g und einem Gewa ltgesc hehen relativ schutzlos ausge liefert sind, und dass ihr Wohlbefinden im Interesse aller liege. 1m Ergebnis zielt dieser Ansatz auf die Erftlllung kindlicher und jugendl icher Bedurfnisse, insbesondere die Gewa hrleistung von menschli cher Sicherheit, abo Die Ubl-Konvention uber die Recht e der Kinder ist das Dokument , des am weitestgehend en diese Sc hutzrechte fi ir Kinder und Jugendliche formuliert. Kinder und Jugendl iche gelten hier als eige nstandige Subje kte mit eigenen schutzwiirdigen Rechten . Dem Rechte-basierten Ansatz geht es darum, aus verletzlichen und unschuldigen Opfern eige nstandige soziale Akteure zu machen, und er vers ucht dies tiber gesetz liche Normen und internationale Konventionen zu erreichen . Auch we nn ein GroBteil der Lander die Ubl-Kin derkonvention unterzeichnet hat, breche n sich die norm ativen Mabstabe der Konvention jed och haufig an einer sozialen Realitat, die der Verwirkl ichung dieser Rechte diametral entgegensteht: In politischen Konflik t- und wirtschaftlichen Krisensituationen erweisen sich die Recht e hiiufig als ineffektiv, sie konnen zwar moralisch ei ngeklagt, aber in der Regel nicht politisch durchgesetzt werden auch wenn Organisationen wie UNICEF immer wieder darauf drangen, die Recht e von Kindem und Jugendlichen zu respektieren. Weitere Schwachen des Rechtebasierten Ansatzes kcnnen darin gesehen werden, dass er nicht zwischen Konfliktund Postkontliktsituation en unterscheidet und bewusstes gewalttatiges Handeln von Jugendlichen nicht einbezieht. Nach gewa lttiitigen Auseinandersetzungen hat die Reintegration der Kinder und Jugendlichen in ihre Familien oberste Prior itat. Dort genieBen sie noch den weitestgehenden Schutz gegen Ubergriffe von Sande n, Ex-Kombattanden und warlords. G1eichwohl hangt ihr Wohlergehen hier zum einen von der soz ialen Situation der Familien ab, in die sie zurtickkehren, z um anderen von den Verarbeitungsmoglichkeit en ihrer Gewalterfahrungen, die sich sehr unterschiedlich auf die weitere personliche Entwicklung auswirken konnen. Der Recbte-basierte Ansatz postuliert unverbruchliche Rechte filr Kinder und Jugendli che, ohne desintegrative gese llschaftliche Situationen oder fragmentierte Staatlich keiten zu bertlcksichtigen. Burgerkrle ge etwa beeintlussen nicht nur die Fahigkeit des Staates, menschliche Sicherheit zu gewahrleisten, sondern sie fuhren auch zur Veranderung der ldentitat von Jugendli chen und des Verstandnisses von Kindheit. Der Rechte-basierte Ansatz ist deshalb in Pra- und Postkontliktsituation en am brauchb arsten , weil mit ihm die Rekruti erung von Kindem und Jugendlichen fur Gewalt vermieden oder spater den Kindem und Jugendlichen ihre Wurd e zuriickgegeben werd en kann. Der okonomische Ansatz sieht dagegen Ju gendJiche v.a. als wirtschaftliche Akteure , die mehr oder weniger rational ihre Interessen verfo lgen und dabei dem Angebot und der Nachfrage von Markten folgen. Ob sie Gewalttater we rden, sich fur Btlrgerkriegsarmeen rekrutieren lassen ode r einer geregelten Arbeit nachgehen, hang t demnach von ihren okonomischen Interessenkalkulen und Verdienstmoglichkeiten abo 1m okonomischen Ansatz stehen deshalb .obje ktive" Variablen wie
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Organisation, lnteressen, Ressourcen , Moglichk eiten und Strateg ien irn Vord ergrund. Blirgerkriege entstehen in dieser Perspektive weniger dUTCh sozia le Notlagen und den Protest dagege n, sondem durch die Gier und Habsucht einzelner, die soziale Notlage n und Frustrationen gesc hickt ausbe uten. Hier geht es letztlich weniger darum, welche Auswirkungen Kriege auf Jugendli che haben , sonde rn darum, welche Wirkungen Jugendlich e auf den Krieg haben. Da Jugend dabei als ausbeut bare aggress ive Ressource erscheint , ist es das Ziel des okono misc hen Ansatzes, aus ihr einen rationalen okonomischen Akteur zu mac he n. Die hoh e Jugen darbeitslosigkeit und die Existenz eines groJ3en Anteils j unger Menschen an der Gesa mtbevcl kerung (youth bulge) sind weitere Aspekte, die fiir den okonomisc hen A nsatz ein A nlass zur Besorgnis sind. Dafilr ist nicht nur das ungenutzte Arbeitspotenzial und die Verschwendung menschlicher Ressourcen Ausschlag gebend, sonde rn meh r noch der Zusammenha ng mit der Gewa ltbereitschaft Jugendli cher. Ein hoher Anteil von arbeitslosen j ungen Leute n birgt ein hohes Risiko fur polit ische Gewalt, wei! Jugendli che dan n leichter filr radikal es Geda nkengut anfallig werden. Die Unfahigkeit der Arbeitsmarkte, die neu hinzu ko mmenden Perso nen aufz unehme n, macht es dem Staat wiederum leichte r, sie fiir Gewalteinsatze zu gew inne n. Auch wenn der gena ue Nexus zwischen den iIIegalen und kriminellen Aktivitaten junger Menschen und der Arbeitslosigkeit letztlich ungeklart bleibt, beton t z.B. die Weltban k diesen Zusammenhang und sieht in der demographischen Entwicklung und den sich daraus ergebenden Arbeitsmarktproblemen schwerwiegende Probleme. Die Programme der WeItbank , aber auch der ILO, zielen v.a. auf die arbei tslosen Jugendlichen, weil sie in ihrer sozia len Lage ei n beso nderes Risiko f ur Friede nsprozesse darstellen. Es geht ihnen darum, o konomisc he Anreize fur die Jugendl ichen zu schaffen, ordentlichen Tatigkeiten nachzugehen , die sozioo konom ische Reintegration der Jugendli chen zu fordem, sie in T rainingsprogramme auf einkommensge neriere nde Aktivitaten vorz ubereiten ode r Bildungs- und Erziehungs rllckstand e zu beseitigen, damit sie Gewa It nicht mehr als eine Option fur das Bestreiten ihres LebensunterhaIts bet rachten. Der o konomische A nsatz strebt deshalb letztlich andere Wertevorstellun gen und Wertehierarchien der Jugendli chen an. Wenn er auch manche Einseitigkeit der youth bulge-Th eorien teilt, so ist der okonomische Ansatz doch in der Lage, den Wunsch de r Jugendlichen nach Wertschatzung und Inklusion in konkre te MaBnahm en und Hilfestellungen zu I lbersetzen . Die ei nzelnen MaBnahme n lassen sich in der Regel kurzfristig umsetzen. Zusammen mit einer "richtigen" Wirtschaftspolitik kann er zu einer Reduzierun g jugendIicher Bedro hungspo tenzia le filhren und liber dere n Integration in die Arbeits markte zur gesel lschaftlichen Stabilitat beitragen . Das eigentliche Ziel der MaBnahm en ist dab ei die Erreichung von Stabili tat - wobe i allerdings deren Bezug zu sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten unexpliziert bleibt. Der soziopolitisc he Ansatz ist dagegen eher langfristig angelegt und sein Zie l ist die Versohnung nach Blirgerkriegen oder die Reziviiis ierung nach GewaItakten. Diese Perspektive setzt an der Selbstwahrnehmun g der Jugend und ihrer Beziehun g
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zur civil society an. Es geht dabei we der urn normative Zuschreibungen an die Jugendli chen noch urn ihren Wert in Kriegsokonomien oder fur Banden oder de n vermeintlichen Schaden fiir ei ne Volkswirtschaft, so ndern darum, d ie Belange und wu nsche der Jugendlichen Ernst zu nehmen und sie in der AusfUhrung e igener Ideen zu unterstutzen. Gesellschaften sollen mit und durch die Jugend w ieder rein tegriert we rden . Das langfristige Interesse an Frieden und Gewaltfrei heit kann dabei nur dan n umgesetzt werden, we nn man den Jugendlichen ermoglicht, ihren destruktiven Umgebungen zu entkommen und adaq uaten Ersatz auc h fur je ne Erfahrungen schafft, die mit der Involvierung in Gewalt fur unterpr ivilegierte Individ uen verbunden sind (hoher soziaIer Status, Kame radsc haft , UberlegenheitsgefuhIe). Kurz: Aus spoilern mussen peace builder werden . Der soz iopolitische Ansatz nimmt an, dass die Exk.Iusion vo n Jugend lichen nach Gewaltko nflikt en fni her oder spater zur Desintegration der Gesellschaft fiihren wird . Die Jugend sei so mit ein guter Se ismograph fur die gesamt e Gese llsc haft. Weiterhin geht der Ansatz davon aus, dass die Jugend lichen ihre scho n erworbe nen Fahigkeiten lieber in den Dienst des Friedens als der Gewalt stellen wollten, sofern ihne n nur Mogl ichkeiten dazu er6ffnet wu rden. Mit dieser ideali sierende n Sichtwei se blendet er allerdings das negative Potenzial der Jugend aus : Die Hera usforderung von Autoritat und Unabhangigkeitsstrebe n sind typische Jugendphanomene, die ganz unterschiedlic h instrumentalisiert wer den k6nnen . Die Jugend muss deshalb in jedem Fall aIs ko nstitutive Kraft fiir den Friede n betrachtet warden, weiI sie entweder fried liche Ve rhaltnisse fordert oder gefabrdet . Gerade die besondere Lebensp hase , in de r sich d ie Jugendlichen befi nden , legt deshalb andere Poli tiken und prog ram matische Ant worten nahe . In der Perspektive dieses A nsatzes mussen die Jugendl ich en in ihre n Organisati one n und Gesellungsformen so unterstutzt we rden , dass sie der Gewalt abschw6ren und zugleich Ko nffiktbearbeitungsfahigkeiten heraus bilden, di e zu Kooperation start zu Konfrontation mit anderen Mitgl iedem der Gese llsc haft fu hrt. Der soziopo litische Ansatz , der etwa von Organ isarionen w ie der GTZ, SF CG , UN DP und WCRWC verfoc hten wird , besitzt also eine j ugendzentrierte Per spektive , deren langfristiges Zie l es ist, die sozialen Bez iehungen unter den Jugendlichen und zwischen ih nen und der Welt der Erwachsenen auf der personlichen, familiaren , kommuna len und institutio nellen Ebene zu verandem . Oer soziopolitische Ansatz fordert die Versohnung und Verfried lichung der J ugend, indem er gegen die Ma rginalisie rung j unger Me nschen kampft und ihre Integration in gese llschaftliche Strukturen (z.B. Clubs, Netzwerke) f6rdert. Auch wenn dabei Gefah ren der Ube rforde rung du rch Verantwortungsubertragungen oder ein starker artikuliertes Unbehagen an bestehenden Fubrungsstrukturen die Foige sein kann, so durtte der soz iopo litisc he Ansatz langfristig der effektivste se in, wenn es datum geht, gewalttatige Jugendliche in d ie Gese llschaft zu reintegrieren ode r Gesellschaften nach Blirgerkriegen zu befrieden .
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Tabelle 3: Drei Ansatze gegenuber Jugend lic hen im Ubergangsprozess vo n Krieg / Gewa lt zu friedlichen Verhaltni ssen
Approach
Economic Approach
Socia-Po litica l Approach
Optimal Period
Preven tio n
Short T erm
Long Term
Objective
Human Sec urity
Sta bility
Reconciliation
Target Group
Childr en (less than 18 You th ( 15 to 24 years of age) years)
Flexibl e (responsive to self-percept ion and socio-cultura l con-
Ro le of Yout h (Cha ract erist ics)
Victim (vu lnerable, innoce nt)
Spoiler (frustrate d, exclu ded)
Rights-based
tex t)-
Exploita ble Rcso urce (aggressive,
greedy) Soc ial actor (ada ptab le, resilient)
Eco no mic acto r ( re~ ~rcefu l .
Typical Programs (Selection)
T yp ica l Actors (Se lection) (Y . Kemper: Yo uth
ra-
tiona l Legal norms and Eco no mic policies co nve ntions on micro/mac ro level Soc io-econo mic inReintegratio n into families; human tegra tion ; vocational rights advocacy; psy - train ing ; incomechosocial wo rk; basic genera ting acti vieducation ties ; ca tch- up ed uca tion
Instruments
Save the Childre n,
fLO , World Ban k
UNICEF In
Peace builder (transformable. act ive)
Participatory approaches Particip ator y surveys; su ppo rt of yout h activities; or ganizations and networks; pcace education
GTZ,SFCG , WCWRC, UNDP
..
w ar-to-Peace Transitions, S. 5)
Heute wird vielfach davon ausgegangen, dass die drei Ansatze sich kombinieren und integrieren lassen und sie eigentlich komplemen tar zueinander sind (vgl. Imbusch 2(09). Aile drei krinnen namlich auf unrerschiedlichen Ebenen wichtige MaBnahmen und Strategien im Umgang mit gewalttatigen oder gewaltbereiten Ju gendlichen beisteuern. Zusammen genommen stellen sie einen effektiven Schutzmechanismus gegen desintegrative Tendenzen bei Jugendlichen dar und ermoglichen eine gelingende Integration in die Gesellschaft. Auf der Grundlage des rechtebasierten Ansatzes mussen Erziehung und Bildungsangebote verbessert werden,
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urn friedliche Leitwerte in der Gesellschaft zu etablieren und Gewalt zu delegltimieren. Die soziopolitische Integration von Jugendlichen kann sodann mittels spezieller Programme gefordert werden. Zivile Alternativen zur Gewalt lassen sich insbeso ndere dann erfolgreich umsetzen, wenn Jugendliche eine grundlegende berufliche Perspektive haben und ein gewisses Einkommen fiber ordentliche Betati gungsfelder erzielen konnen. Geht die Gewalt tiber die Gruppenebene hinaus und tangiert sie die Gesellschaft als Ganze (Burgerkriege, Aufstande, etc.), dann bedarf es nicht nur einer spezifischen Aufarbeitung der Vergangenheit und einer v ersohnung und Annaherung der Kontlikt- oder Kriegsparteien, sondern auch besonderer Reintegrationshilfe n fur Jugendliche und Kinder (beispielsweise im Rahmen vo n DDR·Programmen), urn sog. lost generations zu vermeiden. 5.3 R epressionsstrategien Preventive und kurative Interventionen in Gewalthandlungen und spezifische, auf die direkte oder indirekte Eindammung von Gewalt abzielende Programme sind jedoch nur zwei Moglichkeiten des Umgangs mit Gewalt. Eine dritte Strategie ist und bleibt die Repression, die in der Regel von staatlichen Stellen gegen Gewalttater und Kriminelle gerichtet werden muss. Staaten konnen sich zur Unterdriickung ode r Eindammung von Gewalt verschiedener Mittel und Wege bedienen. Sie kennen fi ber Gesetze und Verordnungen die Anwendung von Gewalt fur iIlegitim erklaren und Gewalttaten abgestuft nach ihrer Schwere unter Strafe stellen - abweichendes Verhalten also sanktionieren. Sie konnen angesichts nicht endender Gewalt oder besonderer Gewaltereignisse mit Gesetzesverscharfungen drohen und hartere Strafen in Aussicht stellen, urn Gewalttater abzuschrecken. Zur Aufrechterhaltung von Ordnung und zur Gewahrleistung von Sicherheit wird dabei in vielen Entwicklungslandern je nach Schwere des Deliktes und der Art der Gewalt neben der Polizei hauflg auch das Militar oder paramilitarische Polizeieinheiten eingesetzt. Auf einer konkreteren Ebene geht es aber nicht nur urn die Repression von Gewalt, sondern auch urn die Kontrolle von Situationen und Ereignissen, von Ortlichkeiten und Gruppen, urn Gewalttaten rechtzeitig zu erkennen und ggf. zu verhindern. Staatliche SicherheitsbehOrden gehen sodann gegen unerwunschte Demonstrationen und iIIegale Versammlungen vor, sie losen soziale Brer mp unkte auf, aus dene n heraus Gewalt wiederholt veriibt wird. Sie bekampfen BandenkriminaIitat und Jugendgangs nicht nur mit praventiven, sondern auch mit repressiven Methoden - und tragen auf diese Weise manchmal zur Entkriminalisierung von Jugendgangs, hauflg jedoch zur Starkung der Kohasion der Bandenmitglieder und damit letztlich zur Zunahme von Gewalt bei. In diesem Zusammenhang ist nich t zuletzt zu bedenken, dass die Polizei in vielen Bntwicklungslandem ein Gewaltakteur nieht nur im Sinne eines als legitim verstandenen staatlichen Gewaltmonopols ist, sondern angesiehts schlechter Bezahlung, Korruption und der Aufnahme gewaitgeneigter junger Manner selbst eine Gefahr fur die Bevolkerung darstellt. Ef-
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fektive Repressionsstrategien vo n Gewalt sc heitern haufig nicht n UT an dem sich daraus ergebenden Zirke l yon Gewalt und Gegengewalt, so ndern auch daran, dass der Staat meistens n UT tiber ein poroses staatliches Gewaltmonopol verfugt, dass er keineswegs flac hendeckend umzusetzen ve rmag. In die "staatsfreien" Raurne SIOBen dann nicht n UT parastaatliche Organisationen mit zweifelhafter Legitimitat, sondern auch lokale oder regionale ,,starke Manner". die auf eigene Art fur Ordnung und Sic herheit sorge n. Ein weiterer kontraproduktiver Effekt von reinen Re pressionsst rategien beste ht darin, dass Jugendliche und junge Erwachsene haufig wegen vergleichsweise geri nger Deli kte schweren Strafen unterworfen werde n und dann in den Gefangnissen erst ric htig "verrohen" , wei! sie dort nicht nur Gewalt am eigenen Leib erfah ren, so ndern auch lernen, Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eige ner Interessen - oft sogar zurn eigenen Uberleben - einzusetzen , Kontakte zu krirninellen Milieus aufba uen und nach mehrjahriger lnhaftierung gesellschaftlich isoliert sind . Damit sind Gewaltkarriere n vorgezeichnet und der Ausbruch neuer Gewalt ist lediglich eine Frage der Ze it und passender Umstande.
6. Schlussfolgerungen Das T hema Jugend und Gewalt ist - trotz einer in den letzten Ja hren intensivierten Auseinandersetzung - ein hochst strittiges und komplexes Prob lemfeld geblieben. St rittig ist es, weil es nac h wie vor weder eine verbind liehe Definition von Jugend noeh einen allgemein ane rkan nten Rahme n gibt, in dem das Thema zu behandeln ware. Die An nahme n, die vielen der Juge ndprogramme, aber auch den Brklarungsansatzen zugrun de Iiegen, sind hauflg deterministisch, wei! sie davon ausgehe n, dass Jugendgewah von ei nem oder einigen wenigen Faktoren wie der Jugend arbeit slosigkeit ode r demograp hischen youth bulges hervorgebracht wird. Dagegen ist an dieser Stelle betont worden , dass die Dynamiken, die zur Erze ugung gewaltsamer Konflikte mit und unter Jugendl iehen fllhren , komplexer sind . Jugendgewalt wird durch das Zusammenspiel multipler Faktoren ver ursac ht. Entsprechend vie lfaltig und vie lgestaltig mussen auc h die Anstrengungen sei n, urn der Jugendgewalt Herr zu werden . Die vora ngegangene Diskussion der Hintergrunde und theoretisc hen Erklerungsmoglichkeiten hat gezeigt, dass es sowohl auf der individuellen , auf der Intergruppen- wie auf der gese llschaftlichen Ebe ne eine Fiille vo n Faktoren gibt, we lche die Wahrscheinlichkeit von Aggresslv itat und Gewalt unter Jugendlichen erho hen. Idealerweise mussten Programme zur Bekampfung von Jugendgewalt ho Iistisch angelegt sein und je nach Art und Form de r Gewalt ein abge stuftes Spektrum an Interventionsmoglichkeiten bereit halten, das sowohl indiv id uelle, fami liare, kommunitare und gesel lschaftliche Aspekte umfasst. Solche Programme soli ten nieht nur direkt auf die Jugendgewalt abzielen, sondern insbesondere die dazugeho rigen Risikofaktoren wie ein ge ringes Bildungsniveau , soziookonomische De-
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privationserfahrungen, Exklusionstendenzen, Anerkennungsdefizite und geringe Partizipationsmoglichkeiten angehen. Das setzt zunachst eine akkurate Problembestimmung voraus, die starkeren Wert auf die Betrachtung der sozialen und okonomischen Herausforderungen legt, denen sich die Jugendlichen gegenuber sehen, als die Jugendlichen selbst als das eigentliehe Problem betrachtet. Erklarungsmuster und Bekampfungsmoglichkeiten von Jugendgewalt mussen zudem kontextspez ifisch angelegt sein, weil Jugendgewalt immer eine je eigene und hochsr spezifische Realitat in einem bestimmten Land darstellt, deren Ursachen und Hintergrtlnde keineswegs generalisierbar sind. Zu bedenken ist auBerdem, dass Jugend eine tlie6end e Kategorie ist, die einen Ube rgangsprozess vom Kindsein zum Erwachsensein markiert, in dem Identitaten sich vervielfaltigen bzw. verandem und widersprtichliche Verhaltensweisen zum Kern dieser Entwicklung gehoren. In diesem Prozess benotigen die Jugendlichen klare Orientierungen und verlassllche Leitbilder, die bei ihnen keine falschen Erwart ungen oder unrealisierbare Hoffnungen wecken. Jugendspezifische Programme solhen sieh zudem an dem obersten Grundsatz des ,JJo no harm" orientieren. Ein verbesserter Fokus a uf das T hemenfeld J ugend und Gewalt hatte schlie6lich nicht zuletzt Auswirkungen fur das Entwicklungsverstandnis von Gesellschaften: Es zeigte namlich, dass der Ubergang von der Kindheit I lber die Jugendphase zum Erwac hsensein ein kritischer Prozess ist, der Familien, Gemeinden und die Gesellschaft mit ihren politischen und sozioo kono misc hen Strukturen insgesamt betrifft. Es hangt dabei von der Art des Umgangs solcher Institutionen ab, ob die destruktiven oder die konstruktiven Potenziale von Jugendlichen zur Geltung kommen, wie sie an den einzelnen Teilbereichen der Gesellschaft partizipieren k6nnen und ob Jugendliche zu Frieden und EntwiekJung beitragen oder sie zu zentralen troub le makers oder zu spo ilers werden. Jugendliche v.a. unter Sicherheitsaspekten zu sehen und als Problem wahrzunehmen, ist nieht nur deshalb problematisch, weil in einer solchen Perspektive der Beitrag und das positive Potenzial von Jugendlichen fur die Gesellschaft Ilbersehen wird, sondern auch deshalb, weil die uberwiegende Mehrheit der j ungen Leute trotz schwerwiegender sozialer und 6konomischer Problemlagen I lberh aup t nieht zur Gewalt greift. Die UNDP hat deshalb vollkommen zu recht festgestellt: "The causes of the youth crisis are largely exogenous to youth - they have much to do with the sh rinking of economic, social and political prospects that young people are con fronted with. To a large degree, the 'youth crisis' is to be understood as a crisis of the transition from youth to adulthood. Young people in most developing countries have few education and employment opportunities, and thus decreasing chances of establishing themselves as adults in an increasingly competitive world. Excluded from decision-making, they may see the mainstream political channels as irrelevant. Their responses can be violent or non-violent, but their actio ns often reflect a lack of status, and are taken in an attempt to renegotiate the youth passage to adult-
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hood. The problem, therefore, is to increase both the concrete opport unities available to yo ung people and their sense o f incl usion in society." (UNDP 2006: 75) Ta d und Verlet zung durch Jugend gewalt stellen in vielen TeiJen der Welt ein ernstzunehme ndes Probl em dar, auch wenn regional eine betrachtli che Variationsbreite im Umfang und AusmaB von Jugendgew alt festzu stellen ist. Zugle ich gibt es ein breites Spektrum an Strategien im Umgang mit Jugendgewalt. Urn wirkJich effektiv zur Red uzierung von Jugendgewalt beizutragen , bedarf es jedoc h cines multiplen, mehrere Strategien komb inierenden Ansatzes, der situatlo nsadaquat sow ie kultur - und gendersensitiv ausgerichtet ist. Denn Programme und Konzep tionen , die in Deutschland oder Frankreieh erfolgreieh waren, mussen nieht automatise h oder gar notwendi gerweise auch in Kolu mbien ode r Sudafrika Erfolg verburgen. Wunschenswert wa re eine starkere Zusamme narbeit der wichtigs ten intemationalen Organisationen, die auf diesem Feld tatig sind, urn Expertise zu bt mdeln, einzel ne Programme abzustimmen und damit die Praventio nsmoglichkeiten von Ju gendgewalt insgesa mt zu ve rbessern. Obwo hl die Ju gend lichen in viele n Entwicklungslander n einen GroBteil der Bevolkerung stellen - in einigen Landern bilden sie soga r die Mehrheit der Bevolke rung -, wird ihr anteilsmabiger Status in der Regel nicht reffektiert, so dass die Ju gendlichen nur ungenugend bei der Verteilung von A nerkennung und Wertschatzung, bei m Zugang zu Bild ung und Arbeit oder in Bezug auf ihre wirtschaftliche ode r politische Position im Vergleieh zu ande ren Gruppen der Gesel lschaft benlcksichtigt werden. Es musse n deshalb effektivere Mechanismen gesc haffen werden , mittels derer die Jugendlichen auf untersc hiedlichen gese llschaftlichen Ebe nen und dauerhaft Tei l der Entscheid ungsstrukturen we rden. Politische Entsc heidungst rage r und Programmspezialisten so Uten deshalb zusam men mit de n Jugendliehen Programme entwe rfen und nieht fUr die Jugendlich en. Die Jugendli chen so llten im Zentrum der MaBnahm en stehen. Urn alle rdings zu effektiven Programmen der Prevention ode r Bekampfung von Jugend gewalt zu kommen , ist zuvorderst eine deutliche Ve rbesserung der Date nlage vonnoten. Dabei ware es wie htig zu wissen, wie viel und we lche Arten von J uge ndgewalt es Ilberhaupt gibt, wie viele Verletzte oder Tote dabei aufgetrete n und we lche A lterskohorten involviert sind. Dazu rmlssten einh eitliehe Standards der Definition und Messung von Jugendgewalt entwic kelt werden, urn we nigste ns zu annahemd vergleichbaren Daten zu ko mmen. Durch die Beru cksichtigun g von A1 ~ terska tego rien lieben sich zudem die versc hiedenen Risiken von j ungen Leuten dars tellen, in bestimmten Stadte n oder Regionen enrweder Opfer oder Tater zu werden. Das monitoring von Gewa lttatigkeiten Jugendli cher sollte insbesondere in Bezug auf Regionen wie Afrika, Slidostasien, de n Nahen Osten, aber auch armere Regionen Sud- und Mittelamerikas und des Westpazifiks ve rbessert werden, fiir die bis heute nur unzulangliche Date n vorliegen. Urn zu einer adaquateren Einschatzung des AusmaBes des Problems Ju gendgewalt zu kom men , so llten mittels spezie Uer Unte rsuchunge n Daten ilber das Verhaltnis von todlichen zu nicht-todlic hen
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A useinandersetzunge n Jugendlicher unter Beruc ksichtig ung der Method iken der Gewa lttater, des Allers und des Geschlechts des Opfers erho ben werde n, urn d ie bis her verfiigba ren reine n Mortalitatsdaren zu erganzen. FUr die Implementieru ng von Praventionsprogramm en ware es wiinschenswert und notwendig, dass aile La nder Dalen tiber Gewa lt mittels polizei licher oder anderer staa tIicher Behorden zentral erfassen und der Offe ntlichke it zur Verfugung ste llen. Obwohl die qua litative wie quantitative wisse nschaftliche Erforschung von Gewa lt auf intern ation aler Ebe ne in den letzten Jahren Fortsc hritte gemacht hal, gibt es nach wie vo r betrachtliche LUcken und blinde Flecke n, die es zu beseitigen gilt. Dazu gehore n insbesondere d ie folgenden Punkte: J ugendgewalt findet im mer in besti mmte n sozialen und kulturellen Kontexten statt. Unklar ist aber bislang, ob und inwiefern diese Gewalt uber haupt be stimmle Ku lturspezifika aufweist und ob die ihnen zugrunde liegenden Ursa c hen nic ht auf einige basa le Bestimmungen zurOckgefOhrt we rden konnen, die fu r meh r ode r we niger groBe Te ile der Jugendgewalt Gultigkeit besitzen. Nicht zuletzt um die groBen weltweiten Untersc hiede im AusmaB der Jugendgewalt zu verstehen und regionalspezi fische Pravention sprogramme entwickeln zu konnen , ist eine kulturve rgleichende und region enObergreifende Forschung tiber die Ursac hen und die Entwicklu ng vo n Jugendgewalt von noten. Internationa l vergleichende und kultu rObergreifende Unte rsuc hungen tiber Jugendgewa lt sind aber bis heute d ie Ausnahme geb Iieben. Die Va liditat von Datensatzen offizieller Institutionen in den Landem der Dritten Welt muss dringend verbessert we rden , um de n Umfa ng vo n Jugendgewalt wirklichkeitsgetreu messen zu konnen . Es fehlt insbesondere an ve rgleichenden Daten von gewalttatigen Jugend lichen mit gewa ltbere iten J ugend liche n und solchen Juge ndlichen, die iiber haupt nicht in gewalttatige Verhaltensweisen verstrickt sind, um zu verla sslic heren Aussagen tiber die Hintergrunde und Opportunitatsstruktu ren von Gewa lt zu kommen. Urn die Date ngrund Iage zu verbes sern, lst es nicht zuletzt erforderlich, ein aktives capacity development in den Entwic klungslandem zu betreibe n, urn die Situation der wissenschafllichen Gewaltforsch ung vor Ort zu starken und unabhangig von politisc hen Konj unkturen zu machen. Das betrifft sowohl die personellen Kapazitaten (etwa perso nliche Kompetenzen vo n Fachle uten) wie auch die institutionellen und o rganisatorisc hen Kapazitaten (Iernende Orga nisationen} sowie das institutionelle Umfeld. Die Aggressions-, Gewa lt und Konfliktursachenforsc hung bietet eine Vielzahl von Erklarungsmodellen und T heor ien tiber die Entste hung vo n Aggressionen und gewalttatigem Verhalten . Viele verfOgen nur tiber eine begrenzte Erklarungskraft und Reichweite, manche weise n nur eine ger inge Plaus ibilitat auf, fast aile entstam men jedoc h dem Kultu rkontext der entwickelten westlichen Lander. Ungeklart ist im Grunde, wieweit sie auf die Situationen in Entwicklungslandem anwendbar oder Obert ragba r sind und welche Erklarungsreleva nz
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ihnen fur Jugendgewalt in diesen La ndem zukommt. Es besteht somit dringender Bedarf daruber nachzudenken, welche Relevanz den hier vorgestellten Kon zepten zukommt, welche ErkHirungskraft sic in untersch iedlichen kulture1len Kontexten besitzen , ob ihre Pramissen sich Ilbertragen lassen und welche Aspekte der theoretisch en Erklarungsa nsa tze quasi eine transkulturelle Gt iltigkeit besitzen. Es musse n die zen tralen Risikofaktoren bestimmt werden, die Gewalt uberhaupt wahr sch einlich mec hen, und sodann ihre differentiellen Effekte im Hinblick auf die Dauerh aftigkeit, die Eskalatio ns- und Dee skala tionspot enziale und die Beendi gungsm oglichkeiten vo n Gewalt in versc hiedenen Alt erstufen erfasst werden. Es sollten aber auch jene Faktoren identifiziert werde n, die am besten gegen Jugend gewalt schutzen. Weiterhin fehlen nicht nur verlassl iche Langsschnittstudien, die das mcgliche Spektrum an Risiko- und Schutzfaktoren eva luieren und demit das Wissen tiber die Entwicklungsve rlaufe vo n Jugendgewalt verbessern , so ndern auch solehe, die sich mit der Wirkungsmessun g vo n Interv enti onen in der Jugendphase beschaftige n. Die Ge nderproble matik muss in zuktinfligen Analysen zur Ju gend gew alt unbedingt sta rker als bisher ber ticksic htigt werden. Frauen sind in der Regel vo n Gewalt doppelt und dreifach betroffen , sie haben weit starker unter den FoIgen vo n Gewalt zu leiden als j unge Manner , und sie sind aufgrund mange lnder Recht e in vielen Bntwicklungslandem hauflg wehr - und sc hutzlos. Es fehlt aber auch an Informationen Ilber die Rolle, Motive und Hintergrunde des Au smaBes der Beteiligung vo n Madchen und j ungen Frauen an Gewalt. Sodann bedarf es dringend eines verbesserten Verstandni sses der Wirkun gsweise sozialer und o konomischer Faktore n fur eine Reduktion vo n Gewalt, und zwa r insbes ondere vor dem Hinrergrund gro Ber sozialer Ungleic hheiten, sc harfer Einkommenskonzentra tio nen und weit ver breite ter Armut. Bildung und Erziehung sind offensic htlich w ichtige Variablen , die langfri stig zum Abbau von Gew altbereitsc haft und zur Delegitimierung vo n Gewa lt beitragen konnten. Aber ges icherte Erkenntnisse tiber diesem Zusa mmenhang gibt es bisher nicht. Gleiches gilt im Ubrigen fur die Wirksamk eit von speziell a uf die Situation von Jugendlichen in Entwicklungslandern ausgeri chteten Katal oge zur Gewa ltp ravention und die Effektivitat vo n Praventionsstrategien . Die bisherigen Erkenntnisse tiber die entsprechenden MaBnahmen sind bisher nicht se hr umfangreich und zude m widersprilchlich. Obwo hl es kaum moglich sein diirfte, Jugendgewalt (zumindest in grogere m StH) a ufgrund ihrer vie lschichtige n Ursachen und vielfaltige n Forme n zu pro gnostizieren , lassen sic h doch aus den theorelischen Ergebnissen zumi ndest Erkenntnisse gewinnen, unter welch en Umstanden und Bedingungen Jugendliche mit einer hohen Wahrscheinlichkeil zur Gewa ltanwe ndung neigen. DiesbezllgIich sollte die Modellbildung unter Beriicksicht igung der wichtigsten Va riablen und dem Ziel einer gewissen Prognose fahigkeit vora ngetriebe n werden, urn zu
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einer moglichst fruhzeitigen Identifizierung von sag. hot spots zu gelangen. Dies ist nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil die Gesamtkosten von Jugendgewalt fiir einzelne Gesellschaften betrachtlich sind und sie die moglichen Kosten fi ir Praventionspolitiken bei weitem ubersteigen. Prevention von Gewalt ist nicht nur besser, sondern auch kostengiinstiger als die Konfliktintervention oder Konfliktnachsorge.
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Zwischen Akzeptanz und Widerstand Jugendliche Lebenswelten im kolumbianischen Biirgerkrieg Silke Oldenburg
" Wir wusslen nicht, ob wir es mit Paramilitiirs, Guerilleros oder dem Militiir zu fun hauen, die hinter aUem standen. Das war nicht klar. Aber wir nannl en die Leu te, die toten " Sicarios" , hie" in Altos nennl man sie .Kapuzenmanner ", Das war dann so, doss ihr Chefzu einem der J ungs sagle, " Geh und tote diesenJungen, der Leonardo heipt." Tja, und urn dann sicherzugehen, doss sie auch den richtigen Leonardo erwischen, haben sie sicherheitshalber gleich funf Leanardos umgebracht. Do hob ich mir gewiinscht, einen gam anderen Namen zu haben. " Der neunzehnjiihrige Leonardo lacht sarkastisch. .. Wir hauen grope Angst, wei! wir unsere Freunde 10 1 in den Strop en [anden. Den Sahn der Nachbarin haben sie ne ben unserem Haus umgebracht. Es wurde immer unsicherer, und die Ang st stieg . Es gab keine klaren Regeln. Man wusste nicht einmal, warum die J ungs getotet wurden; es hiep, die waren in einer Bonde.. .." (Leonardo, 19 Jahr e, vertrieben aus Tumaco I Nariiio} Die 15-jahrige Laura fragt mieh im Laufe ei nes samstaglichen Workshops, ob ich es gut vertrage, Blut zu sehen. Ich sehe sie erstaunt an und frage nach ihrem Interesse. Sie erklart , dass sie gerne Blut sehe und spater einmal Gerichtsmedizineri n we rden mochte. Ieh frage sie warum. Sie erza hlt, dass sie scho n viele Tote gesehe n habe und ihr Vater mit sieben Schusse n hingerichtet wurde in ihrem Heimatdorf im Department Tolima. Dieser Mord war Ausloser fur die Vertreibung von Lauras Familie, die sieh vor drei Jahren in Altos de Caz uca angesiede lt hat und seitdem versue ht, ihr Leben in dieser konf1iktiven Umgebu ng z u orga nisieren.
1. Vor der Gewalt getlohen? Von der Gewalt eingeholt! Leonardo und Laura sind zwei Jugendlic he in Altos de Caz uca, einem Stadtslum sudlich vo n Bogota, der hauptsachlich von Binne nvertriebenen besiedelt und vo n Paramilitars dominiert ist. Dieses Viertel vermittelt einen Eind ruek vo n kol umbia nischen Gewaltverhaltnissen, ist Anlaufstelle und Fluchtpun kt fur vom Krieg v ertriebene, poli tisch Verfolgte, von Arm ut Gebeute Ite. Gleichzeitig ist Altos de Cazuca aufgrund seiner geostrate gisehen Lage vor den To ren Bogot as ein idealer Stand ort fur diverse bewaffnete Akteure, die diose periphere Zone zu einem .urbanen Mikrokosmos der Gewalt" werden lassen. Der Slum ist in diesem Sinne Ind ikator uferloser und ehaotischer Urbanisierung, sozialer Fragmentierung und preka-
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rer Staat lichkeit. Diese sozia le Struktur biindelt auf kleinem Raum viele extrem e und intensive Lebenserfa hrungen, Lebensformen sow ie soziale Organisations muster. Leo nardo und Laura sind zwe i Jugendliche, die ihr Leben in diesem Viertel orga nisie ren. Heide wurden durch Binnenvert reib ung, als strategischer Konstante des kolumbianischen Konfliktszenarios, aus ihren Heimatregionen vertriebe n. Beide haben erfahren, was das Auseinanderbreche n der Familie, der Verlust des sozialen Netzes und A ngst bedeuten. Seide sind in Altos de Caz uca erneut mit einem Ke nffiktkontext konfrontiert: Die St rukturen der Gewalt, vor denen sic tliehen mussten, haben sic in ihrem urbanen Fluchtp unkt wiede r eingeholt: 1m Zeitraum vo n 1999 bis 2003 wurden in Altos de Caz uca 319 Jugendliehe Opfer sog enannter sozialer Sa uberungen. Mehr als vier Jahrzehnte bewa ffneten Konfl ikts heben Kolu mbien von anderen Krisen- und Kriegsregionen ab o Diese Lang lebigkeit deutet der Soziologe Peter Wald mann als eine .Verallragllchung der Gewalt'' (vg l. Waldmann 1997). Wald mann argu mentiert, dass die Sozialisation in Konfliktkontexte n die Bere itse haft, auf Gewall als Mittel der Interessensdurehsetzung zu rekurrieren, fo rdere; letztli ch seien aile gesellsc haftlichen Sp haren vo n Gewalt du rehzogen. In diesem Sinne charakter isiert Waldmann die "Gewalt" als ,,anomisch", als ein .jur jedermann verfligba rets} und fur aile mog licben Zwecke ben utzte(s) Durchsetzungsmi ttel ." (1997: 14lf.) Besonders Jugend liche treten in konfli ktiven Kontexten in den Vo rdergrund, sie sind gleichsam Op fer und Tater, werden , wie es d ie Aussage Leonardos zeigt , als A uftragsmorder ben utzt oder schlieBen sich in Banden zusammen. Andererseits werde n Jugendliche haufig zu wehrlose n Opfe rn degradiert , als unsc huldig, passiv und abhang ig wa hrgenomme n. Kennzeichnend fur diesen Blick auf Jugend ist die A uskJamme rung der Jugendliehen se iber . J ugendliche sind strukt urell unsichtbar und treten oft erst dann ins Rampenlic ht, we nn sie sie h bewaffnen und gesellsc haftlich e Normen durchbrechen. Abe r wie se hen sie sic h selbst in diese m Konfliktgefuge , we lche Perspe ktive n und Visionen, Tra ume und Angste haben sie , und wie interp retie re n und integrieren sie die sie umgebenden Handlungsbegrenzun gen in ihre m Leben? Diese Fragestell ungen ware n leitend fur die ethnologise he Feldforsehung, die ieh vo n Jul i bis Oktober 2004 in Altos de Cazuca d urchfuhrte . In diesem marginalen Viertel an der Stadtgrenze zu Bogota leben se hr vie le vom kolumbianischen Btirge rkrieg vert riebene Menschen. Beso nderes A ugenmer k der Fo rschung lag a uf den Biographien vo n jugendlichen Binnenvertriebenen, die durch Gewalterfa hrungen und Krieg sozialisiert wurden. Ubergeordnetes Erkenntnisinteresse war anhand der Erfah rungen diese r Jugendlichen zu eruieren, inw iefern J ugendl iehe das Pote nzia l besitzen, Konfli kt entweder zu dynamisieren oder zu reduzieren. In diesem Si nne fokussierte ich sc hwe rpunktmafsig j ugend liche Binnenvertrieben, die teilweise Familienangehorige verloren haben ode r aus Angst vo r direkten Todesdrohunge n bzw. aus Furcht vor Zwa ngs rekrutierung ihre Heimat ver lassen mussten. Durc h
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qualitative Interviews und .Jei lnehmende Beobae htung" untersuehte ieh Biographien und Lebensverhaltnisse diese r Jugendliehen und ging der Frage nach, inwieweit sich das Aufwachsen in Kontexten von Gewalt und Konflikt auf den Alltag der J ugendlichen auswirkt. Laura und Luis sind zwei von 30 Jugendlichen, mit denen ich tiber diese n Forschungsze itraum fast taglich Kontakt hatte. Oer Aktionsradius dieser Jugendlichen in einem systemischen Konfliktgefiige, ihre Handlungsbegrenzungen, aber auch die vielfaltigen Uberlebensstrategien, werden anhand der empirisch gewonnen Daten bei zwei lokalen Nichtregierungsorga nisatio nen verdeutlic hr, zum einen bei der Menschenrechtsorganisation FEOES (F undaci6n para la Educaci6n y el Desarrollo; Stiftung fur Bildung und Entwicklung) , zum anderen beim Ta ller de Vida (Lebe nswerkstatt), die einen psychosozialen Ansatz verfolgt und den Auswi rkungen und Folgen des Krieges mit kunstlerisc h-sple lerische n An satze n beizukommen versucht. Zur Erfassung des weitere n Kontextes sowie zur Abgleichung meiner Eindriicke fiihrte ieh erganzend Experteninterviews mit kolumbianischen Akadem ikern und NGO-Mitarbeitern sowie problemzentrierte Interviews mit der nieht-jugendlichen Bevolkerung von Altos de Cazuca. Meine Ausfllhrunge n widersprechen den Befunden Waldmanns und demonstrie ren, dass Gewaltstrukturen nicht nahtlos ineinander ubergehen oder sich zwangsla ufig reproduzieren. Die diehotome Kategorisierung von Jugendli chen als Sundenbocke oder Unschuldslam mer blendet die heteroge nen Lebenswelten von Jugendlichen aus, die sich auf unterschiedliche Weise mit dem sie betreffenden Konfliktsetting auseinandersetzen: sich mit ihm arrangieren, ihm entfliehen oder vers uchen, ihn zu verandem. Gerade Jugendliche konnen Gegenstrukturen gegen die sie umgebenden Gewaltverhaltnisse entwickeln, indem sie Altemat iven fur eine gewaltfreie Zukunft suchen. Hierdurch werden sie jedoch zur Bedrohung des herrschenden Gewaltsystems. Durch ihre Weigerung, sich nicht in die Gewaltstrukturen einzupassen und vom bewaffneten Konflikt vereinnahmen zu lassen, bedrohe n sie das profitab le Geschaft derje nigen Gewa ltunternehmer, die ein Interesse an der Langlebigkeit des Konfliktszenarios besitze n. lch mochte in diesem Beitrag besonders drei Punkte herausarbeiten: Zunachst geht es urn eine strukturelle Analyse des kolumbianischen Konflikthorizonts unter Bezugnahme auf die Theorie des "Gewaltmarktes" des Ethnologen Georg Elwert. Es werden Mechanismen und syste minharente Faktoren identifiziert, die zur Langlebigkeit des KonfIiktes beitrage n. Mit Bezug auf das spezifische Setting im Viertel Altos de Cazuca werden diejenigen Elemente herausgearbeitet, die in Altos de Cazuca einen Mikrokosmos der Gewalt etablieren. Speziell die Strategie der .sozlalen Sauberung" als Instrument der Einschlichterung der Comunidad im Allgemei nen und der Marginalisierung der Jugendlichen im Besonderen wird dabei im Mittelpunkt ste hen. Beleuchtet werden die famil iaren und gesellschaftliehe n Rollenmus ter sowie die konkreten Lebenssituationen der Jugendlichen unter Einbeziehung ihrer Vert reibung als pragendem Erfahrungshorizont. Der dezidierte Blick auf Jugendliche sowie der Fokus auf ihren jeweiligen Aktionsradius entschliisselt ver-
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schiedene Verhaltensmuster sowie deren Einbettung in den gegebenen Konfliktkontext. Deutlich wird, dass die Bandbreite ihrer Handlun gsmoglichkeiten weita us groger ist , als Jugendlichen generell zugesta nden wird. AbschlieBend wi rd hervorgehobe n, wie anhand einer performativen Heran gehensweise Sel bstbew usstsei nsproze sse von Jugendl ichen gestark t werden kon nen. Die kiinstlerisch-spielerische Ausei nandersetzung mit Kontlikten zeigt beispielhaft, welche Hoffnung und Krea tivitat den J ugendlichen, die im offentlichen Diskurs grobtenteil s als Arme, Deli oquen te oder Drogenslichtige wahrgenommen we rden, trotz alief Gewalterfahrungen geb lieben ist, und auf welchen w egen sic aktiv vers uchen, gegen die herrschende Konflikt situation aufzubegehren und diese zu uberwinden.
2. Sundenbacke und Unschuldsla mmer Jugendliche haben eine ambivalente gesellschaftlic he Position inne: Sie werden einerseits idea lisiert und romantisiert, andere rseits verteufelt und fiir gesellschaftliche Probleme jeder Art vera ntwo rtlich ge macht (Co marofflCo maroff 2005; Drack le 1996) . Sie gelten als Makers und Breakers, Vanguards or Vanda ls (Hon wana/de Boeck 2005, Abbin k/Van Kessel 2005) ode r als Stree t Corner Society (Whyte 1981), sie pragen unterschiedliche Jugendk ulturen und Stile (Hebdige 1983; Liebel 1996; Weller 2003), sind heterogene Akteure, umgeben von komplexen Lebenswe lten (LuigiSeebode 2003). Ihre Identitat ist haufig durch prekare Lebensumstande gepragt, sie fiihlen sich zerrissen zw ischen Tradition und Modeme und bew egen sich in einem Raum flie6ender Grenze n, zwischen multidimensionalen Spannungsfeldem von T raumen und Realitat (de Boeck/Pli ssart 2004; Engel/M idde I12005 ). In der Ethnologie wurden Jugendliche historisch oftmals auf exotisc he Initiati onsriten reduziert . Das Hauptint eresse lag auf Ritualen, die den Ubergang zw ischen Klndheit und Erwachsenenleben symbolisch markieren, und fixierte so mit die Zeit der Adoleszenz als Ubergangspbase , die bestimmten naturbedin gten Entwic klungsprozessen unterlag, also ess entialistisch interpretiert wurde. Jugend in .ande ten" Gese llsc haften wurde romant isiert und zum kritische n Verglelch rebellischer Jugendlicher in der eigenen Gese llschaft herangezogen. Signifikant ist die Dichotomisierung von Jugendlichen, denen kau m je mals eine genuine Kreativitat zuerkannt wird, so dass sie Kultur lediglich durch Sozialisation zu adap tieren scheinen, oder sie we rden als Bedrohung fur die gesellschaftliche Koharenz wahrgenommen. Ein so lcher Blick auf Jugend weist ihnen einen Platz an der Peripherie z u, wah rend die Welt der Erwachsenen im Zentrum steht. Durch die Heterogenitat ju gendlich er Lebe nsweisen und Stilfo rmen wird ein e allge meingiiltige Definition von Jug end schwe r. In diesem Artik el o rientiere ich mich am Ansatz der Ethnologen Luig und Seebode (2003), denen zufo lge Jugend als sozio kulturelles Phanomen verstanden wird, das ein bestimmt es Lebensalter umfasst, von einer soziokulturellen Pragung der jeweiligen Gesellschaft ausgeht
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und bestimmte Parameter wie zeitliche und loka le Aspekte beriicksic htigt. w esentlich ist bei Luig und Seebode die Zuerkennung einer sozia len Interaktio n: Jugendliche sind als soziale Akteure eingebunden in bestehende gesellschaftliche Machtkonstellatione n und nicht a priori ausgegrenzt. Die Lebenswelt en von Jug endlichen sind dynami sch und unterliegen somit standigem Wandel. Insofem kommt es haupt sach lich in urbanen Kontexte n zur kontinu ierlichen Entwicklung neuer Stile und Subkulturen (Drackle 1996 : 13), die mit eigenen kuhu rellen Codes, Ritualen und Artikul ationsfo rmen einhergehen. Gender, Ethnizitat oder Konsum sind Bestandteil identitare r Ausha ndlungsp rozess e iiber die sich Jugendliche gesa mtgese llschaftlich situieren. Entscheidend ist , dass die Selbstwa hrnehmung von Jug endlichen oftmals von der allgemein dominanten Lesart abweicht. Jugendliche kdnnen demnach riicksicht slose Tater , aber auch we hrlose Opfer sein. Hauflg jedoch ver binden sie mehrere dieser Position en in einer Person, weshalb heterogenen Lebenswelten , der Bandbreite jugendlicher Ver haltensweisen , Rollen und auch die verschiede nen Statusfonnen einzubeziehen si nd, ohne einfach normative Kategorien von "guten" oder .schtechten" Juge ndlichen zu reproduzieren. Zentral ist die Anerkennung von Jugendlichen als ratio nal hand elnde soz iale Akteu re. Zwischen Diskursen von .A gency" ode r "Victimhood" geht es also urn die Anal yse jugendlicher Realitaten und ihrer ent sprechenden Ausdrucksformen , die bestandi gem Wand el unterliegen (Hart/Tyrer 2006 ; Abbink/Va n Kessel 2(05).
3. Konfliktpanorama Kolumb ien In Kolumbien wird seit 40 Jah ren ein innerstaatlicher bewaffneter Ko nflikt zw ischen Guerillagruppe n und staatlichen Organen mit Unterstiitzung von param ilitarischen Verbanden ausgetra gen. Der Biirgerkri eg zeichn et sich vor allem du rch seine Vielschichti gkeit und Hartnacki gkeit aus : Diverse bewaffnete Akteure und prekare staatllche Strukturen, beschrankte politi sche Partizipation breiter Bevolkerungsteile, Landrechtskonflikte und groBe wirtschaftliche Ungleichheit, Drogenokonomle, Kindersoldatentum, EntfU hrungsindustrie sowie eine eklatante Zahl von Binnenvertriebenen stehen stichwo rtartig fi lr eine komple xe Konfliktland schaft, in der Me nschenrechtsverletzungen und humanitare Notlagen an der Tagesordnun g sind. Die Amalgamie rung diverser Gewa lttypen (politisch - sozial - krimineU; vgl. Kurtenb ach 2(XJ4). verweist auf ein komplexe s Geflecht an Akteuren mit unterschiedlichen Interessen sow ie auf ganz versc hiedenartige Erklarungs- und Ana lysemode lle (Staatszerfall, demok ratische r Friede n, Greed and Grievance; vgl. Helfrich/Kurtenbach 2(06). Zur Erklarung dieses Phanomens stutze ich mich haup tsachlich auf den ko ntlikt 6konomischen Erklarungsansatz des Gew altmarkts (Elwert 1997). Das Modell des Gewaltmarktes verdeutlicht die Dauerhaftigkeit des kolumbianischen Kontliktes und hilft am konkreten Beispiel Altos de Caz uca plau -
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sibel zu mechen, anhand welcher Leitlinien sic h Gewalt im lokalen Raum reproduziert, auch wenn betont sein soll, dass sic h der kol umbianische Konflikt aufgrund seiner Komplexitat nicht allein dUTCh monoka usale ErkHirungsmodelle fassen lasst.
3.1 Genese und historische Einbettu ng des Konjlikls Die aktuelle Gewaltsituatio n kann nieht losgelost vom kom in uierl ich en Prozess politischer Frag ment ieru ng sowie de r politischen, kulturellen, sozialen und okonomi sche n Exklusion breiter Bevolkerungsteile analysiert werden. Gerade die Langle bigkeit des Konfl iktes ver langt eine historische Einbettung, und eine Ana lyse im Si nne der "Neuen Kriege" (vgl. MURkier 2002; Kaldor 200 1) ware verkurzt, auch wenn die Kemelemente Verselbststandigu ng, Asymmetrisierung und Bntstaatlic hung von Gewalt fur den kolumbianischen Fall zutreffen. Allerd ings verweisen die Dauerhaftigkeit und Transfo rmatio n von Konfli ktdynamiken eher auf das Gegen teil vo n .neu''. Denn sc hon der literarische Klassiker .Hundert Jahre Einsamkeit'' von Gabriel Garcia Marquez ve ransc haulichte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ei ne komplexe Geme ngelage bewaffneter Konstellationen, die ihre Artikulation im Krieg de r Ta usend Tage ( 1899-1901) oder in der Phase der so ge nannten Violencia (1948·1957) fand . Bewaffneter Klie ntelismus (Kurtenbach 2004) durc hzieht die kolumbianische Gesc hichte, obwohl sic h das Land riihmt, eine der altesten und stabilsten Demokratie n Latei namer ikas zu sei n. Bis auf ei ne kurze Unterbrechung durch die Militarregierung des Generals Rojas Pinilla ( 1953-1957) kamen aile Regieru ngen auf der Basis formal demo kratischer Wahlen zustande. Doc h wo vo n augen das Labe l .Demokratie" anhaftet, besteht zu erhebliche n An teilen ei n von innen ausgebob ltes Machtvak uum, das auf die Fragilitat staatl icher Strukt ure n verweist. In diesem Si nne muss die Oualita r von Wahlen hinte rfragt werden. Einschiichterung und Ermo rdung von Kandidate n haben ei ne lange Tradition im Ande nstaat und reichen bis ins 19. Jahr hund ert zuruck. Die Ko ntinuitat und Starke des soz iopo litisc hen Mac htgefuges lokaler Elite n (seie n es Grobgrundbesitzer ode r bewaffnete Akteu re, die eine Zone dom inieren) dechiffriere n w ahlverhalten und pclitische Unterstutzu ng als Farce. Auch gege nwartig wi rd der Einfluss illegal bewaffneter Akte ure spurbar, wenn etwa bei Wahlen die Stimmabgabe fur bestimmte Kandida ten obligator isch wi rd (leG 2006 ; Leech 2007). Die Sta rke der regionalen Elite n ze ugt von den frag ilen Struktu ren des Staates. In diesem Zusamme nhang ist die Betrac htung Kolumbiens als geographischer Raum interessa nt. Denn das staatliche Territorium wird nicht gleich mafsig vom innerkolu mbianischen Kon flikt uberzogen, diese r tobt insbesondere in denj enigen Regionen und Zonen, in denen natiirlicher Resso urcenreichtum und eine geostrategisch giinstige Infrastruktur vorhanden sind. So kom mt es zu einer sta rken raumlichen Asymmetrie (Go nzalez et al. 2002): A ufgrund pote nter regio naler Elite n hat es der kolumb ianisc he Staat nicht vermocht, sein Gewaltmonopol auf das gesamte natio nale Territorium auszudehne n und einen mode me n Zentralstaa t zu ko nsolidie-
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ren. Carlos Vidales bezeichnet diesen Aspekt des kolumbianischen Konfliktes sehr treffend als "interne Expansion". Er bezieht diesen Terminus auf das fehlende staatliche Gewaltmonopol in Kolumbien, das verschiedene nicht-staatliche Akteure motiviert, diese staatsgewaltfreien Raume bzw. die internen Grenzen zu .erobem", mit dem Ziel, die eigene Macht zu etablieren, die dort originar ansasslge Bevolkerung zu dominieren und die vorhandenen Ressourcen auszubeuten. Die geographische Differenzierung des kolumbianischen Staates nach den verschiedenen Ressourcen und Standortvorteilen hat zu einer Zerfaserung des Landes gefuhrt. Die in Kolumbien (ko)existierenden verschiedenen Mikrokosmen beinhalten oftmals eigene Gesetze, eigene Werte und autonome Wirtschaftsstrukturen. Diese MikroZonen finden sich in geopolitisch und strategisch gunstigen Territorien, vor allem in peripheren, ruralen Gebieten, in denen der Staat keine umfassende lnfrastruktur und Logistik (Eppler 2(02) etablieren konnte oder wolhe. Dabei lst Kolumbien aufgrund seiner Ressourcenausstattung sowie seiner Flora und Fauna ein reiches Land. Die Ressourcenvielfalt konnte die Basis fiir ein gutes Wirtschaftspotenzial sein. Gleichwohl ist der Gini-Index sehr hoch (CIA World Fact Book 2008), der Zugang zu den Ressourcen vielerorts begrenzt, was auf die soziale Problematik des Konflikts verweist. Zu den Ressourcenvorkommen zahlen 01, Nickel, Mohn, Koka sowie Gold und nicht zuletzt die zweitgrojste Ansammlung an Smaragden weltweit. Diese naturlichen Gegebenheiten bieten jedoch noch keine Erklarung fur die bewaffneten Auseinandersetzungen, sondern bilden lediglich infrastrukturelle Erleichterungen und Anreize fur die Gewaltakteure. Verschlungene Flusslaufe, dicht bewachsener Regenwald und weitlaufige Savannen erleichtem den unkomplizierten Schmuggel von Waffen und Drogen, den Anbau von Drogen wie Koka und Mohn, und ermoglichen die bequeme Nutzung versteckter Stutzpunkte. So sind denn auch ressourcenreiche Gebiete besonders umkli.mpft und eine Ursache dafur, dass der Konflikt traditionell im ruralen Raum ausgetragen wird. Laut Alfredo Rangel resultiert hieraus eine Einteilung in vier Kategorien von Gewaltraumen (Rangel 1999: 41): erstens gibt es jene Landkreise, die unter der Kontrolle der Guerillagruppen stehen; zweitens solche unter der Herrschaft der Paramilitars; drittens Raume, in denen der Staat sein Gewaltmonopol verwirklicht ; und viertens Gebiete, die von mehreren Gruppen umkampft sind, die also praktisch direktes Kriegsgebiet (sogenannte rote Zonen) darstellen. Die verschiedenen lnteressen, die es auf die jeweiligen Ressourcen abgesehen haben, verdeutlichen zugleich auch die Korrelation von Gewalt und Rohstoffreichtum als Katalysator von Konflikten.
3.2 Gewaltmiirkte als zweckrationale Handlungsriiume Der Ethnologe Georg Elwert beIeuchtet Konflikte anhand eines konfliktokonomi schen Erklarungsmodells. Gewaltmarkte im Elwertschen Sinne entsteben oftmals durch nicht-wirtschaftliche Faktoren, tragen jedoch durch profltorientierte Handlungskalkule zur Langlebigkeit von Konflikten bei und bilden zur Verstetigung und
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Stabilisierung ihrer oko nomischen Vorteile autonome soziopolitische Systeme aus. Zweckrational agierende Kriegsherren, Gewaltuntemehmer oder Warlords genannt, bestimmen die Gewaltmarkte, indem sic zielg erichtet und mit Hilfe eines organisatori schen Netzwerks cder dUTCh KJientelismu s das staatliche Gewaltmonopol durchbrechen bzw. "gewaltoffene Raume" nutzen und besetzen , in denen .Jcein e feste Regeln den Gebrauch der Gewalt begrenzen" (Elwert 1995: 126). Hierdurch eroffnet sich ihnen die Moglichkeit , wirtschaftlichen Gewinn , finanziellen Profi t und territoriale Macht zu erlangen, mit Hilfe derer sie das staatliche Gewaltmonopol infiltrieren und aushebeln kormen . Die Akteure auf Gewaltmarkten streben vor aHem eine Gewinnmax imierun g an und intendieren durch expansiven Charakter eine Ausdehnung der eigenen Macht zone mit dem Ziel weiterer Ressourcen ausschopfung. Diese spezielle Form des Wirtschaftens bringt ihnen den selben oder sogar einen groBeren Nutzen ein w ie legale wirtschaftliche Tatigkeiten (Elwert 1997: SSf.). Bedingung fur die Etabli erung eines Gewaltmarktes Ist das Zusammentreffen vo n gewaltoffenen Raum en, gewinnbringenden Ressourcen und Zu gang zu Ab satzmarkten. Daruber hinaus ist fur Gewaltmarkte das Element Zeit von Bedeutung: Durch Planung und Planbarkeit verfe stigt sich das systeminharente Kalkul sowi e die innewohnende Logik der GewaIt, was den oft heraufbeschworenen Emot ionen von Rache und Hass widerspricht, die laut Elwert von den Kriegsherren zu ihrem Nutzen instrumentalisiert werden. Der wichtigste Faktor im Modell vo n Elwert ist jedoch der Hand el, der allerdings nicht dem gangigen Handel entspricht, sondem eine gesell schaftsdurchdringende Dimen sion besitzt und primar als lnteraktion zu sehen ist. Von groBer Bedeutung sind dabei nattirtiche Ressourcen, je leichter die se absetzbar sind und je groBere Gewinne man damit erzielen kann , desto lukra tiver ist der Handel. Der Handel wird hauptsachlich durch wertvolle Rohstoffe und W aren wie Diamanten, Smaragde ode r Drogen und Waffen bestimmt. Vorteilhaft ist hierbe i die leichte Handhabbarkeit sowie der relativ giinstige und unkomptizierte T ranspo rt diese r Waren. Auf diese Weise kann groBer Gewinn mit minimalem Aufwand erzielt werden. Hinzu kommt das Kassieren von Schu tzgeldern oder ZOIlen sow ie Geiselnahmen, die in vielen Gewaltmarkten groBe Bedeutung erlangt haben (Elwert 199 7: 88). Gewa ltmarkte betreffen also das Leben der Gesamtbevclkerung innerhalb seines Wirkungsraumes. Es bleiben kaum andere Handlungsoptionen , als sich in die Strukturen des Gewaltmarktes zu integrieren und sich dessen Funktionsprinzipien anzupassen (Elwert 1995 : 133). Dies geschieht beispi elsweise in Form von Soldnertatigkeiten (z.B. direkte Gewalt, Spionage od er militarische lnfrastruktur) oder durch Arbeit (z.B. in der Coca-Ernte und Vermarktung) (Elwert 1997: 92f.). Elwert sieht in der dem Gewaltmarkt unterliegenden Zweckratio nal itat eine strukturbildende Kraft und hebt sie als die Dauerh aftigkeit entscheidend fordemden Faktor hervor.
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3.3 Die Alaeure im bewaffneten KQnjlikt Die traditionellen Eliten der Liberalen und Konservativen haben in Kolumbien ein System extremer Vngleichheit bei der Landverteilung zementiert, bei dem vo r allem die indigene, die afrokolumbianische und die originar bauerliche Bevclkerung vom Reichtum des Landes ausgeschlossen wurden (Bello 2004 : 20). Versuche sozialer Reformierung, insbesondere eine gerechte Agrarreform, wurde durch die GroBgrundbesitzer und Eliten verhindert, was die soziale Situation in Kolumbien verscharfte und die bestehende soziale Kluft vertiefte. Die Asymmetrie in der Verteilung von Ressourcen flihrte zunachst zu einem ideologischen Kampf, in dessen Verlauf sich Mitte der 1960er Jahre die bekannteste der existierenden Guerilla gruppen, die FARe (Fuerzas Armadas de Colo mbia - Revolutionare Streitkrafte Kolumbiens), nach marxistisch-maoistischem Selbstverstandnis griind ete, um gegen die Vnterdriickung der Landbevolkerung durch die GroBgrundbesitzer aufzubegehren. Ebenfalls 1964 griindete sich die ELN (Ejercitc de Liberacion Nacional - die Nationale Befreiungsarmee), die ihre Unterstutzer und Sympathisanten vor allem aus dem stadtintellektuellen Milieu rekruti erte. Mit der Frontfigur Camilo Torres, einem jungen Priester, der der Befreiungstheologie anhing und der sich 1966 fUr den bewaffneten Kampf entschied, jedoch gleich im ersten Gefecht fiel , pragte die ELN eine populate Ikone, einen Mythos , der in weiten Teilen des Lan des als Symbol ein es Kampfes " David gegen Goliath" fungi ert (Nieto 2004 : 6). Als bewaffneter Opponent der Guerilla gelten die Paramilitars , die sich ebenfalls seit den spateren 1960er Jahren, durch Drogengelder finanziert und vo n GroBgrundbesitzem ausgerilstet, als Gegenguerilla prasentieren. Paramilitarische Srrukruren haben in der Geschichte des Land es eine lange Tradition. Schon in der Zeit der "Violencia" wurden von den Kon servativen bewaffn ete Banden, die so gen ann ten pajaros (Vogel) engagiert, urn wirksam gegen Oppositi onelle vorzugehen . 1m Rahmen der Friedensverhandlungen mit der Regierung Alvaro Uribe Velez hat sich die Dach organisation der Paramilitars, die Vereinigten Selbstverteidigungsgruppen Kolumbiens (AVC), seit 2002 offiz iell aufgelost und dem obili siert. Allerdin gs Ubemahmen neue bewaffnete Gruppen die paramilitarischen Strukturen, so dass sie als " Neue Gene ration " der Paramilitars bewe rtet werden. In Alto s de Caz uca operiere n beispielswei se die Aguilas Negras, die die paramilitarische Struktur Ilbernahmen, in Bogota der Bloque Metropolitano . Sie dekl arierten soz iale Bewegungen und Menschenrechtsorganisationen zu " militarischen Zielen" (El Espectado r 21.03.2(08).
3.4 Binnenverlreibung als Strategie der Gewalt Die Vertreibung der Zivilbe vdlk erung ist eine direkte Kriegsstrate gie der bewaffneten Akteure zur Kontrolle strategisch wich tiger Geb iete und zur Dominierung der dort lebenden Bevolkerung. Da der kolumbianische Konflikt haup tsachlich den
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ruralen Raum betrifft , gibt es keine steten Fronten; diese wandem vielmehr und Kampfe konzentrieren sich zumeist in den okonomisch wichtigen Gebi eten (Pizarro 2003 : 8). Sign ifikant ist dabei, dass der bewaffnete Konflikt weniger zwischen Guerilla und Paramil itars ausgetragen wird, sondern dass sich die Gewalt beider bewaffneter Akte ure gegen die Zivilbevolkerung richter, die somit zurn direkten Objekt der Kriegsftihrung wird (COD HES 1999; COD HES 2000; HRW 2007) . Davon zeugt auch das folgende Zitat: " No hay desplazados porque hay guerra, sino que hay guerra para que haya desplazados " ("es gibt keine Vertriebenen, wei! es Krieg gibt , sondem es gibt Krieg, weil es Vertriebene geben soli) (Mondragon 2(00). Es verdeutllcht eindriic klich die Bezie hung zwischen Gewalt und Vertreibung in Kolumbien. Es geht um die Herrschaft in ressourcenreichen und strategisch wic htigen Regionen zum Zwecke der Profitmaximierung . Die Vertreib ung ist demzufolge dort am groBten, wo das staatliche Gewaltmonopol am schwachsten und die Resso urcen am lukrativsten sind (Bello 2004 : 20). Dies impliziert zum einen die Notwendigkeit der illega len Akteure, sich loyale Arbeitskrafte zu sic hem . Wichtig fur eine erfolgreiehe Prod uktion und Kommerzialisierung ist vor allem die Implemen tierung von soziopolitischen Regeln, Werten und Nonnen, denen sich die Zivi lbevolkerung unterzuordnen hat. Zum anderen wird auf Perso nen, die W iderstand leisten oder sich weigem, mit de n bewaffneten Akte uren zusammenzua rbeiten, oder diejenigen Perso nen, die verdachtigt werden, mit dem Feind zu kollaborieren, die filr ihre Rechte kampfen und ihr Territorium nieht verkaufen wollen, Druck ausgeubt und in vielen Fallen werden sie vertrieben. Dabei sind es nicht ausschlieBlich die iIIegalen Akteure, die ein Interesse an Territorium und Ressourcen habe n. Auch der Staat interessiert sich fur bis lang unbeachtete Territorien, die er gewi nnbringend verkaufen ode r ausbeuten kan n. Beispielsweise nimmt das erdol reiche Depa rtament Ara uca im Nordosten Kolu mbiens eine wie htige strategische Rolle ein: Vo n allen bewaffneten Akteuren umkampft, vers ucht hier der kolumbianisc he Staat mit einer Machtdemonstration ohnegleiehen sein Monopo l durchzusetzen (ai 2004) . Hier manifestiert sich die Funktion des Parami litarismus in seiner ursp rung llchen Form: als Gara nt des Status Quo und zur Herrschaftssieherung der Eliten. Von ei ner Zusammenarbeit oder einer zumindest gewiss en To leranz zw ischen Militars und Paramilitars wird durchweg beric htet (HR W 2001 ; Romero 2003: 107) . Hier wird zugleich deu tlich , welche Rolle der Zivilbevclkerung im strukt urellen Gefuge des Konfliktes zu teil wird: Zum gefluge lten Wort ist die Wendung ,,En medio del conjlicto es dificil ser neutrat' (zwischen den Sc husslinien ist es schwer, neutral zu bleibe n) geworden. Zivilisten werden a priori zu verdachtigen, entweder durch die Verweigerung einer Zusammenarbeit oder ihre Kooperation mit einem der bewaffneten Akteure im kolumbianische n Konflikt. Die Bevolkerung hat dabei kaum andere Optio nen als die Dominanz eines Akte urs entweder zu akzeptieren, zu rebellieren oder zu fliehen (Lai r 2004 : 160; Ortiz 2004: 14). Letztlich geht es also urn Mach t, Einfluss und Ressou rce n, bei denen die
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Zivilbe volkerung von allen bewaffneten Akteuren als potenzieller Storfaktor, Hindernis oder als auszubeutende Arbeitskraft wahrgenommen wird.
3.5 Jugendliche im kolumbianischen Konflikt Jugendliche sind in vielfaltiger Weise in den kolumbianischen Burgerkrieg verwickelt. Schatzungsweise gibt es zwischen 11.000 und 14.000 Kindersoldaten (HRW 2003: 6; HRW 2(05) im Land. Die Zahl der jugendlichen Kombattanden ist stetig gestiegen . Jeder vierte irregulare Kampfer in Kolumbien ist junger als 18 Jahre (HRW 2003: 5), die Rekrutierung von Kindem von Seiten der Guerillas und der Paramllitars hat in den letzten Jahren zugenommen . Die Zwangsrekrutierung von Kindem und Jugendlichen steUt zugleich eines der Hauptmotive fur die Flucht in andere Landesteile dar. "Sie haben mir gesagt, dass mein 15-jahriger Sohn jetzt alt genug set, bei der Guerrilla mitzumachen. Sie luden ihn ein, urn ihn tiber den bewaffneten Kampf aufzuklaren und sagten ihm, er solie sich vorbereiten. Er sagte mir aber, dass er sehr viel Angst habe und nieht mit der Guerilla ziehen will. Daher haben wir beschlossen, fortzugehen." (Haidy 43, Unidad de Atencion a la Poblacion Desplaza da,28.9.04) Die Rekrutierung sowie direkte und indirekte Einbeziehung von J ugendlichen in den bewaffneten Konflikt verdeutlicht eindrucklich das Versagen des Staates, des sen rechtstaatliche Funktionen fur seine schwachsten Mitglieder nicht gelten. Aile am Konflikt beteiligten Akteure instrumentalisieren die Jugendlichen in vielerlei Hinsicht. 1m Zusammenhang der Diskussion urn die sogenannten ,,Neuen Kriege" zeigte sich, dass Jugendliche gerade im Einsatz gegen Antipersonenminen favorisiert werden und bequem KJeinwaffen tragen kdnnen. Diese Eingliederung in die bewaffneten Reihen versorgt die sehr gut ausgebildeten Kampfer mit gunstigem Kanonenfutt er. Neben dem direkten Fronteinsatz werden Jugendliche auch durch indirekte Mechanismen aktiv in den Konflikt eingebunden: So dienen sie bei spielsweise als Spione, Informanten, als .Haushalter" und Koche, Madchen werden hauflg zu sexuellen Diensten herangezogen. Ein weiterer .Pluspunkt'' der Jugendlichen fur die bewaffneten Akteure ist die Sieherung einer personellen Nachschubund Rekrutierungsbasis. Auch das staatliche Militar bedient sieh der Jugendlichen , beispielsweise im Rahmen des Projektes .Sotdatea fllr einen Tag", in dem J ugendHche an den Militardienst herangefuhrt werden, oder im Rahmen der von Aiva ro Uribe eingefuhrten .Politik der demokratischen Sicherheit". Diese Regierungsstrategie verwischt explizit die Grenzen zwischen Zivilisten mit Kombattanden und bindet 100.000 jugendliche .Bauemsoldaten" in den bewaffneten Konflikt ein (Coalicion 2005: 22; Coalicion 2007: 9). Die Kontinuitat des Konflikts wird also auch dutch die Einbeziehung der Jugendlichen gesichert. Die Jugendlichen in den umkampften Regionen gliedern sieh entweder in die verschiedenen verbande freiwillig ein oder sie werden zwangsrekrutiert. Hauflg
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fehlen ihnen Alternativen zum Krieg. Die herrschende Perspektivlosigkeit lasst ei nige ein Leben in den bewaffneten Gruppen bevorzugen, urn se iber Schutz zu fin den , eine Waffe zu fuhren , die Ernahrung zu sichern sowie Gehalt, Respekt und Pre stige zu erwerben. Die Jugendlichen betrachten daher die freiw illige Eingl iederung in die Truppen der Paramilitars oder der Guerilla haufig als ihre einzige Opti-
on. Die 17-jahrige Ana berichtet aus ihrem Heimatort Puerto Asis: ,,Es herrscht Angst, und wer Geld hat, geht besser, weil er die Hoffnung hat, sein Leben in einer anderen Gegend besser gestalten zu konnen. Aber; der, der weder Geld noch eine Familie hat, wo er hingehen kann, das einzige, was der vielleicht denkJ...also ich habe in meiner Klasse geme die anderen gefr agt, was sie nach ihrem Abschluss machen wolten, und viele haben gesagt " weif3 nicht, vielleicht gehe ich zu diesen Typen. " .Und warum ", habe ich gefragt. " Wei! dart, hat man alles, hier muss man eine Arbeit suchen, Geld fu r den Bus ausgeben und im Gegensatz dort, gibt es alles, sie haben Hauser, alles "... Sie sagten mir auch, dass sie geme gut gekleidet sein warden. die Paras sehen sie ja durch die Stadt laufen, die sind immer gut an gezogen...und wenn sie den Abschluss haben, um erstiuzen sie die Eltern nicht mehr, alles geht dann auf die eigene Rechnung, also sagten sie, es scheint nicht schlecht zu sein bei denen. .Don hat man ein Motorrad, man hat eine Waffe ". Und ich habe sie gefrag t: Und das ist das, was ihr wollt ? " Nein, das ist nicht das, was wir wollen, aber das ist das, was uns bleibt." (Ana, 17 Jahre, vertrieben aus Putumayo, 01. 09 .2004). Neben dem frei willigen Einsatz an der Front, werde n die Jugendlichen jedoch oftmals entfllhrt, betrogen und bedroht, urn mit den kriegfuhrenden Parteien mitzu ziehen. .Sie nehmen die Jugendlichen mit, es gibt viele Ex-Freunde, Kump el, die sind nicht mehr da, wei! sie gezwungen wurden, mitzugehen. Oder wie sagt man, sie werden bedroht, dass man sie totet, dass man ihrer Familie etwas antun wurde, und dann nehmen sie sie mit in ihre Reihen ." (Tatjana, 15 Jahre, kei n Vert reibungshintergrund, 15.09.2004) ,A uch in Altos rekrutieren die Paracos. Immer wieder verschwinden Jugendliche, mit Lastwagen und Jeeps werden sie abgeholt. Wir sollen auch Teii des Kon fli/ets werden. Man hat stiindig Angst, wei! man nicht weif3, wann die Reihe an uns oder um eren Familien ist:" (Ricardo , 15 Jahre , kein Vertreibungshintergrund, 15.09. 2004)
3.6 Die Verlagerung des Konflilas aufdie urbane Peripherie und die
Reproduktion der Gewallsituation Der bewaffn ete Konflikt in Kolumbien zeichnet sich durch betrachtliche Transformationen aus, die Konfliktdynamiken verl agem sich. Induziert dutch die Fluchtbewegungen vern Lande kommt es zu einem Ansch welJen der Stadt rander und da-
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mit auch zu einer Verlagerung der Fronten (Palacios 2002: 2£.). Mit dem Erstarken der Paramilitars vor allem in den stadtischen Zentren verlagert sich der Konflikt vern Land in die Stadte , die damit zu umkampften und strategisch interessanten Territorien werden. Altos de Cazuca grenzt als potenzielles .Einfallstor" an Bogota , es liegt damit nahe am staatlichen Gewaltzentrum und bietet eine Infrastruktur filr Handelsblockaden aller Art . Dariiber hinaus birgt die Lage vor allem wirtschaftliche Vorteile fur die illegalen Akteure, z.B. als Nachschubbasis, als Drehscheibe fllr Drogenhandel, fur Geldwasche oder Waffenschmuggel (Paredes 2003: 219). Altos de Cazuca kann als Mikrokosmos der Gewalt betrachtet werden, da sich hier aile Facetten des Konflikts auf kleinstem Raum verdichten. Nach Elwerts De finition handelt es sich bei Altos de Cazuca urn einen gewaltoffenen Raum , dessen strukturelle Probleme durch eine illegale Besiedlung vo rgezeichnet sind (Perez M . 2004 : 42). Vom Staat nur schwach geschutzt, verfugt Altos de Cazuca tiber ein gtlnstiges Gefiige filr Gewaltunternehmer und bietet bewaffneten Gruppierungen die Mcglichkeit, diese Zone sowohl sozicpolitisch, institutionell und territorial zu kontr ollieren. 1m Jahr 2000 ist es in Cazuca zu einem Stellungswech sel gekommen : Die traditionell in den peripheren Gebieten Bogotas starke Guerilla (Pena 1997: 81) wurde durch die Paramilitars vertrieben. Hier wie in den meisten urbanen Randzonen dominieren nun die Paramilitars , die ein komplexes Aktionsnetz etab lierten. In Altos de Cazuca agieren sie verdeckt und greifen auf Mafia s und Jugendbanden zuriick, urn an ihrer statt zu ope rieren (de la Hoz/Perez 2004: 7). Die Allgegenwartigkeit des Konfliktes manifestiert sich in zahlreichen einschtichtemden Graffiti s, die auf Hauserwanden und Felsvorspriingen Wamungen oder direkte Todesdrohungen artikulieren. Auch das Kursieren von Schwarzen Listen tragt zu einer erheblichen Unsicherheit bei und befcrdert die Angste der Bewohner von Altos de Cazuca. Geriichte haben ebenfalls starke Auswirkungen auf den Zusammenhalt der Comunidad . Diese konnen als effiziente kommunikative Kataly satoren beschrieben werden, die ein Ambiente der Angst unter den Einwohnem schuren und auf diese Weise die soziale Kontrolle der bewaffneten Akteure erleichtern. Die paramilltariscben Gruppen etablieren ihre Herrschaft vor allem tiber die Strategie der ,,Limpieza Sociat", der .soztaten Sauberung". Zunachst werden systematisch dieje nigen ermordet, die dem Viertel schaden oder durch Andersartigkeit und Nonkonformitat den Alltag stcren, wie Diebe und Drogenabhangige, StraBenkinder oder auch Prostituierte und Homosexuelle (Perea 2004 : 27). Durch Ermordung dieser Personengruppen, die in der offentlichen Wahmehrnung der Bevolkerung als Belastung wahrgenommen werden, versuchen die Paramilitars, sich einen Zugang zur Bevolkerung zu schaffen, sie wollen urn Sympathie werben, indem sie delinquentes oder sozial deviantes Verhalten bestrafen - ein Vorgang, der vielfach von Teilen der Bevolkerung gutgeheiBen wird . Berichtet wird auch, dass paramilitarische Einheiten Geschaftsinhabem ihren Schutz als private Sicherheitsdienstleistung anbieten. Haben sie sich etabliert, agieren die paramilitarischen Einheiten oder andere
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bewaffnete Gruppe n mit selektiven Morden gege n aile sozialen Krafte, die sic h formi eren, urn ihre Grundrechte einzufordem. Oftmals sind die Getoteten Fuhrer vo n kommunalen Vereinigungen, alternativen ziv ilen Bewegun gen oder Vertriebenenve rband en, die durch ihren Prote st auf ihre preka re soziale Situatio n aufmer ksa m mach en wo llten. Para llel zur para militarischen Dominanz ex istieren diverse mafia -ahnliche Strukt uren (Wasserversorgung, Kontrolle von Territorium, Besteuer ung vo n Gesc haften, Prostitution; vgl. Oldenburg 2008 ), die von den Kriegsgr uppen abhangi g si nd und vo n diesen sowe it und solange geduldet werden, wie sie ihnen nutzlich sind (Duncan 2005 : 1ff.). So stabillsiert sic h langsam ein Gewaltmarktsys tem aufgrund der okonomischen Anreize, die auf den ersten Blick ganzlich unattrakt iv ersc heinen mogen. Die T ransformat ion von Caz uca besteht in der Anei gnun g profl tabler Gesc hafte wie dem illegalen Verkauf vo n Wasser, der Besteu erung von Geschaften und Bussen, dem Schmuggel, Waffen- und Drogenhandel bzw. der Kooptation und Vem etzung durch paramilitarische Gruppen (Ramos 2004 : 94). Auch wenn in Caz uca keine lukrativen Ressourcen wie Koka, Smaragde od er Kaffee zur A usbeutung vorhanden sind, sind doch Drogen- und Waffenhandel sowie Sc hm ugge l und Prostitution entscheidende Faktoren einer Kommerziali sierun g von Gewalt. Die S ubstitutio n von Rohstoffen ist ein wichti ger Faktor des urbanen Gewaltmarktes: Auch wenn der Handel mit Koka in vielleicht der promin enteste lnd ikator einer Burge rkriegscko nomle in Kolumbien ist und Kokain aufgrund seines Wertes und seiner leich ten Absetzbarkeit im Ausland ein besonde rs reizvolle s Geschaft darstellt, reagieren die Gewaltakteure beim Fehlen natilrlicher Ressou rcen , wie im Faile vo n Altos de Caz uca, flexib el und maximieren ihren Gewinn durch andere Waren und Dienstlei stungen . Das Nicht vorh andensein natiirlicher Ressou rcen wird in Alto s de Caz uca beispielsweise durch das vo rhandene Rekruti erun gsre servoir an Jugendlichen kom pen siert. Durch die strukturellen Probleme und das Fehlen nachhaltiger sozialer und wirtschaftlicher Perspektiven der Jugendl ichen, haben es bewaffnete Akteure leicht, neue Kampfer fiir die eigenen Reihen zu rekrutieren und filr die Kontlnultat von Profit und Gewaltherrsch aft zu sorgen. Heute habe ich mit drei Jugendlichen den Film Fahrenheit 9/11 von Michael Moor e geg ucks. In einer Szene, wo ein US-Ma rine einen Afroamerikaner vor einem Einkaujszerurum anspricht, um ihn zu rekrutieren, sp ringt Leonardo auf " Genauso machen es die Paracos in Altos. Sie versprechen alles Mogliche, um dich zu kriegen. " (fagebu cheintragung, 6.10.2004).
3.7 Geboren werden viele, erwachsen werden nur wenige.•. In Caz uca sticht besond ers die Mordrate an Jugendlichen hervor. 2004 untersuchte die private Universidad Externado de Colombia das Phanomen der systematisc hen Morde anha nd gerichtsmedizinischer Daten . Ziel der Studie war die Chara kteris ie-
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rung von 319 Mordopfem im Alter von 10 bis 24 Jahren, die im Zeitraum von 1999 bis 2003 getotet wurden. Es wurde nach Indikatoren wie Geburtsort und Geburtsjahr, dem Beruf, der Schulausbildung, den Umstanden der Tat (Wochentag, Uhrzeit, Ort) gefragt, auBerdem wurde eine toxikologische Examinierung vorge nommen, urn zu iiberpriifen, ob die Toten alkohoJisiert waren oder psychoaktive Substanzen zu sich genommen hatten (Perez B. 2004: 23). Die Ergebnisse dieser Studie widersprechen dem offiziellen Diskurs, der die hohe Rate an Morden auf Bandenkriege oder gewohnliche Delinquenz reduziert. Insgesamt wurden 24 weibliche und 295 mannliche Tote untersucht. Auffallend ist, dass die Opfer immer jiinger werden und ein hdheres Bildungsniveau als der Alterdurchschnitt aufweisen. Die AufschHisselung der Tages- und Uhrzeiten belegt zudem, dass e..<.; sich nicht urn ecacr Kontrolle geratene WochenendschieBereien nach ausgelassenen Feiern handelt. Viele Morde passierten nicht am Wochenende (= mutmaBliche Alkoholgelage), sondern ereigneten sich unter der woche. Auffallig ist auch, dass sich Massaker und Morde an jenen Jugendlichen mehrten, die zur Schule gehen, die sich fur ihre Gemeinschaft, fiir ihre Arbeit engagieren. Der Nachweis von Stirnulanzmittein und Alkohol lieB sich nur bei knapp 50% der Opfer erbringen, was auch deutlich dem Stereotyp des drogenabhangigen Opfers widerspricht (Perez B. 2004: 49-52). Laut Militar und kolumbianischer Polizei ist in Altos de Cazuca, 40 krn sudlich der kolumbianischen Hauptstadt Bogota, jedoch alles .unter Kontrolle" - so gesagt auf einer offentlichen AnhOrung tiber die gravierende Menschenrechtslage in Altos de Cazuca, die am 19.08.2004 im Kongress stattfand. Man hindere die Guerilla am Vordringen in die Hauptstadt und die Auswiichse der Gewalt seien lediglich ProbIerne gew6h nlicher (Jugend-} Delinquenz in sozia l benachteiligten Vierteln.
4. J ugendli che Lebenssituationen Die beschriebenen Rahrnenbedingungen flir die Jugendlichen sind also alles andere als rosig. 1m Foigenden mochte ich anhand der Einbettung der Jugendlichen in die Gesellschaft und die Familie, anhand sich wandelnder Konsummuster sowie den "sozialen Sauberungen" Kornponenten spezifizieren, die das Leben der Jugendlichen in Altos de Cazuca vor dem Hintergrund gewaltsamer Vertreibung pragen.
4.1 Wahrnehmung von Gesellschajt und FamiJie durch die Jugend/ich en Die emotionalen lmplikationen der Vertreibung, von Beschaftigungsloslgkeit und Sich-nutzlos-fuhlen, der Verlust von Heimat und Identitat sowie von lang gepflegten Traditionen erschweren (nicht nur) juge ndlichen Vertriebenen die Eingewohnung in die neue Umgebung. Dieser ist ein Schwellenbereich, ein Zwischenstadiurn zwischen Uberleben, Armut, Hoffnungslosigkeit und dem G1auben an ein besseres Leben. Zudem belastet die Konfrontation mit der Gewalt den kommun itaren Zu-
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sa mmenhalt. willkur, Anpassung und Ignora nz pragen oftmals das gesellschaftliche Klima, in dem bewaffnete Konflikte, Vert reibun g und Gewa lt zum Al lta g geho ren . Anal og zu dec sich verscharfenden wirtschaftlichen Situation in Kolumbien verand ert sich auch die Bevolkerungsstruktur dec Stadte, groBe Te ile dec Bevolk erung verarmen und werden an die Peripherie verdra ngt. Ein Leb en am Rande (at the margins) ist damit kennzeichnend fur die Handlungsspielraume dec Jugendlichen in Altos de Cazuca.
Forscherin: "Was bedeutet fur die Jugendlichen in Cazuca soziales Prestige? Wen bewundem sie?" Informant: ,,Also, Prestige, ist wie, hm, was meinst du ? Das Prestige, das wir ha-
ben, oder das Prestige, das die Gesellschaft fUr uns hal?" F: ,,An two rte, wie du magst." I: .D as Prestige, das UTIS die Gesellschaft gibt, ist sehr schlechs: Wenn du von Cazuca kommst und eine Arbeu willst und dann deinen Lebenslauf vartegst; dann sagen die Leute, nein, hier konnen Sie nicht arbeiten. Wir sehen die Gesellschaft aber auch schlecht, weil wir eben nichts haben; also wie soli ich sagen, so wie wir nicht die Gesellschaft interessieren; inieressieren wir uns nicht ftir sie. WeiI, jetzt die Regierung unter Uribe ge[iillt mir nichs, wei! sie alles in den Krieg investiert, und es gibt viele Vertriebene in den StrafJen, und er gibt alles ftir den Krieg. Weder die Gesellschaft ftir UTlS, noch wir ftir die Gesellschaft." (Ricardo, 15 Jahre, kein vertreibun gshintergrund,15 .10.2004) Altos de Caz uca ist ein Viertel , das mit negativen Assoziationen konnotiert wird. Das soziale An sehen au6erhalb Bogotas wird auf lokal spezifisch e Faktore n reduziert und ist gering. Die Jugendlichen werden mit ihrem Wohnort identlfizlert und die gangig en Stereotype unhinterfragt iibem ommen. Folglich kommt es zu einer mult idim ension alen Frustration, die sic h zum einen auf das Individuum bezieht , dessen direkter Akt ionsradiu s durch solche Voru rteil e begren zt wird; zum anderen wirkt es sich auf der Makroebene aus, weil "d ie Gese llschaft" als Widersacher und Opponent der Jug endlichen verstanden wird. F: Wie siehst Du Deinen Platz in der Gese llschaft? I: Das, was passiert, ist das die Gesellschaft einen marginalisien und einen nicht horen will. Aber /dar ist auch, dass man sich selber hOren muss und genauso auch die Gesellschaft horen sollte, um nicht auf der Stelle zu treten, um welter zu kommen. Es gibt natiirlich welche, die sagen, wie langweilig, ich habe eh nichts zu tun und die Gesellschaft sagt " das ist ein Dieb, ein Taugenichts". So passiert es, dass sich aile schlecht ftihlen. Aber die Mehrheit der Jugendlichen strengt sich an, doch die Gesellschaft frisst sie auf Du kanns t den Kapf voller Ideen haben, aber die werden dir umgestoben. Ich kenne hier einige Jun gs, die Glaser bemalen.lch finde, dass sind Kunsuer, aber die Leute sagen, dass sind nichtsnutzige Gammler, und sie
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glauben; dass sie Drogen nehmen. " (Paola, 16 Jahre, vertrieben aus Sogamoso/ Boyaca, 08.09.2004) Die generelle Ma rgi nalisierung der Jugendl ichen ve rstarkt sic h d urch d ie soz ia le Fragmenti erung, die dUTCh Flucht und Ve rtreibung bzw . durch d ie Ankunft in e inem kon fliktiven Raum wie Altos de Caz uca ihre n Aus druck findet. Al igemei nes Misstrauen pragt das Ambiente, Jugendliche werden vomehmlich als Unruhestifter (und eben nicht als potenzielle Ruhestifter) wah rge nommen, da sie ind ivid uelle Sti le pragen, eve ntueU lange Haare haben, sich anders kleiden oder wei l sie Rapmu sik mogen. So werden stigma tisierende Bilder konstruiert und gep ragt , die durch bestandige Wiederholung in kommunitares Ali gemeinw issen ubergehen. Die 17-jahrige Ana erinnert sic h an ihre Ankunft wie folgt: " lch habe gar nichts gedacht, nidus, nichts. Dann kamen wir nach Pitalito, lias kann te ich noch, dann nach Neiva und von da an daehte ich, kann es sein, dass wir wirklich nach Bogota fahren ? lch fragte mieh so viele Fragen wie noch nie in meinem Leben... Am 17. Miirz kamen wir hier an, wo uns eine Tante meiner Mutter erwartete. Die kannte ich nicht einmal. Dann nahmen wir ein Taxi und fu hren z u ihrem Haus. Da rt kamen wlr an, und oh mein Gou, diese Frau sagte, so, jetzt seid ihr hier, aber glaubt bloP nicht, dass wir euch durchfiittern werden, wir haben selber kein Geld. Wir dachten, dass ihr mit Geld kommt...Sie sah uns an und sagte; zum Mittagessen gibt es nichts. " (Ana, 17 Jahre, vert rieben aus Putumayo, 30.09.2004) Charakteristisch ist eine Atmosphere, die vo n Misstrauen bis zu offe ner Ablehnung reich t. Die Perzeption der Vert riebenen als Unru heherd und als zusatzlich zu stopfe nde Mun der zeic hnet ein Bild von einer instabilen und briichigen A ufnahmegese llsc haft , die um ihre ohnehin knappen Resso urcen furc htet. Hauflg bestimmen fam iliare Ban de die Migrationsrouten , erleichtem die Ankunft und die Eingewohnung; ebe nso haufig zeigt sich aber auch, dass Solidarita t Grenze n kennt. Ve rtreibu ng kann somit zum St igma werden . Oft wurde von Jugendlichen bemerkt, dass sie es vermeiden, ihren Vert reib ungshintergrund offen zu legen und es bevorzugen, ihre Vergange nheit zu verschweige n.
,,Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich in der Schule nicht sagen dart. dass ich vertrieben bin, wei! die mich sonst anschauen... Aber mein Vater musste die Wahr . heit sagen, als er mir den Platz in der Schule besorgt hat....Das liegt daran, dass hier Yertriebene schlecht betrachtet werden, ich weip auch nicht, woran das liegt." (Laura, 15 Jah re, vertriebe n aus Caldas, 14.09. 2(04). Die Binnenvertreibu ng fiihrt zu einer soz ialen Po larisierung, die familiare Rolle nbild er und de n kommu nitaren Zusammenha lt belastet. Die standige Rep ression und
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die gezi elte Einschuchterung der bewaffneten Akt eure erleichtert die ses Auseinanderbrechen.
F: "Welchen Einfluss hat der Krieg auf die Jugendlichen in Cazuci?" I: .Dass man seiber auch gewaluiitig wird und dass man mit diesen Gedanken lebt, doss man Angst hat, dass jederzeit etwas passieren ronnie, wann hort die eine Schiej3erei auf, wann beginnt die niichste. Wenn man das Haus verlasst, weip man nicht, ob man es wieder erreichen wird....Man kann sich nicht entwickeln in seiner Personlichkeu, wei! man sich nicht sozialisieren kann und jeder ist mehr fUr sieh, man muss immer genau aufpassen, wem man vertraut. man weip nicht; ob die anderen einen mogen; man isaliert sich ein bisschen, zum Beispiel hat man Angst und glaubt, doss etnem aile We/t Schaden zujUgen moge, class aile Leute schlecht sind." (La ura, 15 Jahre, vertrieben aus Caldas, 19.10.2(X)4). In einem Interview berichtet der 18-jahrige Nestor tiber seine erste Gewalterfahrung in Altos de Caz uca. Es hieS, ein Madchen, das mit einem Bandenehef zusammen war, sei vergewaItigt und gevierteilt aufgefunden worden. Diese demonstrative Gewalt ist ein Medium der Macht und fur Nestor und seine jungere Schwester der Ubergang in eine neue Lebenswelt. Aufgewachsen in einem beseh auliehen Dorf und vertri eben von einer plotzlich en Guerillaattaeke, war dieser .Jnszenierte Terror" (EIwe rt 1997: 92) fur beide erschtntemd. Als Konsequenz aus die ser Begebenheit und den Spekulationen daruber, entwiekelten beide Verhaltensweisen und Strategien , urn sich irn neuen GewaItkontext zurechtzufinden. Aus diese r Neuorientierung ergaben sich jedoch viele Adaptionsprobleme, die nieht nur mit der direkt en Gewaitanwendun g, sondem vor allem mit der Konfrontation mit gewandelten Wertesystemen zu tun hatte . Es ging nieht rnehr urn reziproke Hilfe und Unterstiitzung, sondem urn die Zursehaustellung von Harte und Macht.
,A ls ich nach Cazuca kam, woilte ich es allen beweisen. Ich wollte nidu, dass man mich komisch anguckt, mit den Fingern auf mich zeigt, class man sich Lustig iiber mich macht. Bel jedem RempLer habe ich zugeschlagen. Ich wallte allen zeigen; dass ich stark bin, class man auf mir nicht rumtrampeLn kann...Die erste Zeit war ich sehr aUein, aber je mehr Kiimpfe ich gewonnen habe, desto mehr Respekt hatte ich. Dan n waren wir 13 l ungs, und ich der Chef .." (Nestor, 18 Jahre, vertrieben aus ToIima, 02.09.2004)
.Seu wir aus den Llanos gekommen sind, schlagt mich meine Mutter und schreit mich an. Sie ist immerzu traurig und muss viel arbeiten, um das GeLdjUr Essen und die Miete zu beschaffen. Weil, mein Vater wurde vor einem Jah r getotet, j etzt ist alles kaputt...ich kann nicht mehr zur SchuLe gehen, weil kein Geld da ist, clajUr muss ich auf meine kleinen Bruder aufp assen, wiihrend meine Mutt er arbeiten geht." (C hristina, 16 Jahre, vertriebe n aus Meta, 20.09.2004)
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Intrafamiliare Gewalt ist ein gesel lschaftlic hes Tabu, das den Kreislauf der Gewalt unterstutzt: Die Gewa lt, die den Jugendlic hen in ihrem Haus widerfabrt, reproduzieren sie haufig bei ju ngere n Gese hwistem oder suchen Sta rke im Rahmen von Pandillas (= Banden). Hier kommt es zu einer Statusumkehr: Die Jugendli ehen genieBen jetzt ihre (ephemere) Maehtposition. Die Bedeutung von Familie ist daher ambivalent: Oftmals eharakte risierte n Jugendliche in Interviews ihre Familie ais we rtvo llsten moralischen Referenzpunkt, gleic hzeitig jedoch empfanden viele Ju gendlic he die Beziehung zu ihren Eltem als problematiseh.
.Llnd, immer in den Niichten, [ange ich an zu griibeln uber irgendwelche Sachen, und immer wenn ich nachdenke.. '. habe ich seltsame Triiume, also, ich weip nicht, ob man das Albtriiume nennen kann, keine Ahnung, aber ich hab Triiume, die mir etwas zeigen, zum Beispiel einmal waren wir aile zu Hause, und meine Mutter sagte; ich will, doss meine Kinder arbeiten und etwas machen...ln diesem Traum sagte meine Mutter zu mir, doss ich hoffentlich, wenn ich 18 Jahre alt wade, den Mllitdrdienst ableiste." (Leo nardo, 19 Jahre, vertriebe n aus T umaco, 20.09 .2004) Die Einberufung in das Militar stellt fur viele Jugendli che eine Schrec kensvision dar, Plastiseh wird in diesem Zitat, dass Leonardos Mutter ihm im Traum als bedrohli che, nahezu antago nistische Figu r begeg net, da sie ihn dem Militar, und somit auch dem Krieg preisgibt. Es verdeutl ieht Leonardos latente Zerr isse nheit: Ei~ nerseits mocht e er seine Mutter glucklic h mac hen und zum Familien haus halt beitragen , andererse its hat er Angst vor ihren Forderungen, die seinem eige ne n Gluc k und seinen Bedurfnisse n im Wege stehen.
4.2 Partizipation durch Konsum ,lch dachte, wir gehen nach Bogota, in die grope moderne Hauptstadt, don wo man alles haben kann, da rt; wo es die besten Parties gibt und einem aile Moglichkeiten offen stehen, dort, wo der Fortschritt lst, wo die Glamourwelt liegt... Hier ist alles Geld, wenn man welches hat, kann man alles haben, wenn nicht, dann halt nicht..." (Leonardo, 19 Jahre, vert rieben aus Tumaco, 20.09.2004) Dieses Zitat verde utlicht die Kluft zw ischen der Sic htbarkeit, aber gleiehzeit igen Unerreichba rkeit von Konsumgutem fur die Jugendlichen aus Altos de Caz uca . Deutlic h wird bei vielen Jugendlichen eine spiegelbi ldfiche Wahmehm ung 80· gotas. Binerseits war die Ankun ft verkniipft mit einem Ideal der kol umbian ischen Ha uptstadt, die aus dem Femsehen vertraut und schille rnd ersc hien. Beim Eintreffen im Elendsviertel offe nbart sich jedoch , dass sich die bunte Femsehwelt nieht im Geringsten mit den staubigen StraBen von Altos de Cazuca deckt. Die j ugendlichen Lebenswelten werde n durch sozia le und oko nomische Ungleichheite n gepragt, die ihren Zugang zum bzw . ihre ExkJusion vern gesellschaftlichen Guterfl uss
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regiementieren. Sie haben zwar den Fortschriu direkt vor Augen, der Zutritt zu den Konsummcglichkeiten bleibt ihnen jedoch aus finanziellen Grunden verwehrt. Der Mangel an modemer Infrastru ktur auf dem Land wird dutch ein Leben am Existenzminimum erse tzt. Foiglich milssen neue Strategien gefunden werden, die das Uberleben zu sichem: I: ,,Die Tame hatte eine Saftpresse und einen Tisch, also sagle meine Mutter, dass ste ihr den Tisch teihen moge, urn Saft zu verkaufen. Sie hal einen Sack Orangen gekauft, Becher, Thermoskannen und dann stellten wlr uns urn 3 Uhr morgens an die Ecke, urn Kaffee und Orangens aft zu verkaufen. His morgens urn 8 Uhr. Dann hauen wir 5.000 Peso (ca. 1.70 Euro) fUr das Esse n." F: ,.,5.000, nicht mehr?" 1: ,,Nicht mehr, und seu drei Uhr friih, nass und alleine. Es gab Tage, da verkaufte sich alles alleine, zum Beispiel samstags oder sonntags morgens, wenn die L eute Yom Trink en kamen , da verkaufen wir vie! Kaffee, da haben wir 10.000 gemacht, aber nicht mehr...Das, also das in der Eck.e stehen und verkaufen, das musste ich nie, aber jetzt schon." (Ana, 17 Jahre, vertrieben aus Putumayo, 30.09.2004)
Zur Existenzsicherung ist die Familie auf die harte Arbeit im informellen Niedriglohnsektor angewiesen. ,,Nunca me habia tocado pero me toco" zeigt Anas Em uchterung auf, die stellvertretend die okonomische und damit verbundene soziale Exk.Iusion vieler binnenvertriebener Familien kennzeichn et. Dies trifft sicherlich auch auf die nicht-vertriebenen Bevdlkerungsteile zu, jedoch ist zu bedenken, dass diese nicht von einem solch abrupten Bruch der Kontinuitaten betroffen und dem plotzlichen Verlust von Status und sozialen Rollen ausgeliefert sind. Die monetare Beschrankung geht mit einem drastischen Werte- und Statusverfall einher. Durch die beschrankte Moglichkeit, an gesellschaftlichen und kollektiven Ereignissen teilzunehmen, zu denen es Geld bedarf, kommt es zum sozialen Ausschluss der Jugendlichen, die mitunter mehr als die Erwachsenen auf AuBerlichkeiten wie Mode und konsumorientierte Praktiken achten. F: .Llnd warum ist Chucho der Coolste?" I: " Wei! er gut aussi eht, wei! er witzig ist, aufJerdem hat er immer Ge ld, imme r ladt er mich auf eine Lim o ein; er schenkt mir Ohrringe; aufJerdem hat er immer die modernsten Klamotten an. Das finde ich wichtig, Das macht was her." (Claudia,18 Jahre, kein Vertreibungshintergrund, 14.10.2004) Die Mechanismen der Aneignung von Konsumgutem haben fiir viele Jugendliche integrativen oder exk1uierenden Charakter, wei! sich mit ihm Werte, Status und Prestige definieren . Wichtig ist vor aHem die symbolische Bedeutung von Kaufkraft. Der Versuch, sich an die globalen bzw. globalisierten Konsummuster anzu-
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passen und die se zu imitieren , bleibt fur die meisten jedoch ein unerfllllbarer T raum.
4.3 " L impieza Social" als Instrument der Repression .Jlier im Viertel existieren Gruppen der " Sozialen Sduberung ", die das Gesetz in die eigenen Hande nehmen wollen." (An dres, 14 Jahre, vertrieben a us Tolima, 10.09.2004) Seit 1979 ist das Phanomen de .Limpieza Soci al" ("Soziaie Sauberung" ) in Kolumbien bekan nt (Wehrheim 1997). Die Ausflihr enden der sys tematisc h orga nis ierten Morde sind meistens Sicarios. Bezeichnend fur diese .Kapuzenmanner" ist ihre Ano nymitat. Die Kapuze verdeckt ihre Identitat , die Ta ter bleiben nich t nur unerkann t, sondern erhohe n noch den Grad des Schreckens und der latent en Bedro hung. .Limpieza Social" ist nahezu ausschlieBlich ein urbanes Phanome n, mit ihr sollen laut Car los Rojas sowo hl individuelle wie kollektive Ident itaten a usgeloscht werden, die vo n den Gewaltausubenden als bed rohlich fur die soziale O rdnung und die btirgerliche Moral angese hen werden (Rojas C. 1994: 26ff.). Hint er d ieser ideologisch en Maskierung verbirgt sic h jedoc h auch eine Neutralisierung sozialer Beweg unge n, die sich fur ihre Rechte einsetzen und sich gegen die Dom inanz der bewaffneten Gruppen autle hnen. So fallen .sozialen Sauberungen" nieht nur Prostituierte, Homosex ueUe, StraBenki nder, sondern auch soz iale Fuh rer de r Comunidad , link e Intellektuelle und Gewerkschafter zum Opfer (Fischer 2O<X); 294f.}. Die .Limpieza Soc ial" ist ein eindriickl iches Beispiel fur die Verankerung von para militarischen St rukturen in Altos de Caz uca . Mit ihr werden alterna tive No rme n und We rte imp lementiert und eine latente Ang st bemachti gt sich der Privat sphare. Bestimmte Codes legen Regeln und Verhaltensmu ster fest. Beispi elsweise gi lt es als ei n ungeschriebenes Gesetz , nach 20 Uhr nieht mehr das Haus zu ver lass en. Denn: "Brave Ju ngs'' bleiben bei der Fami lie, nur die .bosen Jun gs" , Droge nebhangige und Diebe, gehen nechts ihren zwielichtigen Gesc haften nach und sind im wa hrs ten Si nne des Wortes zum Abschuss freigegeben. I: ,,Also, dass was meine Erfahrungen sind, ist dass die Angst Iwmmt, ohne dass man etwas dagegen tun kann; die Angst, das Leben zu veriieren, in einer so gewa ltuuigen und so absurden Form, ohne irgendetwas getan zu haben. Das ist die Angst, dass man, wenn man eine andere Meinung hat, einem etwas passieren kann oder wei! man irgendwas gesagt hat und dass sofort Repressalien unternommen werden, nicht nur gegen dicit, sondem auch gegen deine Familie, das ist also die Angst, mit der man lebt, zum Beispiel, dass sie dich angucken, und man denkt sofort, wenn der mich anguckt, wird es wegen irgendwas sein, und man denkt sofort an den Tod, den Tod, den Too. Man weip nicht, an we/chem Tag etwas passiert, man kann nicht ruhig durchs Viertel gehen, wei! man immer eine grope Unsicher-
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heu spurt, die man sich ja seIber auch aufbaut." (Leidy, 17 Jahre , kein Vertreibungshintergrund, 14.09.2004)
Hier wird die Atmosphare einer latenten Unsicherheit deutlich , die standiger We gbegleiter der Jugendlichen ist. Der Kriegs- und Gewaltkontext ist dauerhaft presen t und die Angst VOT moglichen Konsequenzen bei .Fehlverhalten" wird internalisiert. Auch wenn die Gewalt keiner Regelmabigkeit folgt, bewegt sich Leidy nie mit wirklicher Sicherh eit dUTCh ihr Viertel. Zudem belastet sic der Druck, durch vermeintlich falsche s Handeln ihrer Familie schaden zu konnen .
I: " Wi, haben keinen art, wo wir uns treffen konnen, wo wir uns zerstreuen konnen. Und wei! uns die Erwachsenen so wenig helfen, glau be k it, class viele Jugendliche rebellieren:" F: " Was meinst du denn genau mit ,rebellieren'?" I: ,,Ach, also, dass man sich seine Gruppe sucht, in der man stark ist...Wir sind hier doch aIle unsichtbar, nur das Schlecht e wollen die Erwachsenen sehen, und sie finden es schon gef iihriich, wenn wir Rastas tragen und rapp en, aber das hat doch gar nichts mit Drogen zu tun, aber das sehen sie gar nicht." F: .Und stimmt es, dass die Erwachsenen Jugendliche, die so aussehen haufig mit Pandillas in Verbindung bringen?" I: ,,Schon, aber die haben doch keine Ahnung, fUr die sind wir doch aile gleich." (Alexis, 17 Jahre, kein Vertreibungshintergrund , 15.10.2004) Wo keine gesellschaftliche Anerkennung moglich ist, wird eine Anerkennung in der Subkultur gesucht. Es belastet Alexis , dass aile Jugendlichen gleichgesetzt werden mit Pandilleros, denn damit verschiebt sich die Wahrnehmung der allgemein prekaren L.ebenssituation der Jugendlichen zugunsten einer angeblich latenten Bedrohung fiir die Bevclkerung. Solche generalisierenden Zuschreibungen und Stereotypisierungen von Jugendlichen fuhren jedoch in Altos de Cazuca zu einem bedeutenden Problem: die dramati sche Zunahme von systematischen Mord en an Jugendlichen im Rahmen der beruchtigten .Limpieza Social" . F: .Kannst du mir auch etwas ilber die ,,Limpieza Social" erzahlen? Mir wurde ge sagt, da ss die Limpi eza letzte Zeit stark zugeno mmen hat." I: .J a, vor kurzem haben sie vier Jungs in den Randbezirken umgebracht." F: "Genau, dort habe ich auch einen Jungen kennen gelernt, den sie kiirzlich ange schosse n haben, wahrscheinlich die Paramilitars, sagt man." I: .J a. var vier Jahren, machten sie viel Limpieza, das war schlimm, da konnt en die Leute nicht auf die Strafle gehen . Wir hatt en ein Bckhau s, die Leute mussten ihre Kleidung ausziehen, ega l ob es Frauen oder Mann er waren, und donn mussten sie sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden legen, und dann schossen sie..." F: .Dnd warum?"
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I: " Wei! sie um diese Uhrzeit nicht auflerhalb des Houses zu sein hauen. Damals gab es viele Tote." F: "Wie muss man sich denn verhalten, wenn man im Barrio kein Risiko eingehen w ill?"
1:"Man darf sich nicht mit den falschen Leuten eintassen, schlechte Freundschaften und so", I: ,,Also, es gibt hier so einen Mann, also eigentlich mehrere, und die machen manchmal Limpieza auf ihre eigene Rechnung. Manchmal geben Leute denen auch Geld, damit sie Personen umbringen... " F: .Dnd wie alt sind die? Sind das erw achsene Manner od er Jugendlich e?" I: .Das sind schon Senores, so um die 45. Einer heifll Simeon, den anderen nennen sie .D as Huhnchen ". Manchmal toten sie Jungs, aber manchmal bringen sie auch Personen urn, die anderen Leuten Schlechtes wollen, also, es gibt da eine Gegend, da gibt es viele Diebe; die bringen sie manchmal um. " (Ta tjana, 15 Jahre, kein Vertreibungshintergrund,1 5.09 .2oo4). Hier werden die zwei Komponenten der "so zialen Sauberung'' deutlich: Zum einen die Verankerun g yon Wert en und Normen, di e defin ieren , bis wann man sich "au13erhalb des Hauses" aufhalten kann oder welch e Freundschaften ,,schlecht" sind; zum anderen zeigt sich, dass die .soztete Sauberung" von einigen Seiten der Bevolkerung legitimiert wird , wenn sie sich gege n Diebe richt et , also gegen diejenigen, "die andere n Leut en Schlechtes wo llen." F: .Kannst du mir erklaren, wie die .Limpieza Social" funktioniert in Alt os de Cazuca?"
I: ,,Also, das ist eine Sache, ich weifl nicht, ob gut oder schlecht, aber wahrscheinlich beides, wei! die Limpieza Social nimmt sich nur die Personen, die sie schon im Blick hat auf einer schwarzen Liste, so sagt man." F: .Llnd weibt du , we diese List e ist?"
I: .D ie haben sie:" F: "We r ist denn sie?"
I: .Die Paracos, die Kapuzenmanner. Es lst wie eine Liste, die sie haben. Eine Liste von Jugendlichen, die sie schon ins Visier genommen haben, um sie zu toten; das ist also eine schwarze Lisle, wo die Nomen der JugendIichen drauf sind, die sie toten werden, so nennen wir das. Und wie ich das sehe, also als gut und schlecht, sie zerstoren die J ugendlichen, die schlecht sind, die keine Zukunft haben, die Drogen nehmen und delinquent sind, die nehmen sie ins visier. Darum habe ich auch so An gst, wei! das jetzt mit einem Companero passiert ist. Die haben einige Iungs im Visier gehabt, und er war blofJ bei ihnen. Aber er ist anstiindig, also er war doch anstdndig, und ste haben ihn getotet, nur wei! er mit ihnen zusammen war.,;" (Ri cardo, 13 Jahre, kein Vertreibungshlntergrund, 13.10.2(04)
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Auffallend ist die Position, mit dec sich Ricardo gege nuber dec .Limpieza" verortet. Einerseits erachtet er sic als "g ut", da sic Delinquente beseitigt, andererseits als "schlecht". da er sich ihrer Willkiir und Beliebigkeit bewusst wird . Ricardo nimmt also eine ambivalente Haltung ein, die die .s oziale Siiuberungen " legitimiert, gleichzeitig zeigt sich aber auch seine Fass ungslosigkeit, weil er merkt, dass die Regeln , die er als .anstandiger Jun ge" beachtet , sich trotz allem pl6tzlich auch gegen ihn wende n konnen. Es ist zu vermuten, dass Ricard o mit dieser Aussage die Meinun g seiner Eltem rep roduziert bzw . eine kollektive Wahrnehmung internalisiert hat. Auf diese Weise reproduziert sich ein Automatismus, der den illegal 00waffneten Akteuren zu einer strategischen Kontrolle durch Terror und Einschuchterun g verhilft (FEDBS 2004 : 31). Durch Schwachun g der komunitaren Kohasi on etablieren sie ihre Dominanz, die durch die Kraft und die Motivation der Jugendlichen, die ihr Leben alternativ gestalten wollen, bedroht werden k6nnte. Urn diese Gefahr abzuwenden, werden Jugendliche bewusst mit Geruchten belastet. Systematische Eliminierungen stellen einerseits eine Machtdemonstration dar, andererseits sind sie aber auch eine dezidiert e Strategie, zivilen Widerstand zu brechen . Die ,,Limpieza Socia l" ist also ein diffuses Instrume nt der Selbstjustiz, die mal fur lndividuelle Rachemotive, mal fur kollektive Selbsthilfe gegenuber Delinquen ten eingesetzt wird.
4.4 Zwischen Traum(a) und Realiliit Bei der Unters uch ung j ugendlicher Lebensverhaltnisse spielt die Auseinandersetzung nicht nur mit Vergangenheit und Gegenwart, sondem auch mit der Zukunft der Jugendlichen eine wichtige Rolle . Inwiefem pragen die Auswirkungen von Krieg und Gewalt das Zukunftsdenken der Jugendlichen in Altos de Caz uca? Haufig sind es die personliche Erfahrungen, die den Blick auf die Zukunft bestimmen. Hierbei ist die Diskrepanz zwischen den Zukunftswunschen der Jugendlichen und ihrer Alltagssituation enonn . Zukunft ist daher fiir viele Jugendliche ein sehr abstraktes Phanom en. Umgeben von einer bedrohli chen Umwelt, nicht aufgefangen durch eine stabile Gemeinschaft, leben viele Jugendliche im Hier und Jetzt: ,,Heute lebe ich heute, das Morgen morgen, warum soli ich mir Gedanken me chen, wenn ich nicht weip, ob ich morgen noch lebe" {Tof io, 15 Jahre, vertrieben aus Cesar, 01.10.2004). Unter so prekaren Lebensbedingungen, in denen es keine Selbstverstandlichkeit ist, mit gefiilltem Magen ins Bett zu gehen, vem unftige warme Bekleidung zu besitzen, und in der der Tod eine standige Bedrohung darstellt , scheint das tagliche Uberleben die gr6Bte Hiirde fur konkrete Zukunftsplane zu sein. Daher arbeiten die Wenigsten auf eine langfristige Umsetz ung ihrer ldeale hin. Neben der Alltagsgewalt und der okonomisc hen Exklusion stellt auch die hohe Rate an Ju gendschwa ngerschaften eine besondere Problematik bei der Verwirklichu ng von ZukunftspHinen dar.
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Insgesamt lassen sich grob drei vorherrschende Grundmuster von Zukunft mit Hinweisen fur Handlungsoptionen bei Jugendlichen in Cazuca unterscheiden. 1) Auffallig ist, dass sich ein GroBteil der Jugendlichen ein kiinstlerisches Leben erhofft. Berufswiinsche wie Rapper, Modell, Schauspielerln und Ballerina versinnbildlichen fiir viele Jugendliche den Traum von einem besseren Leben, die Hoffnung, ihr Barrio verlassen zu konnen, an ihren Potentialen zu arbeiten "para ser algo en la vida", also etwas aus ihrem Leben zu machen. Viele versuchen, ihre Gewa lterlebnisse in ein Streben nach Harmonie und Idylle zu transformie ren. Sie tliehen aus dem in der Vergangenheit Erlebten und ertraumen sich eine Zukunft als Kunstler. Gut die Halfte der Jugendlichen, die ich regelmadig traf, sahen fiir sich in der Zukunft eine Karriere als beriihmte FuBballer, Modells oder Rapper. So augen der Ic-jahrige Jorge ,.,Mein personlicher Wunsch ist es, einmal ein groper Rapper zu sein, der andere ist, meinen Leuten in Altos de Cazucd zu helfen, Ihnen singend zu helfen, in dem ich die Wahrheit rappe." (Jorge, 14 Jahre, vertrieben aus Caqueta, 0 1.09.2004) 2) Andere Jugendliche sehen ihre eigenen Berufsvorstellungen im Kontext der Gewa lterfahrung und mochten Polizisten, Soldaten und Gerichtsmediziner werden. Bei all diesen Jugendlichen waren zum einen die eigene, subjektive Gewalterfahrung besonders groB, zum anderen erhoffen sie sich durch solche Berufsfelder allgemein mehr "Gerechtigkeit", aber auch mehr Schutz fur Ihre Familien zu erhalten. Die Bewaltigung ihrer Gewalterfahrung durch direkte Konfrontation wird hier deutlich. Auffallig war neben den Jugendlichen, die sich eine Zukunft im kilnstlerischen Bereich ertraumen, eine groBe Anzahl an Jugendlichen, die konfrontativ mit ihrer eigenen Gewalterfahrung und ihrer Gewaltwahrnehmung umgehen, und diese zu Berufswiinschen machen. So mochre die 16-jiihrige Paola Polizistin werden: .Franer wollte ich eine eigene NGO haben, aber das ist unrealistisch, wei/ man viel Geld braucht. Jetzt will ich lieber Polizistin sein, dann kann ich alien helfen, die in Not sind. Polizist zu sein, bedeutet gerecht zu sein....es gibt auch viele schlechte Polizisten, da hast du recht, aber ich ware ja ein guter Polizist, einer der den Menschen hi/ft." (Paola, 16 Jahre, vertrieben aus Boyaca, 01.09.2004) 3) Fur eine kleinere Gruppe war die Frage nach Zukunftsoptionen eher gleichgiiltig. Sie argumentierten, dass sie sowieso keine reellen Chancen haben, wobei sie auf Faktoren wie Bildungsmcglichkeiten, Wohlstand oder soziale Herkunft verwiesen. Die Koharenz von allgegenwartlgem Krieg, direkter Bedrohung durch potenzielle Rekrutierung und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit fuhrt bei den Jugendlichen zu einer (mittel- bis langfristigen) Unplanbarkeit von Zukunftsentwiirfen. Viele Jugendliche sind gelahmt und reagieren nach ihren Zukunftsvorst ellungen befragt fatalistisch: F: "Was glaubst du, was du in zehn Jahren machen wirst?" I: " Wie soli ich das wissen, ist doch egal, es kommt, was kommt" (Tofio, 15 Ja hre, vertrieben aus Cesar, 01.10.2(04).
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I " Wo sollte ich denn arbeiten ? Klar, ich helfe meiner Mutt er zwei Mal die Woche, wenn sie auf der StrajJe Stirnbiinder verkauft; aber eine richtige Arbeit? Donn bewirbt man sich, und die Leute sagen, Nein danke, du kommst aus Altos de Caz ucs . Die denk.en doch aile, dass wir Delinqu enten und Drogenabhiingige sind. " (Luis, 17 Jahre, vertrieben aus Uraba, 29.08.2004).
5. Strategien im Umgang mit Gewalt: Akzeptanz, Flucht und Widerstand Eines der Hauptmotive fur die erzwungene Flucht vieler Jugendlicher ist die Furcht vor Zwangsrekrutierung durch die Burgerkriegsparteien . Doch auch in Altos de Cazuca wiederholt sich dieses Konfliktmuster, auch dort sind sie keineswegs sicher: Bewaffnete Akteure versuchen, Jugendli che zu umwerben und filr ihre Reihen zu gewinnen , sie durch Betrug oder Gewalt mit sieh zu reiBen. Au fgrund dieses Settings sind die Iugendlichen erneut zur Positionierung gezwungen: Akzeptie ren sie die Gewaltsituation und versuchen sie durch sie zu profitiere n? Ziehen sie sich apathisch und resigniert zuriick und versuchen nicht aufzufallen? Entwickeln sie gewaltfreie Altemativen, urn sich der Gewalt zu widersetzen? Sowohl die Wissenschaft wie auch die Medien sind fast ausschlieBlich auf Iugendliche ausgerichtet, die sich zur Option ,,Akzeptanz" entschlieBen. Dies ist zwar ein Teil der jugendlichen Lebenswelten, aber eben nicht alles. Die Skandalisierung von J ugendlichen scheint interessanter zu sein als die Betrachtung ihrer nonnalen oder alltaglichen Lebensumstande . Damit bleibt jedoch die groBe Mehrheit der I ugendlichen unsichtbar und unreprasentiert. Das mochte ich im Foigenden beispielhaft an der Bandbreite der Umgangsweisen mit der systemischen Gewa lt iIIustrieren. Hier wird auch deutlich, dass die Sozialisation in instabilen Verhaltnissen nicht unweigerlich zur Perpetuierung von Gewalt fuhren muss, sondern auch zu kreativen Alternativen im lokalen Raum fiihren kann. 5.1 Akzeptanz: Pandillas zwischen Gewalt und Fami/ienersatz.
F: .Llnd was gefallt dir in deinem Barrio und was nicht?" I: " Was mir nicht gefallt sind die Pandillas." F: "Wie funktionieren Pandillas genau?" I: .D ie verteilen sich fibers Barrio, sie sehen ein Geschiift, dass neu ist oder das gut lauft, dann kommen sie bewaffnet oder bekifft." F: "WeiSt Du eventuell woher sie die Waffen bekommen?" I: .Nee, das weift ich nieht, aber wo sie die Drogen verkaujen, dass ist in einem Haus, an einem Hiigel im Barrio. Dort bleiben sie immer stehen, und es ist ihnen egal, wenn man sic dort kiffend sieht." F: .Haben sie denn soviel Macht im Viertel, dass es ihnen egal ist?"
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I: .Ja, vor ailem Arana (die Spinn e). Das ist ein Drogenabhiingiger, der im Militiir war, und als er wiederkam, war er so." F: " Wie all ist er denn ?' I: ,,Der ist so 25 Jahre. Der sieht z.B. das Milchauto kommen, raubt den Fahrer aus, und geht gemiit/ich weiser. keiner traut sich, ihm was zu sagen, weil er eben Aralia ist." F: ,,AIle haben Ang st vor ihm? " I: ,,Exakt ." (Tatjana, 15 Jahre, kein Vertreibungshintergrund, 15.09.2004) Pandillas sind oftmals ein Grob stadtphanomen und stellen eine autonome Lebensform dar (Perea 2004 : 32f.) . Sie besetzen den offentlichen Raum , sch affen sicb ihr eigene s Territorium, auf dem sie .J hre" Werte und Normen etablieren, wie z.B. William Whyte (1943) fur die Street Comer Societies gezeigt hat. Sie grenzen sich bewussr gegen die Community ab und kreieren neue Familien, weiI sie sich von ihrer eigenen im Normalfall vemachlassigt fuhlen . So sind denn auch struktureJIe Ursachen ein Motiv, sich zu einer Pandill a zusammenzuschlieBen . AIs Beweggrunde werden haufig briichige Bindungen zu den Eltem sowie die allgemeine Marginalisierung in der Comunidad als Erklarung genannt. Emotionalitat w ird durch andere affektive Bindungen substituiert (Liebel 1996 : 410), die sozialen Ruckhalt und Schutz sowie Starke in einer Gruppe von Gleichgesinnten bieten , in der sie sich aufgenommen fiihlen. In diesem Sinne gelten Pandillas als Sozialisati on snetzwerke. Es scheint fur die uberwiegend jungen Manner eine Art harter SchuIe zu sein, tiber die man sein Prestige bestimmen kann ; sie ist vergl eichber dem "Habitus der Harte" , die jede Begegnung im sozialen Raum zum Test, zur Probe und Herausforderung werden lasst (Liell 2003 : 132). F: .werum glaubst Du, schlieBen sich einige Jugendliche zu Pandillas zu sammen ? I: ,,Das machen sie; wei! die eigene Geseilschaft sie veruneilt; ,ich werde euch schon zeigen, wer ich bin '. Also Jangen sie an, Banden zu bilden. ,A lso, weil ich abge/ehnt werde und weil du abgelehnt wirst, komm , lass uns eine Gruppe bilden, und dann besorgen wir WlS eine Waffe, sind wir die Harten des Barrio, und aile haben Angst vor uns, und aIle wissen; dass man sich mit unsrer FamiIie nicht an/egen darf, weil wir die Harten, die GeJiihrlichen sind. ' So ist das hier im Barrio." (Laura, 15 Jahre, vertrieben aus Caldas, 30.09. 2004 ) PandiIlas offnen und ermoglichen Aktion sraume fur die Jugendlichen, die sich ansonsten paralysiert und vo n der Gesellschaft kriminalisiert fuhlen . Schutz und Prestige wird in vielen Gruppen mit Waffenbesitz assoziiert. Auch in Altos de Caz uca kursieren unter den Jugendlichen viele Waffen . Durch den Mangel an und da s Fehlen von Perspektiven und unter den prekaren Lebensumstanden dienen sich die J ugendlichen oft bewaffneten Gruppen an oder werden von ihnen infiltriert und in-
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strume ntalisiert (de la Hoz/l'erez 2004 : 7). Sic akzeptieren die Optio n Gewa lt, wei! sic sich durch Gewa lt einen sozia len Aufstieg, Prestige und Macht erhoffe n. I: " Es gtbt Pandillas, die sind gefiihrlich. Die sind gewalttiitig, die uben Gewalt um Macht xu haben fiber ihre Ecke. Sie Idauen, wei! sie sonst nichts konnen Die gehen nicht zur SchuIe...Sie schlagen sich um ihr Terruorium, verteidigen es Wenn die Waffen haben, weip man, dass die KontakJe haben, dass die grope Freunde haben. " F: " Und wer sind diese , grofJen Freu nde '? " I:" Gesehen habe ich die nocn nicht, man sagt, dass sind die Paramilitiirs, machuge Leute, die Iwmmen in der Nacht und haben grofte Autos, ...und die haben vie! Geld... " (Rica rdo, 15 Jahre, kein Vertreibungshintergrund, 02.10.2004)
GUS,
5.1 Flucht: "Einf ach normal" Die Mehrzahl der Jugendlichen fallt aus dem schwarzwei 6malerisc hen Raster von "Tatern" und "Opfern" heraus. Sie meiden die Nahe Zll Pandillas, versuchen in aller Stille durchzukommen, keine Aufmerksamkeit zu errege n, keine Angriffspunkte zu bieten. Auch sie sind frustriert, suchen aber nicht den Weg der Gewa lt, sie haben Angst, wollen aber nur ihre Ruhe, sie vers uchen ihren Weg zu finden und slch eine ..ganz norma le" Biographie zu schaffen.
I: "A lso, als meine Familie und ich in Cazuai ankamen, war ich 13. lch kam mir sehr allein vor am Anfang, ich kannte keinen. Da gab es die l ungs an der Ecke, die mich provozieren wollten. Das wollte ich mir nicht bieten lassen, also habe ich gezeig t, dass ich stark bin, cia haben sie mich respektiert. Aber lange hab ich da nicht mitgemacht, das war mir zu doof. l ch bane das Gluck. das ich weiter in die Schule gehen konnte. Nachmillags helfe ich im Laden unseres Nachbarn mit. Wenn ich Gluck habe, kann ich spaier dort richtig arbeite n." (Man uel, 17 Jahre, vertr ieben aus Caqueta, 20.08.2004). F: "Was macht fur Dich das Leben in Altos de Cazuca aus?' I: Der kleine Ramon. Meinen Mann Pacho habe ich in der Schule kennen gelemt; es ist viel zu schnell gegangen, das weifJ ich, aber mein Sohn ist mir jetzt das Wichtigste auf der Welt .. Und Pacho ist ein guter Mann auf den man sich verlassen kann. Er arbeitet hart in der Schule und will niichstes lahr sein Studium beginnen, dann konnen wir vielleicht aus A ltos wegziehen und ein neues Zuha use suchen. " (Linda, 18 Jahre, kein Vertreibungshintergru nd, 20.09.2004). Die Problematik fnl her Schwangerschaften gehcrt zur Lebensrea litat in Altos de Cazuca. Linda setzt ihre Hoffn ungen auf ihren noch zur Schule gehenden Mann, der sie vielleicht durch ein Studium in ein anderes Viertel bringen kcn nte. Die
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Gleichzeitigkeit von Hoffnung auf sozialen Aufstieg in Korrelation mit dem Verlassen des negativ konnotierten Barrios verdeutlicht die Schwierigkeit, die gegenwartigen Lebensverhaltnisse positiv zu gestalten. Die 16-jahrige Astrid ist ein zuriickhaltendes, aber zielstrebiges Madchen, das sich eine bessere Zukunft durch Bildung erhofft. Bildung versinnbildlicht fur sie Unabhangigkeit. Diese Unabhangigkeit ist zunachst gekoppelt an das Erleben innerfamiliarer Gewalt. Ihr Traum, sich durch Bildung vom familiaren Kontext, aber auch vnm kommunitaren Zusammenhang in Altos de Cazuca zu losen, lasst slch ebenfalls als eine Variation der Flucht lesen.
Heute sah ich Astrid mit einem uniibersehbaren Veilchen. Als ich sie frag te, ob das ihr Stiefvater gewesen war, von dem sie mir schon einmai erziihlte, dass er brutal set, bejahte sie und erziihlte, dass er wie so oft, die Abwesenheit der Mutter, die berufstiitig i:..t, genutzt hat, um sie zu schlagen. Auf meine Frage, ob sie denn A ngst habe, dass er noch mehr tue, nicks sie kurz, der Blick bleibt am Boden. Dann fiingt sie an wie ein Wasser/all zu reden, dass sie jetzt jede Nacht .rectctase" machen wird. Ich muss schlucken, denn mit den .rectctadores" verbinde ich Obdachlose. Der Job ist knochenhart, mit einem Wiigelchen, sammelt sic allen noch verwertbaren Schrott von der Strape auf, urn ihn dann gegen Kllopreis zu verkaufen (1 Kilo Papier bringt 300 Pesos, ungefiihr 10 Cent). Ein Miidchen habe ich noch nie gese hen. AufJerdem kann sie nur nachts arbeuen, da sich sonst die Menschen geston fUhlen. Auf meinen Einwurf, dass das sehr gefiihrlich sei; mein: sie trocken, dass ihr das Risiko lieber sei; als zu Hause mit diesem Widerling zu sein. Je schneller sie viel Geld hat, desto besser sind ihre Chancen auf einen gute Bildung, und ein anschliefsendes Studium; urn von zu Hause wegzukommen. (fagebucheintragung 27.08.2004) Diese konfrontative Einstellung sowohl mit ihrer Vergangenheit als auch mit ihrer Zukunft, lasst sich als Versuch interpretieren, ihr Leben dynamisch zu gestalten. Sie ist sie h bewusst, dass sie ihr Leben seiber in die Hand nehmen muss und geht dafur gro6e Risiken ein. Da ihre Mutter sie nieht ausreichend unterstiitzt, sucht sie sich den fiir sie realistischsten Weg der reciclaje, urn Geld fur ihre Schulbildung zu verdienen, urn sich einen Weg aus dem gewalttatigen Kontext zu bahnen. Neben .seriosen" Alternativen zum Kontlikt (wie Schule oder Job) suchen aber viele Jugendliche auch einen Ausweg in Drogen. Da diese direkt mit Gewalterfahrungen oder Perspektivlosig keit verbunden sind, ist Drogenkonsum ein Weg, urn sich der Realitat zu verweigern. Er ist jedoch nicht zwingendermaBen mit Kriminalitat oder Bandentum verknupft. F: "Wen bewunderst Du bzw. was gibt Dir Kraft?" I : "A lso, all die Personen, die einem helfen, natiirlicn zuerst mein Papa und meine
Mama, aber ich bewunder auch die " Muchachos", well, die werden oft verurteilt,
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obwohl man sie nicht von innen kennt. Sie haben eine Magie, sie haben auch Gedanken und Triiume, und trotz Drogenabhiingigkeil verlieren sie ihre Triiume nicht. So kann man auch von diesen J ugendlichen etwas lemen. Oft werden sie allerdings von der Gewalt gepriigt. Ich habe einen Kumpe l, den die Mutter schlag! und schlagt. " F: " Vnd wie alt ist er?" I: " Bald 17. Nachdem sich die Eltern getrennt haben, febt er be; seiner Mutter, die ihm jeden Tag sagt; dass er nidus wert sei. Das macht ihn traurig und wiuend. Dabei i51 er sehr intelligen t und hat grope Projekte. Also is! er von zu Hause weg und is! mit anderen zusammengekommen, die ihn auf die schiefe Bahn ge bracht haben. Jetu treffe ich ihn oft kiffend." F: ,,1st er in einer Pandilla? Und glaubst du, er lesst sich mit den bewaffneten Gruppen ein?" I: " Nee, bestimmt nicht. Damit hal er nichts zu tun. Er hat eine Form, anders zu denken und Ge walt will er nicht. Davon hal er zu Hause schon genug erlebt. Er will heber mit den Freunden Musik horen und seine Traume leben ." (Paola , 16 Jahre, vertrieben aus Bcyaca, 28.08.2004) .
Drogenkonsum stellt ein Handlungsmuster dar, das von einigen Jugendlichen bevorzugt wird, die nicht fur eine gewaltfreie Zukunft kampfen wollen, die eine aktive Auseinandersetzung mit dem sie umgebenden Kontext sche uen, aber die sich letztlich auch den Gewaltakteuren verweige rn. Diese Jugendlichen ziehen sich in Raume zuriick, wo sie sich entspannt fiihlen, wo sie .jraumen'' konnen. Es gibt also verschiedene Formen, sich dem Krieg zu entziehen, sei es durch friihe Heirat, Bildung, Arbeit oder durch das Abdriften mittels Orogen. 5.3 Widerstand: Jugendliche als engagierte Akteure trotz Repression
Einige Jugendliche setzen sich aber auch aktiv mit der Gewalt auseinander und engagieren sich filr gewaltfreie Altemativen und Zukunftsmodelle. F: .Llnd du, hast du schon immer getrom melt?" I: .J a, zumindest in Tumaco (an der Pazifikkiiste Kolumbiens gelege n).lch glaube, dass es in einigen Teilen der Atlamikkuste und der Pazifikkii...te gteichermaiien eine Tradit ion ist, dass wenigstens einer der Familie ein folk loristisches Instrument zu spielen weip. A lso ich habe immer Trommel gespie lt ." F: ,,Als du in Bogota ankamst, hattest du da deine Trommel bei dir?" I: .N ein..Aber das war auch das, was mir an Taller de Vida (Iokale Organisation) so gefiel. Ich dachte, uy wie super, es gibt Trommeln und all solche Sa chent Und ich glaube, dass ist auch ein bisschen, warin Taller de Vida helfen will, das s...die Personen die wegen ihrer Yertreibung verzweife lt sind, nicht ihre Traditionen und Gewohnheiten vergessen. Fur mich zumindest ware das sehr hart, festzustellen,
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dass ich alles vergesse; wo ich her komme, was meine Wurzeln, meine Gebriiuche sind, das wiire total krass, wirldich so, als ob ich mich nichs kennen wiirde:" (Leonardo, 19 Jahre , vertrieben aus Tumac o, 13.08.2004). Viele Jugendliche Iuhlen sich entwurzel t. Das kulturelle Setting, in dem sie aufgewachsen sind und in dem sie sich bis zu ihrer Vertreibung bewegt haben, ist weggebrochen und erschuttert. Oftmals verlieren die traditionellen Brfahrungs- und Wahmehmungsmuster der Jugendlichen in Altos de Cazuca ihre identltatsbildende Kraft, was ihr FremdheitsgefUhl verstarkt und eine schnelle Eingewohnung verzogert. Es herrschen andere normative Mabstabe, es gibt keine Bnicke zwischen dem "davor" und "danach". Hier eroffnet kunstlerische Betatigung einen kreativen Gestaltungsraum fur die Jugendlichen. Die Nichtsregierungsorgani sation Taller de Vida arbeitet zum Beispiel mit den vlelfaltigen folkloristischen Elementen aus den verschiedenen Regionen Kolumbiens. Das Aufgreifen dieser kulturellen Werte und T raditionen hilft, auf dem fremden, neuen Boden ein Gefuhl der Vertrautheit zu entwickeln . Konkret prasentieren slch die Jugendlichen beispielsweise mit einem .Kameval" vor Gleichaltrigen in Schulen : Stelzenlaufer, bunte Kosttime , Trommeln - fur viele sind dies wichtige kulturelle Referenzpunkte , mit denen sie sich emsthaft, aber auch begeistert auseinandersetzen. Diese Ebene der kulturellen Representation ihrer Erfahrungswelt vermittelt ihnen ein starkes Selbstvertrauen sowie Stolz auf ihre Wurzeln. Besonders im Kontext des Krieges ist diese Auseinandersetzung mit Kunst und Spiel eine essentielle Komponente im Leben der Jugendlichen. Der Bruch der Vertreibung sowie die allgemein prekiiren Lebensumstande lassen sie schon friih in die Welt der Erwachsenen eintauchen , Verantwortung iibemehmen, aktiv zurn Familienhaushalt beitragen. Die Arbeit in zivilgesellschaftlichen Zusammenhangen bielet ihnen einen Freiraum, sich und ihre Talente auszuprobieren, sich korperlich zu betatigen und auszudriicken. Hier finden sie einen Anker, urn Geschehenes zu reflektieren, sich selbst zu akzeptieren und wertzuschatzen. Hierdurch konnen Identitare Strukturen und Prozesse angeschoben oder intensiviert sowie die Vergangen heit aufgearbeitel werden. Die kiinstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Vertreibung und dem Leben in einem Gewaltkontext erm6glicht den Jugendlichen eine representative Distanzierung. Sie bringen ihre eigenen erlebten Geschichten ein, ihre Entscheidungen, ihre Erfahrungen mit Gewalt. Diese Art der Autarbei tung, z.B. im Rahmen des Theate rs, hat therapeutische Ziige: Die Jugendli chen interagieren miteinander, begreifen auf diese Weise die Ahnlichkeit ihrer Geschichten und stellen Verbindungen zum gr6Beren soziostrukturellen Kontext her. F: "Glaubst du, dass das Theater auch etwas Stimulierendes fur dein Leben hat oder magst du einfach nur so gem Theater?" I: .vtelleictu, weil zum einen; spiele ich geme Theater, es ist eine Form sich auszudriicken, vielleicht, weil ich mir gerade ziemlich bewusst werde, uber viete Din-
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ge, die ich schon erlebt habe, viele, viele Dinge. In so einer Situation, versucht man herauszuziehen, was man kann, versuchs man seine Gefiihle auszudrucken, all das, deswegen Jesselt es meine Aufmerksamkeit." (Ana, 17 Jahre, vertrieben aus Putumayo, 30.09.2(04) 1m Zentrum der Theaterarbeit steht der individuelle Kerper sowie seine Verortung in der Gemein schaft. Pramls se hierfur ist ein gezielter Umgang sowie eine bewu sste Wahrnehmung des eigenen Korpers . Die Arbeit mit dem Kerper sowie dessen kiinstlerische Inszenierung tragr zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit sich selbst bel. Denn erst wenn man in sich hineinhort, sich seIber schutzt und die Signale seines Korper s versteht, kann man auch Verantwortung fiir andere iibernehmen. Jeder Kerper ist ein Territorium, dass nur einem selbst gehort , und dass man nur selbst schutzen kann. Der Fokus der Organisation Taller de Vida liegt deshalb auf der Preventi on der Rekrutierung von Jugendlichen in den bewaffn eten Konflikt. Ziel ist die Reduktion der Vulnerabilitatskon stanten, das Zeigen von Alternativen zum Krieg , die Jugendlichen befahi gen, eine Position und eine Stimme in der Gemeinschaft einzunehmen . Die aktive Auseinandersetz ung mit dem eigenen Korper schafft ein positives Selbstbild und steigendes Selbstwertgefuhl. Auf diese Weise werden die Jugendlichen auch in ihrer Personlichkeit gestarkt. Dies ist die Pramisse fur die Kraft, sich dem Krieg zu versagen, sich nicht hineinziehen zu lassen in den Konffikt, sei es Informant , als Werber fur andere Jugendliche , als Koch oder als Geliebte . In diesem Sinne ist Kulturarbeit, z.B. in Form von Theater, Fotographie, Capoeira oder Rap, eine entscheidende Mcgli chkeit , die Motivation und den Enthusiasmus von Jugendlichen fur einen konfliktreduzierenden Ansatz zu nutzen. Gerade durch die kunstlerische Betatlgung we rden Selbstwahrnehmungsprozesse stimuliert, die Jugendlichen allgemein, aber vor allem vertriebenen Jugendlichen, einen Halt geben in einer sie margin alisierenden Gesellschaft. Auf diese Weise reflektieren sie ihre eige ne Situation in einem gesamtgeseUschaftlichen Kontext , entwickeln ein starkes Selbstbewu sstsein und eignen sich ein Instrument an, mil dem sie lernen , die Kontrolle tiber ihren Kerper zu verteidigen, Denn der Kerper ist das letzte Territorium, welches die Gewaltakteure noch nicht erobert haben. Trotz kontlnui erlicher geseHschaftlich er Stigmati sierung und soziopolitischer Gewait setzen sich einige Jugendliche bewusst fur eine gewaltfreie Zukunft ein . Sie woll en .L ider Joven" sein und als Multiplikatoren von Gewaltfreiheit im Barrio dienen .
,,Mir gefiillt es nidu, dass wir keine Rolle im Barrio spielen, manchmal weifl ich nicht, was ich besser find en soli, das wir unsichtbar sind, also, manchmal ist es den Er wachsenen, glaub ich egal, was wir wollen, hm, Oller dass wir aile kriminell sind... lch will anerkannt sein als eine "gute Person ", ich will auch anderen Ju -
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gendlichen zeig en, dass man nicht den Weg des Lasters gehen muss, dass man viel kiimpfen mus s, aber das man es schajfen kann." (Reynaldo, 20 Jahre, vertrieben aus Cesar, 03.10.2004) Die Jugendlichen fuhlen sich ausgeblendet aus dem sozialen Leben und sehen sich konfrontiert mit der Ignoranz ihrer Comunidad, die sie oft mals nur wahrnimmt, wen n sie gesellschaftliche Normen verletzen. An Reynaldos Aussage verdeutlic ht sich der Wille, als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu sein. Er will aktiv etwas an der allgemeinen Situation iindem und mochte als Vorbild fur andere Juge ndliche dienen und ihnen Alternativen zur Aussicht slosigkeit aufzeigen. Die sozia le Funktion und die Rolle eines Lider loven besteht in seiner soziopo litischen und vor allem kommuna len Partizipatio n. Die Jugendlichen wollen auf die Missstande, die sie taglich erleben, als Multiplikatoren aufmerksam machen, sie wollen ernst genommen werden und sich einmischen mit dem Ziel, die Verhaltnisse zu verandem. " lch bin ich einer Gruppe "Resistiendo a la Guerra (dem Krieg Widerstand leisten) " und wir haben dariiber geredet, dass die Polizei kein Recht hat auf, dass die mil ihren Wagen Iwmmen und die lungs mitnehmen . Das ist eine Problematik, die momentan Cazuca erlebt. Wenn wir nicht mitwollen, warum miissen sie uns dann zwingen ? Dann kommen die Wagen und holen die lungs und tja, nehmen sie die mit und holen sie zum reknaieren wie man sagt", (Ricardo, 15 Jahre, kein Vertreibungshintergrund,4.10.2004). An diesem Zitat wird die Reflektionsfahigkeit der Jugendliehen deutlich. Der Mut, staatliche Obrigkeiten zu kritisieren, motiviert die Jugendlichen und starkt ste in ihrer Selbstwahme hmung. Die politische Ausbildung, wie sie etwa in Menschenrechtsworkshops der NGOs in Cazuca abgehalten werden, sowie die Aufklarung tiber die eigenen Rechte und Pflichten sensibilisiere n die Jugendlichen zum einen flit ihre individ uelle Situation, zum anderen auch fur die Jugendlichen als .Kollektiv" im Sinne einer undiffere nzierten Bedrohung. Sie kampfen urn ihre Stimme , urn sich auch staatlichen Institutionen kritisch zu nahem und nieht alles mit sieh geschehen zu lassen. Sie wollen aufriitteln und die gegebe nen Verhaltnisse hinterfra gen. Diese bestehen generell in einem repressiven Klima. Das zeigt sieh nieht zuletzt daran , dass Militars in einigen Teilen Altos de Cazuca s den Sport unterricht ubemehmen und den Schulem en passant Fragen zu Eltem oder Nachbam stellen und Belohnungen fur Informationen tiber die Guerilla anbieten (Coa lition 2005 : 57). ,,Mein personlicher Wunsch ist es, einma l ein grojJer Rapper zu sein; der andere, meinen Leuten in Altos de Cai ucd zu helfen, ihnen singend zu helfen, in dem ich die Wahrheit rappe? (Jorge, 14 Jahre, vertrieben aus Caqueta}
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Die Hauptmotivation fiir die Jugendlichen , sich in einem sozialen Prozess, sich in einer NGG zu engagiere n, liegt in der Starkung und Vernetzun g der Comunidad. Die komrmmale Partizipation dient zur Fc rderung cines solidarischen Zusammenhalls, der cine Bastion gegen die bedrohliche KuJisse von w illkur, Terror und Einsc huc hterung bietet.
,Jch modue eine Hilfe sein fUr die Menschen in meinem Barr io, ich mochte mein Wissen weitergeben, damit es allen gut geht, keiner hungern muss, damit die Gewalt aufhon, darum mache ich be; Taller de Vida mit." {Jhon y, 16 Jahre, kein Ver· treibungshintergrund , 09.04.2004). .Es ist doch besser, wenn ich hier bin und was fUr mein Leben Ierne, als wenn ich auf der StrafJe rumhiinge und mich langweile. Ich bin der einzige von meinen vier Geschwistern, der keine Arbeit hat, der nichts zum Leben beitriigt, aber meine Mutt er finde t es gut, dass ich ein .Lider Loven" bin." (Nestor , 18 Jahr e, vertriebe n aus Tolima, 0 2.09.2004) Die Motl vation en , sic h in Organisatione n zu engagieren, deckt eine Vielzahl verschiedener Bereiche jugendlicher Lebenswellen abo Die einen entfliehen der Langeweil e, der T rostlosigkeit und der Beschaftigun gslosigkeit des Viertels und suchen Vergntigen und Abwechslung in den Ang eboten der NGOs, andere entflie he n dem been gten Haus, der Farnilie, sie entziehen sich der KontroJle, die sie erle be n, sie woll en Bestatigung und Anerkennung erreichen, sie wo llen sich tiber ihre Rech te infonnieren und diese als Multiplikatoren in ihre Comunidad hineintragen . Sie woll en sic h mit ihren Mitmenschen auseinandersetzen sowie die Cha ncen auf 50zialen Au fstieg nutzen. I: ,,Man hat immer viel daruber geredet, tiber Kinderrechte und so, Menschenrechte, man sprach sehr viet, urn die Erinnerung zu bewahren; ne ? Auf der Ebene der Vertreibung, das, was man verloren hat, das was geblieben ist, das soli bewahrt werden." F: "Was bedeuten diese Raume filr dich? Was bedeutet dieser ganze Prozess ?" I: " Vie/leicht so was wie das GefUh/, etwas anderes zu haben, weil, a/so als das mit meinem Vater passiert ist, da war diese Wut, a/so auch eine Angst, die du hast. Und da war das so was wie einen Raum zu haben, wo man sicher ist, wo man sich woh/fUh/en kann...Fur viete Jugendliche ist Capoeira und Theater super, aber fUr mich lst es mehr die Reflexion auf sozia /em Level, die Reflexion, was aus einem im Kontext dieses Landes wird, wo man seiber steht. Man bekommt die Werkzeuge, um Optionen zu entwickeln, um ein politisches Wesen zu sein; ein Wesen mit der Fiihigkeit, sich auszudrucken, xu kritisieren. " (M aria, 20 Jahre, vertrieben aus Cordoba , 22.09.2004)
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6. Resiimee: Gewaltfreie Alternativen der Jugendlichen im lokalen Ra um Wa r meine Forschung zu Beginn vor allem auf binnenvertriebene Jugendliche ausgerichtet, wurde schnell klar, dass in einem Kontext wie Altos de Caz uca aile Ju gendlichen Strategien entwicke ln mussen, urn dem sie umgebend en Gewaltko ntext zu begegnen. Durch die Heterc genitat ju gendli cher Lebensweisen ergibt sich eine Vielzahl an Moglichkeiten, auf den Krieg auch auf lokal er Ebene einzuwirken, sei es durch Rap als Sprachrohr einer Street Corner Society, die die gesellsc haftlichen Bedingungen ankl agt, oder sei es du rch Mitwi rken in zivilgese llschaftlichen Zusammenhangen. Jugendliche sind im kompl exen Konfliktsetting Altos de Caz ucas besonders exponiert. Das Leben in Gewaltverhaltnisse n, gepragt von alltaglicher Kriminalitat bis hin zu paramilltarischer Prasenz, impliziert divers e Handlun gsb egren zungen , auf die die Jugendli chen tagtaglich treffen, die sie anerkennen, gegen die sie sich we hren und gege n die sie aufbegehren. Gerade diese Tr ias aus Akzept anz, Fluch t und Widerstand bundelt die Handlun gsm6glichkeiten Jugendli cher in einem Prisma und ve rde utlicht, dass die Perpetui erung von Gewalt durch Sozialisation im Konfliktkontext nur eine Option unter mehreren darstellt und nicht unwei gerlich eintritt. Der Prozess der Entscheidungsfi ndung angesichts prekarer Sicherh eitsverhaltnisse de utet die Unterschiedlichkeit jugendlicher Handlungsspielraum e an. Es wurde geze igt, dass Entscheidun gen oftmals Oberlebensstrateg ien sow ie Taktiken zur Sicherung der Subsistenz und eines sozi alen Aufstiegs prasentieren. Reflektlonsfahigkeit und dam it einhergehende Interpre tation des sie umgebenden Gewaltkontex tes bilden fur die Jugendli chen daher notwendige Elemente, urn sich aus diesem Setting zu befreien. In Interakt ion mit der Gesellschaft und gefordert durch ziv ilgese llschaftliche oder entwicklungspolitische Programm e schaffe n viele Jugendli che Alternativen. Doch gerade die Dynami k des sozia len Wandels und das Streben nach einer gewa ltfreien Zukunft wird von den bewa ffneten Akteuren gefurchtet, stort sie doc h den reibungslose n Ablauf ihrer Gesc hafte und die Ordnung der Gewalt, die sie in Altos de Caz uca etabliert haben . Indem sich die Jugendli chen den Gewa ltverhaltnissen entziehen, werden sie zu Antagonisten der Gewaltun ternehmer. Durch ihr Potenzial, aktiv Strateg ien gegen die sie umgebenden Gewa ltve rhaltnissc zu entwickeln, du rchkreuzen die Jugend lichen das Interesse der bewaffneten Akteure, welches im Fortbestand der systemischen Gewalt und ihres Profits besteht. Hier zeigt sich die zentrale Stellung, die Jug endli che im Konfliktkontext einnehmen konn en: Sie konnen Konflikte dynamisieren, inde m sie Te il desselben werden, sich von den Paramilitars (oder anderen bewaffneten Gruppe n) anwerben lassen, nach (Klein)Wa ffen streben und als Informantinnen dienen, aber sich auch zusammenschlieBen , sich engag ieren und vers uchen, die Verhaltnisse in ihrem Barrio zu verandem . Durch ihre Weigerung, sich den Gewa ltstrukturen anzupassen und diese zu akzep-
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tieren, konterkarieren sic das profitable Gesc haft mit der Perpetuierung von Gewalt. Sozialisation unter desintegrativen Verhaltnissen fiihrt also nieht unwe igerlich zur Verstetigung von Gewalt, sondern Jugendliche besitzen das Potenzial, auch kreative Alternativen im lokalen Raum zu entwic keln und fiir sic h gewaltfreie Raume zu schaffen. Sic sind eige nstandige soziale Akteure, die die Kraft besitzen , als Gegengewic ht zu den bewaffneten Akteure zu fungieren. Die Starkung sozia ler Netzwerke und die Fcrderung des Selbstvertr auens der Jugendlich en schaffen Ebenen , auf dene n Jugendliche als ernstzunehm ende sozia le A kte ure entsch eidend gesellsc haftlichen Wandel anrege n konnen.
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.Kein lebensvoller junge r Mensch verwindet die unheile Geselfschaft mit ihren Sub struktu ren, ihren defekten (sich fortwiihrend unter maka bren Ausfluchten versteckenden] engeren Formen ,rea/en Zu sammenlebens ' ohn e das GejUhl, dies alles zertriimmern und besser wieder aufba uen zu massen. " (Mit scher/ich 1976 : 2J) " Generation and youth are f...) po werfu l instrumen ts in any politics ofh istory as they am bivalentiy encompass continuity and rupture, inclusion and exclusion." (Arnaut 2005: /10)
1. Einftihrung: Afrikas Jugend im Kontext unterschiedlicher Debatten Afrikanische Jugendliche sind in den letzten Jahren sc hon allein aufgr und der de mographisch en Str uktur der Lander des Kont inents, insbesondere des sub saharisehen Afrikas, in den Foku s intemationaler Debatten und soz ialwisse nsc haftlicher Forschun g gertickt. Wahrend die meisten europaischen Gesellsc haften .al tern ' - das Durchschnittsalt er in den Indu striel andem liegt bei 35 ,5 und das in Deutsc hland sogar bei 4 1 Jahren - , machen die rund vierhundert Mill ion en Menschen, die junger als 17 Ja hre alt sind - und damit die Halft e seiner Bewohner - , Afrika zu einem ,jungen' Kon tinent (vg l. Randrianja 2004 : 90; Trotha 2004: 12). In Wi ssenschaft und Politik her rseht weitgehende Einigkeit daruber, dass dieser zunachst einmal rein demographi sche Befund nieht ohne Folgen fi ir afrikanische Gesellsc haften ist. Die jeweiligen Einschatzungen daruber , ob ein hoher An teil Ju gendlie her allerdings eher Fluch oder Sege n fur den Kontinent darstellt, falle n hoch st unterschiedlich aus. Die Kontroversen tiber Afrikas Jugend, ihr Verh altni s zu Gewalt und ihr Potential fur gese llsehaftliehen Wand el, lassen sic h mit Blick auf drei im Folgende n holzschnittart ig skizzierte Diskursstrange verde utlichen. Zunac hst einmal erscheint insbeso ndere der marmliche Teil afrikanisc her Jugend licher als destabil isierend er Risiko fakto r und Tiiterkategorie - ein Topos, der insbesondere sicherheitspo litisc he Deba tten kennzeichnet. Unabhangig vo n dem jeweils betrachteten Gewal tphanome n und der konkreten Motivlage der Jugendllchen - ob es sich hierbei urn Mitgli eder stadtisc her Banden und vigilanter Gr uppe n, ,Rebellen' oder ,Terroristen' hand elt , die fur oder gegen den Staat , in Burgerkriegen und gewa ltsa men Konflikten kampfe n - scheint de r Befund eindeutig zu sei n: Wenn ein so genannter "yo uth b ulge" (F uller 1995), d.h . ein uberpr oportion al hoher Ant eil junger, ausreichend ernahrter Manner an der Gesamtbevolkerung mit
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mangelnden Aussichten auf angemessene Positionen in der Gesellsc haft zusammentrifft, bleibt als einziger Ausweg nur noeh Gewalt, so dass Burger krieg , Volkerrnord und Terrori smus nicht mehr weit sind (vgl. Heinsohn 2003: 18; kritisch Krohnert 2(06). Der im deutschsprachigen Raum prominenteste Vertreter dieser These, Gunnar Heinsohn , knilpft dabei an einen Gedanken an , den bereits Th omas Hobbes (1651) in seinem Leviathan formuliert hatte: .Bedurftige und verwegene Manner. die mit ihrer gege nwa rtigen Lage nieht zufrieden sind, sind seh r ge neig t, Kriege fortzufuhren und Unruh e und Aufruhr zu erre gen und zu nahren ; denn es gibt keine Hoffung, ein sc hlec htste hendes Spiel zu beenden, als ein neues Mischen der Karten herbeizufuhren." Vor aHem Robert Kaplan revitalisierte friihere Malthusianische Visionen der Afrikanischen Dystopie (vgl. Richards 1996: xiii), indem er unter dem Eindruck seiner Westafrikareise junge Afrikaner als "loose molecules in a very unstable social fluid" bezeichnete und ihnen ein vollig ungesteuertes und apolitisches Gewaltpotential zuschrieb, das sich jede rzeit entladen konne (Kaplan 1994 : 46). Der demographische Faktor, ein ,Zuviel' an Jugend, wird nach dieser Lesart somit prim ar zu einem Fluch des Kontinents. Die viel beschriebene "youth crisis" (Richards 1995; Sesay et al. 2003; Twum-Danso 2004) erscheint als eine durcn ,die Jugend ' induzierte Krise, die sich nicht nur in verheerender Weise auf die je weilige Gese llschaft auswirken kann, sondern - eingebettet in einen entgrenzten Sicherheitsdiskurs und vermittelt tiber Angstbegriffe wie .Migrationsstrome' und ,Terrorexport' - auch auf die Weltgesellschaft insgesamt. Freilich kann der bloBe Verweis auf demographische Faktoren weder spezifische Muster, Verlaufsformen und Intensitaten gewaltsamer Konflikte noch die Varianzen in der Beteiligung Jugendlicher daran erklaren (vgl. Abbink/van Kessel 2005: 17; Peters et al. 2003: 9). Kaplans Bild der unkontrollierbaren, .J osen Molekule" erinnert zudem stark an jenes der "Lost Generation", welches schon im Ko ntext der si ldafrikanischen Anli-Apartheidbewegung herautb eschworen wurde und auf eine Jugend verwies, die kaum noch Beruhrungspunkte mit der Gesellschaft zu haben schien und deshalb ebenfalls auf beangstigende Weise unsteuerbar wirkte. So fasste der Herausgeber der Sunday Times in Johannesburg die "Verlorenheit" dieser Gene ration zu jener Zeit folgendermaBen zusammen: "the immediate threat [to South Africa] lies in the social disintegration of the townships, which has produced marauding cohorts of youngsters", deren Verhalten "is so savage as to arouse the impulse towards counter-violence. [ ... ] They are truly lost [ ... ], ined ucable [ .., ] There is nothing anybody ca n do about it." (zit. nach Seekings 1996: 107) Ein zweiter Diskursstrang, der vor aHem die v61kerrechtlichen Debatten kenn zeichnet, nimmt jun ge Menschen in Afrika, wie in der Dritten Welt insgesamt, a ngesichts massiver Armut, Krankheit, dem Erleiden physischer Gewah sowie gesellschaftlicher, politischer und okonomischer Marginalisierung, prlmar als Opfer in
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den Blick. l Entsprechend betonen internati onale Ubereinkunfte wie die Volkerrechtskon venti on der Vereinten Nationen zu den Rechten des Kindes oder die ILOKonvention 182 zur Verhinderung von Kinde rarbeit vor allem die Schu tzbediirftigkeit von Kindem und Jugendli chen. Beide n Kategorien wird dabei allerdings eine je unterschi edliche Schutzbedlirftigkeit zugesc hrieben. So erhalten Kinder als diejenigen , die unter 18 Jahr e alt sind, durch die UN-Kinderreehtskonvention ei nen vol kerrec htlich anerkannten Status, wahrend fur Jugen dliche als diejenigen im Alter von 15 und 24 diese Definit ion nieht rechtsverb indlich ist. Dies hal zu r Folge, da ss die Ju gendaItersgrenz e jederzeit bedar fsweise versc hoben we rde n kann. "where the need arises and more ,youth' are required to fill the ranks of armies, freedo m fighte rs or political movements." (Me Intyre 2(03)2 Innerhalb dieses Diskursstran gs taucht die bereits erwa hnte "yo uth crisis" noch einmal in einer anderen Lesart auf, was auch das Enrwicklungsprogramm der v ereinte n Nationen in seinem Bericht Youth and Violent Conflict. Society and D evelopme nt in Crisis ? zum Ausdruck bringt: " In very general terms, two different meani ngs of the expression ' yo uth crisis' can be identified: (i) a societal cris is impactin g o n youth, resulting in a feelin g of ' uneasiness' in the face of societal changes and constraints; or (ii) a cris is originating from youth and impactin g on soc iety at large. In fact, these two meanin gs are often co nfused o r used interchangeably." (UNDP 2006: 21) Jun ge Menschen geraten hier in eine gese llsc baftlieh induzierte Krise, die auf den gesa mten Kontinent negativ zuruckstrahlt: ,,A crisis of youth is in effect a crisis of the continent, and viee versa." (Twum-Danso 2004: 7) Schli eBlich lasst sieh ein dritt er Diskursstrang ausmac hen, der vers ucht, sich aus dieser vereinfachenden Tater-Opfer-Dichoto mie zu losen und stattdesse n das Potential junger Afrikaner und Afrikanerinnen , als agents of change fungieren zu konnen, betont (vgl. Marks 2001; Gavin 2(07). In expli ziter Abgren zung zum sicherheitspo litischen Bedrohungsdiskurs hebt die entwicklungspo litische Debatt e immer wieder auf die prinzipiell grobere Offenheit Jugendli cher fur neue Erfahrungen ab und macht sle damit zum Hoffnungstr ager fur nachh altige gesellsc haftliche Entwicklung (vgl. Rudolph 1998; Fischer/Iumler 2(00). Das Rebellionspotential der Ju gend , das innerhalb des ersten hier skizzie rten Diskursstrangs mit der Gefahrdun g einer bestehenden sozialen Ordnung assoziiert wird , wird irmerhalb dieses Disku rsstrangs zu einem Potent ial fur Umbruch und Verander ung umged eu tet und Iasst Jugendli che als Hoffnungstrager der Zukunft erscheinen. Zumeist wird dabei auf die bedeutsamen Beitrage verwiese n, die Jugendli che in vielen afrikanischen Landern wahrend der Unabhangigke itsbeweg ungen sowie im Kamp f gege n
So belcgt etw a der Wor ld Report 011 Violence and Health (2002) , dass j unge Menschen zwisc hen 15 und 24 am hiiu fig.~len Opfer 'Ion Homiziden sind. Jahren, nichr nur in Afrika. sonoem Einen VOTStoe. gerade Jugendlichen mehr Rechte und Schutz zukommen zu lassen. machte hingegen die Afrikanische Union mit der 2006 unlerzeichneten .,African Youth Charier" . die allerdings noc h nicht in Kraft getretc n is!.
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das Aparth eidsystem und fur Demok ratisierung in den 1990er Jahren geleistet haben (vgl. Marks 200 1; Eve ratt 2002; Co maroff/Comaroff 2(05). In jungere n wissenschaftlichen Publikationen zum Thema wird vers ucht, dieser w iderspriichl ichen Kraft jun ger Menschen in Afrika, als "Makers and Breakers" (HonwanaJDe Boeck 2(05) oder "Vanguards and Vandals" (Abbi nk/Van Kessel 2(05) fungiere n zu konnen , Rechnung zu tragen . Hier wird betont, dass afrikanische Jugendliche hau fig eine gesellschaftliche Vorre iterrolle einnehmen und zur Bildung und Stabilisierung wic htiger Strukturen, Normen, Rituale und EntwickJungslin ien beizutragen vermcgen, gleichzeitig aber eben auch ein Risikofakt or fur sic h und andere derstellen. indem sie gesellschaftJiche Normen, Regeln und Kon ventionen brechen. Vor dem Hintergrund dieser untersch iedlichen Debatt en mcc hte ich mich im Folgende n mit afri kanischen Jugendlichen im Kon text vo n Gewalt und gesel lsc haftlichem Wand el auseinandersetzen. Ziel ist es, das spezifisch ,Juge ndliche' an vielfaltigen kollektiven Gewaltphanomenen auf dem Kontin ent naher z u beschr eiben , das heiBt danach zu fragen, was ,Jugend' oder ,Jungsei n' in afrikanischen Gesellschaften I lberhaupt bedeutet, mit we lchen Problemlagen sich die Ju gend kon fron tiert sieht und inwieweit Gewalt hier moglicherweise einen Ausweg bietet. Da ich davon ausgehe, dass unsere Erklarungsa nsatz e fiir Jugendgew alt und das Potential , das w ir jungen Menschen zusch reiben, zu gese llschaftliche m Wandel beitragen zu konnen, nicht nur von unse ren Begriffen der Gewalt ode r des gese llsc haftlic hen Wandels abhangen, sondern auch von unseren Jugendko nzepti o nen , we rde ich im zweiten Kapitel drei .Bundel' solcher An satze skizzie ren und ihre Implikationen fur Gewa lt und Wandel du rch Jugendliche herau sarbeiten . Wahrend viele St ud ien zum Thema Jugend gewalt die ,Jugend' selbst als analytisches Konstrukt theo retisc h unterbestimm t lassen und sich pragmatisch an der unter Demographen ublichen Altersspanne von 16 bis 24 Jahren orientie ren, wird der Beg riff Juge nd hie r also nicht a priori definiert, sonde m ruckt als zent raler Unters uchungsgege nsta nd selbst in den Fokus. Nach diese r allgemei nen konzeptuellen Au seinandersetzung mit de r Katego rie der Jugend wende ich mich im dritte n Kapitel den beso nderen Beding ungen des ,Jungseins' in Afrika zu. Nach einer kurz en Skizze historischer Jugendkon struktionen , die bedeutsa m fiir das v erstandnis gegenwartiger Selbst- und Fremd beschrei bunge n vo n Ju gend sind, wird die Th ese entwic kelt, dass Jugend im gegenwartige n Afrika im Wesentlichen zwei, scheinbar wi derspruchliche, Bedeutun gen bzw. Funktionen hat, die zentral fi ir das Versta ndnls vo n Gewa lt und gese llsc haftlic hem Wandel auf dem Kontinent sind: Einerseits wird ,Jugend' vie lfach als eine Form des Stigmas empfunden, desse n sic h junge Mensche n nicht selten mittels Gewalt zu entledigen versuchen.' Andererseits dient ,Jugend' zugleich als eine sozialmo raliUmer "sligma verstehe ich hierbei mil Goffman ( 1963) die Siluation etnes Ind i\liduums, cas von vonsrandrK
ger sozialer Akupti erung ausgeschlossen iSI urd dahergroBere SChwierigkeiten beim Aufbau erner ldenlital, die von ihr und von a nderen akzeptiert wird, a ls nicht sugmansierte Personen hal.
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sche und politische Ressource, die ,angeeignet' werden kann, urn - auf zivile oder gewaltformige Weise - bestimmte politische, okonomische und soziale Ziele durchzusetzen. Solche Ziele werden dabei hauflg im Sinne einer gemeinschaftlichen ,Mission' und unter Rilckgriff auf historische Jugendkon struktionen formuliert und lassen Jugendliche als Vorreiter gese llschaftlichen Wandels erscheinen . Vor dem Hintergrund dieser These und mittels einer kontrastierend en Perspeklive auf die unterschiedlichen Jugendkon zeptionen findet im vierten Kapitel eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des "Generationenkontli kts" statt, welches das wohl dominierende Erklarungsmuster fur kollektive Jugendgewalt auf dem Kontinent darstellt. So ist vielfach postuliert worden, dass die ,klassischen' Konfliktlinien wie Klasse, Rasse, Geschlecht oder Ethnizitat in Afrika heute weit weniger bedeutsam seien als der Kampf zwischen ,Jung' und ,Alt' (vg l. Comaroff/Co maroff 1999 : 284). Ahnlich wie bei fruheren Debatten tiber .erbnische Konflikte'' scheint jedoch auch hier meist vem achlassigt zu werden, dass ge nerationelle Kategorien ebenso wie andere soziale Kategorien kulturell und historis ch kontingent und keineswegs ursachlich kontliktgenerierend sind (vgl. Abbink/ van Kessel 2005: 3). Auch ,Jugend' muss und kann sich erst unter bestimmten Bedin gungen zu einer Einheit konstiluieren, urn sich dann gegen ein entsprechend konstruiertes Kollektiv der .Alten' stellen zu konnen . Diese Bedingungen so llen hier ebenso beleuchtet werden wie die Frage, ob sich die ,Generationen' tatsachli ch so antagonistisch gegenuber stehen wie angenommen wird oder ob nicht vielmehr auch verbindende Elemente zwischen .Jungen' und .Alten' bestehen. 1m funften Kapitel werden schliel3l ich zentrale Ergebnisse zusammengefasst und es erfolgen einige abschlieBende Bemerkungen zum ambivalenten Verhaltni s von Jugendgewalt und gesellschaftlichem Wandel. Als Jugendgewalt wird im Foigenden kollektive, physische Gewalt betracht et, wie sie sich sowo hl in kriegerischen als auch nichtkriegerischen Kontexten bzw. den Grauzonen des .jcenher-war-nor-peace'' (Dowdney 2005; Richards 2OOS) beobachten lasst. Zwei Bemerkun gen seien den folgenden Ausfuhrungen noch vorangestellt. Die erste betrifft das Sprechen - oder Schreiben - tiber ,,Afrika". Wie die meislen Arbeiten, die sich nicht einem spezifischen lokalen oder regionalen Kontext auf dem Kontinent widmen , sondem aus einer Vogelperspektive gewisse Gemeinsamkeiten in afrikanischen Gesellschaften zu entdecken versuchen, sind auch mit dieser zwei eng miteinand er zusammenhangende Problematiken verbunden . Zunachst birgt eine solche Perspektive die Gefahr, dass sie tiber die Suche nach Mustern allzu leicht Generalisierungen erzeugt, die das Spezifische notwendigerweise vemachlass igen mussen, so dass ein gesamter Kontinent ats homogene Einheit konstruiert wird. Doch wie Schafer (200 2: 417) zutreffend bemerkt hat: ,,Als Einheit existie rt Afrik a vor allem in der Imagination des durchschn ittlichen Europaers: Irgendwo zwisch en gefahrlich-faszinierender Irrationalitat und okonomischem Blend orientiert sich dieses BUd relativ ungestort an einem Wissen tiber Verhaltni sse und Zustande vor
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Ort." Indem zahlreiche empirische Studien mit ihrem jeweiligen lokalen Blickwin kel in die folgenden Uberlegungen einbezoge n werden, hoffe ieh, diesen Effekt abzumildem . Die Problematik der Generalisierung ,afrikanischer' Muster ist zugleieh mit jener eines "afrikanischen Exzeptionalismus" verkniipft. Urn der Gefahr des "O the· ring" afrikanischer Jugendlicher (vgl. Trud ell 2002: 14) zu entgehen, sollten kiinftige Forschungsarbeiten daher starker die Parallelen zu j ungen Menschen in anderen Weltregionen und Gesellschaften analysieren als dies die herrschende Tradition komparativer Forschung in den Sozialwissenschaften, die eher Kontrast und Differenzen statt AhnIichkeiten und Kontinuitat betcnt (Randeria 2001: 86), bisher vorsieht. Die zweite Bemerkung bezieht sieh darauf, dass der vorliegende Beitrag den Fokus auf mannliche Jugendliche richtet. Verantwortlieh hierflir ist nieht die viele Studien zum T hema weite rhin charakterisierende Gender-Blindheit, sondem zum einen pragmatische Griinde der Einschrankung und zum anderen die nach wie vo r mangelnde Verfligbarkeit entsprechender Studien. Die wenigen Arbeiten, die auf die Rolle von jun gen Frauen in gewaltsamen Konflikten eingehen (Utas 2005; de Berry 2004; West 2004; Argenti 2002: 149), werden an den entsprechenden Stellen einbezogen. Es bleibt aber festzuhalten, dass der wei! liberwiegende Te iI der Tater und Opfer von Gewalt auf dem Kontinent, ebenso wie in anderen Weltregionen , j unge Manner sind (Krug et al. 2002: 25).
2. Zur Kategorie der Jugend Wie wir Jugendgewalt erklaren und welches Potential wir jungen Menschen zuschreiben, konstruktiv zu gesellschaftlichem Wandel beitragen zu konnen, hat stets etwas mit unseren Konzeptionen von .Jugend' zu tun. 1m Wesentlichen lassen sieh diese zu drei Klassen von Ansatzen bu ndeln (vgl. Buchholz 2002; Vigh 2(06): jene, die Jugend als Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter fasse n; so lche, die Jugend als eine eigenstandige Entitat oder Subkultur konzeptualisieren; und Herangehensweisen, die Jugend als sozia les Konstrukt begreifen.
2./ Jugend als Phase des Ubergangs Vor allem entwicklungspsychologische Ansarze haben dazu beigetragen, Jugend als ein Stadium des Ubergangs von der Kindheit in das Erwachsenenalter im Wege physischer und psychischer Reifung zu konzeptu alisieren (vgl. Hall 1905). Bis der Prozess der .Reifezeit" in den Autbau einer stabilen personlichen ldentit at und die Entwicklung zum .Von-Srwachsenen'' mundet, durchlaufen Jugendliche nach diesen Ansatzen eine Art "Moratorium und Freistatt und eine gegenseitige Riicken starkung fllr freies Experimentieren mit inneren und auJ3eren Gefahren'' (Erikson
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1976: 283). Jugend wird mit Spiel, risikobereitem Ausprobi eren und Identltatsflndung assoziiert, wahrend Erwachsensein fur Verantwortung und eine stabile soz iale Identitat steht. Grundsatzlich wird dabei von einer naturlichen Symmetrie zwischen biologischer und sozialer Reifung ausgega ngen. Allerdin gs kann die soziale Reife der biologischen auch ,hinterherhinken' , wenn entweder die notwendigen Erfahru ngen und Kenntnisse zur Erlangung der sozialen Reife eines Erwachsenen fehlen oder aber die soziale Reife von den Erwachsenen nicht anerkannt wird (vgl. Mitscherlich 1976: 298), Erwachsensein setzt damit nicht nur biologische Reifung vo raus, sondern auch einen sozialen Status des Erwachsenen, der einerseits durch spezifisc he Kenntnisse und Fahigkeiten erworben, andererseits aber auch von Erwac hsenen verliehen werden muss. Inwieweit im Kontext vieler afrikanischer Gesellschaften diese beiden Wege der Erlangung des Erwachsenenstatus' erschwert sind, wird weiter unten eingehender behandelt. Fast unausweichlich erscheint Jugend hier als eine "Sturm und Drang"-Periode, die sich in Geflihlsschwankungen infolge hormonell er Prozesse (Hall 1905), einer fur diese Entwicklungsphase typischen Zuruckweisung gesellschaftlicher An spruc he (Mitscherlich 1976: 288) sowie einem besonders sensibilisierten Wertgefiihl (Lapassade 1976: 198) auBert, Doch selbst als ,Rebellen' bleiben junge Menschen hier noch weitgehend passiv, da sie einerseits von biologischen Prozessen, andererseits von sozialen Strukturen abhangig sind, auf die sie fast keinerlei Einfluss haben. Dahinter steht das Bild eines ,unfertigen' Menschen, der zu seiner Vervollkommnun g noch weiterer Entwicklung und Anleitung durch Erwachsene bedarf und entwicklungsgemaf keine volle Verantwortung fur sein Handeln ubemehmen kann (vgl. LuiglSeebode 2003: 11; Sharp 2002: 13). Junge Menschen werden sornit als "people in the process of becomin g rather than being" wahrgenommen (Honwan a/De Boeck 2005 : 3; vgl. Wyn/White 1997: 11). Auf diese Weise wird ihnen praktisch jede Form der agency , d.h. ihr Status als Subjekt, aberkannt. Dabei meint agency freilich nicht autonomes Handeln oder direkte Machtausubung eines Akteurs tiber einen and eren, sondem vielmehr "the aCI, exercised by people through the various and contradictory discourses through which they are constituted, to .author' a positioned self or person at particular moments or encounters" (Durh am 2000 : 117). Vor dem Hintergrund solcher Phasenkonzeple kann Jugendgewalt schnell als Exzess dieser speziflschen .Entwicklungsphase' verurteilt - oder auch entsc huldigt werden (vgl. Bay 2006: 11). Wird Jugendlichen ein naturwiichsiges Potential sowohl fur Gewalt als auch fur das Vorantreiben soziaJen w andel s zugeschrieben, indem die einfache Dichctomie zugrunde gelegt wird, wonach "das Alter stets als das konservative Element und die Jugend nur in ihrem StUrmertum gese hen wird " (Mannheim 1976: 25), so wird das Argument letztlich tautologisch. Erscheinen Generationenkonflikte nach diesen Ansatzen aufgrund eines untrennbar mit der Jugendphase verbundenen Rebellentums und Aufbegehrens gege n
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die Alteren fast unausw eichli ch , legen soz iologische Phasenkonzeptionen wie das Kon zept der Altersstufen vo n Samuel N. Eisen stadt oder Karl Mannheims Modell der Ge nerationsfo lge ein differenz ierteres Verstandni s von Alt erskate gorien zugrunde und betonen stattdesse n, dass Gesellsc hafte n fiber spezifische Mech ani smen ve rfilgen, die gewa hrleisten, dass Beziehun gen zw ischen J ung und AU in der Regel wei testgeh end reibungslos verlaufen. Jugendliche bilden nach diesen Ansatzen nicht automatisc h und .naturge mab' Gruppe n, sondern neigen erst unter bestimmten Bedingungen zu solidarischer Verbundenheit und einer "defensiven Ruckzu gstendenz" in Richtung auf .alters ho mo gene" Beziehun gen , insbesondere dann we nn sie an der Erlangung des Erwachse nen statua' strukturell oder durch altere Auroritaten gehinde rt werden (Eisenstadt 1976: 78 , 68). Ein konfliktives Verh altni s zwischen Jun g und Alt ist hier allerdings eher die Ausnahme als die Regel , denn die .Kontinuierlichkeit der Ge neratio nenfo lge" , welche dad urch hergestellt wird, dass bestimmte Ge halte und Einstellungen von einer Generatio n unbewu sst vererbt und ubertragen werden und so in die nachfol gende ,einsickern', gewahrl eistet, dass Uber gange vo n der Jugendphase in das Erwachsenenalter Ilblicherweis e reibungslos verlaufen (Ma nnheim 1976: 43).
2.2 Jugend als Subkultur Den Phasenkonzep tionen ste hen solehe gegenuber, welche Jugend als eine eigene, weitgehend vo n der restlichen Gesellschaft losgeloste Einheit konzeptualis ieren . G1eichaltri ge Jugendliche bild en danach eine Te il- oder Subkultur, die sic h uber bestimmte Kleidun gsstile, Musik, Formen der Freizeitgestaitung etc., bewu sst von der ,Welt' der Erwachse nen abgrenzt und in einem konfliktiven Verhaltnis z u di ese r steht (vg l. Schelsk y 1957; Parsons 1964 ; Bell 1976). Anders als bei den Pbasenkonzeptionen werd en Jugendliche hier nich t als weitge hend abhangig vo n Strukturen und korperlichen bzw. psychi sch en Pro zessen angesehen, so ndern erscheinen als aktive Gestalter der Gese llschaft. Sie sind nicht im Pro zess des Werdens begriffen , so ndern ve rfuge n bereits Ilber eine ,vo llwe rtige' Position innerh alb des soz ialen Systems. Obg leich es solchen Ansatzen zu verdanken ist, dass ,Jugend' als ein eigenes Fo rschungsobje kt in die wissenschaftlich e Debatte eingehen konnte und aus se iner peripheren Stellung als Ubergangs moment und Residualkalegorie herausgelost wurde, sind auch hier einige blinde F1ecken zu verzeichnen. Wahrend die skizzierten Phasenkonzeptionen die agency junger Menschen weitestgehend ausblende n und Strukt uren uber betonen, kommt es bei dieser Kl asse vo n An satzen zu der gegenl aufigen Tendenz einer allzu starken Vemachl ass igun g struktureller Faktoren und einer Uberbeto nung der Macht der Jugend, welche a ls vollig autonom konzeptualisiert wird: "T he co nsequence of the life-stage perspe ctive is that we gain a picture of youth as having very little agentive capac ity 10 change or move within or berween generational catego ries. T he focus on yout h cul-
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ture, on the contrary, can easily paint a picture of youth as an entity , which is socially and culturally detached from the surrounding world." (Christiansen et a!. 2006: 16) Oer Konflikt zwischen Jung und Alt wirkt hier geradezu unausweich lich, da in Bezug auf eine weitestgehend ,abgekoppelte' Jugend Regulationsmechanismen und Vermittlu ngsinstanzen zwischen Generationen keinerlei Wirkung mehr haben. Die vielfaltigen Uberlappungen und Kontinuitaten tiber Altersgrenzen hinweg, auf die vor allem Mannheim verweist, werden hier ausgeblendet und die Zugehcrigkeit zu einer biologischen Alterskategorie wird immer schon mit einer fast automatische n Tendenz zur Gruppenbildung assoziiert : ,,Absent from these studies [ ... ] is the acknowledgeme nt that each generation of children may potentia lly incorpo rate and creatively transform such narratives [der alteren Generation, A.K.] to redefine their own sense of collective self in ways that can persist beyond their teenage years. In essence, then, each generation potentia lly retells and thus redefines the significant elements of the historicised past." (Sharp 2002 : 15). Indem von einem schier unvermeidlichen Konflikt zwischen Jung und Alt aufgrund eines per se antagonistisc hen Verhaltnisses ausgegangen wird, erschei nt die hier aufscheine nde Konzeptualisierung des Generationenkonflikts als allzu ahistorisch und den jeweiligen gesellschaftlich-kulturellen Kontext zu vemac hlassigen. 1m Folgenden wird eine dritte Jugendkonzeptio n etwas ausfiihrlicher betrachtet, nach der Jugend sowoh l als Prozess wie in den Phasenkonzeptionen als auch als Position im Sinne der Subkulturansatze zu begreifen ist. Damit wird es moglich, die agency j unger Mensehen zu berucksichtigen, ohne ihre Abhangigkeit von sozialen Strukturen auszublenden und zu beleuehten, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise Menschen versuchen, sich Jugend als Selbstbesch reibung und Ressource fur bestimmte Ziele anzueignen oder, umgekehrt, unzahlige Anstrengungen untemehmen, mogllchst nicht dieser Kategorie zugeord net zu werden. Zugleic h eroffnet dies eine andere Sichtweise auf die T hese vom ,Generationenkonflikt' , der sich dann nieht mehr als naturlicher Antagonismus a priori gegebener Altersgruppen darstellt, sondern Ergebnis aktiv hergestellter und angeeigneter sozia ler Konstruktionen ist, wobei unter ,,Aneignung" mit LUdke (1998: 563) "die Gleiehzeitigkeit des Sich-Einfindens in Vorgefundenes, das dabei immer schon verandert und je Bigenes wird" verstanden wird. 2.3 J ugend als soziale Konstruktion
,)ugend ist nur ein Wort" stellte schon Pierre Bourdieu (1993) fest und maehte so dara uf aufmerksam, dass sich der Gehalt des Begriffs und sein Sinn erst aus einer Ana lyse der konkreten Lebenssituationen und Alltagspraxen junger Mensehen ersehlieBen lasst. Tatsachlic h sah der franzosische Soziologe ,) ugend" als eine so heterogene, komplexe soziale Konstruktion und die Lebenswelten junger Menschen
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als so unterschiedlich an, dass diese nur durch "eineo erheblichen sprachlichen Gewaltakt" unter ein- und denselben Begriff zu subsumie ren seien (e bd. : 138). Ju gend als gese llschaftliches Konstrukt zu ko nzeptuaiisieren heifst, Jugend nicht als biologisch gege bene oder altersmafsig definierbare GroBe zu beg reife n, sondern als das Ergeb nis von Interaktionen individuell und kollektiv handelnder Akt eure in einem spezifischen historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kont ext z u be trachten. Die Bedeutung physischer und entwic klungspsychologisc her Prozesse wird damit nicht in Abrede gestellt, abet es gilt in einer solehen Perspektive genauer zu analysieren, wie mit solc hen ,inneren' Prozessen sowohl von gesellschaftlichen Institut ionen als auch von den Individuen selbst in einem bestimmten Kontext umgegangen wird (vgl. Wyn/White 1997: 12). So wird man etwa situative Kontexte beobachten, in denen , Jugend' mal bedeutsam, mal aber auch marginal oder ganzlich obsolet ist: "For beyond the important observation that different societies do define and demarcate youth differentl y, even within a soc iety people of a wider range of age are ofte n treated as youth, and people of a wide range of ages claim the space of youth, at spec ific times in specific places." (Durham 2000: 113) Ob Menschen Anspriiche auf solche sozia len .Raume der Jugend" erheben und nach Jugend streben, da sie damit eine Zeit der Freiheit und des Austobens, Moglichkeiten unbeschwerten Spiels und Vergnugens verbinden, oder ob sie vieles dafiir tun, urn sich aus einem als einengend empfundene n .Gefangnis' der Jugend zu befreien, hangt nicht nur von kulturellen Faktoren, sondern auch von den konkre ten Moglichkeiten und Lebensperspektiven der jeweil s Betroffenen ab: ,,'What youth is' depends not only on research traditions and the context the category is researched in but on 'what youth are able to do ' in the give n context." (Vigh 2006: 35). Der Blick wird damit auf Prozesse und Kontexte gelenkt, in denen ,Jugend' als Selbst- oder Fremdbeschreibung aktua lisiert wird. Jugend wird so begreifbar als ein relationales Konzept, das seine Bedeutung erst im Verhaltnis zum Erwachsenenkonzept erhalt und damit Machtbeziehungen in den Fokus riickt (vgl. Bourdieu 1993: 136).4 Allerdings ist dabei nicht von einem kJaren Oberordnungs-lUnterordnungssystem zwisc hen alteren und jiingeren Generationen auszugehen - dies wurde notwendigerweise emeut weitestgehend kcharente Gruppen von Alt und Jung voraussetzen. Vielmehr ist der Heterogenitat und Inkoharenz jeglicher Alterskategorie Rechnun g zu tragen, da Menschen nicht nur individuelle Ziele und Bediirfnisse haben, sondem die jeweiligen Rollen und Einflussmoglichen j unger wie alter Menschen durch eine Vielzahl anderer Variablen wie Geschlecht, Bthnizitat, Religionszugehorigkeit oder Klasse - Variablen also, die quer zurn Alter liegen - mitbestirnrnt werden kcn nen.
Generano nskategon en, begriffen als soziale Konstrukuon en, weisen damit gewisse Analogten zur Oeschtechterkategorien auf, denn auch don soegten die in friiheren Debalten als stansc h begriffenen Kategorien der Maskulinitiil und Feminitiit dafiir. dass oichl in den Blick geraten konrue, wie sic h beide Konstrukte erst du rch ihr wechsetseinges Verhliltois etgeben (vgl. Wyn/While 1991: 11).
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1m Gegensatz zu den oben skizzierten teleologischen Phasenkonzeptio nen, welche eine geradlinige EntwickJung von der Kindheit in das Erwachsenenalter postulieren, ist davo n auszugehen, dass einmal erreichte Generationen- und damit verbundene Machtpositio nen nicht stabil sind, sondern dass sich Menschen zwische n diesen Positionen und Kategorien aktiv hin und her bewegen und damit iiber agen cy verfiigen, gleichermaBen abet auch durch externe Strukturen und andere soziale Akteure hin und her bewegt werden (vgl, Waage 2006: 84), Diese Dynamik hat exemplarisch ein junger Mann in Guinea Bissau, wie folgt zum Ausdruck gebracht : "My father, if he wants me to do something, he calls me; ' boy' he say's 'go get me this". go do that' and I cannot confuse (".) [but] if I need his help he says to me; ' what, you are an adult now' and he will refuse me," (zit. nach Christiansen et al. 2006 : 11) Geht man von J ugend als sozlaler Konstruktion aus, sind nicht zuletzt auch transnatio nale Prozesse zu beriicksichtigen, welche Einfluss darauf haben, ob und in welcher Weise Jugend ,angeeignet' wird. Medien und globale Jugendkulturen, die bestimmte Wert- und Konsumtionsvorste llungen transportieren , generieren ebenso wie v61kerrechtliche Bestimmungen und internationale Entwicklungsdiskurse bestimmte Konzepte, Rechte und Bilder von Jugendlichen, welche diese nicht einfach nur repriisentieren, sondern dere n Erwartungen und eigenen Vorstellungen von ,Jugend' aktiv beeinflussen (vgl. Venkates h/Kassimir 2007; De Waal/Argenti 2002; vgl. Durham 2000 : 114), So werden identitare und materie lle Bezugsrahmen fur junge Menschen bereitgestellt, welche die entsprechenden gene ratione llen Kategorien in vielen Landem des Siidens iiberhaupt erst in dieser Weise entste hen lassen und es erlauben, bestimmte Anliegen und Misssta nde zu artikulie-
ren." Mit Hilfe des hier zugrunde gelegten Verstandnisses kann Jugend somit sowo hl als Position, die sich Menschen aktiv aneignen und auf die sie sich zu bestimmten Zwecken zuriickziehen oder auf der sie ungewollt .stecken bleiben' , begriffe n werden, als auch als Prozess, der nicht nur in eine Richtung verlauft, sondern durch Oynamiken des Hin- und Herbewegens gekennzeichnet ist. Der Generationenkonflikt stellt sich aus dieser Perspektive nicht mehr als eine unausweichliche Auseinandersetzung zwischen Jung und Alt mit starren, klar umrissenen Entltaten dar. Vielme hr geht es urn die Frage, unter welchen Bedingungen, die van Machtverhaltnissen und historischen wie gegenwartigen gesellschaftliche n Jugendkonstruktionen beeinfl usst werden, sich erst ein Generatione nbewusstsei n konstituiert . Denn Da bei gi lt fUr d ie Univ ersa lisie rung von Kindem:chten und die Tendenz der analoge n 5 tlirkung de r Rec ht e Jugend licher N mliches wie Coo per und Packard es fUr den Rekurs auf ,.Entwicklung" formuliert habe n: " People living within situatio ns of oppress ion or exploitat ion 1... 1have the poss ibility of atta chin g thei r ca use to somet hing beyond their ow n borders, of turn ing rhetoric of human righ ts, of se lf-dererm inarion, of cultural integrity to poli tical use . Developm ent rhetori c lund so auch ' yout h rhetoric ' , Anm. A. K.I represents o ne possible framework in terms of wh ich causes can be mobi lized. The point is not that development - any mor e than a list of universal human rights - itse lf offers answers, bur tha t it shapes possibilities for political mob ili7.aI;on that cross d ifferences of culture , nationality, and geography." (CooperlPackard 199 7: 30)
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erst dieses Bewusstsein bildet die Voraussetzung dafiir, dass sich Jugendliche als Gruppe oder .Schfcksalsgemeinschatt" begreifen und Konfliktparteien generie ren, so dass ein "Generationenkonflikt" entstehen kann.
3. Jungsein in Afrika Bevor die These entwickelt wird, dass Jugend im gegenwartigen Afrika sowoh l als Stigma als auch als Ressource betrachtet werden kann, wird zunachst beleucht et, vor we lchem historischen Hintergrund das Kon strukt Ju gend Einga ng in afrikanische Gesellschaften fand und inwiefern gegenwart ige Fremd- und Selbstbeschreibun gen afrikanischer Jugendliche hierdurch gepragt werd en.
3.1 Die Jugend Afrikas - ein historisch er Abriss idier Hoffnungstriiger und Unruhestifter Sowohl die eingangs skizzierten Diskursstrange als auch die verschiedenen Konzeptionen von Jugend haben bereits deutlich gemac ht, dass es weder eine neue Erscheinung noch eine afrikani sche Besond erheit ist, jun ge Menschen entweder m it der Gefahrdung einer bestehend en sozialen Ordnung zu assoziieren oder sie dank ihres Pot entials fur Umbruc h und Veranderung als Motor fur sozialen Wandel und damit als Hoffnungs trager der Zukunft zu betrachten . Diese " yo uth as a pro blem o r so lutio n dichotom y" (lsmail/A1ao 2007: 5) und das daraus erwachse nde Bedurfnis, die Ene rgien junger Menschen po sitiv zu kanalisieren, brachte auf dem afrik anisc hen Kont inent histor isch jeweils unterschiedliche Strategien hervor, um entweder das Jugendproblem ,in den Griff' zu bekommen oder ihr Hoffnungspoten tial nutzbar zu machen. 1m vo rko lonialen Afrika diente ein umfassend es Ges ellschaftssystem aus Initiationsriten und Alte rs- bzw . Ge neratio nsklassensysternen, das die ,j ugendlichen Energien' kanalisieren und rituell einbetten sollte, als Mittel der Kontrolle und Re6 gelung des Verhaltnisses zw ischen Jun gen und A1ten . Bei der Initiation hand eIte es sich urn einen rituali sierte n Vorgang, der meist mit sc hmerz haft en Eingriffen in den Kerper, bestimmten Priifungen und Angsterfahrungen einherging und iiber das Erleben eines sy mbolisc hen Todes das Erreichen eines neue n, hoher anerkann ten sozialen Status kennz eichnete. Nicht nur wurden junge Menschen rnittels Beschneidung oder neuer Narnensgebung in symbo lischer We nngleich lnitialionsrituale unter dem Einflu ss von Migration und Urba nisierung selte ner geworde n si nd und heute zum Teil andere lnsntutionen wie die Sc hule oder der Eimritt ins Berufsleben oder den Militiir· die nst den Einlri lt in din;e Staruspassage mark ieren (vgl. Lovell 2006: 235), habe n slc h diese abe r zu m Tei l, in an gese llsc haftlichen Wand el angepMSten Modifikationcn bis heute erhalten. So lche Modifi kationen steuen bc ispie lsweise die periodischen und rout inierten Handelsreisen junger West- und Zen tralafrikaner nach Europa dar (Zitelmann 2OJ4: SOf.).
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Weise der Kennzeichen der ,J ugend' beraubt und mit Kennzeichen des .Erwachsenenseins' ausgestattet, auch wurde die direkte Kontrolle durch die Alteren d urch verinnerlichte oder symbolische Fonnen der Kontrolle ersetzt (vgl. Eise nstadt 1976: 56f.). Diese Rituale bildeten allerdings ledi glich Hohepunkte innerhalb von oftmal s jah relang andauernden Ubungs-, Lern - und Lehrprozessen (vgl. Zitelmann 2004: SOf.). Daruber hinaus verschaffte die mutige Bewa hrung in risikoreich en und gefa hrlichen Situationen den ,j ungen Kriegern" nieht nur eine prestigetrachti ge Identitat (vgl. EIwert 1998), sondern stiftete auch Vertrau en in die Mitgli eder der Gemei nschaft, da der junge Mensch " in allen To desa ngsten, die in ihm hervorgerufen we rden, nieht getotet" wird , was ihm "die fast kcrperliche Uberzeugung gibt", dass " die Menschen in seiner Welt verlass lich sind" (Mitsc herlich 1976: 302f. ). Wahrend sieh filr Eisenstadt (1976: 56 f.) mit der Initiation, die oftmals ein .Kraftemessen" und damit eine Intensivierung der Wechselbeziehun gen zwischen den Generatio nen beinhaltet, in erste r Linie die Funktion de r Aufrecht erhaltung einer Kontinuitat der gesellschaftlichen Ordnung verbindet, beton t EIwert (1998), dass sich tiber solche Riten ftlr die Gesellsc haft zugleich auch Moglichk eiten der Erprobung von Neuem eroffneten. So lieB der durch gezielte Isolierungsph asen entstehende .elgene, risikoreiehe Aktionsraum" der j ungen Mann er Chancen fi lr geseUschaftliche Innovationen entstehen und bot Raum fllr die Bild ung neuer, ei gensta ndiger sozialer Gruppe n (ebd.). Wurde so einerseits bew usst eine gewisse Unabhangigkeit der ,j ungen Krieger" befordert, die sieh als konstrukt iv fur gesellschaftlichen Wand el erweise n konnte, gab es andererse its das Bestreben, Jugendliche in die Gesellschaft einzubetten und ihre Pflicht en und die Verant wortung gegenuber der Gemein schaft zu betonen (00relPratte n 2003 : 221). So wurden junge Manner zugleieh auch in der Rolle der "g uardians of the co mmunity" gese hen (Nolte 2007). A1s Wachter ihrer Gemeinschaft hatten sie diese nicht nur physisch vor auBeren Ang riffen zu schutzen, sondem auch morali sch , indem sie sich fur den Erhalt der Werte und die Binheit de r Gemeinschaft einzusetzen und diese gegen ,fremde' Einfhi sse zu verteidige n hatten. Nebe n den Initiationsriten dienten in vielen afrikanischen Gesellschaften auch Alters- und Generationsklasse nsysteme zur prakt ischen und begriffIichen Gliederung des Lebensalte rs (Elwert-Kretschmer 2004: 5). Diese vor allem in den pastoralen Gesellschaften Ostatrikas verbreiteten Fonnen der sozialen Organ isation erfullte n vor allem den Zweck der Verreglung sozialer Interaktionen, oftmals tiber Dorf- und Stammensgrenzen hinweg, wo bei de facto groBe biologische Altersunterschiede innerhalb der Alte rsklassen vorkommen konnten (vgl. ebd.; Kurim oto/Simonse 1998). Widersprtiche zwischen Altersgruppen traten hier somit nicht a ufgrund von Divergenzen zwischen biologischen und sozial en ,Reifungsprozesse n' auf, so ndern vor allem dann , wenn etwa Manner, die noch nicht rituell in die Erwac hsenenzeit eingefuhrt worden waren , bereits eine gewisse c konomische
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Unabhangigkeit und damit einen neuen sozialen Status erlangt hatten, der ihnen gewisserma8en noch nicht ,zustand' (vgl. Durham 2000: 115). Am deutlichsten werden Alter und Autor itat in so genannten Senioritatssystemen miteinander verkntipft. Das Vorrucken in der Geburtenfolge bedeutet hier einen Machtzuwachs, wobei aber keineswegs aile alten Menschen automatisch zu Geronten werden und dasselbe hohe Prestige genieBen. Vielmehr werden AIte, ohne je rnals Alteste (elders) geworden zu sei n, oftmals gerade an den Rand der Gesellschaft gedrangt (Elwert-Kretschmer 2004: 5). Eine besondere Form solcher Ordnungen stellt das vor allem in Westafrika verbreitete autochthone System der nach Geschlechtern getrennten Geheimbl inde oder Geheimgesellschaften (secret socities) dar, welches bis heute eine wichtige Rolle bei der Sozialisierung junger Menschen und der Aufrechterhaltung von Kontinuitat zwischen den Generationen spielt (vgl. Ellles/Ter Haar 2004: 75ff.).7 Secret societies sind gerontokratische Organisationen, innerhalb derer die elders direkt die sozialen, okonomischen und politischen Moglichkeiten der Jtingeren beeinflussen, was je nach Position von Letzteren als wohlwollende Forderung oder als Unterdriickung empfunden werden mag (vgl. Carey 2006 : 103f.). Zwar werden aile jungen Manner und Frauen uber die Geheimbunde in die Gesellschaft initiiert, aber nur wenige werden fur einflussreiche Positionen innerhalb der hierarchischen Organisation ausgewahlt. Dartiber hinaus sorgen die elders auf zweifache Weise fur eine dauerhafte Stabilisierung ihrer ubergeordneten Stellung und eine Kontrolle der Jungeren innerhalb des Systems. Zum einen Ilben sie .mysnsche Macht" aus, indem sie nur einen begrenzten Wissensvorrat an die Jungeren weitergeben und stets einen Teil geheimen und magischen Wissens zurtickbehalten.8 Auf dieses Weise verbindet sich mit dem Konzept der Geheimhaltung (secrecy) eine mit materiellen Vorteilen verbundene symbolische Grenzziehung zwischen solchen, die Wissen haben und solchen, denen dieses Wissen fehlt (vgl. Utas 2003: 126). Zum ande ren uben sie "sakulare Macht" aus, indem ein Aufstieg in hohere Range der Bunde oft nur gegen hohe Geldbetrage moglich ist, so dass diese meist wohlhabenden alteren Menschen vorbehalten bleiben (vgl. Carey 2006: 104). Zudem kont rollieren die elders, hauflg altere Frauen, teilweise auch Verheiratungen, was ein traditionelles gerontokratisches Machtmittel darstellt, tiber das zugleich der Zugang zu Land, Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung geregelt wird (vgl. Vigh 2006: 45). Letztlich wird damit auch fiber den sozialen Eintritt ins Erwachsenenalter bestirnmt, da dieser in vielen afrikanischen Gesellschaften traditionell tiber Heirat und die Grtindung einer eigenen Familie verlauft (vgl. Last 2005: 50).9 Poro iM der bedectsamste, in Sierra Leone , der Elfenbeinkiiste, Liberia und Guinea verbreitet e Geheimbund der Minner. Die wichtigsten Frauengesellsc hatten sind Sa nde und Bundu. Geheim gesellschalten sind deze nrral organ isien und verbind en v enr erertneen elnfluss relcher Ethn ien iibcr Slaatsgrenzen hinweg. Das hohc Ansehen der ciders leite t sieh in vielen afri kanischen Gcse l1sc.:haften aus einer Zusc hreibung mag tsc her Kompctenz ab (vgl. Elwert-Kretschmer 2004: 5). Wen n im Folgenden auf da.sstrinige Begriffspaa r MtradilionellM und Mmodern" zuriickgeg riffen wird, so bcdarf d ies eincr ErUiuteru ng, nieht nur weil s ieh damit grundsiitz lieh erne se hr grobschlach tige Diehotomie verbin-
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Die hier lediglieh tlberblicksa rtig dargestellten Mechanismen zur Integration, aber auch zur Kontrolle und Einhegung junger Menschen verdeutlichen, dass l.etzteren bereits im vorkolonialen Afrika eine zentrale Stellung im gesellschaftlichen System, etwa als Krieger und Wachter der Gemeinschaft, zuteil wurde und man von ihnen durchaus die Ubema hme einer gewissen Verantwortung zum Wohl e der groBeren Gemeinschaft erwartete. Andererseits repriisentierten junge Menschen immer auch diejenigen, die noch nicht .votlstxndig sozialisiert" waren und gera de aufgrund ihrer .ungezahmten Natur' potente Krafte darstellten, derer sic h Altere bedienen konnten (Durham 2000: 118). Der Begriff der Jugend selbst tauehte in Afrika erst wahrend der Kolonialzeit auf und verwies erstmalig auf eine vereinheitliehte, inharent problematisehe Kategorie, die es zu diszipliniere n und kontrollieren galt, nieht zuletzt weil jun ge Mensehen von Seiten der Kolonialregierung von Anbeginn an mit einer gewissen Ambigultat verbunden wurden. So war die Zeit der kolonialen Eroberung einerseits ohne Frage "pre-eminently the time of young men, for it was they who, in and out of uniform on both sides, did the fighting," (Waller 2006: 78) Doch nieht nur als Soldaten waren j unge Manner wertvoll fur den Kolonialstaat, sondern einige von ihnen ebenso als spatere Funktionsre in der kolonialen Burokratie. Fiir sie bede utete dies eine Mcglichkeit, sich aus den gerontokratischen Machtverhaltnissen herauszulosen (vgl. Bayart 1993: 114; Last 2005: 47). So forderte der moderne Kolonialstaat neue Denkweisen, Wissensformen und Fahigkeiten und bedeutete damit oftmals eine faktische Entmaehtung der Alteren: "For the first time, young men did not need to wait too long before gaining entry into privileged society, A ' short-cut' was provided through salaried employment; in this way some were able to wield power over traditional elders."(Tw um-Danso 2004 : 27) Damit wurde die Jugend jedoch gleich zu einem doppelten Problem flir den modernen Kolonialstaat. Denn indem dieser versuehte, jun ge Manner mittels Bildung und der Er6ffnung von sozia len und okonomisch en Aufstiegschancen, tiber Militardienst und Lohnarbeit zu produktiven und gegenliber dem Kolonial staat und seinen Werten verantwortliehen Blirgern zu machen , erhielten einige von ihnen auch das notwendige Selbstbewusstsein, urn die koloniale Autoritat und Legitimitat herauszufordern. Die zweite Problemdimen sion ergibt sich daraus, dass es eine det, welche die Existenz einer eindeatigen Grenze zwischen belden ,Sphiiren' nahelegen konme, sond ern vor al1em da "traditional and modem [ ... J are too s implistic terms for characterizing the changes taking place among the different age groops in African societies and elsewhere [ ... J Traditional and modern are a false dic hotomy; there is no sharp line between them, nor are they static qualities of one or another age or gene ration, regardless of context. Indeed, ' youth' and aged' , and what is perceived and promoted as new and old have finer nuances , are attached to diverse agents, and moreover shift in meaning according to different ptJrJXlSCS in diverse contexts." (Rasmussen 2000: 142f.) Nach Fo ucault (1981: 33) gibt der Begriff der ~Tradi t i()T\ einer Menge gleichzeitig sakzessfver und identischer (oder zumindest analoger) Phlinomene ein besonde res zeitltches Stann", d.h. gegenwlinige Beobachtungen werden in die unmillelbare Kontinuitlit einer in spezifisther Weise interpretietten Vergangenheit gestellt. fl ier soli jedoch eine andere Siehtwelse auf ~Tradi t ion" zugrunde gelegt werden, indem vetsucht wird, verschiedene, parallel ablaufende Vergangenheiten oder unci widerspriichliche "Traditionen" zu beriicksichtigen und danach zu Iragen, warum bestimrnte Vergangenheiten innerhalb einer Gesellschaft als relevant fiir eine . mooeme'' Gegenwartserzahlung kenstruiert werden.
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breite Masse ju nger Menschen gab, denen keine Moglichkeiten sozialer, politischer und okonomischer Aufwartsmobilitat vergonnt waren, die aber nun neue Lebensweisen vor Augen gefuhrt bekamen (vgl. Fourchard 2006: 122). Immer mehr verannte und gleichsam nach Chancen suchende j unge Menschen zogen in die Stadte, wo "their presence on the streets made urban public space, reserved for settled working families, dangerous and disordered in colonial eyes" (Waller 2006: 84). Vor diesem Hintergrund ,wanderte' in den 1940er Jahren das in Europa und Nordamerika im 19. Jahrhundert ebenfalls im Kontext einer Zunahme ,nutzloser' Jugendlicher im stadtischen Raum entstandene Konzept der ,,Jugendlichen Delinquenz" (youth delinquency) in die britischen Kolonien Afrikas und machte Jugendliche auch dort erstmals zu einem expliziten Problem. Da die Kontrollsysteme des modernen Kolonialstaates primer auf der Unterteilung der Beve lkerung in k1are Kategorien basierten (vgl. Foucault 1998; Maira/Soep 2005 : xxiv) , entstand die Notwendigkeit, Jugend rechtlich als eine einheitliche Alterskategorie zu definieren, wobei besondere .Risikogruppen'' entsprechende Unterkategorien bildeten. Haufig wurden dabei unterschiedliche Verhaltensweisen zu derselben "delinquenten Kategorie" zusammengefasst, und ein aus der Not heraus gefiihrtes Leben auf der StraBe war nicht selten schon ausreichend, urn als delinquent zu gelten (vgl. Fourchard 2006: 136). Oblag die Beschreibung dessen , was Jugend heiBen konnte, ohne dass der Begriff selbst schon eine Rolle spielte, bis dahin den je weiligen lokalen Gemeinschaften und den Eltem, spater auch Missionen und Arbeitgebern, wurde die Definition der Jugend nun zu einer Sache der Kolonialregierung und spiegelte damit ihren Stellenwert als Angelegenheit Offentlicher Besorgnis wider . A1 lerdings erlaubte die ,Erfindung' der Jugendkategorie nicht nur deren Problematisierung, sondern schaffte darnit erstmalig auch einen geme insamen Referenzrahmen, iiber den sich junge Menschen quer zu anderen ethnischen, religiosen oder geographischen Identitaten selbst definieren konnten. Damit war de r Grundstein fur .Jugend' als Ressource kollektiver Identitat gelegt. Wie Waller (2006) eindriicklich herausgearbeitet hat, war der Prozess, durch den Juge ndliche erstmals systematisch zu einer solehen problematischen Kategorie zusamme ngefasst wurden, eingebettet in weiter reichende Sorgen und Unsiche rhei ten sowohl auf Seite n der Kolonialregierung als auch der Gesellschaft, vor allem der elders. Wahrend die Beunruhigung angesichts der .delinquenten Jugend" im Faile des Kolonialstaates zu dieser Zeit Ausdruck einer fundamenta len Angst vor seinem drohenden Zusammen bruch war, deuteten die in der Bevolkerung zunehmend verbreite ten Negativstereotype der "modemen" Jugend, die nun erstmalig auch junge Frauen umfasste, auf grundlegende Angste und Unsicherheiten hin, welche durch den rapiden gesellschaftlichen Wandel ausgelost wurden: "Youth behaviour was not only a focus of specific concern in itself but also an issue that drew on and expressed a range of much wider and less clearly articulated anxieties abou t the state of colonial society. Even though some of their actions were clearly crimi nal, the putatively delinquent status of juveniles arose primarily from their position
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as subjects in a wider debate about the norms and expectations of maturity and about behaviours and attitudes thought (by their seniors) to be appropriate to the young . Young men and women, out of defiance or necessity, appeared to be challenging these assumptions and thus, by extension , the value systems that underpinned them. Negative images of ' modern' youth - 'wicked women ' ,loafers, hooligans, ' cowboys' and gangsters - thus emerged both as part of the apparatus of late colonial social control and of a defensive public reaction to the pressures of progress ." (Waller 2006: 86) Ahnlich wie in den westlichen IndustrieHindern wahrend der 1950er Jahre kam es so auch im afrikanisc hen Kontext zur Entstehung von "moral panics" (Cohen 1973). Wahrend der Phase der Dekolonialisierung schlie61ich trat ,,Jugend" als problematische Kategorie zunehmend in den Hintergrund und wurde im Rahmen des "nationalistischen Projektes" gar zu einer Quelle von Freiheit und gesellschaftli chern Fortschritt stilisiert: "These approaches resulted in a representation of young peop le that put the accent on the cultural prestige of youth as the chief agent of the transfo rmation of African societies. The paradox is that youth achieved this status only because they were thought of as channeled and supervised by adults." (Diouf 2003: 4) Dass selbst im Rahmen der postkoloni alen Konsrruktion von J ugendlichen als Hoffn ungstriiger diesen also letztlich agency abgesprochen wurde , deutet auf eine gewisse Kontinuitat zum vorangega ngenen .Unruhestifterdiskurs' hin. Obgleich die Unabbangigkeitsbewegungen im kollektiven Gedachtnis afrikanischer Gesellschaften geradezu als Paradebeispiel juge ndlicher Rebellion verankert sind, waren es nicht notwendigerweise biologisch junge Manner, die diese anfllhrten, sondern vor allem solche, die sich selbst als Teil der Jugend bezeichneten, urn sich von den ehemalige n Jugendlichen der Kolonialzeit, die inzwischen die Generation der Alteren bildete und sich zunehmend mit den kolonialen Machthabe rn arrangiert hatte, abzugrenzen (vgl. Twum-Danso 2004: 17f.). Politische Forderungen junger Menschen und das Bediirfnis nach gesellschaftlicher Veranderung wurden vor diesem Hintergrund immer otte r als Generationenkonflikt geframed. 1O Der Begriff der Jugend wurde damit mehr und mehr zu einem Synonym fur individue llen Aufstieg, gesellschaftlic hen Wandel, Revolution und Aufbruchsstimmung (vgl. Bayart 1993: 115).11 Deutlich wird daran, wie Jugend als Selbstbeschreibung aus einem spezifischen historisc hen Kontext heraus zu einer nutzbaren ideologischen und eine kollektive Identitat stiftenden Ressource geworden ist, die auf dem Kontinent auch heute noch auf vielfaltige Weise eingesetzt wird.
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Nac h Goffman (1974) stetle n fra~s " Sc hemata der Interpreta tion" dar , die ein zelne n eder G ruppe n es erlaube n, Breignisse in eine r bes nm mten Weise einzuordnen, wah rLunehmen, Iestzuleg en und zu labeln und dariiber Si nn zu generieren, Erfahrungen ZIl org amsie ren und Haodlu ngen abzu telte n, Dass se lt dieser 7..eit die Mobilisierun gsmacht des Ju gend begri ffs in beso ndere r Weise gemnzt wurde , belegt sc hon die Na mensgebu ng za hlreic her zu diese r Zeit emstandener polieischer Orga nisatione n und Bewegen gen wle zum Beis piel die Nigerian Youth Move~nt, ZansiblJ, AfriclJll Youlh Movement, Jeunesse camerounaise fr ancaise, die togolesische J uvento oder die Associa lioo tk fa leunetse MaurillJllrenlle (vgl . Bayart 1993: 115).
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3.2 Zur gegenwiirtigen Lage: j ugend als "Stigma" und nRessource" 1m gegenwartige n Afrika, wo es in vielen lokalen Sprachen kein exaktes sprachliches Aq uivalent fur de n Begriff der Jugend gibt , ist die Juge ndkategorie in der individuellen und kollektiven Selbstbeschreibung junger Menschen ganz uberwi e-
gend zu einer Metapher fl lr Marginalisierung und Exklusion geworden und bezeichnet VO T allem, wie Waage (2006: 65) etwa fi ir Kamerun zeigt, die Fahigkeit "s ich durchzuschlagen" (se debrouiller). Ebenso verweisen enlsprechende Fremdbeschreibu ngen, wie etwa bei den Hausa im Norden Nigerias, auf einen Begriffsgebrauch wie yara, "die Jungen", der sich auf all diejenigen mit niedrigem Status , unabhangig von ihrem biologischen Alter, beziebt {vgl. Last 2005 : 39). Fast uberall auf dem Kontinent lasst sich das Phanomen der so genannten "extended youth" beobachten, da es jungen Menschen aufgrund eingeschrankter okonomischer Perspektiven, hoher Arbeitslosigkeit, mangelnder Bildungs- und Ausbildungsmoglichkeiten, Ressourcen- und vor allem Landknappheit , immer seltene r oder zumindest spater moglich wird, finanzielle Unabhangigkeit zu erlangen und damit in die Position zu gelangen, zu heiraten und eine eigene Familie zu grtlnden (Gore/Pratten 2003: 216; Gavin 2007: 221). Da dies aber in vielen afrikanischen Gesellschafte n nach wie vor als entscheidender symbolischer Marker fur den Ubergang ins Erwachse nenleben angesehen wird und somit als notwendige Voraussetzung gilt, den Status einer "full person" zu erlangen (Leona rdi 2007: 402), bleibe n viele Menschen trotz ihres hoheren biologischen Alters gewissermaBen in einem Stadium zwischen Jugend und Erwachsensei n ,gefangen' : "Chronologically they outgrew youth, but socially they became 'youth men' ." (Momoh 1999)12 Vigh hat diesen Kontext in Bezug auf Guinea-Bissau als "generational anomie" beze ichnet, "in which it is currently impossible for youth to attain the role and position, which is prescribed and expected of them." (Vigh 2006: 40f.) Die soz iale Dynamik der tradierten generationellen Ordnung kommt auf diese Weise zum Stillstand und die jewe iligen sozialen Alterskategor ien entwickeln Beharrungsk rafte, welche die gesellschaftliche Aufwartsmobi litat junger Menschen zunehmend blockieren. Da der staatliche Sektor meist tiber keine ausreichenden Kapazitate n oder den entsprechenden Willen - verfugt, um Ressourcen und Arbeitsp latze fur die anwachsende Bev61kerung bereit zu stellen und weder die formelle Okonomie noch die ,EntwickJungsindustrie' in der Lage sind, dies zu kompensieren, ist es zu einem tendenziellen Ubergang vom Prinzip der "offenen" oder .jelativen'' Seniori tat, welche ein allmahliches Avancieren der jtlngeren Generationen in die Macht positionen der Alteren vorsieht, zu einem System der .absoluten" oder "geschlossenen" Senioritat, welche eine auf Dauer angelegte Unterordnung der JUngeren gegenilber den elders impliziert, gekommen (vgl. Abbink 2005: 16; Bayart 1993: "
Doe ll auch in westlichen Industrielandern lasst slch eine zunellmeode Verschiebeng der ,Trennlinie' zwischen Jugend und Erwachsenenalter angesichts llingerer Ausb ildungszeite n, spiilerer Heirat oder auch langerer Pllasen der Arbeitssuc he bzw, Arbeitslosigkeit beobac hten (vgl. VenkalesllJKassimir 2007 : 4).
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113). Wahrend Alters- und Generationenkategorien neben der Herstellung sozialer und okonomischer Hierarchien und der Stratifizierung der Gesellschaft fast immer auch der Gewahrleistung von Reaiprozitat in den gemeinschaftlichen Beziehu ngen dienten und schlieBlich sozialen Aufstieg gewahrleisteten (vgl. Burgess 2005 : 66), wird jenen, die in die Kategorie Jugend fallen, nun der Aufstieg in die machtvollen Positionen der Alteren zunehmend verwehrt, denn "power is seen as indivisible and thus the old idea of the prerogative of the senior generation (having ,led the struggle' for independence or freedom) has come full circle" (Abbink 2005: 13). Die patrimonialen Regierungsstrukturen des afrikanischen Staates reprodu zieren hierbei die gerontokratische Struktur der Gesellschaft, so dass es haufig zu einer Unterordnung jun ger Menschen sowohl in der Familie und lokalen Gemei nschaft als auch im Staat kommt (vgl. Chabal/Daloz 1999; Bayart 1993). .Altsein' als soziale, aber nicht notwendigerweise biologische Kategorie wird damit zu einer symbollschen Ressource, an die politische und okonomische Macht gebunden ist. Angesichts der Tatsache, dass jun ge Menschen die Ilberwaltigende Mehrheit der Bevolkerung darstellen, kommt es auf der Ebene des Staates damit in zweifacher Weise zu einem Bruch mit demokratischen Idealen: Zum einen steht das gerontokratisch-patrimoniale System in Widerspruch zum Prinzip des Mehrhei tsentscheids, zum anderen entspricht die erstarrte Struktur in keiner Weise dem Pri nzlp des Wechsels von Machthabem nach regularen lntervallen (vgl. Lovell 2(06). Auf der einen Seite wird Jugend damit zweifellos zu einer Art "Stigma", einer abwertenden Bezeichnung, die auf eine unterlegene Position innerhalb des sozialen, okonomischen und politischen Machtgefuges verweist. Die meisten Stud ien zur afrikanischen Jugend fokussieren auf diese Negativdimension der Jugendkategorien und kommen wie Chabal/Daloz (1999: 34) zu dem Schluss, dass "contrary to the Western view that youth is the most desirable statio n in life, adolescent Africans hanker after the age which will endow them with an authority currently denied. When they lie about their age it is to make themselves older, not younger. Similarly, youthful leaders aspire to a title or appellation which will confer upon them legitimacy of authority that comes with age and maturit y." Viele afrikanische Jugendliche empfinden ihr Jungsein vor diesem Hintergrund als Faile und versuchen auf verschiedenen Wegen, darunter auch gewaltsamen, daraus auszubrechen. Neben der Bedeutung eines Stigmas hat Jugend aber noch eine weitere, sc heinbar im Widerspruch hierzu stehende Funktion: Jugend fungiert gleichzeitig als eine wichtige Ressource. So verbinden sich gerade mit dem Rekurs auf die eigene .Jugend' vielfaltige Moglichkeiten, wei! mit dem Begriff sowohl die Negativlwnnotation der Marginalisierung und Exklusion assoziiert wird, als auch der Jugendbegriff in heutigen afrikanischen Gesellschaften auf vielfaltige Weise posutv konnotien ist. Biologisch junge ebenso wie altere Menschen berufen sich oftmals gerade auf ihre ,Jugend', urn damit bestimmte Ziele zu erreichen, da sich die Jugendkategorie als Mittel der kollektiven Selbstbeschreibung durchaus eignet, auf gesellschaftliche Missstande aufmerksam zu machen, wahrgenommene Ungerechtigkeit zu artik ulie-
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ren und bestehende Machtverhaltnisse herauszufordem. Jugend wird unter Rekurs auf solche machtvoll en historischen Erzahlungen so mit erneut zu einer sozlalmoralisch en Ressour ce, die politisc he Mobilisierun g und So lidarisierung ermoglicht. Vias (2003 : 49) hat diese sc heinbar paradoxe Mog li chkeit der Selbstaneignung der Jugend kategorie und des damit assoziierte n Opferstatus treffend als "victimcy" bezeichnet, ein Wort, das "victim" und "agency" ko mbini ert und ein in verschiedenen Kon texten ei nsetzbares politisc hes Mittel beschr eibt, agency gerade dad urch ausz uuben, dass man sich se lbst als ein machtloses Opfer darstellt: " Victimcy is a tactical manipul ation aiming , in part , at maintaining a moral faca de in line wit h cultu ral ideals. How ever, victimcy ca n also be see n as a politica l respo nse to security reali ties on the grou nd, as well as an eco nomic tact ic, adhered to mainly in relation to foreig n aid projects." (ders. : 50) Indem junge Menschen auf diese Weise ei nerseits auf ihre n ,j ugendlichen' Opferstat us rekurrieren, diesen abe r zugleic h fur ,erwachse ne ' politische Zie le einsetzen, wird d ie Dynami k der Al terskategori en nochmals besond ers de utlich: ..Young people co nsta ntly cross the frontier betwe en ch ildhood and adulthood. As they active ly create and recreate their roles in the face of changing conditions, they blur that social divide." (Honwana/de Boeck 2005 : 4) Zudem ist der Jugendbegriff vor alle m in zweifacher Hinsicht positiv konnotiert. Zum einen steht Jugend seit der Phase der Unabhangigkeits- und Demokratisierungsbewegungen fi ir gesellschaftlichen Wandel und Fortschritt. Politisc her Aktivismus und Ver anderung wurden seit dieser Zeit in erster Linie als ein Privileg der Ju gend betrac htet, was erklart, warum heute oftmals auch Manner hoheren Alters vers uchen mussen, die ,Jugendkarte' auszus pie len: ,,An o lder man who w ishes to rem ain a po litica l activ ist has in effect to behave like a ,youth', or at least a ,commander of youths' and such a co mmander [ ... ] still co unts as a .yo uth'." (Last 2005 : 40) Ge rade wei! ju ngen Mensch en der Zugang zu k1iente listischen poli toko nomischen Netzwerken haufig verwehrt ist und diese Sphare in weiten T eilen der Bevolkerung mit Machmissbrauch und Korruption assoziiert wird, gelten Jugen dliche als unabhangiger und frei er im Denken als die darin involvierten ,Alten' : ..This is o ne commo n register of the term ,yo uth', across the continent. T he youth are age nts of change , outside the es tablis hment: in soc ieties we re seniority in age and po litical authority are often lin ked, those wit hout authorit y are by definition .youths' ." (Willis 2002: 92) 1J L'
Auf emes von unziih.ligen Beispiejen dieser Form von "youth politics" verwelsen etwa Gore und Prauen (2003 : 215f.), indem ste zeigen, wie altere Gouvem eure der sud lichen Bundesstaaten £00 und loom in Nigeria, wo Jugend im aluaglichen Sprac hgebrauch ebenfalls ein Synonym fur Exklusion und pc litische Marginalisierung gewoeden ist und gleichzeitig fUr eine gewisse Unabhlingigkeit von der poliusch en und Okonomi. schen Sphare der Macht steiu, eine Gruppe selbsternannter "Junger Politiker" gn mdeten, die als gemeinsame Plaltform dienen sctue. um eine hllh.cre Beteitigung und Kontrclle der Cllenrage aus dem Niger Della zu erwirken . Sich die Jugendkategone ,a nzueignen' wurde hier also vor allem ats ein Weg angeschen, um den Nationalstaat starker in die Verantwonu ng zu ziehen und gr66ere Bevolkerungsteile fUrdieses Anliegen zu mobilisieren oder in ueren Augen zurmndesr Legilimilal zu eriangen.
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Obg leich also mit einer gewissen Unabhangigkeit assozilert, bildet die Jugend aber keineswegs eine distinkte, von der Gese llschaft abgekoppelte Einheit, wie e s die Subkultur-Ansatze vielfach nahe legen. Denn junge Manner nahmen schon in vorkolonialen Zeiten immer wichtige und verantwo rtungsvo Jle Funktione n fiir die Gemeinschaft wahr, sie wurden als moralische und physische " Wachter" anerkannt. Diese zweite Dimension der Positivkonn otation der Ju gendkategorie bilde t eine wic htige Ressou rce fiir die kollektive Se lbstident ifikation J ugendlicher, stell t daru ber hinaus aber eine gewisse Kontinultat zur Gese llschaft her und verde utlich so, dass der Rekurs auf den individuellen Jugend status ebenso wie die Gruppe nbildung auf der Basis solcher Alterskategorien nicht notwendigerweise mit dem .Ruckzug' aus der Gesellschaft verbunden ist. Afrikanische Jugendl iche sind also nicht nur in einem Sta dium zwi schen Ju gend und Erwachsensein gefa ngen. Ihre "in-between-pos ition" eroffnet ihnen gleic hze itig die M6glichkeit, verschiede ne sozia le Rollen einzunehmen, verleiht ihnen einen Status der Unabhangigkeit und ihren Handlu ngen oftmals eine weit reich ende "grass root legitimacy" (vgl. Leonardi 2007 : 394f.) . Wahrend die obe n behande lten Phasenkonzeptionen dieses Moment der Freiheit zwa r beriicks ichtige n, werden dami t lediglieh die Moglichkeiten des hedonistischen Spiels, des freien Ausprobieren verbunden, we il die Ubema hme von Verantwo rtung in dieser Konzeptualisierung von Jugend nicht vorgesehen ist. Wie Unabhangig keit und Vera ntwortung in gege nwart ige n afrikanischen Jugendk onslruktione n zusammen f1ieBen , kann damit gerade nieht erfasst werden. Jun gsein stellt auf dern afrikanischen Kontin ent sornit einerseits zwa r ein Stigma dar. Zum andere n bilden gegenwartige (M arginalisierung, Exklusio n) wie historische Konstruktionen von Jugend (Unabhangigkeit, Wandel, w acht er} daruber hinaus fur biologisch junge und nicht mehr ganz so junge Menschen wichtige Resso urce n, urn bestimrnte Ziele zu artikulieren und Unterst utzung hierfur zu mobili sieren. Vor dem Hintergrund dieser Ambiguitat der Jugendka tegorie mochte ich mic h nun mit der wo hl am starksten dominierenden Interpretationsweise vo n Jugendgewalt in afrikanischen Gese llschaften auseinandersetzen, der These vom Ge nerationenkonflikt.
4. Erklarungsmuster mr Jugendgewalt in Afrika: Eine Auseinandersetzung mit der These vom " Generationenkonflikt" Ansatze zur Erkla rung von Jugendgewalt auf de m afrikanischen Kont inent inte rpretieren Gewalt zumeist als Ausdruck der Krise einer marginalisierten und frustrierte n Jugend und ihres antago nistischen Ver haltnisses zur altere n Generation."
I.
So fU hren u.a. die folgenden Autcren "generationelle Sparmungen'' als lIauplursache Iiir kolleknve Gc:walt seitens [unger Afrikaner an: Willis (2002) und Jok (2005) beeogen sich auf den Sudan, Ca rey (2006) und Ri-
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Innerhalb dieses Erklarungsmusters lassen sich zwei Lesarten differenzieren: jene, die Jugendli che als instrumentalisierte Opfer begreift und dabei an die skizz ierten Phasenkon zeptionen ankn Upft, und jene, die sich an Subkulturkonzepti onen o rientiert und J ugendli che als entfremdete Tater sieht.
4.1 Afriknnische Jugendliche als instrumentalisierte Opfer oder entfremdete Tater ? Die erste Lesart geht davon aus, dass sich afrikanische Jugendli che aufgrund ihrer gesellschaftIichen Marginalisierung und der damit verbunde nen Frustration besonders leicht durch politische und o konomische Eliten instrumentalisiere n und koo ptieren lassen. Sie erscheinen damit nicht nur als Opfer , weil sie selbst am haufigsten physische Gewalt erfahren. Vielm ehr wird ihnen dieser Stat us innerhalb des Diskur sstrangs auch dann zugewiesen, we nn sie selbst Gewalt ausuben. lnsbesondere das Phanomen der so genannten .Kindersoldeten", die in zahlreichen afrikanischen Burgerkriegen von Sierra Leone, Liberia, Uganda, Angola bis Mozamb ique zwangsweise rekrutiert wurden, scheint die Opferro lle von Kindem und Jugendlic hen auf eindruckliche Weise zu belegen (vgl. Dodge/Raundalen 1987; Fleisc hma n /Whitma n 1994 ). Doch auch dart, wo junge Menschen ,freiwilIig' zu Tatem we rden , wie etwa beim v dlkermord in Rwand a, innerhalb von Rebellengruppen oder regulare n Armeen, bei urbaner Ganggewalt in Siidafrika oder selbstj ustizia rer Ge· wa lt vigilanter Gruppe n in Nigeria oder Kamerun, werde n sie aufgrund ihrer Frustration und MarginaJisierung als willfahrige Opfer von Instrumentalisierung und Kooptierung durch politische und c konomisc he Eliten angesehen" : "The co-o ption of the energy and devotion of young peo ple for the perso nal advancemen t of a few military elites in situations of perso nal insecurity is the single greatest reaso n for the pejo rative connotations assoc iated with the category of ' youth' in Africa toda y." (Argenti 2002 : 145) Jugendl iche Energie und Begeisterungsfahigkeit, aber auch Wut und Frustratio n, reiche n nach dieser Lesa rt nicht zur Formulierung einer eigenen Agenda , so ndern lassen bloB ,,seemingly bottomless recru itment poo ls of young people" ent ste-
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chards ( 1996) bezogen stch auf Sierra Leone, Coma rofflComaroff (1998 : 284) bezogen sic h auf SOdafrika und Simonsc ( 1998) auf verscmece ee paSlorale lind se mi-pastorale Gesellsc haften in Ostafrika. Der Begriff der Freiw illigkeit lSI in diesem zesammen hang sefbstverstandlich nur unter Vorbeliah zu gebrauchen. Zum einen scbeint er don weni g angeb racht zu scin, wo es aufgrund strukturelle r Fakteren wie Armut und Nahru ngsknapphei t bel dem Beitritt zu einer bewattneten Gruppe oftmals bloB urn die Sicherun g des ,nackten Uberleben s ' geht . Zu m anderen werden zu r Rekrut ierung jun ger Menschen vielfach indirekte Zwangsmiue l wie Einschuchtcru ng oder die Bedrohu ng de r eigenen Famihe eingesetzt (vgl. Il onwa na 2005: 4 1). Insofern "lhe notio n of ' voluntary recruitment' is seriously flawed , therefore, nol becau se childr en do not make valid individual choices. but because many of those thaI do 'choose' 10 join armed groups are growing up in vulnerable personal contexts within ' high-risk " environments," (Dowdney 2005 : 88 ) Emscheide nd sollte in diesem Zusammen liang trotz dieser Einschrlinkung allerd ings die Posilion der jungen Klimpfer selbs r sein : " Insofar as the young people themselves are co ncerned, if Ihey consider that they vo lunleered, this has to be laken !\oCriously in identi fying the reasons why they joined and in planning how 10 address lhem whether as prevent ive or a remedial measur e." (Brett/S pech t 2004 : 117)
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hen, welche eine willkommene "pliinderbare Ressource" zur Erreichung der egoistischen Ziele von Warlords oder lokalen Big Men darstellen (Mc Intyre 2003; Cruise O' Brien 1996: 55). So wird davon ausgegangen, dass jun ge Menschen von Burgerkriegsparte ien rekrutiert werden, da sie als unerschrocken und leicht zu kontrollieren, gar zu .programmieren'' gelten (Honwana Z005: 38f.). In Nichtkriegskontexten Jiegt der Fokus auf jungen Mannem, die als Schlagertruppen und Rowdys , so genannte thugs, zu .Jnstrumenten der Unordnung" werden und so die politische und okonomische Macht von lokalen Eliten absichem, indem sie Angst und Unruhe in Zeiten anstehender Wahlen verbreiten und die politischen Gegner ihrer Patrons unter Druck setzen (Gore/Pratten 2003: 224; Casey 2008: 114). Zusamme ngefasst wird Jugendgewah hier somit durch die Instrumentalisierung .chrontscher generationeller Spannungen" (Willis 2002: 98) durch politische und okonomische Eliten moglich. Sie ist motiviert durch das Bestreben der Jugendlichen, Zugang zu patrimonialen Netzwerken und einen entsprechenden Status und Wohlstand zu erhalten, indem die Macht und Privilegien der Alte ren herausgefordert werden. Die zweite Lesart dagegen fokussiert starker auf Jugendliche als Tater und interpretiert Jugendgewalt auf dem afrikanischen Kontinent als Ausdruck einer neuartigen Barbarei (Richards 1996) einer von der Gesellschaft weitestge hend losgelosten und daher unkontrollierbaren Jugend. Kaplan (1994) kann mit seiner Rede von den "loose molecules in a very unstable social fluid, a fluid that was clearly on the verge of igniting" als Hauptvertreter dieser Lesart angesehen werden. Danach haben insbesondere die jungen Manner Westafrikas, dem Hort .jc imir eller Ana rchie", nicht zuletzt aufgrund des Scheitems der traditionellen Familie fast jede Verbindung zur Gesellschaft verloren. Als von Aberglaube und Frustration geleitete Kriminelle und Banditen oder .Sreine schmeiBende Adoleszenten" wird ihnen jegliche soziale oder politische Agenda abgesprochen. Kaplans Einschatzung der kunttig von afrikanischen Jugendlichen ausgehenden Gefahren ist eingebettet in den nach wie vor domina nten Diskurs des Afrikanische n Exzeptionalismus. ,,Afrikanisc he Gewalt" erscheint danach als irrational und entzieht sich folglic h jeder 10· gischen Erklarung: "The subject of Africa today [ ... ], is informed, too, by the continued existe nce of folk constructions of Africa as a site of unbriddled and irratio nal violence." (Bay 2006: 3) Es spricht vor diesem Hintergrund einiges dafiir, dass Kaplans These auch deshalb eine so gro8e Reichweite und einen nicht zu untersc hatzenden politischen Einfluss erlangte, weil ste an ohnehin bestehende, weit verbreitete Denkstr6mungen und Vorurteile ,andocken' konnte (vgl. Richards 1996: XV). Zu ahnlichen Schlussfolgerungen wie Kaplan kommen auch Sega l et at. (ZOO1), die sich in ihrer Studie "South Africa's heart of darkness" widmen. Aufgrund verschiedener Faktoren, wie zerbroc hene und dysfunktionale Familien, Armut, dem Bestreben, Maskulinitat unter Beweis zu stellen, und dem Wunsch nach einem hedonistischen Lebensstil sowie mangelnder Zukunftsperspektiven, driften junge Manner hier in kriminelle Gangkarrieren ab und entwickeln "an elaborate .system'
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of devia nce which is characterised by its own symbols, language and rules of the game. They inhabit a social landscape that is pockmarked by violence and killing and that is characterised by a ruthless and macho attitude to the actio ns they are involved in." (ebd.) 1m Kontext dieser devia nten Subkultur entwickeln J ugendliche eine geradezu nihilistische Einstellung zu Gewalt und nehmen selbst Mord als belebend und ehrbar wahr (vgl. ebd.). Ahnlich postuliert Jok (2005 : 159) in seiner Analyse sudanesischer Gewaltkonflikte, dass es zur Entsteh ung einer jugendliche n Subkultur gekommen sei, wobei "the role of youth in this sub-culture is a product of the inter-generational gap in communication and a sense among youth that they have lost their political voice. promised protection and future prospects of imroving their lives. despite the presence of cultural ethics that should guarantee communa l support." Nicht nur eine von der Gesellschaft weitestgehend abgekoppeite Subkultur, so ndem geradezu "a real juvenile counter-society, which is self-sufficient, carrying out mostly delinquent activities and in a contlictual relationship, both in physica l and symbolic terms, wit h the surrounding ,normal society"', bilden nach Marguerat (2002: 246) viele stadtische Jugendbanden wie etwa die area boys in Lagos, die tsous in Johannesburg, die largos in Bogota sowie zahlreiche Gruppen in Nairobi oder Abidjan. Diese beiden, hier lediglich grob skizzlerten Lesarten verdeutlichen, dass die jeweils zugrunde gelegte n Jugendkonzeptionen ohne Frage Eintluss auf unsere E rklarungsansatze fllr Jugendgewalt haben. So orientiert sich die erste Lesart impiizit an den oben dargestellten Phasenkonzeptionen, wonach junge Menschen als passiv, willenlos und stark von gegebenen Strukturen erscheinen. Da sie fi ber keinerlei agency verfugen werden sie leicht zu Spielballen machtiger Eliten. Es ist ihr .unfertiger ' Charakter, ihre Risikobereitschaft und ihre Unfahigkeit, Verantwortung fur das eigene Handeln zu ubernehmen, was sie so gefahrlich macht (vgl. Hoffmann 2003). Wahrend hier junge Menschen mechanisch steuerbar erscheinen, verfugen sie nach der zweiten Lesart fi ber eine geradezu unbegrenzte agency (Vig h 2006 : 33). Werden Strukt uren im erste n Fall uberbetont, scheinen sich ju nge Menschen nach der zweiten Lesart vollig aus familiaren und gesellschaftlichen Sttu kturen herausgel6st zu haben. Gefahrlich erscheinen J ugendliche hier wiede rum, wei! sie eine eigene, weitgehend von der Gesellschaft abgekoppelte Einheit mit abweichenden Wertvorstellungen bilden und damit nicht mehr von dieser zu kontrollieren sind. Dariiber hinaus weisen beide Interpretationsweisen aber zugleich auc h Ahnlichkeiten auf. Beide Lesarten sehen Jugendgewalt als apolitisch an. 1m erste n Fall werden Ju gendliche als Opfer konzipiert und ihr Gewa lthandeln wird als Ausdruck eben jenes Opferstatus' und ihres Missbrauchs interpretiert und nicht als Ausdruck einer politischen Agenda. Aus einer solchen Siehtweise konnen sich problematisehe Konsequenzen ergebe n wie Finnstr6m (2006: 206) am Beispiel des Umgangs mit der Revolutionary United Front (RUF) in Sierra Leone und der Lord's Resistance Movement! Army (LRM/A) in Uganda gezeigt hat. Sowohl die RUF als auch die
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LRM/A waren Rebellengruppen, zu deren Mitgliedern nicht nur ganz uberwiegend Kinder und Jugendliche zahlten, sondern deren Fubrungsspitze zudem sehr ju ng war. In beiden Hillen wurde der Gewaltkonflikt schnell als eine ..humanitare" und nicht als ..politische" Krise interpretiert und so ein Nichtverhandlungsstandp unkt gerechtfertigt. Der Ausschluss der bewaffneten Gruppen aus den offiziellen politischen Verhandlungen trug jedoch, wie in anderen Hillen, erst zur Mobilisierung der notwendigen UnterstUtzungsbereitschaft gerade der jugendlichen Beobac hter bei. Standen junge wie altere Menschen den oftmals auch gegen die eigene lokale Gemeinschaft oder Familie gerichteten Gewalthandlungen der Rebellengruppen zunachst ablehnend oder zumindest ambivalent gegenuber, erzeugte der Nicht verhandlungsstandpunkt die notwendige Entrusrung und konnte als Beleg fur die Marginalisierung und die Exklusion der Jugend gelesen werden. In weite n Teilen der jungen Bevdlkerung kam es so zu einer Solidarisierungswelle, durch welche die Entstehungsdynamik weitestgehend homogenisierter und geschlosse ner FreundFeind-Kategorien in Gang gesetzt wurde. Auf diese Weise konstituierte sich ein inherent gutes, aber unterdrticktes Kollektiv der Jugend, das sich nun gegen ein vermeintliches Kollektiv der egoistischen und machthungrigen Alten zur Wehr setzen muss. Nicht nur konnte auf diese Weise ein weiterer Unterstutzerkreis mobilisiert werden, auch wurde den jugendlichen Gewaltakteuren indirekt eine Folie zur Legitimierung ihrer Gewalt geboten, weil sich tatsachliche strukturelle Misss tande ..mit einem stilisierten Bild des jugendlichen ,underdog' , der sich seine Freiheiten erkampfen muss", vermischten (Kemper 2007: 236).16 Die zweite Lesart impliziert ebenfalls die Vorstellung einer apolitischen Jugendgewalt, wobei hier eine Kriminalisierung und Pathologisierung junger Menschen nahe gelegt wird, die nur allzu sehr an die Diskurse urn Jugenddelinquenz und die .vertorene Generation" gegen Ende der Kolonialzeit erinnert. Indem Jugend als Gruppe von der Gesamtgesellschaft ausgesondert und in ein per se antagonistisches Verhaltnis zu ihr gesetzt wird, kommt es zu einer erneuten Welle der "moral panics", die vieles mit ihren historischen Vorlaufern gemeinsam hat: "In each panic. the threat is attributed to ,youth' living on the margins of society [ ... ] born into disease, squalor and inadequate homes and rejected by the society w hich spawned them and by the economy in which they had no place." (Seekings 1996: 117) Letztlich begunstigt ein solches Deutungsmuster die Legitimation repressiven Vorgehens seitens staatlicher Sicherheitsakteure , das notwendig erscheint, urn Jugendliche zu "disziplinieren" (vgl. Leonardi 2007: 4(0). Beiden Interpretationsmustem Ist daruber hinaus gemein, dass sie auf einem Konzept von "Marginalisierung" beruhen, das den Charakter einer weitgehend statischen Zustandsbeschreibung annimmt und sich auf eine scheinbar universell e Erfahrung bezieht. Begreift man Marginalisierung dagegen als einen Prozess, der an 16
Letztllch bleiben hierbei die Prozesse, iiber die Formen "strllklureller GewailM (Gallu ng 1975) in physische Gewaltformen iibergehen konnen, aber eben nichl zwangslauflg mussen. unbenlcksichtigt, was IU der Problematik f1i hrt. dass personelle physische Gewah lediglich als Gegengcwall erscheim.
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subjektive Erfahrungen und Wahrn ehmungen gebunden ist, dann lasst sic h mit Wyn/White (1997: 123f.) Margin alisierung als ein "d ual process of disconnection fro m institutions revolving aro und production, cons umption and co mmunity life. and the soc ial and psyc hological experiences of disempow erment accompa nying this disconnection" beschreiben . (ebd.) Mit Hilfe einer solehen Konzeption ist es m6glich , zahlreic he zwisc hen obj ektiven Strukturen und individuellem Gewa ltha ndeln vermitte lnde Variablen, wie etwa situativ e Kont exte, psyc hologische Faktoren und die individu elle Biographi e, in den Blick zu nehmen. NUT so kcnnen untersc hiedlichen Reaktionsweisen auf dieselben o bjektiven Bedingungen Rechnung getragen und verbleibende Moglichkeitsfelder und Freiheitspraktiken junger Mensc hen im Rahmen dieser Strukturen analysiert werd en. Nicht zuletzt kann das in diesem Erk larungs muster zug runde gelegt e monolithische Marginalisierungskon zept nich t erfasse n, wie die Aneignun g des Marginalisierun gsdiskurses gerade zur Erreic hung bestimmter Ziele eingesetzt wird. So rekurrieren j unge Menschen nich t selte n auf ihre Marginali sierun g und Instrumentalisieru ng du rch Al tere, urn sic h von der Verantwortun g fur das eigene Gewa lthandeln zu entlasten, was sic h exemplarisch an der folge nden Interviewsequenz mit einem jungen Studente n aus Uganda verde utlichen Iasst: " It is one of the most common historical blun ders that most of these African leaders make under the pretext of being elders and aged. Th ere is that over-ass umption, that an elder knows everything. A n elder ju st knows everything, and whateve r he will say , he is fina l. Whatever becomes a mistake, be it co incidental or a planned mistake, the elders are the very first to blame the young generation about the result which was negative. [ ... ] the youth were mainly used as obj ects to destabili se political space . [ ... ] the misbehavior of these you ths during T ito and Obo te's time is a result of the leaders themselves, the elde rs them sel ves. [ ... ] T he youth are used, highly used , and because they are poor, they are inadequate, they don 't have the resources, so they are easily manipulated." (z it. nach Finnstrom 2006 : 212f.; Herv. A.K.) So lche Legitimierungsstrategien , we lche die Ursachen des eige nen Gewa lthandelns aussc hliefslich in augeren Strukturen und der Merginali sierung durc h ein konstruiertes Kollektiv der Alteren verorten, mussen j edoch nicht zwangslaufig bedeuten, dass sich jun ge Menschen auf d iese Weise selbst als soz iale Akteure verleugnen, w ie Mark s (2001 : 120) schlussfolgert , sondern konnen gerade jener takti schen Manipulation der .victimcy" entsprechen , wie sie Utas besc hriebe n hat. Und sc hlieBlich legen beide Lesa rten als Foige ihrer impiizite n Grundanna hme wei tgehend homogener Al terskategorien und einer quasi automatischen Tendenz zur Gruppe nbildung eine bestimmte Konzepti on des "Generationenko ntli ktes" zugrunde. Danach gibt es relat iv kJar unterscheidbare Generationen, die sic h a ls gesc hlosse ne Entitaten gegenuber stehen und keinerlei Uberlappunge n in Wert- und Ordnungsvorstellungen aufwe isen. Kontinuitaten zwischen "G enerationen", d ie sich aus gemeinsamen historischen Disku rsen und ahnlichen Brfahnmgsz usammenhangen, etwa Arbeits losigkeit, Armut ode r fehlende politische Parti zipati ons-
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mc glichkeiten (vgl. Seekings 1996: 123) ergeben konnen, werden dabei weitestgehend ausgeblendet.
4.2 Jugend als " Stigma" und " Ressource" - eine alternative Perspektive auf den "Generationenkonflikt" 1m Foigend en mochte ich den gesc hilderten Interpretationsweisen eine dritt e Perspektive gegenuberste llen, die sich an der Konzepti on von Jugend als soz ialer Konstruktion orientiert und deren Doppeldeutigkeit als Stigma und Ressource in den Blick nimmt. So gehe ieh davon aus, dass sich Forrnen kollektiver Jug endgewalt in Afrika zum einen als ein Versu ch ju nger Mensche n interpretieren lassen, sich tiber den Beitritt zu gewa ltsamen Gruppe n von der als Stigma empfundenen Ju gend zu befreien. Statt dabei einseitig von einer Manipulat ion und Instrumentalisierungj unger Menschen durch machtige Eliten auszugehen, nehme ieh jedoch an , dass sie h j unge Menschen als soz iale Akteure die Kategorie der Jugend oft selbst aneignen, urn damit bestimmte Ziele zu erreichen. Historische und aktuelle d iskursive Kon strukti on en von Jugend werde n dabei zu entsche idenden Ressourcen der Mobilisierung und Legitimierung vo n Gewa lt und ermoglic hen es, zumindest zei tweilig eine fur kollektive Gewalt notwendi ge Solidarisierung herzustellen. Wenn in diesem Zusammenhang von ,Ressourcen' gesprochen wird, so impliziert dies allerdings keine Subjektkonstruktion, welche die agency junger Menschen zw angslaufig an einer Zwec k-Mittel-Orie ntierung fest macht. Vielmehr ist gerade davon auszugehen, dass sich "das Subjekt [ ... ] hier nieh t nur als funktionierendes oder widers prechendes, sondern als auBerst facetten reiches und widerspruchliches Wesen [zeigt], dessen Wahmehmungs- und Handlungsweisen auch durch Inkon sistenzen gepragt sind." (Maset 2002: 50)
Gewalt als Ausweg aus dem " Stigma" der Jugend Vor dem Hintergrund "generationeller Anomie" , durch die tradierte Mittel und Netzwerke der Sicherung des Lebensunterhalts und Wege des A ufstiegs fur junge Menschen zunehmend blocki ert sind, kann der Beitritt zu bewaffn eten Gruppen als viel versprechender Ausweg aus der Falle der .ewigen' Jugend bzw. jenes Zwischenstadiums des " yo uth man" ersc heinen, stellen diese doch vielfaltige Mcglichkeiten zur Erlangung von Macht und Anerkennun g und der Initiation in den Erwachsenenstatus bereit. Da das die GroBfamilie, Freunde , religiose und andere Netzwerke umfassende sozia le Sicherungssyste m der "economy of affect ion" (Vigh 2006) aufgrund verschlechterter o kono mischer Bedingun gen oftmals kaum noch die notwendigen Ressourcen fur den Lebensunterhalt aller aufbringen kann , so dass gerade junge Menschen, die gew issermaBen das letzte Glied in der auf Reziprozitat basierenden
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" Verpflichtungslinie" darstellen, zunehmend aus diesem Sicherungsnet z herausfal len , kcnnen bewaffn ete Gruppe n als .Ersatzfamilien" fungier en, die nicht nUT fur den Lebensunt erhalt j unger Menschen aufkommen nod ei nen gewi ssen Schu tz bieten , so ndem daruber hinaus auch Anerkennung und Gemeinsc haftsgefti hl stiften (Ric hards 1996). Auch im Bereich der rituellen Initiation in den Erwachse nenstatus iiberne hmen gewaltsa me Jugendgrup pen cine Substitutionsfunktion, da traditionelle ln stitutio nen der Initi ation , obgleic h von einer Vielzahl junger Menschen nac h wie vor als wichtige kult urelJe Mechanismen wertgeschatzt, imme r OCteTin Frage ges telh werde n. So zeigt Ca rey (2006), dass ein gro6 er Tei J der Jugendlichen im Kontext des Bilrgerkriegs in S ierra Leo ne nicht mehr bereit war, sich der dUTCh die Poro abgesicherten gerontokratisc hen Hierarchic zu unterwerfen. Dies tag nicht zuletzt daran, dass sie die harte A rbeit fU r die Zo elders, welche j unge Menschen traditionell wa hre nd der in Isolation verbrachten Initiation szeit zu verric hten haben, nicht im Gegenzug mit ausreichenden Moglichkeiten des Aufstiegs belohnt sa hen . Das System ahnelte dami t dem in der Krise befl ndlichen Big Men System und eri nnerte an ind igene Skl averei (Richa rds 1996). Nac h Carey versagte das System der Poro somit in zweifacher Weise : zum einen, indem es sei ner v eranrwortung, die Gem einsc haft zu starken und fur Integration und Einheit zu so rgen, nicht mehr ausreichend nac hkam, zum andere n, indem es se ine unterstUtzende und transformative Veran two rtung gege nube r den Jungen vemachlassigte (ebd. : 106) . Da in kriegerische n Kontexten auch ,moderne ' Institutionen der Initiation wie die Sc hule, die Kirche oder Jugendorganisationen weitgehend brachli egen, kon nen nun konfliktbeteil igte Parteien , nationale Armeen oder Rebellengruppen die Funktio n der Initiation ubemehmen, so dass Prozesse der Sozialisie rung nich t dur ch die Gewalt zum erliege n kommen, so ndern untrennbar mit ihr verb unde n werde n. Der (Jbergang von der Jugend in die erwachse ne Mannl ichkeit vollzie ht sic h nun mittels ei ner direkten Initiation du rch Gewalt (Utas 2003: 85ft. ; Hoffman 2003: 303). Oft mals knupften Rebellengruppen wie die RV F in Sierra Leo ne (Ric hards 1996: 81), die VNITA (UniiioNaciona l para a lndependencia Total de Angola) in Angola oder d ie Renamo (Resistencia Nacional Mocambicana s in Mozambique (Henwana 2005 : 4lf.), aber auch vig ila nte Gruppen wie etwa d ie Egbesu Boys (Sesay et al. 2003: 46) oder die Bakassi Boys in Nige ria (Harni schfeger 2003: 33 f.), se lbst an traditio nelle Rite n und spirituelle Praktiken der Init iation wie etwa best immte Gesange, Tanze und Heilungsrituale ode r das Bluttrinken an. Dariiber hin aus wurden j unge Manner auc h in abgeschiedenen Regio nen oder durch Praktiken der Ge heimhaltung isoliert und damit prakti sch und symbo lisc h von ihren Familie n gelost , so dass auf diese Weise neue Bande unterein ander entstande n. Traditione lle Initiati o nsriten , welche die Ausiibung vo n Gewalt, eigenes Erleiden physisc her Grausamkeit und das Zusc haue n bei Gewaltakten vorsehen, erfiillen h6chst nutzli che Zweeke, da hierdu rch Loyal itat gestiftet und die Koh asion der Gruppe gewahrleis tet we rden. Wahr end die Initiation traditio nell mit dem Ziel der Einhegung von Ge-
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walt verbunden war, kommt es hier gerade zu einer Initiation durch die Gewalt, weiche die Konstruktion einer gemein samen Identitat und Solidaritat unter den jun gen Menschen ermoglicht. Aus der Sicht des Einzelnen mag insbesondere das Tragen einer Waffe ein wichtiges Mittel zur Erlangung des Prestiges eines erwachsenen maskulinen Kampfe rs sein: "The leap from being a powerless young boy, under the authority of parents and elders, to being a commander with a gun is momentous." (Utas ZOO3 : 15f.) Gewaltokonomische Strukturen, wie etwa der Handel mit Diamanten oder Orogen, in welche viele bewaffnete Gruppen , Rebellen ebenso wie StraBengangs involviert sind, erleichtem jungen Menschen dariiber hinaus eine gewisse finanzielle Unabhangigkeit zu erlangen. Dank ihres Ansehens als ,j unge Krieger' wird es ihnen damit oftmals erst mcglich, Ehefra uen zu finden (vgJ. Utas 2005: l 4Of.; Willi s 2002: 97ff.). So rucken sie jenem Status einer ,vollwertigen' Person naher, der ihnen unter anderen Umstanden verwehrt bliebe. Doch selbst bei diesem .eigenmac htlgen ' Heiratsverhalten der jungen Krieger bleibt oftmals ein Wunsch nach Verbundenheit mit der Heimatgemeinde und deren Billigung des so erlangten Erwachsenenstatus. So weist Leonardi (2007 : 403) darauf hin, dass beispielsweise suds udanesische Jugendliche, die wahrend des gewaltsamen Konflikts der 1990er Jahre femab ihrer Heimatgemeinden Ehen eingegangen waren, ein starkes Bedurfnis zeigten "for moral and social recognition and approval of their marriage, for ,fullperso n' status is still ultimately measured by values and ideals of the home community." Bewaffnete Gruppen bieten zudem nicht nur ein zum Klientelism us des Staates alternatives Patronagesystem, das soziale Aufwartsmobilitat ermoglicht, so ndem sie nehmen in gewisser Weise auch staatliche Funktionen wahr. So kam die RUF etwa dem von vielen jungen Menschen geauberten Wunsch nach Bildung mit der Einrichtung von .Buschschulen" ein Stuck weit nach (Richards 1996), und auch die Konflikt parteien FRELIMO (Frente de Libenacao de Mo~ambique) und Renamo konnten j unge Menschen nicht zuletzt dadurch mobilisieren, dass sie ihnen Studienstipendien in Aussieht stellten (My Intyre 2003). Unabhangigkeit und Befreiung von bestehenden Strukturen wird dabei alterdings nieht nur jungen Mannem versproc hen, sondern bewaffnete Gruppen wenden sic h in ahnlicher Weise auch an junge Frauen. So konnte etwa die mosambikanische FRELIMO (West 2004) ebenso wie die TPLF (Tigray People's Liberation Front) in Athiopien (Argenti 2002: 149) weibliche Kampferinnen mobilisieren, indem sieh beide Rebellengruppen filr die Emanzipatio n der Frau und mehr Geschlechtergleichheit in Fragen der Heirat, Scheidung, Landrefonn und Bildung ei nzusetzen versprachen. Oer Beitritt zu einer bewaffneten Gruppe kann somit zweifellos einen wichtigen Weg darstellen, urn das Stigma der Jugend loszuwerden und endlieh den Status des Erwachsenen zu erlangen.
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Die gege nwa rtig dominierende Konstruktion einer marginalisierten Jugend eignet sic h dabei als entsc heidende Mobilisie rungsressource, da uber sic quer zu ande ren lden titatsbezugen eine weiterreichende Solidarisierung in Ga ng gesetzt werde n kann. Statt bloBer Kooptierun g und Instrumentali sierung handelt es slc h hierbei urn die aktive Aneignung einer gemeinsamen ldentitat der ,marginalisierten Jugend ' , die ganz heterogenen Gruppen von Jugendlichen wie etwa Stude nten, Schulabga ngem und J ugendlichen der Arbeiterklasse die, zumindest kurzfristige, Integration in einen .Machtbloc k" erl aubt (Baya rt 1993: 115).
Nach Burgess (2005: 62) spielte dieser Mechanismus der Aneignung der Jugend kategor ie als Identitats- und Solidar isierungsressource mittels eines ,aktivierten ' Ge nerationenbewusstsei ns bereits wahre nd der Revolution in Sansibar von 1964 ei ne wesentl iche Rolle: "Youth emerged as an imagined generation to and in rhetorical relati onship with elders , workers, women, and racial term s employed in the partisan discou rse of the tim e. T hey nurtured a se nse o f purpose as a generation and they fantas ized abo ut the prospects of the years to co me. [ ...] In their reading of history, yo uth imagin ed themselves members o f an emerging vanguard ge neration with the ideas and skills necessary to place Zanzibar in its righ tful position on a wor ld map of mod ernizing nation s, and in the irreversible historical march towa rds socialism." Auch Diouf (1996) beschreibt in seiner viel zitierten St udie zu po litisc hen Juge ndbewegungen im Sene gal der spate n 1980er und friihen 1990er Jahre, wie sic h Student en und ,,sozial Marginalisierte" (encombrements humains), d.h. Jugendliche , die ilberwi egend auf der StraBe leben und ihre n Lebensunterhalt als Tagelohner und tiber kIeinere Diebstahle bestreiten und oft mals unter dem Sammelbegriff der social declasse zusammengefasst we rden, wahrend der gewaltsamen Unruhen in Dakar Ende der 1980er Jahre (sog. sopl) Bundnisse eingingen, urn ihren Fo rderungen an den Staa t gr66eres Gewicht zu verle ihen. Hatte die senegalesische Regierung diese in erster Linie als Ergebnis der Manipulation und Instrum entalisierung durch opposi tionelle Parteie n interpretiert und die St udenten als " unw holesome pseudo-youth" gebrandmarkt und mit einer Mischung aus Repr ession und Korrumpierung darauf reagiert , so hatte sie filr die Forderungen der social declasse lediglich Repressio n ubrig (vgl . ebd.: 233). Die gemein same Entta uschung tiber das gescheitert e Dem okratie-Projekt und die Uberreaktio n der Regierung fuhrte n schlie6lich zur Mobilisierung einer nun als hom ogen e Einheit auftrete nden sta dtisc hen Jugend , deren Gewalt "illustrated the expansive struggles for democracy and, above all , the demand for dialogue , for a hearin g wi thout reference to legitimation, henceforth to be bac ked up by vio lence on the part of soc ial adults who refu sed the role of junior which no longer offered any bene fits in a changing soc iety." (ebd. : 242) .Ahnlich zeigt Abdullah (2005), wie sic h Studenten und sog. rarray boys , die ebenfalls jener Sammelkategorie der social declasse zugerechnet werd en konnen , im Freetown der 1970er und 1980er Jahr e in der Konstruktion einer "imagi ned
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co mmunity of youth" zusammenfanden. Dabei brachten Studenten ei n gewisses .J ntelle ktuelles Kapital" ein, wahrend die rarray boys kulturelle Elemente (ein e bestimmte Sprache , Musik und Kleidungsstile) ,beisteuerten', die von den Studenten in eine .oppostno nette Kultu r" iiberfiihrt w urden (vgl. ebd.: 180). Waren die se untersch iedlichen Gruppen von Jugendlich en vo nnals in unterschiedlich e Fo nnen vo n Gewalt mit untersch iedlichen Zieten involviert, erh ielten ihre Gewa ltakte du rch d ie Entstehung eines "political disco urse wh ich priviled ged violence as the medium of soc ial change" nun eine neue Bedeutung und konnten in einen gemeinsamen Rah men gestellt werden (ebd .: 174). Auch hier sp ielten Erfahrungen mit einem repr essiven Vorgehen des Staates eine wichtige Rolle bei der Konstrukt ion der " imagi ned co mmunity of yo uth". Sie folgt e einem Skript "that laid great emphasis o n oneness; a spirit of give and take; and a unity founded on an imagined common interest freely translated into an opposition to the status quo. Put differently, the scri pt was the co llective speaking with one voice : the vo ice of an imagin ed co mm unity w ith identical interests and destiny - The new quest for equalit y reflected in the new language amo ngst youth directl y c hallenged the entrenched patron-elient relation ship in the soc iety." (ebd .: 183f.) Nach Abdull ah war es gerade die ses politi sch e Proj ekt einer durch Gewa lt vereinten revolu tion aren Jugend, an das die RUF in Sierra Leone schlieSlich in den 1990 er Jahren anknt ipfte. Er macht dam it auf eine wei tere wichtige Funktion der Konstruktion dcr Jugend aufmerksam, denn diese erlaubt es nicht nur, Einheit und Solid aritat unter unterschiedli chen Gruppen von Jugendlichen einer Generatio n zu stiften, sondem darub er hinaus auch eine Kontinuitat mit vergangenen Generat ionen herzustellen . Dass sich bei gewa ltsamen Jugendgruppen oft ein Wech selspiel der d iskursiven Erzeugung solcher Kontinuitaten , gleichzeiti g aber auch eine Betonung vo n Diskon tinuitaten und Briichen mit den ,J ungen von geste rn ' vol lzieht, hat Arn aut (2005 ) eindriicklic h am Beispiel der in den 1990e r Jahren in COte d'Ivo ire aktive n Studentenbewegun g Federation Estudiante et scolaire de Cote d 'lvoire (FESCI) gezeigt. So gelang es der FESCI , den historisch en Disku rs von Jugendlichen als ,,Avant gard e" gese llschaftlichen Wandels in ein eigenes politisches Proj ekt einzuspeisen, das sich als Vollendung einer .Jt isto rischen Mission" prasenti er en lieS und damit zugleich eine Verbin dung zwischen der Iu gendbewegung und der Gesellschaft herstell en kormte. Dabei berie f sie sic h gleichzeitig a uf den mit J ugend asso ziierten Status der Unabhangig keit und druckte so eine deutli che Distanz zu klien telistisch en politokonomischen Netzwerken aus. So heibt es in ei nem offiziellen Schriftstuck der Bewegung: "The autonomous and apolitical movem ent whic h we take upon o urselves expresses the will of the new Ivorian youth to figh t for a better life and to ass ume its historical role wh ich consists in takin g position in a societal project that takes shape in the popular aspirations." (FESCI 1993, zit. nach Arnau t ZOO5: 123, Herv. A.K.) Gerade die se dial ektische Dynami k der Demon stration vo n Unabha ngigkeit und S uche nach Verantwortung gegentiber einer Gemeinschaft, bei der die historischen
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Jugendkonstruktionen der "Wachter" und "Wandler" relevant werden, wird uns auch im folgenden Abschnitt begegnen.
Gewalt als " Mission 44 fur die Gemeinschaft: lugendliche als " Wachter" und " Wandler" Die Suche nach alternativen Patronagenetzwerken I lber den Zugang zu bewaffne ten Gruppen wurde bisher als Ausdruck einer eher individuellen Motivation jun ger Menschen betrachtet, eine moglichst groBe Unabhangigkeit und Selbststandigkeit zu erzielen und den Status eines Erwachsenen zu erJangen. Allerdings kann eine solche Suche, wie zahlreiche empirische Studien belegen, auch dadurch motiviert sein, tiber gewalthaltige klientelistische Netzwerke Zugang zu Ressourcen fur die eigene Familie und Heimatgemeinde zu erhalten und besser fur ihren Schutz sorgen zu konnen (Honwana 2005: 40; Brett/Specht 2004: 93). Gerade diese beiden Funktionen gehorten schon in vorkolonialen Zeiten zum traditionellen Aufgabenbereich jun ger Manner: .An important aspect of being youth has involved going out from the home to win resources outside; young men could bring back wealth through raiding, later through waged labour and more recently through international aid." (Leonardi 2007: 4(0) Zwischen den Generationen entsteht auf diese Weise eine .morabsche Kontinuitat", die sich in dem Bedurfnls junger Menschen zeigt, Verantwortung gegeniiber ihrer Familie und Gemeinde zu Ilbem ehmen (ebd.). Selbst die Sozialisierung und Initiation dUTCh bewaffnete Gruppen fiihrt somit nicht zwangslauflg zu einem vcl ligen Riickzug junger Menschen in eine von der Gesellschaft abgeschottete, gewaltsame Subkultur. Vielmehr zeigen die ,jungen Krieger ' , wie bereits im Zusammenhang mit ihrem Heiratsverhalten angedeutet wurde, oftmals nach wie vor einen gra Ben Respekt vor autochthonen Werten und gerontokratischen Ordnungsvorstellungen (Rasmussen 2000: 134; Seekings 1996 : 120). Dies spricht fur jene Kontinuitaten zwischen Generationen und Alterskategorien, welche einseitige Lesarten von instrumentalisierten Opfern oder einer von der Gese llschaft entfremdeten Subkultur von Ta tem, die einer homogenen Generation der Alteren per se feindlich gegeniiber steht, auBer acht lassen. Mit ihrer zeitweiligen Unterordnung unter ein militarisches Kommando verfolgen j unge Menschen oftmals kJar identifizierbare eigene Ziele, ohne dass dies einen Bruch mit der Gemeinschaft bedeuten muss. Vielmehr kann dies, im Gegenteil, auch zu einer Stabilisierung sozialer Bande beitragen. Es ist somit von einer Dialektik von Unabhangigkeit und gleichzeitige r Suche nach Verantwortun g auszugehen, die sich gerade auch in dem Phanomen des jugendlichen Vigilantismus zeigt, welcher in besonderer Weise den Charakter einer Mission fur die Gemeinschaft annimmt.
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Seit den 1990er Jahren lassen sich Tendenzen einer Zunah me vigilante r Gruppen vor allem im stadtischen Kontext vieler afrikanischer Staaten wie Nigeria (Harnischfeger 2003 ; Nolte 2007 ; Gore/Pratten 2003 ; Guichaoua 2(06), Kamerun (Arge nti 1998), Sudafrika (Baker 2002; Marks 2(01) oder Kenia (A nderson 2(02) beobachten. Ihre Mitglieder bestehen hauptsachlich aus j ungen Mannem, selte ner auch ju ngen Frauen. Vor dem Hintergrund ansteigender Kriminalitatsraten und einer tiefen Unzufrieden heit der Bevdlkerung mit einem hinsichtlich der Bereitstellung von Sicherheit, aber auch anderer gese llschaft licher Gtiter als ineffizient und korrupt wah rgenomme nen Staat, kommt es zu einer oftmals auBerst brutalen Aus tibung von Selbstjustiz, die als "Selbsthilfe" und "people's justice" legitimiert wird und nicht selten breiten Zuspruch in der Bevolkerung findet. Neben der Herste llung von "Recht und Ordnung' verfo lgen vigi lante Gruppen haufig ein weitergehendes gesellsc haftliches Projekt zur Erreic hung von mehr Verteilu ngsgerechtigkeit und einer verantwortlicheren und transparenteren Politik des Staates. Indem sie als "vanguards of a public sphere whose contours are unexpected." (Pratten 2007: 38) auftreten, zeigen sie sich auch hier als Vorreite r gesellschaftlichen Wande ls. Die Berufung auf historisch gewachsene Rechte und Pflichten junger Manner und ihre Rolle als "guardians of the comm unity" dient ihnen hierbei als Moglic hkeit, eige ne Ziele zu legitimie ren und mit solchen der Gemeinsc haft zu verbi nden. Obgleic h vigila nte Gruppen ihre Unzufriedenheit mit dem Staat ausdrtic ken, weil ,Demokratisierungsdividenden' und die erhofften besseren Bildungs- und Partizipationsmoglichkeiten ausble iben und sie nur schwer Zugang zu der klientelistischen politischen Okonomie finde n (vgl. Smith 2(06), zeigt ihr gleic hzeitige r W unsch nach Ubernahme von Ve rantwortung fur die lokale Gemei nschaft und die Verfolgung eine r soziopolitischen Age nda, dass sich de r Konflikt gerade nicht auf .Altere' als solche bezieht. Vielmehr scheint die von Leonardi angesprochene sozialmoralische Verbundenheit gegeniibe r einer oftma ls religios ode r eth nisch definierten Gemei nschaft hier gerade einer weit reichenden Solidarisierung und Homogenisierung verschiedener Gruppen von Jugendlichen entgegenzustehen. So richten vigilante Gruppen ihre Gewa lt nur selten gegen die Eliten aus Politik und Wirtschaft, die sie rhetorisch fi lr ihre wahrgenommene Marginalisieru ng und Exklusion verantwortlich machen, sondern viel hauflger gegen die meist ebe nfalis j ungen und unter ahnliche n strukturellen Bed ingungen lebenden .Kriminellen" (ebd. : 129). Legiti mitat und Ane rkennung von der Bevolkerung beziehen vigi lante JugendHche dabei nicht nur aus dem Rekurs auf vorkoloniale und akt uelle Konstru ktionen eine r marginalisierten, der Gemei nschaft als " Wachter" verpflichtete n und gese llschaftlic hen Wande l bringenden Jugend, sondern auch tiber den mit Jugend assoziierten Status der Unabhangigkeit. A1lerdings ist diese Legitimitat auberst prekar. So entwickeIn vigi lante Gruppen im Laufe der Zeit haufig enge Ve rbindungen zu lokalen Politikern und Big Men, die ihnen einen Zugang zur lokalen politischen Okonomie ermog liche n. Dadurch verringert sich ihre moralisc he und finanziel le
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Unterstutzung seite ns der lokalen Gemei nschaft, so dass sic in das Dilemma gerate n, zune hmend von der Riickendecku ng und materiellen Unterstutzung ihrer Patrons abhangig zu werde n und zu riskieren, dass Ihnen die Bevolker ung nun jegliche Legitimitat abspr icht. Weil sic h diese Ju gendlichen als eine moralisc he Alternative zum korr upten Staat und seine n klientelistischen Netzwerken prasentieren, lass t der bloBe Verdac ht, dass sie selbst Teil dieser Netzwe rke sein und bloBe .Wer kzeuge'' in den Handen machthungriger Eliten darste llen konnten, ihre ei nstma ls geschatzte " people's j ustice" in de n Augen der Bev61kerung schnell zu einer ,J ungle justice" werden. Damit drohen die Vigilante n von der moralisc hen Gemeinschaft, zu der sie eigentlic h gehoren, ausgesch losse n und selbst wie der jener ve rmeintlich ho mogenen Kategorie von Jugendli chen zugeo rdnet zu we rden, welche mit Negativstereotype n wie Devianz, Anarchie, Barbarei und Wildheit besetz t ist (Go relPratten 2003 : 226).
5. Fazit Statt wie in den meisten Arbeiten zum Thema Jugendgewalt von einer vorab altersmali ig definierten Jugendkategorie auszugehen und deren Gewalthandeln zu analysieren, w urde hier ei ne Perspektive gewa hlt, die Jugend als histori sch und ge sellschaftlich kontingentes Konstrukt begreift und da nach fragt, wie sich das spezifisc h ,Jugendliche' an kollektiver Gewalt auf dem afrikanischen Kon tinent naher beschreiben Iasst, d.h. was .Jug end' oder ,Jungsein' in afrikan ischen Gese llschaften Ilberhaupt bede utet, mil welc hen Problemlagen sich diese Ju gend konfrontiert sieht und inwieweit Gewalt hier mog licherweise einen Ausweg bietet. Vor diesem Hintergrund fand eine A useina ndersetzung mit der These vom "Generationenkonflikt" als dem dominierenden ErkHirungsmuster fi lr afrikanische J ugendgewalt statt , wobei zwei Lesarten untersch ieden wurden. Die erste Lesart geht von Jugendlichen als ,instrumentalisierte n Opfe rn ' aus und knupft hierbei an Ansatze an, die Jugend als Ubergangs phase kon zeptualisieren und die Unreife und .Unfertigkeit ' junger Menschen beto nen. Jugendliche sind danac h slark von gesellschaftlichen Strukturen abhangig, verfUgen Ilber kei ne rlei agency und sind ubera us leicht manip ulier- und kon trollierbar. Die zweite Lesart sieht ju nge Menschen hingegen eher als .e ntfremdete Tater' und betont in Anlehnung an Subkulturkonzeptione n von Jugend dere n abweic hende Norm- und Ordnungsvors tellunge n, ihren Rtickzug und die Losl6s ung vom Rest der Gese llsc haft. Jugendgewalt ist ein entsprechendes Resultal diese r Entfremd ung und, komrar zur ersten Lesart , ihrer Unkontrollierbarkeit und fast uneingeschrankten agency und Unabha ngigkeit von gesellschaftlichen Strukturen. Verdeutlicht wurde damit zugleich, dass unsere Erklaru ngsansatze fur J ugen dgewalt nicht nur von unseren Gewaltbegriffe n, sondem stets auch von unsere n Jugend konzept ionen abhangen.
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Obgleich diese beide n Lesarte n som it gewissermaflen zwei idealtypische Extrempole moglicher Betrachrungsweisen von Jugend(gewalt) darstellen, konnte geze igt we rden, dass ihnen eine ahnliche Konzeptualisierung des "Generationenkonfliktes" zug runde Iiegt. So gehen beide lesarten von einem per se antagonistisc hen Ve rhaltnls zwischen marginalisierten ,Jungen' und machtige n ,Alten' aus. Sie legen somit relativ homogene Alterskategorie n mit ahnlic hen Erfahrungszusammenhangen zug runde , wobei es zwischen den Generationen kaum Uberlapp ungen ode r Kontinuitaten gibt. Konfrontiert wurden diese beiden lesarten mit einer alternativen Perspektive auf den "Generationenkonflikt", welche den ambivalenten Charakte r von J ugend als Stigma, d.h. als etwa s, dessen man sich - notfalls gewa ltsam - entledigen mochte, und als Resso urce, die man fur sieh und andere einsetzen und nutzen kann, betont. So wurde zum einen herausgearbeitet, dass es fur j unge Menschen in vielen afrika nischen Gesellschaften aufgrund eingesc hrankter c konomischer Perspe ktiven, hoher Arbeitslosigkeit, mangelnder Bildungs- und Ausbildungsmcglichkeiten und Landk nappheit immer schwieriger wird, finanziell unabhangig zu we rden , zu heiraten, eine eige ne Familie zu grunden - und dam it ,erwachsen' zu werde n. Bewaffnete Gruppen stellen vor diesem Hintergrund nieht selten eine zumindest kurzfristige Moglichkeit dar, sich vom Stigma der J ugend zu befreien, da sie ei ne ,alternative ' Initiation in die Erwachsene nwelt ermogliche n und einen Zugang zu materiellen Ressourcen, Frauen , Ansehe n, Status und da mit Unabhangigkeit von der Familie in Aussicht stellen. Statt hierbel von einer Manipulation und Instrumentalisierung von J ugendlichen wie in der ersten Lesart auszugehen, wurde argumentiert, dass j unge Menschen sich als soziale Akteure die Kategorie der Juge nd vielmehr aktiv aneignen und tiber den Rekurs auf historische und gegenwartige Jugendkonstruktionen Solidaritat herstellen, Untersrlitzung mobilisieren und letztlich auch Gewa lt legitimieren. Zum anderen konnte gezeigt werden, dass Jugendgewalt auf dem Kontinent neben diesem Ziel, sich vom Stigma der Jugend zu befreien, oftma ls auch in weite rreichende Missionen fur die Gemei nschaft eingebettet ist. Insbesondere vigi lante Jugendgruppen sehen sich in Ankntipfung an entsp rechende historische Diskurse oft als Htiter und " Wachter" der Gemeinschaft und vermcge n ihre selbstj ustlziare Gewa lt so zumindest fiir gewisse Zeit zu legitimieren. Statt wie in der zwei ten Le sart lediglich von Briichen zwischen J ung und Alt und dem volllgen Rtickzug in eine Subkultur auszugehen, konnte aus dieser Perspe ktive somit der Blick wieder fur Kontinuitaten und verbindende Elemente zwisc hen den Gene retionen geoffnet werde n. Stat! von a priori gegeb enen homog enen Alterskategorien auszugehen, wurde geze igt, dass sich ein kollektives ,Jugendbewusstsein' erst konstit uieren muss und dass dies, wie etwa im Faile der vigilanten Gruppen, manchmal auc h anges ichts star kerer Identitatsbezuge wie Herku nft, Ethnie oder Religio n unmoglich ist.
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Insbesondere im Zusammen hang mit den Formen von Jugendgewalt, die als ,Mission fllr die Gemeinschaft ' auftreten, haben wir gesehen, dass ju nge Mensch en ihr Gewalthandeln nieht selten als notwendigen Besta ndteil eines produktive n, auf Verbesserung der gesellschaftlic hen Verhaltnisse gerichteten Wandels fram en , da in ihren Augen erst die vollstandige Destruk tion einer alten Ordnung die Entstehung einer neuen erlaubt: "Violence is needed in our country so we can remove all the bad things that are there. This present regime is like a sickness that must be destroyed violently so that better things can exist and the society can be more healthy." !" Es ist dieser Wandel durch Gewalt, der wohl die groBte Aufmerksamkeit se itens media ler, wissenschaftlicher und politischer Beobachter erfshrt - so auch in diese m Beitrag, weshalb die folgenden Bemerkungen durchaus als kritische Selbstreflexion verstanden werden konnen. Tatsac hllch kann und sollte Gewalt als eine mcgliche Ausdrucksform des Politischen verstanden und nicht von vornherein als irrational, barbarisch oder als bloBer Ausdruck von Instrumentalisierung und Kooptierung abgetan werden. Das ambivalente Verhaltnis von Jugendgewalt und gesellschaftlichem Wande l in den Blick zu nehmen ist wichtig, dabei darf jedoch nicht ausgeblendet werden, "dass Gewalt nieht das einzige und ausschlieBliche Mittel der Veranderung ist. So kann man ihr eine Alternative entgegenhalten, die ihr genaues Gegenteil ist: die Gewaltlosigkeit, eine Option, die bei rebellierenden Akteuren, die sieh dafllr entschieden haben, bei deren Gegnern , aber auch haufig innerhalb ihrer eigenen Bewegung immense menschl iche, politische und strategische Oualitaten impliziert ." (Wieviorka 2006 : 39) Dieser Wandel [enseits der Gewalt vollzieht sich oftmals an unbemerkten Orten und mittels kleiner und scheinbar unbedeutender Schritte. Beobachten kann man ihn beispielsweise in der Sphere von Sport, Kunst (Argenti 2005; Abdullah 2(02), Bildung oder Religion (Maxwell 2002; Adogame 2002; Sommers 2001; Gamer 2(00). Dort finden junge Menschen Kanale und Artikulationsweisen und schaffen es, sieh zu solidarisieren und vom Stigma der Jugend zu befreien, ohne dass hierfiir Gewalt eingeset zt wird. Diese .leisen Tone' des Wandels existieren nicht nur, sie uberwiegen bei weitem jene viel selteneren gewaltsame n .Pauke nschlage", an die wir in diesem Zusammenhang meistens denken. Da letztere oft so verheere nde Auswirkunge n, gerade auf junge Manner und Frauen haben, ist eine Ausei nandersetz ung mit ihren moglichen Ursachen und Erklarungsansatzen unabdingbar. Gleic hzeitig ist aber den immensen Anstrengungen junger Afrikaner und Afrikanerinnen, gewal tfrei zu gesellschaftlichem Wandel beizutragen, ebenso viel Aufmerksamke it zu schenken. Dies zu vemac hlasslgen hieBe, unintendiert jene Sich tweise zu reproduzieren , wonach sich echter Wandel nur ats gewaItsamer Umsturz bestehende r Verhaltnisse bemerkbar machen kann. 17
Interviewseq uenz mit einem siidafrikanischen Jugendlichen in Sowelo Mhr end der 1980er Jahre, zit. nach Marks (2001: 121).
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Jngendliche in NachkriegsgesellschaftenKontinnitiit nnd Wandel von Gewalt" Sabine Kurtenbach
Jugendliche sind in sehr unterschiedlichen Formen in Kriege und bewaffnete Ko nflikte involviert und von der damit verbundenen Gewalt betroffen.1 Sic nehmen als JURge Kombattanten oder .Kindersoldaten" direkt an den Kampfh andlungen teil, werden vertrie ben oder zur Flucht gezw ungen, die Zerstorung der sozialen Infrastruktur beraubt sic wichtiger Zukunftsperspektiven c der sie bekommen durch den Griff zur Waffe neue Chancen der sozialen Mobilitat. 1m Kontext von Krieg gelten Kinder und Jugendliche direkt und indirekt uberwiegend als Opfer. Jenseits organisierter Gewa ltkonffikte, wenn sic in Grol3stiidten randalieren, Autos anzunden, Ste ine werfen oder in sich in Gruppen zusammenschliefsen und Stadtviertel terrorisieren, gelten sie dagegen als Tater und Sicherh eitsproblern. Dennoch fehl t in der Debatte urn die Beteiligung von Jugendl ichen an Gewalt bisher eine systematische Einbeziehung des spezifischen Kontexts. Denn auch we nn Bande n oder Gangs zwe ifelsohne ein stadtisches Phanomen sind. lasst sich deren Entste hung nicht erklaren, ohne gleichzeitig die Griinde fur die Migration von J ugendlichen in die Slums der Grobstadte zu beleuchten. Auch die Methoden, mit denen Staat und Gese llschaft mit Jugendlichen, ihren spezifisc hen Problemlage n und Bedurfnissen urngehen, wird dann allein als Reaktion auf die Gewalt verstanden, nicht abe r als Teil der Ursache. Besonders kritisch ist diese punktu elle Betrachtung im Kont ext von Gese llschaften, in denen ein Gewaltkonflikt beendet wurde. Dort spielen Ju gendliche unabh angig von ihrer Beteiligung am Krieg - in der Regel weder im Prozess der Beendigung eine Rolle, noch tauchen ihre spezifischen Bedurfni sse explizit in Friedensabkommen oder anderen Verein barungen auf. Das Ende eines Kriegs wird als ein erster wesentlicher Schritt zur Beendi gung der Gewalt sowie zur friedlichen T ransformation der Gesellschaften betrachtet, die dann auch - so die implizite An nahme - die Probleme von Jugendlichen lost. Berichte aus Nachkriegsgesellschaf-
Die folgende Studie entstand uberwregend im Rahmen cines von der Deurschen Stiftung Fneocnsrorscbc ng geforderten Projekts am INEF in Duisburg. w eue re Informationen zum Projekt und die Teilstudie n befinden sich auf cer Projeklwebseile wwlV pustwar-viQlence,de. Knegsdeflnitionen cnterscheiden sich je nacbdem, ob quantitative cder qualitative Kriterlen zugra nde gelegt weroen und bilden damit zumindestleilweise unrerschiedliche Welten der Gewall ab (vg!. Chojnacki 20(8). die sich abet uberwiegend in der Bestimmung von Anfangs- und Enddaien umerscheiden. 1m Folgenden wird die qualitative Definition der Arbei l~gemei nschaft Kri eg~u rsachen forschung ( AKUF) dcr Universitiil Hamburg (vgl. Gant1xlf Schwinghammcr 1995, www.akuf.de) zugrunde gekgt. Unter die Kategorie der Nachkriegsgeseusc han en fallen diejenigen Lii.nder. in denen ein Krieg beendct ist (sci es am Verhandlungslisch, sci es durch militarischen Sieg oder Abflauen der Klimpfe).
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ten widerlegen diese Annahme allerdings; Jugendliche werden dort vielfach als Problem gruppe wahrgenommen. Dies gilt fi lr die .verlorene Generation" und die angry young men nach den beiden Weltkriegen in Europa ebenso wie fur viele aktuelle Nachkriegsgesellschaften. Dort, we Jugendliche im Nachkrieg gewalttatig werden , wird diese Gewalt aber iiberwiegend als neues, mit der Kriegserfahrung allenfalls indirekt in Zusammenhang stehendes Phanomen wahrgenommen. Das .abweichende'' und/oder kriminelle Verhalten der Jugendlichen wird dann ahnlich diskutiert wie Jugendgewalt und Jugendgangs in Nichtkriegskontexten. Diese Perspektive wird dem Problem der Jugendgewalt im Nachkrieg aus meh reren Grunden nieht gerecht: Erstens hangen die Ursachen von Jugendgewalt in Nachkriegsgesellschaften in hohem MaBe mit der Erfahrung von Krieg und verallge meinerter Gewalt zusammen. Zweitens sind die Dynamiken und Prozesse der Institu tionalisierung von Jugendgewalt und Jugendbanden stark konte xtabhan gig, das heiBt sie unterscheiden sich je nachdem , ob sie in Kriegssituationen, Nac hkriegs- oder Nichtkriegskontexten stattfinden. Drittens fuhrt die Reduzierung von Jugendgewalt als abweiehendem Verhalten zur Festschreibu ng und Legitimat ion der Marginalisierun g und ExkJ usion von Jugendlichen. Deshalb ist es notwendi g eine breitere Perspektive einzunehmen. Das Ende eines Kriegs mag ein erster Schritt zu gesellschaftlicher Transformation sein, er ist aber weder fur die Individuen noch fur die Gesellschaften ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit. So wie der Einzelne seinen individuellen Lebensweg mit sich herumtragt, so vollzieht sieh auch gesellschaftlicher Wandel auf der Basis kollektl ver Erfahrungen. Dies gilt fllr die europaische Geschiehte - auch die der Nach kriegszeit in der zweiten Halfte des 20. Jahrhunderts (Judt 2(05) - ebenso wie fur Nachkriegsgesellschaften im globalen Suden. Vor dem Hintergrund dieser Ube rleg ungen wird im Folgenden eine Konzepti on entwiekelt, die Jugendgewalt in Nachkriegsgesellschaften einerseits im Konte xt von sozialem Wandel und andererseits von Transformationsprozessen vom Krie g zum Nichtkrieg analysiert. Diese Herangehensweise besitzt eine Reihe von Vorteilen gege nuber punktuelleren Ansatzen, wei! sie in der Lage ist, tiber eine Prozessanalyse Kontinuit at und Wandel der Beteiligung von Jugendlichen an Gewalt zu identifizieren. Dies ist nicht nur fur die wissenschaftliche Analyse relevant , sondern auch fur die Entwicklung von angemessenen Strategien im Umgang mit Jugendlichen, vor allem wenn Ansatze jenseits von Kriminalisierung und Repression gesucht werden. 1m folgenden ersten Kapitel werden die bisher weitgehend unverbundenen Forschungsfelder zur Beteiligung von Jugendlichen an Gewaltkonffikten, zur Gewalt in Nachkrie gsgesellschaften und zu Jugendgewalt vorgestellt und Schnittstellen zwischen diesen Debatten identifiziert. Hierauf wird im zweiten Kapitel ein Analyserahmen prasentiert, der es erlaubt, den Kontext der Nachkriegsgesellschaft so zu fassen, dass sich Kontinuitat und Wandel dutch Krieg, Kriegsbeendigung und die nachfolgenden Transformationsprozesse vergleichen lassen. Nachkriegsgese ll-
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schaften befinden sich nicht im mehr oder minder linearen Ube rga ng vo m Krieg in den Nichtkrieg, sondern konstituieren einen spezifische n sozialen Raum, dessen EntwickJungsrichtung historisch offen ist und der von den bestehenden, durch Krieg und Gewa lt stark beeinflussten, Machtverhiiltnissen bestimmt wird . Dies ist auch fur die Perspektiven von J ugendlichen relevant. Vor diesem Hintergrund gibt Kapitel drei einen Uberblick zu unterschiedlichen Formen und Dimensionen von Jugendgewalt in aktuellen Nachkriegsgesellschaften sowie den Ansiitzen der Gewaltei nhegung und -kontrolle. Kapitel vier entw ickelt auf dieser Grundlage unterschiedliche Muster der Beteiligung von Jugendlichen an Gewalt im Nachkrieg, die helfen, die Vielfalt der empirischen Beobachtungen zu systematisieren. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse und sich hieraus ergebende Fragen fiir die weitere Forschung zu Kontinuitat und Wandel von Jugendgewalt in Nachkriegsgesellschaften stehen im Mittelpunkt des funften und abschlieBenden Kapitels.
1. Jugendllche in Gewaltkonflikten, Jugendgewalt und Gewalt in Nachkriegsgesellschaften - drei unverbundene Forschungsfelder Veriinderungen der gesellschaftlichen Ordnung durch soziale n Wandel spielen eine wic htige Rolle fur Jugendliche, weil sie ihren Stat us, die konkreten Passage n ins Erwac hsenenleben sowie ihre Zukunflsperspekt iven beeinflussen. Dabei ist das Konzept ,) ugend" selbst eine soziale Konstruktion, die stark von sozialem Wandel und kulturellen Kontexten gepragt ist, weshalb keine einheitliche Altersdefinition fur Jugendliche existiert. In unterschiedlichen Gesellschaflen sind damit verschiedene Altersgruppen gemeint , die Grenzen sind nach unten und oben f1ieBend. Der Weltjugendbericht der Vereinten Nationen (UN-DESA 2(07) bezieht die Altersgruppe zwisc hen 15 und 24 Jahren ein, die Weltgesundheitsorganisation die Gruppe der 15 bis 29 Jahre alten Personen (WHO 2(02), der World Development Report (2007) der Weltbank legt Altersgrenzen zwischen 12 und 24 Jahre n zugrunde. Eine besondere Phase der Jugend entsteht dort, wo sich traditionelle Lebenszusammenhiinge im Kontext von Prozessen des sozialen Wandels auflosen, die Einheit von Leben und Arbeiten beendet wird. Juge nd oder Adoleszenz bezeic hnet dabei eine Phase zwischen Kindheit und Erwachsensein, die von verschiedenen Status passage n gepragt ist. 1m Zusammenspiel zwischen den kulturgepriigten Definitionen sozialer Rollen und dem .kuuurel len Programm der Moderne" (Eisenstad t 2003: x) entstehen vielfaltige Konflikte, die oftmals ats Generationenkonflikte wahrge nommen werden. Gerade in Zeiten umfassender gesellschaftliche r Umwiilzunge n und Krisen werden J ugendliche dann vielfach als Problemgruppe wahrgenommen (Benninghaus 1999). Abe r nicht nur Jugendliche, auch die von ihnen ausgeubte Gewalt, deren Rolle und die Formen ihrer Einhegung verandern sich im Prozess des sozialen Wandels und der gesellschaftlichen Differenzierung: In traditionellen Gesellschaften mit
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hohem Integrationsgrad , festen Norme n nod eoge r sozialer Kontrolle we rde n ritualisierte Formen der J ugendgewalt vie lfach nicht nur geduldet, sondern haben einen fest umgrenzten Platz auf Festen oder in Initiationsriten (Dubet 1997: 221f.). 1m Prozess des sozialen Wandels nod der gese llschaftlichen Transfo rmation entzieht sic h Jugendgewalt zunehmend der sozialen Kontrolle dUTCh die Umwelt und leistet
damit auch keinen Beitrag zur sozialen Integration Jugendlicher mehr, sondern wird iiberwiegend als .abweichendes'' Verhalten wahrgenommen. Dies gilt insbesondere dan n, wenn Jugendliche auBerhalb anderer Forme n der Gewalt, z.B. Krieg, gewalt tatig sind. 1m Ubergang vorn Krieg zum Nac hkrieg spielen Jugendliche und ihre Bediirfnisse dagegen - unabhangig von der Art und Inte nsitat ihrer Beteiligung am oder Betroffenheit vom Krieg - kaum eine Rolle (Mclivoy-Levy 2008; Kemper 2(05). Dies gill fur Wissenschaft und Praxis gleic hermaben, obwo hl es sich hier nieht urn eine n Randaspekt handelt. Im Gege ntei l: Problemlage n vo n Ju gendliehen und de r Umgang ei ner Gese llschaften mit ihnen geben aus mehreren Grun de n Aufsehluss Ilber die Perspekti ven von Kriegsbeendig ung und Friedensentw ick lung (Peaeebuilding). • Jugend liehe verkorpem den Ubergang - vorn Kindesalter zum Erwachsensei n, aus der Familie in die Gese llsehaft - und spie len allein aufg rund der demographischen Struktu r der Under des Sudens und ihrem Ante il vo n 18% der Wellbevolkerung (UN- DESA 2007: xv) eine entseheidende Rolle fur die kunftige Entwickl ung ihrer Gese llschafte n. • Jugendliche haben den Krieg und sei ne Auswirkungen meist sc hon bewusst erlebt , sie sind in besond erem MaBe von den durch de n Krieg dynarnisierten Au flos ungsprozessen traditioneller gese llschaftlicher Zusammenha nge betroffe n. Die Erfah runge n, Einste llungen und Perspekti ven , die J ugendliche in diesem Lebensabschnitt erwerben, sind maJ3gebliche Grundlage fiir ihre individ uelIe Sozialisation (Watermann 2(05). • Ju gendliche sind an den meisten Prozessen der Kriegsbeendigung nieht betelligt, we il diese ebenso wie die Strukturen in Poli tik und Wi rtschaft uberwiegend vo n den alteren Generationen dominiert werden. Hier sind zahlreiche (Ge neratio nen-) Konfl ikte strukturell ange legt. Die Frage der Einbindung oder A usgrenzung und des Umgangs der Naehkriegsgesellschaften mit Jugendlichen ist des halb ein wic htige r MaBstab fur die Zukunftsfahigkeit dieser Gese llschaften und ein Indiz fur die Entwic kl ungsricht ung und den Erfolg von Peacebuilding. Die Frage der Ursac he n, der Forme n und der Dynami k von J ugendgewalt im Ko ntext von Nae hkriegsgesellschafte n ist also vo n beso nde rer Bedeutung.
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1.1 Jugendliche in Gewallkonflilaen Die Beteiligung von J ugendlichen, d.h. Ilberwiegend von jungen Mannem, als Kombattanten an Kriegen und organisierten Gewaltkonflikten ist nicht neu, auch wenn die Debatte um die "neuen Kriege" dies behauptet. So erklart Kaldor (200 1:83), die Banden junger Manner oder Abenteurer, die von der Gewalt oder ihrer Androhung leben, sei ein .jypisches Phanomen" der neuen Kriege. Diese Einschatzung ist allerdings ahistorisch. Denn auch an den klassischen Kriegen, die in der Debatte urn die .neuen" Kriege als VergleichsmaBstab dienen, waren junge Manner massenhaft beteiligt, auch wenn sie nicht als ,,Jugendliche" wahrgenommen wurden. Die beiden Weltkriege sind hierfiir ebenso Beispiele wie die koloniaIe Expansion Europas oder der amerikanische Biirgerkrieg. Auch hier boten Krieg und Gewalt jun gen Mannem die M6glichkeit der personlichen Bereicherung und der sozialen Mobilitat, auch wenn ein Nationalsraat dieser "Gier" mit der vermeintlichen Zielsetzung der "Verbreitung der Zivilisation'', des Christentums oder anderer ideologischer oder symbolischer Werte den Mantel der Legitlmitat verlieh und sie auf Ziele auBerhalb der eigenen Gesellschaft lenkte. Nicht die Beteiligung von Kindern und Jugendl ichen an Gewaltkonflikten ist folglich neu, sondern die Problematisierung dieser Beteiligung, die versta rkt in den letzten beiden Dekaden und Ilberwiegend unter der Opferperspektive geschieht. Dies hangt zum einen mit der Veranderung der normativen internationalen Rechtsgrundlagen in der zweite n Halfte des 20. Jahrhunderts zusammen, in denen die Rechte von Kindem (d.h. von der Geburt bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) formuliert wurden. Erst vor diesem Hintergrund macht die Rede von .Kindersoldaten" Sinn, wird deren Beteiligung am Krieg fur illegal erklart (Rethmann 2008 : 2249). Diese Wahrnehmung wird im offentlichen Diskurs durch die Berichte der UNExpertin Graca Machel (1996 , 2(01 ) sowie zahlreiche internationale Nichtregierungsorganisationen verbreitet. Es dominieren Perspektiven aus der Entwic k.l ungspsychologie und der Medizin, fokussiert wird iiberwiegend auf die fur Kinder durch Gewalt verursachten physischen und psychischen Schaden (Hart 2oo8a : 1). Ebenfalls irn Kontext der Diskussion urn sich verandemde Formen von Gewa ltkonfl ikten - von zwischenstaatlichen zu innerstaatlichen Konflikten - werden Jugendliche in letzter Zeit zunehmend als Tater und Sicherheitsproblern wahrgenommen. 1m Zentrum des Arguments steht die These von der demographischen ,,Jugendblase", die unter anderem von Samuel Huntington (1997) in sei nem Buch zum "Kampf der Kulturen" formuliert wurde. Von einer Jugendblase ist die Rede, wen n die Alterskohorte der 15 bis 24 Jahrigen mindestens 20% der Bevolkerung ausmac ht. Das zentrale Argument lautet, dass dadurch ein Uberschuss an jun gen Mannem entste ht, die keine Zukunftsperspektive haben, was die betroffenen Gesellschaften in hohem MaBe anfallig fur Gewalt mache. Diskutiert wird diese T hese im Kontexr der sog. .neuen'' Kriege in Afrika, islamistischer Gewalt, Terrorisrnus, Jugendbanden und organisierter Kriminalitat. In diesem sicherheitspolitisc hen Dis-
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kurs we rden mannliche Jugendliche in Form der .neuen stadtlschen Aufstandsbe wegung" (Manwaring 2005, 2(07) zum Feindbild und zur Zielgruppe s icherheitspclitischer Strategien, die Ilberwiegend auf Repressio n und Kontrolle gerichtet sind. Neben diesem Opfer-Tater-Diskurs hat sic h aber auch ei n Diskussionsstra ng entwickelt , der J ugendliche als relativ autonome und widerstand sfahi ge Akteure im Umfeld ei ner gewaltsamen Umwelt wahrnimmt. Qualitat ive Stud ien z u Jugendlichen vor aHem in bewaffneten Konflikten habe n gezeigt, dass diese ein hohes MaB an Wide rstands- und Anpassungsfahigkeit gegenuber dem gewalttatigen Umfe ld entwickel n kdn nen (Richa rds 1996; Boyden/deBerry 2004 ; McEvoy-Lev y 2006; UNDP 2006; Som mers 2(06). Diese Perspektive ist insbesonde re fur die Besc haftigung mit de n Perspektiven von Jug endlich en im Nachkrieg relevant, weil es dort schon aufgr und ihres Antei ls an der Gesamtbevolkerung dar um gebt, Jugendliche an der gesell schaftl ichen Transformation zu beteiligen und konstruktiv z u integrieren. Vor dem Hintergrund dieser Debatten zeigt Hart (2008a: Iff.) drei neue, tiber die Machel -Berichte hinausgehende Perspekt iven auf, die es weiter zu entwickeln gilt: • die Forschung zu Anpassungs- und Widerstandsfahigkeit von Kindem und Ju gend lichen an das Leben mit der Gewalt; • die Bedeutung spezifischer Kontexte, wei! die meisten Instrumente und MaBnahmen der Intervention aus de n Bereichen Menschenrechte und psychische Ges undheit stark normativ orie ntiert und .jconrextblind" sind; • die Einbez iehung konfliktrelevante r Entwicklungen und Kriterien aus unter schiedlichen Diszipli nen (z.B. Rekrutierungsmuster, Gender), damit Anal ysen nicht auf den psycho logisc hen Zustand von Kindem und Jugendlichen begrenzt bleiben. Letztlich geht es darum , die Interaktion zwischen direkte r Gewalterfahru ng und deren Konsequenzen fur das Leben , die Entwicklu ng und die Zukunftsperspektiven von Kindem und Jugendlichen zu erfassen. Krieg und Gewalt zerstoren die gerade fi lr diese Bevdlkerungsgruppen zentralen primaren sozialen Netzwerke und Infrastruktureinrichtungen (im Gesundheitswesen ebe nso wie im Bildungssystem) . Diese Erfahrungen pragen die Jugendlichen vielfach ihr Leben lag, beeinflu ssen Einstellungen, Normen und Werte, werden narrativ an die folgenden Generationen weitergegeben und leben fort. Dies zeigt sich in vielen auf der Basis von zwischenstaatlichen oder innerstaatlichen Kriegen geformten Stereotypen ebenso wie in der Erinnerung an symbolische Orte oder Gegeben heiten. Beispie le sind die Schlacht vom Amselfeld aus der Wende vom 14. zum 15. Jahrh undert , die beim Zerfall Jugoslawiens immer wieder bemtiht wurde , eben so wie legendare Personlichkeiten von Emiliano Zapata, Augusto Sandino bis zu Jose Marti, die lange nach ihrem Tod als Namenspatro ne Iateinamerikanischer Guerillagruppen fungierten.
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1.2 Jugendgewaltjenseits des Krieges Auch in der Diskussion urn Jugendgewalt jenseits des Krieges dominieren fachdisziplinare Diskurse aus Psychologie, Soziologie, Padagogik, Kriminologie und Anthropologie, wobei die individuellen Lebenserfahrungen von Jugendlichen und deren Organisaticnen im Mittelpunkt stehen (Daiute et a!' 2(06). In der politikwissenschaftlichen Konfliktforschung wird dies - wenn iiberhaupt - im Kontext der oben genannten neuen sicherheitspolitischen Bedrohungsszenarien behandelt. Auch die geographischen Raume, auf die sich die Debatten beziehen, unterscheiden sich. w ahrend Jugendgewalt im Krieg meist in landlichen Raumen diskutiert wird, wurde Jugendgewalt jenseits des Kriegs lange in den groBen Stadten der Industriestaaten untersucht. In den USA und dort im Umfeld der University of Chicago hat sich seit den 1960er Jahren hierzu ein umfassendes Forschungsfeld etabliert, in dem allerdings nicht Jugendgewalt an und fur sich, sondern Jugendbanden oder Gangs im Mittelpunkt standen. Erst in letzter Zeit werden Gangs, ihre Organisationsformen und der gesellschaftliche Umgang verstarkt iiberregional vergleichend erforschr sowie im Prozess der Globalisierung analysiert (vgl. Hagedorn 200 1, 2005, 2006, 2007, 2008; Klein et al. 2001; Watts 1998; Klein/Maxson 2(06). Der Entstehungszusammenhang von Jugendbanden wird im Zusammenspiel von gesellschaftlichen Kontextfaktoren und deren individueller bzw. kollektiver Perzeption und Verarbeitung auf drei Ebenen verortet. Wichtig sind dabei • die personlichen Erfahrungen der J ugendlichen mit Gewalt im familiaren oder gesellschaftlichen Umfeld; • die Art der Einbindung dieser Jugendlichen in die Gesellschaft durch Peergruppen oder andere Formen der kollektiven Organisation; • gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die sich direkt auf die konkreten und zukiinftigen Lebenschancen der Jugendlichen auswirken (v.a. demographische Struktur, Prozesse der Verstadterung und Migration sowie die Existenz staatlicher und nicht-staatlicher Mechanismen zur Integration von Jugendlichen oder zur effektiven Repression von Jugendgewalt). Da kriminelles Verhalten in den meisten Definitionen von Gangs ein konstitutives Merkmal ist, findet diese Diskussion uberwiegend im Bereich der Kriminologie und Soziologie unter dem Aspekt .abweichenden Verhaltens" statt, wobei die Abgrenzung zwischen verschiedenen Organisationsfonnen schwierig ist. 1m Eurogang-Projekt werden Jugendbanden beispielsweise definiert als "dauerhafte, an der StraBe orientierte Jugendgruppen, deren Involvierung in iIlegale Aktivitaten ihre Identitat bestimmt" (K lein/Maxson 2006: 4f.; Covey 2003: 16f.; zur Kritik Hagedorn 2008: xxiv f., Kersten 2(02). Damit wird die Diskussion allerdings stark verengt und andere Formen der Gewalt - etwa mit politischer Zielsetzung - werden ausgegrenzt.
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1.3 Gewall in Nachkriegsgesellschaften - mehr als der Ruckfall in den Krieg Wahrend die Diskussion urn Jugendgewalt stark fragmentiert ist, fokussiert ein GroBteil der Debatte urn Gewalt in Nachkriegsgesellschaften a uf die Frage des Riickfalls in den Krieg. Die Griinde hierfiir Iiegen zurn einen in der hohen Ruckfallquote, deren genaues AusmaB allerdings strittig ist (Suhrke/Samset 2007). Zurn anderen spiegelt sich hier aber auch die Tatsache, dass Gewalt in der intemationalen Diskussion VOT aHem dann wahrgenommen wird , wenn sie als Krieg definiert ist (Ku rten bach 2004). Die Ursa chen von Nachkriegsgewalt werden in drei As pe kten und Entwicklungen gesehen (Hampson 1995; Snyder 1997; Walter/Snyder 1999; DarbylMcGinty 2000; Darb y zoot, Walter 2002; Stedman/Roth child/Cou sen s 2002; Schn eckener 2003; Collier et al. 2003): Erstens in der sa g. Sich erheitslucke, die filr die Ex-Kombattanten entsteht, weil Garantien fllr ihre physische Sieh erh eit filr den Zeitp unkt fehlen, zu dern sie seiber die Waffen abgeben bzw. ein vo n ihnen kontrollierte s Territoriurn raumen mtissen. Tragt ein Abkornrnen dieser realen oder empfundenen Verwundbarkeit und der dadurch entstehenden Unsieh erhe it nicht hinreich end Rechnung, so bes teht eine gre be Gefahr des Scheiterns. Dagegen konn en Mechanisrnen der Machtteilung und Garantien exteme r Akteure helfen . Zwe itens in den Akti vitat en sog. Spoiler, bei denen es sich rneist urn die Verl ierer der Kr iegsb eendi gung hand elt. Diese sind Ilberwiegend ehernalige Kriegsakteure, die mit dem Rekurs auf die Gewalt entwe der den Abschluss eines Frie dens abkornmens verhindem oder aber bestimmte Regelungen erzwingen bzw. .nachbessern" wollen, weil sie andere nfalls ihre Position geschwacht sehen. Vor die sem Hiruergrund wird die Einbeziehung potentieJler Vetoakteur e in die Friedensprozesse gefordert, auch wenn dafilr Konzession en , beispielsweise bei der Strafverfo lg ung von Menschenrecht sverl etzungen , notwendig sind. Drittens wird diskutiert, inwieweit das Fortbes tehen zentrale r Kriegsursachen ein Grund filr anhaltende oder neuerliche Gewa ltkonflikte sein kann . Dies betrifft uberwie gend , aber nieht nur, die ehemalige n Kriegsgegner. Die Perspektive auf den Ruckfall in den Krieg oder in einen bewaffn eten Kon Ilikt greift allerd ings zu kurz , weil sie die dUTCh Krieg und verallgemeinerte Ge walt entstande nen Ver anderungen der Gesellschaft nieht einbezieht. Au6erdern verlie rt sie all diejenigen Akteure aus dern Blick , die nieht direkt am Krieg oder bewaffnetern Konflikt beteiligt war en, unter Umsta nde n aber ihre Interessen auch gewaltsarn du rchset zen. Erst in jungster Zeit wird die Gew alt in Nachkriegsge sell schaften zumindest irn Ansatz brei ter diskuti ert. Darb y (200 6: 4ff.) identifiziert neben der Gewa lt durch spo iler zwei weitere Ouellen der Gewalt: Zurn einen die Gewalt durch den Staat, der ebenso fragmentiert sein kann wie seine Gegner . Hier spielen staatliche und parastaatliche Siche rheitskrafte eine zentrale Rolle. Zurn anderen Gewalt on the ground in Form von Unruhen od er unorganisiert en Auseinandersetzun gen, aber
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auch anwachsende Kriminalitat vor allem durch paramilitarische Akteure , die sich zu kriminellen Netzwerken wandeln. Beides verweist auf grundlegende Problemlagen von Nachkriegsgesellschaften , die in Forschung und Praxis bisher nur wenig systematisch untersucht worden sind, namlich die Frage der Herstellung eines MindestmaBes an offentlicher Sicherheit und der symbiotischen Verbindung zwischen politischen und krimineHen Formen der Gewalt. Beides hangt eng mit der Kriegserfahrung und Defiziten bei der Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration, sowohl von Ex-Kombatt anten als auch der Bevolkerung insgesamt, zusammen. Damit geht eine Verlagerung der Gewalt in die Gesellschaft einher. Akteure sind nieht nur marodierende Banden von Ex-Kombattanten, die - mangels Alternati ven und/oder Fahigkeiten im formalen Arbeitsmarkt - ihr Uberleben weiter mit der Waffe in der Hand organisieren, sondem auch kriminelle Gruppen, die ohne direkte Beteiligung am Krieg vern existierenden Machtvakuum profitieren. Auch der Anstieg hauslicher Gewall, der sich in fast allen Nachkriegsgesellschaften beobachten lasst, hat hier seine Wurzeln. Diese Gewaltstrukturen werden bisher Oberwiegend in praxisorientiert en Zusammenhangen diskutiert, in denen alJerdings grundlegende Kontextfaktoren , die auf diese EntwickJungen Einfluss nehmen, vemachlassigt werden. Es dom iniert eine dichotome Unterscheidung zwischen (politisch motivierter) Konfliktgewalt und (wirtschaftlich motivierter) krimineller Gewalt, die sowohl filr die ..neuen" Kriege als auch fi ir Nachkriegsgesellschaften am Kern des Problems vorbeigeht, wei! sich verschiedene Motivationen und Zielrichtungen vermischen oder im Zeitverlauf andem (Kurtenbach 2(05).
1.4 Die S chninstellen r.wischen den Debatten Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, bei der Analyse von Jugend gewalt im Nachkrieg einen konfliktanalytischen Ansatz zu wahlen. Die beiden Debatten zur Beteiligung von Jugendlich en an Kriegen und bewaffneten Konffikten und zur Jugendgewalt zeigen namlich eine Reihe gemeinsamer Risikofaktoren auf unterschiedlichen Ebenen auf (vgl. Brett/Specht 2004: 9·83; Dowdney 2005: 66·94), die auch fur den Nachkrieg relevant sind: • Auf der strukturellen Ebene spielen Faktoren wie Marginalisierung, Armu t, fehlender Zugang zu Bi!dung und Arbeit eine Rolle. Dies gilt auch fiir Nachkriegsgesellschaften, wo Krieg Armut und Ungleichheit verstarkt. Nicht nur aus diesem Grund gehoren die heutigen Nachkriegsgesellschaften zu den arms ten Landern der Welt. • FUrdie kollektive Organisation spielen Peergruppen, Familie und andere primare Sozialisationsinstanzen eine zentrale Rolle fur die Entscheidung, sich einer bewaffneten Gruppe oder Gang anzuschlieben. Krieg und verallgemeinerte Gewalt zerstoren und/oder verandern die fur Kinder und Jugendlich e wichtigen
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Netzwerke, so dass Peergruppen im Nachkrieg vielfach Familienersatz werden, Schutz und Anerkennung bieten und beim taglichen Ube rlebe n helfen. • Auf der individuellen Ebene erhOhen eigene Erfahrungen mit Gewalt das Rlsiko, selbst Gewalt anzuwenden. Diese Erfahrungen sind in Nachkriegsgesellschaften in hohem MaBverbreitet. Dariiber hinaus zeigen beide Debatten, dass Dynamik und AusmaB von Jugendgewalt stark davon beeinflusst werden, wie Staat und Gesellschaft mit den Jugendlichen und ihrem Gewaltverhalten umgehen. Rein repressive Antworten gelten als kontraproduktiv, wei! sie sowohl im Kontext von Krieg als auch von Nicht-Krieg die Abgrenzung nach auBen erhohen und zu einer Eskalation der Gewalt fU hren. Daruber hinaus ist das Zusammenspiel zwischen kollektiv organisierten Jugendlichen und dem gesellschaftlichen Kontext allerdings wenig erforscht, auch wenn dessen Bedeutung zunehmend anerkannt wird (z.B. Hart 2oo8a: 9f.). Die systematische Einbeziehung des gesellschaftlichen Kontexts ist gerade fur Nachkriegsgese llschaften notwendig, weil nur so Linien der Kontinuitat, aber auch des Wandels im Gewahverhahen von Jugendlichen identifiziert werden konnen, Die vielfaltigen Ursachen von Jugendgewalt (siehe Imbusch in diesem Band) fiihren namlich trotz der Verbreitung von Marginalisierung und Exklusion keineswegs dazu, dass Jugendgewalt uberall ein gravierendes Problem darstellt. Selbs t unter schwierigen Lebensbedingungen greift nur ein geringer Teil der Jugendlichen zur Gewa lt. Je nach historischem, regionalem und kulturellem Umfeld haben Jugendliche sehr unterschiedliche Moglichkeiten und Optionen: Sie konnen das Leben so akzeptieren wie es ist, sie konnen migrieren (sei es vom Land in die Stadte, sei es iiber die Landesgrenzen hinaus), oder sie kcn nen versuchen, ihre personlichen und kollektiven Lebenschancen zu verandem, wozu es zivile und nicht-zivile Mechanismen gibt. Schon deshalb ist in Nachkriegsgesellschaften die Analyse der durch sozialen Wandel, Krieg und Kriegsbeendigung verursac hten Veranderungen fur die Frage der Jugendgewalt von grundlegender Bedeutung. Der im folgenden Kapitel vorgestellte Analyserahmen zeigt, wie sich diese verschiedenen Entwicklungen analysieren und systematisieren lassen.
2.
Nachkriegsgesellschaften als sozialer Raum
Nachkriegsgesellschaften befinden sich nieht im mehr oder minder linearen Ubergang Yom Krieg in den Nichtkrieg, sondern konstitu ieren einen spezifisc hen sozialen Raum, dessen Entwicklungsrichtung historisch offen ist und der von den bestehenden - meist durch Krieg und Gewalt stark beeinflussten - Machtverhaltnissen bestimmt wird. Die Herausforderungen, denen Nachkriegsgesellschaften heute gegenuberstehen, unterscheiden sich auf mindeste ns drei Ebenen qualitativ von den Erfahrungen in Nachkriegsgesellschaften Mitte des 20. Jahrhunderts, die vielfach
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als Modell oder Schablo ne fur die Anal yse und die Entw icklung vo n politisc hen Strategien zugrunde gelegt werden.' Ersten s begunstlgten die internationalen Rahmenbedingungen nach dem Zwei ten We ltkrieg politisc he und wirtschaftliche Entwicklu ngsmode lle, die staatszentriert waren. Unter den heutigen Bedi ngunge n der Globa lisierung haben sic h dagegen die Rege ln verandert und die Akteure vervielfac ht, so dass staatliche und nic htstaatliche exteme Akte ure mit unterschiedlichen, sich zum Teil widersprechende n Prioritate n in Nachkriegsgesellsc haften agieren. Das Engagement externer Akteure ist - mit Ausnahme einiger Protektoratsregime - zei tlich und in Bez ug auf die verftigbaren Ressourcen eher pu nktuell, obwohl von de n heutigen Nachkriegsgesellschaften nicht nur die Beendigung der Gewalt, so ndern gleichzeitig die Transformatio n zu Demokratie und Mar ktwirtschaft gefo rdert wird.3 Zweitens unterscheiden sic h auch die innergesellschaftlic hen Grundlagen de r Nachkriegsgesellschaften damals und heute gru ndlegend. lm Nac hkriegse uropa (Judt 2005) handelte es sich urn Gese llschaften, die bereits ein relativ ho hes MaB an sozialer Differenzierung aufwiesen, was als begunstigender Fakto r fu r gesellschaftliche T ransformationsprozesse gilt (Me rkel 1999; Merke llPuhle 1999). Aktuelle Nachkriegsgesel lschaften weisen dagegen sehr unterschiedliche Grade sozialer Diffe renzieru ng auf, die meisten dieser La nder gehore n zu den armsten der Welt. Und schlieBlich variieren die Bedingungen der Transformation je nachdern , o b es sich urn innerstaatliche ode r zwischenstaatliche Kriege handelt, und en tlang der Fonn der Kriegsbeendigung (Niederlage, Sieg, Abkommen , oder Abflauen). So wu rde n in Deutschland und Japan die den Transformationsprozess blockierende n Krafte durc h die militarische Niederlage und Besetzung entweder maBgeblich gesc hwacht ode r zumi ndest zur Kooperation gezw ungen. Dagegen erweisen sich in in nerstaatlichen Kriegen die Auswirkungen von Krieg und Gewalt auf die relevanten Akteure als wese ntlich ambivalenter. Die Me hrza hl de r Kriege heu te sind interne Kriege, die ein hohes MaB an gesellschaftlicher Fragmentierung zur Foige habe n. Die Friede nsabkommen spiegeln in der Rege l ein fragile s militarisches Krafteverhaltnis, in desse n Rahmen grundlegende Veranderu ngen des politisc hen, wirtsc haftlichen und sozialen Status quo stark konfliktbel aden sind. Defin iert man Nachkriegsgesellschaften als so lche, in denen ein innerstaatlicher Krieg nach 1989 bee ndet wurde, ohne dass es eine n Ruckfa ll in den Krieg gab , so
Siehe beis pielsw etse die Studie der RAND·Corporatio n. die Natio nbuilding dutc h die USA von Deu tschland bis zum Irak in eine Linie stellt (Min x.infKasper 2(0 3). Das Liberale Peacebuading-Paradigma geht (auf den Erfahnmgen in Nacf nnegseuropa aufbauend) devon aus, dass es ein en s ich gegenseitig versta rkenden Zyklus von Demokra tisierung, mark twinschaft licher Emwicklu ng und geseuschetutcher Befriedun g gi bt. Zur Debatte siehe vor altern Paris 2004 , 7.ur Kritik Richm ond 2006 , Kurtenbach 200 7. 2OO7a.
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gibt die folgende Lisle ei nen erste n Ei ndruck von der empirisc hen Vielfalt akt ueller Nachkriegsgesellschaften"; • Afrika: Angola, Elfe nbei nkuste, Gui nea , Gui nea -Bissau, Kongo (Brazzaville), Liberia, Mosambik, Ruanda, Sie rra Leone, Siidafrika • Ame rika: EI Salvador, Guatemala, Nicaragua, Peru • Asien: Ace h (Indo nesien), Kambodscha, Ost -Timor, Nepal • Europa: Bosnien und Herzegowina, Kroatien, Serbien • Vorde rer Mitt lerer Orient: Aserbaidschan {Nagomo-Karabac h), Tadschikistan. Fur die Analyse der Enlwicklungen in Nachkriegsgesellschafte n is! entscheidend, das s der soziale Ra um dUTCh sich iiberlage m de und mitei nan der interagiere nde Prozesse und Dynamiken bestimmt wird, die sowoh l vo n den Prozesse n des sozialen Wa nde ls, den Nac hwirkungen und Konseq uenzen von Krieg und Gewalt als auch von externen lnterventionen und Ein flussen bestimmt sind. Inso fern ist der vo n UNRISD (United Nations Research Institute for Social Development) gepragte Begriff der war-torn societies wesentlich angemessener als der in Wissenschaft und Forschung verbreitere de r Pos tkonflikt- oder Nachkriegsgesel lschaft f Scho n deshalb ist es keineswegs immer so, dass die Bee ndigung eines Kriegs ei n .Jcitischer Zeitpunkr" fur die Transformation ist , wie es das Liberale Peacebuilding Paradigma unterstellt. Die entsc heid ende Frage ist vie lmeh r, ob und wenn ja unte r welchen Bedingungen die Beendigung eine s Kriegs daz u fllhrt , dass die fiir eine erfolgreiche Transfo rmation ze ntralen .Schfusse tvariablen'' aktiviert bzw. die not wendigen Erfolgsbedingunge n gegeben sind, oder ob es zur Verfestigung vo n Blodeaden undJoder der Entstehung mehr oder minder stabiler hybrider Ordn ungen kommr. Auch die Frage, wann die Nachkriegszeit endet , entzie ht sich eine r pauschalen und qua ntitativen Festlegung. Wi ssensc haft und Entwicklungszusammenarbeit gehen mit ihrer Festlegung des .Postkonffikt" auf flinf bis zehn Jahre nac h Kriegsende an de r Realitat der betroffenen Gesellschaften weitge hend vorbei. Wie stark Gesellschaften auc h Ja hrze hnt e spate r noch von Kriegserlebni ssen gepragt sind, die bestimmte Entwicklungen ermoglichen oder abe r verhindern, zeigt die eu ropaische Geschichte meh r als deutlich. Dies gilt nich t nur fur de n Rek urs auf Stereotypen und Vorurteile nach zwi schenstaatlichen Kriegen, so ndern vor allem auch fi ir die im Rahmen innerstaatlicher Kriege erfolgte oder begrtlndete soziale oder ethnische Polarisier ung. Der folge nde Analyse rahmen hilft, die Komplexitat in Nachkriegsgesellschaften zu erfassen und zu strukturieren.
Eigene l.usa mmenslellung auf der Basis des Uppsa la/Prio Co nflict Data Set, Angaben der AKUF so wie Chojnacki 2OCl8. A usgewahlt wurden Under, die in rnindeste ns zwel der dre l Datensa tze dtese Kriterien erfiillen. UNRISD hat zwisch en 1994 und 1998 ern umfangreiches FOfflCh ungsprojekl unter de m Namen War·tom Societies Projl'Ct (W SP) dur chgefijhn , in dessen Mittelpunkt die Frage nach den grundlegenden Problemlagen in Entwic klun gsgesellscbaften im Oberga ng aus dem Krieg herau s sta nd. Fallbeispiele waren Eritrea , Mosam bik, Guatemala und Somalia. Vgl. beispiejsweise zu Guatem ala Torres -Rivas! Arevalo de Leon 1999.
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2.1 Nachkriegsgesellschajten heute - ein Ana/yserahmen Aufgrund der empirischen Vielfalt und der Veranderungen im intern ationalen Umfeld lasst sich der soziale Raum der Nac hkriegsgesellschaft am besten als ein doppeltes Spannungsfeld konstruieren (Grafi k 1). Hier treffen versc hiedene Prozesse und Dynamik en - etwa der Demokr atisierung oder der wirtschaftlichen Entwicklung - zusarnmen und interagieren. Dabei exis tieren innerhalb dieses Spannungsfelds sehr unterschiedliche Geschwindigkeite n und Zeithorizonte: W ahrend die Dynamik in Richtung auf Frieden und EntwickJung sehr langsam ist und einen langen Zeithorizont benoti gt, kann Gewa lt sehr schnell und kurzfri stig die erreichten Zie le zunichte machen. Ah nliche Untersc hiede gelten fur Einfliisse der globalen Ebene (die z .B. in Form von o konomisc hen Schocks auch sehr kurzfri stig negativ wirken konnen) und der gesellschaftlichen Grundlagen, die sic h in der Regel nur langsam und allmahlich verandem (eine Ausnahme sind hier revolutionare Umwa lzunge n). Das erste, vertikale Spannungsfeld bezieht sich vor allem auf die Ebene der Strukturen. Es wird von den internen gesellschaftlichen Grundlagen (u.a. Entwicklungsstand, historische und kulturelle Faktoren) einerseits und den Anfo rderung en und Interventionen externer Einflusse andererseits bestimmt. In welcher Form die se Strukturen aufeinander treffen (ob sie kompatibel oder inkompatibel sind, wie sie sich aneinander anpassen ode r verschranken etc.) ist entscheidend dafiir, wie die T ransfcrmationsproz esse verarbeitet und angenommen we rden und wie nachhaltig die damit einhergehende n Verandenmgen sind. Fur die Perspektiven von J ugendlichen sind hier versc hiedene Faktoren relevant: Auf der Basis der gesellschaftlichen Grund lagen stellt sich die Frage , ob ein Konzept von Jugend existiert, ob altersbasierte Hierarchien vorherrschen, welche Statuspassage n filr den Uberga ng ins Erwac hsenenleben zentral sind. Externe Einflusse, die auf Jugendlich e einwirken, kommen aus unterschiedl ichen Richtun gen . Die Durchsetzung internationaler Rechtsstandards (z.B. der Kinderrechtskonvention) wirkt sic h hier ebenso aus wie die Globalisierung von Kultur und Wirt schaft. Forderungen nach Dernokratisierun g der politischen Systerne bieten Ju gendlichen zurnindest auf der formaten Ebene neue Parti zip ation smc glichkeiten, die aber auch zu Konflikten fl lhren kcrmen . Das zwe ite, horizontale Spa nnungsfeld urnreiBt die Auseinanderse tzung zwischen denjenigen Akteuren, die Reformen blockieren oder vorantreiben, und denjenigen, die ihre Ziele und Interessen gewa ltsam oder friedlich durchsetzen. Letztlich geht es hier urn die bestehenden (und sich verandemden) Macht- und Herrschaftsverhaltnisse sowie die Handlungsop tionen, Perzeptionen und Verhaltensweise n der beteiligten Akteu re. Auch dieses Spannungsfeld wirkt unter Umstande n strukturbildend (z.8. bei langanhaltenden und sehr gewalttatigen Konflikten). Hier spielen die mit den Verand erungen zusammenhangenden Konflikte (wer gew innt, wer verliert) und die Frage, wie sie bearbeitet und geregelt werd en (kooperativ
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ode r ex kJusiv) eine ze ntrale Roll e. FUr Ju gen dlich e stellt sich die Frage der Beteiligu ng am Krieg und der personlich en Gewalterfa hrunge n sowie der Au swirkun gen
dee Zerstorung von primaren Sozialbeziehungen (Familie, Dorfgemeinschaft, Schulen). Gleichzeitig konnen Jugendliche im Umfeld von Krieg aber auch Statuspassagen bewaltigen (etwa die dkonomlsche Una bha ngigkeit), die ihnen anderen falls versperrt ge blie ben w aren, Hier ist dann zu klaren, welche Folgen die Krie gs beendigung fi lr Jugendliche hat. Gibt es beispielsweise spezifische Demobilisierungsprogramme fur jugendlich e Kombattanten, haben sic Moglichkeiten in der zivile n Ok onomie, werd en j uge ndsp ezi fisc he Pea cebuilding Needs beriicksichtigt? Letztlich geht es datu m zu verstehen, wie diese Konflikte und die Art wie sie
ausgetragen werden, auf die betroffene n Gesellschaften zuruckwirken. Die Folgen von Gewaltkonflikten sind nicht nur fur alte und junge Menschen, Frauen und Manner, Tater und Opfer, Gewinner und Verlierer unterschiedlich, so ndern wirken auch regional innerhalb eines Landes verschieden und sind oftmals sehr amblvalent. So bewirken Gewaltkonflikte offenbar eine Rtlckkehr zu oder Wiederbelebung von traditionellen Formen der sozialen Kohasion und primaren Netzwerken von Sozialbeziehungen, gerade weil sie in hohem MaGe destruktiv auf den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft wirken (durch Flucht, Vertreibung, Tra umatisierung). Beide Spannungsfelder sind durch ein hohes MaG an Ambivalenz charakterisiert: Weder sind aile nicht-gewalttatigen Akteure zivil, noch sind aile Gewaltakteure gegen Reformen. Gewalt zerstort, verandert und ordnet gesellschaftliche Machtverhaltnis se, externe Einflusse konnen Chancen und Perspektiven erhohen, aber auch zuniehte machen. Auf der allgemeinen Ebene lassen sieh allenfalls Faktorenbund el gunstiger oder ungunstiger Voraussetzungen fur den Transformationsprozess formulieren."
Die Analyse von Nachkriegsgesellschaften in diesern doppelten Spannungsfeld weist eine Reihe von Vorteilen auf, die auch fi ir die Frage von JugendgewaIt von groGer Bedeutung sind: Erstens handelt es sich hier nicht urn eine normative Analyse, die bestimmte Entwicklungsrichtungen praferiert, sondern urn einen Ansatz, der die Unterschiede der T ransformationsprozesse und deren Brklarung in den Mittelpunkt ruckt. Zweitens ermoglicht es das Konzept, die Wechselbeziehungen zwisc hen den vier Einflussfaktoren zu analysieren. Drittens wird die Beendigung von Gewaltkonffikten nicht mehr in erster Linie als Bruch mit vorangehenden Entwicklungen und Dynamiken verstanden und die Betrachtung auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet. Darnit lasst sieh sowohl die .Pfadabhangigkeit" vieler Prozesse, als auch die fur den Erfolg und die Nachhaltigkeit des dreifachen T ransformationsprozesses notwendige gesellschaftliche Vetankerung der Veranderungen einbeziehen. ZUr Frage von Erfolg oder Misserfolg von Peacebuilding siehe Ferdowsi/Mallhi es 2003, Stedman/Roth child/Cousens 2002. Doyle{Sambanis 2(X)6.
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Grafik 1: Nachkriegsgesellschajten im doppelten Spannungsfeld
•• •• •• ••• . ,--• •• ••• •• •• ••• •• •• •• •
Extem e Einfliisse und Intervent ionen Normen, Werte I okonomische Einbindung I intematio nales und regionales Umfeld
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KRIEG
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Gesellschaftlicbe G ru ndlagen Geschichte, Kultur, soziale Differenzieru ng, Entwic klungssta nd
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Unterschiedliche Dynamiken, Zeithorizonte und teilweise gegenlauflge Tende nzen
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Viertens lassen sich nicht nur unterschiedliche Kontexte auf Landerebene unterscheiden, sondern auch EntwickJungen unterhalb dieser Ebene vergleichen . Krieg findet kaum in allen Regionen cines Landes in derselben Intensitat oder Auspragung stan, sondem hat sehr unterschiedliche Spezifika, die beispielsweise von der Existenz ausbeutbarer Ressourcen zur Finanzierung bewaffneter Akteure oder auch von der sozialen Verankerung einzelner Konfliktparteien abhangen konnen. Der Vergleich innerhalb eines Landes erlaubt es, diese Unterschiede zu erfassen . VOT dem Hintergrund dieser Uberlegungen lassen sich entlang der zentralen Faktoren des Spannungsfelds verschiedene Lebenswelten konstruieren. 7 lm Foigenden sollen die fur Jugendliche relevanten Entwicklungen und Proze sse im sozialen Raum der Nachkriegsgesellschaft mit Bezug auf die verfiigbare Empirie umrissen werden .
2.2. Jugendliche im Spannungsfeld aktueller Nachlaiegsgesellschaften In vielen aktuellen Nachkriegsgesellschaften waren Jugendliche als .Klndersoldaten" direkt am Krieg beteiligt.f Eine Zusammenstellung des Human Security Projekts (2008: 53f.) unterscheidet drei Gruppen von Landem : • Under, in denen die aktive Beteiligung von Kindersoldaten an den Kampfhand lungen nachgewiesen ist: Angola , Elfenbeinkiiste, Guinea, Liberia , Ruanda, Indonesien, • Under, in denen die Beteiligung vermutet, aber nicht nachgewiesen ist: GuineaBissau, Kongo (Brazzaville), Mosambik, Sierra Leone, Nepal, Aserbaidschan, Tadschikistan, Serbien, Nicaragua • Under, in denen es keinen Verdacht auf die Rekrutierung von Kindem gibt: Siidafrika, Kambodscha, Ost-T'imor, Bosnien und Herzegowina, Kroatien , El Salvador, Guatemala, Peru. Die relativ hohe Zahl der Under ohne Beteiligung tiiuscht allerdings, da sich d ie Daten auf den Zeitraum 2001 bis 2004 beziehen, zu dem die dart genannten Kriege durchweg beendet waren. So waren Jugendliche bei den Aufstiinden in Soweto in Sudafrika an vorderster Front beteiligt. in Kambodscha setzen die Roten Khmer Kinder und Jugendliche gezielt bei der Gewalt ein und auch aus EI Salvador, Guatemala und Peru gibt es fiir die dortigen Kriege zahlreiche Berichte tiber die direkte Beteiligung von Kindem (Hensengerth 2008; Kurtenbach 2008; HRW 1996). Die Wege in die bewaffneten Gruppen sind vielfaltig und unterscheiden sich innerhalb eines Landes nicht nur zwischen den Akteuren, sondem auch zwischen Zom Konzept der Le benswelten des AIltags siehe Schiill/Luckmann 2003. Fiir Nachknegsgesellscha ften scheint di es a uch des halb ein erfolg versprec bender Ansate ZII sem, wei! hier di e Frage der kolleknven Erfa hrungen und ihr Ein nu S$ auf die Sinndeutung der Welt, g1eichze ilig aberauch die Slruklllrien heit der Lebens we ll und deren Hislorizitlil thernatisien werden. Als Kinderscldaten gelte n nach internauo nalem Rech t Kinder und Jugendhche. die das 18. Lebensjahr noeh nichl vollendet haben. verboten ist allerdings " nur" die Rekru lieru ng von unltr 15·Jah rigen, weil allch l.ahl reiche staatliche Sicher heitskriifte (z. B. in den USA oder Gr06bril annie n) Personal rekrune ren, das jiinge r a ls 18 Jahre ist.
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verschiedenen Regionen. Jenseits von Zwangsrekrutierung identifizieren Brett/Specht (2004 : 9-83) eine Reihe von Risikofaktoren auf der strukturellen EOOne wie Annut, mangelnder Zugang zu Bildung und Arbeit sowie kultu relle Traditionen oder Ideologien, die die Anwendung der Gewalt rechtferti gen. Die personliche Gewalterfahrung, sei es in der Familie oder im Kontext des Kriegs, kann Jugendliche ebe nso in den realen oder vermeintlichen Schut z einer bewaffneten Gruppe treiben wie das Vorbild von Geschwistem, anderen Verwandten oder von Mitgliedern relevanter Peergruppe n. Die meisten dieser Risikofaktoren werden durch Krieg und Gewalt ver starkt, so dass hier eine Dynamik entsteht, die eine Beteiligung am bewaffneten Kampf fur Jugendlich e rational macht oder erzwingt. Aber auch jenseits der direkten Beteili gung wirken sic h diese Risikofaktoren auf die Lebenswelten und Perspektiven von Kindem und Jugendlich en aus: Krieg geht in der Regel mit einer allgemeinen Militarisierung der Gesellschaft einher, die Nutzung gesellschaftlicher Ressourcen wird dem Krieg untergeordn et und diese fehlen dann fllr soziale Infrastruktur im Gesundheits- und Bildungswesen. Bildungs systeme werden im Kontext von Krieg vielfach funktionalisiert, zur Indoktrination missbraucht und vermitteln Stere otypen statt Werle und Normen, die den Austrag von Konflikten in zivile Bahnen lenken konnten .9 Diese Risikofaktoren existieren a uch nach der formalen Beendigung von Krieg weite r und strukturieren den sozialen Raum der Nachkriegsgesellschaft nicht nur vorubergehend, sondem meist nachhaltig. In Nachkriegsgesellschaften versuchen viele externe Akteure diesen Prozessen entgegenzuwirken, der externe Einfluss erhoht sich nach Kriegsende in allen gesellschaftlichen Bereichen. Die Binflussmoglichkeiten intemetional er Friedensmissionen unterscheiden sich abhangig vom Mandat. Daneben gibt es aber viele exter ne Einflusse, die nieht explizit auf Peacebuilding ausgerichtet sind, etwa durch die intemationalen Finanzorganisationen oder multinationale Konzeme. Deren Politik ist unter Umstanden fur die Friedensentwicklung kontraproduktiv (Boyce 1995; De Solo/del Castillo 1994) . Bereits die Prasenz vieler Auslander (sei es im Rahmen humanitarer oder entwicklungspolitischer Kooperation, sei es durch UNMissionen) mit unterschiedlichen, kulturellen und regionalen Lebenserfahrungen tragt zur Offnung der Gesellschaften und zur Einflihrung oder Verbreitung neuer Lebensentwiirfe, Konsummuster etc. bel. Dies spricht erfahrungsge maf Jugendli che besonders stark an. Vor allem in den Hauptstadten verbreiten sich globali sierte Kultur- und Konsummuster mit hoher Geschwindigkeit. Wie diese extemen Einfhisse mit den gesellschaftIichen Grundlagen der Nachkriegsgesellschaften zusammenwirken, hangt auch von kulturellen Pragu ngen und histori schen Erfahrungen abo The oretisch erhoht beispielsweise die Demokrati sieVgl. Davies 2004; Tawil 200 1. Aktuell wird dies am Beispiel der Koranschulen [z.B. pakistanisch en Madrassas) disk utiert, denen eine zentrale f unkuon bei der Rekrutierung [unger IGimpfer fUr den Jihad zugeschrieben wird. Aber auch in anderen Kulluren sind Schulen zentrale On e. in denen Gewall legitimiert ode r delegilimiert werden kann.
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rung die Partizipationsmoglichkelten von Jugendlichen, wei! sic mit Erreic hen der Volljahrigkeit das aktive und passive Wahlrecht erwerben, Die Moglichkeit zu wahlen reicht fiir grundlegende Veranderungen allerdings nur selten aus. Eine Auswertung des Bertelsmann Transformationsindex (2004, 2006, 2008) fur Demokratie in den Nachkriegsgese llschaften zeigt, dass der Status in hohem MaB vom Entwic klungsstan d abhangt, d.h. middle income countries wie Sudafri ka, EI Salvador, Peru oder die drei Balkanstaaten Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina schneiden hier de utlich besser ab als andere Nachkriegsgesellschaften. Fragt man allerdings nicht nach dem Status, sondern nach dem Entwicklungstrend, so differenziert sich das Bild etwas. Hier weisen auch einige afrikanische Lande r positive Entwicklungen auf, etwa Mosambik, Sierra Leone ode r Liberia seit 2006. Einige Nachkriegsgese llschaften stagnieren wie etwa Angola, die Elfenbeinkiiste, Ta dschikista n oder Kambodscha, andere zeigen eine negative (Guatemala 2008, Nicaragua 2006, Serbien 2006 ode r Aserbaidschan) oder wec hselnde (Nicaragua, Ruanda, Siidafrika) Te ndenz. Die Griinde fur diese Entwicklungen sind von Fall zu Fall sehr unterschiedlich und die empirische Vieifalt zeigt , wie versc hieden sic h die Nachkriegskontexte fur Iu gendliche gestalten konnen. Dies gilt auch innerhalb der Gese llschaften, weil sozialer Wandel in den Stadten schneller und anders vons tatten geht als in den landlichen Regionen. So haben interessenbas ierte politisc he und zivilgese llschaftlichen Organisationen ihre Basis vielfach in den Stadten, wah rend auf de m Land vertikale, an Personen und auf Klientelbeziehungen beruhende Strukturen vorherrsc hen. Dies fiihrt zu sehr unterschiedlichen Formen und Graden der Autonomie der Organisation und /oder Integration von Jugendliche n, die mit daruber entscheiden, ob Jugendliche als Peacebuilder oder Troublemaker (McEvoy-Levy 2006) fungieren. Das Zusammenwirken von externen Einfliissen und gese llschaftlichen Grundlagen ist auch im Bereic h der Wirtschaftsordnung fur die Lebenswelt von J ugendli chen wichtig. Hier stellt sich im Nac hkrieg vor allem die Frage, ob Jugendliche die Mcglichkeit haben, ihre wirtschaftliche Unabhangigkeit je nseits von krlegsokonomischen Aktivitaten zu erlangen. Die empirischen Befunde sind hier sehr gemischt: Kriegsbeendigung und c konomisc he Liberalisierung fuhren nur selten zur Entstehung von forma len Arbeitsplatzen und damit einer zivilen Uberlebensperspektive (Kamphuis 2004) , sondem vielfach zur Inform alisierung, Kriminalisierung und Fragmentierung der Gesellschaften. Vor dem Hintergrund de r verallgemeinerten Erfahrung von Krieg und Gewa lt wirkt dies mutmaBlich noch negativer als in anderen gesellschaftlichen Kontexten auf Jugendliche. Ausbildung und okonomische Selbststandigkeit sind zentrale Statuspassagen, deren Realisierung in Nachkriegs gesellschaften vielfach gar nicht oder nur in informellen oder kriminellen Zusarnmenhangen moglich ist. AJlerdings handelt es sich hier nicht urn rein okonomlsc he Fragen des Broterwerbs. Kriegso konornische Strukturen prod uzieren neben finanziellen Resso urcen sozia le und politische Machtverhaltnisse, die in Friede nsabkommen nur selten thematis iert we rden (Ausnahme Dayton) und mit dem Ende
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eines Kriegs nieht einfach verschwi nden. 1m Gegenteil: In zahlreichen Nachkriegsgesellschaften blockieren und verhindem die hier beteiligten Akteure den Transformatio nsprozess im politischen Bereich (Demokratisierung und Rechtsstaatlichkeit) ebenso wie die Befriedung der Gesellschaften. Guatemala ist ein Beispiel dafur, wie gewaltsam diese Entwicklung im Nachkrieg sein kann (Kurtenbach 2006 , 2008a). Das Beispiel Kambodscha zeigt, dass die Aufrechterhaltung kriegsokonomischer Strukturen nicht zwangslauflg mit hoher Gewalt verbunden ist, wen n die beteiligten Akteure Staat, Politik und Wirtschaft kontrollieren (Hensenge rth ZOO8.).
Ein dritter Bereich, der fi lr Jugendliche in Nachkriegsgesellschaften relevant ist und von den verschiedenen Einflilssen im Spannungsfeld strukturiert wird, ist der des Umgangs einer Gesellschaft mit der Kriegsgewalt. Spatestens seit der Grtlndung des Intemationalen Strafgeriehtshofs ist auch dies ein Ergebnis des Zusammenwirkens zwischen internen und extemen Faktoren. Bereits im Vorfeld wurde n diese Prozesse vielfach extern begleitet, beschrankten sic h in Form von Wahrheitsund Versohnungskom missionen (Sildafrika, EI Salvador, Guatemala, Peru oder die Gacasa -Tribunale in Ruanda) aber weitgehend auf die Dokumentation, nur in Ausnahmefallen wurden die Tater strafrechtlich verfolgt. Der Umgang mit der Kriegsgewalt ist abhangig von den gesellschaftlichen Machtverhaltnissen und der Frage, iiber welc hen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Einfluss die Gewalttater im Nachkrieg noch verfiigen. Wie konfli ktiv die intemat ionale Verfo lgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, zeigen die Tribunale zum Balkan und Westafrika, neuerdings auch in Kambodscha. FUr die Zukunftsperspektiven von Jugendlichen und deren Gewaltverhalten ist diese Frage weniger im Hinblick auf die Vergangenheit relevant, sondern in erster Linien unter praventiven Gesichtspunkten. Denn unabhangig von der Art und Hohe des StrafmaBes lst die Auseinandersetzung mit der Kriegsgewalt ein wichtiger Markstein des Wandels mit hohem symbolischen und padagogisc hen Wert. Wie sollen Jugen dliche leme n, dass Konflikte nieht mit Gewalt ausgetragen werden und dass es unverauberliche Menschenrechte gibt, wenn sie in einer Gesellschaft leben, in der selbst schwerste Verbrechen straflos bleiben? Fehlende Aufarbeitung legitimiert Gewalt als Mittel der Politik, der wirtschaftlichen Bereicherung oder des sozialen Aufstiegs. Damit werden nieht nur die direkten Opfer der Gewalt verhohnt, sondern auch Bemiihungen urn Demok ratisierung untergraben. Denn Demokratie und zivile Konfliktregulierung beruhen nicht nur auf einem MindestmaB an Vertrauen in die Mitmenschen und die gesellschaft lichen Institutionen, sondern auch auf der Moglichkeit, Straftaten mit den Mitteln des Rechtsstaats zu san ktionieren. 1m folgenden Kapitel werden diese konzeptionellen (Jberlegungen mit einigen Hinweisen zu unterschiedlichen Formen und Dimensionen von Jugendgewalt in aktuellen Nachkriegsgesellschaften sowie urn Ansatze der Gewalteinhegung und -kontrolle erganzt.
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3. Jugendliche Gewalt in Nachkriegsgesellschaften Jugendgewalt im Nac hkrieg lasst sich ebe nso wenig monokausal oder linear erklaren wie Gewalt in andere n Kontexten, All enfalls beim ROckfall in den Krieg ist die Beteiligun g vo n Jugendlichen eine direkte Folge gesc heiterter Kri egsbeendigung. An derenfalls iSI der Nachkriegs kontext ein fruchtbarer Nahrboden fur eine Versta rkung nahezu aller Risikofaktoren, die zu r Integration vo n Jugendlich en in bewaffnete Gruppen beitragen. J ugendgewalt im Nac hkrieg ist das Ergebnis des spe zifisc hen Zusa mmentreffens vo n Prozessen des rapid en soz ialen Wandels mit den Folge n von Kr ieg und andauernden Gewa ltdynamiken. Var dem Hinter grund der vorgestellten konzeptionellen Uberlegungen muss die An alyse auf das Zusammenwirken diese r Faktoren fokuss ieren. Die Frage der Einhegung und Kont rolle der Gewalt im Nac hkrieg ist dabei eine zentrale Herausford erun g, die fiir Jugen dgewa lt und ihre unterschiedlichen Ausdrucksform en eine zentrale Rolle spiell. Die Mogli chkeite n, die hier im Einzelfall bestehen, sind sta rk von den tran sformationsbedingten v eranderungen - z.B. einem Reg imewechse l - gepragt. Das Spektrum der Optionen reicht von der Rekonstrukti on von Mechanismen und Prozessen der Gewaltko ntrolle aus der Zeit vor dem Krieg bis zum Aufba u vollstandig neuer St rukt uren und Institution en.
3.1 Gewaltlwntrolle in Nachkriegsgesellschajten S icherheit ist in unmittelbaren Nachkriegs - und Postkonfliktkontexte n ein grundle gendes Problem, das tiber die Demobilisierun g von Ex-Kombatta nten und die ,,zivilisierung" vo n deren Verhalten hinausgeht. Kalyvas (2006) zeigt in sei ner Studi e zur .Logik der Gewalt im internen Krieg" fiir verschiedene Kriege, w ie sich nicht erst heut e private. wirtschaftliche und po litische Moti vationen der Gewaltanwendun g vermischen und zu mitunt er se hr unterschiedlichen Ge waltlogi ken auf der Mikro- und der Makroebene fiihren. Diese Gewalt hort nich t automatisc h mit ei nem Waffenstill stand und der Beendigung des Kriegs auf. Wald man n (200 2: 20lff.) hat am Beispiel Kolumbiens vo n der ..Veralltaglichung der Gewalt" gesp rochen. Auch Nachkriegsgewalt findet in einer Grauzone statt, in der sich untersc hied liche Gewal tformen ver binden. Funktionierende Mech anisme n zur BereitsteHung vo n Sicherheit feh len dagege n vielfach, sei es weil sie zers tort wo rden sind ode r sich im Umba u befi nden. Die Etab lierung zumindes t rudimentarer Formen offentlicher Sicherheit erfordert mehr als die Reform oder Neugriindung vo n staetlic hen Sicherheitskraften. In der w isse nschaftlic hen Debatte und der entwickl ungs politischen Praxis liegt der Fokus
JU2endliche in Nachkrie2sgeseJlschaften
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bisher aber uberwiegend auf diesen Problemlagen.l'' Nicht nur das Kriegsende, sondem auch die damit verbundenen Vera nderungen wirken sich auf die Entstehung von Gewalt und die Moglichkeiten ihrer Kontrolle aus. So kormen wirtschaftliche Offnungsprozesse die Inwertsetzung von Resso urcen verandem und so zu neuen Konflikten fuhren. Fur den Bereich der Schattenokonomien hat Lock (2003, 2004) den Begriff der .jegulanven'' Gewalt gepragt, well das Fehlen von allgemeingultig en und zivilen Regeln mit der Anwendung und Ausbreitung gewaltgestutzter Mechanismen der Konfliktbearbeitung kompensiert wird. Die im Nachkrieg geforderte Demokratisierung entzieht dagegen der politischen Gewalt vielfach die Legitimationsgrundlage, weil zumindest theoretiseh eine Erweiterung der zivilen Partizipationsmoglichkeiten und damit aueh der zivilen Konffiktlosung erfolgt. Die Tran sformationsprozesse wirken sieh auch auf staatliche und nichtstaatliche Mechanismen der Gewaltverhinderung und -kont rolle aus. Dies ist in der politik- und friedenswissenschaftlichen Diskussion erst in letzter Zeit im Zusammenhang mit fragiler Staatlichkeit und Govemanceproblemen thematisiert worden, wobei die Verknupfu ng mit Prozessen des sozialen Wandels und der Veranderung von politisehen Regimen weitgehend fehIt. Dies ist aber notwendig, weil sieh das Spektrum an Optionen und Kapazitaten je nach Regimetyp unterscheidet. So sind autoritare Regime meist fiber einen gewissen Zeitraum in der Lage, Gewalt zu unterdrucken, weil sie eine zwar tendenziell instabile, im Vergleich zu sich demokr atisierenden Regimen aber weit groBere Kontrolle Ilber den repressiven Staatsapparat haben.l l 1m demokratischen Rechtsstaat basiert Gewaltkontrolle dagegen nieht auf tradit ionellen Formen (Boge 2004), sondem wird zum einen tiber die Konfliktbearbeitung im Rahmen ziviler Mechanismen in der Zivilgesellschaft bzw. den Mitteln des Rechtsstaats organisiert. Zum anderen werden (Jbertretungen durch rechtsstaatli ch abgesicherte Sanktionsmechanismen verfolgt. Grafisch lasst sich dies folgendermaBen darstellen:
Zur Entstehung von verschiedenen Formen von ,,5icherheitsmlirklen" in Nachkriegsgesellsc haften vgl. Lambach 2OCl8. Zu den mil dem Transfcrmationsprozess verbundenen Problemen im Sicherheitssekto r siehe Cawthta/l.nckham 2003, ZII Nachkriegsgesellscliaflen HolmlEspcn 2000, Ca IVCook 2003, Call 2Cfl1. " Tilly (2003 :55fl) verweist in seiner Studie zu kollektiver ~walt auf die Bedeutung staatliche r Kapezitate n und der Art des politischen Regimes. rum Problem fragiler Staatlic hkeit in Nachkriegsgesellschaft en siehe Kurtenbach 2004a.
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Grafik 2: Gewaltkontrolle im demokratischen Rechtsstaat
GewaIt(-Konffikt)
/ [ Sanktion
1.-
! Ver-
regelung
Zivile Konfliktbearbeitung
--+
Pravention
! Reehtsstaat
In der Praxis zumeist defizitarer Demokratisierung lasst sich der Autba u neuer, demokratisch kontrollierter und rechensehaftspfliehtiger staatlicher Sicherheitsorganisationen und einer unabhangigen Justiz nicht von heute auf morgen bewerkstelligen. Nieht zuletzt aus diesem Grund zeigen statistische Untersuchungen, dass T ransformationsgesellsehaften in besonders hohem MaBe gewaltgefahrdet sind, ein Zustand der gemeinhin als umgekehrtes U beschrieben wird (Hegre 2004): Das hiermit zusammenhangende Grundproblem besteht darin, dass beslehende Formen der Gewaltkontrolle und Gewalteinhegung zerstort werden, bevor neue tragfahige Meehanismen funktionieren. Die Problemlagen aktueller Nachkriegsgesellsehaften spiegeln diesen Zusammenhang zumindest tendenziell, wie die folgende Ta belle zeigt.
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Jugendlich e in Nach kriegsgesellschaften
" h es Reeime und GewaItmonoool 7:bll a e el : Po /.lise Politisches
autoritar
im Ubergang
demokratisch
Guinea-Bissau
Guatemala
---
Regim e Gewaltmonoool in Frage gestellt partiell gefa hrde t
I weitge hend gesichert
Angola (Cabi nda)
Liberia
Siidafrika
Aserbaidschan (G renze)
Nepa l (Ta ral)
El Salvado r
Elfenbe inkiiste
---
Mosambik
Guinea
Kroatien
Kongo (B r.)
Bosnien-Herzegowina
Ruanda
Serbien
Sie rra Leone
lndonesien (Aceh)
Kambodscha
Po,"
Tadschikista n Quellen: Auswertunz BTl 2008 sowie Presse
Die Foigen von Krieg und Gewait sowie die in Nachkriegsgesellschaften vorherrschende Informalisierung und Kriminalisierung verscharfen die Probleme der Gewalteinhegung. Die in diesem Zusammenhang angewandte Gewalt wird meist als selektiv und .unpoliusch'' wahrgenommen, wei! sie sich weniger gege n Politiker als gegen reformorientierte Polizisten, Richter und Staatsanwalte richtet. Aber auch diese vermeintlich unpolitische Gewalt hat nieht nur enorme sozia le und materielle Kosten, sondern unterminiert auch den Aufbau neuer, demokratisch kontrollierter Sicherheits krafte und rechtsstaatliche Sanktions- und Kontrollinstanzen. Sie tragt zur Fortdauer des im Krieg vorherrschenden Klimas von Misstrauen und Angst bei und begunstigt asymmetrische Sozialbeziehungen. In vielen Nachkriegsgesel lschaften wird das bestehende Machtvakuum dann von Gruppen der mehr oder minder organisierten Kriminalitat genutzt, die Allianzen mit spoilern eingehen, urn den Status quo der Fragilitat und Unsicherheit aufrechtzuerhalten. Setzt sich der Einfluss diese r Netzwerke wie in Guatemala ode r Guinea-Bissau in Staal und Gesellschaft fest, entstehen Gewaltordnungen, in denen Peacebuilding in weite Ferne ruckt und Reformprojekte zum Aufbau neuer Polizeistrukturen oder des Justizsektors kaum noch Erfolgsaussichten haben. Jugendliche und die Dynamik von Jugendgewalt werden in hohem MaB von diesen Formen der Gewaltkontrolle und -einhegung beeinflusst. Zunachst ist es aber sinnvoll, zwischen verschiedenen Formen der Gewalt zu unterscheiden.
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3.2 Foemen der Gewalt Ve rschiedene Formen der Gewalt lassen sich entlang des Organisationsgrads und der Zielsetzung unterscheiden . Fur den Nachkrieg ist es sinnvoll, hierfur - analog und in Erweiterung qualitativer Kriegsdefinitionen - drei Kriterien zu verwenden: erstens die Frage der Organisat ion der Jugendlichen, d.h. handeln sic einzeln , in kleinen oder in groBeren Gruppen; zwe itens die Frage der Kontinuitar bzw. de s Zeitho rizo nts, d.h. handelt es sich urn spo ntane Gewaltakte oder finde n diese tiber einen gew issen Zeitraum kontinuierlich statt: und schlie8lich drittens die Frage der Zieisetzung und Funktion, d.h. wozu dient die Anwendung der Gewalt, der individuellen Anerkennung, der wirtschaftlichen Bereicherung oder einem libergeordneten politisch oder ideologischen Ziel. Mit flieBenden Ubergangen lassen sich folgende Typen von Jugendg ewalt unterscheiden: };> Situative Gewalt wird von Jugendli chen in bestimmten Situationen - z. B. unter Alkoholeinfluss, am Woch enende - verilbt. Sie flndet in Kriegs-, Nachkriegsund Nichtkriegskontexten gleichennaBen statt und hangt teilwei se mit dem Austesten von Grenzen zusammen, das fiir pubertierende Jugendliche typisch ist. Sie wird verscharft durch fehlende Freizeitangebote und andere Formen der Integration . In No rdirland wurd e beispielsweise der Begriff des recreational rioting von Jugendlichen gepragt, weil Jugendliche mit der Beendi gung der Auseinande rsetzung zwi schen Sinn Fein und dem britischen Staat nicht mehr politische Zielsetzung en mit der Gewalt verfolgen, sondem einfach randalieren (Jarman 2(08). };> Ritualisierte Gewait dient den mann lichen Jugendlichen als Beweis der Mannlichkeit im Prozess des Erwachsenwerdens und ist deshalb kIar an einen bestimmten Lebensabschnitt bzw. ein vorgegebenes Alter gebunden. Ritualisier te Gew alt kann eine Statuspassage in tradit ionellen Gesellschaften ma rkieren , kann aber auch der Aufnahme in eine Gang oder krimin elle Organi sation dienen. Diese Form en der Gewa lt konnen im Prozess des sozialen Wand els in zivile Mechanismen umgeleitet, sie konnen aber auch von anderen Akteuren instrument alisiert we rde n. };> Gewalt zur personlichen Bereicherung kann individuelle und kollektiv e Form en annehmen; ihr Zeithori zont variiert. Neben diversen Formen der Alltagskrimln alitat fallt auch die organisierte Kriminalit at, z.B. Drcgenh andel , in diese Kategorie . Diese Gewa lt ist - wenn sie nicht in institutionalisierter Form stattfindet - in den unterschiedli chen Kontexten auffindbar. Je nach politischem Regime und staatlichen Kapazitaten greifen hier unterschiedliche Sanktions- oder Verhinderungsmechanismen . };> Soziale Gewalt, die als Rebelli on gegen den oder zur Aufr echterhaitung des Status quo genutzt werden kann , ist vielfach eng verbunde n mit politischer Gew alt, kann aber sowo hl individuelle als auch kcllektive Formen annehme n. Sie verfugt tiber einen eher kUTZ- bis mittelfristigen Zeithorizont und benotlgt e ine zumindest rudimentare Form der Anb indung an den gese llschaftlichen Kontext.
JU2endliche in Nachkrieisiesellschaften
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Beispiele hierfiir sind mehr oder minder spontane Aufstandsbewegungen - sei es gegen ein politisehes Regime, sei es, wie in den letzten Jahren in Lateinamerika, gegen Freihandelsabkommen mit den USA oder seien dies Ghettoaufstande in den USA. Aueh hier stellt sich die Frage der Institutionalisierung und des Umgangs von Staat und Gesellsehaft mit der Gewalt. };- Politische Gewalt dient der Veranderung oder Aufrechterhaltung des gesellschaftliehen Status quo. Sie erfordert eine relativ gefestigte Organisationsform und ein mittel- bis langfristiges Projekt sowie eine - wie auch immer geartete ideologische Anbindung an einen gesellscheftlichen Diskurs. Beispiele hierfur sind die klassischen Guerillabewegungen, aber auch jugendli ehe Schlagertrupps, die von autoritaren Regimes gegen die Opposition eingesetzt werden. Die Analyse konkreter Faile von Jugendgewalt steht hier insofem vor einem Problem, als diese analytisch sinnvolle Unterscheidung nieht quantifizierbar ist, sei es, weil es keine Statistiken gibt, weil Pcli zei und Justiz diese Unterseheidungen nieht vornehmen oder die verschiedenen Gewaltformen zusammenhangen. In der qualitativ orientierten Prozessanalyse lassen sieh aber durchau s Muster vorherrschender Gewaltformen identifizieren. 3.3 Jugendliche und Gewalt - einige empirische Befunde
Ein erster Uberblick zum Problem der Jugendgew alt in den aktuellen Nachkriegsgesellschaften ergibt ein eher diffuses Bild 12: In einigen wenigen Gesellschaften gibt es entweder keine Jugendgewalt oder die Gewalt wird zumindest nieht mit einem Fokus auf die Beteiligung von Jugendlichen thematisiert oder wahrgenommen. Dies gilt fur Mosambik und Angola ebenso wie fllr Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Auch fiir Aserbaidschan und Tadschikistan gibt es in den verfugbaren Berichten keine diesbezuglichen Informationen. Ganz anders stellt sich die Lage in Sudafrika, EI Salvador und Guatemala dar, wo Jugendliche im Nachkrieg als das zentrale Problem der offemlichen Sicherheit gelten. Dies spiegelt sieh in einer Vielzahl von Presseberiehten, wissenschaftlichen Publikationen und Dokumenten der Entwieklungszusammenarbeit wider. Jugendli che werden hier uberwiegend als autonome Gewaltakteure wahrgenommen oder dargestellt, die situativ (vor allem unter Einfluss von Orogen) und zur personlichen Bereicherung Gewalt anwenden . Der Zusammenhang mit der Nachkriegssituation wird nicht hergestellt. Der geographische Schwerpunkt dieser Gewalt liegt in den urbanen Zentren, vor allem den Hauptstadten, weshalb hier an die Diskussion urn
12 Die folgenden Oberlegungen basieren _ jenseits der Erkenntnisse zu Guatemala und Kambodsclla - auf einer ersten Auswenung von Sekundarlueratur und allgemein zugiinglichen Quellen (vor allern Berichte von Menscher secbrsorgentsenonen wie Human Rigbts Watcll und der International Crisis Group) l U Gewah und Jugendgewalt in den genannlen Nachkriegsgesellschatten. Dies kann lediglich erste lI inweise geben, die durch weilere Forscllung differenzlen oder falsifiziert werden miissen.
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Sabine Kurtenbach
Gangs in den Metropolen der Industriegesellschaften ange knilpft wird. VaT allem im Zusa mmenhang mit Ze ntralamerika - und den fests tellbaren Untersc hiede n in der Gewaltsa mkeit j ugendlicher Bande n zwischen El Salvador und Guatemala einersei ts, Nicarag ua andererseits - werden in letzter Zeit die Wechsel wirkun gen zwischen repressiven Strategien im Umga ng mit Jugendl ichen und der Institutio naIisierung der Banden , deren Kriminalisierun g und fehlenden Moglichkeiten zum Au sstieg aus den Gruppen thematisiert (UNODC 2007 ; Demoscopla ZOO?; Roch a 2008; Kurtenbach ZOOS; Peetz 2(08). Ein anderes BUd ergi bt sic h zu Westafrika, we die Bete iligung vo n Jugend lichen schon im Krieg stark thema tisiert wu rde. Seit der Beendigu ng der Kriege gibt es immer wieder Warnungen vor einer latenten Gewal tbereitschaft vo n Juge ndlichen, falls deren Probleme nicht gelost werde n. Ais beso nders gravierend wird dabei die Kombinatio n aus fehlender (A us-)B ildu ng und hoher Arbeitslosigkeit bewertet. Ein expliziter Zusammen hang mit dem Krieg und seinen Ursachen w ird uber die fehlende Bearbeitun g von kriegs ursac hliche n Struktu ren hergeste llt. Der Rockfa ll in den Krieg in Libe ria 2000 wird beispielswe ise explizit mit Defi ziten bei der Reintegrat ion vo n Jugendlichen und der fehlenden Lcs ung j uge ndspezifischer Kriegsursachen begrii ndet. Dies bietet bewaffneten Akteuren auch ktinftig in der gesa mte n Regio n ein breites Rekru tierungspotentia l, auch wen n es bisher nicht zu verbreitete r o rganisierter Gewalt von Jugendlichen geko mmen ist. Studenten- und Jugendproteste wie in Liberia 2004 oder der Elfenbei nkiiste 2007 sind zwa r teilweise ebe nfalls gewalttatig , allerdings im wese ntlic hen punktuelle und spo ntane Ereignisse. Sie konnen trotz der fehlende n Kont inuitiit als soziale und politische Gewalt charakterisie rt werden. In Guinea sc hlugen Proteste von Jugendlichen ge gen d ie Regie rung 2007 in Akte des Vanda lismus urn (HRW 2005 , 2008; Utas 2005 ; Peters 20(6). Ebe nfalls eher im Rahmen von politiscber Gewalt, allerdi ngs auf eher niedrigem Niveau, beteilige n sic h Jugendlichen in einigen asiatisc hen Nach kriegsgese llsc hafte n an Gewaltakten anderer Akte ure. In Ost-Timor sc hlosse n sic h 2006 Juge ndliche protestierenden Ex-Ko mbattanten an. Hier wie in Aceh hat ei ne Diskussion urn das reale oder ve nne intliche Gewa ltpote ntia l von arbe itslosen stiidtischen Jugendl ichen begonnen. In Nepal werde n Jugendli che offenba r nach wie vor in Milize n der ehemaligen maoistischen Rebe llen, d ie heute die Regie rung stellen , rekrut iert. In Kambodscha werden Jugendliche von der Regieru ng gege n die politisc he Opposition ei ngesetzt (leG 2006; HRW 2007 ; Hensengerth 200 8). 1m folgende n Kapitel soil nun der Versuch unternommen werde n, diese empiri sche Vielfalt zu strukturieren und je nseits regionaler T rends iibergreifende Muster der Beteiligung vo n Jugendlichen an Gewalt aufzuz eigen. Daz u we rde n unter halb der Ebene der Nachkriegsgesellschaft Stadt und Land mit ihre n untersch iedlichen Gra den der sozia len Differe nzierung betrac htet sowie d ie dort vorherrsc henden Formen der Gewa ltko ntrolle erortert .
Juge ndliche in Nachkriegsgesellschaften
201
4. Muster von Jugendgewalt Jugendgewalt ist nicht nur zwischen, sondem auch innerhalb von Nachkriegsgesellschaften unterschiedlich verbreitet. Dies wird deutlich, wenn zwischen dem landlichen Raum und den Stadten differenziert wird. Die Debaue urn die Entwicklung in Nachkriegsgese llschaften hat die Bedeutung des landlichen Raums bisher kaum systematisch analysiert (Taeb 2004) , obwohl die Beziehungen im Agrarsektor in vielen Kriegen als eine der zentrale n Kriegsursache n gelten und Gewalt sic h in hohem MaGauf den Agrarsektor auswirkt : Die Sozialbeziehungen auf dem Land sind in den Landem des Siidens noch immer weitgehend traditional strukturiert, d.h. sie beruhe n - zumindest in wesentlich hoherem MaG als in den Stad ten - auf prima ren Netzwerken von Familie, Klan oder Ethnie. Dies ist im Krieg einerseits zum Ilberleben notwendig, andererseits erleichtert es in Kombination mit fehle nden Alternativen (sowohl zum Schutz als auch zum materiellen Uberleben) die Rekrutierung Juge ndlicher. Viele Gewaltakte ure haben auBerdem ihre materie lle Basis im landlichen Raum, weil sich dort die fur die Finanzierung notwendigen Ressourcen (Holz, Edelsteine, 0 1, Orogen etc.) befinden. Kriegsokonomlsch e Strukt uren beruhen ebenso wie kriminelle Netzwerke in Nichtkriegsgesellschaften vielfach auf traditione llen Sozialbezie hungen, in denen Verwandtschaftsbeziehu ngen durch .Patenschaft" oder ahnliche klientelistische Mechanismen erweitert werden (Naylor 2002: 25f.). Durch Flucht und Migration in die Stadte werden diese traditionellen Sozialbeziehungen in die anschwellenden Slums iibertragen. Beispiele hierfur sind lassen sich in allen Kriegsgesellschaften finden. Die Zeit der Roten Khmer in Kambod scha bildet eine Ausnahme, weil dart Flucht und Vertreibung explizit die Entvdlkerung der Hauptstadt Phnom Penh zum Ziel hatte. Erst mit dem Friede nsabkommen 1991 sowie der folgenden (Re-)Integration des Landes in die Weltwirtschaft hat ein Prozess der verstarkten Urbanisierung begonnen. Die folgende Tabelle gibt einen Eindruck vom Ausmag der Urbanisierung und dem Anteil der Siumbewo hner an der stadrlschen Bevolkerung:
Sabine Kurtenbach
202
7:blllUba a e e : r ms,erunf! un dS/ums Nachkriegsland Urbanisierungsgrad in %
Anteil der Sl umbewohner an der stadtischen Bevclkerune in %
Arreola
Elfenbeinkiiste
Guinea
Guinea-Bissau Koneo (Br.I
Liberia Mosambik
Ruanda Si erra Leone
Sud afrika Aserbaidschan
Tadschikistan Kambodscha Neo.l Ost -Timor
Bosnien-Herzezowina Kroatien Serbien
E1Salvador Guatemala Nicaragua
Peru
1990
2000
2010
1990
2001
37,1 39 7
50,0 43,0 3 1,0
56,6 47 2
83,1 50 5 79,6 93,4 84,5
83,1 679 72,3 934
28,0 28,1 54,3 45,3 21 I 5,4 30,1 52,0 53,7 3 1,5 12,6 8,9 20,8 39,2 54,0 50,9 492 41 ,1
53 I 68,9
29,7 58,3 54,3 30 7
35,3 30,0 62,1 61,5 38 4 23,9 444
70,2 94,5
90,1 55,7 94,1 87,9
13,8 37 0 56,9 50,9 25,9
61 ,7
82,2 90,9 46,2
5 1,9 24 ,2
k.A. k.A.
k.A. k.A.
16,9 134
22,8 18 2
71,7 969
72,2 924
24,5 43,2
28,7 48 6
55,6 5 1,6 58,4 45,1
k.A. k.A. k.A. k.A.
44,7 65,8
57,2
57,8 53,4 61,3 49,5 60,9
k.A. k.A. k.A. k.A.
35,2 61,8 80,9
71 ,6
73,7
80,7 60,4
95 8 33,2
68,1
Ouelle: UN-Habitat ZOO7, Tab. B.3, S. 352-355. Indonesien wurde nic ht aufgenommcn, wei! fur Aceh keine Daten anzeze ben sind.
Sc hon aufgrund der quantitativen Bedeutung dieser Phanomene sind sie fur die Transformationsprozesse in Nachkriegsgesellschaften wichtig. Der Ve rgleich von
Jugendgewalt in den Nachkriegsgesellschaften Kambodschas und Guatemalas
l ugendliche in
Nach krie&s~esellschafte n
203
zeigt, dass deren Ursachen eng mit den Prozessen der Urbanisierung und Migration zusammenhangen (Kurtenbach 2008; Hensengerth 2(08). Die Auswirkungen des Kriegs und der Kontext des Nachkriegs sind nicht direkt ursachlich , sondern indirekt, weil sie aile Risikofaktoren verstarken und dynamisieren. Allerdings sind Urbanisierung und Anwachsen der Slums alleine nicht hinreichend, urn die Unterschiede im Ausma6 an Jugendgewalt in den Stadten zu erklaren. Denn die Nachkriegslander, in denen dies ein Problem darstellt, zeigen - abgesehen von EI Salvador - nicht die grogten Zuwachsraten. Und auch im Fall El Salvadors hat - wie in Slidafrika - der Anteil der Slumbewohner nicht zu-, sondern abgenommen. Insofern spielen hier ganz offe nsichtlich weitere Faktoren bei der Entstehung und dem Verlauf von jugendlicher Gewalt eine Rolle. Bezieht man unterschiedliche Kapazitaten und Formen der Gewaltkontrolle und des Umgangs mit Jugendlichen ein, werden weitere Faktoren der Brklarung deutIich. In den noch oder wieder stark traditional strukturierten und liberwiegend agrarisch gepragten Gesellschaften stellt Jugendgewalt entweder kein Problem dar oder wird von anderen Akteuren instrumentalisiert oder funktionalisiert. So wurden in Kambodscha noch wahrend des Kriegs nach der vietnamesischen Besetzung d ie traditionellen Dorfstrukturen im Umfeld der Pagoden rekonstruiert. Die gesellsc haftlichen Veranderungen durch Krieg und Gewalt flihrten allerdings zu zwei Veranderungen : Erstens wurde die Position des Konigs an der Spitze der klientelistischen Patronagenetzwerke durch die Partei (heute die CPP) und die Person Hun Sen ersetzt. Zweitens verloren die Pagoden und der buddhistische Klerus aufgrund der Kooperation mit der kommunistischen Partei einen Teil ihrer Unabhangigkeit und damit auch an gesellschaftlicher Verankerung und Legitimation. Diese Form der Rekonstruktion ist ma6geblich fur das Ausma6 und die Formen der Jugendgewalt in Kambodscha: Zum einen wird sie vom Regime benutzt, wie im Fall der T hai-Unruhen 2003 oder im Rahmen selektiver politischer Gewalt gegen opposi tionelle Parteien und Politiker vor allem im Wahlkampf oder gegen unabhangige Personlichkeiten aus Zivilgesellschaft und Medien; zum anderen ermoglicht diese Einbindung aber auch die Kontrolle durch den staatlichen Repressionsapparat. Als die Gewalttatigkeit von Jugendlichen vor allem in Phnom Penh zunahm, reichte eine .Brandrede" des Regierungschefs, damit die Polizei agierte. Aktuelle Plane zur Einflihrung der Wehrpflicht konnen ebenfalls als Versuch der Kontrolle von jungen Mannem ohne Jobperspektiven interpretiert werden (Hensengerth 2008). Auch in anderen Nachkriegsgesellschaften mit einem hohen Anteil landlich er Bevolkerung und geringem Grad an sozialer Differenzierung greifen ahnliche Mechanismen der Einbindung und Kontrolle von Jugendlichen. Aktuelle Entwicklungen in Nepal deuten beispielweise in diese Richtung: Die ehemalige Rebellenbewegung - durch Wahlen an die Macht gelangt - rekrutiert Jugendliche fur Milizen , die ganz offensichtlich der Absicherung der eigenen Herrschafl dienen. In der EI· fenbeinkliste dagegen agieren Jugendliche offenbar mit einem hdheren Ma6 an Autonomie. Eine Studentenorganisation (FESCI), die ursprlinglich flir politische
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Sabine Kurtenbach
Offnung und Demokratisierung eintrat, operiert zunehmend als Schlagertrupp der Regierung, seit ein ehemaliger AnfOhrer an ihr beteiligt ist. Die politische Instrumentalisie rung von Jugendlichen und Jugendbanden hangt eng mit der Neugestaltung der gesellschaftlichen Machtverhaltnisse in stark traditionell strukturierten Gesell schaften zusammen. Nmliche Phanomene gab es historisch sowo hl in Europa (zum Beispiel in der Zwischenkriegszeit) als auch in den USA, wo J ugendbanden in den 1920er Jahren als Schlagertrupps der Demokratischen Partei fungierten . Insofem ist dies ein Phanomen des sozialen Wandels, der
in den Nachkriegsgesellschaften heute allerdings iiberwiegend externe Ursachen hat. 1m Ergebnis erfolgt die von auBen geforderte Demokratisierung oft nur oberflachlich und fonnal - es wird gewahlt, es gibt ein Parlament -, wahrend sich traditionelle Fonnen der Herrschaft erhalten bzw. an die neuen Verhaltnisse anpassen. lnwieweit die sich hieraus ergebenden Brtiche und Verwerfungen ein Ubergan gsphanomen sind oder sich dauerhaft verfestigen, bleibt abzuwarten. Eine andere Form des extemen Einflusses auf Nachkriegsgesellschaften wirkt sich ebenfalls auf die Erosion der traditionellen Formen der Kontrolle von Jugendlichen aus: die wirtschaftIiche Globalisierung und der Fortbestand kriegsokonomischer Strukturen . Auch wenn diese vielfach auf traditioneJlen Strukturen beruhen , bieten sie Jugendlichen auch Moglichkeiten, aus traditioneJlen Hierarchien auszubrechen und unabhangige Handlungsoptionen zu entwickeln. In Westafrika beschreiben JugendJiche ihre Kriegserfahrung als "Offnen der Augen" (Peters/Richard slVlassenroot 2003 : 31) und sind im Nachkrieg nicht mehr bereit, sich in die traditionellen Hierarchien ein- und unterzuordnen. Hier entsteht ein betrachtIiches Konfliktpotential, das sich in Liberia 2004 bereits in Jugendunruhen manifestiert hal. Die Definition von Jugendgewalt als politisches oder nicht-politisches Phanomen durch Politik und GeseJlschaft ist ein wichtiger Faktor fiir die im Umgang mit Jugendgewalt entstehende Dynamik. Werden Jugendunruhen wie in Liberia als politisch bewertet, gilt dies vielfach als Wam signal, dass ein Ruckfall in den Krieg drohen kann. Bei Gewalt, die sich vornehmlich auf das tagtagliche Uberleben richret, besteht die Reaktion dagegen vorwiegend in repressiven MaBnahmen, die Jugendlichen werden also kriminalisiert. Der Umgang mit jugendlichen Gewaltakteuren entscheidet daruber, ob eine Institutionali sierung der Gruppen erfolgt, er ist insofem fur die weitere Dynamik entscheidend . Die unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb Zentralamerikas sind ein Beispiel hierflir, Wahrend die verschiedenen Politiken der harten Hand in El Salvador und Guatemala zu einer Abschottung der Jugendbanden gefuhrt haben, hat eine starker auf Integration und Pravention gerichtete Politik in Nicaragua genau dies verhindert. Auf den ersten Blick wird bei diesen Phanomenen kein direkter Zusammenhang zu den Kriegen der 1980er Jahre sichtbar. Eine Analyse der Nachkriegsgesellschaften im doppelten Spannungsfeld zeigt aber, wo die Unterschiede und Gemeinsamkeiten liegen und wie sie mit den Folgen von Krieg und Gewalt
Jugendliche in Nachkriegsgese llschaften
205
zusammenhangen (Kurtenbach 2007a). So wurde nur in Nicaragua (infolge der Mac htiibemahme der sandinistischen Guerilla nach 1979) der autoritare Repressionsapparat vollsta ndig zerstort, die neuen Sicherheitskrafte mussten sich nach Kriegsbeendigung 1990 professionalisieren , um den neuerlichen pol itischen Machtwechsel zu uberleben. Hier zeigt sich, wie die unterschiedlichen Faktorenbundel des Spa nnungsfelds interagieren und zu einem sehr spezifischen Ergeb nis fuhr en. Der zwe ite fur die Jugendgewait wichtige Unterschied zwisc hen EI Salvador und Guatemala einerseits, Nicaragua anderse its, bezieht sich auf die Muster der kriegsbedingten Migration. Salvadoria nische und guatema ltekisc he Kriegsfl uchtlinge erreichten die USA uberwiege nd illegal und lebten folglich in prekaren Verhaltnissen. In diesem Kontext entstanden vor allem in Los Angeles zwe i sic h gegensei tlg bekampfende Jugend banden, deren Mitglieder teilweise nach Zentralamerika deportiert wurden. Aus Nicaragua migrierten dagegen uberwiegend Familien der Mittel- und Oberschicht, die von der Regierung zu mindest verbal als .Frei heits kampfer'' begrii6t und unterstiitzt wurden. Diese Muster sind ei n zwei ter Grund, wa rum sich die Banden in Nicaragua im Gegensatz zu EI Salvador und Guatemala weniger stark institutionalisiert und transnationalisiert haben. Dariiber hinaus liegen EI Salvador und Guatemala starker als Nicaragua im Korridor des interamerikanisc hen Drogenhan dels, was eine Verbindung der Jugendbanden zum organisierten Verbrechen, sei es zum Schu tz vor staatlicher Repress ion, sei es zur Gewi nnmaximierung, vereinfacht hat. Zusammenfassend ergeben die hier vorgestellten Uberlegungen ei ne Art Stufenmod ell von J ugendgewalt im Nac hkrieg, in dem Faktoren auf unterschiedlichen Ebenen zusam menwirken: Fur den Einzelnen ist eine Gruppe von Gleichaltrigen, mit denen auf der Stra6e .berumgehangen'' wird, zunachst einmal in erster Linie Ersatz fur fehlende oder nicht funktionierende soz iale Netzwerke, sie bieten Solidaritat und Anerkennun g. Die hier am haufigsten zu beobachtenden Forme n der Gewalt sind sit uativ, rituell oder auf das tagliche Leben ausgerichtet. Die Frage des Ausstiegs - oder des Herauswachsens - aus dieser Stufe ist dann maBgeblich vom Kontext und dem damit verbundenen Umgang von Staat und Gesellschaft mit diesen J ugendlichen abhangig. Institutionalisierte Banden oder Ga ngs entstehen dort, wo der Ausstieg iiber die Erreichung zentraler Statuspassagen (okonomische Unabhangigkeit, Eintritt ins Arbeitsleben) stark erschwert oder nicht mcglich ist. Der repressive Umgang mit jugendli chen erh6ht den Zusammenhalt und die Identitat der Gruppen, die so von anderen Akteuren instrumentalisiert ode r funkti onalisiert werde n kormen. Dies kann sowo hl im Kontext organisierter Kriminal itat als auch mit politischer oder sozialer Zielsetzung geschehen. Die analytische Unterscheidung von unterschiedlichen Stufen suggeriert allerdings wede r eine zeitliche oder Iineare Abfolge noch eine Zwangslaufigkeit. Grafik 3 soil veranschaulichen, welche Risikofaktoren fur welche Formen der Gewa lt eine Rolle spielen. Eine so lc he Unterscheidung ist insbesondere fiir die Entwicklung angemessener Strategie n
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Sabine Kurt enbach
im U mgang mit gewalttatlgen Jugend liche n vo n groaer Bede utung. We nn aile Formen quasi " fi ber einen Kamm gesc hor en" werden - wi e in Zentralamerika in den vergange nen Jahren gesc hehen - ist die Gefahr einer Eska latio n und Verselbstandig ung der Gewah extrem groB.
Graph ik 3: Risikofalaoren und Formen von Jugendgewalt
D
Instrumentalisierung Kapazitit und politiseber Willezu Integra.
lion und Kontrolle
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Kollektive Organisation
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Gruppeoiden. IlUl
D
Funktionalisierung
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Kontext und Umgang
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s. Spezifika von Jugendgewa lt im Nachkrieg -
cffene Fragen
Der Vergleich zw ischen Kambodscha und Guatema la (H ensengerth 2008; Kurt enbach 2008) sowie der hier vorg estellte kursorisch e Oberblick zu we itere n Nachkriegsgesell sch aften zeigt, dass Formen und Au smaB von Jugend gewalt im Nachkrieg vo r allem dadurch beeinflusst wer den, wie Staat und Oesellsc haft mit J ugendlichen und Jugendgew alt umgehen . Dart, wo der Staat im Nachkrieg ein Gewaltmo nopol inne hat, kon nen auch Jugendliche welt sta rker kontrolliert werde n, als dies in ext rem frag ilen und gewaltsamen Kont exten der Fall ist. So spiege lt in Kambod scha der Umgang mit Jugendlichen und Jugendgewalt die autoritare Pazifizierungss trategie des Regimes wider , wa hrend in Guatemala Staat und Gesellsc haft je nse its rep ressiver Ansa tze unfahig si nd, mit dem Problem umzugehen .
Jua:endlic he in Nac hkrieesa:esellschaften
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Diese Prozesse werde n in hohem MaGe durc h die Konse quenzen des Kriegs und die Art der Kriegs beendig ung bee influsst. Insofern beste ht ein indirekter Zusammen hang zwischen dem Au smaG an Jugendgewalt und dem spezifischen Raum de r Nac hkriegsgesellschaft. 1m Nac hkrieg ist Jugendgewalt vor aHem ein stadtisches Phanome n. Auf dem La nd hangen AusmaB und Ursachen in hohem MaG von den Moglic hkeite n de r Aufrechter haltun g und/oder Reko nstruktion traditioneller, vielfach autoritarer Kontroll- und Integrationsformen abo 1m land lichen Kontext manifestiert sich dies eher als dro hende Gefa hr des Ruckfal ls in den Krieg, wa hrend Jugendgewalt in de n Stadte n als kriminell wa hrgenommen wi rd. Die Rollen von Jugendlichen in Gewa ltko nflikten , die untersch ied lichen Wege in die direkte Betei ligung sowie die Auswirkungen auf Jugendlich e als Gr uppe (ode r Alterskohorte) sow ie die mogl ichen Exit-Op tionen sind nach w ie vor wenig erforscht. Es fehlen An alysen, wie sich untersch iedliche gewaltsame Lebenskon texte (z.B. das Lebe n als Kindersoldat , das Aufwachsen in Fluc htlingslagem) auf d ie zent ralen Statuspassagen von Jugendlich en auswirken. Hier waren insbesondere auch geschlechtsspezifische Unterschiede in den Blick zu nehmen. Le tztlic h muss es darum gehe n, d ie Pfade zwi schen den verschied enen gewalttatigen Lebensweiten zu ana lysieren. Urba ne und landliche Lebenswe lten haugen auf de n untersch iedlichsten Ebenen zusamme n: So konnen Netzwe rke auf der Basis primarer Sozialbeziehungen (w ie Clans, Ethn ien oder gemei nsame Absta mmung ) in de n Slums der Stadte sowo hl eine wichtige Rolle fur die Organisation des taglic he n Ube rlebens darstellen, als auch fl lr unterschied liche Formen der orga nisierten Kri minalitat nutzba r gemacht we rden. Erfa hrungen aus Sierra Leone zeigen, wie sich koHektive Organisationen vo n j ugendlichen Kombattanten in zivile Kontexte transformieren lasse n und wie untersc hiedlich diese Prozesse innerha lb einer Ges ellschaft sei n konn en (Pete rs 2(06). Die hier dargelegten Uberlegungen zur Jugendgewalt zeigen aber auch ein grundsatzliches Problem in der Besch aftigung mit Gewaltphanomenen. Gerade im Ubergang vom Krieg zum Nachkrieg lassen sich die hau flg flie Benden Grenzen zwisc hen Krieg und Nichtkrieg sowie zwischen verschiedenen Gewaltformen nic ht ziehen. Unterschiedliche Definit ione n bilden nicht nur se hr versch iedene "Welte n der Gewalt" ab (Eberwein/Choj nacki 2(01), sie bestimme n auch die Wahl der Strateg ien im Umgang mit der Gewalt vo n gese llscha ftlichen oder staa tlichen, internen oder externen Akte uren. Nur bei als politisch wahrge nom menen Gewaltakten wird von Krieg gesprochen und kommt das gesamte Spektrum der Diplomatie und Me diation zum Einsatz. Werden Gewa lthandlungen und Akte ure dagegen als .krfmlnell" eingest uft, so ist dieses Instrumentarium nur se hr eingeschrankt verfugbar. Die politische Legi timatio n vo n Gewalt ist aber relativ wi llkiirlich und in ext rem hohem MaGe vo m Kontext abha ngig. Auch das , was als kriminell gilt , ist histo risch und kulturell sehr verschieden . Die Strafverfolgung vo n hauslicher Gewalt oder von Gewalt gege n Kinder in den Schulen ist auch in den entwickelten Indus triege-
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Sabine Kurtenbach
sellschaften noch relativ neu. Die Verabschiedun g internationaler Normen fUhrt au6erdem weder zur sofortigen noch zur uberall gleichen Umsetzung der dam it verbundenen Standards. Beim T hema der Jugend gewalt musse n Wissenschaft und Praxis ein hohes MaB an Sensibilitat gegentiber den spezifischen Kontexten zeigen. Jugendgewalt ist eingebettet in die Gesellschaft und entzie ht sich deshalb monokausaler Analyse und punk tueller Bearbeitung. 1m spezifischen Raum der Nachkriegsgese llschaft muss der Fokus auf das Zusam menspiel von kriegsbeeinflussten Prozessen des sozia len Wandels mit den Herausforderungen aktueller Nachkriegsgesellschaften im Transformationsprozess ausgeweitet werden. Da sozialer Wandel kein linearer Prozess ist, geht an einer solehen - zugegebenermaBen sehr komplexen - Analyse kein Weg vorbei. Die Konstruktion der Nachkriegsgesellschaft als spezifischem sozialen Raum im doppelten Spannungsfeld ist hierfur ein brauchbares Analysei nstrument, das allgemei n genug ist, um sehr untersc hiedliche Kontexte zu fassen, gleichzeitig aber auch die Einbeziehung von Spezifika ermoglicht. Der Fokus a uf die Mesoebene, d.h. das Zusammentreffen von externen und internen Prozessen und Dynamiken, verfugt aullerdem iiber das Potentia l, in der Forschung die Lucke zwisc hen Makro- und Mikroebene zu schlieBen. Jenseits der Analyse von Nachkriegsgesellschaften stellt sich die Frage, wele he Prozesse und Entwicklungen auch auf internationaler Ebene zentral fur die sic h vera ndemden Rahmenbedingungen und Kontexte von Jugendgewalt sind. Hierzu gehc ren die von den OECD-Undem dominierten globale n Wirtschafts- und Handelsbezie hungen ebenso wie die Frage, wie sich die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise auf die Perspektiven und den Lebensalltag von Jugendl ichen auswirkt. Antworten mussen hier jenseits traditioneller Strategie n der humanitaren Hilfe ode r Entwic klungszusammenarbeit liegen. Entwicklung und Demokratisierung sind in hohem MaG komplexe und konfliktbelade ne Prozesse, in dere n Kern es nieht nur um die Verbesserung der Lebensehaneen von bis dahin benachteiligten Gruppen geht. Es geht stets aueh urn die Veranderung und Umverte ilung von Macht und Einfluss, Fragen des Zugangs zu Ressoureen und deren Kontrolle. Jugendliche werde n dabei in der Regel nieht als fur die Zukunft entscheidender Akteur und Potential, sondem als Storfaktor wahrgenom men. Solange sich die direkte L.ebenswelt aber nieht verandern lasst, bleibt der Griff zur Gewalt fur Jugendliche oft die einzig verfiigba re Ressource. Die Kriminalisierung von Jugendliehen und ihre Stigmatisierung als Sicherheitsproblem setze n lediglieh an Symptomen konfliktlven sozialen Wandels an. Solange sich hieran nichts Grundlegendes verande rt, wird Jugendgewalt in ihren unterschiedliche n Formen und Facetten weltwe it ein The ma bleiben.
J Ui:endliche in Nach kr ie gs gesellscha flen
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Jugendbanden in ZentralamerikaZur sozialen Konstruktion elner teuflischen Tiitergruppe Sebastian Huhn , A nika Denier und Peter Peetz
1. Ein leitung Uber ein Jahrzehnt nach dem Ende des letzten Biirgerkriegs in Zentralamerika ve rbindet die intemationale Offe ntlichkeit nach wie vor hauptsiichlich Gewalt und Unsicherheit mit der Region . Eines der wichtigsten und promi nentesten Theme n sind in diesem Zusammenhang seit einige n Ja hren krimine lle Jugendba nden , vor aHem die so genannten maras, eine spezielle Form von Jugendgangs in EI Sa lvador, Honduras und Guatema la (Hu hn/Oett lerlPeelz 2008a). Krimi nelle und gewalttatige Jugendliche werden in und au8erhalb der Region als ein Hauptfaktor fur Unsicherheit diskuti ert. Die gesicherte n Erkenntnisse iiber die Gangs, ihre GroBenord nung, ihre Orga nisationsstrukturen ode r das von ihnen tatsachlich ausgehende Gewa ltmaB sind jedoc h gering (Huhn/Oettler 2006 ; Huhn/Oettler/Peetz 2oo8a ; Bellange r/Roc ha 2(09). Yemach lassigt wird auch die Ana lyse der offentlic hen Auseina ndersetzung tiber soziale Ursachen, den angemessenen kollektiven Umga ng und die gesellsc haftlichen Folgen von Jugendgewalt in Zentralamerika. The ma dieses Beitrages, der auf ein Forschu ngsprojekt zu ..Offentlic hkeite n und Gewalt in Zentralamerika" zuruckgeht, ist die Frage, wer Jugendbande n als Hauptpro blem de r Inneren Sicherheit oder der gesellschaftlichen Entwicklung wa hrnimmt bezie hungsweise darste llt. Wir konzentrieren uns dabei auf Costa Rica, El Sa lvador und Nica ragua.' A usgehend vo n der grundsatz lichen Einsicht, dass Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist (Berger/Luckmann 1969), gilt es, Jugendgewalt und -kriminalitat auch als gesellschaftlich konstruierte und nicht ausschlieBlich als objektiv vorliegende und eindeutige GroBen zu untersuchen. Ein Einverstandnis I lber Gewalt und Kriminalitat sowie tiber ihre gese llschaft liche Bewertung und angebra chte GegenmaBnahmen wird haufig zu Unrecht vorausgesetzt. So bleib t unhinterfragt, wer was in welcher Weise und warum als Bedro hung wahmimmt. Der Diskurs tiber Gewa lt und Krimi nalitat ist jedoch haufig entscheide nder dafiir, wie eine Gesellschaft Gewalt und Krimi nalita t emp findet und auf sie reagiert, als ein Gewa ltakt selbst. So , Diese Landerauswahl haben wit flir das Forschungsptoj ekt und flir diese n Beitrag getto ffen, urn eine Irberschaubare Artu hl an Hillen zu umersuchen. die ltotz etnes gewisse n Grades an Hornogenitiit als zentralamerikamsc be Staaten bestimmte Unterschiede aufweisen: Die Auswahl deckt Under mit vergleichsweise niedrigern und vetgleichswei!\C hohem Entwickl ungs.~tand (Nicaragua und El Salvador vs. Costa Rica). mit und onne bewa ffneten Konfli kt in der j iingsten Geschichte (Nicaragua und EI Salvado r vs. Costa Rica) und mit vergleich sweise ho hem bzw. steigende m und vergtetchswerse rtiedrigem Gewa lla ufkommen (El Salvador und Costa Rica vs. Nicaragua) abo
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Sebastian Huhn IAn ika Dettler I Peter Peetz
wurde gewa lttatiges Verhalten vo n Jugendlichen je nach Epoch e nicht nur in Zentralamerika unterschiedlich wahrgenommen. Auch die deut sche Offentlic hkeit hatte vieles von dem , was sie heute als Jugendgewalt diskutiert, in den 1950er Jahren eher als (argerliches oder zu beliichelndes) Verhalten Halbstarker interpret iert oder wahrend der Stud entenproteste in den 1970e r Jahren als (legitimer oder iIlegitimer) Protest einer Generation gegen ihre Eltem und Gro6 eltem wahrg enommen. In Zentralame rika wurde Gewalttatigkeit junger Menschen wahr end der Revolution en und Bi lrgerkriege der 1970er und 1980er Jahre anders wahrgenommen als heute. Dami t behaupten WiT rticht , dass die Phiinomen e dieselb en seien; eine Anal yse der gesellschaftlichen Konrro versen ist j edoch ebenso wichtig, wie die Untersuchung vo n Gewalt selbst. Das Empfinden von (Un -)Sicherheit, die Konstruktion von Tatergruppen und die kollektiv en Reaktion en (beispiel sweise verscharfte Strafe . verstarkte Pravention oder Privati sierung vo n Sicherheit aber auch solidarische Praktiken) sind gleichzeitig Foige eines offentlichen Disku rses und ein Beitrag zu selbigem (FaircloughlWodak 1997: 258). Sie sind jedoch kein zwangslauflges Ergebnis der Gewalt ode r der Kriminalitat. Ein alJeiniger Bezug auf Kriminalitatsstatistiken weist dabei vo r allem drei Probleme auf. Brstens ist Sicherheitsempfinden stark von offentlichen und popularen MaBnahmen abhangig, wie der Verstarkung von Kontrollen, der Einfiihrung neuer Gesetz e oder der offentlichen Beteuerung, die Staatsorgane seien in der Lage, die Sicherheitssitu ation zu verbess ern (z.B. Garland 2003: 122). Umgekehrt kann zwe itens die Angst vor einem bestimmten Verbrechen innerhalb der Bevclkerung besonders hoch sein , obwohl das Verbrechen statistisch betra chtet relat iv selten gesc hieht. "Sensationalist treatment of vio lence and delinquent events can gen erat e a climate of fear and a strong feeling of vulnerability in the population , which is not alw ays real, or corresponding to the observed level of violence" (Arriagada/ Godoy 1999: to). Vor dem Hintergrun d der relati v niedrigen Homi zidraten in Cos ta Rica scheint die Angst in der Bev61kerun g zum Beispiel unverhaltnismabig hoch (COrdoba 200 6: 12-13). Diese Angst speist sich nicht aus den Mord raten , so ndern aus den herrschenden offentlichen Diskursen, die zum Beispiel du rch Zeitunge n und das Fernse hen mitgestaltet werde n und in denen Berichte tiber Mord und Tod schlag einen sehr groBen Raum einn ehm en (COrdoba 2006 : 13). Drittens sind auch die Statistiken selbst in einem nicht geringen MaGe vo n offentlichen Diskursen beeinflusst. "Criminal statistics [...J are constructions that generate particular views of so me segments of social realit y. They co nstruct imag es of patt erns of crime and criminal behaviour. [ ... ] But if the information they give on crime is restricted , they may nevertheless reveal oth er facts abo ut the soci ety that produces them " (Caldeira 2000 : 106). So ist es in vielen Fallen nicht eindeutig, ob die Haufigkeit sex ueller Gew altdelikt e stark zugenommen hat ode r ob Gesellschaften heute wesentli ch sen sibler mit Verbrechen umgehen als noch vo r wen igen Jahrzehnten . Die w ichtige Frage ist also weniger, wie viel Gewalt sich in einem Land ode r einer Region .messen'' lasst, sondern vielmehr, welch e Gewa hdiskurse in wel chen Offentlich -
JU2endbanden in Zentralamcrika
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keiten zirkulieren und welche sozialen und politischen Praktiken damit korrespondieren. St atistiken und Zahlen mussen - wie Caldeira zurecht bemerkt - als Abbild von Gewaltdisku rsen und den von ihnen geschaffenen und ihnen folgenden sozia len EntwickJungen interpretiert werden und nich t als obj ektive und sozial aus sage starke Gro ben. Die Kritik an einem zu sehr auf Statistiken basierenden Blick auf Gewa lt in Zentralamerika bedeutet gleiehzeitig freili ch nieht , das s das Phanomen an sieh und seine Wahrnehmung als Problem ausschlieBlich imaginar seien. Gew alt in Ze ntralamerika ist durchaus real und in vielerlei Hinsicht ein ernstzunehmendes Problem. Daher wollen wir an dieser Stelle einige gru ndsatzliche Erkenntnisse, aber auch Schwierigkeiten der auf Statistiken basierenden For schung zur Gewaltentw ickJung in Zentralamerika darstelJen. Die aktuellste Stati stik des United Nation s Office o n Drugs and Crime (UNODC) tiber weltweite Homizidraten bietet einen guten Au sgangspunkt, urn gleichzeitig eine ungefahre Vorstellung fiber die unte rschiedliche Gewaltinten sitat in Zenlralamerika zu bekommen und die grundsatzlichen Probleme der statistischen Erfass ung von Gewalt und Kriminalitat aufzuzei gen (Tabelle 1). Tabelte 1: Homizidraten in Zentralamerika 2004 (p ro 100.000 Einwo hner)
Belize Costa Rica EI Salvador Guatemala Hondura s Nicaragua Panama
Niedri e Scha tzun 21,9 6,2 56,4 26,3 13,8 12,0 11,5
Hohe Schatzun 30,1
7,3 57,5 36,4 32,2 17,4 13,4
Oueue : United Nations Office on Drugs and Crime (ohne Jahr): lntemanonat Homicide Statistics'
Die Tabelle ist ein geeigneter Spiegel fur das se hr unterschiedliche, insge samt aber gleichzeitig sehr hohe GewaltmaB in Zentralamerika. In derselben Statistik werden die Homi zidraten fur Deutschland mit 0,7-1 ,0 angegeben und fiir die USA mit 5,65 ,9. Bei hoh en Sch atzungen lst Russland mit 29,7 Homiziden pro 100.000 Einwohner das gewaltreich ste europaische Land und auf den amerikanisch en Kontinenten liegt nur Kolumbien mit einer Rate vo n 61 ,1 fiber EI Salvador. Der Vergleich macht deutli ch, dass Zentralamerika - ge messen an den Homizidraten - durchaus als eine sehr gewaltsame Region gelten kann . Mit Au snahme vo n Costa Rica, EI Sal vador und Panama verdeutlichen die Zahlen aber gleichzeitig auch, wie unsicher selbst die statistische Erfassung eines so unmittelbaren , schwe r 2 hltp://www.unodc.org/documentsidata.and-analysislIHS-rates.Q50 t2009.pdf. Die [eweiligen Oueue n. auf die s ich die Schatzungen des UNQOC stutzen, Iinden sic h in der zitierten Quel1e.
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zu verheimlichenden und leicht zu klassiflzierenden Aktes von Gewalt wie der mutwilligen Tot ung cines Menschen sein kann . Die Teale Zahl der mutwilligen Totungen in Honduras konnte laut Tabe lle also 2004 bei etwa 1060 gelege n haben, vielleicht gab es in diesem Jahr aber auch fi ber 2400 Homizide. So odcr SQ , die Zahl ist unver lasslich, aber auf jeden Fall hoch. Homizidrate n gelten allgemein als die verlasslichsten und international vergleic hbarsten Indikatoren filr Gewalt und Verb rechen. 1m Gegensatz zu viele n anderen Formen von Gewalt und Krim inalitat besteht fi ber die Definition von Totungsdelikten international das grogte Einverstiindnis3 und die Dunkelziffer - also den nicht bei der Polizei gemeldeten Tate n - ist hier vermutlich am Geringsten. Bei anderen Gewaltforme n kommen weitere Faktoren hinzu. Zum einen sind hie r die zum Teil sehr schlechten technischen Mcglichkeiten zur Erfassu ng von Yerb rechen in vielen Landem zu nennen, und zum anderen werden bei einer hoheren personellen AusstaUung an einem bestimmten Ort nachweislich mehr kriminelle Taten statistisc h erfasst. Vnd letztlich spielt die Sensibilitiit gegenuber bestimmten Phanomenen ebenso eine groBe Rolle sowie die Verlasslichkeit des Rechtssystems . Viele Straftaten werden von den Betroffenen selbst, aber auch von Polizei und J ustiz als Bagatelle eingestuft, wobei sie h die Art der so bewertete n Taten und die Toleranz schwelle standig verandem. Viele kleinere Diebstahle werden zum Beispiel nieht zur Anzeige gebracht, ebenso minder schwere Korperverletzungen. In El Sa lvador werden Straftat en von Jugendlichen umgekehrt seit der EinfUhrung der mana dura auBerst hart bestraft und es gilt als erwiesen, dass Polizei und Geric hte eine groge Zahl von Verbrechen auf das Wirken von J ugendbanden zuriickfUhren, ohne dies jedoch bewiesen zu haben. Obwohl Polizei und Justiz in Zentralamerika vie lerorts mit sehr viel Misstrauen angesehen werden , verlassen sieh viele gleichzeitig a uf deren Statistiken. Die Benennung eines marginalisierten Jugendlichen als Ta ter leuchtet der Mehrheit der Bevolkerung sofort ein. Diese nicht-technischen Faktoren hangen stark vom Vnsieherheitsempfinden und der sozialen Bewertu ng - also vo n den gese llschaftlichen Diskursen uber Gewalt und Krimina litat - ab, sind abe r auch vor diesem Hintergrund nicht klar vorherzusehen. Priigeleien unter Jugendlichen korm ten in Zentralamerika im Zuge der stark gestiegenen gesellschaftlic hen Ausei nandersetzung tiber Jugendgewalt heute eher als Gewalt wahrgenommen und entsprechend angezeigt werden, es ist umgekehrt abe r auch denkbar, dass sie vor dem Hintergrund der vielen wesentlich brutaleren Gewalttaten als zunehme nd geringfug ig angesehen werden. w ahrend Kriminalitatsstatistiken durchaus als eine legitime Grundlage filr Untersuc hungen uber Gewalt und Kriminalitat in Zentralamerika gelten kor men, begegnen ihnen viele Autoren jedoch mit viel zu wenig Kritik. A1s Beispiele kon nen vielbeachtete und durchaus bemerkenswerte Arbeiten von Call (2000) Cruz (2002, l Wobci es sie h a ue h hier niehl urn einen Konsens handelt, so edern YOTallern aueh urn ein en Spiegel se hr erne rschledl icher Rechtsvors tellun gen und -Systeme. So flieBen beis pielsweise Selbstmorde ode r beslimmlC Ver keh rsunfalle in etntgen Landern in die Homizid statis tik ei n unci in anderen nich t.
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2006), Wielandt (2005) oder Raudal es (2006) genannt werde n. Sowo hl Cru z ais auch Wiel andt stiitzen ihre Argumentation zum Beispiel auf sehr zwe ifelhafte Statistiken tiber die Zahl der Jugendbanden in Zentralamerika und die Zahl ihre r Mitgliede r. Wieland beziffert die Zahl der Bandenmitglieder in EI Salvador fur das Ja hr 1995 auf 10.500, in Nicaragua auf 4.500 und in Costa Rica auf 2.600 (Wielandt 2005: 26), wa hrend Call die Zahl der Jugendba ndenmitglieder fur El Salvador fiir das Jahr 1999 mit 264.600 und fur Zentralamerika insgesamt mit 292 .621 Ban denmitgliedern angibt (Call 2000 : 65). Beide stiitzen sich freilich auf unterschiedlich .verussuche- Ouellen. Hinter dieser in der Bevolkerung als bedrohlich empfundene n, von den Staa tsorganen bekampften und von den Medie n dramatisierten Juge ndgewalt stehe n in Zentralamerika bestimmte Diskurse iiber Gewalt und Krimlnalitat. Natiirlich gibt es Gewalt und Krimi nalitat Jugendlicher in den zentra lameri kanischen Landem wirklich , und die Mara s und andere Jugendbanden sollen hier nicht verharmlost werden. Die The se ist vielmehr, dass die gesamtgesellschaftliche Bedrohlichkeir, die de r Jugendgewalt und -kriminalitat beigemessen wird , ei ne gesellschaftlich konstruierte ist und dass die gesellschaftlichen Reaktionen - sei es die Verscharfung vo n Strafe n und Strafverfolgung, sei es die soziale Desintegration in den Stadten und die damit einhergehende Yersta rkung von Absc hottungs- und Sc hutztechnologie n - ei ne Folge von Diskursen sind. Gleiches gilt fur die sozial konstruierten Ta tergruppen. Zu unterscheiden ist hierbei zwischen dem Individuum und de r Gesellschaft. Das Opfer eines Gewaltakts reagiert in der Tat auf dieses Ereignis. Gesellschaftliche Prozesse sind hingege n als Teil ei ner kollektiven Deutung zu verstehen, deren disku rsives Zentrum die Gewalt ist. Ein Diskurs spielt sich in zahlreichen Arene n ab, in denen unterschiedJiche Akteure fiber die gesellschaftJiche Bedeutung verschied ener Einzelp hano mene ringen. Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung, einzelne machtige Akteure, zum Beispiel aus dem Feld der Politik odcr der Massenmedien , wiirden Meinungen .mac hen" , die dann ei ns zu eins in der Gesellschaft iibemommen wurden, ge hen wir in Anlehnung an Jage r davo n aus, dass ein Diskurs we niger steuerbar ist: .Der Diskurs wird zwar von der Gesamtheit aller Individuen gemacht, [... J. Aber keines der Individuen dete rminiert den Diskurs.[...] Was dabei hera uskommt, ist etwas, das so keiner gewollt hat, an dem aber aile in verschi edensten Form en und Lebensbereic hen (mil unterschiedlichem Gewicht) mitgestrickt haben" (Jag er 2004 : 148). Diese Eigendynamik der Diskurse ist jedoch nicht mit BeJiebigkeit gleic hzusetzen. Die vertreter der kritisc hen Disku rsanalyse weisen zu recht darauf hin, dass die Produktion und die .Produktionsbedingungen'' eines Textes - also eines Beitrags zu einem Diskurs - ebenso beriicksichtigt werden miissen , wie der Beitrag selbst. Diskurse konnen nicht frei von Mac ht, Geschichte und Ideologie betrac htet werden. Diese Fakto ren entscheiden dariiber, wie natiirlich bzw. naturgegeben ein soz iales Konstrukt - in unserem Fall die Gewalt und Kriminalitat - in einer Gesellschaft
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scheinen und wo und inw iewei t umgekehrt Moglichkeiten bestehen, mit den Konventionen zu brech en (Wodak 2001: 3). Urn de n Dis kurs tiber Jugendgew alt und Jugendband en nachzeichn en und a nalysieren zu konn en, muss er analytisch in sei ne Einze lteile ze rlegt we rde n. Die erste Frage ist, wo nach Aussagen beziehungsweise Disku rsfr agmenten zu suchen ist un d we r in den jeweilige n Arenen auftritt (vgl . Huh nlOettle rlPeetz 2006a). 1m Fall des Gewaltdiskurses ist die Pol itik im weiteren Sinne eine w ichtige Arena, da hier urn d ie Anerkennung der Inhalte, ihre Bewe rtung und die Legitimitat der Praktiken gerun gen wird und diese (au f de r Grundlage des staatJiche n Ge waltmonopols) in e ine gesellschaftlich anzuerkennende Praxis ubertragen werden. Eng verwobe n mit dem
Feld der Politik ist das Feld der Justiz. 1m Gewaltdiskurs ist die juristische Defini tion des Legalen und IIIegalen (die Gesetze) ebenso wichtig wie die juristischen Praktiken und die Form der Anwendung von Gesetzen. Eine weitere wichtige Arena fl lr die gesellschaftliche Wirklichkeitskonstruktion sind die Massenmedien. Sie reprasentieren oder multiplizieren nicht nur Meinungen, sondem prod uzieren und transformieren sie auch (Bourdieu 1998: 28). Sie sind also zugleich die Plattfo rm fur die Presentation von Meinungen wie auch profitorientierte und haufig po litisch eingebundene beziehungsweise engagierte Institutionen. Da ein gesellschaftlicher Diskurs (im oben beschriebenen Verstandnis) nur dann wirkungsmachtig ist, wenn er gesellschaftlich anerkannt wird, muss letztlich untersucht werden, welche Elemente der offentlichen Aussagen von Personen in weniger machti gen sozialen Positionen aufgenommen und reproduziert und damit als "gfiltiges Wissen" (Jage r 2004: 149) angenommen werden. Auf der Basis dieser theoretischen Uberleg unge n werden in den folgenden Abschnitten politische und mediale Diskurse mit den A1ltagsdiskursen fiber Jugend gewa lt und Kriminalitat gespiegelt. Damit soil dem sterotypen Bild der von orga nisierter Jugendbandenkriminalitat heimgesuchten Region ein differenziertes Panaroma entgegengesetzt werden. 1m abschlie13enden Teil werden wir skizzieren, welche Konturen das Bedrohungsszenario inzwischen in den Bereichen der Justiz und der Wissenschaft angenommen hat.
2, Machtvolle Diskurse iiber zentralamerikanische Jugendbanden Die maras werden in nationalen und internationalen Medien und im Bereich der Sicherheitspolitik (in Zentralamerika und den USA) als zwei militarisch organisierte und international agierende "supergangs" (Arana 2005) beschri eben, denen Ta usende von Jugendlichen angehoren und die wichtige Akteure im internationalen organisierten Verbrechen darstellen. Dieses Szenario wird oft auf der Grundlage von Aussagen I lber die Banden begrilndet, die bei naherer Betrachtung we nig glaubwurdig, logisch kaum nachvoUziehbar und empirisch unbewiese n sind (vgl. Huhn/Oett ler 2006). Dieses Bedrohungsszenario hat sich als deutungs- und wi r-
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kungsmachtig durchgesetzt, und es besteht weitgehendes Einverstandnis tiber das Phanomen: "Today, gangs are more violent, more organized, and more widespread than ever before. The y pose one of the greatest threats to the safety and security of all Americas" (Swecker 2005) . Wir skizzieren im Folgenden den hegemoni alen Diskurs tiber Jugendbanden anhand der politischen Auseinandersetzungen und der Presseberichterstattung in Zentralamerika . 2.1 Der politische Diskurs Politische Diskurse werden sowohl in formal-in stitutionalisierten Disku rsarenen (u.a. Parlamente , Parteien) als auch in nicht-staatlichen Foren (u.a. Menschenrechtsgruppen, Untemehmensverbande, Kirchen) produziert. Fur die Entstehung und Verbreitung von Gewaltdiskursen in Zentralamerika, und insbesondere des Diskurses tiber die maras, ist die Einbindung in einen transnationalen Prozess der Verfestigung von politischen Diskursen charakteristisch, an dem nationale und internationale staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure beteiligt sind. Als Quellen fllr diesen Te il der Analyse dienten politische Reden, Parteiprogramme und ahnliche Dokumente. In EI Salvador stellen politische Fuhrungspersonlichkeiten und Organisationen aus den verschiedenen politischen Lagern die J ugendbanden als eines der greaten Probleme des Landes dar. Bezuglich der Art und Weise, dieses Problem anzugehen, besteht allerdings kein Konsens unter den politischen Akteuren. Hierzu herrscht vielmehr die fi lr das Land typische Polarisierung zwisc hen der Rechten, die hauptsachlich (aber nicht ausschlieBlich) fur ein repressives Vorgehen pladiert, und der Iinken Opposition, die sich dagegen ausspricht. So sagte Prasident Antonio Saca 2006 im Rahmen einer Ansprache anlasslich des zweiten Jahrestages seines Amtsantritts: ,,Aber es ist das Thema der Burgersicherheit [seguridad ciudadana], das fur uns die groBte Herausforderun g bedeutet. Das organisierte Verbrechen und die Kriminalitat der J ungendbanden schlagen permanent auf die ehrlichen Burger ein, welche die ganz groBe Mehrhei t sind. Und das gefahrdet in jeder Hinsicht die Stabil itat des La ndes ."? Aber die QueUen haben auch gezeigt, dass die Regierung Saca ihren repressiven Diskurs gegen die moras mit Elementen der Prevention und Rehabilitation zu verknupfen sucht. Dies kam schon in Sacas Antrittsrede am 1. J uni 2004 zum Ausdruck: "Wir werden eine Politik der ,Superharten Hand ' anwende n, um die Kriminellen vor das Gesetz zu bringen . Aber gleichzeitig werden wir eine Politik der .Ausgestreckren Hand' einfuhren. Damit werden wir diejenigen , die ein Risiko
• www.casapres.gob.sv/presidenl eid iscurs0s/.2(X)6A)6/disc010l .hlml. 23n (1fXJ7.
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zum Kriminellwerden aufweisen, davor bewa hren und diej enif en retten und rehabilitieren, die sic h wieder in die Gesellse haft einfuge n wo llen." Aueh das vor der Wahl von 2004 verOffentliehte Regierun gspro gr amm von Sa eas Partei AR ENA fordert die se Kombination aus repressiven und nieht repressiven MaBnahm en: "Wir werden uns spez iell auf die Jugendband en konzentrieren , sowohl in Bezug auf Prevention und Sa nktion, als aueh bez iilieh der Wiedereingli ederun g ihrer Mitglieder in die Gese llsc haft .?" Die groBte Oppositionspartei , FM LN, veroffentlichte vor de n Wahl en vo n 2004 ein w ahlprogramm, in dem als siebt es von 15 "G ro Ben Zie len f ur El Salvado r" genannt ist: .Ein sie hereres EI Sal vador; Fort sehri tt auf dem Gebiet der Burgersicherheit; Verm inderung der sozialen Gewalt; Ube rwind ung des mara-Phanomens und effekt ive Be kampfung von Kriminalitat und Straflosigkeit, ei nschlieBlich der KOTruption der Machtigen ; Fortsehritt im Bereich der Reehtssieherheit und der strikten Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. v" A1lerd ings we rden in viele n neueren Ve rlaut barungen linksgeric hteter pol itisc her Akteure wie der FM LN die Jugendband en gar nicht mehr erwahnt . Ein FMLN-Pa rteiprogramm vo n 2005 (P lataforma de la esperanza , 2006-2009, solueiones de ve rdad'') enthalt ein Kapitel zum Th ema Gewalt und Krimi nalitat . Die FMLN beschuldigt darin die AR ENA-Regierung, fiir die "Welle von Morden verantwortlieh zu se in, die unter den Prasidenten Flores und Saca [beide ARENA] angewachsen ist - sich sogar verdre ifaeht hat." Aber an keiner Stelle des Doku ments sprich t die Partei ausdriicklieh das J ugendbandenproblem an. Es ist zu ver muten, dass linke po litise he Akteure wie die FMLN bewu sst vers uchen, nichl zu eine r Sleherheitsparanoia beizutragen, von de r an der Wahlurne bislang nur die Reeh te p rofiti ert hat. Wi e diese Beispi ele zeigen, ist die Debatte uber Gewalt in EI Salvado r in vielen, aber nicht allen po litisc hen Offentlichkeite n des Landes stark auf die Ju gendbanden konzentriert. Die Frage ,,How the St reet Ga ngs Took Central Amer ica" (Arana 2005) ist derart ins Zentrum der Ausei nande rsetzung gera ten, dass die Vielgestaltigkeit der Gewalt in El Salvador kaum mehr beriieksich tigt wird (Huhn/Oettler/Peetz 2oo6a). Dabei wu rde den Maras ihre heutige dls kursive Bedeu tung in einem komplexen und widerspnlchl ichen Prozess zuteil. Die Besorgnis tiber Krimi nalitat und den " Frieden niedriger Intensitat" (Ribera 1997: 128) wuehs innerhalb we nige r Jahre naeh dem Ende des Bu rgerkriegs. Mitte der 1990er Jahre verfie len zunachst Politi ker der politischen Rechten auf das Th ema und forderten eine bartere Strafverfolgung, vie le sogar die Einfiihrung de r Todesstrafe. Die offentlie he A use inandersetzung kreiste damals urn die Roll e der Medien und urn psy, www.casapres.gob.$v/p residenteidiscursos/2OCl4.{l6/disc0101.1llm, 19107flOO7. • www. lapren sagrafi ca.comiespecialesl2OO4felecc iones/documenl os1pais_scguro.pdf. 2J\J8I2007 , www ,lapren sagrafica ,cont/especi ales/2004/eleccionesipartidosl2OO3 112Ofmln.pdf, 23n f200 7. • www.fmlncalifornia.or gigrupoparlamenla rio.hlm, 23n(2JXJ7.
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chosoziale Erklarungen fiir die ansteigenden Mordraten (Armando Gonzalez 1996; Cruz 1997). Die maras kamen im politischen (und wissenschaftlichen) Diskurs kaum vor. Erst mit der Zeit bezogen sich, im Kontext anhaltender politischer Polarisierung, offentliche Aussagen iiber Kriminalitiit immer otter auf Juge ndgewalt . 1m Juli 2003 verkundete schlie6lich der damalige Prasldent Francisco Flores seinen Anti-Gang-Plan, betitelt als "Mano Dura" (Harte Hand), der eine Hille von Razzien, Kontrollen, Polizei- und Militiireinsiitze, Verhaftungswellen und ahnliche Ma6nahmen vorsah (Peetz 2004: 78ff.). Einen Monat sparer hatte die Polizei laut Presseberichte n rund 2.500 Jugendliche verhaftet, hauptsachlich auf Grund von Tatowierungen und Kleidung, und etwa 1.500 davon mangels Beweisen schon wieder auf freien Fu6 gesetzt. 1m Oktober 2003 verabschiedete das Parlament schlie6lich das sogenannte .Anti-mara-Gesetz" (Ley Anti Mara), das die Zugehorigkeit zu einer Jugendbande mit Freiheitsstrafe belegte. In ganz Zentralamerika spielen transnationale Netzwerke, bestehend aus internationalen Geberinstitutione n (bzw. den Durchfiihrungsorganisationen der Entwickl ungszusammenarbeit) und heimischen sowie intemationale n NROs, eine gewichtige Rolle bei der Setzung politischer Prioritiiten im Land. Das schlie6t auc h die Bewertung der Gewalt ein. Oas 1998 ins Leben gerufene UNDP-Programm Sociedad sin Violencia (Gesellschaft ohne Gewalt) stellte eine bedeutende Arena dar, von der aus der heutige Diskurs tiber Gewalt seinen Ausgangspun kt nahm. 1m Rahmen des Programms wurde u.a. eine Reihe von Konferenzen veranstaltet, d ie sich mit Themen wie Priiventionsstrategien, geschlechtsbasierte Gewalt (gender· based violen ce) oder Gewaltdarstellung in den Medien beschaftigten (PNUD 2004; PNUD 2(06). Mit dem Fortschreiten der cffe nrlichen Debatte gerieten solche Fragen allerdings immer mehr in den Hintergrund. Ein Beispiel hierfiir ist der Abschlussbericht der 2006 gegrundeten Nationalen Kommission fur Biirgersicherheit und Sozialen Frieden tCo mision Nacional de Seguridad Ciudadana y Paz Socia!) , die aus Vertretem von ARENA und FMLN, Universitaten , Kirchen und der Unternehmensvereinigung ANEP (Aso ciacio n Nacional de la Empresa Pr ivada) zusammengesetzt war. Der Bericht hat unter anderem den Anspruch, die "objektive Dimension" (,,dimension objetiva", Comisi6n Nacional 2007; 24) der Gewalt in El Salvador zu beschreiben. In einem kurzen Abschnitt zu "anderen relevanten Delikten" t.Otros delitos relevantes", ebd.: 27-28) geht das Dokument auf Vergehen ein, die von Diebstahl, Raub und Korperverletzung bis hin zu Verkehrsunfallen reiche n. Mittendrin findet sich auch ein fiinfzeiliger Abschnitt zu Gewalt gegen Frauen und Kinder. Oas Beispiel zeigt, wie die vorherrschende Definition von Gewalt als ted licher Jugendgewalt andere Gewaltforme n an den Rand der Debatte gedriickt hat. Diese anderen Formen der Gewalt werden nicht vollig verschwiegen, aber sie werden in diskursive Nischen abgedrangt. 1m Gegensatz zu Nicaragua, auf das wir noch ausfiihrlicher eingehen werde n, stellt die organisierte Zivilgesellschaft in EI Salvador eher ein Gegengewic ht zu den Bemiihungen im agenda-setting der ARENA·Regier ung dar. Wahrend
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AR ENA das Schl agwort mara als Metasymbol fur alle s Ubel benutzt und so gar ei-
ne Verb indung zwischen den Jugendbanden, dem internationalen islamistischen Te rrorismus und der FMLN po stuliert, weicht die FM LN dem Th ema weit gehend aus. Die Linke insgesamt vers ucht - mit maBigem Erfolg - die politische Auseinanderset zun g auf die politischen und w irtschaftlichen Macht verhaltnisse und auf soziookonomisc he Fragen zu lenken . DUTch die hochgradige PoJarisierung der po litischen Landschaft war der diskursive Einfluss zivilgesellsc haftlicher Organi sationen lange Ze it star k eingeschrankt. Seit dem Beginn der Anti-ma ra -Politik der Regierung haben Menschenrechtsorgani sat ion en, Kirchen und Unive rsitat en die staa tliche Poli tik gege n die Jugendbanden als mensch enrecht sverl etzend veru rteilt und die Regierun g wegen des Autbausch ens des Jugendgewaltproblems krit isiert. Unters tutzt von intemationalen Regierungs- und Nieh tregierungsorganisationen hat die o rganisierte Zivilgesellschaft vie! starker als die (partei-)po litisc he Opposition ei nen Gege ndiskurs zu den Aussagen der Staatsflihrung gefuhrt. Ge nere ll wird Kritik an der repressiven Anti -Gan g-Poli tik und der sie stutze nden Rhetorik gea ubert, und selbst hoh e Regierungsvertreter plasie ren offentlich (auch) fur nicht-repressive MaBnahm en. Aber so lche AuBerungen werden tendenziell von den Massenmedien nicht an prominenter Stell e wie dergegeben. In den letzten Jah ren habe n die Bezeichnungen fiir Jugendbanden (maras, pandillas, chapulines) in allen drei untersuchren Landern Eingang in das Vokabular der po litisc hen Debatte gefunde n. 1m Zuge stei gender Au fmerks am keit filr Frage n offentlicher Sieherheit wurden J ugendgangs zunehmend als typisc he Tatergruppe identifiziert. Dies geschah in den drei Land em abe r mit jeweils sehr unte rschi edli chen politisch en Absichten und vor dem Hin tergrund stark divergierender soziookon omi sch er und machtpolitischer Verh altnisse. Rocha (2005) hat nachgezeichn et, welche Faktoren in Nica ragua daran beteiligt waren, dass die dortigen Jugendbanden als Zielgruppen fllr polizeiliche MaBnahmen .entdec kr' wurd en. Entsc heide nd wa r dabei die T ransfor mation der Sandinistischen Polizei in die National e Po lizei (Policia Naciona f). Die Existenz zwe ier Elitenetzwe rke in der Nalio nalen Poli zei des Sandinistischen Netzwerks einerseits und des Netzwerks der traditionetlen Elite anderersei ts - hat Zl1 "different discourses and actions towards yo uth vio lence" (Roch a 2005: 12) gefuhrt. Der Einfl uss intemationaler Geberinstitutio nen wie der Interamerik anischen Entwicklungsbank hat dabei zu einer Fokussierung der poli ze ilichen Sicherheitsst rategie auf Preventi ons- und Rehabili tierun gsm aBnahmen im Bereich Jugend gewalt beigetragen. Insgesamt sc heinen sie h die nicaraguan ischen Entsc heidungs trage r die Bemuhunge n urn Reintegration j ungendlicher Straft ater und di e Praventi onsarbeit bei ,,Juge ndlichen mit Risiko/Ri sik ojugendlichen" (jovenes en riesgo) auf die Fahn en zu sc hre iben, urn den demokrati schen Charakter der post-sandinistischen (Sicherheits-)Po litik hervorzuheben . Die Argumente dieser Bntscheidungst rager stammen urspriin glich aus ande ren Disku ssionszusamm enh angen . Nach der Wahlniederla ge der Sandinisten 1990 sprossen im ganze n Land NR Os aus dem Boden, die sie h fur Kind err echte und
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Kinderschutz einsetzten. Organisationen wie das Institut zur Forderung der Men sehlichkeit (lnstituto de Promocion Humana-Esteli, INPRHU-Esteli), das Zentrum fur Gewaltpravention (Centro de Prevencion de la Violencia, CEPREV) oder die Stiftung zum Sc hutz der Recht e von straffalligen Kindem und Jug endlieh en (Fun dacion de Proteccion de los Derechos de Nifios, Ninas y Adolescentes Infra ctores de la Ley , FUNPRODE) arbeiten seitdem mit den "Risikoj ugendliehen". Die ver schiedenen NROs verbindet nieht nur ihre Abhangigkeit von auslandischen Geldgebern, sondem auch ihre Verankerung in transnationalen Advoca cy-Netzwerken. Die Interessenkonvergenz intem ationaler Consultants, staatlicher Entscheidungstrager (vor allem in der Polizei) und NRO-Aktivisten ermoglichte letztlich, dass das Thema Jugendgewalt in der Offentlichkeit zu einer gewissen Prominenz gelangte. 1m Unterschied zu El Salvador sind die J ugendbanden in Nicara gua aber nie zum Gegenstand der "groBen", parteipolitischen Auseinandersetzungen gewo rde n; dort wird das Thema nur selten ilberhaupt angesprochen. Die Regierun gsprogramme der unte rschiedl ichen Parteien zur Wahl 2006 konnen dies veranschauliche n. lm 15-seit igen Regierungsprogramm (Programa de Gobierno) der heute regieren den FSLN lautet der einzige Bezug zur Jugendgewalt: "Wir werd en das Thema der Jugendbanden in Nicaragua bearbeiten. Dabei werden wir die Resozialisierung ihrer Mitglieder anstreben. Das ist eine Form, der sozialen Ausgrenzung dieser gesellschaftlichen GruPf en entge genzutreten und gleichzeitig nachhaltig die Biirgersicherheit zu fordern ." Es Ilberrascht nicht, dass die einzige auf J ugendgew alt bezogene Passage im Prog ramm der MRS (einer Absplitterung der FSLN) sehr ahnllch klingt und erst auf der vorletzten Seite des 45-Seiten -Programms zu finden ist: "Wir werden Programme ei nfuhren, in denen mit den in Banden organisierte n Jugendlichen gearbeitet wird und die ihre Integration in die Arbeitswelt und in das Leben der Gemeinschaft fOrd ern."1O Was das rechte Parteienspektrum betrifft , thematisierte die ALN, eine Abspal tung der PLC und neben der FSLN aussichtsreic hste Partei bei Wahlen, in ihrem Programm die Jug endgewalt mit keinem Wort. Die PLC ihrerseits setzte im Poli tikfeld der offentlichen Sicherheit allgemein auf eine Rhetorik der .Harten Hand ' . In der speziellen Frage der Jugendgewalt jedoch unterschi ed sich ihr Standpunkt nicht substantiell von der auf Pravention und Rehabilitation ausgerichteten Strate gie von FSLN ode r MRS: " Wir werden die Biirgersicherheit insbesond ere in Stadtvierteln mit hoher Bevolkerungs konze ntration durch eine Null-Toleranz-Politik gege nuber ocr Kriminalitat starken. AuBerdem werden wir die gesellschaftliche Reintegrat ion der j ugendlichen Risikogruppen fordem. "!' • www -ni.laprensa.com .niJprensa_d ocl I1 58626685.pdf. ) 18f2('fl1. 10 www -ni.laprensa.com.niJprensa_docl I158627008.pdf. 31812OO7. II www-ni.1aprensa .com.niJprensa_doclI 158 107127.pdf, 31812OO7.
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In Costa Rica scheint die Stigmati sierung der Jugend als dem Bevcl kerungste il, der angeblich am meisten zu Krimin alit at und anti -sozialem Verhalten neigt, Symptom der allgemeinen Wahrn ehmung cines morali schen Niedergangs des Landes zu sein . Das Wahlprogramm de r heutigen Regierungspartei PLN zur Wahl von 2006 (PLN 2006 : §151) spricht von einer normativen und identitaren Krise. Deshal b, so das Programm , sollten staatliche Politiken "die Rettung der [jungen] Ge neration gewa hrleisten. [Diese Rettung sollte] durch neue Prinzipien und Normen inspiriert sein und die Bedingungen filr cine erneuerte Kultur des sozia len Zusammen halts schaffen, urn so die beobachteten Tendenzen umzukehren.' Es werde n Strategien zur Kriminalitst spravention gefordert, urn die Jugend z u .jenen-. Kriminalitat und physische, sexuelle oder andere Gewalt unter Erwachsenen werden nicht thematisiert. Es wird ausschlie6lich das Bild eines Taters ..von morgen" gezeiehnet, und .Risi koj ugendliche" sind die einzige Tatergruppe, die uberhaupt benann t wird. Costa Ricas President Oscar Arias pladiert fur ein repressives Vorge hen in Komb ination mit praventiven und rehabilitationsorientierten Ma8n ahmen (Pee tz 2008b). Anders als in Nicaragua herrscht bezuglich der Jugendbanden-Politik aber kein Konsens unter den wichtigsten politischen Akteuren. Die grobte, linksgerichtete Oppos itionspartei PAC haUe vor den Wahlen 2006 zwar ein Regierungsprogramm verof fentlicht, das einige Null-To leranz-MaBnahmen gegen den Drogen handel vorsc hlug, repressive Mittel gege n Jugendgewalt aber kategorisch ableh nte. Fur diesen Bere ich forderte der PAC "die Beschaftigung mit den spezifische n Problemen von Kindem und Jugendlichen mit strafbarem Verhalten und von Ju gendbanden, und zwar mittels Bildungsprogrammen , die die Wurde der Kinder und Jugendlichen respektieren, ihnen Beschaftigungsmoglichkeiten eroffnen und zu ihrer Reintegration in die Gesellschaft beitragen" und ..Pravention und Rehabilitatio n von Jugendlichen in den marginalisierten Gegenden auf dem Land und in der Stadt, und zwa r durch versc hiedene soziale Programme und Bildungsprojekte, die die Eigenschaft der Ju gendlichen als [vollwertige] Person berucksichrigen.?"
2.2 Der Pressediskurs In der zent ralamerikanischen Medienlandschaft, die von einer Vielzahl von religio sen und gewi nnorientierten Radio- und Femse hsendern gepragt ist, nehmen Tageszeit ungen einen besonderen Stellenwert ein. Auflagenstarke Tageszeitungen sind nieht nur als eine von vielen Diskursarenen zu betrachten, sondern auch durch ihre Funktion als Produkti onsinstanz machtiger Aussagen bedeutsam: " Die in den Massenmedien erzeugten Texte sind Beitrage zur gesellschaftlichen Wirklichk eitskon struktion" (Keller 2003: 211). In Zentralamerika ist eine hohe Konzentration des Medienmarkts und eine enge historische Verbundenhei t einiger Tageszeitungen mit
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www.nacion.comJIn_ee/elecciones/2OO6!programa--8obJ"lc.pdf, 6I8f}JXf7.
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den traditionellen autoritaren Eliten zu beobachten (vgl. Huhn/Oettler/Peetz 2006b). Obwohl die Presseberichterstattung sich inzwischen weitgehend den Standards des internationalen Nachrichtengeschafts angepasst hat, wirkt die politische Haltung von Zeitungsverlegern stark in die Produktion von Nachrichten und damit auch in die Frage hinein , woriiber offentlich diskutiert wird und wer in diesen Diskussionen zu Wort kommen darf (Bo urdieu 1992: 88). Obwohl Zeitungen fur den AIltag breiter Bevolkerungsschichten eher zweitrangig sind , besitzen sie eine groGe Bedeutung filr das politische Agenda-setting. 1m Gegensatz zu Presseauswertungen, die sich darauf konzentrieren, wie tiber ein bestimmtes Phanomen, etwa tiber Jugendbanden oder iiber Gewalt gegen Frauen, berichtet wird, konzentrierte sich das Projekt ..Offentlichkeiten und Gewalt" zunachst darauf, herauszufinden, ob tiberhaupt, in welchem AusmaG und tiber weiche Gewaltthemen berichtet wird. Zu diesem Zweck wurden die Tite lseiten sechs zentralamerikanischer Tageszeit ungen (Ja hrgange 2004, 2005, 2006) gesichtet und die gewa ltbezogenen Artikel in einen bestandig wachsenden Datenkorpus eingespeist. 1m Laufe der Zeit kristallisierten sich sieben groflere thematische Cluster heraus: "Gewalt auf der Makro-Bbene", "Grenzen und Gewalt", .Drogen und Kriminalitat", "Gender-basierte Gewalt", ,) ugend und Gewalt", .Soztalsn uktur, Raumlichkeit und Gewalt" und ,) ustizsystem und Gewalt". Es zeigte n sich von Land zu Land unterschiedliche diskursive Grundmuster. Salvadorianische Tageszeitungen etwa berichteten mehr Ilber Jugendbanden als nicaraguanische oder costaricanische. w ahrend Jugendbanden in salvadorianischen Tageszeitungen als Gefahr fur die nationale Sicherheit beschrieben wurden, werden oostaricanische und nicaraguanische Jugendbanden in der jeweiligen nationalen Presse als eine Gefahr portraitiert, die sich noch auf Armutsviertel konzentriert, sich von da aus jedoch auszubreiten draht. 1m salvadorianischen Pressediskurs sind einige wenige Grundmotive dominant, die iiber lange Zeitraume hinweg variiert werden. Beide untersuchten Tageszeitungen, La Prensa Grafica und EI Diario de Hoy, berichten intensiv iiber ,,AIltagsgewalt" und fokussieren ihre Berichterstattung auf Mord und Jugendbanden (vgl. Gonzalez 2003). Aufmacher wie "Maras belagern Soyapango" (EI Diario de Hoy, 25/4/2004) oder ,,297 Totungsdelikte im Mai" (La Prensa Grafica, 1/612006) sind typische Beispiele fi lr Ubersc hrifte n, die das Bedrohungsszenario eingangig besehreiben. Dass die Tageszeitungen nicht auf der Suehe naeh einem mara-Bild sind, das der Realitat gerecht wird, sondern bewusst und starr an dem Bild festhalten, das sie selbst zumindest mitkonstruieren, zeigt dieses Beispiel: Das renommierte salvadorianische lnstituto Universitario de Opinion Publica (IUDOP) erarbeitete eine Untersuchung, die dem hegemonialen mara-Bild in wichtigen Punkten stark widerspricht.'? Die Studie wurde auf einer Tagung zum Thema Jugendgewalt " IUDOP ging der Frage der Internationalen V emetzung uoo der Einbtndung in die organisierte Kriminalitdt nach
und interviewte mehr a ls 350 mar..ros in Guatemala. EI Salvador und Honduras. Die gesa mmelte n Daten legen nahe, dass der Gr06leil der mar..ros keine direk ten Oller i ndirekten x cnraue zu Bandenmitgliedem in anderen
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am 26.10.2006 in San Salvador erstmals der Offentlichkeit vorgestellt. Die sa lvadorianisc hen Medien, deren Vertreter bei der Konferenz anwesend waren, gaben die fur sic eigentlich sehr Ilberraschenden und bemerkenswerten Ergebnisse am nac hsten Tag gar nicht oder stark verfalscht wiede r. Die auflage nstarkste Tageszeitung, La Prensa Grafica, berichtete zwar von der Tag ung, erwa hnte die IUOOp· Untersuchung jedoch mit keinem Wort (La Prensa Graflca, 27/10/2006). Eine Ubersc hrift auf der Titelseite der drittgrolhen Tageszeitung des Landes, EI Mu ndo, lautete " Studie eruhidlt Verbindungen der maras mit dem Ausland" (E I Mundo, 27/1012006). Die IUDOP-Daten legten jedoch das genaue Gege nteil nahe. Wie Downs in seinen AusfUhrungen zum issue-attention cycle vor 30 Jahren dargelegt hat, ist die offen tliche Auseinandersetzung mit Problemen von eine m zyklisc hen Ablauf gepragt. Ein Problem " leaps into promin ence, remains there for a short time, and then - though still largely unresolved - gradually fades from the centre of public atte ntion." (Downs 1998: 100) In EI Salvador scheint dies, bezcgen auf die Medien berichterstatt ung, auf den ersten Blick wenig Bedeutung zu haben. Weder die Medien noch die Offe ntlichkeit scheinen das Interesse an den Ju gendba nden zu verlieren. Dabei ist jedoch zu beriicksichtigen, dass nicht .Morde und Jugendbanden" das Thema bilden, an dem das Interesse nicht erlischt, sond em dass eine ganze Reihe von Ereignissen im Zusammenhang mit Morden und Jugendgewalt das unausgesetzte Interesse nahren. ,,Alarmed discovery" bezie ht sich sowo hl auf dramatlsche Ereignisse (etwa besonders brutale Verbrechen, Gefangnisausbriiche oder -rnassaker} als auch auf "neue" Losungen wie mano dura , super mano dura oder mano amigo. Der salvadorianische Pressediskurs zeichnet sich durc h das Ineinandergreifen ei ner ga nzen Reihe von media attention cycles aus, die ihren Ausgang in der Berichterstattung tiber bzw. in der medialen Konstruktion von dramatischen Ereignissen, offe ntlichen Wahmehmungen ode r politisc hen Ansatzen zur Gewaltbekampfung nehmen. Obwohl beide Tag eszeitungen aus EI Salvador die Schwerpunkte auf ahnliche Themen legen, ist die politische Farbung der Berichte rstatlung unterschiedlich. Wahrend La Prensa Grafi ca dazu tendie rt, das Phanomen der moras in den Zusammenhang mit Ju gendkriminalitat, Brutalisierung und transnationalen (kriminellen) Netzwerken zu stellen, webt El Diario de Hoy ein Netz von Aussagen, das Juge ndbande n, Jugendkriminalitat, extreme Gewaltbereitschaft und trans nationale kriminelle Netzwerke mit der linken Oppos itionspartei Frente Farabundo M arti para la Liberaci6n Naciona l (FMLN) verbindet. Die Presseberichterstattung in Nicaragua und Costa Rica unterscheidel sich deut lich von der salavdoria nischen. In de n beiden nicaraguanischen Tageszeitun-
llindern hal und dass bestehende Kontakte zum Gr08leil privater und perscnlicher Nalur sind. Die Umersuchun g weist dariiber hinaus nac h, dass der Hauplleil aller Bandenmitglieder in zentralamerikanischen Gefangnissen wegen Drogendelik ten und Raububerfallen veruneilt wurde und nicht wegen schwererer Verb rechen wie Mord oder Beleiligung an organisiener Kriminalitiit. Eine instinnion elle Einbindung der maras in internalionale v erbrechensneuwerke liegt gema6 der erhobenen Daten nichl vor (IUDOP 2006).
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gen , La Prensa und El Nuevo Diario, gehort das Phanomen der pandillas j uveniles nicht zu den prominenten Themen der Presseberichterslattung, die insgesamt auch starker vo n soz ialen und okonomischen Th eme n sowie von der Auseinande rsetzung urn die politische Kult ur des Lande s bestimmt ist . Die Debatte urn Jugendbanden hat zwei Bezugspunkte: Neben den mora s in Guatemala, EI Salvador und Honduras handelt es sich urn die pandillas der haupt stadtischen Armutsviertel. Die Berichte iiber nicaraguanische Jugendbanden erscheinen vor allem vor dem Hin 14 tergrund der Berichterstattung iiber .zentralamerikanlsch e" maras bedroh lich . Die costaricanisc he Berichterstattung iiber Jugendbanden ist, wie auch die nicaraguan isch e, nic ht aufgrund der Ouantitat von Titelgesch ichten einpragsam, sondern aufgrund des Te nors und der impl iziten Verbindung mit einer sich regional ausweitenden Bedrohu ng. Auf den Titelseiten der costaricanischen Tageszeitungen sind sowohl Berichte tiber auslandische mara s als auch iiber einheimische pandillas (bzw . chapulines'·~ ) zu finde n. So titelt etwa La Nacicn : "San Joses Armenvierlei belagert von 15 pandillas I Banden haben sa gar Divisio nen, die sich aus krimi nellen Kindern zusammensetzen" (La Nadon, 6/612004). Sta rker noch als im nicaraguanischen Fall neigen costa ricani sche Tageszeitungen dazu, Jug endbanden - in Verbindung mit einem gesa mtgesellschaftlichen moralisch en Verfa ll - als ei n bereits existentes (und nicht nur in Zukunft droh endes) Prob lem zu prasenti eren .
3. Uber die Heterogenitiit von Gewaltdiskurse n im zentrala merika nischen Alltag Sozia le Desintegratio n und Segregation sind Prozesse, die nicht von ein flu ssrei c hen Akteuren gesteuert werden, sondem sich dann vollzie hen konnen , wenn sich Gewalt und Kriminalitat als ,,soziale Ordnungsprinzipien" (vgl. Garland 200 3: 106) in de r Gesamtbevolkerung durchsetzen. Der Alltagsdiskurs ist daher ei n wichtige s (und hauflg zu Unrecht vernachlassigtes} Korrektiv zur Anal yse de r Deutungsmacht elitarer Diskurse (Huhn 200 8). Vor diesern Hintergrund haben wir die Al ltagsdiskurse iiber Gewalt und Krirni nalitat in Cos ta Rica, EI Salvador und Nicaragua 2006 rnittels qualitativer Interviews und Sc huleraufsatzen festgehalten. Dazu interviewten w ir zum ei nen ca . 90 Manner und Frauen verschiedener Berufe, Altersgruppen, sozialer Klassen und Wohnorte in den drei unter suchten Landern; zurn anderen baten wir Schi.iler und Schi.ilerin nen, Aufsatze zu schreiben. Der Auswa hl von Interviewten und Schulen ,. Vgl. etwa die folgenden Scblagzeilen und Unrertirek .'Wir toren unsere Eltern, wenn es netig ist' . Die meisten wuc hsen in den Lalino-Gheuos und -vierteln von Los Angeles a uf, bis man sie nach El Sa lvador odc r Teguciga lpa deportierte / Friiher ju nge Klimpfer im Burgerkri eg, je tzt Hauptquelle des organisien en Verbrcc hens in Zenlra lamerika ~ (El Nuevo Diario, 10/5/20(5) oder "Gtwa lu ~tige pandillQJ in Kampf-Nachl [...] Die pandillas . Die Bessenen' und . Die Von Unlen" be nulZlen Steine, Macheten, Rohre und Knuppel, urn runf Poltzisten des Funften Dislrikts anzugreiten," (La Prensa, 4/10/2())4 ) " Ikzeichnung fur Jugend banden in Costa Rica.
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unter habituellen Gesichtspunkten legten wir Bourdieus Theorie des sozialen Raums zugrunde: .Der soziale Raum ist so konstruiert, daB die Verteilung der Akteure oder Gruppen in ihm der Position entspricht , die sich aus ihrer statischen Verteilun g nach zwe i Unlerscheidungsprinzipien ergibt, [... J namlich das okonomische Kapital und das kulturelle Kapital." (Bourdieu 1998b: 18) Mit der Auswahl der Intervi ewten haben W iT versucht, den sozialen Raum moglichst umfassend abzubilden. Grafik 1: Verortung der Interviewpartn er im sozia len Raum _
Okoroomi_
Kapil.
NiedI1geok ~ Kapila'
-
NieQ'IgM OkorlOll'llSCMl
~~- KapiIaI
~ ..
Die etwa 230 Schuleraufsatze lielsen WiT in jedem Land an drei Schulen schreiben, die im sozialen Raum ebenfalls stellvertretend fur die Mehrzahl aller Schulen stehen (Grafik 2). Zurn einen sollten die Schulen elnen groBen Unterschied bezuglich der c konomischen Ressourcen ihres Klientels aufweisen, zurn anderen bezuglich ihres potentiellen kulturellen Kapitals. Eine Schule sollte in einem urbanen Stadtteil mit sehr niedrigen Durchschnittseinkornrnen liegen und eine offentl iche Schule sein. Eine Schule sollte eine Privatschule sein, die sich vor allem an den Mittelstand oder die wirtschaftliche Elite des Landes richtet. Eine dritte Schule sollte eine landli che offentliche Schule sein, urn auch Meinungen auBerhalb der Hauptstadte zu sarnrneln (Huhn/Oettler/Peetz 2oo8b).
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Grafik 2: Verortung der Schulen im sozialen Raum
Um die Frage zu beantworten, ob sich die Diskurse uber Gewalt und Unsich erheit in der gesa mten Gesellschaft niederschl agen und ob es somit Anzeich en gibt, dass es sich um anerkannte und wirkungsmachtige Diskur se handelt , war es wichti g, nicht direkt nach diesem Themenkomplex zu frage n. Wurden die Jugendlichen Gewa lt, Kriminalitat und Unsicherheit ansprechen, obwohl wir sie nicht danach fragten? Wurden sie Gewalt und Kriminalitat trotz all der denkb aren Probl eme thematisieren? Und wie wiirde n sie in diesem Kontext argumenti eren ? Es w urde n dah er lediglich zwei Fragen gestellt, die einen groBen Spielraum in den An tworten zulieBen: Stell dir vor, du wars t Prasident dei nes Landes. Welches wa ren die dran gendsten Probleme und wie wurd est du sie losen? Und: Ftlhlst du dich in dein er Umgebung sic her?16
,. Die zweite Frage wurde de n Sc huler n erst gestellt , als ihre Antworten auf di e erste Frage beantwortetet und ern gesa m meh waren . Sie gall vorne hmlic h der Oberprii fung, oil die Aussagen zur ersten Frage mil kbenswelrhchen Erfa hrungen korrespondie rten oder nicht.
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Sebastian Huhn IAnika Oettler { Peter Peetz
Tabelle 2: Ju gendgewalt als ze ntrales Thema der Schulera ufsatze Orren,'k'" S
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Nicaragua: C R = Costa Rica ; ES = El Sa lvador.
In den sa lvado rianische n Sc hule raufsatzen und Interv iews wird de r J ugend- bzw . Ban denkriminalitat ein sehr hoh er Stell enwert beigemessen . Die Ju gendlichen hatlen in der ersten - thematisch vo llig offenen - Frage unzahlige Probleme ben enn en konnen . Umwe ltve rsc hmutz ung, Bildung, Armut oder fehlende Freizeita ngebote waren zum Beispi el typische, dem All er entspreche nde Ant worten gewesen. Obwahl W i T also die Sc hiller in der ersten Frage weder nach Gewalt und Kri minali tat noch nach Ju gendband en ge fragt hatten , benannten 46 von 8 1 Sc hulem Ban den und Ju gend gewalt als eines der wich tigsten Probleme ihres Landes. Wi e in der Tabelle deu tlich wird, sp iegeln sich in den Sc huleraufsatzen deu tlich die nationalen Unterschie de und die unterschledll ch en Betroffenh eiten j e nach Sc hulform. In den Antworten auf die zweite Frage wurde zudem deutlich, dass die Ei nschatzung po litischer Prioritaten von der Erfahrung mil Ju gendbanden im personlich en Umfeld abweichen kan n. Begrundet w urde die Benennung de r maras als nationalem Hauptprobl em se lten; die Nen nung der maras als wichtigs tem Problem sc hei nt eine allge meingultige Se lbstverstandlichkeit zu sein. So sc hrieb " Dominic" - Schiller de r Se kunda rst ufe an eine r staa tlichen Sc hule in Sa n Sa lva dor: "AIs Prasident wiird e ich mich als erstes urn das Prob lem der Banden kummem . Das Band enmitglied musste sic h von der Band e zuriickziehe n ode r musste zumindest eine gute Absich t zeigen. Ich wiirde den Fort schritt beo bac hte n und da nn ent sc hei de n, ob es ins Gefangnls musste ode r nic ht." Wenn dermoch begrtlndet wurde, wa rum sie die mares fur das gr6 Bte nat ionale Problem hielten , so entsprac hen die An twort en ha ufig kein er jugendlichen Perspektive, so ndern waren eher .kop ierte Meinun gen" . So schreibt Carlos Sa ntos , ein 18jah riger Sc huler ein er staa tl ichen Sc hule im Um land Sa n Sa lva do rs: .Das wic htigs te Problem sind die Band en, we il sie Pri vateigentum zerst6r en." Diese Au ssage verde utl icht beisp ielh aft, dass es se lten eigene Erfah rungen sind, die die Sc hiller veranlass ten, maras als Problem zu ben enn en , so ndern meistens ein verinnerlichter offentliche r Disku rs tiber die Ba nde n. Die A ussagen der Schill er zu moglic he n 1...0s unge n des Problem s ve rde utliche n ebenfalls die Macht des offentlic he n Diskur ses. Todesstrafe, versta rkte Polizeiprase nz, Reha bilit ierung- ode r Pravent ionsp rog ramme, aile diese ve rgleichsweise .erwachse ne n'' Losungsvorschlage verweisen ehe r auf einen se hr gegenwartige n gesellsc haft liche n Disku rs als auf die sponta ne Mei-
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nung der Jugendlich en. Deutlich wird dies auch im Vergleich mit Losungsvorschlagen auf andere von den Schillern genannte Probleme. Bezilglich der hohen Arbeitslosigkeit schrieben zum Beispiel viele Schiller: .Jch wiirde den Menschen Arbeit geben." (z.B. Diego Armando Maradona; Marc Antony; Elena oder Kimberly) Wie erwartet, spiegelt sich die Fokussierung der salvadorianischen Medien auf Mord e und maras auch in den Interviews wieder. 1m AIltagsdiskurs werden hier also die T hemen aus den Medien und der Politik aufgenomme n. Fast aile Interviewten aus EI Salvador sprachen die hohen Homizidraten an und benannten oft nur diese als Indikator bzw. als Beweis fur die groBe personliche und gesellsc haft liche Unsicherheit. Ebenso wurden in fast allen Interviews die maras als die typ ischen Tater benannt. Die maras sind in vielen Interviews Synonym fllr Unsicherheit und Bedrohung. Die Interviewten benannten sie haufig spo ntan als erstes oder einziges Beispiel, wenn wir sie fragte n, ob die Situation friiher anders gewesen sei und ob sie Zentralamerika fur eine gefahrliche Region hielten. Ein Taxifahrer fasste dies folgendermaBen zusammen: "Was wir hier haben ist Gewalt, Gewalt und sonst nichts und ich glaube, wir wilrden diese Gewalt loswerden, wenn wir nur die Maras loswerden." (EI Salvador, 28. November 2006). Eine Kochin sagte auf die Frage, ob EI Salvador auch im internationalen Vergleich sehr gewalttat ig sei: .Jch glaube ja, dass EI Salvador das Land mit der meisten Gewalt ist, den meislen Morden, grundloser Gewalt. Hier bringen sie Leute ohne Grund urn und sie rauben ohne Grund, denn es gibt viele mareros und viele Diebe. Ich glaube ja, ich glaube in EI Salvador gibt es am meisten Gewalt." (San Salvador, 9. Dezember 2(06) Auch wenn in einzelnen Interviews vor nehmlich ilber andere Themen gesprochen wurde, wurden die Maras als ein typisches und fi ir aile verstandliches Beispiel angefilhrt. Der Diskurs uber die Banden wurde dabei aber gelegentlich auch direkt als Referenz benannt oder reflektiert: "Grundsatzlich werde n heute immer bestimmte sozia le Gruppen verantwortlich gemacht. Die Maras und so. Aber es gibt auch famillare Gewalt, allgemein viel Brutalitat in den StraBen, irn Verkehr. Es gibt Gewalt in allen denkbaren Formen", sagte beispielsweise ein Rettungssanita ter (San Salvador, 7. Dezember 2(Xl6). 1m Gegensatz zu Medien und Politik wurde in den Interviews verhiiltnismiil3ig viet ilber die moglichen Grilnde fiir die J ugendgewalt gesprochen. Diese Aussagen korrespondieren hiiufig nicht mil der .Harten Hand '-Politik und -Rhetorik, die in den Medien und unter sicherheitspolitischen Akteuren in EI Salvador Konse ns sind. Eine Jugendrichterin teilte zwar die Ansicht, dass die Jugendkriminalitat das groBte Problem des Landes sei, gleichzeitig druckte sie aber ein gewisses Ver standnis filr die Jugendlichen aus, die ihrer Ansicht nach einerseits durch den Krieg Schaden genommen hatten und nun andererseits mit einer personlichen Hoffnungslosigkeit und einem Mangel an Entwicklungs- und Verwirklichungsmcg lichkeiten zu kampfen hatten (Sa n Salvador, 25. Oktober 2(06). Bin Polizist in einem salvadorianischen Dorf sagte zur Jugendgewalt: "Die Mehrheit sagt, der Krieg sei der Grund . Ich denke aber, vielleicht ist es gar nicht das. Die Regierung hat nicht dar auf geac htet, dass aile einen vernilnftigen Job haben. Wenn es Arbeit filr aile gabe
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... abcr die gibt es nicht. Ich denke, das is! der Hauptgrund ." (Nueva Conc epc ion, Chalatenango, 8. November 2006) Auf die Frage, warum die Verbrechensrate n so hoch seien, antwortete ein Gefangnlswarte r: .A rmut, Armut ist der Hauptgrund. Wegen der geringen Einkommen sind sie nich t in der Lage, den Jugendlichen eine Existenzgrund lage zu schaffen und das erzeugt Verbrechen ." (27. November 2006 , im Umland San Salvadots]. Auf die selbe Frage antwortete ein Gesc haftsmann: "Wenn ich hungere und meine Familie ebenso und wenn ich nicht weiR, was ich meinen Kindem morgen zu Essen gebco soli - abgese hen von Bildung oder Kleidung - jeder kommt dann zu de m selben Schluss: ScheiBegal! Ich werde jetzt stehlen, was ich brauche." (Sa n Salvador , 1. Dezember 2006) Dies sind Beispiele fiir Aussagen von Menschen, die in den Angst schlirenden Med ien als typische Opfer von Jugendgewa lt dargestellt werde n. Dennoch haben diese Personen nicht automatisc h die repressiven Argumente und die Verw eigerung von Verstandnis und Mitgefu hl aus Politik und Medien ubemommen. Viele Menschen in El Salvador scheinen wese ntlich mitfiihlender und sozialer zu sein, als dies Medien und Politik propagieren, obwohl sie durchaus tiber die Jugendba nden als wic htigstes Problem sprechen. Nur drei von dreiundzwanzig Interviewten stelllen die maras nicht ins Zentrum: ei n Wachter, eine Frauenrechtsaktivistin und ein Gewe rkschafter. Insgesamt verdeutlichen die Interview s auc h, dass die Angst vor Ju gendlichen nicht unbedingt mit de r alltagl iche n Erfahr ung zusammenhangt . Das .Wissen'' tiber die maras - sprich die permanente Wiederholung des Themas in der Offe ntlichkeit - scheinen viele Interviewte so veri nnerlic ht zu haben , dass sie perso nliche Angst empfinden, ohne dass sie je mals persdnliche Erfahrung mit kriminellen Juge ndlichen gemac ht haben. In Costa Rica und Nicaragua scheint das Gewa ltphanomen der Jugendbanden im Vergleich zu EI Salvador marginal zu sein. Keiner der costaricanischen Interviewpartner maG der Juge ndgewalt eine zen trale Rolle bei. Einige Interviewte stellten zwar Jugendliche in Nebensat zen zuwe ilen als eine Bedrohung dar, aber als zentraler landesweiter Unsicherheitsfaktor wurden sie nie erwa hnt. In Nicaragua sprachen 10 Interviewpartner kriminelle Jugendbanden als Bedrohungsfaktor an, wobei aus dem Kontext schnell deutlich wurde, dass sie ein ganz anderes Phanomen im Blick hatten. Wahrend es in EI Salvador urn gut organis ierte, Mafiaahnliche Bandenstrukturen ging, sprachen die Interviewpartner in Nicaragua von unorganisierten und vergleichsweise weniger brutalen mannlichen Jugendlichen, die sich lokal zu Banden zusammenschlo sse n. Eine Krankensc hweste r in Managua sagte beispie lsweise: "D ie Gewalt in den Strabe n hat zugenomme n. Die meisten Personen, die hier eingeliefert werden, sind Opfe r von Gewa lt, vor allem jugendliche Bandenmitglieder, die sich mit andere n Bandenmitgliedern priigeln. Auch Diebstahle sind heute eher mit GewaIt verbu nden. So etwas hat sehr zugenomm en. Mehr als andere Formen von Gewa lt - fami hare Gewalt [...]." Auf die anschliebende Bitte, das zuvor nicht angesprochene Phanomen der Ju gendbanden naher zu erlautern bzw. einz uschatze n, ob die Banden ein groBes Problem seien, sagte die Krankenschwester: "Es gibt viele Banden, unglaublich viele und es gibt aber auch viele Diebe, Leute die stehlen. die Bandenmitglieder bes teh-
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len dich eigentlich nicht so. Die Banden erzeugen eher Unsicherheit in den barrios, wo sie wegen der Orogen gegeneinander kampfen." (Managua, 7. November 2006) Die Antworten der Krankenschwester verdeutlichen im Vergleich zu EI Salvador zweierlei: Kriminelle Jugendliche sind hier immer nur ein Phanomen neben anderen (die Krankenschwester mochte beispielsweise immer wieder Heber tiber Diebe sprechen) und sie werden nicht grundsatzlich als ein personlicher Bedrohungsfaktor wahrgenommen. Auch in den Schilleraufsatzen aus Nicaragua und Costa Rica spielten Jugendband en und Jugendkriminalitat keine gro6e Rolle. In Nicaragua erwahnten drei Schiller in der ersten Frage Jugendband en als Bedrohungsfaktor, in Costa Rica niemand . In Nicaragua und Costa Rica gibt es bezuglich der Jugendbanden schlielllich dennoch einen auffalligen Bruch zwischen der Darstellung des Problems durch .machtige Sprecher" und der Wahrnehmun g im Alltag. In Nicaragua werden die Jugendbanden im Alltag durchaus als ein Gewaltphanomen wahrgenommen, auch wenn sie nur eines von vielen sind und die Interviewten sie weniger als personliche Bedrohung wahrnehmen . Politische Akteure und die Medlen auBem sich im Gegensatz dazu auffallig selten zu Jugendbanden . In Costa Rica ist es umgekehrt . Kriminelle Jugendliche und Banden sind ein relativ beliebtes Thema vor allem in den Medien . In den Schuleraufsatzen und Interviews konnte nicht nachgewiesen werden, dass diese Themen im Alltag folglich ebenfalls eine groBe Rolle spielen. Lediglich in EI Salvador gehen die Darstellungen einer vermeintlichen Bedrohung durch Medien und Politik Hand in Hand mit der Wahrnehmung des Alltags. Die maras sind hier ein Metasymbol fur Gewalt, Kriminalitat und Unsicherheit. Mit den haufig verkiirzten Argumenten in Medien und Politik gaben sich die Interviewpartner hingegen nicht immer zufrieden. Die Politik der .Jt arten Hand " gegen die Jugendbanden wird in der Bevolkerung nicht durchgehend als Losung aller Problem e wahrgenommen. Strukturelle Probleme wie Annut oder Arbeit slosigkeit werden durch das populistische Dogma der ..harten Hand" im Alltag nieht verdrangt . Auch wenn Politik und Medien propagieren, aile Probleme seien dadurch zu losen, dass man moglichst viele kriminelle Jugendliche fur lange Zeit in Gefangnisse sperrt, ist in der Bevolkerung das Bewusstsein vorhanden, dass langfristig nur eine nachhaltige Wirtschafts- und Sozialpolitik die Probleme losen kann .
4. Juristische Materialisierungen und wissenschaftliche Hysterie Die vorangegangenen Abschnitte haben gezeigt, wie sowohl Personen in machtigen Positionen (Politik, Medien) als auch Menschen an den Randem der zentralamerikanischen Gesellschaft Jugendgewalr und insbesondere die maras als Bedrohung wahrnehmen und darstellen. Anhand von qualitativen Interview s und Schuleraufsatzen haben wir gezeigt, dass das Bild monstr6ser Jugendb anden zwar weit verbreitet Ist, sich aber nieht automatisch mit lebensweltlichen Erfahrungen deckt. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass repressive GegenmaBnahmen (mana dura) zwar die offentlichen Debatten dominieren , zugleich aber auch immer gepaart mit praventiven/rehabilitativen Losungsansatzen auftauchen. Liberale An-
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sic hten sind welt verbreitet, insbesondere solc he, d ie die Notwendigkeit beto nen, die "tieferen Ursac hen" der Jugendgewalt (z.B. Arm ut, Bild ung) anzuge hen. Sowohl die Wahm ehmung von politischen Problemen und Prioritaten als auch der Umgang mit Jugendgewalt ist, wie eben aufgezeigt, vo n Land zu Land verschieden. w ahr end in Costa Rica und Nicaragua in unterschiedl ichen Deutungsz usammenhangen und sozialen Aus handlungsprozessen praventive MaBnahme n dominieren, steht der politische Diskurs in El Salvador nach w ie vor im Zeic hen der Repression . Im Ko ntext vo n parteipolitisc hen A useinandersetzungen und de n okonomischen und politischen Interessen von Medienuntern ehmen bleibt hier ein Ansatz dominant, der den Jugen dbanden auf repressivem Wege zu begegnen sucht. Die Politik dcr ,harten Hand' , das Zusammenspiel zentralamerika nischer und US-amer ikanischer Geheimd ienste, groB ange legte intern ation ale Poli zeiein satze und in letzter Konseque nz sogar die gezielten Morde von Todesschwadronen we rden vor dem Hintergrund des Bedroh ungsszenarios als unu mgangliche Mitte l angegriffener Gese llschaften im Kampf urn die Verte idigung von Sicher heit und Demo kratie da rgeste llt. Unabhangig davon , dass mareros hauflg tatsac hlich gewaluatig sind, wird die Subkultur der zentralamerikanischen J ugendbande n vo r allern als Feind bild kon struiert. Vor dem Hintergrund der vielfaltigen sozialen, politischen und 6konomischen Krise nerscheinungen werden die Probleme der Gege nwart auf die ma rginalisierten Jugendlichen proji ziert und schwere Menschenrec htsverletzunge n werden so gerechtfe rtigt. Andere Kriminalitatsformen, wie zum Beis pie l die Korruption der politischen und wirtschaftlichen Elite n, die sex uelle Gewalt ode r die eige ntliche o rganisierte Kriminalitat, aber auch die zentralen soziookonom ischen Probleme wie Arm ut, Arbe itslosigkeit und Ungleic hheit verschwinden damit aus dem Zentru m der 6ffentlichen Auseinandersetzung fiber Sicherheit und Demokrat ie in Zentralamer ika. Tatsac hlich liegt aber hier das gro Be Problem der zentralamerikanischen Gege nwart : " Die Jugendba nden lassen sich nieht einfach als eine soziale Abweichung begreifen, sonder n vie lmehr als eine von viele n pathologischen Manifestationen der sozialen Krise, die sich in unserem Land in den letzten 15 Jahren verfestigt hat. ( ... ) Sie verletze n keine sozial verbreitete Nor m, sondem scheren sich - wie auch unsere Prasidenten, Minister und Bischofe - nicht urn die forma len Rege ln, aus denen sic h die Gesetze unseres Staates zusammensetzen." (DIR lNPRO et al. 2004 : 15) Mit der zu nehmenden Fokussierung der Kriminalitatsbekampfung auf das Pha nome n der Jugendbanden ist auf der j uristisc hen Ebe ne d ie Schaffu ng eines formalen Rahmens verbunde n. Mit juri stischen Normen (Verfassungen, Gesetz e, Ver wa ltungsvorschriften} wird nieht nur der formale Rahmen des legitimen kollektiyen Umgangs mit Gewaltakteuren gesc haffe n, sondern auch festge legt , welche Handlu ngen als anerkan nt, legal oder illegal gelten (Peetz 2OO8a). Bestandteil der Politik der ,harten Hand' gege n die Jugendbanden in EI Salvado r ist die Versc harfu ng de r Strafgesetzgebung, ei nschlieBlich des Jugendstraf-
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rec hts und der Strafprozesso rdnung . Die Gesetzesan derunge n we isen grundsatz lich eine Tendenz zur Beschneidu ng der Grund- und Burgerrechte der Bevclkenmg bzw. bestimmter Bevolkerungsgruppen (vo r aHem Juge ndlicher) auf. Dies wa r sehr deutlich beim 2003 vom Parlament verab schiede ten Anti-ercre-Gesetz (Ley Anti Mara): Es sah vor , im Fall von Bandenmitgliedschaft Minderjahrige ab zwo lf Jah ren strafrechtlich wie Erwachsene zu be handeln, Gangmitglieder in Sch nellverfahren abzuu rteilen und Ver- oder Ansammlunge n von Mensc hengruppen im offentlichen Raum unter Strafe zu steIlen. 17 Das Gesetz ist eines der offensic htlic hsten Beispie le dafur , wie die Strafgesetzgebu ng zur Konstruktion des .Jcriminellen Anderen" beitrage n kann.1l:1 So stellt es etwa systematisch einen Zusammenhang zwischen den Jugendba nde n und legalen sowie illegalen Drogen her. Sc hon die Tatsaehe, dass sieh in diesem Gesetz meh rere Paragraphen (§ 20, 21, 42) mit droge nbezogenen Tetbesta nden befassen , lasst sich als rechtliche Kodifiz ierung des "gultigen Wissen[s]" (Jager 2004 : 149) - also der sozialen Konstru ktion - interpretieren, demzufolge Drogenmissbra ueh erstens ein essentieller Bestandteil des mara-lifestyles iSI und dass die moras zweitens mit dem Drogenhande l in Verbi ndung stehen. Neben dieser Gleichsetzu ng von Ban denm itgliedschaft und Drogenkriminalitat enthalt das Gesetz noch eine Fulle weiterer Bestimmungen, die einige der in de r Offentlich keit zirkulierenden "Wa h rhe i~ ten" uber die maras in Gesetzesform gieBen: § 22 stellt .unenaubten Aufe nthalt auf Fried hofen" unter Strafe . Ebenfalls geah ndet werden in § 13 und 14 "Gruppe nexhibitionism us'' (exhibiciones deshonestas en grupo) und "unsittliches Benlhre n einer/eines Dritten als Gruppe" (tocamiento en grupo). Der Inhalt und die Wortwahl solc her Parag raphen zeiehnen das Bild von Jugendbandenmitgliedern als sexue ll pervertierten Monstem . Ahnlich wie das Anti-escra-Gesetz gieBt aue h das Geset z gegen das orga nisierte Verbrechen (Ley contra el crimen organizado y delitos de realizaci6n compleja) von 2007 "giiltiges Wissen" tiber die Jugendbanden in die Form von Paragraphe n und Absatze n. Mil der Zielsetzung, die Strafverfahren zu verkurzen, fuhrt dieses Gesetz Sondergerichte fur solehe Morde , Entftihrungen und Erpre ssungen ein, die von .sn ukrunerten Gruppe n aus zwei ode r mehr Personen" ausgefu hrt werden . Das Gesetz definie rt also Tat bestande, die fur die maras als typisch gelten - Morde und Erpress ungen - als Akte des organisierten Verbreehens . Der Ansatz der Regierung, Jugendba nden generell als Te il der "o rganisierten Kriminalitat'' zu verstehen, ist damit Gesetz geworden. Die Insitutionalisierung von Gewa ltdisk ursen im Bereic h der Justiz ist eng mit einem Feld der Wissensko nstruktion verwoben, das in diesem Beitrag bisher nur
" Das Oberste Gencht EI Salvadors erktane das Oeser z am 1. Ap ril 2lXl4 fUr vcrfass ungs widng. In die se m Beitrag wi rd es dennoc h berucksic htigt. weil es fur El Sa lvado r und ga nz Zentr ala meri ka ein Dis kursereignis vo n nerausragender Bede utung darstellt. Naheres zu Inhal t und Gesc hicht e des Gesetzes aiehe Peetz 2004: 78 f. '" Zu r "cr imirwwgy of the OIh er" siehe Garland (2001). Das salvadoria nisc he Anti -m4rQ-Geset z trage auc h deurhc he lUge eines Feinds trafrecht s (Jakobs 1985; w rcckjage 2008).
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am Rande behandelt wurde : die Wissensch aft (vgl. dazu Huhn/Oettler 20(6). Dabei
ist die gegenseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Politik ebenso wie die von Wissenschaft und Massenmedien unbestritten. In Zentralamerika verweisen Politiker und Medienorgane immer wieder auf die Erkenntnisse von .Bxperten", urn die eigene Argumentation zu stutzen. In der wisse nsc haftl iche n Diskussion lassen sich - etwas pauschalisierend - zwei grundlegende Diskursstrange identifizie ren , von de ne n einer chef in Publikati onen aufz ufi nde n ist, die auBerhalb Zent ra lamerikas entsta nde n sind, und einer starker, we nn auch nich t aussc hliel3l ich, von
Wissenschaftlern aus der Region selbst getragen wird. Vor allem aus den USA stammende Veroffentlichlunge n tragen mafsgeblic h zum Bild der maras als dem zentralen Sicherheitsproblem Zentralamerikas bei. Eine Grundlage dieses Szenarios ist die Grobe der maras. Der gnadenlose Kampf gegen die Sanden und die Mittel, die dafiir unter anderem aus dem Ausland zur Verfugung geste llt werden, begrunden sich unter anderem mil der Unterstellung, die Zahl der Gangmitglieder sei gigantisch und wiichse rasant. In den Policy Pape rs v.a. dem Militar nahstehender Think Tanks umfassen die Sanden in vorsic htigen Schatzungen 60.000 mareros, in den dramatischsten Schilderungen aber auch bis zu 600.000 (Hill 2004; Small 2004). Als Beleg wird zumeist entweder auf Polizeistatistiken oder auf ' Iokale Funktionare' verwiesen (Arana 2(05). Thomas Bruneau - Professor fur National Security Affairs an der Naval Postgraduate School - meint sogar, die Zahl der mareros auf der Grundlage polizeilicher Informationen personengenau auf 69.145 Mitglieder beziffern zu konnen (Bruneau 2(05). Einflussre iche Think Tanks behaupten, die maras seien gUI organisierte und machtige Akteure im internationalen organisierten Verbrechen. Mit Verweis auf Polizeiangaben oder Informanten aus Regierungskreisen proklamieren sie, die Mitglieder der Jugend banden der verschiedenen U nder planten und fl lhrten geme insam Verbrechen auf hochstem Niveau aus (z.B. Bruneau 2(05). Neuere Studien intem ationaler Organisationen allerdings stellen die Jugendba nden teilweise differenzierter dar und legen die prekare empirische Basis des (von ihnen mitkonstruierten) Bedrohungsszenarios wenigstens offen . So heiBt es etwa im Bericht der UN Organization on Drugs and Crime (UNODC 2007: 16) tiber Gewalt und Kriminalitat in Zentralamerika : "In El Salvador, it is claimed that 60% of all intentional homicides are carried out by the maras, but [...], the evidence for this concl usion is unclear. Research by the Salvadoran Institute of Forensic Medicine was only able 10 attribute some 8% o f the firearm homicides in 2000 10 mara activity." 19 Den zweiten Strang bilden vorwiegend anthropologisch und soziolog isch orien tierte Mikro-Studien von Wissenschaftlern aus der Region selbst. Solche VerOffentlichungen analysieren die konkreten Erscheinungsformen und lokalen Kontextbedingungen des mara-Phanomens. So benutzen beispielsweise Cruz/Port illo (1998) partizipative Methoden zur Untersuchung von Motivatio nsstrukturen der " Vgl. auch die Krilik von Bellanger/Rocha (2009) an den ~e$tudio$ de contacto nulo ~ , di e ausschl ieBlich auf 51atistiken und a hnlichen Makro-Daten bcruhen.
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Gang-Mitglieder und ehemalige Ga ng-Mitglieder sowie zur Erforsc hung des sozlo okonomischen und sozio- kulturellen Umfeldes, in dem die Bande n behei matet si nd. Die Autoren derartige r Studien mussen sich nicht auf Kriminalitatsstatiken oder (venneintlich) representative Umfragen verlassen. Ihre empirische Basis besteht aus Daten, die sie selbst erhobe n haben (meist qualitative Interviews mit den Bewohnern betroffener Stadtvierte l oder Aufzeichnungen im Rahmen von tei lnehmenden Beobachtungen). Diese Art von Untersuchungen hat eine Hille von wertvo llen Erkenntnissen tiber die maras zu Tage gefdrdert. Das allenneiste, was wir heute tiber die Ju gendbanden wisse n, entstammt solchen Mikro-Studle n: die Bede utung von Symbolik und asthetisc hen Ausdrucksformen (Tatowierungen, Graffiti, Slang); die Rolle von Droge nkonsum, Territorium und Gewa lt; geschlechtsspezifische Aspe kte; die Beziehungen zwisc hen der mara und dem Stadtviertel, in dem sie beheimatet ist; warum und wie JugendIiche zu mareros werden und auch warum und wie sie die Gruppe wiede r verlasse n kcnren." 1m Gege nsatz zum hegemonialen Diskurs der Masse nmedie n, der Politi k und der internationalen Think Tanks zeigen Studien, die auf emp irischer Forschung vor Ort basie ren, dass der Aktions- und Einfluss bereich der Jugendbanden in den meisten Fallen nicht die Grenze des Lokalen uberschreltet, sich also norm alerweise auf ein ode r wenige Stadtviertel begrenzt. Jedoch vemachlassigen oder missachten die meisten dieser Mikro-Studien die diskurslve Dimens ion des The mas. Sie prase ntieren das in Interviews ode r lokalen Umfragen ermittelte Bild tiber die Sach lage fast immer als objekt ive Realit at. So gut wie nie sind die Ursachen ode r die Foigen eines Diskurses, der in den [eweiligen Stadtteilen dominiert, Gege nstand de r Untersuchung. So bleibt denn auch die Frage unbeantwortet, warum die Bewo hner eines VierteIs die Gewalt- und Sieberheitssituation so wahrnehmen, wie sie sie in den Interviews wiedergeben. Die Untersuchun gen vemach lassige n zudem die Frage, wie das, was im Stadtvierte l als .Wabmelr" tiber die Jugendbanden und ihre Aktivitaten bekannt ist, soz ial konstruiert worden ist. Die Reproduktion dieser "Wahrheit" in Mikro-Studien kann daher in gewisser Weise zur Hyste rie tiber Unsic herheit, Gewa lt und maras beitragen. In dieser Hinsicht kann eine lokale, auf qualitativen Daten beruhende Studie ei nen ahnlichen Effekt haben wie ei ne, die unkritisch auf Kriminalitatsstatisti ken ode r Meinun gsum fragen auf nationaler oder regionaler Ebene bas iert. Beide konne n dazu beitragen, einen von Dramatisie rung und Panik gep ragten ,,talk of crime" entstehe n zu lasse n oder zu verstarke n. Denn wie viele andere wissenschaftliche Publikationen heben auc h die Mikro-Studien oftma ls die Bedrohung hervor, die von den Ga ng-Mitgliedern fur die betroffenen Stadtteile ausge ht. Interessanterweise sind Jugendbanden auch im wissenschaftlichen Diskurs in und tiber Nicaragua, wo ere in der Presse und in der Politik kaum Beac htung finden, ein wichtiges Th ema. In den letzten Jahren sind kontinuierlich entsp rechende lO
Diese und zahlrei che weitere wicbnge Gestchtspunkte werden z.B. behandeh in: Smutl/Miranda (1998); Santacruz Giralt et al. (2001); ERIC et al. (2001 , 2004a1b); Cananza (0.1.) ; Lodewijk xJSaven ije (1998).
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Publikati one n erschienen (z.B. Rocha 2003 , 2005 , 2007 ; DIRINPRQ et al. 2004 ; Rod gers 2002, 200 3, ZOO?). Eine der meist beacht eten VerOffentlichungen fiber die zentralamerikanischen Jugendbanden, die vier Sande vo n ,,Maras y pan di/las en Centroamerica" (E RIC et al. 200 1, 2004 a/b und Cruz 2(06) enthalt in j edem Band ein Kapit el zu Nicar agua, genau wie zu Guatemala, Honduras und EI Sa lvador (Costa Rica ist jedoch nicht vertreten). Zwe i der vier Sande wurd en in Managua herausgegeben . Die fundamentalen Unterschiede zw ischen den moras des Tridngu10 No rte (G uatemala, Hond uras und El Salvador) und den pa ndillas Nicaraguas Ietzter e identifiz ieren sich nicht als der M·18 oder der MS-13 zugehorig und sind, was Gewa ltformen und -intensitat betrifft, kaum mit ersteren vergJeichbar - sc hei nen fur die Einbezie hung Nicaraguas in die Publikation kein Hindemis gewesen zu se in. Vermutlich tragt Nica raguas durch Revol ution und bewaffnete Konflikte gepragte Vergangenheit dazu bei, heute die Aufmerksamkeit auf die dortigen pandil las zu Jenken. Das intem ationale Interesse an jedwedem Phan omen , das mit Gewa lt in .Post-Konflikt -Gesellschaften" verbunden ist, macht nicaraguani sch e Jugendbanden offensic htJich zu einem interessant eren Forschungsthema als etwa honduranisehe Ga ngs. lm Faile Costa Ricas ste ht das Thema weit weniger im Vordergrund der akademisc hen Debatt en, kommt darin aber immer noch deutli ch haufl ger vor als etwa im medialen oder Alltagsdiskurs. Dies wird vor allem an der wisse nse haftlichen Infrastruktu r liegen, die in Costa Rica weit besser entwiekelt ist als in den andere n zentralamerikanischen Ui ndern und es erlaubt, auch ein fur das Land selbst nicht sehr zentrales Th em a zu bearb eiten . Trotz dieser im Vergleich zu anderen gese llschaftlichen Diskursraum en zu kon statierenden "Dberreprasentation" de r Jugendbanden im wisse nschaftliche n Diskurs Nicaraguas und Cos ta Ricas , ste hen die Gangs dort immer noeh wese ntlich wenige r im Ze ntrum der Debatte als in EI Salvado r, wo das Thema die gesa mte akademische Gew altdis kussion nahezu monopolisi ert hat.
S. Schlussbetrachtung Insgesamt w ird man sagen musse n, dass die durcha us gewalttatige Jugend subkultur der maras eine zentrale Rolle im Unsieherheitsempfi nden in Zentralameri ka, in der Sicherheitspolit ik EI Salvadors und zunehmend auch in der Latei namerikapolitik der USA spie lt. Von einflussreic hen A kte uren aus Regierun gskreisen , intem ation alen Gehe im- und Sieherheitsdiensten und den Medien werde n die maras als mach tige transnation ale Mafia konstruiert. Das Bild der .Mega-e ercs" ist dabei v.a. das Ergeb nis eines deutungsmachtigen Diskurses. Nebe n den Verfec htem des Bedro hun gsszenarios sind auch mareros selbst (vg l. Huhn/Oettler/Peetz 2008a) und we ite Te ile der Offe ntlichkeit als "Co-Produzenten und Mit-Agenten der Diskurse und der Veranderu ng vo n Wirklichkeit" (Jager 2004: 146) an der Ko nstruktion d ieses
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Bildes beteil igt. Der Diskurs fiber die maras erschafft damit letztlich ein Stuck weit auch das Phanomen selbs t.
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School Shootings und Amok - Perspektiven der Gewa ltforschung Birte H ewera
1. Ei nleitung Am 11. Marz 2009 ereignete sich im schwabisc hen Winnenden ein Fall vo n Amok, der dem bislang groBten Vorfall dieser Art in De utsc hland, dem Amoklauf vo n ErCurt, in nichts nachsteh t: Der ehemalige Schuler der Albertvi lle- Realschule in Winnenden , Tim K., totete im Laufe eine s Vorm ittags 15 Mensche n und anschlieBend sic h selbst. Immer wenn sich ein solcher als "School Shooting" bezeichneter Fall ereignet, reagiert die rnediale Offentlichkeit aufgeregt und hat so fort diverse Erkla-
rungsmuster bei der Hand. Auch in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung finden diese Vorfalle Beac htung. Sic fragt nach den Ursachen von Gewa lt und konzentriert sich auf Ausloser und Risikofaktoren . Die Schwierigkeit, die sich fl it die Forschung aus den School Shootings ergibt, liegt darin, dass es sich hierbei urn eine Art von Gewalt handelt, in der man einen Sinn vergeblich sucht, bei der sich kaum Auffalligkeiten ausmachen lassen und bel der die Tater meist aus guten Verhaltnissen stammen. Wie geht die wissenschaftliche Forschung mit derartigen Fallen von Gewalt urn? Festste llen lasst sich, dass an der wissenschaftlichen Beschaftigung mit Schoo l Shooti ngs ein Widerstreit hervortritt, der in der Gewaltforschung generell enthalten ist: In den 1990er Jahren formierte sich eine Gruppe von Wissenschaftlern, die eine Diskussion dariiber entfachte, ob der relativ gangige und weit verbreitete Ansatz der atiologische n Forschung, der nach den Ursachen von Gewalt fragt, dazu geeignet sei, die Gewalt selbst als soziales Phanomen in den Blick zu beko mmen und ob diese Form ursache norientierter Forschung liberhaupt noch fahlg sei, neue , nicht bereits hinlanglich bekannte Ergebnisse zu generie ren. Damit entsta nd eine Diskussion , die als die Debatte zwischen ,,Mainstreamern" und .Jnnovate uren" inner halb der Gewaltforschung bekannt wurde. 1m Foigenden moc hte ich am Beispiel der School Shootings diese Debatte und ihre je besonderen Erkenntnisse und Einsichten darste llen. Dabei geht es zum einen urn die Auseinandersetzungen zwisc hen "Mainstreamern" und .Jnnovate uren" . Hier wird ausfl ihrlich dargestellt, wod urch sich die beide n Ansatze inhaltlich auszeichnen, was fur Vorannahmen ihren Arbeiten zugrunde liegen und welche Perspektive sie in Bezug auf die Gewalt jewei ls einnehmen. Dabei werde ich auch auf die Frage eingehen, ob die Kritik der .Jnnovate ure" am "Mainstream" und das darauf aufbauende alternative Programm der .Jnnovateure" geeignet ist, Gewa ltphanomene besser zu erklaren und die Gewaltforschung nachhaltig zu modifiziere n,
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oder ob sic eher eine brauchbare Brga nzung und Erw eiteru ng zu der ursachenori entiert en Gewaltforschung darstellt. Zum anderen geht es urn das Th ema Sc hool Shootings se lbst, das d urch den akt uellen Fall vo n Winnend en erneut gesellsc haft liche Relevanz erhalten hat : Es handelt sich bei den School Shootings urn eine Form von Gewalt, die im cffentlichen Raum stattfindet und so mit verstarkt als Sicherheitsrisiko erschei nt. Eine einge hende Beschaftigu ng mit de m T hema Schoo l Shooti ngs lohn t sich abe r auch unter dem Gesichts punkt, dass dieser Fall von Gewalt dUTCh se ine spezifisc he Form d ie wis-
senschaftliche Forschung vor Erklarungsschwierigkeiten stellt und herausfordert. Ge rade dur ch ihre spezieJle A usprag ung sc heint diese Form de r Gewalt besonders geeignet zu se in, das Vorgehen der Vertreter beider Ric htungen zu ve ransc hauliche n. Hieran wird exe mplarisch deutlich, zu welchen Erge bnissen die Wissen sc haftle r gelange n und inwiefe m diese geei gnet sind , das Phiinomen School Shoo ting zu erkla ren. Absch lie6end wird eine Bewertung der jeweil igen Ansatze vo rgenommen und auf de ren Vorziige w ie auf deren Problematiken eingegangen. Sc hlusse ndlich wird themat isiert , ob sich die beiden Ansatze gegenseit ig aussc hlieBen, sie Altern ativen der Gewaltforschung darstellen, und inwiefern die Mogl ichkeit besteht, sie als gegensei tige Ergiinzung zu bet rachten.
2. Der GewallbegrilT Auch we nn inzw ischen ein allge meiner Konsens dariiber besteht, dass Gewalt einen Gegensta nd sozialwissenschaftlicher Forschung darslellen so llte, so findet die Auseinandersetz ung mit Phiinomenen der Gewalt des halb jedoch kein eswegs innerh alb eines Forschungsparadigmas statt. Versch iedene theor etisch e und methodisc he An siitze der soz ialwisse nsc haftli chen Gewaltforschung stehen meh r ode r minder unverbun den nebeneinander. Bevor auf die sic h in ele mentaren Punkte n untersc heide nden Ansatze in der Gewaltforschung eingegange n wir d, iSI es abe r notwendig , den Gewaltbegriff zu thematisieren , denn dieser ist keineswegs vora ussetzungslos. De r Vielfalt konkurrierender , teils unvereinb arer , zumindes t aber auf verschiede ne Blickwinkel ausge richteter Ansiitze sozlalwisse nsc haftlicher Gewallfo rschung entspricht eine ebensolche Vielfalt an Gewaltbeg riffen , welche nich t minder wi derspruchtic h sind. Folgt man ocr Definition eines soziologischen Fac hlexikons, so bei nhalte t Gewalt .phys ische Ve rletzun g, physische]n] Zwa ng oder di e And rohu ng von Ye rletzung und Zwa ng. Ein umfassenderer Gewaltbegriff sc hlie8t auch das sc hwer definierbare und messbare Spektrum psychisch verletzende n Ve rhalt ens sowie die phy sisc he und psychische lntegritat verletzende soziale Struktu ren (st ruktu relle Gewalt) mit ein. " (Schafers 2003: 114)
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Die Definition umfasst bereits den gr6Bten Te il der Gewaltbegriffe, die in der sozialwissenschaftlichen Gewaltforschung gelauflg sind. Diese lassen sich folgendennaBen unterteilen : 1. physische Gewalt 2. psychische Gewalt 3. Schadigung durch Unterlassung 4. institutionelle Gewalt 5. strukturelle Gewalt 6. kulturelle und symbolische GewaIt Dabei handelt es sieh bei diesen Stichworten urn durchaus heterogene Phanomene . Denn wen n man die verschiedenen Verstandnisse des Begriffes "Gewalt" miteinander vergleieht, so haben sie doch nur den sehr vagen Aspekt der Schadigung gemeinsam (Nunner-Winkler 2004: 24). Wer wen wie schadigt ist dabei je nach Definition hochst variabel! Die Brauchbarkeit eines Begriffes, der derart unprazise ist, erscheint jedoch zumindest fUr die Forschung fragwurdig (ebd.). Auch wenn solche Stichworte das Spektrum an Gewaltbegriffen abbilden, deren sich die sozialwissenschaftliche Gewaltforschung bedient, so finden gleiehwohl Auseina ndersetzungen dariiber start, welcher der angemesse ne Gewaltbegriff ist. Der Kern der Debatte zielt dabei darauf ab, wie eng oder weit dieser zu fassen sei. Von moglichen Ursachen und Foigen von Gewalt, die in weite ren Diskussionen erortert werden, ist an dieser Stelle noch gar nicht die Rede. So steht man schon am Beginn der Auseinandersetzung mit Phanomene n der Gewalt vor dem Problem der Begriffsbestimmung. Dass die Anwendung des GewaItbegriffs nieht beliebig und vor allem nieht folgenlos ist, wird schon daraus ersichtlich, dass dem Versuc h der Durchsetzung einer bestimmten Gewaltdefinition oft potitische Absichten zugru nde liegen (lmb usch 2002: 52). Zudem hal die Festlegung auf einen bestimmt en Gewaltbegriff weitreiehende Folgen, weil der spezifische Bezugsrahm en zur Gewalt den Blick auf die Gewah schon vorweg strukturiert. Mil den oben genannten konkurrierenden Gewa ltbegriffen erscbopft sic h jedoch die Debatte urn den Gewahbegriff nieht: Gewalt kann weiterhin hinsichtlich des ihr zugeschriebenen MaBes an Legitimitat unterschieden werden, danach, in welchem Verhaltnis sie zur Modeme Siehl, danach , in welchem MaBe sie Ilberhaupt vermeidbar ist und vieles mehr. 1m weiteren Verlauf werden auch diese Differenzierungen noch eine Rolle spielen, da sieh die beiden Stromungen sozlalwissenschaftlicher Gewaltforsc hung in je spezifischer Weise auf sie beziehen.
3. "Mainstrea mer" vs, "Innovateure" Die Aufl islung der verschiedenen Gewaltbegriffe lasst bereits erahnen, dass der Gewaltbegriff immer auf ein bestimmtes Verstandnis von Gewalt verweist. Da sich die Auseinandersetzung mit Gewaltphanomene n in den Sozialwissensc haften in
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zum Teil wesentlichen Kriterien unterscheidet, uberrascht diese Vielfalt verschiedener Begriffe nicht weiter. Bildet der Gewaltbegriff die definit orische Grundlage der Forschung, so bestehen danlber hinaus noch weitere , elementare Vorannahmen und Vorgehensweisen, in denen sich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewalt unterscheidet und durch die bereits vorab der Fokus in eine bestimm te Rich tung gelenkt wird. In der aktuellen Diskussion um Gewa lt lassen sich vor allem zwei Gruppen ausmachen, die eine recht unterschiedliche, oft unvereinbar erscheinende Auffass ung von Gewa lt haben. Was sie jeweils unter Gewa lt verstehen, worin sie sich unterscheiden und ob ihre Ansatze tatsac hlich so unverei nbar sind, wie haufig angenommen, wird im Folgenden erortert werden.
3.1 Entstehung der Debatte Stellt sich die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gewaltphanomenen als recht uneinheitli ch dar, so kam ihr darub er hinaus in der Vergangenheit auch nieht immer ein prominenter SteJlenwerl zu, sodass die Gewaltforschun g bislang nieht auf eine eige nstandige Forschungstradition zuruckblicken kann. Die ei nzelnen Wissenschaftler, die sieh auf dem heterogenen Feld der Gewa ltforschung mit dem Thema beschaftigten, sind oft in scientifi c communities mit anderen Sc hwerpunkten eingebunden, in denen Gewa lt eher am Rande betrachtet wird (Mutsc hke/Rer mer 1995: 186). Daher spricht Peter Imbusch davon, dass "die Auseinande rsetzung mit Gewalt [in der Soziologie] lange Zeit eher ei n Schatte ndasei n gefllhrt [hat]" (Imbusch 2004 : 125), und T rulz von Trotha bezeichnet die Gewa lt als ein .analytisches Stiefkind der allgemeinen sozio logisc hen Theorie" (von Trotha 1997: 10). Beide Autoren fU hren diesen Mangel unter anderem auf das Selbstverstandnis der Soziologie zuruck, dass mit zunehmende r Modernisierung der Gesellschaft die Gewa lt zwisc hen den Menschen eine immer geringer werdende Rolle spielen wiirde (von Trotha 1997: 11; Imbusch 2004: 125, vgl. zum Verhaltni s von Modeme und Gewa lt: Imbusch: 2(05), ein BUd, welches insbesondere durch Klassiker wie Norbert Elias gestiltzt wurde. Zwar gab es in der Soziologie immer auch Vertreter, die nieht je nen Fortschrittsoptimismus propagierten, dauerhaft blieb deren Einfluss jedoch hinter denjenigen Sozio logen zuruck, die eben Gewa lt als .Relikt einer untergehenden Epoc he" begriffen {Joas 1993: 24). Hans Joas betrachtet die Vemachlassigung der Gewa lt in der Sozio logie nieht nur als .jhematlsche Lucke", sondern sieht in ihr ei nen .Hi nweis auf eine prinzipielle Sc hwachstelle des Welt- und Menschenbildes der Soziologie" (ebd.). Diese Weltsicht der Soziologie, die ein Stuck weit das Selbstverstandnls der Moderne verkorpert, hielt aJlerdings nicht lange vor. Spstes tens seit den 1990er Jahren wird wieder von einer Zunahme der Gewalt ausgega ngen. Besonders die rechtsradikalen Gewa ltexzesse nach der Wiedervereinigung Deutschlands sowie der Staatszerfall Jugoslawie ns, der zweite Golfkrieg und andere gewaltsa me Konflikte haben grav ierende gesamtgesellschaftliche Reaktionen und eine alarmierte
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Offentlichkeit nach sich gezogen (lmbusch 2000: 25). So hat dieses .Erschrec ken I lber das AusmaB und die Allgegen wart von Gewa lt in unserer Welt" (Hilp ert 1996: 7) und die damit einhergehende Diagnose der Zunahme von Gewalt schlieBlich auch die sozialwissenschaftliche Beschaftigung mit dem Thema Gewalt starker auf den Plan gerufen. Es erschienen zahlreiche Veroffentlichungen, groB angelegte empirische Untersuchungen wurden durchgefiihrt, in Deutschland wurde sogar eine .Llnabhangige Regierungskommission zur Verhinderun g und Bekampfung vo n Gewa lt (Gewaltkommiss ion)" errichtet, die damit beauftragt war, die Ursache n vo n Gewa lt zu untersuchen und Konzepte zu ihrer Verhinderung und Beka mpfung z u en twickeln. Die Gewalt wurde nun jedoch nieht nur ausfiihrlicher thematisiert, so ndern es entstand dariiber hinaus innerhalb der Sozialwissenschaften eine Auseinanders etzu ng tiber die Art und Weise, wie man sich dem Phanomen der Gewalt nahem solIe. Denn die bis data existierenden Formen der sozialwissenschaftlichen Beschaftigung mit Gewaltphanomenen verliefen nicht zu allgemeiner Zufriedenheit, einige Forscher s ugenen ihre Unzufriedenheit tiber die Art der Gewaltforschun g, kritisierten diese vehement und strebten einen Paradigmenwechsel an. So enrwickelte sich schlie8lich eine Debat te, in der sich letztendlich zwei Richtungen der Gewa ltforschung gege ntiber standen, die "Traditionalisten" bzw. "Mainstreame r" und ihre Kritiker, die "Gewaitemeuerer" bzw. .Jnnovateure" - wie sie von Birgitta Nedelmann (1997) genannt wurden, urn eine Abgrenzung der beiden Ansatze zu marki ereno Diese Einteilung und Bezeichnung ist insofem problematisch als die ,,Ma instreamer" prinzipiell keine eindeutig definiert e Gruppe darstellen, sondern es sic h bei ihnen urn eine bunte Menge von Wissenschaftlern handelt, die vor aHem an den Ursachen von Gewa lt interessiert sind. Sie wurden von den .Jrmovateuren" als "Mainstream" kategorisiert. Allein diese Tatsache macht es relativ schwierig, von "den Mainstreamern" zu sprechen und ihnen bestimmte gemeinsa me Haltungen , Ansichten und Interessen klar zuzuordnen. Aber auch die .Jnnovateure'' sind sie h, obgleic h sie nach auBen den Eindruck einer geschlosseneren Gruppe erwecken, nicht in allen Hinsichten einig, sodass auch innerhalb dieser Gruppe differenziert werden muss (Imbusch 2004 : 126f.). Aufgrund der impliziten Abwertung soli der Begriff des "Mainstream" im Folgenden sparsa m verwendet werden und allenfalls dart zum Einsatz kommen, wo es datum geht, einen eindeutigen Kontrast zwisc hen den beiden Ansatzen darzustellen. Trotz der Problematik dieser Klassifizieru ng Iasst sic h fiir beide Ansatze ein unterschiedlicher Standpunkt mit Blick auf die Gewalt ausmac hen, der sich in versc hiedenen Grundannahmen, unterschiedlich en Vorgehenswe isen und vor allem auch diffe rierenden Absichten ausdriickt.
3.2 Die nMainstreamer" Die langjahrige dominante Art der Gewa ltforschung in Deutschland bildet den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung tiber die angemessene Form der wissen-
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sc haft lichen Bescheftigung mit Gewaltphanomenen. Das Feld derjenige n Forscher, die sich in dieser Art mil Gewaltphanomenen befasst, ist sehr heterogen. So sind sowoh l politi sche Soziologen als auch Ju gendsoziologen, Soziologen abweichenden Verhaltens etc. auf diesem Gebiet tatig (Ne delma nn 1997 : 59) . 8." war insbeso ndere die Zunahme von Gewa lt, die das Interesse der Sozialwissenschaften auf das The ma Gewa lt len kte. Die .Matnstreamer" wa ren dabei vor altern daran interessiert, Ursachen der Gewalt ausfi ndig zu mach en, we shalb ich sic im Foigenden auch als .ursachenorte nttene Gewaltforsc hung" bezeichnen werde I. Die Konzentration auf die Ursachen von Gewa lt strukturiert allerdings schon de n analytischen Bezugsrahmen de r Gewa ltforsc hung, insofem er bereits bestimmte Annahmen tibe r das Verstiindnis von Gewa lt, das Menschenbild, den gesellschaft lichen Umgang mit Gewalt nahe legt. So besteht eine zentrale Konseque nz der Ursachenanalyse darin, dass aus den gewo nne nen Erken ntnissen tiber die Ursachen von Gewalt Praven tionsstrategien entwickelt werde n, urn Gewalt bekampfen zu konnen. Denn die in dieser Forschungsrichtung dominierende Annahme, da ss Gewalt sich auf eine oder mehrere ei nde utig bestimmbare Ursachen zuruckfllhren lasst, legt die Schlussfo lgeru ng nahe, dass sich mit der Abschaffung oder Anderung der entsprec hende n auslosenden Bedingungen auch die Gewalt selbst bekampfen oder in ihrem AusmaB vennindem lieGe. Insofern ist die Erforschung der Ursac hen von Gewa lt bereits Tei l eines Progra mms zur Preventio n und Eindamm ung vo n Gewalt. Diese Einschatzung von Gewalt als durch bestimmba re Ursachen hervorgerufen , impliziert aber auch, dass Gewalt als Reaktion auf verschiedenartige gesellschaftliche Problemlagen zu betrachte n ist. Damit erhebt die ursachenorien tierte Gewaltforschung den Anspr uch, Gewalt rational zu erklaren und prinzlpiell nach vollziehbar zu mac hen. In de m Bemuhen, aus der Ana lyse von Gewaltursache n zugleich Prave ntionsstrategien abzu leiten, ist diese Art sozialwissenschaftlicher Ge· waltforschung eher praxisorientie rt. Sie wird dahe r von staatlichen bzw . offentlichen Institutio nen haufig mit entsprechenden Forschungsvorhaben beauftragt (vgl. etwa die Arbeit der "Gewaltkommissio n") .
3.2.1 Der Gewaltbegriff Aufgrund der erwa hnten Heterogenltat der Wissenschaftler existieren ve rschiedene Auffassungen dartiber, was unter Gewalt zu verstehen ist. So lassen sich gnmdsatzlich aile im zweite n Kapitel aufgeflihrten Gewa ltbeg riffe in dieser Forsch ungsrichtung ausmachen, vielleicht mit einer kleinen Einschrankung: Der Ga ltungsc he Begriff der "strukturellen Gewalt" wird meistens als zu weit gefasst bet rachtet (vgl. z.B. Tillmann 1995: 12; Horns tein 1996: 23f.). In ei ner Art .Mtnfmatkonsens" lasst sich die Gewalt als korperllche Attack e ausmachen, urn dann von diesem Punkt ausgehend in versc hiedene Richtungen erw eitert zu werden (Tillmann 1995: 10). I Mil dieser Ru.e ichnung soil im Foigenden der von den . Jnnovareuren'' fUr diese Art der Gewaltforschung gebrauchte Terminus des MMa inslream" weilgehend erselll werden.
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Die genannte "Gewaltkommission" etwa definiert Gewalt wie folg t: .Der Gew altbegriff soil aus der Sicht des staatlichen Gewaltmonopo ls bestimmt werden. Dabei soli es primar urn Formen physischen Zwanges als notigender Gewalt sow ie Gewa lttatigke iten gegen Personen und/oder Sach en unabhangig vo n Notigungsi ntentionen gehen. Ausgeklamrnert werden sollen die psychisch vermittelte Gewa lt im Stralsenverkehr und die strukturelle Gewa lt." (SchwindlBaumann 1990a: 38) In dieser Definition sind bereit s sowo hl physischer Zwang als auch Gewa lt gegen Sachen neben der Gewalttatigkeit gege n Personen enthalte n. Die Intention des Talers ist laut dieser Definition nicht maBgeblich , das hei Gt, es muss nich t not wendig eine Intention zur Schadigung vorliegen. Praktisch bedeutet dies, dass beispielswe ise sowohl Sitzblockaden oder das Blockieren von Sc hienenstrangen durch Protestierende (ebd.: 52ff.), Vandalismus und Sachbeschadigung an 6ffe ntlic hen Einrichtungen (ebd.: 62f.) als auch brutale Ubergriffe von Sc hule m auf andere Schuler (ebd .: 68f.) ode r Vergewaltigung und Mord (ebd.: 73) als GewaIt ge lten. Gewa lt kann som it nach der Definition der "Gewaltkommission" ganz unterschi edliche Phanomene bezeichnen. Trotz der Feststellung, dass der Gewa ltbeg riff der "Gewahkommissio n" schon ein weites Spektrum umfasst, gibt es dennoch Forscher, die diese Definition krit isieren, da sie andere Formen der Gewa lt ausblendet, wie etwa "die Formen psychischen Drucks, psyc hischer Erpressung und Verletzung" (Horn stein 1996: 23), die vor allem fur das Verhalten zw ischen Kindem und Ju gendlichen in der Schule relevant sind. Auch Klaus-Jtirgen Till mann stellt fest: .Jndem man einzelne ausgrenzt oder abwertet, indem man sie beleidigt, erniedrigt ode r emotional erpresst, wird eine Person oft viel starker .verletzt' als durch einen T ritt gege n das Schie nbein." (Tillmann u.a. 20Cl0: 20) Dem Begriff der psychischen Gewalt wird somit von einigen Forschern, besonders im padagogischen Bereich, ein betrac htlicher Stellenwert beigemessen. In Bezug auf die Sc hule ist auch der Begriff der institutionell en Gewa lt durchaus gebra uchlich, da die Struktur der Sc hule mit ihrem Prinzip von Notenvergabe und Versetzungszeugnissen oder aber der macht vollen Position des Lehrers als Druck , der auf die Schuler ausge ubt wird, und dem sie unterlegen sind, betrachtet wird (Till mann u.a. 2000: 22). Das Repertoire an Gewalt, mit dem sich diese Forsc her haupt sachli ch besc hafti gen, ist vor allem das der "alltaglichen Gewa lt". Es handelt sich uberwiegend urn Gewalt im offentlichen Raum , in Familie, Schule und Beruf. Ein stark bearbeltetes Feld unter diesen Gewaltphanomenen ist sicherlich auch das der fremdenfe indllchen Gewalt . Makrogewaltphanomene ode r Faile ext remer Gewalt sind hier nur selten Gege nstand der Forschung. Das Hauptaugenmerk bei der Frage, was Gewalt eigentlich ausmac ht, lleg t auf der Perspektive des Taters. Das Opfe r bleibt in der Analyse weitge hend unberilcksic btigt. Dies zeigt sich in dem AusmaG, in dem Uberlegungen zu den Faktore n angestellt werden, die es wahrscheinlicher mach en, dass eine Person Gewalt anwe ndel (vgl. z.B. SchwindIB auman n 1990a: 57f. , 63f. , 66; Eckert/W illems 1996: 49ff.). Konkret bedeutet dies, dass etw a alters-, gesc hlechts-, herkunfts-, ode r bil-
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dungsbedingte Hauflgkeiten in Bezug auf Gewaltanwendungen festgestellt werde n, was wieder dafl lr spricht, die Grunde fur gewa lttatiges Verhalten in aulseren Faktoren bzw. deflzitaren Lebensumstanden zu suchen. Damit werden Prognosen Ilber die Zu- oder Abnahme oder Aussagen tiber vorhandene Te ndenzen der Gewalt angestrebt. An dieser Analyse auBerlicher Faktoren wird bereits deutlich, dass Gewa It, 50fern sie auf bestimmte Ursachen zurilckfilhrbar ist, rational erklart werden kann. Denn die Rtickfiihrung von Gewalt auf auBere oder innere Problemlagen bedeutet, dass die Gewalt ein Ausdruck dieser Umstande und somit veranderbar ist, wenn man die auslosenden Umstande andert oder beseitigt. Die Gewalt stellt einen Storfall im Zivilisationsprozess dar, den es zu bekampfen gilt und der gemaf den eigenen Annahmen auch bekampft werden kann. Die Mehrheit der scz ialwissenschaftlichen Gewaltforscher bewertet Gewalt zudem eindeutig negativ. Die "GewaItkommi ssion" bringt diese Annahmen folgendennaBen auf den Punkt: "Gewalt ist ein Problem. Sie ist asozial in dem elementaren Sinne, dass sie auf den andere n keine Rucksicht nimmt; sein Wille wird auBer Kraft gesetzt. Sie widersp richt dem Grundgesetz zivilisierter Gesellschaften [ ... l-" (Schwind/Baumann 1990b: I f.) Die Pramisse der prinzipiellen Vermeidbarkeit von Gewalt und die eindeutige Negativbewert ung von Gewalt legen die Bestrebungen der ursachenorientierten Gewaltforschung, Begrenzungs- und Praventionsstrategien zu erarbeiten, geradezu zwingend nahe. 3.2.2 Erk liirungsansiitze und Prevention
Die Faktoren, die von der ursachenorientierten Gewaltforschung als Ursac hen vo n Gewa lt ausgemacht werden, sind nicht immer streng soziologischer Natur. Vielmehr werden auch Anleihen bei benachbarten Disziplinen gemacht, wie etwa de r Padagogik, der Psychologie und anderen Gebieten. Desweiteren lasst sich feststellen, dass diese T heorien und Erklarungsansatze haufig miteinander kombiniert werden, sich erganzen und gemeinsam fur die Erklarung einzelner Gewalt phanomene genutzt werden. Es kommen vor allem folgende atio logische Erklarunge n von Gewalt durch die ursachenorientierten Ansatze zur Anwendung: - Lemtheoretische Annahmen: Sowohl konformes als auch abweichendes Verhalten wird in einem sozialisat ionsinternen Prozess erlemt. MaBgeblich fi lr die Wahrscheinlichkeit aggressiven oder gewalttatigen Verhaltens ist, ob dieses belohn l oder bestraft wird (vgl. Lamnek 1997: 2lf.). - Deprivationsansatze: Gewalttatiges Handeln wird mit ,,schwierigen" soziookonomischen Lebensumstanden (Arbeitslosigkeit, Armut, geringe Schul bildun g, Schulversagen, Perspektivlosigkeit erc.) in Zusammenhang gebracht (vgl. Eckert /W illems 1996: 49f.). - Anomietheorie: Zwischen den allgemein verbindlichen kulturellen Werte einerseits und der sozialstrukturell determinierten Verteilung der legitimen Mittel zur
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Zielerreichung andererseits besteht eine Kluft. Abw eichendes Verhalten wi rd als Anpa ssun gsstrat egie an diesen Zustand begriffen , insofem die kulturell en Ziet e der Gese llschaft geteilt, die Pfade legitimer Mittel jedoch verlassen werde n. Sta ttdessen we rde n Illegitime Mittel wie etwa Gewalt angewendet (vgl. Lamnek 1997: 19f.). - Desintegrationsansatz : 1m Mittelpunkt stehl der Moderni sierungspro zess , dessen ..Schattenseiten" die Gefahr sozialer Desintegrati on beinhaltet. Besonde rs Ju gendliche sind mit vielfaltigen ambiv alenten Lebenslagen konfrontiert, die ihnen mehr oder wenige r groBe Schwieri gkeiten berei ten. Gewalttatiges Handeln kann eine Strategie sein, mit diesen Ambivalenzen urnzugehen (vgl. Heitmeyer u.a.: 1995: SOL). - Subkulturtheorie: Hier besteht die Annahme, dass die Gesa mtgesellschaft au s versc hiede nen, heterogenen Teilsysteme n besteht, die tiber je eigene Werte - und Normensysteme verfugen . Die Anwendung von Gewalt ist zwa r gesa mtgesellschaftlich als ,,abweichendes Verhalten" zu bezeichnen, kann aber mit den W erten ein er bestimmten Subkultur (z.B. Hooligan s) in Einklang stehen und dort po sitiv sanktionierl werden (vgl. Lamnek 1997: 20f.) . • Mangelnde Sinnbexuge : Diese Erklarun g geht von schwindenden SinnbezOgen in der Gesellschaft und der Ereignislosigkeit des alltaglichen Lebens a us. Ge walt kann in diesem Sinne ein Versuch sein, eindeutige SinnbezOge wieder herzustellen und Verbindli chkeiten zu schaffen (Rauchfl eisch 1996: 115). Je nachd em mit Hilfe welch er Ansatze Gewaltph anomene erklart we rden, fallen auch die Vorschlage zur Prevention unterschiedlich aus: " Die An twort en auf die se Fragen [wie man der Gewalt wirksam begegnen konne, 8. H.] werden immer sehr eng z usammenhangen mil der Vorstellun g, wo her die Gewalt kommt." (Hornstein 1996: 33) 3.2.3 Menschenbild Aus der Kenn tnis dieser atiologischen Erklarungsansatze lassen sich nun Ruckschlusse auf das Menschenbild der ursachenorient ierten Gewa ltforschung z iehen. Denn die Ableitung gewalttatigen Handelns aus den verschiedenen genannten Urnsta nden legt nahe, dass in der ursachenorienti erten Gewaltfo rschun g beztiglich der .Natur des Menschen" die Annahme uberw iegt, dass der Mensch ein neutrales oder prinzipiell friedfertiges Wesen sei, welches nieht von Natu r aus zu Gewalttatigkeite n neigt. Der Mensch wird durch keinerlei Triebe oder Instinkt e zu gewalttatigem Handeln veranlasst, noch wird er aufgrund seiner anthropologischen Besc haffenheit generell zu Gewalttaten ged rangt. Ware dies der Fall, so ware auch die Vorgehensweise, nach Ursachen der Gewalt zu suchen, die in der augere n Umwe lt des Individuums liegen oder sich aus seinem individu ellen Hintergrund ableiten lassen , nieht plausibel. Ausschlaggebend dafur, ob sicb jemand gewalttatig verh alt oder nic ht, sind dieser Auffassung zufolge die liufteren Umstd nde, also die Form der
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Erziehung, der Zugang zu Bildung und Oualiflkationsmogllchkeiten, die materielle Situation, die soziale Herkunft, gesellschaftliche Rahmenbedingun gen etc., oder innere Dispositionen, wie z.B. psychische Storun gen ode r auffallige Persdnlichkeitsmerkmale. Damit wird die Gewa lt aus dem Bereich des Norma len verdra ngt und als eine Form der Abweichung, als Ausdruck einer Storun g (der Gesellschaft, der Familienstruktur, der Personlichkeit etc.) vers tanden. Gewa lt ist in diesem v erstandni s eine unter verschiedenen Handlungsstrategien, "mit denen Akteure belastenden gesellschaftlichen Bedingungen begegnen [ ... ]" (Albrecht , G. 2002: 795). Die Gewa h ist somit etwas AuBeres, ein Mittel, eine Form des Ausdruc ks oder Umgangs, zu dem das Individuum greifen kann ode r auch muss, insofern auBere Zwange und defizitare L.ebenslagen es dazu zwi ngen und ihm keine anderen Handlungsmoglichkeiten zur Verfiigung stehen ode r ihm alternative Handlungsmoglichkeiten nicht als solche bewusst sind, etwa wei! sie nicbt erlemt werden konnten. Werden allerdings diese Rahmenbedin gungen verandert , wird also der Druck, der auf dem Individuum lastet, verringert, oder we rden dem Individuum Moglichkeiten geboten, den gewaltlose n Umgang mit schwierigen Situationen zu erlemen , so wird es auch nicht mehr in gewalttatigem Handeln Zuflucht suchen. Somit wird hier das BUd eines Menschen entworfen, der von augeren Umstanden im positiven wie im negativen Sinne formbar ist, sodass negative Einfliisse ihn dazu lreiben kdnnen, Gewalt gegen seine Mitmenschen a nzuwenden, eine Aufhebung dieses auBeren Drucks oder die Moglichkeit der Kompensation ihn aber auch wieder dazu anhalten, von der Gewalt abzulasse n. 3.2 .4 Theoretisc h-methodologisches Konzept Auch in Bezug auf die theoretisch-methodologischen Konzepte ze igt sich eine groBe Heterogenitat der ursachenorientierten Gewa ltforschung, die sich in hochst unlerschiedliche Vorstellungen iiber angemessene Forschungsdesigns Iibersetzt. Es we rden sowo hl qualitative als auch quantitative Verfahren verwe ndet, wobei den quantitativen Methoden der Vorrang eingeraumt wird. Dabei werden in der Gewaltforsc hung prinzipiell die gleichen Verfahren angewe ndet, die auch zur Erforschung anderer sozia ler Phanomene eingesetzt werden. Vorherrschend scheine n Fragebogenuntersuchungen zu setn, aber auch die Auswertu ng von bereits vorhandenen empirische n Daten, wie z.B. polizeilichen Kriminalstatistiken, k linischen Date n oder Berichten von Komm issionen, ist gangig (Do llase/Ulbrich-Herrman n 2002 : 1513ff.). Manchmal werde n die Analysen als Langs- oder Querschn ittstudien angelegt, urn Aussagen uber historische Entwicklungen treffe n zu konn en oder den Erfolg sozialer oder politischer Programme zu testen (vgl. z.B. Heiland 1999: 883ff.). Oder es werden Studien durchgefiihrt, die gewa lrtatiges Handeln auf einen korr elationsstatistischen Zusammenhang mit anderen (unabhangigen) Variablen hin untersuchen und dariiber Ursac henzusam menhange auszumachen versuchen. Daneben we rden in der ursachenorientierten GewaItforschung auch Methoden der
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Ethnographie verwendet, in denen verschiedene Einzeltechniken wie teilnehmende Beobachtung, offene Interviews und Gruppendiskussionen zurn Einsatz komme n (BiittgerIStrobI2002: 1485f.).
3.2.5 Erkenntnisinteres...e Auch das Erkenntnisinteresse der ursachenorientierten Gewaltforschung hangt sehr eng mit der Fokussierung auf die Ursachen von GewaIt zusammen. SchlieBlich ist die Ursachenanalyse kein Selbstzweck, sondern folgt praktischen Erfordemissen. Das Erkenntnisinteresse ist es dann etwa, der Gewalt mit adaquaten Praventlonsoder nctige nfalls Repressionsstrategien zu begegnen, urn sie einzudammen oder genzlich zu verhindern. Auch die Forschungsdesigns folgen den Anforderunge n der praktischen Anwendbarkeit und Umsetzbarkeit (vgl. dazu Bohle 1999: 734ff.). Manches Erkenntnisinteresse ist von der Annahme geleitet, dass Gewalt einen Sto rfall und einen Rilckschritt im fortschreitenden Zivilisierungsprozess darste llt. Aber es existieren auch gegenteilige Auffassungen, die davon ausgehen, dass Gewalt ein .normates'', wenn auch nicht wunschenswertes gesellschaftliches Phanomen darstellt. Konsens besteht allerdings tiber die Negativbewertung von Gewa lt und die Vorstellung, dass Gewalt prinzipiell venneidbar ist, auf jeden Fall bekampft oder eingedam mt werden muss. Das Ziel dieser Forschung ist es daher oftmals, Problemlagen als Ursachen von Gewa lt ausfindig zu machen und aus dem gewo nnenen Wissen uber die auslosende n Mechanismen und Rahmenbedingungen Moglichkeiten der Pravention oder Repression von Gewalt zu gewinnen (vgl. exemplarisch fur dieses Vorgehen das Konzept der "Gewaltkommission"). Die gewaltauslosenden Ursachen sollen soweit wie moglich bearbeitet werden, urn de n Menschen einen gewaltlosen Umgang miteinander zu ermoglichen,
3.3 Die " l nno vateure U Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern in kritischer Auseinandersetzung mit der ursachenorientierten Gewaltforschung herausgebildet. Diese Kritiker, die im Foigenden ihrer Selbstbezeichnung nach "Innovateure" genannt werden, haben die Mangel der ursachenorientierten Gewaltforschung aufgegriffen und ein eigenes Programm entwickelt, welches sie fur geeignet halten, sich Gewaltpha nomenen zu nahem. 1m Gegensatz zur groBen Gruppe der ursachenorientierten Gewaltforschung stellen die .Jnnovateure" eine relativ uberschaubare Gruppe von Sozialwissensc haftlem dar. Allerdings ist auch diese Gruppe nicht so homogen, wie es zunachst den Anschein hat. So lassen sich die .Jnnovateure" zumindest in zwei Gruppen einteilen. Die eine Gruppe stellt die .wirklichen Vordenker bzw. die Avantgarde" (l mbusch 2004: 127) dar und erschopft sic h im w esentlichen in der Person Wolfgang Sofskys. Die ande re Gruppe ist als .Llnterstutzer- und Sympathisa ntenkreis'' (ebd.) zu betrachten und vor allem
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im Hamburger Institut fur Sozia lforschung verortet ; hinzu kommen einzelne Personen wie Trutz von Trotha , Birgitta Nedelmann, AIf Luedtke . Diese sind zwar ebe nfalls an der Entwicklung einer "genuinen Soziologie der Gewalt" interessiert, jedoch mittlerweile zu Wolfgang Sofsky auf Distanz gegangen. Uber die Kritik an der ursachenorientierten Gewaltforschung hinaus haben die .Jnnovateure" den Ansp ruch, durch eine neuartige Herangehensweise "Wege zu einer genuinen Soziologie der Gewa lt" (von T rotha 1997: 9, 20) auszuloten, in der folglich nicht mehr die Ursachen von Gewalt, sondern die Gewalt selbst im Mittelpunk t ste bt. Hierbei wird allerdings nicht nur die aktuelle Gewallforschung, sondern auch die soz iologische Theorie aufgrund ihres mangelnden Rilstzeugs fur eine Sozio log ie der Gewalt kritisiert. Aus diesem Grund stammen die Hauptimpu lse fi ir die .Jnnovateure" und ihre Arbeit auch aus anderen Diszipli nen: Es sind vor allem Elias Canetti und Heinrich Popitz, deren Untersuchungen "die wichtigste Entwicklungslinie zu einer genuinen Gewaltanalyse" (von Trot ha 1997: 16) markiert haben und die daher als fruchtbare Ausgangsp unkte fur eine Sozio logie der Gewalt betrac htet werde n.
3.3.1 Kritik am " Mainstream " Die Kritik, die die .Jnnovateure'' an der vorherrschenden Form der Gewaltforschung Ilben, klingt schon in der Bezeichnung dieser als "Soziologie der Ursachen von Gewa lt" (von Trotha 1997: 16f.) an. Denn aus der ursachenorientierten Analyse resultiert ihrer Meinung nach eine Reihe von Defiziten. So benen nt von Tro tha in seinem ersten Einwand den Aspekt der .Bntdeckungsrelevanz" (ebd.: 18), de r darauf abhebt, dass die etablierte Gewa ltforschung sich darauf beschran ke, langst ausfUhrlich dargelegte Zusamme nhange immer wieder neu zu .enrdecke n''. Zudem bemangelt er, dass gewaltsame Ausbruche bestandig auf irgendeine Form von Unterp rivilegierung zuruc kgefllhrt wurden, was jedoch die tatsachliche Anlasslosig keit, die Gewall zuweilen auszeic hnet, unberucksichtigt lasse. Er betont hingegen den situationsoffenen und prozesshaften Charakter von Gewalt und die Tatsache, dass diese von Jedermann ausgetlbt werden kann und nicht nur von unterprivi legierte n Individuen (ebd: l Sf.). Die Verantwortung, die ein Tate r fl lr sein eige nes Handeln tragt, riicke zudem durch diese Sichtwei se aus dem Blick, sodass die ursa c henorientierte Gewaltforschung eine "Soziologie von Tate m ohne Verantwortung" (ebd .: 19) sei. Sein letzter Einwand bestreitet schlieBlich, dass die ursachenorientierte Gewaltfo rschung uberhaupt als Soziologie der Gewalt bezeichnet werden konne, insofern es ihr gar nicht urn die Gewalt selbst ginge, sondem ebe n urn deren verme intliche Ursachen (ebd.) Durch die Konzentration auf die Ursachen von Gewalt nimmt die etablierte Forschung eine n dezidiert taterzentrierten Blickwinkel ein, da in den Lebensumstanden des Taters die Grtlnde fur sein gewaltsames Handeln verortet werde n. Au ch dies kritisieren die Innovateure, weil damit dem Opfer von Gewalt kein Platz mehr
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einge raumt wird. Sie wollen hingegen das Opfer wieder in das Zentrum riicken und danach fragen, was mit einem Menschen geschieht, dem Gewalt angetan wird (vgl. z.B. von T rotha 1997: 28ff.; Sofsky 2005b: 65ff.). Die Korperlichkei t von Gew alt ist dabei zentral und die Missachtung dieses Aspekts ein weiterer Kritikpunkt der .Jnnovateure" an der atiologischen Forschung (vgl. dazu von Trotha 1997: 27f.; Nedelmann 1997: 73f.). Sofsky bringt diese Einwande folgendermaBen auf den Punkt: "Die Liste bosa rtiger Umstande ist wahrlich umfassend: soziale Benachteiligung, wirtschaftliche Krisen, Armut und Ausbeutung, politische Umbnlc he, der Zerfall des staatlic hen Gewa ltmonopols oder politische Repression, kulturelle Traditionsbindung oder Desorientierung, Werteverlust oder Wertefanatismus, Anomie, Anonymitat, ber uflicher Stress oder Arbeitslosigkeit, Gruppenzwang oder Einsamkeit, desolate Familienverhaltnisse oder Autoritatsverfall an den Schulen, Drogenkonsum, ein Tra uma, eine Depression oder ein psychotischer Schub - all dies soli fiir GewaLt verantwortlich sein." (Sofsky 2002c: 24f.) Die Funktion derartiger Erklarungsvers uche sieht Sofsky darin, "den Begriff der Schuld und der Freiheit zu eliminieren." (ebd.: 25) Durch die Pathologisierung der Gewalt kann die tatsachliche Verantwortung fur Gewalt niemandem mehr zugewiesen werden, die Frage nach individueller Schuld wird vermieden. Eine wirkliche Erklarungskraft bezuglich des Aufkommens von Gewalt spricht Sofsky solchen Umstanden jedenfalls grundsatzlich ab, insofem mit diesen vermeintlic hen Ursachen Umstande beschrieben sind, denen sehr viele Menschen ausgesetzt sind, von denen jedoch nur einige wenige gewalttatig werden: .Es bleibt ein unvoraussagbarer Rest, der sich jeder Erklarung entzieht: die Freiheit, Gewalt auszuiiben oder zu unterlassen." (Sofsky 2002c : 26). Wahrend sich also die ursachenorientierte Gewaltforschung den Blick au f die Gewa lt selbst versperrt, haben es sich die .Jnnovateure" gerade zur Aufgabe gemacht, "Wege zu einer genuinen Soziologie der Gewalt" (ebd.) zu beschreiten, welche bei der Gewalt selbst beginnen. Denn: .Bin Begreifen der Gewa lt ist nicht in irgendwelchen ,Ursachen' jenseits der Gewalt zu finden. Der Schliissel zur Gewalt ist in den Formen der Gewalt selbst zu finden." (von Trotha 1997: 20)
3.3.2 Der Gewa/tbegrif[
MaBgeblich fur das Vorhaben der .Jnnovateure'', zu einer "genuinen Soz iologie der Gewalt" zu gelangen, ist ein sehr enger, auf die absichtsvolle physische Verletzung eines Anderen reduzierter Gewaltbegriff. Deshalb haben sie ihr Versta ndnis von Gewa lt vor allem an Heinrich Popitz' Definition angelehnt: "Gewalt meint eine Machtaktion, die zur absichtlichen korperlichen Verletzung anderer fuhrt, gleichgultig, ob sie fur den Agierenden ihren Sinn im Vollzug selbst hat (als blobe Aktio nsmacht) oder, in Drohungen umgesetzt, zu einer dauerhaften Unterwerfung (als bindende Aktionsmacht) flihren soil." (Popitz 1986: 73) Dieser Gewaltbegriff
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spe rrt sic h ausdrucklich gege n jede begri ffliche Ausweit ung: "WiTwo llen den Begriff der Gewalt nicht dehnen und zerren , wie es ublic h geworden ist." (ebd .) Zudem zie lt er unmittel bar auf die korperlich-leiblic he Dimension von Gewalt ab o Bei Popi tz wie bei Sofs ky wird Gewalt vorwiege nd als anthropo logische Konsta nte versta nden , die nie ganz .verschwtnder', sondern imme r ein Teil menschlicher Vergesellschaftung bleibt. Lediglich ihre Form wec hselt noch. Bei Sofs ky kulminiert diese anthropologische Sic htweise in der A ussage , Gewa lt sci das .Schlc ksat der Gatt ung" (So fsky 2005b : 224). Hier wird offenkundig, dass es sich be i Gewalt und Mode mitat nicht Hinger urn ei n Gege nsatzpaar handelt und er sich von der Vorstellung verabschiedet, dass mit zunehmender Modernisierung und Ausdifferenzierung der Gesellschaft die Gewalt aus dem zwischenmenschlichen Bereich verschwinden wurde. Die Auffassung, dass Gewalt einen partiellen Ruc kfall im Prozess fortschreitender Zivilisierung darstellt, wird als Irrglaube gebrandmarkt: .Der Glaube an die Zivi lisation ist ein eurozentrischer Mythos, in dem sic h die Moderne selbst anbetet. Er ent behrt der realen Grundlage,' (Sofsky 2005b: 224) Vie lmeh r steigert die materie lle Entwic klung einer Gese llschaft Sofsky zufol ge auch deren Destruktivkrafte , die Err unge nschafte n der Moderne stelle n zugleic h die Voraussetzu ngen fur die Gewa ltexzes se des 20. Jahrh underts dar. Folglich sind Kultur und Gewalt nicht vonei nander zu trennen, sondern bedingen sich gege nseitig (ebd.: 218) . Die Cba ncen auf ein gewaltfreies Zusammenlebe n der Mensc hen sind unter diesem Aspekt bet rachtet gering. Sofs ky ist der Meinun g, dass Gewalt in kei ner Gesellschaft zuverlassig verhindert werde n kann (Sofsky 2OO2c: 26) . Auc h bei Popitz iSI ein wei tgehend gewaltfreies Zusammen leben nur mithi lfe von Instit utionen und auch dann nur annaherungsweise denkbar, da die Institutionen ihrerseits wieder der Gewalt bedu rfen und daher augerst kritisc h zu betrachten sind (Pop itz 1986: 87ff.). Dieser Pessimi smus resultiert daraus, dass allein die Handlungsfa higkeit des Men schen (Sofsky 2005 b: 224) , seine Instinktentbund enheit, seine Vorstellungskraft und seine Fablgkeit zur Herstellung von Waffen (Popit z 1986: 78, Sofsky 2005b: 224) a ls Grundlagen dafiir betrachtet we rden, dass Menschen Gewalt gegenei nan-
dcr auch anwenden. Der Gewaltbegriff ist bei den .Jnnovateuren'' zude m nicht auf den zweckrationalen Einsatz von Gewa lt beg renzt, sondem Gewa lt kann jederzeit auch urn ihrer selbst willen ausgeleb t werden. Sofs ky kritisiert das Vorge hen der ursach enorientierte n Gewaltforschung, welc hes oft darin bestehe, den "Sinn" hinter der Gewalttat zu suchen. Er halt dieses Vorgehen fur fragwu rdig : ,,Aus der Tatsac he, dass Men schen einander Gewalt antun, folgt mitnichten, dass ihr Verhalten stets mil einem Zweck verb unden sei, der dem T un die Richtung gibt und das Leiden sinnhaft uberhoh t.' (Sofsky 1997: 105) Gewalt kann auc h sich selbst zum Zwec k haben, sie kann jeglichen Sinnes und jeglicher Zwecke auBerhalb ihrer selbst entkIeidet sein. Weitere Anha ltspunkte fiir das Gew altverstandnis der .Jnnova teure" finde n sich bei von Trotha (199 7). Dieser weist etwa darauf hin, dass die Gewalt eine ",Jeder-
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manns-Ressource ' und eine ,norma/e' Machtaktion und Konfliktstrategie Ist." (ebd.) Jeder Mensch konne Gewalt anwenden, ohne dass er zwangslauflg sozfo kulturell benachteiligt ist, eine mangelhafte Bildung genossen hat oder unter ei nem autoritaren oder antiautoritaren Erziehungsstil der Eltem gelitten hatte. Diese Feststellung verwe ist auf das, was Popitz im Sinne eines anthropologischen Merkmals als "relative lnstinktentbundenheit" (Popitz 1986: 73) des Menschen bezeichnet. Die Kategorien, die sich aus Pe pita' Arbeiten ergebe n sind nicht etwa sozialstr ukturelle Benachteiligung oder sozia lisalionstheoretische Defizite, sondern lassen sich vielmehr mit "Gelegenheit, Zufall, willensfreiheit'' charakterisiere n, und sind "fU r die verbreiteten Rationalitatskriterien der Soziologie schwer zu verda uen'' (Ne umann 1995: 66). Den nachsten Punkt, den von Trotha als wesenhaft fur die Gewalt betrachtet. ist der dynamische Charakter von Gewalt. So kann Gewalt einmal als Interaktions prozess eskalieren und die Form einer "Gewaltspirale" annehmen, kann aber auch als ein sich im Vollzug selbst entgrenzender Prozess auftreten (von Trot ha 1997: 25). Auch die BerUcksichtigung der Tatsac he, dass gegebenenfalls nicht nur Ta ler und Opfer, so ndem auch Dritte, so z.8. Zuschauer, fur den Prozess der Entfesselung von Gewa lt auBerst relevant sein konn en (Nedelmann 1995: 12), muss unter dem Aspe kt der Dynamik von Gewalt betrachtet werden. Zudem weist von Trotha der Gewalt eine eigene Zeit zu, was sich darin a uaert, dass z.B. unter extremer Gewalteinwirkung sowohl Dauer ats auch Situatio nal itat zusammentreffen und einen Zustand der Verzweiflung beim Opfer hervorrufen (von T rotha 1997: 25f.). Auch die stetige Prasenz von Gewalterzahlungen in geschichtlichen Uberlleferungen verweist auf die .Brinnerungsmac htigkeit" von Gewalt und somit auf die Oualitat von Gewalt, Zeit zu strukturieren (ebd.: 26). Gewalt verfUgt tiber einen sir mlichen Aspekt, was maBgeblich fur das Verstandnis der Ambivalenz von Gewalt ist. Gewalt wird als .Jnbegriff der sinnlichen Erfahrung" (ebd.) bezeichnet und bezuglich dieser Oualitat mit sex uellen Handlungen verglichen. Denn im Mittelpunkt jede r Gewalthandlung steht der Kerper auf der einen Seite der Ke rper, der je mandem etwas antut, auf der anderen Seite der Ke rper, der Gewalt erleidet (ebd.: 26f.). Da jede Gewalttat t iber den Ke rper in Form von Antun und Erleiden vermitteh ist, musse der Ke rper auch der Bez ugspunkt jedweder Gewaltforschung sein. Die ursachenorientierte Gewaltforschung tendiere dagegen "in ihren empirischen Untersuchungen faktisch zu einer .ve rgeistigten', blutleeren Gewaltanalyse" (Nedelmann 1997: 62). Die Beriicksicht igung des Sinntichkeitsaspe ktes, mit der eine Kritik am mangelnden Begriff von Ke rperlichkeit in der Soziologie im Allgemeinen einhergeht (Nedelmann 1995: 13f.; von T rotha 1997: 27f.), ebnet den Weg fur die .jnnovateure'', das Opfer starker in den Mittelpunkt zu rucken und das von ihm erfahrene Leid zu thematisiere n. Ihnen geht urn ein Verstandnis davon, was mit dem Opfe r unter der Einwirkung von Gewalt geschie ht. Besonde rs Sofsky und von Trotha haben sich mit dieser Frage beschaftigt. Sofsky stellt mehrfach dar, wie das Opfer von extremer Gewalt unter der Ein-
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wirkung unertraglicher Schmerzen zur .Kreatur wird, es jegliche Kontrolle tiber den eige nen Kerper verliert. Es kann kein Abstand zum Kerper mehr eingenommen werde n, denn dieser ist durch den Schmerz Ilbermachtig geworden (Sofsky 2005b: 73f.). Von T rotha bezeichne t diesen Prozess des Wandels von der Instru men talitat des Korpers zur Verleiblichung unter massiver Sc hmerzei nwir kung als "die Erfahrung, dass exzentrische Positionalitat [nach Helmuth Plessner, R H.] nicht nur variabe l ist, sondern auch verloren werden kann." (von Trot ha 1997: 28) Da sich der so erlebte Sc hmerz nicht von ande ren nacherleben lasst, ist er zug leich ein Prozess der Vereinsamung. Die Ohnmac ht des Opfers lasst dieses an se inem eige nen Ke rper, der ihm nicht mehr gehorcht, verzweifeln: .Verzweltlu ng, Einsam keit und Verlassenheit - das sind die Grunderfahrungen von Gewa ltop fern" (ebd.: 31), und es sind dies Erfahrungen, die das Opfer nie wieder ga nz losl assen (Sofs ky 2005b: 70, 80f.). Fur den Tater hingegen ist dieser Schmerz des Opfers eine Ouel le des Machtgefuhls, er hat die Macht, das Opfer in die " Wirklichkei t der Notwendigke it'' zu zwi ngen (von Trot ha 1997: 31). Unter der Berucksichtigung dieser spezifischen Oualitaten von Gewalt wo llen die Kritiker der ursachenorientierten Gewaltforsc hung auch Formen der Gewalt in den Griff bekommen, in denen man einen "Si nn" vergeblich sucht oder die ihren Sinn im Vollzug der gewalttatige n Handlung selbsl haben.
3.3.3 Menschenbilder Auch in dem Menschenbild der .Jnnovate ure" lassen sich die starken Einflusse von Popitz und Canetti deutlich erkennen. Ausgehend von diesen soli nun das Menschenbild der .Jrmovateure" in Bezug auf die Gewa lt rekonstruiert we rde n. Popitz nimmt in seine r soziologisc hen Anthropo logie zuerst die korper liche Beschaffenheit des Mensehen in den Blick. Danach ist jeder Mensch prinzipiell sowohl verletzungsmachtlg - er kann andere Menschen verletzen - als auch verletzungsoffe n - er kann verletzl werden. Diese Tatsache und das Wissen daruber spielen im Zusammenleben der Menschen immer eine Rolle (Popitz 1986: 68f.). Die Grenze dieser Verletzungsmacht ist der Tod. 1m Tod findet jede Gewalt ihren Endpunkt, daruber hinaus ist sie nicht steigerungsfahig. Die Bedingungen der korpe rlic hen Besehaffenheit und des mensch liche Bewusstseins I lber Verletz ungsoffenheit und Verletzu ngsmiichtigkeit sind bei Popitz mit der Betrachtung von Mac htverhaltnissen verbunden. Popitz nennt drei anthropo logische GrundJagen, die fur das Verstandnis von Gewa lt maBgeblich sind, da sie der ,,Entgrenzung des menschlichen Gewaltverhiiltnisses" (Popitz 1986: 73) Vorsc hub leisten. Der erste Aspe kt ist die Instinktentbundenheit des Menschen. E', glbt keine Instinkte, die dafilr sorgen, dass der Mensch Gewalt anwenden muss (im Sinne ei nes Handlungszwanges), aber es gibt auch keine Hemmun g, die ihn an der A ustlbung von Gewa lt hindert oder diese begrenzt (im Sinne einer Handlungshemmung). Die daraus result ierende Kontingenz resumiert er wie folgt: .Der Mensch muss nie,
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kann aber immer gewa ltsam handeln, er muss nie, kann aber immer tote n - einze ln ode r kollektiv - gemeinsam ode r arbeitsteilig - in allen Si tuatio nen, kampfend oder Feste feiernd - in verschiedenen Gemu tszustanden, im Zorn, ohne Zorn, mil Lust, o hne Lust , schreiend oder schwe igend (in Todesstille) - fur aile denkbaren Zwecke - jederma nn." (ebd.: 76) Die zweite anthropologische Bestimmung des Menschen , die in Bez ug auf Ge wa lt relevant ist, ist die .jn enschliche Vorstellungsfahlgkeit, die Uferlosigkeit der Vo rstell ungsfahigkeit'' (ebd.: 76), eine Vorstellun gskraft, d ie keine Gre nzen hat und ..obsessiv und durchdringend" iSI (ebd.: 77). Popi tz sc hliel3t aus dem Umstan d, dass in der Vo rstellung alles moglic h ist und Gewa lt ohne die Gre nzen der Reali tat gedacht werde n kann, auch in der Realitat Grenzilberschreitungen angest rebt und Gewaltvorstellu ngen, zwar nicht zwangslaufig, aber zumindest po tentiell, in Han deln umgesetzt werden : ,,Aus erdachter Gewalt wird faktisc he Gewalt." (eb d.} Inst inkte ntb undenheit und grenzenlose Vorstellungskraft erganzen und vers tarke n sic h sc hliel3lich gegenseit ig und milssen daher auch gemei nsam betrac htet werde n. Ein dritter Aspe kt iSI das, was Popitz als .Bntgrenzung des Konn ens'' (ebd.) bezeiehnet. Popi tz mein t damit die spezifisch menschliche Fahigkeit , Artefakt e he rzustel len , die die Verletzung und Totung anderer Mensche n immer effizient er machen (eb d.: 78, 98ff.). Diese drei anthropo logischen Bedingungen lassen sie h nieht aufhebe n und bleiben eine polentielle Gefa hr der Entgrenzung von Gewa lt. Allerdin gs is! de r Me nsc h ebenso dazu fahig, unter bestimmten Umstanden diese Gefahr einz uhegen, zu begre nzen. Die Errichtung einer sozialen Ord nung stellt einen solchen Ve rsuch der Befriedun g menschlicher Verhaltnisse dar, er bei nhaltet jedoch ein Paradoxo n: .Soztate Ordnung ist eine notwendige Bedingung der Eindammung vo n Gewalt Gewa h ist eine notwendige Bedingung zur Aufrechterh altung soz ialer Ordn ung ." (Popitz 1986: 89) Canettis phanome nolog ische An thro pologie hat mit Popitz ' Ansa lz ge mei n, dass auch sie auf der Sterbliehkeit des Menschen grundet . Bei Canetti ist der zentrale Begriff der des "Uberlebens", welche r mit der Macht in eins fallt: .Der Au genblick des Uberlebens ist der Augenblick der Mac ht." (Ca netti 2003 : 267) Von " Oberleben" lasst sich aber nur dann sprec hen, wen n als Alternative das .Sterben " im Bew usstsein veran kert ist: Zwar hat der Tod anderer Menschen im ers ten A ugenbliek etwas Erschreckendes, da er den , der ihm gege nilber steht, mit seiner eigenen Sterbliehkeit konfrontiert. Allerd ings wi rd dieser Schrecken bald abgelost von dem Gefl lhl der Genugt uung. Genugtuung darub er, dass es der andere ist , der gestorben ist (Canetti 1972: 8f.). Dieses Erlebn is spielt bei Canetti eine Schlllsselrolle, er besc hreibt es als nahezu euphorisches Geft ihl, als "Geflihl der Erhabenheit tiber den To ten" (ebd.: 9). Der To d kann in dem Moment, wo er eine andere Person erei lt, von der eige nen Sterblichkeit able nken. 1st zunachst das Gefli hl des Uberlebe ns noch auf zufallige Begegnungen mit dem Tod anderer besc hran kt, so kann es sich zu ei ner Passion steigem, die nach Wiederholung verlangt: ,,AIle Absichte n
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des Menschen auf Unsterblichkeit enthalten etwas von der S ucht, zu uberl eben. Man w ill nicht nur imme r da sein, man will da sein , wenn andere nicht mehr da sind." (Canetti 2003: 267) Die Gewalt kommt ins Spiel, wenn Ca nett i sagt: " Die niedri gste Form des Uberlebens ist die des Totens" (ebd. ). Die Angst vor Tad und Verletz ung kann VO T allem in Situationen iiberw unden we rden, in denen es zu einer di rekt en Kon frontation mit der Gefahr des Todes kommt. 1m Kampf lasst sich sc hlieBlich das GefUhl des Ube rlebens und daruber hinaus das GefO hl der Unverletzb arkeit erleben, und das umso mehr , je mehr Kiimpfe unversehrt uberstanden werden. Immerhin ist del Kampfende der Gefahr nicht ausgewichen, sondem hat sic h ihr gestellt - und hat Iiberlebt (ebd. : 268 f.). Hat sich das Gefuhl des Oberlebens zu einer regelrechte n Passion ausgewe itet, so bedarf es immer neuer Situatlonen des Uberlebens. Ca netti besch reibt die Person des Feldhe rm , der nicht mehr se lbst toter, sondern toten lasst (ebd.: 27 lf.), sow ie die Person des Machthabers, der sich sc hlieBlich zum Herm tiber den To d emporschwi ngt , ihn tiber se ine .Llnterta nen" verhangt wann es ihm gefallt und selbst vom Tod unb enlhrt bleibt (e bd.: 273f.). Die drei Prototypen des Uberlebe nden (Kri eger, Feldherr, Machthaber) sind bei Ca netti Zeugen filr den Sch recken, den der Too gege nuber dem Menschen aufgrund sei nes Wissens tiber diesen ausstrahlt, und fiir das dara us resultierende Bestreben, Sit uatio nen des Ube rlebens zu kreieren. So fsky kniipft mit sei nem Menschenb ild in einigen Punkten direk t an Pop itz und Ca netti an . Das Bewusstsein des Me nsc hen tiber seinen Tod fin det auch bei ihm Beachtung (vgl. Sofs ky 2005b : 2 15), hat hier j edoch zur Folge, dass die Kult ur als Rezept gege n die Todesa ngst herhalten muss (ebd.). Desweiteren bezieht sich Sofsky explizit auf das Gefllhl des Ube rlebens: .Der Tod ist die Gewalt schlechthin , d ie abso lute Kraft. An d ieser Kraft teilzuhaben, verschafft eine ga nz seltene Ge nug tuung. Wer noch am Leben ist, wo ande re schon tot sind, erfahrt den Enthusiasmus des Uber lebe ns." (Sofsky 2005b : 58) Oder: "Sein letzter Grun d [des Totens , RH.] ist der Wahn vo n der eigenen Unste rblichkeit . Der Mensch totet, urn den anderen zu iiberleben. Das Tote n ist die einfachste, die niedrigst e For m des Uberlebe ns." (ebd.) In Bezug auf die gre nze nlose Vorstellungskraft des Mensch en , die fur die .Erflndung neuer Waffen und Gra usa mkeiten'' vera ntwortlich ist (ebd.: 224), bezieht sich Sofsky auf Pop itz. Dieser Gedanke schlagt sich vor allem in dem Kapitel tiber die Tortur nieder, we nn diese als .Laboratori um der destruktive n Phantasie" (ebd.: 92) bezeichnet wird , in dem neue Verfahren der Folter "mit der Leide nsc haft des Erfindens und Entdeckens ausprobiert" (ebd.) we rde n. Die Popi tzsche These vo n der Instink tentbundenheit des Menschen nimm t bei Sofsky diese Form an : "Wei! er nicht von Instinkten gelenkt wird, we il er ein geistiges Wesen ist, kann er sich sc hlimmer au fflihren als die argste Bestie. Weil er ein Kultu rwesen ist, das sic h sei ne Gewalt selbst sc hafft, kann er sei ne Dest ruktivkrafte ins Une rmessliche steigern." (ebd .: 224) Diese "spezifisc h humane Kreativitat" wird nicht durch den technisierte n, rationalen Charakter der Mod erne zuruc kged rangt , so ndern d ie Errungenschafte n de r
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Moderne leisten dem "d estruktiven Erfindu ngsreic htum" des Menschen erst richt ig Vorschub (Sofsky 1994: 61), was Sofsky an der Eign ung des Menschen als Kulturwesen zweifeln lasst. Durch die AusfUhrungen von Sofs ky, Popitz und Canetti entste ht ein Bild, we lches einerse its jegliche Vorstellung des Men schen als instink tgeleitetem Wesen (wie etwa bei Konrad Lorenz) abweist , anderersei ts aber auch die Moglichk eit ausblender, die Formen und das AusmaB der Gewalt an den Zustand der Gese llschaft ruckzu binden. Vielmehr bekom mt die Gewalt hier etwas WilIkiirliches, das zu j eder Zeit und von Jedermann ausge lebt, genauso gut aber auch unterlassen werden kann. Gewalt ist also nur eine unter vielen denkb aren Handlungsop tionen und ve rwe ist letztlich auf die Freiheit des Menschen (Sofsky 2002c : 26).
3.3.4 Theoretisch-methodo logisches Konzept Es liegt nahe, dass sich die spezifische Perspek tive der .Jnnovate ure'' auch auf die Wahl der Methoden auswirkt und somit die Ergebnisse beei nflusst. Die .Jnnovateure" kritisieren die Vorgehensweise der ursachenorientierten Gewa ltforschung, sich Gewaltphanomenen mit .konvennoneue n'' Methoden zu nahern. Das A rgument fur diese Kritik lautet, dass "der Besonderheit des Gewaltphanomens [ ... ] nur mit ei ner besonderen Methode beizukom men [sei]," (Nedelm ann 1997 : 68) Es sin d entsprechend diese r Forderung vor allem Anleihen aus der theoretischen Ethnographie , die fur die met hodologischen Vorstellun gen der .Jnnovate ure" maBgeblich sind. Tru tz von Trotha bezeichnet als das Charakteristisc he des Wechsels von der Ursachenforschun g zur genuinen Gewaltsoziologie eine Umste llung von der ,Warum-Frage' auf ,Was '- und ,Wie-Frage n' (von Trotha 1997: 20). Dieses "Was" bezieht sich auf die Frage nach den Modalitaten der Gewalt. Eine Phano menologie der Gewalt verspricht er sich mit dem auf Cliffo rd Geertz zuruckgehende n Ko nzept der "dichten Beschreibung" zu gewi rmer r'. Mit dieser Herangehensweise und anderen ethnographischen Verfahren sind die .Jnnovateure'' stark q uaiitativ o rientiert. Sie richten sich mit ihrem Vorge hen gegen das k lassische Method enrepertoire der Ursachenforsc hung, we lches sie als wenig aussagekraftig betracht en (Imbusch 2004 : 139). Hingegen soil die dichte Besc hreibung ats mikroskopisc he Analyse die Kriterien der Anschauungssa ttigung, des Antireduktionismus und der begrifflichen Strenge erflllle n (von Trot ha 1997: 20). " Die dichte Beschreibu ng konzentriert sich auf ei n einzelnes Ereignis, Symbol, Ritual ode r eben eine einze lne soziale Form wie die einer Gewa lterscheinung und beschreibt sie im Ko ntext aller relevan ten Symbole, sozia len Arrangements, Empfindunge n und Vors tellungen, die ihm Be deutung gebe n ode r, wenn wir zuerst einmal von dem kulturtheo retisc hen Kon text
2 Trulz von Trotha sie ht in Sofskys Tra ktat diese Forderungen nach dichter Beschrei bung erfullt. Von 16rg Hiilterma nn wird allerdings bestritten, dass Sofsky das Koezepr der dich ten Beschreib ung tatslichlich im Sinne von Oeertz verwendet (Hiittermann 2004 : 121, Fuflnot e 10; vgl. dazu auch Schroer 2004 : 162).
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des Geertzsche n Konzepts absehen, seine soziale Logik ausmachen." (von Trotha/Sc hwab-Trapp 1996: 60) Ein Begreifen ocr Gewalt konne nur Ilber diesen Weg der mikroskopisch en Analyse def GewaIt selbst geschehen und sci gerade nicht dutch die Analyse der vermeintlichen Ursachen von Gewalt zu finden. Somit muss laut von Trotha die Gewaltforschung endl ich das gewal ttatige Handeln und die Praktiken der Gewalt selbst untersuchen. Die Ursachenforschung konne solange nicht fruchten, wie die Gewa lt selbst eine .ambekannte Erscheinung" bleibe (von Trot ha 1997: 20). Sofskys Arbeiten verdeutlichen dieses Vorgehen. Er verfolgt eine Gewaltanalyse, fu r die cine .methcdische Nahsicht auf die Praxis der Gewalt" konstitutiv ist (Sofs ky 1994: 64). In seinem "Traktat" (2005b) hat Sofsky eine Typo logisierung verschiedener Gewaltformen vorgenom men und die Praxis der Gewalt ausbuchstabiert. 3.3.5 Erkenntnisi nteresse
Birgitta Nedelmann (1995) stellt in einem Aufsatz fest, dass es der Soziologie im Aligemeinen, besonders aber der soziologischen Gewaltanalyse, an einem eindeutigen Rationalitatskriterium mangele. So stelle sich die Ftage, welcher Umstand es rechtfertigt, dass sich neben Juristen, die sic h urn die AufkIarung einer Straftat und die Festlegung der Strafe bemuhen, neben Medizinem und Psychologen, denen es urn die physische und psychische Rehabilitation der Opfer, moglicherweise auch der Tater geht, auch Soziologen der Analyse von Gewalt widmen. Das Erkenntnisziel konne nicht sein, die ursachliche Entstehung von Gewalt zu erklaren , denn daran hegt Birgitta Nedelmann erhebliche Zweifel. In Anlehnung an den Roma n "See under: love" von David Grossman (1989) leitet sie folgendes Analyseziel filr die soziologische Gewaltforschung ab: "Nicht bei der Erkla rung von Gewalt stehenzubleiben, sondem nach den Bedingungen und Mechanismen zu suchen, unter denen sowoh l aus Tatem (wieder) Menschen und Opfer sich von ihrer Kreaturlichkeit emanzipieren und (wieder) zu sozialen Subjekten werden." (Nedelmann 1995: 16) Somit sei das Rationalitatskriterlum "dasje nige der (Wieder-)Herstellung de r Bedingungen zur Entwicklung sozialer Subjektivitat (Heinrich Popitz) und der Fahigkeit zum Leiden und Mit-Leiden." (ebd.) Neben einer solch konkreten Forderung beschreibt Nedelmann die Ziele der "Innovaleure" demit, dass deren Anal y sen Betroffen heit erzeugen wollen. Die Methode der dichten Beschreibung und die Konzentration auf extreme Gewalt sollen dazu dienen, .Jndifferenz zu I lberwinden, affektiv-rationales Verstehen mit dem Tater, vor allem mit dem Opfer zu ermogllchen und Betroffenheit zu erzeugen." (Nedelmann 1997: 71) Hingegen betonen T rutz von Tro tha und Michael Schwab-Trapp durchaus die Verpflicht ung der Gewaltanalyse zur wissenschaftlichen Distanz und verweisen auf die Gefahr, diese Analyse mit Emporung oder Ideologic zu iiberladen und damit ihren Erkenntnis gewinn zunic hte zu machen. Dennoch kommen sie auf die Wichtigkeit zu spre-
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chen, dass trotz aller Distanz Rau m fur ein e Reaktion auf das geschehene Unreeht bleibe n muss. Diese umrei6en sie als "die Empo rung und der verzwei felte Zo rn I lber das Gesc hehen, die Erbitterung tiber das Leide n des Opfers und die primate Verachtung fur Tater, deren Gewa lttatigkeit und Grausamkeit sich nicht nur an den Grenzen de r Vorstellun gskraft bewegen, sondern typischerweise in einem politi sehen und .rechtlichen' Zusammenhang erfolgen - aber auch das Festhalten an der Hoffnung, dass wenigstens die Exzesse der Gewalt und der Gra usamkeit ein Stuc k we it geza hmt und begrenzt werden konnen, fl lr die nicht zuletz t der modern e Rechts- und Verfassungsstaat als einer unter mehreren Los ungsversuchen in der Gesc hichte der Menschheit der empirische Bezugsp unkt sein kar m." (von Trotha/Schwab-T rapp 1996: 63) Hier steht also neben dem Best reben, das Leiden des Opfers in den Mittelpunkt zu ste llen und es auf diesem Wege zuganglich zu machen, die Option zumindest der Zah mung und Begrenzung, we nn auch nicht der vollstandigen Verbannu ng der extre men Gewa lt aus der Gese llschaft. In der Fahigke it, die Verantwortli chkeit des Te ters und das Leiden des Opfers darstellen und an Unbetei ligte vermitteln zu ke nnen, sehen von Trotha und Schwab-Trapp jedoc h auch die Grenzen der Soz iologie (ebd .: 64). Den .Jnnova teuren geht es gerade nicht darum, Mittel zur Bekamp fung und Begrenzun g von Gewalt und Praventionsstrategien aus ihren Ana lysen abzuleiten; aus ihrer proklamie rten Unabhangigkeit gege nuber der ,,Auftragsforschung" erheben sie fur sich hohere ethisch-moralische Ziele (vgl. daz u Imbusch 2004: 142).
3.4 Zu sammenJassung A us diese r Auseinandersetzung mit den A nsatze n de r "Mainstreamer" und .Jnnovateu re" werden bereits fundamenta le Differenzen ersichtlich. So ist die ursachen orientierte Gewaltforsc hung mehr auf die vorgelagerte n Umstande und die nach folgende n Konsequenzen von Gewa lt fixiert, wohingege n die .Jnnovate ure" diese Aspekte weitgehend unberiicksichtigt lassen und die Gewalt selbst in den Mittelpunkt der Betrachtung rucken . A uf die wic htigste n Eckpfeiler red uziert, stelle n sich die Unterschiede zwischen "Mainstreamern" und .J nnovateu ren'' wie fo lgt dar:
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Tabelle 1: Elementare Differenze n zwischen .Jvlainstreamem" und .Jnnovat euren" Gewa ltbegriff
Menschenb ttd
Methodik
Erken n tn isinteresse
Mai nstreamer" • Weit gefasster Gew altbegriff • Nic ht auf direkte phys isch e Gewalt begre nzt • Gewalt ist eindeutig negativ belegt • Ta terperspektive dom inant • Der Mensc h ist prin zipiell friedfertig oder neutra l • Gewalt als Reaktion auf defizh are Lebenslage n • .Klassisches Met hodenreper toire" • Quantitative und qualitative Ve rfahre n • Ursac hen der Gewalt ("Warum" -Fragen) • Ablcitung von Praventionsstrategfen • Fortsc hritte im gesellsc haftlichcn Umga ng mit Gewalt
Inncvateu re''
• • •
•
Eng gefasster Gewaltbegriff, nur absichtsvolle korpe rliche Verletzung Am bivale nz von Gewalt Opferpcrspektivc dominant
•
Mensch ist emot ional nieht festgelcgt Gewalt prinzipiell im mer mc glich, auc h zrundlos Ethnographisc he Ve rfa h-
•
Dic hte Besc hreibung
•
• "Was" und " Wie" d er Gewalt
• Gewalt als Phanomen sui gencris
• Ermo gllc hung ei ncs affektiv-rarion alen Zuga ngs zur Gewalt, beso nde rs in Bez ue auf das Oofer
Diese Differe nzen zie hen jeweils eine Reihe weiterer Ko nsequenzen nach sich, sodass die beiden A nsarze von ihrer A usrichtung her stark in unterschiedl iche Ric htungen weisen. Dies solI im Foigenden am Beispiel der School Shootings exemplarisch ve rdeutlic ht werden. Dabei wird sic h zeigen, welcher Art die Ergebnisse sind, die die beiden Ansa tze erzielen, und wie sic h die unterschiedlichen Herange hensweisen in der Praxis sozialwiss enschaftlicher Gewaltforsc hung auswirken.
4. School Shootings als Amokform un ter Jugendlichen Waren d ie im ersten Teil herausgearbeiteten Differenzen innerhalb der sozialwisse nschaftliehen Gewa ltforsehung noeh grundsatzlicher Nat ur, da sie auf die Gewalt im A llgemein en bezogen wa ren, so sollen diese Differenzen im Foigenden anhand
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des Phanomens des School Shootings veranschaulic ht werde n. Das Beispiel w urde unter dem Aspekt der aktuellen gesellschaftJichen Relevanz der Themati k ausgewahlt, da es sich um eine qualitativ (beziiglich der Form der angewandten Gewalt) wie auch quantitativ (beziiglich der Zahl der Opfer) massive Form der Gewalt handell. Des Weiteren geht es dabei um eine Gewaltform, die sich nicht im privaten Raum ereignet, sondem in der Offentlichkeit, und die dadurch als Sicherheitsrisiko wahrge nommen wird. Diese Form der Gewalt kann, da sie aus dem Feld der "a lltaglichen Gewalt" heraus fallt, zugleich als Herausforderung fiir die soziolog ische Gewa ltforschung betrachtet werden. Anhand des exemplarisc h behandelten Falles der School Shootings soli im Foigenden entlang zentraler Begriffe die w issenschaftJ iche Vorgehensweise der "Mainstreamer" und der .Jr mcvateure" darges lellt werden. So kann gezeigt werden, was die heiden Ansatze der Gewaltforsch ung jeweils zur Erkenntnis und zum Verstandnis eines konkreten Falles beitragen, zu welchen Ergeb nissen sie kommen, und wie und worin sie sich dieshez iiglich unterscheiden.
4./ Das Beispiel Erfurl Auch wen n das Phanornen School Shooti ng, welches oft als Amok oder Amoklauf bezeichnet wird, im Zentrum der Betrachtung steht, so ist es doch sinnvoll, einen konkreten Fall auszuwahlen, der relativ gut dokumentiert ist und bei dem vergleichsweise verlassliche Dalen existieren: der Amoklauf am Erfurter GutenbergGymnasium am 26. April 2002. Zudem haben sich beide Strange der Gewa ltforschung bereits zu diesem Fall gea ubert, so dass sie gut miteinander verglichen werden konnen. Die Tats ache, dass der Fall Erfurt bereits etwas langer zuriick liegt, stellt dabei keinen Nachteil dar, da es hier lediglich urn eine lllustration geht, an der das unterschiedliche Vorgehen der Vertreter beider Richtungen der Gewaltforsc hung verde utlicht werden soli. Der Fall Erfurt erlaubt somit weitere Aufschliisse iiber die Positionen von "Mainstreamern" und .Jr movateuren" zu gewi nnen und ermoglicht damit ein tieferes Verstandnis ihrer Denk- und Arbeitsweisen. .Am 26. April 2002 urn 10.58 Uhr beobac htel ein Madchen aus der 6. Klasse, wie sic h eine Toilettentur offnet . Heraus kommt ein Mann mit schwarzer Gesichtsmaske, schwarzer Hose, schwarze m Kapuzenpulli, schwarzen Handschuhen, schwarzen Schuhen und einer Pistole in der Hand. Ober dem Riicken tragt er eine Pumpgun, also ein Schrotgewehr vom gleiche n Typ, den vor ihm schon die Ta ter von Littleton verwe ndeten. Es ist Robert Steinhauser, ein 19jahriger ehemaliger Schuler des Gutenberg-Gymnasiums in Erfurt. Er hat sich auf dem KIa umgezogen und beginnt seinen morderischen Rachefeldzug. Die ersten Schusse fallen im Sekretariat. Hier sterben die Sekretarin Anneliese Schwert ner und Rosemarie Hajna, stellvertretende Schulleiterin seit 1991. Ober 40 Mal wird Robert Stein hauser an diesem Morgen abdriicken, meist gezielte Kopfsch iisse aus nachster Nahe. .Der hat exek utiert' , kommentiert ein Polizeisprecher nach der Spurensicherung. [ ... ] Das
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Massaker kostet 16 Menschen das Leben, zwo lf Lehrem, zwei Schlllem , der Schulsekretarin und einem Polizisten. Sechs weitere Menschen werden verletzt. Robert Steinhauser schieBt sich noch am Tatort selbst in den Kopf." (Waldrich 2007: 13f.) 4.1.1 Definitorische Herleitung
1m Aligemeinen wird im Faile von School Shootings etwas Unprazise auch von ,,Amok" gesprochen, wobei der Begriff School Shootings sich von diesem nicht generell unterscheidet, sondern eine Konkretisierung des umfassenderen Begriffes Amok darstellt. Der wesentlich altere Begriff Amok bezeichnet eine Form von Gewalt, die nicht im sozialen Nahraum, in der Familie und hinter verschlossenen Tiiren stattflndet, sondern die typische rweise in der Offentlichkeit begangen wird. Wortlich iibersetzt bedeutet Amok .blindwutiges Verrichten" und stammt aus dem malaiischen .meng-amok". Aus der ursprilnglichen kriegstaktischen Bedeutung gelost bezeichnet es das Phanomen, ,,[ ... ] dass ein Mann in rasender Enthemmung, gleichsam in blinder Wut, aile, auf die er zufallig trifft, ohne dass sie sich ihm sic htbar entgegenstellen, wie im Rausch angreift und/oder totet, solange, bis der Tater selbst aufgibt, zusammenbricht, sich selbst toter oder von anderen getotet wird." (Albrecht, R. 2002: 143) In Malaysia und Java ist Amok ein uraltes kulturelles Phanomen und gilt als Ausdruck dafur, dass die gesellschaftliche Harmonie gestort ist (ebd.), wodurch eine unmittelbare Verbindung zu den sozialen Bedingungen des Amok hergestell t wird. Das Phanomen ,,Amok" taucht jedoch auch auBerhalb seines kulturellen Herkunftgebietes auf. Wissenschaftlich untersucht und beschrieben wird es seit 1926. Charakteristisch fur den Amoklauf ist seine Dynamik der Totung und Zerstdrung, die, ist sle erst einmal in Gang gekommen, oft nur mit Gewalt zu stoppen ist. Haufig folgt auf die Amoktat ein Suizid oder die Totung des Amoklaufers durch Sicherheitskrafte ("s uicide by cop") (HermanutzIKersten 2003: 95f.). Als weiteres Spezifikum des Amoklaufs gilt die "Zufalligkeit der Opferwahl'' (Eisenberg 2000 : 31). Jeder, der zufallig zugegen ist und in das B1ickfeld des Taters gerat, ist ein potentielles Opfer desselben. Von dieser urspriinglichen, kuIturell verankerten Erscheinungsform des Phanomens haben sich die Vorfalle, die sich in den letzten Jahren gehauft an Schulen ereignen, ein Stiick weit emanzipiert. Zwar werden auch sie als ,,Amok" oder .Amoklauf" bezeichnet, jedoch weisen sie spezifische Charakteristika auf, die vom urspriinglichen Amok abweichen. Denn die amokartigen Vorfalle an Schulen zeichnen sich in den meisten Fallen durch ein sehr gezieltes, auf bestimmte Personen oder Personenkreise begrenztes Toren aus und weniger durch die filr Amok charakteristische .Blindwlltigkeit" (Hermanutz/Kersten 2003: 97). Urn sie von der urspriinglichen Form des Amoklaufs abzugrenzen, wurden die Vorfalle an Schulen und High Schoo ls mit anderen Definitionen versehen. Als treffendere Begriffe wurden .ptotzlicher Massenmord", .Schulmcrd'' (Albrecht, R.
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2002 : 144) , "Sc hool Shootings" und .zielgerichtete schwere Gewa lttate n an Schulen" (Robertz 2007 : 9) veranschlagt. Diese Begriffe konnen weitge hend synonym verwendet werden , da sich die damit verbundenen Definitionen gleichen. So wird etwa .z ielgerichtete Gewa lt an Schulen" definiert als "gezielter Angriff auf best immte Personen oder Perso nengruppe n, wobei die Schule bew usst als Tatort ausgewahlt w urde." (Hoffmann 2007: 26) School Shootings bezeichnen ..Tot ungen oder Tot ungsversuche von Jugendli chen an Schulen, die mit einem direkten und zielgerichteten Bezug zu der jeweilige n Sc hule begangen werden." (Robertz 2007: 12) Ebenso wie beim urspriinglichen Amoklauf wird die Tat oft von anschllebe ndem Se lbstmo rd begleitet (ebd.: 13). Dadurch lassen sich Sc hool Shootings von ande ren Formen schwerer Gewa lt an Schulen abgrenzen , die sich z.B. nur zufallig an Schulen ereignen oder die auf Gruppenstreiligkeiten zuriickzufU hren sind und da mit andere n Prinzipien folgen (ebd.). Oer erste bekannt e Fall eines School Shootings ereignete sic h im Dezemb er 1974 in O lean (New York). In den nachfolgend en Jahren wiederholten sich ahnliche Faile nur selten. Erst in jun gster Zeit nahm die Zahl der School Shootings wieder rapide zu und blieb auf ei nem relativ hohen Nivea u. Die generelle To tungsdelinqu enz durch Jugendliche war in den letzten 15 Jahren jedoch rucklaufi g. Rechnet man aile School Shootings weltweit zusammen, dann ergibt sich filr den Zeitraum seit der ersten Ta t im Dezembe r 1974 bis zum Januar 2007 eine A nzahl von 99 Vorfallen. 314 Menschen wurde n dabei verletzt und 130 getotet (ebd.). In Deutschl and hat der Erfurter Fall seinerzeit vor der Tat in Wi nnenden die groBte Zahl an Opfern gefo rdert. Hau flg nehm en die Ta ten juge ndlic her Amoklaufer ausdrucklic h aufeinander Bezug, spate re Tate r ve rsuchen frilhere Taten zu ubertreffen, so dass hier auch Nachahmungseffe kte zu verzeichnen sind (ebd.: 12f.). School Shootings gelte n, und das bringt sie wieder um mit der ursprunglichen Bede utung des Amoklau fs in Verbindung, als sozia les Phanomen (Waldrich 2007 : 7).
4.2 Die " Mainstreamer" Das Motiv der ursachenorientierten Gewa ltforschung, sich mit Amokla ufen - insbesondere mit Schulamoklaufen - zu besch sftigen, ist die Suche nach deren realen oder vermeintlichen Ursac hen. Obwo hl Amo klaufe auf den ersten Blick jeglicher Motive und Ursaehen entbehren und vdllig sinnlos erseheinen, taucht naeh jedem Vorfall die Frage nach dem "Warum" in einer aufgeregte n Offentlichkeit auf. Die ursachenorientierte Gewaltforschung greift diese .Werurnv-Frage auf. Ihr Anliegen ist, diese seheinbare Irrationalitat zugang lich und damlt die Tat erkla rbar und prinzipiell nachvollziehbar zu machen. Indem ihr individuelle und/oder gesellsc haftliche Ursachen, Motive und A usl6ser zugeordnet werden und indem typische Indikatore n, die eine solche Tat eventuell im Vo raus ank undigen, ausgemac ht we rden, sollen auch dieser Form der Gewa lt durch Kenntnis ihrer Ursachen Begrenzu ngsm6glichkeiten und Praventionsstrategien entgege ngesetzl we rden. Die entsc hei-
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denden Stichworte sind hier Ursachenanalyse, Rationalitat , Vermeidbarkeit, Pravention, wobei sich auch die anderen Charakteristika der ursachenorientierten Gewaltforsc hung in Bezug auf Amok bzw. School Shootings wieder finden. Diese Herangehensweise findet in folgender Aussage ihre Legitimation: "Zielgerichtete Gewa lt ist der Endpunkt cines prinzipiell nachvollziehbaren Weges von Handlun gen und Gedanken." (Hoffmann 2007 : 26) Oder in folgender Vermutu ng: .Kcnnre es sein, dass die gege nwart ige Gesellschaft und Kultur eine Kehrseite haben, die Amoklaufe eigentlich ganz verstandlich erscheinen lasst? Ware es moglich, dass aus den Abgriinden dieser Kehrseite heraus die blinde Wut, das ,Going postal') zumindest in gewissen Situationen, fast schon nahe liegt?" (Waldrich 2007: 8) Die erste Aussage bezieht sic h auf die .Jnnenseite'' des Taters, auf das, was in ihm vorgeht und ihn zu der gewalttatigen Handlung veran lasst, wahrend die zwei te Aussage auf die gesellschaftlichen Bedingungen abzie lt, die den Nahrboden flir d ie Tat bilden. Die Erklarungsansatze sind sowoh l auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene angesiedelt, wobei den gesellschaftliche n Faktoren eine hohere Erklarungskraft zugesprochen wird. Gleich, welche der Ebenen als Erklarungsgrundlage betrachtet wird, zentral ist in beiden Fallen die stark taterzentrierte Perspektive. Indern fi ber die psychische Verfass ung des Taters, die Bedingungen in Schute und Farnilie, denen er ausgesetzt war, fi ber seinen Medie nkon sum, fiber den Anschluss an Gleichaltrige, fi ber den Zugang zu Schusswaffe n reflektiert wird, steht der Tater hier voll und ganz im Vordergrund, wohingege n das oder die Opfer kaurn Bestandteil der Auseinandersetzung sind. Die Faktoren, die als Ausloser oder Ursachen in Betracht gezogen werden, sind Faktoren, die von auBen auf den Tater einwirken oder aber in inneren psychischen Defiz iten liegen, jedenfalls sind sie aubergewohnlicher Art und bilden die Grundlage fur eine Gewalttat, die als Reaktion auf diese Umstande betrachtet wird. Urn den Ursachen von School Shootings auf individuelier Ebene auf die Sp ur zu kommen, wurden Taterprofile erstellt. Es zeigte sich jedoch bald, dass sich keine spezifischen Aussagen fibe r die Herkunftsfamilie machen lassen, da sich in etwa die norrnale Verteilung der Gesellschaft widerspiegelt. Amoklaufer haben sowo hl intakte Kem farnilien als auch geschiedene Eltemteile oder Stiefeltern. Auch bezuglich des Bildungsstandes der Eltern sind aile gesellschaftlichen Schichten abgedeckt, mit einer deutlichen Tendenz zu mittleren und hoheren Bildungsniveaus. Die meisten Taten in Deutschland (und auch in Amerika) ereignen sich an mittleren und hoheren Schulen (Hoffmann 2007: 28). Etwas prazisere Aussagen lassen sich demgegenuber zu Geschlecht und Alter machen. Die Tater von School Shootings sind fast ausschlieBlich mannlichen Geschlechts, das Durchschnittsalte r betragt 14 bis 17 Jahre. Die rneisten Tater haben relativ leichten Zugang zu Schusswaffen. Zudern wird festgestell t, dass die Tater haufig introvertiert sind und kaum fiber fes~GOl ng postal" wurde d urch erne Serie von Amoklliufen onler Mitarbeitern des United Postal Service in den USA Mille der 1980e r Jah re gepriigt. Dabei wurden insgesa ml tiber 40 personen in 20 verschiede nen Vorfiillen gelole t, WodUICh die US-amerikanische Offen tlichkei l in Untuhe versetzt wurd e (Waldrich 2(X)7 : 7).
J Der Ikgriff
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te, tragfahige Freundscha ften zu Gleichaltrigen verfiigen. Auch die Bindungen innerhalb der Familie werden meist als dysfunktional besch rieben. Die psychi sche Verfassun g der Tater gilt als depr essiv bis suizidgefahrdet (Robertz 2007: 13; Ho ffmann 2007: 31), nichtjedoch als psychoti sch (Waldrich 2007: 15) . Damit sind die Tater im Vergleich zu ihre n Alt ersgen ossen nach auBen hin allesa mt nicht besonders auffa llig, sodass das Charakteri stikum "a uffa llend unauffalli g" fur sie gepragt wurde (ebd.). Der Autbau einer stabilen Bindung zwisc hen Mutt er und Kind wird als uberaus wich tig fur eine ges unde Perso nlichkeitse ntwicklung des Kinde s betr ach tet (Waldrich 2007: 27f.) . Der Mangel an sta bilen Bindungen wird vo n der ursachenorientierten Gewa ltfo rschung als relevant fur das Au ftret en vo n Schul amoklaufen betrachte t. Durch stabile emotionale Bindungen wird S inn im Leben eines Kindes erzeugt und funkti on sfahigen Bindungen wird ein groBer Einfluss auf die Vermeidun g vo n Devian z zugesp rochen (ebd.: 21). Der Tat ging in den meisten Fa llen eine als Verlust, Zuruckweisung oder Niede rlage interpretierte Situation vo raus (Robertz 200 7: 13). Eine groBe Roll e spielen dabei tat sachlich er litte ne oder als se iche interpretierte Krankun gen durch Verspottung und Demtit igungen im Schulalltag se itens anderer Mitschliler oder se itens der Le hrer. Ein Amoklauf wird daher als "eine Art Verzweiflungsschrei", als Suche nach .Anerkennung", "Zuwe ndung" und " Liebe" betrachtet (waldrich 2007: 9). Auch Wilhelm Heitmeyer betrachtet .zerfalle ne Anerkenn ungsverh altn isse" als ze ntra l fiir Amok kaufe. Er verweist auf die " negative Anerkennungsbilanz" , die Robert Steinhauser zu verzeichn en hatte, insofe rn fur ihn die Anerkennungsqu ellen in Sc hule, Familie und peer group versiegt waren (Heitmeye r 2004: 91). Angesichts der Tatsache, dass sehr vie le Sch uler ungerechten Schul strukturen oder Hanseleien seitens der Mitschiller ausgesetzt sind, derartige Ge walttaten aber se hr se lte n auftreten, wi rd dieses Ergebnis eher im Sinne einer erhohten Krankbarkeit der Tater interpretiert . Die Tater unterscheid en sich demn ach darin vo n ihren Mitschulem, dass sie solche Erfahr ungen nicht adaquat verarbeiten konnen, sodass als Resultat lang anhal tende Ohnmac htsgefiihle und Rache gedanken zuriick bleiben (Hoffmann 200 7: 28f.) . Diese vorgangigen Ohnmachtserfahrungen, Gefllhle dcr Demiitigun g und Krankun g sind es auch, die im Faile Erf urt als Ausloser fur den Racheakt gese hen wur den. Mit Hilfe sei ner Waffen konnte der Ta ler sic h zu Mach tgeftihl en verhelfe n und die Lehrer in die ohnmac htige Position bringen, in der er sic h selbst vorher so o ft wahn te (Al brecht, R. 2002: 146). Allerdings lasst sich ein Schulamoklauf keineswegs als Kurzschlussreaktion begre ifen , da die Taten j eweils tiber lange Zeitraume geplant we rde n (Ro bertz 2007: 13). Zudem ist in de n meisten Fallen die Gruppe der Opfer klar defi niert, was ebenfalls auf vora ngega ngene Rach ephantasien verweist. Oft verkiindet der Ta ter sei ne Absicht en sogar im Vorau s, meist unter Gleichaltrige n, die dies allerdings nur se lte n ernst nehmen (H offmann 2007: 29f., 32; Waldrich 2007: 16).
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Als we itere Besonderh eit der Tater von School Shootings wurde herausgestellt, dass diese fiber eine besond ers intensive, mit Gewalt durchsetzten Inhalten gefll llte Phantasie verfilgen. Diese lebhafte Phantasie wird ruckblickend als eine Art Fl ucht vor der Umwe lt, die fur den Taler kaum stabile Soz ialbezieh ungen, dafur aber urn so mehr Kra nkunge n bereithalt, betrachtet. Durch diese Fl ucht wird der Aufbau funktioniere nder Beziehungen verhindert, wodurch ein Teu felskreis entste ht. Bezilglich der gewaltsa men Inhalte dieser Phan tasie wird auf gewalttatige Iden tifik ation sfiguren verwiesen, die dUTCh Medlen, Filme, Spiele , aber auc h dUTCh d ie Weltpolitik, zur Verfugung gestellt werden und die es dem Individuum erlauben, in der Phantasle vom Opfer zum Tater zu werden und dam it Angste und erlittene Krankunge n zu tiberwi nden (Robertz 2007: 14). Waldrich sie ht in dieser Flucht, di e oft in die " Co mputerweh" fuhrt, zudem noc h die Gefa hr potent ieller .Dissozia lion " , die sieh darin au6ern kann, dass der Jugendl iche seine Pha ntasien mehr und mehr in der Medienwelt auslebt, wodurch dieser eine hohere Relevanz als der realen Al ltagswelt zukommt. So kann sieh eine psychisc he Eigenwelt abspalten, die der W irkl ich keit entrtickt ist (Wa ldrieh 2007 : 59f.). Die ursachenorientierte Gewaltforschung verweist damit auf die reale Umwelt, we lche alles in aHem fl lr de n potent iellen Ta ter ein Prob lem darstellt, insofern er tiber keine tragfahigen Bezieh unge n in der Familie ode r unter Gleic haltrigen verfugt , Kra nku nge n und Verluste rfa hru nge n ausge setzt ist, die er nicht adaq uat ver arbeiten und zudem nur selten auf Mo mente der An erkennung zuriickblicken kann. So bezeichnen Hermanu tz und Kers ten die Amoktat als Losung fur die als katastrophal erleb ten Selbsrwertprob leme der Tater: .Der Wun sch, ein letztes Ma l uneingesc hrankt Macht tiber andere zu haben , kann dan n als Beendigun g d ieses unert rag liche n Zusta ndes in der Amo ktat verwirklicht werden." (Hermanutz/ Kersten 2003 : 99) Gleic hwo hl bleibt bei den ursachenorientierten Ansatzen ein positives Menschenbild erhalten: Die Ta tsac he, dass der Tater von Erfurt eine Maske trug, interpretiert Richard Albrecht im Sinne eine r Totungshemmung gegeniibe r anderen Me nschen, die de r Ta ler in diesem Fall nur mit Hilfe seiner Mas kieru ng uberwinden ko nnte (Albrecht, R. 2002: 146) . Eise nberg bestatigt dies, indem er in dem Ube rstreifen der Maske eine "Metamo rphose mit mor derisc hen Fol gen" sieht, d ie erst dad urch beendet wird, als ei n Lehrer ihn erken nt und beim Namen nen n t (Eise nbe rg 2002b). Dad urch ist sei ne Inszenierung beendet. Er zie ht die Maske ab und kann, demas kiert, seinen Amokla uf nicht we iter fortsetzen (e bd.). Diese Interp retatio n spricht fur die verbreitete Annahm e inn erhalb der ursachenor ientierten Gewaltforschu ng, das s der Me nsch grundsarz lich tibe r eine Tot ungshemmung verfllgt, also pri nzipiell nicht bereit ist, andere Me nschen zu ver letzen und zu tote n, sodass es erst gewie htige r Mechanismen bedarf, urn diese Hemmung zu iiberwinden. Betrachtet man vorwiege nd die gesellschaftlichen Hisuergrtmde der Tat vo n Erfurt, so sind d ie individ uellen Tater merk male zwe itrangig oder sie resultiere n aus d iesen gese llsc haft lichen Bedingungen. 1m Fall Erfurt wurde lange und aus fiihrlich
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tiber die grundlegenden Mangel des deutschen Bildungswese ns diskutiert (vgl. z.B. KahI2003: 19f.; Waldrich 2007: 88ff.). In Bezug auf Robert Steinhauser ist vor allem die Tatsache relevant, dass es in Thiiringen moglich ist, dass J ugendliche, die das Abitur nicht schaffen, ohne jeglichen Abschluss von der Schule gehen. Bei Robert Steinhauser ist dies der Fall gewesen. Er wurde vor dem Abitur von der Schule verwiesen, da er arztliche Atteste gefalscht hane, urn seine Fehlstunden zu rechtfer tige n. Dieser Schulverweis kann im Sinne einer Krankung interpretiert werde n, Robert Steinhauser wurde durch den Schulverweis aus der Gemeinschaft ausgestoBen (Waldrich 2007: 97). AuBerdem spiegelt die Schule in gewisser Weise im Kleinen die gesamtgese llschaftlichen Verbaltnisse wider, die vor allem durch Hierarchien, Leistungsdruck und Konkurrenz gepragt sind. Daher wird das konventlo neUe Schulwesen, welches ebenfalls der von den wirtschaftliche n Zustanden geforderten Verwert ungslogik unterliegt und damit bestandig .Verlterer" prod uziert (Wa ldrich 2007: lOOff.), zumindest als Mitverursach er von School Shootings betrachtet (ebd.: 891.). Abe r Richard Albrecht sieht in der gesellschaftlichen Umwelt Bedingunge n fu r das Entstehen des Phanomens .A mok". Sein Schwerpu nkt liegt dabei ebenfalls auf den "gesellschaftliche[n] Bedingungen und soziale]n] Ursachen", die aufgeklart werden miissen, um "diese Taten angemessen zu beschreiben, rational zu erklaren und wo und wie immer moglich zu verhindem " (Albrecht, R. 2002: 145). Da Alb recht eine Tat, die einmal begangen wurde , als wiederholbar betrachtet, halt er die Analyse dieser Tat fiir umso dringlicher. Dabei betont er vor aHem die Rolle der Medien. Albrecht ist der Auffassung, dass durch die mediale Verbreitung extrem er Verbrechen Nachahmungstater animiert werden, deren Vernichtungsphantasien durch die Bilder in den Medien angeregt und befordert werden (ebd.: 148f.). Auf diesen Zusamme nhang verweist auch Robertz und belegt dies anhand der Zunahme von Schoo l Shootings nach der Tat an der Columbine High School 1999 sowie der Tatsache, dass Ja hrestage besonders schwerer Amok-Vorfalle als Tatzeitpunkte nachfolgender Amoklaufe bevorzugt werden. Dies filhrt er auf die massenmediale Aufmerk samkeit zuriick, die Amoktatem gezollt wird . Das Medienspektake l kann, gerade fur narzisstische Jugendliche, einen Anreiz darstellen, sich selbst zu Inszenieren. Der Medienrummel , der zu erwarten ist, kann dem Taler schon vorweg das Gefiihl geben, "groBartig" und .Jebendig" zu sein (Eisenberg 2002a). Eisenberg sie hr damit in den Medien .Modene des Fehlverhaltens", die zur Nachahmung anreizen, weil zukunftige Tater sich mit medial dargestellten Charakteren identifizieren konnen. Da den School Shootings in der Berichterstatt ung haufig eindimensionale Ursachen zugeschrieben werden, betrachten zukiinftige Tater einen Amoklauf als Losungsweg filr ahnliche Lebenslagen (Robertz 2007: 15). Auch Computerspie Ie und der exzessiven Nutzung von Egoshootern wird eine Relevanz zugesprochen. So besteht das Problem der langfristigen Beschaftigung mit Egoshootern einerseits darin, dass sie zur Gewch nung an und Abstumpfung gegenilber grausamen Bildem fiihren, und andere rseits darin, dass sie Ubungseffekte zur Folge haben, die sich
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tatsachlich auf die Fahigkeite n zum Gebrauch von Schusswaffe n a uswirken. DaTUber hinaus befordert diese Art der Freizeitgestaltung die Auspragun g von AlImachtsphant asien , die dUTCh keinen Abgleich mit der Realitat mehr begrenzt wird (Robertz 2007 : 12, 15; Hoffmann ZOO? : 30r.; zu den Auswirkun gen von Co mputerspielen auf SchieBergebnisse mit eehten Schusswa ffen vgI. Hermanutz/Kersten
2003: 1031.). Als gesamtgesellschaftliche Wirkmechanismen, die sich in der Tat des Robert Steinh auser a usdriicken, macht Richard Alb recht "Prozesse von Enttraditionalisierung. Bindungslosigkeit und Sinnverlust im Prozess beschleunigter Modernisierung" (2002 : 144) aus. Diese Faktoren , die sich auch als .Differenzierung - PluraIisierung - Individualisierung' fassen lassen, bilden den Inhalt dessen, was als ,,Anomie" bezeichnet wird {ebd.). Albrecht stellt diese Verfallserscheinun gen damit in den Zusammenhang gese llschaftlicher Modemisierungsprozesse. Auch Go tz Eisenberg siede lt in seinem psychoanalytisch oriem ienen Ansatz die Bedingungen fiir Amoklaufe auf der gese llschaftlichen Ebene an , sofern diese sich auf der individuellen Ebene widerspiegeln. Fur den Amoklauf ist ein vorgangige r Prozess der .Ent-Gesellschaftung" (Eisenberg 2002a) konstitutiv. Das individuelle Resultat ist ein .anomisch verei nsamter Mensch", der aus der "gewohnten Ordnung der Dinge" herausgefallen ist und damit den .sczt aten Tod" stirbt. Dieser gesellschaftliche Konflikt wird im seelischen Innenraum .uusgebrurer' und forde rt Hingst verga ngene Krankun gen und Zunickweis ungen wied er hervor, die der Tater dram atisiert . 1m Faile des Robert Steinhau ser vermutet Eisenberg, dass es der Schul verw eis war, der seine .naratssusche Ach illesferse" getroffen und seinen .Jiefgreifende n Fundus an Selbstzweifeln", entstanden in fri ihester Kindh eit, wachgerufen hat (Eisenberg 2oo2b). Auf dieses Ereignis folgte der Ruckfall in regressive Formen der Konfliktb ewal tigun g, we lcher die Welt in gut und bose ei nteilt, so dass sich die Ohnmacht und die daraus resultierende Wut im Foigende n von ihrer Verurs achung abgelost und auf andere Objekte verschobe n hat. Die Frage, warum ein Mensch sich unter dlesen Bedin gungen nicht zu einem einfachen Suizid entschlieBt, beantwortet Eisenberg mit der .narztssnsc ben Katastroph e", die die Ge fl ihle vo n Angst, Ohn macht und Hilflosigkeit beim Tater auslosen konnen und die du rch die gewaltsame Verlagerung auf die AuBenwelt abgewende t wird (E isenb erg 2002a). Fur die Haufung der Vorfall e von Amok macht Eisenbe rg bestimmte Entwicklungstendenzen innerhalb der Gese llschaft verantwo rtlich. So wiirden sic h die okonomische n und sozialen Deregulierungsprozesse, die Begleiterscheinungen des ..flexiblen Kapitalismus" ausdrucken , die sich in psychischen Deregulierungen widers piegelten. Durch die Anforderungen des flexiblen Kapitalismus bildeten die Menschen eine nur noch fragmentarisc he, borderline-artige Identitat aus. Die ehe mals etablierte Selbstzwangapparatur verliere damit an Wirksamkeit und die ohnehin vorhand ene narzisstische Wut k6nn e kaum noch gebremst werden. Diesen Prozess bezeichnet Eisenberg als ..Innenseite der Globalisierung" (Eisenberg 2oo2a): .Bekommt diese Gesellschaft nicht vermehrt die Kinder, die ihrem unwirtlichen
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SchoB entspringt und die sie verdie nt: zynische, psyc hisch frigide und moral isch verwilderte Wesen, deren Fuhllosigke it und Gra usamkeit unmittelbar den Gewahkern ei ner Gese llschaft freilege n, deren einzige r kategorischer Imperativ der der Bereich erung urn jeden Preis ist und die die Moral auf je nes Minim um schrumpfen lasst , das einen gerade noch vo r strafrechtlicher Verfo lgung schutzt?" (Eisenberg 2000: 102) Die Mar ktmec hanismen wiirde n auch auf die privaten, familiaren Beziehunge n Ilbertragen. Die fnlhere autoritare Erziehung sei nur scheinbar einer Erziehu ngsform vo ller Verstandnis und Duldsamkeit gewichen. Tatsachlich machen sich in vie len FamiJien G1eichgiiltigkeit und Lieblosigkeit gege nube r den Kindem breit, was .meuartigen Formen der Kindesa ussetzung" (Eise nberg 2oo2b) gleichkommt . Dadurc h werden vor allem Kinder und Jugendl iche hervorgebracht, deren .Jcalte Sc honungs- und Riicksic htslosigkeit, moraJische Indiffere nz und latente Feindseligkeit jederzeit in Hass umsc hlagen kann." (Eise nberg 20013) So ist es die durch diese gese llschaftlic hen Fakto ren ausgelo ste Regression auf primitive psyc hische Abwehrmec hanisme n, d ie in Kom bination mit archaisc her narzisstischer Wut fur Amo k und Te rror verantwo rtlich sein kann. Die ursachenorientierten Brklar ungsa nsatze zielen damit auf ind ividuelle, soziaIe und o konom ische Prozesse ab, d urch die die Bezie hungen zw ischen den Menschen vera ndert und die Moglichkeiten der Herausbildung stabiler Person lich keiten erschwe rt werde n. Amok wird als Sympto m fi ir die Schattenseite n der Modernisierung betrachtet. Die Frage, w ie man Amoklaufe verhindern kann , wird aus der A useina ndersetzung mit den vermeintlichen Ursachen abgeleitet (vg l. dazu W ald rich 2007: 114ff.)
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4.3 Die .J nnovateure" Der Fokus, den die .Jnnovate ure" auf das Phanomen Amok bzw. Sc hoo l Shoo ting legen , unterscheidet sich grundlegend vo n dem der ursachenorientierten Gewaltforschung. Bei den .Jnnovateuren" ste hen im Gege nsatz zur ursachenoriemierte n Gewa ltforschung nicht die Ursac hen und Ausloser der Tat , sondern deren Erschei nungsformen, d ie Konstellationen zwischen Tatem , Opfem und Dritte n, und dami t prozessanalytisc he Aspe kte sowie die anthropo logischen Grund lagen fi ir so lche Gewalta usbruche im Vordergrund. Wolfgang Sofsky hat sic h mit dem T hema Amo k im Al igemeinen sowie mit dem Erfurter Amo kla uf im Besondere n befasst. So schreib t er in " Zeiten des Schreckens" (2oo2c) tiber die ge nerelle n Prinz ipien des Amo kla ufs, geht dann aber in einigen Artikeln und Interviews auch a uf den konkreten Fall Erfurt ein. Diese Te xte bilden die Grund lage flit die fo lgende An alyse. Sofsky beg innt seine Ausfllhrunge n tiber Amo k mit einer Kritik an der Ursa chenanalyse. In deren Bemuhen, Pradiktoren fur eine Amo ktat zu finde n, sieht Sofsky led iglich einen .Jiilflose]n] Versuch, nachtragllch eine Vorgesc hichte zu
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erfi nden und dem Gesc hehe n einen Sinn anzudichten." (Sofsky 2oo2c: 39) In de n biographisc hen oder gesellschaftlichen Bedingungen, die im Faile Erfurt oft als Ursaehen angeftihrt wer den, kann Sofsky mitni chten eine Erk larungskraft ausmachen, we i! die oft zitierten Umsta nde gesellschaftlich so weit verbreitet sind, dass sich ei n Amo klauf nicht zwingend aus ihnen ableiten lasst. So bestreitet Sofsky auch die M6glich keit , mit gewalt vo llen Med ieni nhalten oder dem Schulverweis des Robert Stei nhauser dessen Tal erklaren zu konn en (Sofsky 2002 b). Vielmehr sie ht er in der Suche nach den Ursachen des Erfurter Amo klaufs eher eine Art der Selbst be ruhigung als eine emst hafte ErmittJung der Tatsachen (ebd.). Die Suche nach ei ndeutigen Ursachen, Auslosern oder nachvo llzie hbare n Handlungsmot ivatio nen de utet fiir ihn auf das genere lle Unvermogen der westliche n Kultur hin, sich de r M cg lichkeit eines .Blutrauschs" fern ab individueller Pathologie oder bedrange nde r sozialer Umstande zu stellen (Sofsky 2OO2c: 39). Sofskys Arbeiten uber den Amok bei nhalten in erster Linie Hinweise zu den spezifischen Charakteristika des Amok, zur Eigen dy namik und deren Hintergrtlnde n und zur Abgrenzung des Phanomens von anderen Formen der Gewalt. Er nimmt quasi eine mik roskc pische Analyse des Amo klaufs vor. Dazu muss zunachst bemerkt werden, dass Sofsky de n Erfurte r Fall als "fast prototypisch" fur einen Amoklauf betrachtet (Sofsky 2002<1). Damit folgt er der einga ngs getroffe nen und in der ursachenorientierten Gewa ltforsc hung sehr gelau figen Abg re nzung der "Schoo l Shootings" vo n der urspriingIichen Form des Amokl au fs nichl. Was laut Sofsky den Amok in seiner Erschein ungsfo rm auszeichnet , ist seine Unverhaltnismafligkeit: "Urn die Verhaltn ismabigkeit der Mittel kUmmert sich de r Amo k ohnehi n nicht . Die Ta t iibertrifft imm er Anl ass, Grund und Ursache." (Sofsky 2oo 2c: 40) Diese Aussage bestreitet implizit bereits die Moglichkeit des Vorliegens zweckrat io naler Gewa lt, wei l diese Unverhaltnis malligkeit gegen aile ZweckMittel- Kalk ule spricht. Sofsky weist damit auch die Vorstellu ng ab , dass ein Amokl aufer, urn zu einem solchen zu werde n, Erfahrungen des Opfer-Seins (z.B. durch Demiitig ungen seitens der Mitsch tller oder Ungerechtigkeiten seitens der Lehrer) gemacht haben oder GefUhlen der Ausweglosigkeit ausgeliefe rt gewesen sein muss. Er dementiert an dieser Stelle d ie Auffassung, Gewalttate r hatten selbst im Voraus eine Karriere als Opfer durchlaufen, wodurch ihnen q uasi nichts anderes Ubrig gebliebe n sei, als selbst zum Tater zu werde n (Sofsky 2ooZa) . Mensch en batten hin gegen immer d ie Wahl , so oder eben anders zu handeln : "Zw ischen dem Charakter und den Lebensumstand en des T'aters und seiner Tat klafft ei ne LUcke. Es gibt keinen direkten Weg zur Tat, dazw ischen ist ein Abgrund." (Sofsky 2002d) Vielmehr ist Sofsky der Ansic ht, dass schon die banalsten GrU nde fiir eine solche Tat ausreichen k6nnen. Damit zie ht er in Betracht, dass Robert Stein hauser es sei nen Le hrern einfach mal zeigen, dass er seiner Wut Luft machen wo llte (Sofsky 2oo2a). Die Frage nach den Motiven des Robert Steinhauser wird damit folgendermaBen beantwortet: Es war die Suche nach einem Tr iumphgefU hl und die Be -
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friedigung von Rachegeliisten, zu deren Zweck er seine Lehrer kurzerhand umbrachte (Sofsky 2002d). Entsprechend seiner Typologisierung von Gewaltformen grenzt Sofs ky den Amok durch die Zuweisung eigener Charakteristika von anderen Formen der Gewalt abo Eine zentrale Bedeutung kommt dabei der Prozessanalyse dieser Gewaltform zu. Amokl au fe zeichnen sich vor allem durch "Tempo" und .Exzessivitat" aus: ,,Augenblicklich erreicht die Gewalt ihren Hohepunkt. Sie will nicht martern oder qualen, sondern sofort toten," (Sofsky 2002c: 40) Die Attribute, die dem Amok seine Macht verleihen, sind Zufall und Uberraschung. Diese Attribute blockieren jede Gegenwehr, sodass das Opfer kaum eine Chance hat (ebd.). Die Unvorhersehbarkeit des Amok und das Fehlen jeglicher Vorwarnung stellt eine ParalJeJe zum Attentat und damit auch zu terroristischer Gewalt dar. Die Tat bricht unvorhergese hen in den Alltag ein und durchbricht damit "den Schutzwall der Normali tat" {ebd .). Allerdings wird ein Mensch nicht .etnfach so" zum Amoklaufer, er muss sic h vielmehr in einen solchen verwandeln. So beschreibt Sofsky den Prozess der Metamorphose als einen inneren Prozess, in dem der Hass heranreift, der sich "gegen das Diktat der eigene n Existenz" richtet (Sofs ky 2002c: 40). Diese Metamorph ose ist ein sehr langwieriger Prozess, sodass die Entwicklung nur in wenigen Fallen zu ihrem endgultigen Ende - eben den Amoklauf - kommt. Viele Menschen nehmen ihren Hass einfach "mit ins Grab" (ebd.). Diese Aussage lasst den Schluss zu, dass die Zahl der potentiellen Amoklaufer kaum einzuschatzen ist und dass es ledlglich eine Frage der zur Verftigung stehenden Lebenszeit und der Geschwindigkeit des Prozesses ist, ob jemand mit seinem Hass und dem Wunsch nach Selbstzersto rung den Weg zu Ende geht oder nicht. Bei Robert Steinhauser jedenfalls hat sich diese Verwandlung, die fur die Tat unabdingbar ist, vollzogen. 1m Prozess der Verwa ndlung befindet sich der Tater typischerweise zuerst in einer Phase des .Brutens''. Vernichtungsphantasien beginnen von dem Tater Besitz zu ergreifen. Sie bilden sich zu immer klareren Vorstellungen aus und lassen ihn nicht mehr los. Diese Phantasien sind vielmehr Produkt seiner eigenen Vorstellungskraft als irgendwelcher gewa lthaltigen Computerspiele. Diese Vorstellungskraft lasst schlieBlich die eige nen Hemmungen mehr und mehr sinken, wohingegen die .Set msuchr [ ... ] nach Vergeltung, Verfolgung und Tod" wachst (Sofsky 2002b). Dies verweist auf die unbegrenzte Vorstellungskraft des Menschen, die fur das spezifisch menschliche Verhaltnis zur Gewalt wesentlich ist (Sofsky 2005b: 224). Der Moment der Metamorphose vollzieht sich schlieBl ich, als Robert Steinhauser sich urnzieht , die Maske uberstrelft und seine Waffe entsic hert. In diesem Moment wird er "ein anderer" (Sofsky 2002b). Der Verkleidung kommt damit ein hoher Stellenwert zu. Sie verhi1ft dem Tater, sich zu verwandeln, verhilft ihm zur .Entgrenzung seiner selbst'' und verleiht ihm die "Macht des Terrors" (ebd.). Indem durch die Maske keinerlei Mimik erkennbar ist, sieht Sofsky in der Maske bereits den Tod gegenwartig (ebd.). Vollendet wird diese Verwandlung durch den ersten Mord. Durch diesen
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fallen endgi lltig aile Hemmun gen , und Robert Steinhauser wurde zum Herrn tiber Lebe n und Tad, de n nicht s mehr aufh alten konn te. 1m Rausch wurd e zugleich a uch jedes Verhaltnis zu sich selbst gel6scht: "Die Freiheit unter der Maske war nicht nur die Freiheit vo m Verb al , es wa r die Freiheit vo n sich selbst, vo n seiner Biographie , seiner Wut, sei ner Rachegier.' {ebd.) Diese mikroskopische Analyse Sofskys verweist vor aHem auf die Eigendynamik des Amokla ufs. Die .Leidenschaft der Vorstellun g" wi rd bereits im Voraus entfesselt und erst durch den "Sturm der Motorik" in einen rasenden Gewaltausbruch umgesetzt (Sofsky ZOO2c: 44). Was da nn mit dem Tater vonstatte n geht, hangt mil der spezifischen Dynamik yo n Gewalt zusamme n. Sofsky skizziert de n Zustand des Taters allerdings nic ht als rauschh aft, benommen ode r von Si nnen , so ndern ats .Zustand absolu ter Gegenwa rt" (e bd.). AIle Zeit ve rdichtet sic h auf d iesen eine n Moment, auf das Jetzt, Vergangenheit und Zuku nft sind nicht meh r present: .Der Tater ist extrem konzentriert, sei ne Sinne sind gesc harft , die Fase rn zum ZerreiBen gespannt." (ebd. : 45) In Bezug auf die Vorgehensweise vo n Robert Steinhauser spricht Sofsky von der Methode "search and destroy" (Sofsky 2002b). Nac h und nach kommt eine nahezu unaufh altsame Dynamik in Gang, innerhalb derer sich der Ta ter von seinem .nlten lch" befreit , Angst und Hass er losc hen. Die Geis tesgegenwart und die Prazision , mil de r der Tater vorge ht, sprec hen dagegen , dass er wahre nd der Tat lediglieh von blinder Wut getrieben wi rd. Der Kerper des Ta ters scheint in der Tat eine Selbsterweiterun g zu erfahren: " Seiner Geistesgegenwart entsp richt die Verwandlu ng des Korpe rs. Rhythm ische Schreie fahren aus ihm heraus, wenn er vo n Ort zu Ort spri ngt, ein ekstatischer Ta nz der Verni chtung. lndem er urn sich feuert ode r schlagt , erwe itert der Ke rper seinen Rad ius, tibermenschli che Krafte setz t er frei, entfesse lt plctzlich Energie n, von denen der Tater nic ht einmal ahnte, dass er sie hat." (Sofsky 2002c: 45) Hier w ird deutlich , dass dem Ta te r durch die Tat etwas widerfahrt, was nur durch den Zusammenhang zwisc hen Leide nschaft und Gewa lt erklarbar iSI, nicht aber im rein zweckrationalen Einsatz von Gewa lt zum Ausdruck komm t. Die "Leidenschaft der Selbs tenthemmung'' ist also ein .wichtiger Sc hHissel zum Versta ndnis abso luter Gewa lt" (Sofsky 2005b: 57). Durch diese Selbstent hemm ung vergroBert sich der Radius des Taters : .Br gewinnt neues Terrain, das Te rrain absoluter Freiheit." (ebd .) Diese absolute Freiheit entstebt dadurch, dass das To ren dem Tater das Gefii hl vermittelt, selbst des Todes ledig zu sein (ebd.: 58). Laut Sofsky steht hinter d ieser Selbste nthem mung eine der w ichtigsten .Ursac hen" der Gewalt tiberhaup t: der .Wahn von der eigenen Unsterblichkeit" (ebd .: 68). Dabei entbehrt der Amok nieht einer gewisse n Rationalitat. Sofs ky verw eist a uf die Herkunft des Amok und damit auf seine taktische Bede utung im Kriegszustand (vgl. Sofsky 2002c: 4lf.). Wahrend de r malaiisc he Amokk rieger nach seinem To d zum Heid en wurde, stellt sich dies jedoch anders dar, wenn man den Amoklau f aus seiner historischen und kulturellen Bedeutun g heraus 10M. Der Verlust des Ehrenkodex und die Verschiebung des Amok vom Schlachtfeld in die zivile Welt und
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damit vom Kombattanten auf das we hrlose Opfer, das zur falschen Zeit am falschen Ort ist, lasst den Amok sinnlos und grausam erscheinen. Denn typisch fur den ursprlln glichen Amoklauf ist ja gerade, dass es jeden treffen kann, a uch a uBerhalb des Verwandten- und Bekanntenkreises, so dass Sofsky schreibt: "der Am ok treibt den Mard er aus seinem soz ialen Kreis in die Offentlichkeit." (ebd.: 42f.) Auch dies zeugr von der dem Amok innewohnenden Dynamik und seiner Tende nz zur Entgrenzung. Erscheint der Amokla uf anfangs noch als Racheakt, so lo st er sic h bald von diesen persdnlichen Bindungen und kann infolge dessen jeden treffen. Damit verliert der Amoklauf auch jegliche Zwec khaftig keit: "Vo n den Opfern will der Ta ter nicht das geringste. Jenseits de r Grenze toter er allein urn des Totens willen." (ebd.: 43) Zwar verwe ist auc h Sofsky darauf, dass der Amo klauf nieht als Kurzsc hluss zu begreifen ist, sondem oft von langer Hand geplant wird. Je doch entwiekelt sich die spezifische Dynamik , die je der Gewalt innewohnt, auch beim Amo k erst in der Tat selbst: .Doch so langwierig die Vorbereitung, der Mfekt des Amo k entste ht erst wa hrend der Ta t, nachdem Wege und Ziele planmabig a bgesteckt sind. Es ist die Tat, welche die Verwandlung des Morders vollendel. Wie der Krieg den Krieger, so bringt der Amo k den Amo ktater hervo r." (ebd.: 44) Welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Uberlegungen ftir die Zukunft von Gewalt, ftir den Umgang mit ode r die Verme idung von Gewa lt? Ge ht es den Vertretern der ursachenorientierten Gewa ltforsc hung vor allem urn Preventionsstrategien zur Verhinderung derartiger Yorfalle, so steht Sofsky der Moglichkeit der Prevention skeptisch gegeniiber. Insofem der Mensch prinzipiell fahig ist, aile moglichen Formen der Gewalt anzuwenden, kann die Umsetz ung dieser Mogl ichkeit in die Prax is nie vollstand ig ausgesc hlossen we rden. Somit befi ndet Sofsky fur den Amo klauf: .Der Amok ist eine Mc glichkeit, die man nie ausschalten kan n. Zur Freiheit des Mensche n gehort die Freiheit zur Gewa lt." (Sofs ky 2002d) 1m Gege nsatz zu der ursachenorientierten Gewaltforschung, die auf extreme Vorfal le wie einen Amoklauf stets alarmiert reagieren, ist Amok, so wie Gewalt iiberhaup t, etwas, womit die .Jnnovateure" jederzeit rechnen. Die Vorstellung einer Welt ohne Gewalt ist fur Sofsky nicht mehr als "wishful thinking". Man miisse akzeptieren, dass .Menschen zu bose n Tate n in der Lage sind, immer wieder, jederzeit, uberall." (Sofs ky 2002a) So miisse man in all jenen Fallen, in denen es keine Moglichkeit gibt, den Griff zur Gewalt zumindest zu ersc hweren, auch akzeptieren, dass man nichts dagegen tun kann (ebd.). Sofskys Uberlegungen halten damit fur die Pravenfion von Gewa lt keinerlei Optionen bereil. Paradigmatisch verkiindet schon der Klappentext von .Zeiten des Schreckens" (2002c): "Wolhe man die Gewa lt aus der Weh schaffen, miisste man die Menschen ihrer Erfindungsgabe berauben.' Gegen das Vorgehen der ursachenorientierten Gewaltforschung setzt Sofsky seine anthropologische Sich t der Dinge, welche eben keine Moglichkeit zur Pravention beinhaltet.
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4.4 ZusammenJassung Die Darstellung der Herangehensweise der ursachenorientierten Gewa ltforsc hung ei nerseits und der .Jnnovate ure'' andererseits anhand cines konkr eten, gesellschaftlich relevanten Beispiels wurde in der Absicht vorgeno mmen zu uberprufen, inwiefern und in welcher Weise sich die zuvor theoretisch herausgearbeiteten Unterschiede zwischen .Jvt atnsrreamern" und .Jn novateuren" auch in der praktischen Analyse niederschlagen. Dabei konnte festgestellt werden, dass die Ergebnisse, zu denen "Mainstreamer" und .Jrmova teure" gelangen, auf ga nz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Wahrend der Fokus der ursachenorieruierten Gewaltforschung eher auf den Umstanden und den Konsequenzen einer Gewa lttat liegt, mittels derer dann die konkrete Gewa lt erklart werden soli, beschaftigen sich die " Innovateure" starker mit der Gewa ll selbst. Nimmt der "Mainstream" das Vor her und Nac hher der Gewalt in den Blick, so tragt Sofsky dem von den .Jnnovateurerr' geforderten Programm einer .Soztologte der Gewalt" bzw. einer .Dichten Beschreibung" der Gewalt Rechnung. Indem er den Schwerp unkt auf die Gewalt selbst gerichtet hat, macht er Aussagen iiber die spezifisc hen Fonn en der Gew alt, deren Dynamik, die korperlich-sinnliche n Aspe kte von Gew alt und die hinter der Gewalt stehende n anthropologischen Konstanten. Nac h dem ersten allgemeinen und dem zweiten eng am Fall Erfurt orientierten Teil soli nun eine abschlieBende Betrachtung der heiden Ansatze vorgenomm en werden. Hierbei we rden weitergehende Einschatzungen in Bezug auf die Implikationen der beiden Ansatze vorgeno mmen. Am Ende steht dann die Frage, ob und inwiefern sich die beiden Ansatze im Sinne einer umfassenden Analyse erganzen lassen oder worin die Grt lnde ihrer Unvereinbarkeit liegen.
5. Schlussbetrachtung In einem ersten Schritt wurde dargestel lt, wie sic h die .Jr movate ure" im Zuge ei ner grundlege nden Kritik an der bis dahin praktizierten Form der Gewa ltforsc hung herauskristallisierten und in der Folge ein eigene s Programm der Gewaltforschung, die "Soziologie der Gewa lt" begrilndeten (3.1). Daraufhin wurden die spezifischen Herangehensweisen der beiden Ansatze sowie die mit ihnen einhergehenden Pramissen und lmplikationen (Gewa ltbegriff, Menschenbild , Methodologie, Erkenntnisinteresse) prazisiert, urn sie in pragnanten Punkten vonei nander abzugre nzen (3.2 und 3.3). AnschlieBend wurde am Beispiel des Amoklaufs von Erfurt analysie rt, wie sich die genannten Pramissen und Implikationen in der konkreten Vorgehensweise niederschlagen und welcbe Ergebnisse die beiden Ansatze in Bezug auf ein reales Beispiel generieren (4.2 und 4.3). In e inem letzten Punkt soli nun auf der Basis der beiden vorangegangenen Teile eine abschlieBende Bewert ung vorge-
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nommen werden. Folgende Fragen, die bislang noch offen geblieben sind, sollen dabei beantwortet werden: - Welche Foigen hatte die Kritik der .Jnnovateure" am "Mainstream" filr die Gewaltforschung? - Was haben die beiden Ansatze geleistet und welcher Art ist das Wissen, das sie generiert haben? - Wie ist der praktische Nutzen der beiden Perspektiven zu bewerten und wo rin liegen ihre jeweiligen Starken? - Welche Gefahren oder Problematiken ergeben sich aus den Ansatzen? - Bleiben die beiden Ansatze unvereinbar oder sind sie in bestimmten Bereichen auch kompatibel?
5.1 Die Kritik der ..lnnovateure" und ihre Folgen flir die Gewaltforschung Die Antwort auf die erste Frage ergibt sich vor allem durch den Ruckbl ick auf den theoretischen Te il. Hier wurde dargelegt, wie sich die .Jnnovateure'' durch ihre Kritik am "Mainstream" konstituiert haben. Dies hat zumindest drei Implikationen. Erstens weist deren Haltung auf eine starke Abgrenzung vom "Mainstream" hin, sodass man von dem Programm der .Jnnovateure" eine vcm "Mainstream" verschiedene Ausrichtung in Form und InhaIt erwartet. Dies legt zweitens nahe, dass eine mehr oder minder ausgepragte Diskussion uber diese Kritik entsta nden ist. Drittens stellt es in Aussicht, dass von den .Jnnovateuren'' durch ihre Kritik an der bestehenden Gewaltforschung neue Impulse in die Gewaltforschung eingebracht worden sind, welche geeignet erscheinen, die von ihnen angeprangerten Mangel der Gewaltforschung zu uberwinden.
5.1.1 Gegensiilzlichkeit? Die Frage nach der Unterschiedlichkeit beider Ansatze kann auf zwei Ebenen behandelt werden: auf der theoretischen Ebene einerseits und auf der praktischen Ebene andererseits. lm Kapitel 3 wurden bereits die differierenden Grundannahmen bezuglich der jeweiligen Menschenbilder, Gewaltbegriffe, Methoden etc. herausgearbeitet. Die Anwendung der theoretischen Ansatze auf das konkrete Beispiel bestatigte die Differenzen weitgehend und zeigte, dass auch die Ergebnisse, zu denen die beiden Ansatze gelangen, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Dabei drangt sich der Eindruck auf, dass die Kluft zwischen den beiden Ansatzen sich wesentlich dem jeweiligen epistemoIogischen Standpunkt verdankt, den die Forscher einnehmen. Die .Matnsrreemer" betrachten die Gewa lt als eine dysfunktionale Kraft, die die gesellschaftliche Ordnung bedroht und fur ein funktionierendes Zusammenleben verhindert oder zuruck gedrangt werden muss. Dabei lassen sie die prinzipielle Handlungsfreiheit der lndividuen weitgehend unberucksichtigt und verorten die Ursachen von Gewa lt meist jenseits des lndlviduums oder
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aber im Bereich des Pathologischen. Gerade im Faile von Gewalttaten wie dem Amo klauf wird diese Argumentation aber insofern schwierig, wei! hier die "Sinnloslgkeit'' und somit auch die Kontingenz von Gewalt besonders deutlich hervor tritt. Gleichwohl suchen die "Mainstreamer" auc h in diesem Fall naeh Ursachen und Praventionsmoglichkeiten und beziehen sich somit grundsatzlich positiv auf die bestehende Gesellschaft. Das is! bei den .Jnnovateuren" nicht der Fall . Am Beispiel Sofskys wird deutlich, dass es ihm gar nicht urn den Erhalt der gesellscheftlichen Ordnung geht. Er vers ucht vielme hr, die Gewalt als anthropo logische Konstante zu begreifen. Dadurch bekommt die Gewa lt bei ihm etwas Zwange la ufiges und Unvermeidliches. Das Problem, welches sich ergibt, wenn versucht wird, das "Wesen des Menschen" positiv zu bestimmen, entsteht hier umgekehrt dadurch, dass die gesellschaftliche Konstitution des Menschen unbenlcksichtigt bleibt. Somit kann Sofsky nur feststellen, dass Gewalt bestenfalls durch ein funktionierendes Gewaltmonopo l eingedamrnt, niemals jedoch ganzlich verhindert werden kann. Wiihrend die .Mainsrreamer'' also die Zugehorigkeit der Gewa lt zur .Grundeussratrong" des Menschen zugunsten kausaler Erklar ungsm uste r ausblenden, wird die Moglichkeit des gewaltsamen Handelns bei den .Jnnovateuren" zum unvermeidlichen Schicksal der menschliehen Gattung heraufbeschworen. Beide Ansatze konn en aber den Zusammenhang zwischen einer bestimmten Form gese llschaftlicher Organisation und dem Auf'kommen von Gewalt nicht hinlanglich erk laren. Wenn auch die scz ialtheoretische Basis der beiden Ansatze und damit ihre Grundbegriffe kontrar sind, so gerat diese Unterschiedlichkeit in der Praxis bei genauerer Betrachtung jedoch zumindest teilweise ins w anken. Die Schwierigkeit der Einteilung in "Mainstreamer" und .Jr movateure" wurde bereits zu Anfang angesprochen und am konkreten Beispiel zeigt sich nun, dass sich die strikte Trennung von "Mainstreamern" und .Jnnovateuren" auBerhalb der sozialtheoretisc hen Grundlagen kaum aufrecht erhalten Iasst. Denn tatsiichlich bestatigen sich die Urteile der .Jnnovate ure" hinsichtlich der ursachenorientierten Gewaltforschung in einigen Punkten nieht: - So gibt es auch in der ursachenorientierten Gewaltforschung durchaus Hinweise auf die (Eigen-)Dynamik von Gewa hprozesse n, auf den interaktionistischen und eska lativen Charakter von Gewalt (vgl. z.B. EckertIWiIlems 1996 : 64; SchwindlBaumann 1990 : 77; Heitmeyer/Maller 1995: 16). - Die Annahme, dass Gewalt prinzipie ll auch grundlos ausge ubt werde n kann, ist den Vertretern des "Mainstream" ebenfalls nicht unbekannt (vgl. Hornstein 1996: 21). - Auch in der ursachenorientienen Gewaltforschung werden Betrachtungen tiber das Opfer angestellt und Dritte mit einbezogen (vgl. exe mplarisc h dazu Eckert/Wille ms 1996: 63f. tiber die rechtsextremen Gewaltexzesse in Hoyersw erda und Rostock-Lichtenhagen).
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- Die Te ndenz, Modem e und Gewalt als Gege nsatzpaar zu betrachten, lasst sich nieht du rchgangig fiir die "Mainstream"-Forschung konstatieren (vgl. z.B. Hei tmeye r u.a. 1995), da Gewa lt hier als .Scbanensette der Individualisierung" ode r der Modernisierung betrachtet wird. Diese Einwande lassen sich durch das Beispiel Erfurt verstarken. Die Dynamik von Gewalt wurde auch von den .Matnstreamem " zumindest partiell beriicksic htigt. Bereits in die Definition des Phanomens .Amok'' geht die unau fhaltsame tedliche Dynamik als Wesensmer kmal ein und wird als filr den Amo k konstitutiv be trachte t. Die Person des Dritten wird beispielsweise in Form des Lehrers , der dem Amoklauf Robert Steinhausers Einhalt gebote n und unmittelbar auf den Ta tverla uf ei ngew irkt hat, auch von den " Mainst reame m" in die Analyse einbezogen (vgl. z.B. Eise nberg 2002 b). Und schlieBlich wurde im Fall Erfurt nicht auf die Gegensatzlichkeit von Gewalt und Modem e verwiesen: Das Vorkom men von School Shootings wurde vielmehr von der ursachenorien tierten Gewa ltforsch ung mit der fortsc hreitenden gesellschaftlichen und o konomischen Entwic klung und den damit verb unde nen Modemisierungsrisiken und Desintegrationstendenzen in Zusammenhang geb rac ht (vgl. Eise nberg 2000 , 2OO2a, 2002b ; Albrecht, R. 2002: 144) . Diese Feststellungen sollen jedoch nicht tiber die versc hiedenen Perspek tiven der beiden A nsatze hinwegtauschen. Dennoch bleib t festz uhalten: Gesic htspunkte, die die .Jnnova te ure" fur sich als Abgrenzung zum " Mainstream" in Anspruch nehm en , we rden durchaus auch von Forsc hem aufgegriffen, die von den .Jnnovateuren'' zum " Mainstream" erkla rt wurde n. Differenzierung ist aber auch umge kehrt angesagt: So ist es z.B. fraglich, ob all die Arbeiten, die den .Jnnovateuren'' zugesch lagen werde n, wirklich so stark vo n der bisherigen Gewa ltforsc hung abweichen, dass sie den eig enen Ansp ruchen an Innovation gerecht werden. Zumindest teilweise wird auch hier nach Grunden fur die Gewa lt und nach kausale n, intentionalen oder funktionale n Brklaru ngen ge sucht. Jorg Huttermann hat entsprec hende w tdersp ruche vor allem fur einige Beitrage in dem von Tru tz von Trotha (1997) herausgegebenen Sammelba nd nachgewiesen (Hiitterma nn 2004 : I11ff.).
5.1.2 Auseinandersetzung iiber die Krilik ? Was den zweiten Punkt betrifft, so fallt auf, dass kaum eine inhaltliche Auseinandersetzu ng zwischen den beiden Richtu nge n stattgefunden hat. Die .Jr movateure" konstit uierte n sich zwar als genuine Kritiker der ,,Mainstream" -Gewaltforschung und griffen diese in fundame ntalen Punkten an. Allerdings ist eine ausgep ragre Auseinandersetzung ausgeblieben, die Kritik der .Jnnovateu re" hat nur we nige Reaktionen nach sich gezoge n. Diese beiden Aspe kte haugen vermutlich zusa mmen. Denn der Umstand, dass die .Jnnovate ure" einen graBen Teil der soziologischen Gewa ltforschung als "Mainstream" beze iehnet und in gewisser Weise auc h abqualifiziert, mag ei nen Te il daz u beigetragen haben, eine fruch tbare Auseinan-
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dersetzung zu unterbinden. Auch der erwahnte Umstand, dass es die "Mainstreamer" als koharente Gruppe genau genommen gar nicht gibt, hat dazu beigetragen , dass sich niemand direkt angesprochen cder herausgefordert fiihlte. Zumindest blieb ein Dialog zwischen "Mainstreamem" und ..Innovateuren" aus, dieser fand lediglich am Rande statt (Imbusch 2004: 126, 145). Zwar haben die .Jnnovateure" in vielerlei Hinsicht dazu beigetragen, grundlegen de Aspekte der Gew altforschung zu uberdenken und weiter zu entwickeln. Gleichwohl gewinnt man heu te nicht den Eindruck, als waren diese AnstoBe von der ursachenorientierten Gew altforschung in groBem Stil aufgenommen worden.
5.1.3 Neue Impulse durch die Kruik der .Jnnovateure"? Bezuglich des dritten Punktes kann gesagt werden, dass die .Jnnovateure" einige kritische Impulse in der Gewaltforschung hinterlassen haben. So haben sie Schwachstellen der herkommlichen Gewaltforschung aufgespurt, welche mit den von ihnen entwickelten Konzepten und Begriffen besser erfasst und bearbeitet werden konnen. So wichtig und notwendig diese kritischen Impulse waren, so wenig haben sie sich allerdings in der Gewaltforschung Ilachendeckend niedergeschlagen. Nur in wenigen Fallen kam es zu einer dezidierten Ubernahme dieser Impulse oder gar zu einer Amalgamierung, so dass beide Ansatze weiterhin eher nebeneinander existieren.
5.2 Ergebnisse Urn darzustellen, welcher Art die Ergebnisse sind, zu denen .Jnnovateure'' auf der einen Seite und die ursachenorientierle Gewaltforschung auf der anderen Seite gelangen, und damit den Weg zu einer Beurteilung der Vorztige, der Praxisrelevanz, aber auch der Problematiken sowie der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit der beiden Ansatze zu ebnen, Ist wiederum ein Blick auf das Beispiel Erfurt nutzlich. Anhand dessen kann namlich gezeigt werden, wie die Pramissen der beiden Ansatze sich auf die erzielten Ergebnisse auswirken.
5.2.1 Die " Mainslreamer " Ein zentrales Anliegen der ursachenorientierten Gewaltforschung ist es, aus ihren Ergebnissen Priiventionsstrategien abzuleiten. Aus den Aussagen tiber die Bedingungen und Strukturen fiir gewaltsames Handeln sollen sic h Antworte n ableit en, "wer" einem erhohten Risiko unterliegt, Gewalt anzuwenden, und .warum" dies so ist. Gerade School Shootings machen es jedoch fur die ursachenorientierte Gewa ltforschung scbwer, zu koharenten Tatermerkmalen zu gelangen. Das Vorhaben, Schulamoklaufe tiber die Biograp hien und den sozialstrukturellen Hinlergrun d der Tater zu erklaren, ist in diesem Fall weniger plausibel als in anderen Hille n. Die
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Ursac hen filr School Shootings liegen hier zum einen in der Perso nlic hkeit des Individuums, sei ner narzisstischen Neigung, welche sic h in Selbstwertprobleme n, einer erhohten Krankbarkeit und mangelnden Konfllktlosungsstrategie n ausdruc kr, und zum anderen in dem Zustand der Gesellschaft, wobei hier vor allem auf die fortschreitende Modemisierung verwiese n wird. Dabei wird unterstellt, dass letztgenannte gesellschaftliche Bedingungen die erstgenannte problematische Personlichkeitsentwicklung befordem . Des Weiteren wird die Bedeutung der exzessiven Nutzung gewa lthaltiger Medien betont. Db diese Erklarungen nun wirklich in der Lage sind, den Kern des Problems zu treffen oder nicht, sie beschreiben zumindest die Gegebe nheiten und Lebensumstande, denen der Tater im konkreten Fall Erfurt ausgesetzt war. 5.2.2 Die .Jnnovaieure"
Die Ergebnisse, zu denen die .Jnnovateure" gelangen, beziehen sich auf das Wesen des Menschen und darauf, was mit dem Menschen passiert, wenn er Gewalt ausubt oder Gewah erleidet. Sie treffen u.a. Aussagen uber die Phanomenologie der Ge~ walt und nahern sich uber detaillierte Beobac htungen dem, was Gewa lt als solche ausmacht. Zwar bestreitet auch Sofsky das Vorliegen der Umstande nicht, in denen die ursachenorientierte Gewaltforschung den Schlussel zur Tat in Erfurt erblickt. Was er jedoch bestreitet ist die Moglichkeit, Amoklaufe aus ihnen sinnvoll abzuleiten und darnit zu erklaren. Sofsky verweist in seinen AusfUhrun gen Ilber den Amoklauf vor allem auf dessen Unvorhersehbarkeit und die Unmoglichkeit, derartige Geschehnisse vollig zu verhindern. Die Ergebnisse, zu denen Sofsky gelangt, resultieren aus einer mikroskopischen Analyse der Gewalt. So gibt Sofsky v.a. Aufschluss uber die Eigendynamik des Amoklaufs und tiber die Machrgefuhle, die er dem Tater verschafft. Die .Llrsac he" von Amoklaufen wie von Gewalt generell liegt fiir Sofsky in der Gewalt selbst und in der Handlungsfreiheit des Menschen begrundet.
5.3 Praktisch er N utzen Auf Basis der bisherigen Darstellung lassen sich auch Schlusse bezllglich der Praxisrelevanz der beiden Ansatze ziehen. Dabei lst insbesondere von Interesse, ob und inwiefem sich die Ergebnisse von "Mainstreamern" und .Jr movateuren" in praktlsche Politik umsetzen lassen und was und inwiefern sie zum Yerstiindnis von Gewa lt und zum gese /lschaftlichen Umgang mit Gewalt beitragen. Das Verdienst der .Jnnovateure" ist vor allem darin zu sehen, dass sie Wese ntliches zum Verstandnis dessen beigetragen haben, was Ge walt ausmacht , Sie haben damit eine LUcke gefullt, die die ursachenorientierte Gewaltforsc hung offen gelassen hat, da diese selten den Blick auf die Gewa lt selbst gelenkt hat. Genau dies haben sic h hingegen die .Jnnoveteure" zum Vorsatz gemacht und diesem Anspruch
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sind sic durchaus auch gerecht geworden. So erfa hrt der Leser relevante Aspekte tiber die jeweils spezifischen Charakteristika und Mechanismen der versc hiedenen Formen der Gewalt, die die ursachenorientierte Gewaltforschung gar nicht erst in den Blick nimmt. Die .Jnnovateure" machen verstan dfich, wie die einzelnen Gewaltformen .funktionieren", wie sic zu ihrer spezifisc hen Dynamik gelangen und welche Eigenschaften ihnen ihre Kraft verleiht. Sofskys "Traktat" (2005 b) bietet diesbeziiglich eine detaillierte Ubersicht tiber verschiedene Formen der Gewal t. Diese Methode ebnet Ihnen den Weg zu einer Prozessanalyse der Gewalt. Dabei werde n besonders die fur die Dynamik yon Gewalt mitverantwortlichen, je spezifischen Konstellationen zwischen Tate m, Opfem und Dritten sowie die Wirkungen, welche die Ausubung von Gewalt auf diese drei Akteursgruppen hat, erhellt. Durch die figurations- und konstellationsanalytische Perspektive wird Gewalt starker als ein sozio logisches Verhaltnis zwischen Taterfn), Opfer(n) und Dritten begriffen (vgl. Imbusch 2004: 143). Auf diesem Wege rucken die .Jnnovateu re" auch den anso nsten in der Soziologie sowie in der Gewaltforschung wenig beachteten Ko rper in das Blickfeld. Sie thematisieren einerseits den Kerper des Opfers, der Gewait erleidet und der dem Tater hilflos ausgeliefert ist, sowie andererseits den Korper des Taters, der dem Opfer Gewalt antut und der durch die Ta t eine fast grenzenlose Selbsterweiterung erfa hrt. Auch sind die .Jnnovateure" durch ihren Bezug auf den Kerp er in der Lage, das korperlich-sinnliche Moment der Gewalt zu erfassen, was erklarbar macht, warum Gewalt sowohl Abscheu als auch Faszination erzeugt und daher ein hochst ambivalentes Phanomen ist. Zudem reflektieren die .Jnnovateure" die Komplexitat des Verhaltnisses von Modem e und Gewalt. Wenn man sich jedoch die anthropologischen Grundannahmen der .Jnnovateu re" anschaut, dann ist auch die Frage nach den Moglichkeiten, die die beiden Ansatze fur den gesellschaftlichen Umgang mit Gewalt bereithalten, von Interesse. Aus den Arbeiten der .Jnnovateure" ergeben sich praktisch keinerlei Optionen beztiglich der Pravention oder Eindammung von Gewalt, da diese eine grundsatzliche Handlungsoption des Menschen ist, von der er jederzeit Gebrauch machen kann. Eine Welt ohne Gewalt halt Sofsky deshalb fur reines Wunschdenken. Die einzige Moglichkeit besteht fur ihn darin, das Gewaltmonopol des Souverans zu starken, urn den Menschen den Griff zur Gewalt zumindest zu erschweren. In Fragen der Prevention von Gewalt liegt hingegen die Starke der ursachenorientierten Gewahforschung. Bei ihnen dient die Forschung vielfach dem Zweck, aus der Kenntnis der Ursachen von Gewalt geeig nete Praventionsstrategien abzuleiten. Das Menschenbild der ursachenorientierten Gewaltforschung legt diese M6glichkeit nahe: Indem sie den Menschen als neutral oder prinzipiell friedfertig ansehen und die Anwendung von Gewalt als Symptom dafiir betrachten, dass aul3ere Zwange, Sozialisationsdefizite, kritische Lebenslagen oder mangelnde Sinnbeziige negativ auf das Individuum einwirken, ist die Annahme plausibel, dass Gewalt verhindert werden kann und verhindert werden muss. Folgt man dieser Vo rstellung, dann ist die Annahme folgerichtig, dass durch die Abschaffung oder Ver-
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a nderu ng der Fakto re n, di e a ls U rsa chen oder Au sloser zwische nme nschlicher G ewalt betrachtet werde n, auch di e Gewa lt selbs t bekampft werde n kann. Damit sind Sc hlussfolge ru nge n und Handlungsanweisungen fu r den gesellschaftli ch en Urngang mit Gewa lt vor aHem a uf dem breiten Feld der ursachenorie ntierten Gewaltfo rschung z u finden. Bntsprec hend ge he n di e ..Mainstreamer " davon a us , dass au ch d ie Moderne und ih re kon stitu tiven Prin zipien der Zivilisie rung dazu be itra gen, dass Gewalt langfristi g abnim m t un d ube rflu ssig w ird. Ube rsichtsma big lassen sich di e Gegensa tz e zwisc he n .Mainsrreamem" und ..Inno vateuren" a uf den verschie denen Ebe nen wi e fol gt dar stelIen: Tabelle 2 : Unterschiedliche Pe rspektiven vo n ..Mainstre am ern" und ..lnn o vateuren"
Pramlsse
Mainstreamer" Gewalt ist vermeidbar, wenn man ihre Ursachen kennt und sie effektiv bekampft
Gegenstend der Betrachtung
Tiitermerkmale (Biogra phie, psychische v ertassung, Charakterziige), soz iooko nomischc Bedingungen, Medieninhalte, ander e auGere Umstiinde
Vorgehensweise
Ursachenanalys c
Mogliche Ursechen und Motive von Gew e tt
Sozialisationsdefizite, mangelnde Stnnbezuge. okonomische Unterprivilegierung, gewal thaltige Mediendarstellungen, etc. Pravention smoglichkeiten, Magnahm en zur Begrenzung von Gewalt
Erkenntnisinleresse
Innovateure'' Gewalt ist nicht vermeidbar, da sie eine prinzipielle Handlungsopl ion des Menschen darstellt Prozessanalytiscbe Betrachtung der Gewalt selbst in F ater-Opfer-DritteKonstellation
Mikroskopisch genaue Analvse des Geschehens Ausagieren von Mach rgefiihlen, Selbsterweiterung, Bewussts ein der eigenen Sterblichkeit, Lust am Obeyleben v erstehen der Gewalt selbst, Typologie der Gewaltformen, Brmoglichung eine s affektiv-rationalen v erstand nisses
5.4 Gefahren und Problematiken Di e Problema tik de r urs acheno rien tierten Ge waltforsc hung lasst sic h w ie fol gt z u sa m m e nfassen: Den ..Mai nst rea mern" mangelt es in Bezug a uf di e Gewalt an e i-
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nem Ko rperbegriff Ihre taterzentriert e Sichtweise verbaut ihnen den Blick auf das Opfer sowie Dritte und fuhrt daruber hinaus zu einer tende nziellen Entsc huldung der Tater. Sie sind zu we nig mit der Gewalt se lbst befasst und konnen dutch ihre n .Llrsachenreduktionism us'' die spezifischen Modalitaten der Gewalt nicht hinreichend in den Blick bekommen. Tendenziell verkennen sic das ambivalente Verhaltn is von Mod erne uod Dewalt. Der Blickwi nkel, den die ursachenorientierte Gewa ltforsch ung einnimmt, ist relativ .systemkonform' . Damit stellt sich die Frage , ob dieser Blickwinkel eine hinlanglich kri tische Distanz zu gesellschaftlichen Ve rhalmisse n erlaubt und ob niehl besti mmte Fo rmen der Gewalt damit systematisch aus dem Blick geraten. Auf der andere n Seite gibt es auch auf Seiten der .Jnnovateure' ' gewisse Te ndenzen, die eine genuine Soz iologie der Gewalt in eine Sackgasse fuhre n kon nten. Jor g Hutter mann verde utlicht am Beispiel Sofs kys, wie aus der Abl ehnung jeglicher intentionaler Erklar ungsversuche und der Auf lerachtlassung sinnhafter Kon texte anthropologische Letztbegrtindunge n resultieren, die sc hlieBlich aus der 50zio logie hinaus fiihren (H uttermann 2004: 121). Wen n Sofsky von Gewalt als dem Sc hicksal der Gattung spricht, so lasst dies keine Optionen offen, die gesellsc hafttiche Bed ingt heit von Gewalt zu erkennen. Und der Kritikpun kt, dass der " Mainstream" nicht in der Lage sei, neue Erkenntnisse zu gene rieren und statt dessen immer wieder Hingst bekannte Zusammenhange post uliert, kon me auf die .Jnnovateure" dann zurtickfa llen, wenn aile Formen direkter Gewalt hinreichend dic ht besc hrie ben und typo logisiert wurden und somit auc h vo n dieser Seite ab einem ge w issen Punkt keine neuen Ergeb nisse mehr zu erwarten sind (lmbusch 2004: 131). Wen ngleich die Kritik der .Jnnova teu re" am Zusta nd der "Mainstream" -Forschu ng in vielen Punkte n berech tigt ist, so ist nicht unmittelbar ersichtlich , wa rum die Ge waltforschung prinzipiell darauf verzichten sollte, A ussage n fiber die Zu- ode r Abnah me, fi ber das AusmaB und die Ursachen von Gewalt zu machen und d urch d ie gewonnenen Erkenntnisse Opt ione n fur den gesellschaftlichen Umga ng mit Gewalt bereit zu ste llen (Imbusc h 2004: 143). Es erscheint vie lmehr fragwtirdig, Gewah aussc hlieBlich aus sic h se lbst heraus erklaren zu wo llen und jegliche vorge lage rte n Umstande auszublenden. Denn Gewalt wird nicht in einem Va kuum ausge ubt , sondern in nerha lb best immter Sin n- und Bedeutungszusammenhange , inner halb kul tureller und ges chichtlic her Rahmen sowie unter bestimm ten gesellsc haftlichen Beding unge n. So erne uerungsbe diirftig die herkommliche Gewaltforsc hung an vie len Pun kten auch sei n mag, die Herangehensweise de r .Jnnovateure" karin bisher nicht als allei niges Heilmittel gege n d ie Schwachen der traditionellen Gewaltforschung bet rachtet we rden.
5.5 Vereinbarkeit Bleibt zuletzt die Frage zu bea ntwo rte n, ob die Posit ionen vo n " Mainstreamern" und .Jnnovateur en" in eine m unversohnlichen Widerspruch zueinander ste hen oder
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ob sie auch als sie h erganzende Perspektive n betrachtet werden konnten. Bezuglich dieser Frage sind verschiede ne Antworten denkbar. Zum einen lasst sich die Frage nach der Vereinbarkeit der Erkenntnisse von " Mainstrearnern" und .Jnnova teure n" aus dere n jeweiliger Sieht beantworte n, zurn andere n HeBe sie sieh jedoch auch au s ei ner dritten Perspektive bewerten. Bei der ursac henorie ntierte n Gewa ltforschung handelt es sich , wie gezeigt wurde, urn ei ne Vielzahl von Forsch ern aus unterschiedlichen Wi ssenschaftsdiszipli nen , die sich mit Gewa lt befassen, sodass die wissenschaftiic he La ndschaft se hr he terogen ist. Bedingt durch diese Vie lschiehtigke it gibt es keinen allge mein gultigen Ko nsens, so ndern eine Reihe untersch iedlich er A uffass ungen daru ber, was GewaH ist und wodurch sie entsteht. Daher ist es kaum anzunehmen, dass die Forscher dieser Richtung nicht auch die Ergeb nisse der .Jnnovateure" als eine denkbare Me gIichkeit der Auseinandersetz ung betrachten , sodass de ren Erkenntnisse einen weit e ren Gesic htspu nkt in der o hnehin vielschichtigen Menge an ErkHirungen darstellen. Vers uchte man die Frage nach der Vereinbark eit aus der Sieht der .Jnnovateure" zu beantworten, sa he das Ergebnis wohl anders aus. Da sich d ie .Jn novateure" erst d urch die fundamentale Kritik am "Mainstream" kon stituiert haben, ist kaum anzune hme n, dass d ie .Jnnovateu re" ihre Ergebnisse mit denen der ursachenorien tierte n Gewaltforschung als kompatibel betrachten . Die .J r movateure" haben vie lfac h auf d ie Unfahigkeit des "Mainstreams" hingewiesen, neue Erkenntnisse z u gene rieren, tiber die Suche nach Ursac hen von Gewalt iiberhaup t zu sinnvo llen Ergebnissen zu gelangen sow ie die Gewalt als soz iales Phano men zu erfassen. Ihre genu ine Sozio logie der Gewalt betrachten sie als den einzig gangba ren Weg, urn z u einem Verstandnis davon zu ge langen, was Gewa lt in ihrer ganzen Komple xitat tlberhaupt ist, welche Rolle sie in der Gesellschaft spielt und wie sie mit der Modern e zusa mmenbangt. Aus dieser Perspek tlve mussen die Ansatze der ursacben orientierten Gewaltforsc hung groBtenteils verworfen werden. Aus einer dritten Perspektive kann man j edoch zu anderen Einsichten gelange n. Beide Ansatze haben, wie gezeigt werden konnte, ihre eigenen Starken. Die Star ke der ursachenorientierten Gewa ltforschung lasst sich beispielswei se unter dem As pekt der W irksamkeit der aus ihr abgeleite ten Praventionsstrategien bemesse n. D ie Starke der .Jnnovateur e" liegt hingegen in der Th ematisieru ng der unhintergeh baren Tetsache, dass Gewalt eine grundsatz liche Handlu ngsop tion des Menschen da rstellt und nieht immer ratio nal erklart werde n kann. Der grundlegende Kon trast zwi sc hen de n beiden Ansatzen, wie er zu Beginn dieses Kapitels prazisiert wurde, lasst jedoch ei ne einfache Ube rfuhrung des ei nen Ansatzes in den andere n hoch st probl ematisch erscheinen. Die theoretische Zusammenfilhrung der beiden Ansatze in ein umfassend es "Gewaltparadigma" lst aufgrund der obe n exp lizie rten Differenzen kaum moglich . Tatsac he ist jedoc h auc h, dass die beiden Ansatze verschiedene Aspe kte der Gewa lt beto nen, die je nach Untersuchungsgegensta nd gleichermaBen relevant und zutreffend sein konnen. Dam it mussen trotz der theoretische n
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Unve reinbarkeit fur ein umfassendes Verstandnis von Gewa lt mitunter As pekte beider A nsatz e in der konkreten Ana lyse berucksichtigt werden . A us einer praxeologische n Per spektive er scheint es nichr sinnvo ll, die Ergebnisse der .jcr atnsrreamer' rundum tiber Bord zu werfen , da sic den keineswe gs beliebigen Kontext von Gewa lt einbeziehen. Die .Jnnovateure" , die diesen Faktor weitge hend auBer acht lassen , haben hingege n daz u beigetra gen, ein Verstandn is dafur zu entwickeln, was Gewa lt als soziales Phiino men ist und bedeutet. Zude m kann man mit dem Ansatz der .J nnovateure" auch Gewaltphanomene erfasse n, bei denen ein Sinn oder Zweck nlcht auszumachen ist. Es gibt m.E. kein en Grund, warurn man nieht die Sta rken der beiden Ansatze in Anschlag bringen sollte, we nn es der Unters uchungsgege nstand erfo rdert. $omit bleibt am Ende die Feststellun g, da ss man beziiglich der Frage nach der Vereinbarkeit differenzieren muss. Auf der einen Seite sind die beiden Ansatze in der apodiktisc hen Gegeniiberstellung, wie sie die .Jrmovateure" formulieren, tatsac hlich episte mologisch inkommensurabel. Dies verbietet zwar eine theo retlsche Zusam menfU hrung, nieht jedoch die Berucksichtigung niitzlic her Aspekte beider Ansatze in der konkreten Analyse von Gewa lt. Auf der andere n Seite gibt es bereits heute flieBende Grenzen und vielversprechende Ubergange zwischen den belden Denkrichtunge n und eine Fiille von An kniipfungspunkten fur eine umfassend e Gewa ltanalyse. So mit ze igt sich, dass es unter Umstanden von Nutzen sein kann, Kom ponenten beider Ansatze in Bezug auf ei n bestimmtes Gewaltpha nome n in Betracht zu ziehen, wenn dies zu einem umfassenden Verstandn is von Gew alt fl lhrt. Die Frage nach elnem entsprec henden Gewaltparadigma bliebe damit vorerst unbeantwortet und offe n.
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School Shooline;sund Amok
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Trotha, Trutz von (199 7): Zur Soziologie der Dewalt, in: Ders. (Hrsg.): Soziologie der Gewalt, Op!aden . Trotha, Trutz von I Schwab-Trapp, Michael (1996) : Logiken der Gewalt. Rezension von Wolfgang Sofsky "Traktat uber die Oewatr', in: Mittelweg 36: Jg. 5, Nr. 6. waldnch , Hans-Peter (2007): In blinder wut. Warum junge Menschen Amok laufen, Koln.
Uber die Autorinnen und Autoren Imbusch , Peter, PD Dr.• Privatdozent fiir Soziologie und wissenschaftlic her An gestellter am Institut fur interdi sz iplinare Konflikt- und Gewaltforsch ung der Universitat Bielefeld; Arbei tsschwerpunkte: PoJitisc he Soziologie, Konff ikt- und Oewaltforschung, Sozialstrukturanalyse, EntwickJungssoziologi e. E-Mail: peter.imbusc h@uni-bie lefeld .de
Hewera , Birte, Dipl.-Sozialwissensc haftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fiir Publizistik- und Kommunikatio nswissenschaft der Freien Universitat Berlin; Arb eitssc hwerpunkte : Kommunika tio nsgesc hichte und Medienku lturen. E-Mai l: birte.hcwera@fu -berli n.de
Huhn, Sebas tian, M.A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am OlGA German Institute of Global and Area Studies, lnstitut fur Lateinamerika-Studie n, in Hamburg ; Arbeitsschwerpunkte: Gewalt und Offent liche Sicherheit in Zentralamerika, Gesellsc haftsd isk urse , Nationale Identitat und Geschichtsbilder. E-Mail:
[email protected]
Kirschner, Andrea, Dipl.-Sozialwirtin, MA Friedens- und Konfliktforschung, Forschungsassistentin am Zentrum fur Interdisziplinare Forschung (ZiF) der Universitat Bielefeld; Arbeitsschwerpu nkte: Erklarungsa nsatze fiir Gewalt in westlichen und postkolonialen Gesellschaften, urbane Gewalt, kollektive Jugendgewalt, Transformationsp rozesse von Staatlichkeit. E-Mail:
[email protected]
Kurtenbach, Sabine, Dr. phil., wissenschaftliche Mitarbeiterin am GIGA German Institute of Global and Area Studies, Institut fllr Lateinamerika-Studien, in Hamburg; Arbeitsschwerpunkte: Nachkriegsgese llschaften, Entwicklungszusammenarbeit, J ugend gewalt. E-Mail:
[email protected]
Oeuter, Anika, Dr. phil., Professorin fur Soziologie an der Philipps-Un iversitat Marb urg; Arbeitsschwerp unkte: Gewaltsoziologie, politische Psychclogie, soziale Beweg ungen, Transitional Justice. E-Mail:
[email protected]